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Full text of "Der Türmer 11.1908 09, Band 2"

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Der Türmer 


Monatsſchrift für 
Gemüt und Geiſt 


Herausgeber: 


Jeannot Emil Freiherr von Grotthuß 


Elfter Jahrgang „ Band II 


2: :: (April bis September 1909) :: :: 


Stuttgart 
Druck und Verlag von Greiner & Pfeiffer 


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NOV 19 1920 
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Snhalts-Verzeichnig 


Gedichte 

Seite 
Appelshaeuſer: Ein friſcher Morgen 157 Krauß: Der Morgen 
Sodum-Oolffe: Großſtadtgärten 10 Lang: Wolken 
Ernſt: Die Geſichte des Erldfers. . . 1 Maſſé: In glühenden Schuhen 
Holly: Der Wanderer 764 Quandt: Himmelsſchlüͤſſel 
Sig: Nachetteteteteee ee 615 Schmidt: Glaulbtte 
Koch: Oer Vagabund 752 Stern: Morgenfe ie 
Knodt: An die Natue. 37 Walter (Freyr): Tröſtunng 
Koenig: Vorfrühli ng 25 Wolframsdorff-Baars, v.: Aphorismen 
Kopp: Meine Seele 72 188, 311, 438, 


Novellen und Skizzen 


Cauſen: Mutter Wiedenfamp . . . . 727 Margueritte: Ge blende!!! 
Oilers: Die Briefe des alten Joſias Pauls: Heimkeerrr nr 
Röppen . . 11, 158, 294, 459. 588 Schlözer: Der gute alte Mann 
Emo: Fahrende Schuler 31 Theinert: Die Bluthunde der Ronquifta- 
Falkenberg: Naſſen kampf 35 Doten a or Geka Gr Sch a St wee 

Shafiez: Mann über Bord 765 Voigt Diederichs: Das Kind 
Aufſätze 
Achelis: Die ruſſiſche Revolution, ein Bovenſiepen: Die Reform unſerer 


fogiafes und ein religiöfes Problem A 


Bahr: Das Elend der Neuen Welt. . 433 
— Bernhard v. Bülow. o 72¹ 
Bender: Autodidakten von einſt und 
ble Ee a 485 
Benzmann: Heinrich von Reder 90 
— Martin Greif 380 
— Oer Oichter des Struwwelpeter. 389 
— Tennyſon ees 673 
Seth: Modernismus in der proteftan- 
tiſchen Theologiu aun 783 
Boelide: Zudas Fidharioth . . . . . 38 
Borkenhagen: Das Tierrecht 483 


Strafgerichte und unſeres Gtraf- 
verfahrens 
Brunnemann: Die Neuinſzenierung des 
„Hamlet“ im Kgl. Schauſpielhaus zu 
Dresden. 
Buſch: Pfingſten 
— Schwedens hervorragendſte Erzähler 
— Von der ſchwediſchen Runftgewerbe- 
ausſtellung zu Stockholm 
Civis: O deutſche Schutzmannherrlich⸗ 
keit! 
— Die Natur - Operette 
— Ser Zeppelinjubel 


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771 


456 
176 
522 


605 
312 


IV 
Seite 
Damaſchke: Am Tage nad der Revo- 
lo u Be ho E SE 476 
Dehn: Heldenſtiftun gen 775 


Dennert: Nochmals Haeckels Fälſchungen 63 
Dobsty: Walter Firle 
Enders: Das Kölniſche Theater 
— Goethes Fauſt auf der modernen 
Bühne 
Erdmann: Sexuelle Aufklärung in der 
Schule Swe 
Gamerdinger: Von mexikaniſcher Lyrik 
Gaulle: Moderne Stilfragen 95 
Geifrig: Modernismus im Religions- 
unterrichte der Boltsfhule . . . . 
Geiger: Der Roman eines Lebens 
Gelderblom: Anmutige Frauen! Start- 
mutige Männer! 
Gr.: Roſegger und die Parteien. 46 
— Sind die Niederſachſen tonfervativ? 47 
— Oas ſymboliſche Gitter 
— Volksbürgertum und Weltbürgertum 49 
— Ein hiſtoriſches Schlagwort. 51 


— Wie der Kaiſer arbeitet 52 
— Das Leben ein Traum 54 
— Eine untergehende Welt 55 


— Die Mutterpflanze unſerer Kartoffel 56 
— Vom Fragen der Kinder ST 


— Dienſt boten 58 
— Unerwartete Todesfälle 60 
— Sdhulblödfin ......... 61 
— Bühnenfllaven ......... 129 
— Gin Dolfstinderheim ...... 134 
— Das Warenhaus und die Frauen. 138 
— Die Grethenfrage ....... 149 
— Armut als Sportob jekt 141 
— RNulturopfer . .. 222000. 197 
— Die Seelenkultur der modernen Frau 199 
— Die Geheimniſſe des Harems 201 
— Spielertypen in Monte Carlo 202 
— Berlin MMW... 204 
— @hrlofe Gdter ... 1... we, 205 
— Goethe und der Frag 207 
— Brandwunden durch Suggeſtion 208 
— Gehirn und Seele 208 
— Eine kurioſe Geſchi chte 210 
— Srrende Irrenarzte 212 
— Alter und Intelligenz . . .... 213 
— Wie man ſtirte 214 
— Sretlelend . 2... er 1 284 


Inhalts -Verzeichnis 


Seite 
Gr.: Affenkultun&e.. 286 
— Was ift modern? . . ...... 287 
— Gogols „Tote Seelen“ und die ruf- 
ſiſche Zenſu u; 344 
— Titel ohne Mittel. ....... 346 
— Poligeiprdfident von Berlin 347 
— Spradendüntel . . . ». lelne’ 348 
— Sollen wir vegetariſch leben? 350 
= Rot i o »A Gee SS Ses hx 351 
— Ballmütter. . 2... 2... ee. 355 
— Helden des Gefddfis ...... 354 
— Derärgerte Kritik 421 
— S$ournaliftiiche Hebammen . . . . 428 
— Mode und Gefhäft . ...... 429 
— Unebelide Kinder 486 
— Schwachbegabte Schüler 489 
— Oer Walzerkõ nig 490 
— Roſegger über die Nationalitäten- 
age 8 492 
— Goethes Geſichts maske 495 
— Politiſcher Aberglaulbbbo 494 
— Deutfhe Grillen 496 
— Die Entſcheidung 1810 497 
Blam abel 498 
— Das neue Frauen ideal 576 


— Ein Charakterbild des Fürſten Bülow 616 


— Militarismus im Reftaurant . . 633 
— Zarte Weiblichkeit 635 
— Glückliche Zugendgeit ...... 637 
— Gewalttae 638 
— Die Religion der neuen Zeit. 639 
— Moderne Shulnöte . . . .... 640 
— Die Kellnern . . . 2.2220. 642 
— Berliner Ausländerei . .... . 719 
— Za, der Berliner . . .. 2... 776 
— Die Marſeillaiſe und ihr Dichter. 776 
— Kulturkurio gag 777 
— Tolſtoi — ein Heuchler? . .. 778 
— Eine Seelenſchmiede 780 
— Giidertriti® .......2.2.2.. 824 
— Liliencrons Ehrenbroe er 863 
Günther: Reiſewerkkeeeeeeee 629 
H.: Vorſchläge zur Reform der mili- 
täriſchen Geſellſchaf t. 64 
Harten-Hoencke: Geburts- u. Todestage 423 


Hbr.: Das Recht der freien Meinungs- 

äußerung beim Beamten 
Hengesbach: Pierre de Coulevain . . 
Heyd: „Künſtleriſche Kultur 


Inhalte Verzelchnis 


Hübner: Ein Volks klavier 
nauer: Das Werden irdiſchen Lebens 
im Lichte der Pendulationstheorie 
Krauß: Stuttgarter Senſationen 
— Walter Braunfels’ „Prinzeſſin Bram- 
D... e are A 
— Buchbeſprechung (Schmitthenner) . 
Lemmerz: Schriftſtellervampire 
Lennemann: Das deutſche Dorf 
Lienhard, A.: Modernismus in der pro- 
teſtantiſchen Theologie 
— Modernismus in der chriſtlichen Reli- 
Genn ee NEE 
Lienhard, gr.: Rummers Literatur- 
geſchichte des 19. Jahrhunderts. 
— Zwei Wanderbüchee . 
— Literatur und Katholizismus 
— Aſthetik und Nonfeſſion 
Lomer: Arzte und Reichs verſicherungs⸗ 
ordnung 
Lubahn: Reichswertzuwachoſteuer 
Lux: Die Welt iſt grün und weiß und 
b...... ee dë 
Maushagen: Verantwortlichkeitsgefühl 
Nene: Schundliteratuetetet 
Niemann: Carſtens und Thorwaldſen 
Oehlerking: Meifter der Vokal- und Zn- 
ſtrumentalmuſik des 15. u. 16. Jahrh. 
Oertzen - Dorow : Landarbeiter und Land- 
Ruft he ee 
Pannwitz: Die Religion des Kindes 
Petersdorff: Kleiſt· Retzow 
Poppenberg: Hauptmanns .Grijelda . 
— Von der japanifden Runft. . . . 
— Lydedhows. Möwe 
— Zur Kulturgeſchichte des Ringes 
Reinke: Modernismus in der proteftan- 
tiſchen Theologie 
— Ehriftentum und Kirche 
— Vergangenes und ee aus der 
Chemie 
Nh. : Rulturopfer 
Riedel: Kreuz und Kreuzigung 
Rogge: Regen und Ringen in der tatho- 
liſchen Kirche 
Rofen: Luruanss 2 2 0. 
Rutz: Neues von den Temperamenten 
und ihrer Beziehung zu Muſik und 
Sichtung 


Sch.: Die Varusſchlacht 
Schmid: Hiſtoriſche Württembergiſche 
Armeemärſchhetete 
Schmidkunz: Raumkunſt und Religions- 
Kit. adica E 
— Friedensſchutz 
Schnehen: Die Wiſſenſchaft vom Leben 
Schneider -Weckerling: Die Gerbermüͤhle 
— Lienhards „Wege nach Weimar“ 
Schönemann: Frühlingsſpiele 
— Kulturwerte in Damen 
— Eine „Kunſtr ede 
— Anſere Nationalbühne (Ein Weckruf 
ans deutſche Voll 
— Paracelſuun s 
— Ein Nationaldenkmal fir Bismarck 
am Rhein? 


— Die Sprache des BSygantinismus . 


Schüding: Zentrum und Konſervative 
— Welche Beſtimmungen in Preußen 
noch in Kraft ſin d. 
Schuſter: Die Tonintervalle des Rut- 
kucksruffff ds 
Schwers: Das 45. Tonkünſtlerfeſt des 
Allgemeinen deutſchen Muſikvereins 

in Stuttgartrt 
Seliger: Der Aufbau der Form in Natur 
und Kunſttet ee ee 
Stern: Lyriete:e 
Storck: Neue Bücher 92. 254. 261. 392. 
401. 543. 558. 681. 695. 828. 

— Neue Bilder werke 
— Ludwig Fahrenkroeg 
— Georg Friedrich Händel 
— Epilog zur „Elektra“ 
— Kinematographie und Bildung 
— Vom füdbayerifhen Volksbildungs- 
verbannen Ge WS 

— Notizbuch 142, 430. 
— Die Bedeutung des hiſtoriſchen Ro- 
Mans oy eS 


nerungen“ .. n 
— Die Trägheit des Herzens (Jakob 

Waſſermann, zd 
— Raumkunſt (Y. v. Marées )) 
— Alfred Meffel 
— Vom Knaben Mozart 
— Vom Zug der Toten 2270. 


— |... 


VI 


Seite 
Storck: Zojeph Haydn ....... 402 
— Die moderne Zeitung 412 


— Sie wühlen mit den Händen im 
Schmutz und bleiben reinen Herzens 424 
— Mundus vult decipi. ..... . 426 
— Zn der Stadt Correggios . . . . 544 
— Auguft Gauuin 695 
— Stalien, das Land der Mufit!?. . 696 
— Detlev v. Liliencron. . ..... 804 
— Kunſtakademiſcher Katzenjammer 838 
— Vom Muſikdrama der Gegenwart 843 
— Richard Wagner in Bayreuth 850 
— Biographien als Schullektüre 861 
— Arbeit und Geſanngg 863 


Beſprochene Schriften 


Abel Musgrave: Die Seelenſchmiede 
von Red hill 780 
Alpenverein, Sektion Wien: Schutz- 
hütten und Unterkunftshäuſer in den 
Oſtalpeer n. 261 
Ardens: Pius X. und der päpftlihe Hof 472 
Bartels: Das Weimarer Hoftheater als 
Nationalbiihne für die deutſche Ju- 


Send ee EEE SS 572 
Batta: Bunte Bühne . ...... 560 
Baumgartner: Reifebilder aus Schott- 

LOUD. (As zeit ð 631 
Bekker: Das Muſikdrama der Gegen- 

Wen ie A a 843 
Berger: Alltag und Feier ..... 251 
Berliner Breffe-Derein: Muſenalma- 

nah Ew Shes 252 
Beth: Der Entwicklungsgedanke und das 

Chriftentunmnmnmnmm 42 


— Urmenfd, Welt und Gott. . 218 
Boelitz: Ausgewählte Gedichte . 251 
Bongart: Studienreiſe Dernburgs nach 
Oeutſch-Oſtafrikkaa˖ a 629 
Borngräber: Die erften Menſchen . 128 
Brandenburg: Vorgoetheſche Lyriker. 252 
Brak: Das Affenproblenmn - 63 
Braun: Deutſche Städtebilder . . 102 
Braune: Luther, wie er lebte u. wirkte 102 
Braunfels: Prinzeſſin Brambilla 285. 570 
Bücher: Arbeit und Rhythmus 863 
Bülow, Fr. v.: Werre 270 
Burghaller: Phrnne 387 


Inhalts Verzeichnis 
Seite 
Theinert: Die Bluthunde der Ronquijta- 
dee 603 
Thurn: Modernismus in der chriſtlichen 
Nein wi. ee ARE 502 
Vogel: Gaſſenhauer und Langliedb . . 262 
— Das Wunder in der Dicttunft . . 664 
W.: Ziviliſation und Kultur . 644 
Waas: Ferdinand von Schill. . 323 
Weftermard: Vaterlandsliebe und Welt- 
buͤrgertun dnss 189 
Wirth: Die jüngſte Türk 452 
Witte: Wehrpflicht, Wehrſteuer und 
Wahlrechhheteteet. 215 
Wolff: Der Weg zu Dante 669 
Carnegie: Für das internationale 
Schiedsgerichte. 715 
Claine: Werke 531 
Conſtant, B.: Weridte 532 
Conſtant, E. de: Franzöſiſch-deutſche An- 
ndberung als Grundlage des Welt- 
friedensns z 715 
Correggio: Gemälde 558 
Coulevain: Werke 538 
Crawford: Werlſdte 272 
Dähnhardt: Naturgeſchichtliche Volks- 
Märchenn 84 
— Heimatklänge aus deutſchen Gauen 84 
Dauthendey: Der weiße Schlaf. . 252 
Deutſche Verlagsanſtalt: Kaſſiker der 
Rift Ce 102 
Oeutſch - Oſterreichiſche Schriftiteller- 
genoſſenſchaft: gahrbuc h 252 
Die deutſchen Kolonien 630 
Diederichs, Verlag: Katholiſche Streit- 
ſcheiftenn a 470 
Eckart: Stimmen aus vier Sabrhunder- 
ten über den Jeſuitenorden . 471 
Elkan: Werne 531 
Erler: Bar Pete 387 
Ettlinger: Benjamin Conſtant . 532 
Eulenberg: Du darfſt ehebrechen 868 
Fahrenkrog⸗Bilderʒr 2a, 103 
Falke: Frohe Fracht. 249 
Fick: Betrachtungen über das Chriften- 
En,. EE irr 342 
Gidbus-Mappe `... s eseo 101 


Gnbalte-Derseignis 


Fitger: Werke 
Forrer: Kreuz und Kreuzigung Chrifti 
in ihrer Runftentwidlung 
Geijerſtam: Thora; Werke 
Geude: Sebaſtian 
Gleichen Rußwurm: Sieg der Freude 
Goethe: Briefwechſel mit Marianne 

Willemar 
Gottſchall: Jugenderinnerungen; Werke 
241. 271. 
Graeſer & Ro., Verlag: F. G. Wald- 
müller, Monographie 
Greif: Werke 
Gronau: Correggio-Gemãlde 
Gruber: Wasgauherbſt 
— Zeitgenöſſiſche Dichtung im Elſaß. 
Hallſtröm: Werke 
gansjakob: Qer Vogt auf Mühlſtein 
Hanſſon: Werke 
gartmann: Problem des Lebens 
Hauptmann: Griſelda 
Hedberg: Werke 
geidenſtam: Werke 
Heinrich: Karl Aſenkofer 
Heinſius, Verlag: Luther, wie er lebte 
und wirkte 
Hennigfen: Aus fernen Zonen 
Sepp: Parazelſus 
Herdtle: Vorfruͤhling 
gerrmann: Seeblick 
Heſſe: Luther, wie er lebte und wirkte 
Hey: Fünfzig Fabeln für Kinder : 
Hender, Verlag: (Rethel; Fidus) Map- 
penwerke 
Hippius: Oer Zar und die Revolution 
Hoffensthal: Lori Graff 
Hölderlins Dichtungen 
goffmann- Sonner: Struwwelpeter 
Hoffmann, Hans: Werke 
Hunter: Das Elend der neuen Welt 
gentſch: Chriftentum und Kirche in Ver- 
gangenheit, Gegenwart und Zukunft 
geruſalem: Der heilige Starabäus . . 
Zoel: Der Urſprung der Naturphilo- 
ſophie aus dem Geiſte der Myſtik 
Soegenfen: Hupsmans 
Kalthoff: Zukunftsideal 
Kautsky: Am Tage nach der ſozialen 


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Kemmerich: Kulturkurioſa 
Köhler: Elſäſſiſches Theater 
Kotze: Werke 
Kralik: Gegen Karl Muth 
Kreichgauer: Die Aquatorfrage in der 

Geologie 
Krieglſtein: Ferdinand v. Schill 
Kummer: Deutſche Literaturgeſchichte 

des 19. Jahrhunderts 
Kurz: Die Schartenmättler. — Stoffel 


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Di 
Lagerlöf: Werke 
Langewieſche, Verlag: Griechiſche Bild- 
werke 
Levertin: Werke 
Liebermann: Die deutſche Landſchaft 
Lienhard: Wege nach Weimar 
— Gobineaus Amadis und die Raffen- 
frage 
Löhr: Volksleben im Lande der Bibel 
Lorenz: Die Paddenpuhler 
Lutz, Verlag: Vereſſajew: 
japaniſcher Krieg 
Matthäi, L.: Tauwetter 
Matthäi, K. O.: Aus den Vierlanden 
Meebold: Indien 
Meiſter der Farbe 
Memminger: Das verhexte Kloſter 
Meyer, A.: Was uns Zeſus heute iſt 
Meyer, G.: Tanzſpiele und Singtänze 
Meyer, M.: Jeſu Sündloſigkeit 
Meyenberg: Wartburgfahrten 
Müller, ©. A.: Kreuz und Kreuzigung 
Chriſti in ihrer Runftentwidlung . 
Muth: Die Wiedergeburt der Dichtung 
aus dem religiöfen Erlebnis 
Niemann: Nordlandbuch 
Oertzen: Memoiren des Zufalls 
Oßwald: Auf der Heide 
Ottmann: Die Eroberung des Erdballs 
— Das große Weltpanorama . . . 
Paungarten: Auf den Zinnen der geit 
Petersdorff: Kleiſt·Retzow 
Peget: Landendes Fiſcherbooet 
Pick & Ko.: L. Fahrenkrogs Bilder 
Ramjay: Eſſays 
Rauſchenbuſch: Christianity and the 
social Krisis 


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„Ruſſiſch 


VIII 


Reil: Studien über chriſtliche Denk- 
mäler 
Rethel: Holzichnitte 
Reuter, G.: Das Tränenhaus . . 
Roeßler: F. G. Waldmüller 
Rolau: Bühnenſklaven 
Römmler und Jonas: Bunte Blätter 
aus aller Welt 
Roft: Die Katholiken im Kultur- und 
Wiſſenſchaftsleben der Gegenwart. 
Roti: Fürſtentum Sardhana 
Rutz: Neue Entdeckungen von der 
menſchlichen Stimme 
Samhaber: Gedichte 
Sauerland: Griechiſche Bildwerke 
Schaeffer: KAaſſiker der Runft . . - . 
Schalk: Die Sintflut in Griechenland 
Schmidt, Möller u. Radczwill: Zur 
Aſthetik der Leibeserziehung 
Schmidt, 9, und Hartmann: Richard 
Wagner in Bayreuth 
Schmitthenner: Die ſieben Wochentage 
— Oas deutſche Herz 
Schnitzler: Der Weg ins Freie 
— Oas deutſche Herz 
Scholz, Verlag: Hans Thomas' Land- 
ſchaften 
Scholz, W. v.: Bodenſee 
Schulze Berghof: Die Kulturmiſſion un- 
ſerer Oichtkunſt 
Schünemann: Mozart als achtjähriger 
Komponiſt 
Schuſter: Wertſchätzung unſerer Vögel 
Schwabe: Die deutſchen Kolonien 
Schwanold: Armin, die Varusſchlacht 
und das Hermannsdenkmal . 
Schwartzkopff: Konnte Jefus irren? 
Seemann: Die Galerien Europas 
Seeliger: Hamburg, Balladen 
Sell: Katholizismus und Proteſtantis- 
mus in der Geſchichte, Religion, 
Kultur und Politik 
Simroth: Die Pendulationstheorie . . 
Soderberg: Werke 


e W e W E oe l o h â òo a ọọ H 


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Offene 


Anmutige Frauen! Starkmutige Män- 
ner! 


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Geite 


29 
101 
129 
102 
129 


842 


67 


Inhalts Verzeichnis 


Sörenſen u. Gietmann: Malerei, Bild- 
nerei und ſchmückende Runft . . . 
Spider: Dom Kloſter ins akademiſche 
Lehramt 
Stenglin: Schneewittchen 
Sternberg: Neue Gedichte 
Strandberg: Werke 
Strindberg: Werke 
Südelum u. Lindemann: Kommunales 
Sabrbud 
Swinburne: Werke 
Tennyſon: Werke 
Terentius, Lorenz: Die Paddenpuhler 
Teubner, Verlag: Zur Aſthetik der Lei- 
beserziehung 
— Runftblätter 
Sertor-Ardens: Pius X. und der päpft- 
liche Hof 
Thoma: Landſchaften 
Tielo: Klänge aus Litauen 
Tſchechow: Möve; Drei Schweſtern 
Uhde: Komm, Herr Fefu! 
Vacano: Sündige Seligkeit 
Vanſelow: Kaleidoſkop 
Vereſſajew: Oer ruſſiſch-japaniſche Krieg 
Veſper: Hölderlins Dichtungen 
Vierordt: Deutſche Hobelipäne 
Voßler: Der Weg zu Dante 
Waſſermann: Kaſpar Haufer oder die 
Trägheit des Herzens 
Weber: Apfelblüte 
Weber, Verlag: Braun: „Oeutſche 
Städtebilder" . r 
Weller & Süttich, Verlag: Die deut- 
ſchen Kolonien 
Wilhelm, G.: Wer wirft den erſten Stein? 
Wunſch: Aus des lieben Gottes Arbeits- 
ftübchen 
Wyneken: Der Aufbau der Form beim 
natürlichen Werden und künftleri- 
ſchen Schaffen 
Zabel: Meine Hochzeitsreiſe durch Korea 
während des ruffijd - japanischen 
Kriegs 


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Inhalte -Verzeichnis 


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Modernismus in Theologie und Schule 


Wilitäriſche Geſellſchaft, Reform 


218. 355. 502. 785 Wehrpflicht, Wehrſteuer und Wahlrecht 215 
Türmers Tagebuch 

Das deutſche Gemüt im Portemonnaie Glücksrad. — Schutz der gequälten 
der Beſitz enden 68 We! nn 857 
Geſellſchaftliche Verpflichtungen. — Die Nationale Kampſffe 504 

blaue Internationale. — Die „Her- Nach geſchlagener Schlacht. — Die große 

ren“ unter ſich. — Volksſtimme Tatſache. — Anſere Sntellettuellen. 
gegen Zuriſten recht . . 22 — Unheimliche Propheten 647 

Der Große und der kleine Gernegroß. — Häusliches aus dem Reichsſtübchen — 
Ein Danaergefdent. — Hardens Altdeutſches Neuland 787 

Literatur 
Bücher, neue 92. 255. 254. 592. 543.681. 828 Kummers Literaturgeſchichte 85 
Buücherkrit ie 825 Lilieneroeon ee 804 
Conſtant, Benjamin 532 Ly ritt EE ee ee ee 248 
Eoulevain, Pierre de 558 Mexikaniſche Lyrik 536 
Dante, Der Weg zu 669 Parazelſu e 679 
Fitger, Artur ... 1... 2.2 es . 828 Reder, Heinrich vv. 90 
Frühlingsſpie tek 82 Roman eines Leben 532 
Serbermüũ he 805 Schwedens hervorragendſte Erzähler . 526 
Goethes Fauft auf der modernen Bühne 819 Struwwelpeter- Dichter 389 
Gottſchall, R. v.: „Zugenderinnerungen“ 241 Tennyſo n 673 
Greif, Marti 380 Trägheit des Herzens 253 
Hiſtoriſcher Roman. Seine Bedeutung 234 Wanderbuüͤc he 391 
Hoffmann, Hans 827 Wege nach Weimar e 811 
Rulturwerte in Damen 387 Wunder in der Oicht kunt 664 
Bildende Kunſt 
Bucher, Bilderwerke 100. 261. 401. 558. Form in Natur und K unte 682 
695. 842 Gaul, Au gut.. 695 
Carſtens und Thorwaldſennn 695 Kunſtakademiſcher Katzenſammer . 838 
Correggio. In ſeiner Stadt . . . 544 Meffel, Alfrendndgdndn 260 
Die Welt ift grün und weiß und blau 399 Moderne Stilfragen . ....... 93 
Fahrenkrog, Ludwig 103 RNaumk unt 255 
Firle, Walter 850 Raumtunft und Religionskunſt 393 
Muſik 

Gaffenbauer und Tanz lied 262 NMeiſter der Vokal- und Snftrumental- 

Handel, Georg Friede. 104 mufit des 15. und 16. Jahrhun- 
Haydn, Joſ ehh 402 Dors 2. a eaa De ap Ar Zë 559 
Italien, das Land der Mufit!? . 696 Mozart, vom Knaben 265 
Rududsruf, Sonintervalle . . . . . . 117 Muſikdrama der Gegenwart 843 


A 


Temperamente und ihre Beziehung zu 


Muſik und Oichtung 


Tonkünſtlerfeſt. Das 45. des allgemein. 


deutſchen Muſikvereins 


Inhalts -Verzeichnis 


Volksklavier 

706 Wagner, Richard, in Bayreuth. . . . 
Württembergiſche Armeemärſche, hifto- 
riſche . 


Auf der Warte 


Affenkuldueteteeterrt ť 286 Modern, was ift? ......... 
Arbeit und Gefang. ........ 863 Moderne Beitung .......2.. 
Armut als Sportobjelt . ...... 141 Mundus vult decipi ........ 
Aſthetik und Konfeſſiaon 853 Nationalbühne 
Berliner Ausländer: 719 Nationaldenkmal für Bismarck am 
Biographien als Schullektüre . 861 Rei. 8 
Borngräber, Die erſten Menſchen 128 Natur- Operette 
Braunfels, „Prinzeſſin Brambilla“ . . 283 Notizbuch 142. 430. 
Brettleleddʒ 284 Reuter, Gabriele: Tränenhauns 
Bühnenſ klauen 129 Ring, zu feiner Kulturgeſchichte 
Byzantinismus, ſeine Sprache 720 Schriftſtellervamp ire 
Deutſches Doerr 421 Schundliteratvtr e 
Elektra, Epilog 120 Schutzmannherrlichkeit, O deutſche! 
Geburts- und Todestage 425 Schwediſche Kunſtgewerbe-Ausſtellung 
Gretchenfrage 140 zu Stodhbolm. ......... 
Frauenideal, das nere 576 Sie wühlen mit den Händen im Schmutz 
Friedensſchun zz 715 und bleiben reinen Herzens 
Hamlet, Neuinſzenierung im Kgl. Schau- Stuttgarter Senſationen 

ſpielhaus zu D reden 127 Südbayerifcher Volksbildungs verband 
Hauptmanns Griſ elde 125 Sihehows MW we 
gapaniſche Kuntt 279 Verantwortlichkeits gefühl) 
Journaliſtiſche gebammen 428 Volkskinderheie nn 
Kinematographie und Bildung 131 Warenhaus und die Frauen 
Kölniſches Theattte 417 Weckruf ans deutſche Boll ..... 
Kritik, verärgerte 421 Zeppelin- Jubel 
„Kunſtrede“, eiiie 427 Zug der Toten (Geijerſtam, Bülow, 
Liliencrons Ehrenbroe e 864 Roge, Gottſchall, Crawford, Gwin- 
Literatur und Katholizismus 710 burne, Meyer, Sonnenthal, Mat- 
RURUS. soak Ge cee Se ic 136 ehh we 
Mode und Gefhält ........ 429 — Hans Hoffmann, Fitger 

Briefe 
Auf den Beilagen. 
Büchereingänge 


Auf den Beilagen. 


Kunſtbeilagen, Photogravüren und Illuſtrationen 


Bauplan der höheren Natur- und Kunſt- 


formen 
Böcklin, Carlo: Ruine 


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Heft 
Correggio: Madonna mit dem heiligen 
11 Hieronymus, gen. der „Tag“ 


11 — Madonna della Scodella 


867 


Heft. 


10 
10 


Inhalte Verzeichnis XI 
Heft Heft 
Correggio: Die heilige Magdalena, Aus- Firle: Comteſſe 8. 12 
ſchnitt aus dem „Zag“ ..... 10 — Die Großmuttte 12 
— Madonna della Scodella (Ausſchnitt) 10 — Studie zu dem Gemälde „Die gol- 
— Zohannes auf Patmos 10 dene Hochzeii t 12 
— Johannes der Evangelift ..... 10 = Pireti ee SAR Gow hw u 12 
— die Himmelfahrt Chrifti i 10 Gaul: Tier bilde 11 
— Wandgemälde an der Kuppel (Aus- Greif, Martin 9 
hn!!! a GS 10 Sager: of. Haydn... 2... ee 9 
— Hecken gemälde 10 Kampf: Gehöft in den Kempen (Studie) 9 
— Engelsgruppe aus dem Fresko in der — Flandriſches Dorf . rr 9 
Halbkugel von S. Giovanni Evan- Marées: Bad der Diana 8 
gell ge oa 10 — Die Nebträger. . 2. 2... we. 8 
Fahrenkrog: Wandern und träumen. 7 — Die Rudereeeee ees 8 
— Sehnſu cht. T — Gefechtsſzene aus den Freiheits- 
— Verſu chung 7 kriegenannn HS 8 
— Heimdall... T — Das Oreifliigelbild „Die drei Reiter“ 
— Oer Sündenfall 7 (St. Martin, St. Hubertus, St. 
Firle: Studie 12 Seorg,d ee 8 
— Prinzregent von Bayern 12 Piombo: Clemens VO. ....... 10 
Notenbeilagen 
Händel: Tanzfolge „Allemande; Cou- Rothlauf: Der kleine Reitersmann. Ge- 
rante; Sarabande; Gigue“ kk 7 dicht von Dreyer 11 
Haydn: Drei Lieder: Ein kleines Haus; — Trommellied. Gedicht von Löwen- 
Schãferlied; Lob der Faulheit. 9 teen 11 
Hiele: Lieder 12 Schmid: Alt-Württembergiſche Armee 


Mozart: Tonſtück aus „Mozart als acht- 
jähriger Romponiſt“. Ein Notenbuch 
Wolfgangs. Herausgegeben von Dr. 
Georg Schünemann 

Rothlauf: Kinderlieder. Ich wollt', ich 

wär. Gedicht von Dreyer . 10 

— Sandmännlein. Gedicht von Dreyer 10 


märſche: 1. Grenadier-Marſch des 
Kreisregiments von Württemberg; 
2. Marſch des Kreisregiments von 
Württemberg; 3. Grenadiermarſch 
von Württemberg oder „Garde zu 
Fuß“ (Regiment Alt-Württemberg); 
4. Schwäbiſcher Zapfenſtreich . . 8 


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ſie eh! Auf grauem Grunde hub eſich's ab 
card ihm ſichtbar: Männer, Weiber, Kinder 
zeige Kleidern, Kreuze in den Händen, 

“om i en Kriegern zum Altar gezerrt, 
auf Marmorbilder prangen; Weihrauch wirbelt 
Nas ebnen n auf, ſie wie in Wolken hüllend. 
ee P| ert!“ heiſchen Ruf und Wink der Krieger, 
Doc ch ih N oi küffend, Pfalmen fingend 
Verwei 5 die Gefeſſelten. — Ein Wink 
der auf hohem Seſſel thront, 

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AR Zefus von Nazareth. Sein Cem ſchweifte 
Weg über feiner Feinde rohen Schwarm | 

Und haftete auf einer Wolkenwand, | 

Die grad ihm gegenüber ſtand und wuchs und f woll. — 

Und ſieh! Auf grauem Grunde hub ſich's ab 

Und ward ihm ſichtbar: Männer, Weiber, Kinder f 

gn weißen Kleidern, Kreuze in den Händen, 

Von römiſchen Kriegern zum Altar gezerrt, f 

Drauf Marmorbilder prangen; Weihrauch wirbelt 

Zu ihnen auf, fie wie in Wolken hüllen. 

„Hier opfert!“ heiſchen Ruf und Wink der Krieger, 

Doch ihre Kreuze küſſend, Pſalmen ſingend 

Verweigern's die Gefeſſelten. — Ein Wink 

Des Prätors, der auf hohem Seſſel thront, 

And in den Staub rollt eines jeden Haupt, 

Der ungebeugt die Spende weigerte. et EE S ya 
der Tümer XI, 7 | 1 


Ernft: Die Geſichte des Exlöſers 


Das Antlitz des Gekreuzigten durchzuckt's: 
„Vater, vergib,“ ſtöhnt ſchmerzlich er, „ſie wiſſen 
Nicht, was ſie tun!“ — und die Erſcheinung loſch. 


* 


Die Wolke hatte unterdes die Stadt 

Ganz überfloſſen und hing wie ein Grabtuch 

Schwer über ihr; im ſchrägen Blick der Sonne 

Wie weiße Friedhofmauern aus dem Dunkel 
Herleuchteten von Stadt und Burg die Zinnen. 

Da — vor den Augen des Gekreuzigten 

Hebt ſich um ihren Kranz ein zweiter Ring: 
Holztürme, ſchwere Sturmkoloſſe ſtarren 

Rings aus der Tiefe, die Gewappnete 

Ausſpeien auf die Zinnen. Kreuze leuchten 

Den Stürmenden von Schild und Fahnen, während 
Halbmonde die Verteidiger bezeichnen. 

Doch furchtbar lichtet deren Reihn das Schwert 

Der Kreuzesträger, deren graue Scharen 

Wie Schloſſenſchauer auf die Zinnen wettern 

Und mit dem Sturmlied: „Gott will es!“ jedweden 
Hinſchlachten, der den Mond als Zeichen führt. 

Den Körper des Gekreuzigten durchbebt's: 

„Mein Gott, mein Gott, was haſt du mich verlaſſen!“ 
Stöhnt auf ſein Mund — da war das Bild zerfloſſen. 


* 


Doch ausgegoſſen übers Firmament 

War jetzt die Wolke, daß die Sonne kaum 

Das düſtre Schauſpiel unter ſich noch ſah. 

Da hub ein drittes Bild ſich vor den Augen 

Des Schmerzgequälten: einen Scheiterhaufen 
Erblickt er, drauf, an einen Pfahl geſchnürt, 

Ein bleicher Mann in ſchwarzem Rode ſteht. 

Und vor dem Holzſtoß hebt ein andrer ſich 

In weißer Kutte, und er ſchwingt ein Kreuz 

Und ruft zu dem Gefeſſelten empor: 

„Zum letztenmal in unfrer heiligen Kirche 
Geweihtem Namen ſag' ich's: Widerrufe!“ 

Der Bleiche ſchüttelt ernſt fein Haupt und ſpricht: 
„Ich weiß, daß mein Erlöſer lebt, es lebt 

Die Wahrheit und —“ „So fei verworfen!“ ſchallt's 
Von unten auf, und eine Fackel ziſcht, 

Das dürre Holz in Rauch und Flammen hüllend. 
Doch von den Lippen des Gekreuzigten 


Sdmibt: Glaude 


Klingt's jetzt in mildem Tone: „Wahrlich, wahrlich, 
Du wirſt mit mir im Paradieſe ſein!“ | 
ak 


Und von dem Qualm des Scheiterhaufens ſchien 
Zu wachſen das Gewölk und ſchlang die Sonne, 
And von der ſechſten bis zur neunten Stunde 
War Finſternis. Doch in der Nacht der Schmerzen 
Bot ſich den Augen des Gekreuzigten 

Ein neues Bild: es ſtrahlet mild die Sonne 

Ihr ſüßes Licht voll auf ein friedlich Land, 

Und in dem Lande wandeln fromme Menſchen 
In weißen Kleidern, Palmen in den Händen, 
Und wo fie ſich begegnen, bieten ſchauernd 

Sie ſich den Friedenskuß und nennen Bruder 
Und Schweſter ſich, und vor den Scharen hebt ſich 
Ein hehrer Greis in wallendem Gewand, 

And von des Greiſes mildem Antlitz leuchtet 

Ein ſeliger Friede, während ſeine Hände 

Die Menge ſegnen und ihm von den Lippen 

Die Vorte fließen: „Kindlein, liebt einander! 
Nur eins ift not: das Höchſte ijt die Liebe!“ 
Sekt, eh' dies Bild in Nebel noch zerrann, 

Tönt ſieghaft es durch Nacht und Finſternis 

Vom Kreuz herab: „Es iſt vollbracht, mein Vater, 
Zn deine Hand befehl' ich meinen Geiſt!“ 


5 2 
r SEN WAZA 
Glaube 
Von 
Alfred Schmidt 
Die ihren Heiland fanden Wie lang auch dein Verlangen 
Und nun vergeſſen Not und Pein Geklagt in banger Nächte Schoß, 
Sn ſonnverklärten Landen — Einſt ſollſt du es empfangen, 
Das mögen ſelige Seelen fein! Das Glüd, das unbegreifbar groß. 
Ou haſt auf dunklen Bahnen, Dann bricht von deinem Munde 
O arme Seele, keine Ruh’. Ein Jubel, daß verſtummt der Spott. 
Dod jagt dir leiſes Ahnen: Und in hochheiliger Stunde 
Auch deinen Heiland findeſt du! Erſchauernd ſchauſt du deinen Gott! 


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Die ruſſiſche Revolution, ein ſoziales und ein 
religiöſes Problem 


Von - 


Prof. Th. Achelis 


2 rüber oder ſpäter muß es einen heftigen Zuſammenſtoß zwiſchen 
Europa und der ruſſiſchen Revolution geben, und zwar wird Europa 
als Ganzes und nicht irgend ein beſtimmter europäiſcher Staat mit 
| der ruſſiſchen Revolution oder Anarchie kollidieren. Ich fage Revo- 
lution oder Anarchie, da man heute wirklich nicht mit Beſtimmtheit ſagen kann, 
was eigentlich in Rußland vorgeht. Fft es ein Wechſel der Staatsform? Sit es 
ein Kampf gegen jede beſtimmte Staatsform? Eines ſteht nur feſt, daß da ein 
gefährliches Spiel geſpielt wird; gefährlich ift es aber nicht nur für uns Ruffen, 
ſondern auch für euch, ihr Europäer. Ihr verfolgt unſere Revolution mit Angſt 
und Spannung, doch iſt weder eure Angſt noch euer Fntereffe groß genug; die 
Vorgänge in Rußland ſind noch viel furchtbarer, als ihr denkt. Es ſteht alles in 
Flammen bei uns, das weiß man; können wir aber allein verbrennen, ohne euch 
in Brand gu ſetzen? Wer weiß? Selbſt die kleinſten Einzelheiten unſerer Revo- 
lution ſind in Europa wohl bekannt, der tiefſte Sinn aber des Ereigniſſes bleibt 
euch verborgen. Europa kennt nur den Leib, nicht die Seele der ruſſiſchen Revo- 
lution; diefe Seele, die Seele des ruſſiſchen Volkes bleibt euch ein ewiges Rätſel.“ 
Dieſe Worte des Fürſten Mereſchkowski, eines der beſten Kenner ruſſiſcher Zu- 
ſtände, ſind nur zu berechtigt — abgeſehen von der fraglichen Prognoſe über den 
unvermeidlichen Zuſammenprall Europas und Rußlands; denn wer kann auch 
nur einigermaßen ermeſſen, was aus dem dräuenden Chaos ſich ſpäter entwickelt, 
ob das weite heilige Rußland nicht vielleicht in einzelne zuſammenhangsloſe Teile 
auseinanderſplittert! Solche Erwägungen find auch genau genommen recht müßig, 
da ſie auf völlig unſicheren Vorausſetzungen beruhen und noch weniger eines 
experimentellen Beweiſes fähig find. Aber die Beurteilung der ruſſiſchen Gefell- 
ſchaft iſt in der Tat vielfach eine recht oberflächliche und einſeitige, zumal der be- 


Achells: Die cuffifhHe Revolution, ein foziales und ein rellgiöſes Problem 5 


treffende Maßſtab öfter von fo ganz anders gearteten weſteuropäiſchen Verhält- 
niſſen entlehnt iſt. Das gilt in erſter Linie ſchon vom Sozialismus. 

Für die eigentliche ſozialiſtiſche Propaganda liegt im heiligen Rußland gewiß 
reichlich viel Zündſtoff zerſtreut, überall, auf dem flachen Lande ſowohl wie in den 
Städten. Mißernten, Hungersnöte, Seuchen (bei deren Vertreibung der kraſſe 
Aberglaube eine ſehr wichtige Rolle ſpielt, man erinnere ſich nur der jüngſten 
Vorgänge bei der Choleraepidemie ), der unglaubliche Tiefſtand der Landwirtſchaft, 
mangelhafte Verkehrs verbindungen, die es verhindern, daß fofort bei dringenden 
Notftänden Abhilfe geſchafft werden könnte, gelegentliche Ubervorteilungen durch 
jüdiſche Wucherer, ein bedauerliches Manko an jeder gefunden Bildung — in dieſer 
Beziehung ragen die tieferen Schichten der ruſſiſchen Geſellſchaft kaum über das 
Niveau irgend eines beliebigen Naturvolks empor —, ſo daß zwiſchen den oberen 
Zehntauſend und den unteren Ständen ein wahrer Abgrund gähnt, die tief- 
gewurzelte Neigung zum Grübeln über die Welt und das Zch und anderſeits doch 
wieder die unberechenbare, faſt elementare Leidenſchaftlichkeit des Charakters — 
Ooſtojewski ſpricht einmal geradezu von einem Bedürfnis feiner Landsleute, aus 
Rand und Band zu geraten —, das alles ift nur allzu febr geeignet, eine ſozialdemo⸗ 
kratiſche Propaganda größten Stils zu züchten. Unzweifelhaft herrſcht auch in 
weiten Kreiſen bittere Unzufriedenheit, langaufgeſpeicherter Groll gegen die Re- 
gierung und vor allem gegen die Beamten (ſehr charakteriſtiſch find die Schilde 
rungen über den ruſſiſch-japaniſchen Krieg von dem Militärarzt Vereſſäjew, die 
kurzlich in deutſcher Aberſetzung bei Rob. Lutz in Stuttgart erſchienen find), und 
dieſe Erbitterung macht ſich auch in gelegentlichen Aufſtänden Luft. Aber, was 
uns Weſteuropãer völlig in Erſtaunen fekt, eine eigentlich ſozial de mokratiſche 
Tendenz fehlt, man müßte denn die Oppoſition gegen den Abſolutismus, das Ber- 
langen nach einer Verfaſſung dahin rechnen. Das wäre aber völlig falſch, weil 
gerade dieſer, übrigens recht ſchwächliche Sturmlauf von den fog. Literaten aus- 
gegangen iſt, Vertretern der höheren Intelligenz, die mit dem eigentlichen Volk, 
d. h. dem Bauer und niederen Bürger ſo gut wie keine Fühlung unterhalten. 
Daraus geht aber für jeden unbefangenen Beobachter ganz klar hervor, daß hier 
ein Element wirkſam ift, das für das ſozialdemokratiſche Programm ſchlechter⸗ 
dings nicht paßt, und das ift das religiöſſe. Um das zu begreifen, bedarf es 
einer kurzen geſchichtlichen Orientierung. 

Peter der Große, der Gründer des heutigen Rußlands, hat gleichfalls die 
alles überragende religiöſe Bedeutung des Zarentums geſchaffen, indem er die 
bisherigen Patriarchen abſetzte, dafür den Heiligen Synod einführte, der ausdrüd- 
lich den Kaiſer als höchſten Richter in ſeinem Treuſchwur anerkennen muß, und 
ſich als gottgeſalbten Hoheprieſter einſetzte, das war ſomit die organiſche Ver⸗ 
tniipfung der Autokratie mit der Theokratie, wie fie enger nicht gedacht werden 
kann. Oer Zarismus, erklärt Zinaida Hippius, iſt die Verſchmelzung der zwei 
Begriffe: Raifertum und Prieſtertum in einer Perſon; er iſt die Verkörperung einer 
unendlichen Macht, die zugleich göttlich und menſchlich ift. Der Autokrat ift einer- 
ſeits als Oberhaupt der einzig wahren Kirche Hoheprieſter, anderſeits iſt er als 
Raifer weltlicher Herr der Welt. Die verhängnisvolle Idee des Zarismus ift erft 


6 Achelis: Die ruſſiſche Revolution, ein ſoziales und ein religiöfes Problem 


durch Peter den Großen in ihrem vollen Umfang entfaltet worden; er war der 
erſte, der fih zum Kaiſer und Hobepriefter ernannt hat. Die moskowitiſchen Zaren, 
die Vorgänger Peters, waren durchaus keine Vertreter des Zarismus im wahren 
Sinne des Wortes; fie waren nur Stufen, die zu der vollen Entfaltung der zariſti- 
ſchen Idee führten. Sie waren zu ängſtlich, zu febr an die nationaliſtiſchen Grenzen 
des Volkes gebunden, zu beſchränkt religiös im orthodoxen und kirchlichen Sinne 
dieſes Wortes. Wenn wir den Zarismus als einen Verſuch zur Verwirklichung 
des „Reiches Gottes auf Erden“ durch die Verkörperung Gottes in einem menſch- 
lichen Weſen, in einem himmliſchen und einem irdiſchen Zaren, durch die Unter- 
ſchiebung eines Menſchen an die Stelle Gottes auffaſſen, ſo müſſen wir zugeben, 
daß die zariſtiſche Idee im hohen Grade univerfell und weltumfaſſend ift. Sie 
ijt die großartigſte und daher auch die ſchrecklichſte Erſcheinung der großen Welt- 
lüge. Aber auch die rein imperialiſtiſche, cäſariſche, napoleoniſche Idee wird bei 
ihrer vollen Entfaltung univerſell. Napoleon wäre kein Napoleon, wenn er nicht 
nach einem Weltreich geſtrebt hätte. Auch ein Cäſar, der nur durch feine Kaiſer- 
würde die Prieſterwürde als Bekrönung feiner Macht erhält, muß, wenn er kon- 
ſequent iſt, zu einem Weltreich ſtreben. Der römiſche Papſt, der in erſter Linie 
Prieſter iſt, ſtrebt nach weltlicher Macht und iſt in der Tat Herr der Welt. Der 
Zarismus, der die abſolute Macht des Einen, himmliſche und irdiſche Gewalt 
über allen Geiſt und alle Körper, alſo über den ganzen Menſchen verkörpert, muß 
folglich noch mächtiger und univerſeller ſein. In Wirklichkeit erſtreckt ſich dieſe 
Gewalt des einen Menſchen nur auf ſeine Untertanen; im Prinzip erſtreckt ſie 
fih aber auf die geſamte Menſchheit. Dieſer eine Menſch, der über allen ande- 
ren ſteht, ijt nicht mehr Menſch, er ft Gottmenſch (Der Zar und die Revolu- 
tion, München 1908, S. 178). Aus dieſen Ausführungen geht unabweislich her- 
vor, daß in Rußland Autokratie und Theokratie eins ſind, und daß ſomit jeder 
Anſturm gegen die abfolute Macht des Zaren zugleich notgedrungen feine hier- 
archiſche Stellung und Oberhoheit bekämpfen muß; dadurch erhält die dortige 
Revolution ganz von ſelbſt einen religiöſen Anſtrich, und das um ſo mehr, weil 
das gerade der ruſſiſchen myſtiſchen Volksſeele entſpricht. Was keine ſoziale Be- 
drückung, keine noch ſo wüſte Aufhetzung der Maſſen zuſtande gebracht hat, das 
gelang ſpielend denjenigen Männern, die geſchickt das religibſe Moment zu ver- 
werten wußten; denn das entſprach den eigentlichen unbewußten, mächtigen Zn- 
ſtinkten des gemeinen Mannes, mit dem jede revolutionäre Bewegung in erſter 
Linie zu rechnen hat. Es iſt, nebenbei bemerkt, auch wahrlich kein Zufall, daß 
in keinem Lande der Welt das Sektiererweſen mehr blüht als im heiligen Ruß- 
land, das, ſtreng autokratiſch und theokratiſch regiert, genau genommen nur ein, 
wenigſtens offiziell anerkanntes, Bekenntnis kennt. Am ſchärfſten hat wohl der 
reaktionäre, aber im vollen Glauben an ſeine Kulturmiſſion wirkende Alexander III. 
dies Prinzip zur Geltung gebracht und dabei noch alle nicht ruſſiſchen Elemente 
auf das brutalſte verfolgt und zum gewaltſamen Anſchluß an das Ruſſentum ge- 
zwungen. Es wird nötig fein, mit einigen Worten auf die für die geſamte revolu- 
tionäre Bewegung in Rußland ſo einflußreichen Diſſidenten einzugehen. 

Trotz des ſtarken Druckes, den die Kirche auf den Glauben des ruſſiſchen 


Achelis: Die ruſſiſche Revolution, ein ſoziales und ein religlöfes Problem 7 


Volkes ausübt, find doch ſchon im 16. und 17. Jahrhundert Sonderbildungen ent- 
ſtanden, die die offizielle Theokratie nicht anerkennen, ſondern nur die Heilige 
Schrift oder eine unmittelbare Offenbarung des Heiligen Geiſtes. So z. B. die 
Ouchoborzen, wörtlich Geiſteskämpfer, die ſpäter nach dem Kaukaſus verbannt 
worden; über fie veröffentlichte der Gouverneur von gekaterinoslaw folgenden 
Bericht: „Dieſe Ketzer verabſcheuen Trunkſucht und Müßiggang, auch zahlen ſie 
ihre Steuern. Sie müſſen verfolgt werden, weil fie nie in die Kirche gehen, die 
Heiligenbilder nicht ehren und weder an den Luſtbarkeiten noch an den Ausfchwei- 
fungen anderer Leute teilnehmen.“ Die Chlyſty, Flagellanten, bekennen ſich zu 
dem Glauben: Sünde kann nur durch Sünde getötet werden; ſie beten einen 
Heiligen an, der angeblich zur Zeit Peters des Großen gelebt hat und mit Gott- 
Vater identiſch ſei. Dieſe Sekte erfreut ſich zahlreicher, bis in die höchſten Kreiſe 
reichender Anhänger. Bekannter find die Skopzen, die fic kaſtrieren; auch ihre 
Anzahl iſt eine ſehr große und noch ſtets wachſende. Das ruſſiſche Sektenweſen, 
das, wie ſchon früher angedeutet, dem grübleriſchen, tiefſinnigen Weſen des ruf- 
ſiſchen Volkes ungemein zuſagt, greift trotz aller blutigen Verfolgungen der Re- 
gierung und der Kirche immer mehr um fih, und es ſtellt auch (von einigen Sonder- 
barkeiten und Extravaganzen abgeſehen) eine ſeltene Uberzeugungstreue und reli- 
giöſe Innigkeit dar, wie ſie in der Orthodoxie eben nicht zu finden iſt. Eine ganz 
beſondere Erſcheinung, in der ſich Myſtik und Philoſophie einerſeits und wildeſter 
revolutionärer Orang anderſeits vermiſcht, ift das fog. Barfüßertum, das Tſchechoff 
und Gorki literariſch glänzend verwertet haben. Man muß, um dieſe eigenartige 
Bewegung zu verſtehen, den ausgeſprochenen Hang der Ruffen nach ſtill beſchau⸗ 
licher Betrachtung berückſichtigen, die freilich, wenigſtens gelegentlich, nicht momen- 
tane Kraftentfaltung ausſchließt. Das Barfüßertum ift die Philoſophie der Baga- 
bunden, der Enterbten, die nichts mehr zu verlieren haben und deshalb mit voller 
Objektivität allen ſozialen Problemen (und dazu gehört auch die Religion) gegen- 
überftehen; eine typiſche Geſellſchaftsſchicht, aus den verſchiedenſten Klaſſen ſich 
zuſammenſetzend. Meiſt ſind es Abkömmlinge der unterſten Kreiſe, aber es finden 
ſich auch darunter Vertreter der hohen Geſellſchaft, Schiffbrüchige des Lebens, 
die einſt beſſere Tage geſehen. Infolge der mißlichen Erfahrungen, die ſie gemacht, 
neigen ſie einem düſteren Peſſimismus zu, der zwiſchen anarchiſtiſchen Anſchlägen 
und ſtumpfem Fatalismus ſchwankt. Bei Beginn der Revolution erſchien ihre 
Mithilfe den Führern der Bewegung gelegentlich wünſchenswert. Bis zu welchem 
wahnwitzigen Nihilismus diefe innere Selbſtzerſetzung führt, mag an einigen Aus- 
fuͤhrungen verdeutlicht werden. 

Sas fortwährende Grübeln läuft ſchließlich auf eine völlige Verzweiflung am 
Leben hinaus, weshalb denn auch nur zu häufig der Selbſtmord den traurigen 
Abſchluß macht. So heißt es bei Tſchechoff: „Alles ift mir unheimlich; es ift ſchreck⸗ 
lich, daß ich nicht begreifen kann, warum und für wen das alles da iſt. Sch habe 
Angſt. Alles iſt mir wie im Traum, — wozu bin ich auf der Welt?“ Und denſelben 
Ton ſchlägt auch der Gorkiſche Barfüßer an, wenn er erklärt: „Bruder, wir zer- 
platzen noch alle, bei Gott! Und warum? Weil unſer ganzer Inhalt überflüſſig 
ift und unfer ganzes Leben nutzlos. Wozu bin ich nütze? Unnütz bin ich, ſchlagt 


8 Achelis: Die ruſſiſche Revolution, ein foziales und ein religiöfes Problem 


mich tot, daß ich fterbe.“ Oder: „Ich bin jetzt an dem Punkt angelangt, wo ich nackt 
auf der Erde ſchlafen und Gras freſſen kann. Nichts brauche ich, nichts will ich.“ 
Das iſt in der Tat der Standpunkt äußerſter Vertierung, die vollſtändigſte Anarchie 
und Auflöſung, alles mag in Trümmer zerfallen, weil nichts mehr Beſtand hat, 
nichts wahre Realität. Der Peſſimismus endet im Nihilismus, im Wahnſinn, 
wie ihn Ooſtojewski einmal ſchildert bei Gelegenheit eines Streites zweier Bauern 
über die höchſte Frechheit (fie ſchießen mit dem Gewehr nach dem Bilde des hei- 
ligen Abendmahls). Das iſt das Bedürfnis, aus Rand und Band zu geraten, das 
Bedürfnis, mit abſterbender Empfindlichkeit ſich der Schlucht zu nähern, ſich halb 
überhängen zu laffen, herabzublicken in den tiefſten Abgrund und fih in ihn 
kopfüber herabzuſtürzen wie Wahnſinnige. Es iſt das Bedürfnis der Verneinung 
im Menſchen, das fih oft in ſonſt durchaus nicht verneinenden, durchaus ehrfürchti- 
gen Naturen findet, — das Bedürfnis, alles zu negieren, das Größte und Hei- 
ligſte, das ihr Herz berührt, die eigenen höchſten Ideale, die ganze Fülle deſſen, 
zu dem das Volk betet. Da gibt es dann kein Halten. Sei nun Liebe im Spiel 
oder Wein, Genußſucht, Eitelkeit oder Neid — gar mancher Ruffe gibt ſich ge- 
gebenenfalls ſchrankenlos dieſem Bedürfnis hin, bereit, alle Bande zu zerreißen, 
ſich von allem loszuſagen, von der Familie, von der Gewohnheit, von Gott. Der 
gutmütigſte Menſch kann plötzlich zum widerlichſten Scheuſal und Verbrecher wer- 
den, ſobald er in dieſen Zyklon gerät, in dieſen verhängnisvollen Wirbel einer 
krampfartigen momentanen Selbſtverleugnung, der dem ruſſiſchen Charakter in 
gewiſſen ſchickſalsſchweren Minuten ſeines Lebens ſo eigentümlich iſt. Daß dieſer 
ausgeſprochene Nihilismus jede bisherige religiöſe Form bekämpfen muß, ift felbft- 
verſtändlich, und ſchon deshalb iſt das Barfüßertum dem gewöhnlichen ruſſiſchen 
Bauern, der noch zäh an der überlieferten Theokratie feſthält, feindſelig geſinnt, — 
für dieſen Radikalismus gibt es nur noch eine Religion der Menſchheit ohne Gott, 
alles andere iſt törichter Aberglaube. Aber bezeichnend iſt die Anverſöhnlichkeit 
und Unduldſamkeit, mit der alle anderen Meinungen verfolgt werden, um ſo mehr, 
als ſonſt der ſchrankenloſeſte Subjektivismus proklamiert wird. Jeder iſt fein eige- 
ner Herr, und alles ift demnach erlaubt, — hier klingen manche Nietzſcheſche Ge- 
danken an. 

Um das Maß voll zu machen, kommt noch die Lehre vom Antichriſten hinzu, 
die im heiligen Rußland ſeit Jahrhunderten ſich lebenskräftig erhalten hat. Es iſt 
ſehr charakteriſtiſch, daß Peter der Große wegen ſeiner Uſurpation der geiſtlichen 
Gewalt (ein einfacher Staatsſtreich) vom gewöhnlichen Volk und ganz beſonders 
von den Sektierern als der Antichriſt bezeichnet iſt, und ſo erklärt es ſich, daß von 
den Diſſidenten und Revolutionären der Zarismus als die verabſcheuenswürdige 
Idee des Widerſachers Chriſti ausgegeben werden konnte. Das zeigt ſchon die Ge- 
ſchichte der geknechteten Dekabriſten, die ihrer ausgeprägt demokratiſchen Ge- 
ſinnung in dem von ihnen herausgegebenen Orthodoxen Katechismus folgenden 
ſcharfen Ausdruck verliehen: „Was befiehlt Gottes Geſetz dem ruſſiſchen Volk und 
Heer zu tun? (Vorher war in Abrede geſtellt, daß Gott die Zaren als Bedrücker 
der Menſchen lieben und ſchützen könne.) Seine lange Knechtſchaft zu bereuen, 
ſich gegen die Tyrannei und Gottloſigkeit zu erheben und zu ſchwören, daß es nur 


Adelis: Die ruſſiſche Revolution, ein ſoziales und ein religiöſes Problem 9 


einen Gott auf Erden und im Himmel, Zefum Chriftum, geben wird.“ Als Kaiſer 
Nikolaus I. dieſe Stelle geleſen hatte, ſoll er an den Rand des Katechismus ge- 
ſchrieben haben: Welche Gemeinheit! — wohl in der richtigen inſtinktiven Ahnung, 
daß es der furchtbarſte, vernichtendſte Schlag gegen ſeine Autokratie ſein würde, 
wenn erft die religiöfen elementaren Gefühle gegen ihn aufgeboten würden. Dar- 
aus geht aber anderſeits hervor, welch unendlich ſchweren, ja man möchte faſt ſagen: 
bis auf weiteres völlig ausſichtsloſen Rampf die Revolutionäre unternommen haben, 
da eben der Glaube an den Zaren unerſchütterlich in der Seele des gemeinen 
Mannes lebt. Was Bakunin ſeinerzeit ſchrieb, gilt mit derſelben Schärfe noch heute, 
nämlich: „Unfer Volk ift von einem tiefen und leidenſchaftlichen Haſſe gegen die 
Regierung erfüllt, es haßt auch alle Vertreter der Regierung in jeder Geſtalt. 
Und doch hat es noch nicht ſeinen Glauben an den Zaren verloren. Für ſein Elend 
macht es alle möglichen Leute verantwortlich, nur nicht den Zaren.“ Giele Anhäng- 
lichkeit an den Zaren entſpringt nicht der ſklaviſchen Geſinnung des Volkes, ſondern 
fie ift tief religiös begründet. Die Religion des Volkes ift irdiſch und nicht himm- 
liſch, und ſie will alle Bedürfniſſe noch auf der Erde erfüllt ſehen. Deshalb ſind auch 
alle Anläufe gegen die Autokratie des Zaren hinfällig, wenn nicht zugleich die re- 
ligidfe, faſt könnte man ſagen: die metaphyſiſche Begründung dieſer fundamen- 
talen Inſtitution mit in Mitleidenſchaft gezogen wird, und fo erklärt fic die be- 
ſondere Eigenart der ruſſiſchen Revolution, der es in erſter Linie darauf ankommt, 
den orthodoxen Glauben zu zerjtören und damit die Unverletzlichkeit der Auto- 
kratie, des Zarentums zu ſtürzen. Nebenbei bemerkt, auch Tolſtoi geht dieſen Weg, 
und zwar in vollſter Offenheit und Entſchloſſenheit, indem er fogar als religiöſer 
Anarchiſt offen, wenn nicht den Aufruhr gegen den Staat, fo doch völlige Ableh- 
nung aller feiner Forderungen predigt, was der Wirkung nach auf dasſelbe hinaus- 
läuft. Im übrigen verweiſt er gleichfalls als Myſtiker auf die innere Offenbarung 
gegenũber jeder kirchlichen Satzung mit dem bibliſchen Wort: Das Reich Gottes 
iſt in euch. 

Ziehen wir das Fazit unſerer Betrachtung, ſo ergibt ſich an erſter Stelle 
der ausgeſprochen religiöſe Charakter des ruſſiſchen Sozialismus, der eben dadurch 
von feinem weſteuropäiſchen Zwillingsbruder charakteriſtiſch fih unterſcheidet. 
Und zweitens folgt daraus, daß, ſolange die Idee des Zarismus, d. h. der unlös- 
baren Einheit von weltlicher und geiſtlicher Herrſchaft in der gottgeſalbten Perſon 
des Herrſchers, unerſchüͤtterlich in der Seele des ruſſiſchen Bauern und Bürgers 
wurzelt, alle revolutionären Anſchläge auf keinen dauernden Erfolg rechnen tön- 
nen. Natürlich iſt die jeweilige Perſon des Zaren völlig gleichgültig, es handelt 
fih nur um die Zdee als ſolche, und an dieſer hält ebenſo krampfhaft der Schwäch⸗ 
fing Nikolaus II. feſt wie fein geſtrenger, faſt fanatiſcher Vater. Deshalb find auch 
unferes Exachtens alle Konſtitutionsvorſchläge ſchlechterdings Flluſionen, Gau: 
ſchungen, ja Farcen, da die Autokratie ſich nur ſelbſt ans Meſſer liefert, wenn ſie 
derartige Beſchränkungen ihrer „göttlichen“ Allmacht gutheißt, — noch ganz ab- 
geſehen von dem Umſtande, daß das Bildungsniveau des ruſſiſchen Volkes fiir 
eine ſolche parlamentariſche Vertretung durchaus unzureichend iſt, was wohl 
jeder unbefangene Kritiker ohne weiteres zugeſtehen dürfte. Was nun, was ift zu 


10 Bodum-Oolffe: Großftabtgärter 


tun, um dem drohenden Chaos, das heraufbeſchworen wird, oder der gegenwärti- 
gen, auf die Dauer unerträglichen Spannung zu entgehen? Die Antwort des 
Revolutionärs Mereſchkowski lautet konſequent: „Das revolutionäre neue Ruß 
land kann den Zarismus nur dann befiegen, wenn es ihm eine Zdee, die nicht minder 
tief und weltumfaſſend iſt als die feines Feindes, gegenüberſtellen kann. Die ruf- 
ſiſche Revolution muß einen neuen, bewußten und allmenſchlichen Weg einfdlagen ; 
wir alle glauben, daß fie dieſen Weg einſchlägt, denn wir glauben an unfer Rug- 
land und an die Wahrheit unſerer Revolution.“ Das ift das Bekenntnis eines Fana- 
tikers, der aber das bisherige Verfahren verurteilt. 


Großſtadtgärten 
Von 
E. von Bockum⸗Dolffs 
Ich ſtand an fremden Gärten Als ich in lichten Tagen 
And ſchaute ſcheu hinein, Gejubelt und gelacht 
Wollt nur von fern erfpähen Und jeden neuen Morgen 
Ein wenig Blütenſchein. Zu neuem Glück erwacht. 
Wie ſolch ein arm, verirrtes, Nun irr' ich durch die Straßen 
Verlornes Bettelkind, Und ſehne mich nach Haus, 
Das ſcheu ſich naht, wollt' hören Ruh’ mich vor fremden Gärten 
Sd nur den Frühlingswind. Ein Weilchen müde aus. 
Wollt nur von fern mich freuen Doch keine liebe Stimme 
An all dem Blumenduft, Ruft freundlich mich herein. 
An all dem Glanz und Flimmer Mir iſt ſo kalt, ich friere 
Der klaren Lenzesluft. Zn all dem Sonnenſchein 
Ich hatte nie verftanden, Sch möchte weit, weit fliegen, 
Wie viel ich einſt beſaß, Hinweg aus dieſer Stadt 
Als Sonne, Glanz und Liebe Doch die gebrochnen Flügel 
Mein war, im Übermaß. Sind viel zu ſchwach und matt. 


Sc NR 


— 7 
Ay Nate 
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* 


Die Briefe des alten Joſias Köppen 


Von 
Marie Diers 
, 


Ss N in Windſtoß, der Vorbote des heraufziehenden Gewitters, fuhr durchs 
, S Haus und jchlug knallend mehrere Türen zu, fo daß der Lärm fchauer- 
A D 5 lich in dem Haufe widerballte, in dem ſeit Mittag die Stille des 
—— Codes lag. Der Sommerabend zog über dem einſamen Pachthof 
herauf und mit ihm finſter und dräuend das Unwetter. 

Ein weißköpfiger, kleiner dicker Herr im beſtaubten gelben Leinenmantel 
ſtand im Hausflur, in dem eine Stehuhr laut und langſam tickte, ein alter gelber 
Glasſchrank die Taſſenſchätze des Hauſes zeigte und die letzte Erntekrone an der 
Dede hing. Über das runde rotgebrannte Landmannsgeſicht liefen unaufhörlich 
wie Bäche die hellen Tränen, während feine Fauſt einen ſchlanken blonden Zungen 
am Nockknopf gepackt hielt und ihn hin und her zauſte. 

„Und ich ſag's dir, Heinz, du läßt mich heute nacht hier. Ich habe das mehrſte 
Recht darauf, ich weiß doch mehr von ihm als ihr alle insgeſamt. Wer iſt ſein 
ältefter Freund? Zh. Wer hat Freud’ und Leid mit ihm getragen, ihn vermahnt, 
ihn geſchimpft und ift doch ihm immer gut geweſen? Ich. Was du wohl out, 
ſo 'n junger Grünſchnabel! Wo warſt du, als er ſeine ſchwerſten und ſeine beſten 
Tage hatte? Im Froſchteich, mein Jung, und nun willſt du hier großtun! Und 
weißt, worauf's hinausläuft, dein Großtun? Aufs Graulen, mein Sung, das 
laß dir fagen! Biſt noch viel zu jung, um die Nacht über allein bei 'ner Leidy zu 
ſitzen. Was weißt du von ihm überhaupt? Seine beſten Jahre, wo er ein forſcher 
Kerl war, die kennſt du nicht. Du kennſt ihn ja bloß, wo er ſchon ſo'n bißchen —“ 

Er machte eine unbeſtimmte Handbewegung über die Stirn weg. 

"Oa, mit einem Ruck, riß der Junge fih los, fo daß der erſchrockene alte Herr 
den Knopf in der Hand behielt. Sein bleiches Geſicht flammte plötzlich über und 
über, und feine leidenſchaftlichen Augen wurden ſtählern blau. 

„Das laſſen Sie fein, Herr Möhrs!“ ſchrie er, und die helle Knabenſtimme 
gellte durch das totenſtille Haus. „Wenn Sie auch mit ſo etwas anfangen, als 
wenn Großvater nicht ſeinen Verſtand mehr gehabt hätte, dann iſt's aus. Das 


12 | Diers: Die Briefe des alten Zoſias Röppen 


laſſe ich nicht ſagen! Er hatte mehr Verſtand als wir alle hier zuſammen. Hören 
Sie, verſtehen Sie? Und Sie, Sie wollen ihn gekannt haben? Sie wollen die 
Nacht —“ N 

„Herrje, herrje, Junge! Bis doch man bloß ſtille! Nee, nee, ſo'n Fung’! 
Macht einen Höllenradau im Sterbehaus. Aber ich ſag's ja: ganz wie der Alte! 
Der Schlag erhält ſich. Immer gleich zum Dach heraus, wenn kein Menſch was 
Schlimmes gemeint hat. Brauchſt vor mir deinen Großvater nicht zu verteidigen, 
dummer Bengel. Mir geht's mehr nah, daß mein oller Joſias tot iſt, als wenn 
ich's ſelber wär'. Weib und Kinder ſind mir nicht lieber wie der. Aber grad ſo war 
er auch. Nee, nee, Fung’, da bleib du man. Ih fahr'! Mit Ten Bullerkopp hielt’ 
ich die Nacht doch nicht aus. Da würde ich ja wohl ſelber unklug dabei. Sch fahr’ 
nach Haus und halte da meine Wille Totenfeier für mich. Nutzt dem Fofias eben- 
foviel, und bleib’ ich wenigſtens in Frieden.“ 

Er kehrte ſich der Flurtür zu, vor der fein Fuhrwerk wartete. Die erſten 
ſchweren Regentropfen fielen auf das Pflaſter des Hofes. 

„Muß man wahrhaftig grade in das Wetter 'reinfahren!“ murrte er vor 
ſich hin. „Aber bleiben mag ich nicht. Hat der Bengel ein Paar Augen im Kopf! 
Als wenn er mich abbrennen wollte! Na, laß ihn man, wird ſchon das Graulen 
kennen lernen heute nacht.“ 

Heinz ging in die Tür zur rechten Hand, die vorhin zugeſchlagen war. Er 
ſtand im Arbeitszimmer des Hausherrn. Rechts am Fenſter ein alter brauner 
Schreibſekretär, auf deſſen offener Platte ein angefangener Brief lag. Daneben 
ſtand ein Blechkaſten. Links war ein grünes Sofa, ein Tiſch mit Dede, daneben 
ein großer weißer Kachelofen, und an der Wand hing ein Jagdgewehr. Die Fenſter 
gingen auf den Hof und ſtanden offen. Regenluft wehte erquidend in die fchwüle 
Atmoſphäre. 

Die gegenüberliegende Tür ſtand offen. Sie führte in ein enges, einfenſtri- 
ges Schlafſtübchen. Auf dem Bette lag ein alter toter Mann. Der bartloſe Mund 
war eingefallen, das kurze graue Haar lag rund um die durchfurchte Stirn. Die 
Augen waren bedeckt von ſehr breiten Lidern. Scharfe Linien, förmlich kleine 
Gräben, liefen von den Wangen bis herunter ans Kinn. 

Der Zunge ſetzte ſich ſtill nieder und legte ſeine Hand auf die des Toten. 
„Das habe ich mir heute anders gedacht, Großvater“, ſagte er leiſe. Aus ſeinen 
blauen Augen fielen helle Tränen auf das bleiche kalte Geſicht. Er zog fein Tüd- 
lein, ein echtes Knabentüchlein, nicht allzu ſauber, und wiſchte ſie behutſam ab. 

Unterdes kam das Gewitter herauf, er merkte es nicht. Er fab nur immer 
und ſtarrte und wunderte ſich. Immer von neuem kam dies faſſungsloſe Wundern 
über ihn, das nicht begreifen konnte. 

Hinter ihm klinkte leiſe die Tür auf. Eine geſetzte Frau in weißer Schürze 
ſchlich ſich ein. 

„Heinz,“ flüſterte ſie, „da iſt eben der Briefträger Lepel gekommen. Von 
Friedenſee herüber zu Fuß. Er will beim Herrn wachen bis morgen fünf Uhr. 
Dann, ſagt er, kommt er noch zur Zeit wieder retour. Er hat bei mir geſeſſen und 
geweint wie ein kleines Kind. Ach Heinzing, Heinzing, da liegt er nun und iſt 


Diers: Die Briefe des alten Zoflas Köppen 13 


tot! Ach Gott, ich vergeſſe es nie mehr im Leben, wie ich grade den Tiſch fertig 
babe, und Du but vorgefabren, und ich denke: Nun können fie effen — und 
komme Trein — und da ſitzt er — und da ſtehſt du — ach Jung’, ach Bung!“ 

„Mamſell,“ ſagte Heinz, „ich wache allein. Bring mir die Lichter und geht 
alle zu Bett. Zch will's fo, und Großvater will's fo. Ich habe feinen letzten Brief 
geleſen, der auf der Platte lag. Den hat er nicht mehr fertig kriegen können. Wir 
haben uns viel zu ſagen in dieſer Nacht; ſchicke Lepel fort, Mamſell.“ 

Sie ſtand und jah den Jungen an mit feinen blauen Augen im bleichen Ge- 
ſicht. Es war mehr Befehlen als Bitten darin. 

„Ja, ja,“ ſagte fie, „ich kenne diefe Art. Habe mich manchmal wundern müf- 
ſen in dieſem alten Haus und tun, wie ich nicht wollte. Warum nicht auch heute. 
Ich hole dir die Lichter ſchon, Heinzing, mein Jung’. Und wenn du mit deinem 
Großvater zu reden haſt dieſe Nacht, ſo ſprecht auch mal von mir. Ich habe ihm 
feit ſiebzehn Jahren treu gedient. Ach Fünging, ihr werdet ſchon viel miteinander 
zu reden haben, denn mancherlei mußte erſt kommen und gehn, ehe er nun ſeine 
Ruhe hat. Sch will nicht weinen, ich will fie ihm gönnen, feinem armen, ſtolzen, 
kranken Geiſt, der ſich und anderen das Leben ſaurer gemacht hat, als nötig war. 
Sh fage nicht, wie die Leute hier in Greeſchenbock fagen: Er war zuletzt nicht mehr 
ganz klar, ich fage: er war vielleicht zu klar. Als er lebte, mußte ich weinen. Zegt 
habe ich Frieden, weil er ihn hat.“ — — 

Das Gewitter war vorüber. Die Sommernacht hing in ſchweren dunklen 
Wolken über dem einſamen Gehöft. In der Totenſtube brannten die Lichter, 
und in ihrem Schein lächelte das herbe, feſtgehämmerte, klare Geſicht des alten 
toten Pãchters. 

Die Tür zum Nebenzimmer ſtand weit auf. Dort ſaß am Schreibſekretär 
bei dem Schein einer niedrigen Lampe der ſtille junge Totenwächter, hatte den 
Blechkaſten geöffnet und ließ den Großvater zu ſich reden, wie der dies in dem 
letzten angefangenen Briefe ſich vorgenommen hatte, es aber nicht mehr fo aus- 
führen konnte, wie er dachte. 

Die Briefe im Blechkaſten waren alle der Zeit nach peinlich genau geordnet. 


* * 
* 


An Fräulein Elſe Köppen, 
p. Adr. Fräulein Karoline Köppen, 
Berlin W. 
Kleiſtſtr. 5, 4 Treppen. 


Greeſchenbock bei Pöpplitz, Sonnabend den 29. September 1888. 
Meine liebe Tochter Elſe! 

Deinen Brief habe ich erhalten und freue mich, daß Du gut angekommen 
bift, auch Deinen Koffer richtig an der Ausgabeſtelle empfangen haft. Deine Be- 
rechnung, die Du eingelegt haft, ſtimmte. Daß Ou in Grünebuſch eine Taſſe Bouil- 
lon auf dem Bahnhof getrunken haft, ſchadete nichts, man muß unterwegs was 
Warmes haben, beſonders an ſolchem naſſen Tage, ſonſt wird einem ſchlecht. Aber 


14 Diers: Die Briefe des alten Zoſias Röppen 


ein Trinkgeld hätteſt Du nicht geben brauchen, das ift nichts als eine verfluchte Un- 
ſitte, die den Herren Wirten den Kellnerlohn ſpart. In Pöpplitz in der Glocke gebe 
ich ja auch mal hin und wieder ein kleines Douceur, aber das ift für den Fritz, den 
ich kenne, und der mich kennt. Auf Reiſen ſoll man die Hand auf der Taſche halten, 
ſonſt iſt's bald alle. And Goldſäcke habe ich Dir nicht mehr nachzuſchicken, das 
kannſt Du auch der Tante Line beſtellen, mit einem ſchönen Gruß übrigens. 

~. 8% will Dir überhaupt mal was fagen, Elſing. Wenn ich an Dich ſchreibe, 
Du kannſt Dir ſchon denken, wie das ift. Am Tage kann ich nicht am Schreibtiſch 
ſitzen wie die Leute in der Stadt. Und wenn ich abends dazu komme, und die Lampe 
brennt ſo ſtill, und im Hof iſt alles ruhig, dann bin ich auch ſo müde, daß mir die 
Augen beinahe zufallen. Die jüngſten Knochen habe ich auch nicht mehr, und 
ſeit ich vom Real ’runter war, habe ich immer arbeiten müſſen. Da kannſt Ou 
Dir ſelbſt denken, daß meine Briefe keine Meiſterſtücke werden können. Zum 
Rumzeigen und Beguden und Beſchnattern find fie nich t. Das merk Dir ein 
für allemal! Sc will nichts gegen Tante Line fagen, fie ift in ihrer Art gut genug, 
aber das Beſchnattern ift immer ihre Hauptforſche geweſen, ſchon als wir zwei 
Kinder noch bei unſeren Eltern in Hoptendorf neben dem Mifthaufen fpielten. 
Na, da war nichts Schlechtes dabei, aus dem Miſthaufen haben wir uns manches 
Körnchen Gold rauskratzen können. Die Eltern waren noch aus der guten alten 
Zeit, wo es hieß: außen ſchlicht, innen licht. Ich hätte mir Greeſchenbock im Leben 
nicht pachten können, und Line könnte jetzt nicht mit ihren paar Malmätzchen, von 
denen man nie weiß, ſind's Kühe oder ſind's Soldaten, in Berlin ſitzen, und Du 
könnteſt bis in Dein graues Alter Milch abſahnen, wenn Vater und Mutter nicht 
ſo bieder und rechtſchaffen und fleißig geweſen wären, daß mir heute noch die 
Augen naß werden, wenn ich's bedenke. 

Na ja, das ſind vergangene Zeiten. Was ich Dir ſagen wollte, war auch 
eigentlich was anderes. Es betrifft nämlich meine Briefe. Alſo: die ſind für Dich 
allein. Du haft ja folh ein altes Blechkäſtchen mit Schloß, wo Mutters Braut- 
kranz drin liegt und Dein und Willis erſter Zahn und das Bild von uns vier und 
dann das letzte Bild von Mutter, drei Monate vor ihrem Tode. Da kannſt Ou meine 
Briefe mit zulegen. Immer hübſch grade das Kuvert aufſchneiden und ſie dann 
wieder da reinſtecken. Nicht als ob ich Staat damit machen wollte. Ach Gott, 
damit (e nicht weit her. Aber damit Du einen Halt daran bat, Ich werde Dir 
immer ſchreiben, was ich über Dein Leben und Treiben denke, auch über Tante 
Line, deren Denkweiſe mir nicht immer paßt. Darum laß ſie nichts leſen, das 
gibt bloß unnützen Lärm. Ich ändere mich nicht, und fie ändert fih nicht, mit 
fünfundfünfzig und zweiundfünfzig Jahren iſt das vorbei. Aber wenn Du mein 
aufrichtiges und gutes Kind bleibſt, fo weißt Du doch immer, woran Du Dich zu 
halten haft. Denn dazu ift der Vater da. In der Großſtadt find viele Gefahren, 
von denen man in Greeſchenbock und Pöpplitz nichts weiß. Womit ich mich nicht 
lächerlich machen will wie Karl Möhrs von Dreefow, der fih denkt, man muß ſich 
doppelte Knöpfe an alle Taſchen machen laſſen, wenn man nach Berlin fährt, 
und das Geld fingern fie einem doch raus. Ich weiß ſchon, daß in Berlin Ordnung 
herrſcht, und daß die Polizei ſtramm auf dem Poſten iſt. Aber was ſo die Flaneurs 


Dlers: Die Briefe bes alten Zoflas Röppen | 15 


auf den Straßen betrifft, — na, da wirft Ou wohl nicht dumm genug ſein, Dir 
da was einbilden zu laſſen. 

Nun iſt der Bogen voll geworden, und ich habe mir den Schlaf ordentlich 
weggeſchrieben. Na, das war das erſtemal. Nun ſchreibe mir nur gleich, ob Du 
aufgenommen biſt, und ob ihr viel zu tun kriegt. 

Die Berechnung legſt Du wieder bei. 

Dein getreuer Vater 
= . z Joſias Köppen. 
Greeſchenbock bei Pöpplitz, Montag den 7. Oktober 1888. 
Meine liebe Tochter Elſe! 

Deinen Brief mit der Nachricht, daß Du aufgenommen biſt, und wie Deine 
Lehrer und Lehrerinnen heißen, habe ich erhalten. Ich habe damit Korl Wendrup 
gleich zum Paſtor nach Friedenſee geſchickt, damit der doch Nachricht bekommt. 
Er ſagte mir neulich, nach der Kirche, es wäre ihm doch „Ehrenſache“, daß Du bei 
der Aufnahmeprüfung gut durchkommſt, und iſt ihm wohl nicht ruhig ums Herz 
geweſen, bis er den Brief gekriegt hat. 

Nun halte Dich man brav, daß die Sache gut geht. Dann will ich ja auch 
zufrieden ſein. 

Daß ich jetzt abends allein ſitze, laß Dich man nicht beunruhigen. Ich leſe 
derweil. Ich habe mir aus der Rumpelkammer allerlei alten Kram geholt. Du 
weißt auch, da iſt genug Futter, das geht nicht ſo bald aus. Mutters Schönſtes 
war ja immer: abends im Winter leſen. Es hat ſie manchmal geärgert, daß ich immer 
dabei einſchlief. Manchmal paſſiert mir's ja auch heute noch, aber es kommt mir 
vor, als wenn ich jetzt beſſer denken könnte, wohl weil ich mehr zu denken habe. 
Damals war ich noch leichter und ſorgloſer. Aber wenn et der Tod eingezogen 
iſt, ſieht man vieles anders an. 

Na, ich will Dich nicht traurig machen. Lern’ Du man fo weiter. Es wird 
am Ende ſchon recht geweſen ſein. 

Du fragſt nach der Wirtſchaft. Das laß man jetzt, das kann ſo'n ſtudiertes 
Fräulein ja doch nicht intereſſieren, und höflich tun brauchſt Du mir nicht. Führt 
zu nichts Reellem. 

Mit dem Mittag iſt's bis jetzt noch gut gegangen, die Mamſell gibt ſich Mühe. 
Aber mit dem Brenner wird's mir unangenehm bei Tiſch. Er wirft ſeine Augen 
nach ihr, und Liebesgeſchichten will ich hier nicht haben. 

Deine Berechnung ſtimmte. Aber warum fo viel Fahrgeld? Mach Dir man 
lieber ordentlich Bewegung, das iſt geſünder und billiger. 

Grüße Tante Line. Dein getreuer Vater 

i Sofias Köppen. 

Nachſchrift: Daß die Tante gut zu Dir ift und fih mit Dir bemüht, ift ja ſchön 
und recht. Sage ihr man meinen beſten Dant. Aber fo rausſtreichen, als wollteſt 
Du mir damit etwas gegen meinen erſten Brief beweiſen, brauchſt Ou nicht. Das 
ift überhaupt ihre Art: immer hinter den Worten noch einen anderen Sinn zu 
haben. Die nimm Dir man nicht an. 

i * 


16 Piers: Die Briefe des alten Zoflas Röppen 


Greeſchenbock bei Pöpplitz, Sonntag den 14. Oktober 1888. 
Meine liebe Tochter Elſe! 

Deinen Brief habe ich erhalten. Aber ich konnte ihn nicht dem Paſtor nach 
Friedenſee ſchicken, weil ſo viel drin ſtand, das nicht für fremde Leute paßte. 

Du biſt eine dumme Diern. Heimweh, ſo was gibt's nicht. Das habe ich Dir 
gleich gejagt: entweder — oder. Du haſt's gewollt, Deine Mutter auf dem SGterbe- 
bett hat's gewollt, der Paftor Friedrichs liegt mir ſchon feit faſt zwei Fahren da- 
mit in den Ohren, und mein einzigſtes Kind but Du jetzt ja man. Ein Ochſe mit 
dem Brett vorm Kopf wie mein oller Kolling Möhrs bin ich nicht. Mein Vater 
hat mich das Real durchmachen laſſen und hat immer Rückſicht darauf genommen, 
was ſeine Kinder konnten und wozu ſie taugten. Das will ich auch. Kinder ſind's 
ja nun nicht mehr, aber alles, was für Oich recht und in Ordnung iſt, ſollſt Du haben. 

Aberhaupt, wer ſchon zweimal den Tod ins Haus kommen ſah, ſieht die Welt 
anders an. 

Aber nun es ſo weit iſt, will ich kein Gejammere hören. Was Du von dem 
Wind ſchreibſt, der um unſer Haus pfeift, ſo iſt der Berliner gerade ſo gut. Hab 
Dich man nicht, Diern, und ſteck die Naſe in Deine Bücher. 

Nein, Weihnachten kommſt Du nicht her. Die Reiſe iſt zu koſtſpielig. Denkſt 
wohl, man ritte immer nur ſo, wie es einem Spaß macht? Noch nicht drei Monate 
biſt Du dann fort und willft wieder her? Halt man aus, ich mag fo was nicht tei- 
den. Die Mamſell beſorgt hier ſchon ganz recht für die Leute den Baum, und 
den Kuchen uſw. Seit Mutter und Willi tot ſind, mache ich mir ſo wie ſo nichts 
aus Weihnachten. 

Eine Berechnung fehlt diesmal. Du warſt wohl ganz konfus. Tu das nicht 
wieder. | 
Dein getreuer Vater | 
Sofias Köppen. 


* > 
* 


Greeſchenbock, Sonntag den 21. Oktober 1888. 
Meine liebe Tochter Elſe! 

Deinen Brief habe ich erhalten. Siehſt Du, man muß ſich fo was nicht an- 
kommen laffen, und kommt's mal, muß man es bei fih behalten. Was denkſt Ou, 
daß ich nicht auch Heimweh gehabt habe, als ich von Hoptendorf weg mußte? 
Aber wehe, wenn das einer gemerkt hätte. Wozu hat man denn Zähne, wenn 
man ſie nicht mal zuſammenbeißen kann! 

Nun freilich biſt Ou nur ein Mädchen. Aber Deine Mutter und Beine Groß- 
mutter ſind auch nicht weichlich geweſen. Das liegt nicht in unſerer Art. Eher zu 
trotzktöpfig. Womit ich Dir dies letztere nicht geraten haben wollte, wenigſtens 
nicht mir gegenüber, Dagegen was z. B. Tante Line betrifft, wenn die fic ihre 
Malweiber einladet, und Du ſollſt bis nach Mitternacht dazwiſchen fiken, da kannt 
Du ruhig Deinen Kopf aufſetzen. Sollſt es fogar. Was foll das heißen, ſolchen 
Anſinn mit Oir anzuſtellen! Du haſt um halb zehn ins Bett zu gehen, und 
wenn Du mal mit einem Aufſatz oder was ihr ſonſt habt, noch nicht fertig biſt, 


Dlers: Ole Briefe des alten Zoſias Köppen 17 


ſo kannſt Du auch bis halb elf ſitzen. Aber nötig iſt das auch nicht, richte Dich am 
Tage ordentlich ein, dann kommſt Du ſchon zurecht. Vor allem: verſchnattere 
keine Zeit. Du kannſt Dir ſchon denken, mit wem, und was ich Dir im erſten Brief 
gefagt habe. Zum Verſchnattern haben wir die Zeit nicht gekriegt, hier in Gree- 
ſchenbock haſt Du das auch nicht gelernt, weder bei Mutter noch bei mir. 

Laß Dir das geſagt ſein, Diern, verſtanden! 

— — Sd habe mir den Rock ausgezogen. Mir ift ganz heiß geworden, 
weil ich mich ſo geärgert habe. Das darf nicht vorkommen, dafür habe ich Dich 
nicht nach Berlin geſchickt. 

Mir zum Pläſier habe ich das nicht getan, das kannſt Du Dir wohl denken. 
Mir wär's auch lieber, Du wärſt noch hier, und ich brauchte die Mamſell nicht. 
Von den einſamen Abenden will ich nichts jagen, habe Dir ja auch ſchon gefdrie- 
ben, daß das nichts macht. Aber ein anderer hier aus der Gegend hatte fein ein- 
zigſtes Kind nicht fortgelaſſen, und wenn ſich's die Seele aus dem Leibe heulte, 
das ſage ich Dir. Um bloß an Rolling Möhrs zu denken. Läßt der wohl eine von 
den ſechs Töchtern aus dem Hauſe und wenn die ſich auch gegenſeitig über den 
Haufen rennen? Oer denkt: Vas ich hab', das hab' ich, und was mein iſt, ſoll 
mir dienen und nicht ſremden Leuten. 

Vorgeſtern war er hier. Ich wollt's Dir eigentlich gar nicht ſchreiben. Schöne 
Dinge hab’ ich da zu hören gekriegt, fo etwa, als wäre ich ein Hanswurſt mit Riun- 
kern dran. „Biſt ja wohl mall!“ ſagte er. „Haft bloß eine Tochter und läßt die nach 
Berlin und Lehrerſche werden —“ na, und was er ſonſt noch ſagte, aufgeſchrieben 
habe ich's mir nicht. Aber ärgern tut's mich heute, und heiß ift mir, ſchon wieder, 
in Hemdsärmeln. 

Sch will man zu Bett gehn, wird Ke das Beſte fein. 

Die Berechnung ſtimmte. 

Dein getreuer Vater 
Joſias Köppen. 

Nachſchrift: Daß Tante Line ſich nicht mehr Line nennen läßt, ſondern 
„Calla“, kann ich mir denken, das kann ich mir lebhaft vorſtellen! Na, denn man 
zu. Dabei bleibt ſie doch Karoline Köppen, nichts vor und nichts nach. Sie ſollte 
ſich was ſchämen. 


** * 
* 


Greeſchenbock, Sonntag den 22. Oktober 1888. 
Meine liebe Tochter Elſe! 

Deinen Brief habe ich erhalten. Die Berechnung ebenfalls, aber fie ſtimmt 
um 35 Pfennig nicht. Ich ſchicke ſie Dir hiermit wieder, beſinne Dich genau und 
berichtige den Fehler. Gewöhne Dir ja nicht an, in Kleinigkeiten leichtfertig zu 
ſein, denn Geld, und wenn es Pfennige ſind, ſind niemals Kleinigkeiten. Dazu 
koſten ſie zuviel Schweißtropfen. 

Sonſt hat mir Dein Brief gefallen. Bleib Du nur immer die Elſe aus 
Greeſchenbock und mache Dich nicht zu gemein mit Tante Line. Deren Wege jind 
meine Wege nod lange nicht, wenn fie auch ihre guten Seiten hat. 

Ser Sirmer XI, 7 


18 Diers: Die Briefe bes alten Zoflas Röppen 


Mit Rolling Möhrs, das ift auch nicht fo ſchlimm. Wenn id mich nach dem 
richten wollte, hätte ich ihn ja erft fragen können, ehe ich Dich wegſchickte. Nein, 
denke man nicht, daß mich ſo was lange ärgert. Das kommt nur mal ſo und vergeht 
wieder. 

Was ſoll in der Wirtſchaft denn groß los ſein? Wie's eben ſein kann nach 
dem naſſen Sommer. Die Kartoffeln in den tieferen Feldern haben als fauliger 
Matic in der Erde geſteckt, daß es bis auf die Chauſſee geſtunken hat. Das ift Schlecht 
dies Jahr. Was hilft's? Wie Gott will, muß der Landmann ſagen. 

Eine von den großen roten Kühen, die tragend iſt, hat ſich was eingeſchluckt 
und iſt krepiert. Es muß auf dem Hof geweſen ſein, als Siegfried die Ställe miſtete. 
Der olle Kerl war ganz außer ſich, iſt auch ein großes Malheur. 

Was den vergangenen Mittwoch, den 24. betrifft, ſo bleibt's mit den Leuten 
ziemlich dasſelbe. Nur die drei Familien am Teich, die Maucks, Rohrbeins und 
Kantowskis haben gekündigt. Die haben ſich wohl beredet, daß es anderwärts 
fetteres Futter geben könnte. Na laß fie. Überhaupt war's in Hoptendorf noch 
alles anders. Sekt ſehn fie bloß noch auf den Lohn, und mit Glacébandfduben 
wollen ſie auch angefaßt werden. Und dabei, was koſtet das alles, das man kaufen 
muß, und wie billig ſoll man ſelbſt alles laſſen. Selbſt mit den Gänſen iſt diesmal 
nicht viel los. Die Hausfrauen in Pöpplitz ſcheinen fih dies Fahr den Martins- 
braten abſparen zu wollen. Madame Ricke hat ſchlechte Geſchäfte gemacht. Sie 
läßt Dich übrigens grüßen, und fie vermißte Dich fo lang der Tag wäre. Darfſt 
ihr ſchon immer mal eine Anſichtskarte ſchicken. Deine Mutter hielt viel auf fie. 
Die neue Lehrersfrau bleibt die zierige Suſe, die ſie war. Da hielt Madame Ricke 
ihrer Zeit beſſer auf Würde. 

Weiter ijt nichts Neues. Der Brenner nimmt ſich zuſammen, ich habe ihn auch 
gehörig geſchüttelt. Nun mag er bleiben, fleißig iſt er ja, aber er hat keine Haltung. 
Die Mamſell ſagt: „Wenn ich den heiratete, könnte ich ja auch einen Hahn heiraten. 
Der läuft jedem Huhn nach.“ 

Über den neuen Kutſcher kann ich noch nicht urteilen. 

Weiter weiß ich nichts, ich bin müde, und die Lampe brennt ſchlecht. 

Ja, mein Oodter, ift ja gut. Beweiſe mir Deine Liebe, indem Du mein 
gutes, gehorſames Kind bleibſt. 

Grüße Tante Line. 

Dein getreuer Vater Fofias Köppen. 


* * 
& 


Greeſchenbock bei Pöpplitz, Montag den 5. November 1888. 
Meine liebe Tochter Elſe! | 
Deinen Brief habe ich erhalten, und eben, als ich ihn gelefen habe, fuhr der 
Oberförſter Daul auf den Hof. Da habe ich mit ihm bei einer Flaſche Wein den 
Brief nochmal geleſen, und uns ſind die Tränen gekullert vor Lachen. Wie wir 
geleſen haben, daß Ihr Eurer Mademoiſelle Pipplipow (wer kann den Namen be- 
halten) ihren Pompadour mit den falſchen Zähnen drin verſteckt habt und Euch 
Eurem neuen Zieraffen von jungen Doktor mit vertauſchten Namen vorgeſtellt 


Piers: Die Briefe des alten Zofias Röppen . 19 


habt, dachten wir an die eigenen Zugendzeiten zurück. Die waren doch auch ſchön! 
Sa, mein Diern, ſeid man immer mal ein bißchen überſpöhnig, das ſchwere Leben 
kommt immer noch früh genug. 

Nun tu mir auch zu wiſſen, ob Du wohl mal in die Kirche gehſt. Oft findeſt 
Ou wohl nicht hin, bei Tante Line iſt das wohl nicht Mode, kann ich mir denken. 
Ich bin ja auch manchesmal aus der Kirche rausgekommen und habe gedacht: Za 
meiner Six! jetzt weiß ich doch wahrhaftig kein Wort, was der geſagt hat. Aber 
man iſt doch mal in einer anderen Welt. Man kriegt doch mal die Alltagsſorgen 
aus dem Kopf. Da ſitzt man da, hat nichts zu tun, und plötzlich gehn einem die 
Gedanken wie auf Flügeln. Daß Du nach Berlin gekommen biſt, Diern, verdankſt 
Du auch nur der Kirche. Da hab' ich's mir überlegt. Da hat der liebe Gott viel- 
leicht zu mir geſprochen, ohne daß ich es gemerkt habe. Alſo geh auch mal hin. 

Geftern war's doch Sonntag. Da bin ich, als es ſchon ſchummerig war, 
auf dem Kirchhofe geweſen. Ich fike alfo nachmittags und lefe in der alten Welt- 
geſchichte mit Bildern, die Willi und Dir gehört hat. Da klopft's und da kommt 
Madame Ricke, hat ihre weiß und blaue Sonntagshaube auf und die Schürze von 
ſchwarzer Seide mit bunten Blümchens vor, die Du ihr vorigen Weihnachten 
geſtickt haſt. Und in der Hand hält ſie zwei wunderſchöne Roſen. „Die ſind von 
Fräulein Elſes Teeroſenſtock,“ ſagte ſie. „Das bitte, beſtellen Sie ihr man. Sie 
hat's nicht geglaubt, daß der noch in dieſem Jahr blühen wird. Aber nun ſollen 
Sie ſie haben, darum, weil Sie hier immer ſo einſam ſitzen, Herr Köppen. Wie 
die Rnoſpen anſetzten, habe ich ſie ſchon für Sie beſtimmt. Sie haben's auch wohl 
gewußt,“ ſagte fie. „Die Roſen nämlich. Daß fie einen einſamen alten Mann auf- 
heitern ſollten, darum haben fie ſich fo ſchön beeilt.“ 

„Ze, Madame Ricke,“ ſag' ich, „was ſoll ich wohl mit Roſen?“ Aber ſie gibt 
ſie mir doch. Schon wie ich ſie anfaſſe, mit meinen plumpen Fingern, kommt 
mir das ſchnurrig vor. Nee, nee, zu Joſias Köppen und auf feinen ollen Schreib- 
ſekretär paſſen keine Roſen. Und der Duft macht einen ja ganz trübſinnig. Nein, 
damit hat's Madame Ricke nun mal nicht getroffen. 

Aber wie ich fie anſeh' und an Mutter denke, die immer ſagte: „So eine 
wie Madame Ricke kann man mit der Laterne ſuchen und findet fie nicht! Drei 
Söhne dem Vaterland geopfert, den Mann in den beſten Jahren verloren, dann 
beiſeite geſchubſt und doch immer tapfer und treu. Nie kleinlich, nie zänkiſch und 
fo klar im Kopf —“ da dachte ich auch: Wer weiß, wozu ihr Geſchenk gut ift. Und 
wie ich die Roſen ſo vor mich hinhalte, da kommt's mir wie eine Erleuchtung, 
daß ich die wohl auf den Kirchhof bringen ſoll. 

Madame Ricke hat dann noch ein Stündchen bei mir geſeſſen, und ich hab's 
nicht gedacht: ich habe mir mit der alten Frau ordentlich das Herz leicht geredet. 
Habe auch nicht gewußt, wie viel drauf fab, bis es alles runter war. Es ift doch 
am Ende ganz weiſe eingerichtet, daß man nicht in ſorgloſen, leichten Zeiten die 
Menſchen richtig kennen lernt, ſondern erſt, wenn's enger um einen wird und im 
gerzen manchmal bange. Was weiß dieſe alte Seele alles vom Leben und iſt doch 
über Greeſchenbock und Pöpplitz nie herausgekommen. Fd) habe im ſtillen ge- 
ſtaunt. Ich habe an Did, Elfe, gedacht, ob Du da wohl in Berlin fo gute Unter- 


20 Diers: Die Briefe des alten Zoſias Röppen 


haltung fändeſt wie mit Madame Ricke. Wenn die Bildung gekriegt hätte, die 
würde jetzt bei Euch als geiſtreiche Perſon gelten, und manch eine könnte ſich vor 
der verſtecken. , 

Es hat mich gefreut, was ſie alles von Dir fagte, Diern. Yd ſchreib's Dir 
nicht wieder. Du haſt bis jetzt zwar keine Anlage zur Eitelkeit, würde Dir auch 
komiſch ſtehn, aber beſſer iſt's doch immer, man wird ein bißchen zu ſcharf an- 
gefaßt als zu weich. Das hab' ich zu Haufe gelernt und habe es ein halbes Jahr- 
hundert hindurch immer richtig befunden. Denk Du Dir bei Deinen neuen Freun- 
den auch man immer, was wohl Madame Ricke dazu ſagen möchte. Das wäre 
noch nicht der ſchlechteſte Maßſtab. 

Liebe Diern, dann bin ich auf den Kirchhof gegangen. Das Wetter war ſtill 
und trübe und dunkel wurde es ſchon. Die kahlen Bäume ſtanden fo ftumm. Da 
habe ich auf jedes Grab eine Rofe geſteckt, und es ift mir nichts davon abgeblättert, 
das kannſt Du glauben. Und dann habe ich mich auf unſere Bank geſetzt, die zwiſchen 
den Gräbern ſteht, und es wurde immer dunkler und nichts regte ſich, und ich 
habe an vieles gedacht. 

Die Gedanken kommen manchmal wie große Vögel. Elſing, haſt Du das 
auch ſchon gehabt? Man kann ſie nicht rufen und nicht verjagen, man kann nur 
ſtill ſitzen und fühlt ſie um den Kopf flattern und mit den Flügeln ſchlagen. 

Was habe ich gedacht? Ich habe an unſere Brautzeit gedacht, als Ihr beide 
noch nicht da wart. Was war ich ſelig! Ob ſie's wohl gewußt hat? So ganz wohl 
nicht. Man kann ja nicht reden wie man möchte. Und ſie kam mir immer ſo fein 
vor. Eine Rektorstochter, das ift ſchon was! Aber vertraulich waren wir auch. 
„Mein alter Knorren,“ ſagte ſie manchmal zu mir, wenn ich meinen dicken Kopf 
hatte und nicht gleich wollte. Sie konnte das ſo ſagen — ich hör's immer noch. 
Damals dachte ich, ich dürfte mir das nicht ſo merken laſſen, aber ich habe in mir 
gelacht, ſo ſchön klang es, wenn ſie „alter Knorren“ ſagte. 

Elſing, es ijt doch was wert, um ſolche ſtille Stunde mal in der Woche. Fd 
weiß, Du hängſt auch danach, und wenn ich Dich mal ſo habe ſitzen gefunden, 
dann habe ich Dich aufgerufen, Du ſollteſt nicht träumen. Ja, man ſoll's auch nicht 
am Werktag, aber am Sonntag im Schummern kann man's ſchon mal. Zräu- 
men iſt immer beſſer als ſchnattern, das iſt ja das Schrecklichſte. 

Ich habe mir viel fagen laffen zwiſchen den Gräbern, auch Unrecht, das ich 
getan habe, und vielerlei Irrtum und Torheit. Ich kann Dir das nicht alles fagen, 
mein Diern, das paßt ſich nicht. Aber Dein Vater iſt auch ein armer Sünder und 
möchte heute wohl manches noch einmal leben und dann anders machen. Am 
ſchlimmſten iſt's, wenn einen unſchuldige Tränen brennen, die man verurſacht hat. 
Ach Diern, das tut bitter weh. Da hilft kein Biegen und kein Winden, das muß 
ausgehalten ſein. 

Willi wäre jetzt zwanzig Jahre alt, Elſing. Am nächſten Mittwoch wäre ſein 
Geburtstag. Ich denke ſchon allein dran, auch ohne daß Du mich daran erinnerſt. 
Solche Dinge behält der alte Kopf doch noch. Er wäre jetzt beim Militär. Ach, 
ein braver Soldat wäre er geworden, ſo wie der war. Es kommt mir doch immer 
wieder hoch wie damals in der erſten Zeit. Und Mutter hat's noch erleben müſſen. 


Oilers: Die Briefe des alten Zoflas Köppen 21 


Da möchte man auch manchmal zum lieben Gott aufbrüllen: Warum das? was 
haſt Du davon? 

Aber man ſoll das nicht. Ich kann's nicht leiden, wenn die Leute mit dem 
Herrgott ſchnattern, als wär's der Schulze oder ein Gendarm. Es ift noch keiner 
von uns allen in ſeiner Werkſtatt geweſen und hat eine Taſſe Kaffee vorgeſetzt 
gekriegt. Der Reſpekt, mein Dochter, der ift auch immer noch das Beſte bei ſolchen 
Schlägen. Der hält aufrecht, der macht ſtramm. 

Willi iſt einen ehrlichen, tapferen Tod geſtorben. Möchten wir man alle 
einſt ſo ſterben! Was iſt überhaupt der Tod! Das Schlechteſte doch wohl nicht, 
auch nicht für die, die nachbleiben. Möchte ich wohl mit Maurer Mahn tauſchen? 
Dem ſein Franz lebt doch und lebt noch vielleicht lange. Aber was mir der alte 
Mahn geſagt hat mit ſo ſtarren Augen, damals, als wir Willi begraben hatten: 
„Herr Köppen, ich wollt', mein Franz läg' da, wo der Herr Willi liegt!“ das bleibt 
noch heute wahr. Willi iſt geſtorben wie ein Soldat auf dem Schlachtfeld, mit 
dem Schuß in der Bruſt, darum, weil er ſeines Vaters Beſitztum verteidigte. 
Wehe dem Vater, deſſen Sohn ein Wilderer und ein Mörder iſt! Der Jammer 
des alten Mahn ift auf Erden nicht mehr auszulöſchen. Aber wohl dem Vater, 
deſſen Sohn in herrlicher Jugend ſtarb, wenn er auch nachher an jedem Frühling 
und Herbſt denkt: Wie wär's, wenn der Fung’ noch da wäre! 

Liebe Diern, ich mach' Dich weinen. Laß man, ich hab' auch geweint. Mit 
Spaßmachen kommen wir nicht durchs Leben, wir müſſen auch durch die ſchwar⸗ 
zen Stunden durch. Nachher ſcheint die Sonne auch wieder. 

Wie ich heute morgen Deinen Brief geleſen habe, da habe ich doch wieder 
lachen können wie lange nicht. Auch der Daul hat's gekonnt. Er iſt doch ein netter 
Mann und vielſeitig, ganz anders wie mein alter Kolling, der denkt, daß nichts, 
was nicht Oreeſowſch ift, was taugt. Mit Daul kann einer doch mal reden. 

Weißt, was er fagt? Du ſollſt, wenn Du fertig but, hier, direkt hier in 
Greeſchenbock die Schule übernehmen. Aber das wird Dir doch wohl nicht gut 
genug fein, und ich kann's Dir nicht verdenken. Bei „Herrn Fiedler“ die Nach- 
folge zu übernehmen, lockt Dich wohl nicht. Aber an der Pöpplitzer Töchterſchule 
könnteſt Ou eine Anſtellung kriegen. Das wäre ganz nett. Da ſchickte ich Dir alle 
Sonnabend den Wagen, und Du wärſt Sonntag hier. Was meinſt Du? 

Dieſer Brief iſt aber dick geworden. Du haſt wohl kaum Zeit, ihn zu leſen. 
Ja, man wird alt und geſchwätzig. Gen ſtiller Novemberabend, wo der Wind 
heult und die Lampe brennt, der macht, daß die Worte von ſelber fließen. 

Rege Dich man nicht auf, daß Du die 35 Pfennige doch nicht berechnen 
kannſt. Ich mache für dies eine Mal einen Strich dahinter. Aber ſieh zu, daß 
es nicht wieder vorkommt. Einmal haft Du Schokolade mit Schlagſahne und Apfel- 
kuchen angeſchrieben, wo Du mit Freundinnen ausgeweſen biſt. Ich habe nichts 
dagegen für einmal, nur nicht zu oft. Halte Dich überhaupt nicht zu Mädchen, 
die oft in Ronditoreien gehen, da iſt für gewöhnlich nichts dahinter. Wer das Leben 
ernſt nimmt, ſchlampt auch in der Jugend nicht. 

Grüß die Tante Line und frag fie von mir, von welchem Prieſter fie fih 
denn hätte umtaufen und ihren ehrlichen Namen verändern laffen. Wohl vom 
heiligen Spleen? 


22 l Oilers: Die Briefe bes alten Zofias Röppen 


Aber ich mache bloß Spaß. Du als Nichte darfſt ihr das nicht ſagen. Behalte 
Du Dir nur Deinen eigenen Verſtand. Madame Ricke, die Mamſell und der Ober- 
förſter laſſen grüßen. Dein getreuer Vater 

Sofias Köppen. 
NB. 3% muß doch morgen Lepel fragen, vielleicht koſtet dieſer Brief Doppel- 
porto! å R | 
* 
Greeſchenbock bei Pöpplitz, Donnerstag 22. November 1888. 
Meine liebe Tochter Elſe! 

Deine beiden Briefe habe ich erhalten. Daß Du Dich über meinen langen 
Brief fo ſehr gefreut haft, ift ja ſchön. Aber Du but darin doch ſehr übertrieben ge- 
weſen, daß Du ganze Stücke daraus auswendig weißt. Was ift das für eine Beit- 
vergeudung! Lern Du lieber die Pſalmen und die Sprüche Salomonis und die 
Geſchichtszahlen auswendig, das gibt's beffer aus. Überhaupt kommſt Du mir 
recht aufgeregt vor. Warum ſoll ich denn gleich krank ſein, wenn ich mal eine Woche 
mit Schreiben überſchlage. Ich hab's mit Willen getan. Ich habe gedacht: Das 
wird ſie ſich wohl denken können, daß man nach ſolchem langen Brief ſich erſt mal 
ordentlich verpuſtet. Und dann dachte ich auch, als Dein erſter Brief mit dem Aus- 
wendigwiſſen ankam: Na, man immer ſachte mit die wilden Pferde. Das muß 
nun erft niederſchlagen. Die Stern ift ſolche Gefühlsäußerungen an ihrem Vater 
nicht gewöhnt und kriegt gleich die Hitze davon. Das muß ſich erſt ſetzen. 

Na gut. Da kommt Montag früh Dein zweiter Brief, ob ich krank wäre. 
Ich und krank: zum Lachen! Beſtell doch mal Tante Line, ob fie ihren Bruder 
Sofias Iden mal am hellichten Tage in Federbetten hätte liegen ſehen. Er nicht. 
Aber von ſelbſt könnte ſeine Tochter doch nicht auf ſo was kommen. Dazu wäre 
ſie doch zu vernünftig erzogen. Ich wäre das auch nicht gewöhnt, daß, wenn ich 
mal nicht hätte reden mögen, meine Familie gleich losgeſchrien hätte: Biſt du 
krank? Biſt du krank? 

Alſo gut, ich denke: Die Elſe hat den Großſtadtkoller gekriegt. Laß ſie man. 
Sie wird fih ſchon von ſelber wieder befinnen. Mittlerweile wird's Donnerstag. 
Wer kommt mir heute über Mittag ins Haus? Madame Ricke. Aber Teeroſen 
hat ſie nicht, ſie hat „etwas Wichtiges“. Ich muß von Tiſch aufſtehn und mit ihr 
nach vorne gehn. 

Was iſt's? Die Knie haben mir nämlich gezittert, und ich hab's am Herzen 
geſpürt wie einen Schlag. Ich habe kaum ſprechen gekonnt. Da — was kommt 
raus? Das Fräulein Elſe hat Angſt! Schreibt wie eine Tolle und fleht die alte 
Madam an, ſie ſolle ihr „die ganze Wahrheit“ ſchreiben. Womöglich telegraphieren! 

Telegraphieren! Jawohl, beinah! Ein Bote nach Friedenſen aufs Amt, ja? 
Das Wort fünf Pfennige, nicht wahr? „Papa iſt wohlauf und grüßt ſeine ſüße 
Tochter.“ Was? 

Diern, wenn Du hier geweſen wärſt — achtzehn Jahre biſt Du ja ſchon, 
aber eine Maulſchelle hätteſt Du doch gekriegt. 

Madame Ride hat für Dich bitten wollen. Ja, dieſe weichherzigen Weiber! 
Sie hätte auch wohl am liebſten telegraphiert. 


Olers: Die Briefe des alten Zoſlas Röppen 23 


Mich bibbert's noch, wenn ich an den Schreck denke. Die Knie waren mir 
eine ganze Stunde danach ſchwach. Jetzt ſchreibe ich Dir, damit nicht etwa noch 
über Nacht eine Depefche kommt. Ich glaube, Ihr ſeid in Berlin alleſamt verrückt! 

„Die ganze Wahrheit“ willſt Du wiſſen. Na ſchön, ich halte ſie Dir nicht 
vor; Du biſt eine Gans. Das iſt ſie. 

Die Berechnung ſtimmte. Dein getreuer Vater 

Joſias Köppen. 


* * 
* 


Greeſchenbock bei Pöpplitz, Freitag den 50. November 1888. 
Meine liebe Tochter Elſe! 

Den Brief von Tante Line, genannt Tante Calla, habe ich heute erhalten. 
Nun hat ſich die Sache alſo herumgedreht: nicht ich bin krank, aber Du biſt's. Haſt 
Did gewiß zu dünn angezogen oder haſt gegen den Wind an geſprochen. Das 
könnt ihr Frauensleute euch doch nicht abgewöhnen! 

Ich habe gleich zu Madame Ricke geſchickt. Sie fagt, Du ſollteſt gegen die 
Halsſchmerzen ſüßen Rahm langſam trinken, und dann ſchickt fie Dir ein Pflaſter 
mit, das ſollſt Du Dir um den Hals von außen umlegen, das zieht die Entzündung 
raus. Und dann ordentlich ſchwitzen. Laß Dir man von Tante Line oder Tante 
Calla Fliedertee machen, den trinkſt Ou, fo heiß Du kannſt, und packſt Dich feſt in 
Betten. Und dann ſchlafen, verſtanden, oder ganz ſtill liegen. Nicht ſchwatzen. 

Bitte Deine Tante, daß ſie mir wenigſtens auf der Karte alle Tage Nachricht 
gibt. Hoffentlich kommt nichts nach. Sei nur ja vernünftig. 

Dein getreuer Vater Sofias Köppen. 


* * 
* 


Greeſchenbock bei Pöpplitz, Montag den 3. Dezember 1888, 
Meine liebe Tochter Giel 

Erſt heute kam die erwartete Karte von Tante L—, Tante Calla. Ich habe 
alle Tage gewartet, und geſtern, am Sonntag, bin ich Lepel bis über den Kluten 
hinaus entgegengegangen. Aber es war nichts da. Erſt heute. 

Daß es noch nicht beffer ift, kommt gewiß davon, daß Ihr das Pflaſter nicht 
umgelegt habt. Was foll fo ein Doktor dabei? Oieſe großſtädtiſchen Arzte haben 
doch kein Intereſſe, und woher ſollen ſie es auch haben bei den vielen Menſchen? 
Das muß ihnen ja alles durcheinandergehn. Die experimentieren doch bloß. Ma- 
dame Ride aber iſt eine alte kluge Frau und hat Erfahrung, und fie hat Dich über 
alles lieb, ſie wird Dir ſchon nichts ſchicken, das ſchadet. 

Wärſt Du hier bei uns, fo liefſt Du ſchon lange wieder herum. Aber das ift 
die Stadtweisheit. 

Sah habe Lepel in der Küche warten laffen und ihm Warmbier gegeben, 
damit er den Brief gleich mit retour nimmt. Dann habt Ihr ihn morgen, und ich 
kann übermorgen, Mittwoch, Nachricht haben, wenn Ihr ſof ort ſchreibt. 

Draußen ſchneit es, Siegfried und Ohle müſſen ſchon ſchaufeln. 

Dein getreuer Vater 
| Sofias Köppen. 


* Lë 
* 


94 Diers: Die Briefe des alten Fofias Röppen 


Telegramm. Aufgegeben Friedenſee, 5. Dezember, 11 Uhr 32. Rück- 
antwort bezahlt. 
Warum keine Nachricht? Bitte ſofort! Sepeſche. Köppen. 


* $ 
* 


Greeſchenbock bei Pöpplitz, Dienstag den 11. Dezember 1888. 
Meine liebe Tochter Elſe! 

Deinen Brief und Tante Lines drei Karten ſowie die Depeſche vom 5. habe 
ich erhalten. Nein, ich bin nicht mehr böſe, ich danke Gott, daß Du geſund biſt, 
und will's Tante Line nicht mehr gedenken, was ſie angerichtet hat damit, daß 
ſie nicht ſchrieb. Das iſt nun vorbei, aber Gott möge es ihr auch verzeihn, denn 
ſchön war's nicht. 

Am 5. Dezember, den ich nie vergeſſen werde, nachmittags, ſtand Iden der 
offene kleine Wagen vor der Tür. Wenn die Oepeſche um 4 Uhr nicht da war 
oder ſie ſchlechte Nachricht enthielte, wäre ich abgefahren und zu Dir gekommen. 
Um 5½ geht der Zug aus Pöpplitz, aber ich hätte eilen müſſen. Die Pferde ftan- 
den ſeit 10 Uhr im Stall, und Heinrich Kittel (das iſt nämlich der neue Kutſcher, 
ein bißchen happig, aber ſonſt ganz ſtill und fleißig) hatte beſtimmte Order. Es 
wäre ſcharfen Galopp gegangen. Ich hatte ſchon meinen guten ſchwarzen Kirch- 
rock an und den neuen Überzieher, den wir vor zwei Fahren bei Engelmann in 
Pöpplitz kauften, und von dem Du immer ſagteſt, ich guckte draus vor wie ein Kater 
aus dem Sack, weil ich noch nie fon Ding auf dem Leib gehabt hatte. Na, es ift 
aber guter Stoff, und Du hätteſt Dich ſchon nicht wegen meiner zu genieren brauchen. 

Alſo gut. Ich trapp' immer ins Haus rein, aus dem Haus raus, den Hof 
lang, aus dem Tor raus, zurück, ins Haus rein, immerzu und immerzu. Schön 
war mir's nicht dabei, Diern, das kannſt Du glauben. Eng war mir das olle Ding 
auch über der Bruſt, und Luft konnte ich knapp kriegen. Ich dachte an Mutter, wie 
jie „alter Knorren“ zu mir geſagt hatte und nun längſt ſtumm geworden ift. Und 
dann dachte ich an Dich, wie Du damals im Laden ſo übermütig wurdeſt und ſo 
frech und Deinen alten Vater, weil er ſich ſo dumm anſtellte, einen Kater im Sack 
nannteſt, und es gleich mit der Angſt kriegteſt, was Du nun wohl geſagt hätteſt. 
Und ich dachte, daß am Ende auch Ou ſchon — — Na, laffen wir das. Schön war's 
eben nicht. Und wie die Pferde auf die Steine ſtampften und ich zu Heinrich Kit- 
tel fagte: „Na, fahre man ein paarmal um das Rundſtück rum“, das liegt mir noch 
alles in den Ohren. Das war am Mittwoch den 5. Dezember. 

Indem drückt ſich was in den Hof und kommt um die Ecke. Und ich werd's 
nicht eher gewahr, bis es dicht vor mir ſteht und mir das Telegramm hinhält. Mein 
Six, ich habe gedacht, ich fall' um. Guck' ich mir die Augen aus dem Kopf nach einem 
Mann zu Pferde, und ſchickt mir der verdammte Kerl aus Friedenſee ein unbe- 
darftes lüttes Dierning von fo acht, neun Fahr in zerriſſenen Schuhen und ver- 
frorenen Poten. Wo hätte das Wurm mit dem Schriftſtück abbleiben können! 
Und ich hier wie auf glühenden Kohlen! 

Und eine gute halbe Stunde hätte der Kerl mir erſparen können, wenn er 
einen reitenden Boten geſchickt hätte, wie ſich's gehört. 


Roenig: Borfribling 25 


Na, das ift ja nun alles vorbei. Wie ich das Ding aufgekriegt habe, weiß ich 
heute nicht mehr. Auf hatt' ich's ja endlich. Was ich erwartet habe, drin zu leſen, 
ich mag nicht mehr daran denken. Na, fort damit. Nun iſt ja alles gut. 

„Elfe in Beſſerung. Beunruhige Did nicht. Brief unterwegs. Deine Calla.“ 

So ſtand da. 

Ich bin zu mir gekommen, habe mich umgedreht. „Abſpannen!“ Ich hab's 
wohl dreimal gebrüllt, ſo kollrig war mir im Kopf. Der Kittel guckte ſich auch 
ganz bedenklich nach mir um, als er zum Schuppen fuhr. Ich ins Haus. Den Über- 
zieher ab, den ſchwarzen Rock aus. Na, hängt ihr nur! hängt ihr nur! Könnt 
lange hängen. Es geht nicht nach Berlin! 

Ja, mein Oodter, nun ift das ja alles vorbei, aber eine Tour war's doch. 
Mache mir nicht wieder ſolche Choſen. 

„Übrigens der Name Calla iſt doch am Ende gar nicht fo häßlich, und im Grunde 
iſt's ja ebenſogut von Karoline abgeleitet wie der andere. Grüß ſie nur, und ich 
ließ’ ſchön danken für alle Mühe. 

Dieſer Brief kommt ins Paket. Mamſell ſchickt Dir die friſchen Würſte. 
Laß fie Dir man ſchmecken, aber vorſichtig, daß Du Dir nicht den Magen verdirbſt. 
Den Schinken ſchicke ich fpdter. Die beiden Schweine waren ganz ſchön fett, eins 
bat 500 Pfund gewogen, das andere 520 Pfund. Ja, ja, ſolche Bieſter kriegt Ihr 
in der Stadt gar nicht in den Handel. 

Dein getreuer Vater 
Joſias Köppen. 
Nachſchrift. Mit Deiner Berechnung ift jetzt wohl alles durcheinandergegangen 


(Fortſetzung folgt) 
D N 
Vorfrühling 
Von 


Hertha Koenig 


Die Tannen ſtrahlen vor Seligkeit, 

Weil heute der Frühling vorüberſchritt 
And löſte ihr läſtiges Winterkleid, 

Daß es die Schultern hinunterglitt 

Auf ihre Füße in weichen Falten; 

Die Arme haſchen nach goldnem Glück, 
Sie wollen den Frühling umfangen halten, 
Er ſchritt vorüber — o kehre zurück! 


Kreuz und Kreuzigung 
Eine Studie von P. Riedel 


„Und als ſie kamen an die Stätte, die da heißt Golgatha, 
kreuzigten fie ihn daſelbſt und die Abeltäter mit thm, einen zur 
Rechten, einen zur Linken.“ Luk. 23, 35. 


= | 
? ie Kreuzigung ift eine Strafe, welche mit dem Siege des Chriſtentums 


aus den Mitteln des Strafvollzuges verſchwunden ift; fie war eine 
J Todesart, die an Roheit und Grauſamkeit kaum ihresgleichen hat. 
8 Zur Zeit der Weltrömerherrſchaft war aber das Kreuzigen eine ſehr 
beliebte und ganz allgemeine Strafe, die fogar auf ganz geringfügige Sklaven 
vergehen geſetzt wurde, und grade in Zerufalem, das um und nach der Zefus- 
zeit einen Mittelpunkt des Partei- und Revolutionslebens bildete, war das Rreugi- 
gen etwas ſo Alltägliches, daß nach einem Gekreuzigten mehr oder weniger kein 
Hahn krähte. Allerdings haben ſich die Juden dieſer grauſamen Todesart nur 
wenig, in der herodianiſchen Zeit überhaupt nicht bedient. Sie kannten nur den 
Tod durch das Schwert, Verbrennen oder Ertränken, für ſchimpfliche Verbrechen 
das Steinigen, und nur in älteſten Zeiten ſcheint eine Art Henkens und „an das 
Holz hängen“ Mode geweſen zu fein. Die betreffenden Stellen im Alten Lefta- 
ment ſprechen fic) darüber nicht klar aus: 1 Moſ. 40, 19; 4 Moſ. 25, 4; 5 Moſ. 
21, 22—23; Sof. 8, 29; 10, 26; 2 Sam. 21, 9. Chriftus wurde deshalb auch nur 
durch römiſchen Urteilsſpruch gerichtet und, wie üblich, an weithin ſichtbarer Stelle 
mit andern Verbrechern ans Kreuz „genagelt“. | 
Wir wiffen nun nichts Näheres darüber, welcher Art die an Fefus vorgenom- 
mene Kreuzigung war. Es liegt das vor allen Dingen daran, daß wir überhaupt 
über das ganze Verfahren der Kreuzigung, Kreuzesart uſw. recht mangelhaft 
unterrichtet find. Wir müſſen aus allen möglichen Klaſſikerſtellen mühſam zu- 
ſammenſuchen, um nur ein annäherndes Bild dieſer grauſamen Prozedur zu ge- 
winnen. Nicht einmal der Wortgebrauch ſteht feft. Die ganzen Arten von Kreuzen, 
welche das lange Zeit für klaſſiſch gehaltene Werk von Lipſius (1600) „de cruce“ 
aufführt, ſind von ihm erfundene Spezialiſierungen, deren Nicht-Exiſtenz Fulda 
(1878: Das Kreuz) evident nachgewieſen hat. Die Klaſſiker der Römer haben den 


Aledels Kreuz und freuzigung . 27 


Ausdruck crux, cruci alqm. suffigere uſw. für alle möglichen Todesſtrafen und 
Peinigungen gebraucht, wo Hängen, Spießen, Pfählen das eigentliche Verfahren 
war, ja Lucian (Prometheus) nennt ſogar das Befeſtigen des Götterſohnes an 
einem Felſen: eine Kreuzigung. Nun ganz und gar die Einzelheiten des Aktes! 
Sie müſſen mehr erraten als gefunden werden. Das kam aber daher, weil tein 
vornehmer Römer es für anſtändig hielt, den Augenzeugen bei dieſer ſcheußlichen 
Hinrichtung zu ſpielen (Cicero, Rede pro Rabirio perd. 5). Die Kreuzigung des 
Räubers Laureolus, die Domitian in der Zeit des Verfalls als öffentliches Schau- 
ſpiel anordnete, beſtätigt nur die Ausnahme. Es gibt keine Beſchreibung, keine 
Abbildung eines Gekreuzigten, ſo daß wir keine übliche und beſtehende Form 
eines Kreuzes feſthalten dürfen. Die manches Mal auf heidniſchen Inſchriften 
gefundenen Kreuze können nicht zum Vergleich herangezogen werden, weil ſie 
einfach antike Interpunktionszeichen waren, und die ſpäteren chriſtlichen Schrift- 
ſteller kommen für die Beurteilung der Kreuze um das Fahr 30 nicht in Betracht, 
da die Kreuzigung durch die chriſtliche Legende variiert wurde, auch andere kirchliche 
Rückſichten in die 2—300 Jahre ſpäter auftauchenden Beſchreibungen hineinſpielen. 

Zn Ermangelung einer genauen Vorſchrift war es alfo ganz der Willkür 
eines Henkers oder meiſt der Soldaten überlaſſen, mit dem Verurteilten nach ihrem 
Belieben zu verfahren, und deshalb ift auch der Akt der Kreuzigung je nach Ortlich⸗ 
keit und Gelegenheit verſchieden. „Ich ſehe“, ſagt Seneca, der Philoſoph und Beit- 
genoſſe Zefu (Troſtſchrift an Maria, Rap. 20, „Kreuze verſchiedenſter 
Art und Folterwerkzeuge für jedes einzelne Glied, manche müſſen hängen, den 
Kopf nach unten, mit ausgefpannten Armen und auf andere qualvolle Weiſe.“ 
Bei Maſſenkreuzigungen, wie fie z. B. Varus (5 n. Chr.) in jüdiſchen Landen hand- 
habte, wo an 2000 Gefangene „am Kreuz“ das Leben ließen, wird die Kreuzigung 
fich in den allerprimitivften Formen bewegt haben, während da, wo Haß und Rache 
einen einzelnen traf, die Tortur beſonders verſchärft wurde. 

Wir können demnach folgende Arten der Kreuzigung unterſcheiden: 

1. bei Maſſenkreuzigungen: das Anbinden an irgendeinen Baum, Pfahl, 
Stange, was in der Nähe war, ohne Nagelung und Querholz. Man band hoch, 
niedrig, Kopf oben oder unten, je nachdem Platz war oder die Laune regierte. 

2. die Kreuzigung mit patibulum. Urſprünglich war das patibulum eine 
Oeichſelſtütze in der Form eines geſpitzten Pfahles. War diefe Stütze oben geteilt, 
wie ein langſchenkliges Dreieck, fo nannte man die Konſtruktion furca. Bei Gta- 
ven, welche ſich irgendeines Vergehens ſchuldig gemacht hatten, beſtand dann die 
ſogenannte Strafe des furca Tragens, ähnlich wie wir im Mittelalter oder heute 
noch in fremden Ländern das Tragen von Schandhölzern vorfinden. Statt der 
furca wurde aber bald bloß das patibulum genommen, zumal wenn eine Körper- 
oder Todesſtrafe damit verbunden war. Man legte das patibulum auf den Nacken 
des Oelinquenten und band die Arme feft. Ohne alle Umftände nagelte man dann 
den armen Sünder mitſamt dem Querholz an Stamm oder Stange, hing ihn wohl 
auch bloß an Aſte oder Pfähle und kam ſo zu der gekreuzten Form, wie wir ſie 

3. als Chriſtuskreuz (crux immissa) kennen: feſtes Gefüge mit Quer- 
holz und Spitze. Ob aber Chriſtus an einem ſolchen gekreuzigt worden iſt, iſt mehr 


28 Riedel: Kreuz und Kreuzigung 


als zweifelhaft. Aus der Zeit nach Jefu können literariſche Belege gebracht wer- 
den, aus der Zeit vorher keine. Wahrſcheinlich hat die chriſtliche Legende das 
feſte gekreuzte Holz mit Spitze frei erſchaffen. Aus dem Neuen Teſtament geht 
nichts Beſtimmtes hervor, dagegen ſcheint Joh. 19, 17 zu ſprechen, als Jeſus nach 
vorangegangener Geißelung () das Richtkreuz ſelbſt zum Richtplatz trug. Ein 
ſolches Kreuz, wie die landläufigen Bilder bringen, war ein halb totgeſchlagener 
Delinquent nicht imſtande zu tragen, und viel wahrſcheinlicher ift, daß auch Fefus 
das einfache patibulum trug. Die anſcheinend für eine crux immissa ſprechende 
Stelle Matth. 27, 37, die von einer Tafel zu Häupten des Gekreuzigten ſpricht 
und von Forrer (Forrer und G. A. Müller, Kreuz und Kreuzigung Chriſti in ihrer 
Kunſtentwicklung, Straßburg 1894) als ausſchlaggebend erwähnt wird, iſt ganz 
bedeutungslos. Zu Hdupten aines Gekreuzigten ließ ſich auch ohne dekorative 
Spitze an Baum, Pfahl, Wand und in jeder Stellung eine Inſchrift anbringen, 
da der Körper mit dem Kopf naturgemäß zuſammenſackt und Platz für ein kleines 
Täfelchen macht. Schlüſſe auf eine beſtimmte Form aus dieſer Bibelſtelle zu zie- 
hen, iſt ſehr gewagt. Wir wiſſen höchſtens noch, daß bei Kreuzen, die mit einer 
gewiſſen Sorgfalt hergerichtet wurden, in der Mitte ein Stützpflock eingetrieben 
wurde, auf dem der gebundene Körper gleichſam ritt. Dagegen iſt die Höhe der 
Chriſtuskreuze übertrieben. Eine ſolche Höhe, wie bekannte Bilder ſie geben, daß 
die Henker Leitern anlegen oder den Körper mit Stricken in die Höhe winden muf- 
ten, iſt niemals vorhanden geweſen, ſondern alle Kreuze erreichten Mannshöhe, 
ſo daß alle Verrichtungen bequem und ohne Bänke und Stützen vorgenommen 
werden konnten. — Wir finden dann noch in der Legende 

4. das Andreaskreuz (crux decussata), zwei Latten quer übereinander ge- 
nagelt in Form des arithmetiſchen Malzeichens, und 

5. das Antoniuskreuz (orux commissa), ein Pfahl mit Querbalken ohne Spitze. 

Die Namen der letzteren Kreuzarten kommen daher, weil in dieſen Formen 
der Apoſtel Andreas und der heilige Antonius gekreuzigt ſein ſollen. Geſchichtlich 
läßt ſich nichts über dieſe Arten nachweiſen, obſchon nicht ganz abzuweiſen iſt, daß 
bei der Willkür der Formen auch ſolche Anordnungen vorgekommen ſein mögen. 
Die von ältern Forſchern zugunſten der crux commissa angeführte Stelle aus 
Lucian (de judicio Vocalium), wo der Buchſtabe T angeklagt wird, daß die Men- 
ſchen an ihm aufgehenkt werden, beweiſt nicht viel. Lucian iſt kein Hiſtoriker, 
ſondern ein ſatiriſcher Plauderer, der eben luſtige Vergleiche heranzieht, wo er 
ſie herbekommt. Auch das einfache patibulum mit dem anhängenden Körper 
ſieht wie ein T aus, der damit wandelnde Menſch nicht minder, fo daß der literariſche 
Beleg für ein feſtes Antoniuskreuz recht unſicher iſt. Ebenſowenig kann man die 
ſymboliſchen Zeichen auf den Münzen Konſtantins u. a. heranziehen. Die Spie- 
lerei mit dem Monogramm Fefu in Verbindung mit dem kreuzähnlichen T gehört 
in das Reich der Symbolik; in dieſer Zeit erſcheinen auch ſchon auf allen Figuren 
der Kleinkunſt, Sarkophagen vim, alle phantaſievollen Varianten, fo daß wir die 
hiſtoriſche Sicherheit ganz verlieren. 

Wie ſchon bemerkt, fehlt eine Darftellung der Kreuzesſzene. Sie tritt auf 
Ornamenten, Amuletten, Gemmen und Gebrauchsgegenſtänden verhältnismäßig 


Riedel: Rreuz und Rreuzigung . 20 


febr fpät auf, aus dem febr einfachen Grunde, weil die alten Chriften in der Rreuzes- 
ſtrafe, die ert im fünften Jahrhundert außer Übung kam, etwas durchaus Ent- 
ehrendes und Beſchämendes ſahen. Die Wirkung eines gekreuzigten Chriſtus 
wäre auf einen Chriſten der erſten Jahrhunderte alles andere als eine erhebende 
geweſen. Joh. Reil hat in Fickers Studien über chriſtliche Denkmäler (Leipzig 
1904, Bd. I) eine forgfältige Arbeit über die frühchriſtlichen Darftellungen der 
Kreuzigung Chriſti geliefert. Er weiſt nach, daß die Figur des leidenden Chriſtus 
eine Schöpfung des Orients geweſen fein muß, die kaum vor dem vierten Jahr- 
hundert im Abendland zur Geltung gekommen ſein kann. Die erſten Zeichnungen 
ſind roh, ſymboliſch gehalten und geben kein charakteriſtiſches Bild, ſie ſind auch, 
wie geſagt, zu ſpät, um zur hiſtoriſchen Würdigung einer Kreuzigung um das 
Jahr 30 beizutragen. 

Das Refultat wird zu Zefu Zeit immer der Gebrauch des Kreuzes 1 und 2 
geweſen ſein, als die nächſtliegende und am beſten beglaubigte Konſtruktion. Eine 
forgjame Ausführung, die Nagelung der Hände, der Gebrauch von Fußſtützen 
(suppedaneum), das Befeſtigen der Füße mit Stricken u. dgl. war die Ausnahme. 
Eine Nagelung der Füße, wie auf Chriſtusbildern üblich, erſcheint jedoch ganz 
ausgeſchloſſen. Hiſtoriſch ift keinerlei Beweis zu erbringen, und ſelbſt in den Legenden- 
berichten der erſten Jahrhunderte wird die Nagelung der Füße abgelehnt. Guftav 
A. Müller hat (Forrer und Müller a. a. O.) die älteſten testimonia über die Nägel- 
zahl aus Ambroſius, Cyrill Alex. und katholiſchen Legendiſten zuſammengetragen, 
woraus evident hervorgeht, daß die älteſte Anſicht der Chriſten nur von einer 
Nagelung der Hände wußte, und daß ſich die Vierzahl der Nägel erſt in ſpäterer 
Überlieferung herausgebildet hat (vgl. auch hierzu das ägyptiſche Amulett, Abb. b 
Reil a. a. O. Tafel 1, 1). Weniger abzuweiſen iſt der Gebrauch des suppedaneum. 
Zwar find die erſten Nachweiſe über deffen Gebrauch auch erft 100 — 200 Sabre 
ipäter zu führen, aber von da ab, beſonders in den Ornamenten des fünften bis 
ſechſten Jahrhunderts, erſcheint es mit ziemlicher Regelmäßigkeit (cf. Reil, Rap. 
II. 2). Sogar auf dem berühmten Spottkruzifix, einer heidniſchen Karikatur aus 
dem Anfang des dritten Jahrhunderts, ſcheint das suppedaneum angedeutet zu 
fein. Man kann allerdings im Zweifel fein, ob der Grundſtrich am dort ſkizzierten 
Kreuz nicht den Erdboden bedeuten ſoll, immerhin kann ein fo häufiger ornamen- 
taler Gebrauch des suppedaneum nicht bloß aus der Legende hergeleitet werden. 

Gehen wir zum Kreuzigungsakt zurück, ſo beſchreiben die Evangeliſten ſonſt 
den Hergang vollkommen richtig, und diejenigen Theologen haben wohl recht, 
welche den Leidensteil als den älteſten und beſten Teil der Überlieferung anſehen. 
So iſt es vollkommen richtig, daß der Delinquent (notabene, wenn er noch dazu 
imſtande war) fein Richtholz ſelbſt ſchleppen mußte, ebenſo, daß vor der Rreugi- 
gung die Kleider abgeriſſen wurden, die den vollziehenden Soldaten als Entgelt 
in Händen blieben. Selbſt bei Frauen, die gekreuzigt wurden, machte man keine 
Ausnahme. Auch die Tatſache mit der Kreuzesinſchrift hat einen hiſtoriſchen Rück- 
halt. Eine Tafel, welche das Vergehen des Verurteilten bezeichnete, wurde ent- 
weder vom Herold dem traurigen Richtzug vorangetragen oder dem Delinquenten 
um den Hals gehängt. Später fand fie dann ihren Platz mit am Kreuz. Der Kreu- 


30 Riedel; Kreuz und Kreuzigung 


zigung ging als Vorſtrafe gewöhnlich die Geißelung voran, oft auch die Folter. 
Letztere kam hauptſächlich bei politiſchen Verbrechern in Anwendung und ent- 
fernte fih nicht von den Grauſamkeiten des Mittelalters. Joſephus erwähnt 
(bell. jud. II, 8. 10), daß die Menſchen mit allen möglichen Marterinſtrumenten 
gepeinigt, geſpannt, gereckt, verbrannt und gebrochen wurden, wie auch Seneca 
(de ira III, 3) die ſchrecklichen Grauſamkeiten des lebendigen Verbrennens ein- 
gegrabener Menſchen (), Gliederrecken, Brandmarken u. dgl. als Strafmittel 
anführt. , 

Sonſt war bei der Kreuzigung als Vorſtrafe die Geißelung ziemlich allgemein. 
Zu dieſem Zwecke wurde der arme Menſch halb oder ganz nackt an einen niedri- 
gen Pfahl gebunden und dann nach dem Willen der Soldaten mit Ulmenruten 
oder ledernen Riemen, an deren Enden Knochen oder Bleiſtücke befeſtigt waren, 
geſchlagen. Euſebius, der uns eine ſolche Geißelung beſchreibt, erzählt mit Grauen 
von dem Anblick, den die bis auf die Adern zerfleiſchten Arme oder das Hervor- 
quellen der Eingeweide bei Hieben auf Weichteile darboten. Es iſt auch mehr als 
einmal vorgekommen, daß der Verurteilte Idéen bei der Geißelung den Geiſt auf- 
gab. Unabhängig davon iſt die bloße Geißelung als Todesſtrafe, wie ſie von den 
römiſchen Kaiſern Römern gegenüber angewandt wurde, für welche aus Standes 
gründen die Kreuzigung nicht in Betracht kam, ſo z. B. bei jenem Ritter unter 
Domitian, der die Oberprieſterin der Veſtalinnen verführt hatte (Beulé, Titus, 
Kap. V). 

Es ift ſchon bemerkt, daß die Kreuzigung eine der grauſamſten Torturen dar- 
ſtellt, weil der Tod durch die Martern hintangehalten wurde. Der ganze Körper 
ruhte auf dem ſcharfkantigen Sitzholz, und ein entſetzliches Druckgefühl mußte den 
Leib durchquälen. Bei jeder Regung vergrößerten die Feſſeln oder die Nägel die 
Wunden an den Händen; Blutſtockung bei den abgeſchnürten Teilen, Schwellung 
der Glieder, quälender Durſt und hohes Fieber, das find die mediziniſchen Er- 
ſcheinungen bei dieſer grauſamen Strafe. Der Verurteilte ſtarb ſchließlich an 
Herzſchwäche, Wundfieber oder Wahnſinn, wenn nicht vorher, was häufig ge- 
ſchah, ein mitleidiger Lanzenſtich des bewachenden Soldaten dem Leiden ein Ende 
machte. So unmenſchlich waren die damaligen Menſchen denn doch nicht, daß 
ihnen das Gefühl gegen diefe armen Sünder fremd war. Es ift wenigſtens all- 
gemein gemeldet, daß dort, wo Freunde und Bekannte des Gerichteten waren, 
eine Art Narkoſe vorgenommen wurde. Auch bei Zeſus wurde nach Mark. 15, 23 
dieſer Verſuch gemacht: man reichte ihm Wein und ſtarke Myrrhe, das betäubende 
Mittel, Nach den Evangeliſten hat der Herr dieſen Trank verweigert. Nichtsdeito- 
weniger iſt anzunehmen, daß der Chriſtus aus Nazareth, welcher ſchon beim Hingang 
infolge der Geißelung ohnmächtig wurde, wodurch die Übernahme des Kreuztragens 
durch Simon aus Kyrene verſtändlich wird, am Kreuz ſehr ſchnell verſchied. 


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ch, hätte ich es fo gut gehabt wie meine Vorbilder, die fahrenden Schü 
IN ler des Mittelalters, diefe fanatiſch bildungshungrigen Jünger der 
A LU Wiſſenſchaft, denen keine Schule Wiffensftoff genug bieten konnte, 
und die deshalb elf Monate des Schuljahres auf der Landſtraße zu- 
brachten, immer auf der Suche nach dem beſten Weisheitsborn. Aber mir war 
es leider bloß vergönnt, ihnen im jähen Wechſel der Bildungsſtätten ähnlich zu 
werden, ich armes Verſuchskarnickel pädagogiſcher Methoden! Die romantiſche 
Zwiſchenzeit auf der Heerſtraße, das Betteln, Stehlen, Hungern, Schlemmen, 
Raufen und ſüße Nichtstun, die Fährden und Freuden des Fahrens find nicht 
mehr. O, es iſt ungerecht! | 
Als ich ſechs Jahre alt geworden war, zweifelten meine Eltern nicht daran, 
daß ich allmählich etwas lernen müſſe, zumal auch der Bürgermeiſter diefe An- 
ſicht äußerte. Es war ihnen aber auch ganz klar, daß die Volksſchule für mich nicht 
die richtige Bildungsſtätte fei. So nahmen wir einen Hauslehrer, was den rieſigen 
Vorteil hatte, daß ich nicht zuviel Stunden und Prügel erhielt, auch an keine feſte 
Unterrichtszeit gebunden war. Es kam ja ab und zu Beſuch, oder wir hatten Treib- 
jagd, Kindtaufe, große Wäſche, Schlachtfeſt, Namens- oder Geburtstag, und dann 
mußte ich doch immer dabei ſein. Unſer Hauslehrer hatte auch die gute Eigenſchaft, 
daß er lieber ſelber ſtudierte, als mich mit Lernen zu quälen. Jedenfalls ſehr ver- 
nünftig: Lehrer müſſen alles wiſſen, Zungen nicht. Mama ſagte auch: „Wiſſen 
Sie, Herr Ledermann, wir dürfen das Kerlchen nicht überanſtrengen. Die Kon- 
ftitution! Hernach wird er uns krank, dann haben wir die Beſcherung. Er iſt ja 
noch jung, fpäter kann er alles nachholen.“ | 
Eigentlich hatte ich mich an unſern Hauslehrer ſchon gewöhnt; und fo war 
es mir faſt unangenehm, als er eines Tages Knall und Fall entlaſſen wurde; er 
hatte allerdings auch ſo laut „Schaf“ zu mir geſagt, daß Mama es draußen hören 
konnte. Dieſe entſetzliche, gefühlsrohe Tat (welche Beleidigung für Mama lag 
darin ) überzeugte uns, daß Männer überhaupt wenig oder gar nicht. für den An- 
fangsunterricht taugen. Richtig, wer zieht denn alle kleinen Rinder auf? Mamas, 


32 Emo: Fahrende Schüler 


Mädchen, Ammen, Bonnen. Männer find viel zu rauh und ungeduldig dazu. 
Demnach war es ganz klug überlegt, daß ich nun zu den guten Kloſterſchweſtern, 
die in unſerm Städtchen eine Mädchenpenſion hatten, als Externer in die Schule 
geſchickt wurde. Es gefiel mir ganz gut da, und ich wäre auch wohl da geblieben; 
aber wir verzogen jetzt in eine ſchöne Univerſitätsſtadt. Einige Herren machten 
meinem Vater bald begreiflich, ich müſſe jetzt unbedingt auf Sexta, ich müſſe Latein 
lernen, ſofort, wenn ich überhaupt ſpäter unter die anſtändigen und gebildeten 
Menſchen gerechnet werden wollte. Fd) fab es zwar nicht ein, aber ich ging in die 
Serta und verſuchte Latein zu lernen. Es glaubt keiner, was einem da alles zu- 
gemutet wird. Ein Wort drehen fie fo oft herum, bis einem im Kopf alles rund- 
geht. Da hieß es: „Der Karl muß Nachhilfe haben; der kann nicht mitkommen.“ 
Und ich bekam fo viel Nachhilfe, daß ich ernſtlich krank wurde. Das war aber eigent- 
lich gut; denn ſo kam ich von der leidigen Sexta herunter. Die Stadtluft war mir 
nicht gut, ich mußte aufs Land. In einer Schule, wo dreißig und mehr Zungen 
ſitzen, kann man auch nichts Rechtes lernen, beſonders wenn man nicht an eine 
Schule gewöhnt iſt. Es geht vielen andern Jungen, deren Eltern in einer Villa 
wohnen, gerade ſo wie mir. Wir wohnten in einer Villa an der Koblenzer Straße. 
Mein Vater wollte keinen Schnaps mehr verkaufen; er hatte genug Schnaps ge- 
brannt. Er ſagte, es wäre eigentlich eine Sünde und Schande, daß dieſes Zeug 
gemacht würde. Er tat es nicht mehr. Wenn nun ſo ein Knabe wie ich aufs Land 
muß, ſo kann er bloß zu einem Paſtor gehen. Wer kann ſonſt Latein auf dem Lande? 
And Latein muß gelernt werden, verſteht ſich, das Studium darf nicht leiden durch 
den Landaufenthalt. um nun den armen Eltern aus der Verlegenheit zu helfen, 
nehmen die Paſtöre in der Eifel, im Veſterwald und in fonftigen für den Zweck 
günſtigen Gegenden Stadtkinder in Penſion. Welche Aufopferung! 

Der Herr Kaplan hatte meinem Vater Iden im Bürgerverein einen Kon- 
frater genannt, zu dem er mich am beſten tun könnte. Man kann das auch durch 
die K. V. gewahr werden. Die Paſtöre laſſen es ſogar in die Zeitung ſetzen, um 
den reichen Leuten, deren Jungen Latein lernen ſollen und es nicht können, aus 
der Verlegenheit zu helfen. 

Als ich von der obenerwähnten Krankheit geneſen war, reiſte ich ſofort zu 
dem menſchenfreundlichen Paſtor. Er tat mir nichts zu leide; er ſtrengte mich auch 
nicht zu ſehr an, weil ich ja ſonſt — die Konſtitution! — wieder krank werden 
mußte. Fede Woche hatte ich eine Stunde Latein; es war nämlich ausgemacht, 
daß ich bald in die Tertia kommen ſollte. Wie die Behandlung war auch das Eſſen 
gut, ſehr gut, zu gut für meinen kleinen Magen, der an ſo mächtige und fette Koſt 
nicht gewöhnt war. Als ich nun zuerſt in die Ferien kam, war ich ganz krank, dies- 
mal von Magenüberladung, wie damals von Geiſtesüberladung. Der Doktor 
ſagte, mein Magen wäre ganz ruiniert, ich müßte mindeſtens ſechs Wochen lang 
eine Milchkur brauchen. Inzwiſchen wurde ich auch einmal geprüft von einem 
Oberlehrer, der bei uns verkehrte — ich glaube, wegen unſerer Käthe; das ſollte 
ich nämlich nicht wiſſen. 

Zu meiner Verwunderung konnte ich keine Frage beantworten, trotzdem ich 
mir ehrlich Mühe gab. „Wir müſſen ihn zu einem andern Herrn tun,“ meinte mein 


Emo: Fahrende Schüler 33 


Vater; „mit der Zuckerbrotmethode wird nichts aus ihm.“ Die K. V. wurde nach- 
gefeben, und bald war ich bei einem Paftor im Zülicher Lande. Da hatte ich es 
auch nicht ſchlecht. Wir gingen jeden Morgen nach dem Kaffee ſpazieren, der Spitz, 
der Paftor und ich, fo war die Reihenfolge. Im Zülicher Land ift gut ſpazieren gehen, 
herrlich; man braucht nie zu ſteigen, gar keine Anſtrengung, es iſt ſo flach wie ein 
Tiſch. Der „Herr“ las immer Latein; ſo mußte ich es doch lernen. Dann und wann 
drehte er ſich um, wenn ein Abſchnitt aus war. „Junge, hörſt du, gloria patri et 
filio! Was heißt das? et spiritui sancto, überſetze das!“ Dann gingen wir weiter. 

Als ich in die Ferien kam, prüfte unſer Oberlehrer mich wieder; ich konnte 
es gerade ſo gut, wie damals. Er fragte mich, wie ich unterrichtet worden wäre. 
Sch hörte noch gerade, wie fie lachten: „Eine treffliche Methode! Die alte Stoa, 
die Peripatetiker!“ Darüber mußten ſie ſo lachen; Papa lachte auch; er hatte doch 
kein Latein gelernt. 

„Verſuchen Sie es jetzt mal anders, Zuckerbrot oder Peitſche! Wenn der 
Zunge kein Latein lernt, ift er verloren.“ 

Alſo kam ich in das Haus des Schreckens, zum Glück nur auf kurze Zeit. 
Wie ich ankam, ſagte der Paſtor: „Gut, daß du da biſt! Na warte, Männchen, 
hier werden wir mit deinesgleichen fertig, haben ſchon ſchlimmere Fälle gehabt. 
Probate Methode!“ Dabei machte er einen Strich durch die Luft, und ich kriegte 
ſchon einen Schrecken. Den zweiten bekam ich, als ich das Studierzimmer muſterte, 
worin ich fiir einige Zeit allein blieb, da der „Herr“ gerade ein Kind taufen mußte. 
gn einer Ecke ſtand unter der zerriſſenen Tapete geſchrieben: „Schreckenskammer!“ 

Vas das bedeutete, erfuhr ich ſogleich am andern Morgen. Vor dem Kaffee 
wurde die probate Spezialmethode angewandt: ich erhielt 6 Hiebe mit einem bieg- 
ſamen Rohrſtöckchen aufgezählt, ſo daß ich beim Sitzen am Kaffeetiſch immer hin 
und her rutſchte und ſchnell aufſtand. Jeden Morgen bekam ich die gleiche Ration 
mit den Worten: „So, Kerlchen, das iſt für die Streiche, die du heute anfangen 
willſt, und zur Anfeuerung, daß du mir fleißig lernſt!“ Später ſagte unfer Ober- 
lehrer, das wäre die prophylaktiſche Methode geweſen, und da hatten fie wieder 
alle gelacht, auch mein Vater, der noch nie erfahren, was das heißt, Latein lernen. 

Ich lernte immer in der Schreckenskammer, aber wenn ich die Sprüche an- 
fab, die an der Wand hingen, hatte ich vor Angſt wieder alles vergeſſen. Die Sprüche 
hießen: Wer nicht hören will, muß fühlen. Am Beſenſtiel wachſen die beſten Rin- 
der. (Chineſiſch.) Wen der Herr lieb hat, den züchtigt er. Entziehe dem Kinde die 
Zuͤchtigung nicht! 

Für die Trefflichkeit der Schreckensmethode war der Spitz des Paſtors ein 
lebendiger Beweis: er konnte, wenn der Herr das „Heil dir im Siegerkranz“ ſang, 
die Intervalle mitbellen. Mir gefiel die Methode aber nicht ſonderlich. Als der 
Pfarrer einmal einen Toten begraben war, lief ich ſchnell hinaus und ſteckte einen 
Brief an Mama in den Briefkaſten. Eine Freimarke hatte ich zwar nicht; aber 
ich ahnte, daß ich mir keine fragen dürfte. Zwei Tage darauf war Mama ſchon da, 
und als ich ihr gezeigt, wo der Paſtor ſich ſo viele Mühe mit mir gegeben hatte, 
wurde ſie ohnmächtig. Darauf fuhren wir ab. d 

Nun war Holland in Not: alle Methoden waren durchprobiert, ohne Erfolg! 

Ger Turmer XI, 7 3 


34 Quandt: ,HSimmelsfdiaffel* 


Aber was niemand kann, das können die Zejuiten, dachte mein Vater und fchidte 
mich in das Inſtitut der Jeſuiten zu ..., weit, weit weg. Mit den bisherigen 
Methoden war es auch nicht weit her. 

Alſo kam ich wieder in die Sexta, und weil ich inzwiſchen ſchon alt und ver- 
ſtändig geworden war, ſtieg ich alle Jahre, bis wir an den Homer kamen. Der 
rief mir zu: „Bis hierher und nicht weiter!“ Da griff ich denn zum erſten Male 
mit dem Mut der Verzweiflung ſelbſttätig in meinen mäanderhaft verſchlungenen 
Bildungsgang ein und ſtreikte. Darüber war mein Vater fo erboſt, daß er delre- 
tierte: „Wenn der Burſche abſolut nicht unter die Gebildeten will, dann ſoll er 
Bauer werden!“ Er ahnte nicht, wie er damit meinen Neigungen entgegenkam. 
Mein Prinzipal wünſchte ſich nie einen beſſeren Eleven. Aber das Schickſal wollte, 
daß ich noch zwei Jahre lang die Schulbank drückte; denn alle, ſelbſt der vernünftige 
„Baas“, erklärten, ohne das „Einjährige“ wäre ich ſelbſt als Bauer geſellſchaftlich 
unmöglich. Wollte ich ſpäter einmal in meiner Vaterſtadt ein anſtändiges Lokal 
beſuchen, ſo würden alle mit den Fingern auf mich zeigen und wiſpern: „Das 
ift der ..., der nicht einmal das „Einjährige“ gemacht hat!“ 

Ich mußte das einſehen, wählte mir aber ſelbſt eine Schule, die kein Latein 
und Griechiſch lehrte, und hier bekam ich nach 2 Jahren, im 20. Jahre meines 
Lebens, das „Einjährige“. Ich atmete tief auf; denn ich konnte mich wohl als 
Methodenmartyrer und, auf meinen pädagogiſchen Irrfahrten fußend, die fo lange 
gewährt hatten, wie der Trojaniſche Krieg, dem göttlichen Dulder Odyſſeus an die 
Seite ſtellen. 

Vergnügt ergriff ich die liebgewordene Miftgabel wieder. 

Und die Moral von der Geſchichte 


A 
„Himmelsſchlüſſel“ 


Von 


Joh. Quandt 


Uns den Himmel zu erſchließen, 
Schied der Herr im Oſterſcheine; 

Gern beſchauten feine Zünger 

Auf des Olbergs kahlem Gipfel 

Noch den Ort, wo er geſtanden, 

Eh’ fein Leib zum Licht gezogen. 
Siehe, in den heil'gen Spuren 
Sproßten goldenfarbne Blumen 

Zeden Lenz — ein Wunder — wieder! 
Und der Wind trug ihren Samen 
Bald bis zu den fernſten Weiten 

Zu Germaniens grünen Auen, 

And man heißt fie „Himmelsſchlüſſel!“ 


LiPo 


Klaſſenkampf 


Von 


Albert Falkenberg 


Ver über die letzten Straßenzüge des äußeren Stadtgürtels hinaus 
iſt, ſtößt auf eine zehn Meter breite unbebaute Fläche, an die 
der Stadtwald fih anſchließt. Bald hinter den erſten Baum- 

gruppen liegt ein ſtacheldrahtumzäuntes Rondell, deffen Mitte 
Haufen gelben Sandes beherbergt, während in geringem Abſtand voneinander 
Ruhebänke am Gitter entlang ſtehen. 

Hier am Waldesrande wacht der Frühling am früheſten auf und webt ſeinen 
grünen Ouftidleier in den Zweigen der Rieſenſtämme, die die Natur wie gegen 
den Anſturm der vorrückenden Großſtadt gerüſtete Wächter breitſpurig aufge- 
pflanzt hat. Seit Jahren — folange die weißen Villenfaſſaden dem Walde ent- 
gegenſchimmern — iſt das Rondell der Tummelplatz der Kinder. Aber die Kinder, 
die hierher kommen, Ball zu ſchlagen, Räuber zu ſpielen — das ſind die Kinder 
der Reichen. Nur wenige „Bürgerliche“ mifchen fih unter diefe „Autokraten“ — 
ſehr bald findet man ſie heraus, trotz aller Miſchverſuche bilden jie immer wieder 
ein Häuflein fiir fic. , | l 

Da aud mein Zunge unter diefen wenigen „Allzuvielen“ ift, fo wähle ich, 
um fein Tun außerhalb des Hauſes zu beobachten, häufig genug als Zielpunkt 
meines Spaziergangs das Rondell am Waldesrande. 

Aber in dieſem Frühling ijt es anders als in früheren Jahren. Es ijt Mittags- 
zeit. Wieder, wie auch ſonſt, komme ich von der Waldſeite auf das Rondell zu. 
Schon weither höre ich das ſchütternde Lachen rauher Kehlen und hellkreiſchende 
Frauen- und Mädchenſtimmen. Noch ſtehe ich nicht auf der Lichtung, um alles über- 
ſehen zu können, aber kluge Witterung läßt mich auf den meiner harrenden Anblick 
rüften: lauter Volk — Maurer, Zimmerer, Handlanger, Eſſenträgerinnen — und die 
„Axiſtokratie“, mit den „Bürgerlichen“ gemiſcht, verſchüchtert hinter dem Zaun. 

Von den feit Wochen vorgenommenen Ausſchachtungen hinter dem Waldes- 
rande bis zu dieſer Volksverſammlung zu kombinieren, genügt ein Gedanken- 
ſprung. Sch frage mich faſt ärgerlich, wie ich innerlich überhaupt noch überraſcht 
ſein darf. Meinen Zungen ſehe ich, er hat hochrote Wangen und ſteht inmitten 
einer lauſchenden Gruppe von „Autokraten“ und ſpricht, lebhaft geftitulierend, 
Die wenigen „Bürgerlichen“ außer ihm haben fih draußen ſchon wieder zu irgend 


36 Rlaffentampf 


einem Spiel zuſammengetan. Was mich zunächſt feifelt, ift der erſtaunte, tind- 
lich feindliche Blick aller Verſammelten der Gruppe um meinen Jungen — nun 
fie wie aufgeſchrecktes Wild hinüberäugen zu denen, die unbekümmert Beſitz er- 
griffen vom Heiligtum der Jungen. Dann aber empfinde ich es wie Unbehagen, 
wenn ich auf meinen Jungen ſehe. Er ſteht da mit blanken Augen — und doch 
ſcheint mir, als kämpfte er für eine verlorene Sache. In ſeinem Eifer gewahrt 
er mich nicht. Ich folge dem Trupp, der ſich langſam, wie kriegsberatend, nach dem 
Waldesrande zurückzieht, hier noch einmal verweilt, um unter Ausſtoßung heißer 
Verwünſchungen haßerfüllte Blicke gegen die in langer Linienflucht entſtehenden 
Neubauten zu ſchleudern und dann in den einzelnen Straßenzügen fih zu verlieren. 

Zu Hauſe angekommen, ſtelle ich feſt, daß mein Zunge einer Antwort auf 
meine Frage, wie es heute auf dem Spielplatz geweſen, ausweicht. Er ſitzt tags- 
über mit einem Buche abſeits, feine Augen aber gehen hinweg ins Leere. An den 
nächſten Tagen ijt es nicht anders. Sch komme regelmäßig an dem Rondell vor- 
über, fehe aber keine Jungen. Doch — weit abſeits dem Rondell höre ich Knaben 
ſtimmen, ich gehe ihnen nach und finde einige von den „Bürgerlichen“, die wie 
die verlorenen Schafe einer geſprengten Herde im Unterholz rumoren. Nur meinen 
Zungen entdecke ich nicht. Einige Tage ſpäter nehme ich ihn mir vor. „Sag mal, 
geht ihr denn niemals mehr nach dem Rondell?“ Er ſpielt mit den Knöpfen ſeiner 
Sade, fein Blick ift auf den Boden geheftet, und der Trotz arbeitet in feinem Geſicht. 

„Wo warſt du denn all dieſe Tage?“ ſetze ich das Verhör fort. 

„In Majors Garten“, kommt es kurz und kantig heraus. 

„Allein?“ 

„Nein — wir — da kommen wir jetzt immer zuſammen — ſolange gebaut 
wird.“ And nach einer Pauſe: „Aber das iſt nur ſo ein Fleckchen — es iſt nicht 
ſo ſchön da wie im Walde.“ Ich ſehe einen feuchten Schimmer in ſeinen Augen — 
iſt es Trotz oder Wehmut? „Aber — was ſollen wir da noch? Da haben ſich ja 
nun diefe — Rulis eingeniſtet.“ 

Jetzt ſieht er mich endlich einmal mit offenem Blick an. Ich habe Mühe, 
dieſem Blick ſtandzuhalten — es ift, als ſprühe aller Schmerz einer wunden Rinder- 
ſeele daraus. Ohne lange zu überlegen, faſſe ich ſein Handgelenk, mit kräftigem 
Griff umſpanne ich die zarten Knochen und ſehe ihm gerade in die Augen. „Kulis? 
Soll das etwa ein Schimpfname fein?“ frage ich. Er verſucht, meinen Griff ab- 
zuſtreifen, aber ich laſſe nicht locker. 

Am nächſten Mittag ſitze ich mit meinem Jungen auf einer der Bänke im 
Rondell — inmitten der „Kulis“. Ich überlaſſe den Zungen ganz ſich ſelber, ziehe 
ein Zeitungsblatt aus der Taſche und äuge aufmerkſam zu ihm hinüber. Inner- 
lich kitzelt mich kribbelndes Behagen, aber ich darf nicht vergeſſen, achtſam zu ſein. 
Die „Kulis“ haben ein Ballſpiel improviſiert. Die Stelle des Balls vertritt ein 
Knäuel Butterbrotpapier. Schon ein paarmal ift der Ball an meinem Zungen 
vorübergeholpert, aber der rührt ſich nicht, ſondern hält den Blick ſtarr auf den 
Boden gerichtet. Nun fliegt ihm der Ball gerade auf den Schoß. Zuerſt ijt er er- 
ſchrocken: er richtet ſich kerzengerade auf und läßt den Ball liegen. Nach einer 
Pauſe greift er zu und ſchleudert ihn — halb in Wut, halb aus Behagen am Spiel — 


Rnodbt: An bie Natur l 37 


wieder unter die Spieler. „Merci!“ klingt es lachend zurück. Mein Junge zuckt 
die Achſeln. Aber der Ball kommt wieder — nun liegt er zu ſeinen Füßen. Der 
Zunge fpringt auf und wirft ihn, lachenden Auges, nach der entgegengeſetzten 
Seite. Dieſer Wurf löſt drüben drohende Ohorufe aus, die meinen Jungen ver- 
anlaſſen, ſtehen zu bleiben und — es ſieht aus, als wartete er auf den Zufall — 
mit Intereſſe das Rommen und Gehen des Balls zu berechnen. Ein Glockenzeichen 
ruft vom Bauplatze herüber — die Zimmerer treten ab. Das reißt bedenkliche 
Lücken in den Spielerkreis. Mein Zunge begreift die Situation und ſtellt ſich auf 
einen Wink von drüben in die Reihen der Übrigbleibenden. Mein Herz fängt leiſe 
zu lachen an. Als wir nach Haufe gehen, fragt der Junge: „Im Winter wird nicht 
gebaut?“ „Nein,“ ſage ich, „da ruht die Arbeit.“ Er überlegt einen Augenblick, 
dann bleibt er ſtehen: „Ruht? Ja, aber verdienen dann die Leute nichts?“ „Nur 
ſo viel, als das Wetter es zuläßt.“ Er ſieht mich mit ſeinen großen Kinderaugen 
an, ſchweigt aber. Es vergehen einige Tage, an denen ich nicht in den Wald komme. 
Eines Mittags aber ſtehe ich wieder vor dem Rondell. Ich traue meinen Augen 
nicht: die „Autokraten“ ſind wieder aufgetaucht! In einer Reihe ſtehen ſie da, 
und mein Zunge davor — wie ein Bandenführer fo ſtolz. Die „Rulis“ ſpielen wie- 
der Ball. Mittlerweile haben ſie ſich zu einem wirklichen Ball verſtiegen. Der 
jauft aber auch, von den ſehnigen Armen geſchleudert, ganz anders durch die Luft. 
Die Zungen ſtrahlen, nun fie ihn mit den Augen verfolgen. Und als er der Knaben 
reihe vorüberſtreift, greift mein Zunge ihn in kühnem Sprunge und trägt ihn 
hinüber zu den Ballſpielern, ſeinen Kameraden winkend, nachzukommen. 

Eigentlich iſt es ja kindlich, das zu ſagen — aber ich bin nie ſo ſtolz auf meinen 
Zungen geweſen wie an dieſem Tage. 


W 


An die Natur 


Von 


K. E. Knodt 


Mit großen wachen Augen hab' ich ſie getrunken 
Die Schönheit, welche dlefe Erde ſchmüͤckt; 

Sm bin dem Leben jeden Lenz ans Herz geſunken, 
Vor jeder Blume hab’ ich mich gebückt. 


Sch hab' dem fernen Gott auf wolkenloſer Firne 
Ins unverhüllte Angeſicht geſehn 

Und fühlte oftmals über meine heiße Stirne 
Zn kühlen Wäldern feine Hände gehn. 


Und dies Gefühl des Einklangs zwiſchen Menſch und Erde 
And der geahnten Gottheit, das noch ſtets beſiegt 

Den Zwieſpalt in der ſünd' gen Seele, läßt mich glauben, 
Daß unfre Erde tief im Himmel liegt. 


0 


Judas Iſcharioth 


m ein Linſengericht erhandelte Jakob von feinem Bruder das Vorrecht des Erſt⸗ 
2 geborenen; liſtige, von Mutterliebe unterftügte Täuſchung wandte ihm des Vaters 
Segen, damit des Abraham Verheißung zu. Der tiefbeleidigte, um fein Beſitzrecht 
betrogene Bruder dürſtet nach Rache; ihr entzieht fih Jakob durch die Flucht zu Laban, feinem 
Verwandten in Meſopotamien. Vierzehn Jahre dient er dieſem um den Preis ſeiner Töchter 
Lea und Rahel; noch unbefriedigt, fügt er ſechs weitere Dienſtjahre hinzu, eine Herde dem 
Laban abzugewinnen. Mit Weibern, Kindern und dem reichen Beſitztum ſeines Viehſtandes, 
den er aus des Schwiegervaters Beſitz reichlich ergänzt, endet er die zwanzig Dienſtjahre durch 
die Flucht, die, zwar nicht ungehindert, aber doch mit nur geringer Schmälerung ſeines Ge- 
winnes und Raubes ihn glücklich wieder in die heimatlichen Triften führt, wo des Bruders 
Reichtum dem armen Eſau die Vergebung und Verſöhnung erleichtert. Zwölf Söhne, ein jeder 
in etwas Jakobs, des Vaters Gepräge tragend, ſind die Sproſſen ſeiner Lenden. Zeitliches 
Ungemach, ja ſelbſt der Schmerz um feinen Beſtgellebten, Joſeph, vermag nicht, den Hoch- 
bejahrten zu brechen; ihm iſt's vergönnt, den Totgeglaubten in der Fülle der Macht in Agyp- 
ten zu ſehen, feiner Liebe Lohn vom dankbaren Sohn zu empfangen; anderthalb Jahrhunderte 
faſt ſcheut des Todes Majeſtät, ſein mühevolles, ſturmbewegtes, doch geſegnetes Leben in 
ſanftem Schlummer zu endigen. — : 

Ein ungebändigter Herrfchafts- und Machttrieb, das Verlangen, das Gebiet feiner Willens- 
herrſchaft auszudehnen, läßt dieſen Mann ſchier Übermenſchliches wagen und dulden. Daß es 
ihm gelingt, dankt er der Konſequenz, die, bewußt oder unbewußt, ſeinem Herrſcherwollen 
innewohnt und ihn inſtinktiv den Pfad führt, auf dem er zum Ziele, zur Macht, gelangt. — 
| Des Vaters Wollen und Konſequenz mit demſelben Ynijtintte in ſich zu tragen, ift der 
Segen, den der Sterbende feinem vierten Sohne, Juda, in ganz beſonderem Maße zuteil 
werden läßt; fo wenigſtens darf verſtanden werden, wenn der Träger dieſes Namens dem 
Stamme Ffraels den Namen gibt, der aus allen Geſchicken des Zudäervolkes ungebrochen, 
ja oft erſtarkt an innerer Kraft und äußerem Anſehen, bis in die Tage des Nazareners hervor- 
geht. Begünſtigt durch ein weites, fruchtbares Gebiet Ranaans, das dem in ägyptiſchem Fron- 
dienſt erſtarkten Stamm bei der Beſiedelung des Gelobten Landes zufällt, ſteigt er bald von 
Machtſtufe zu Machtſtufe; erlangt, in der Zeit der Richter, die Vorherrſchaft über die andern 
Stämme und ſteigt zu höchſtem Glanze empor, als aus ſeiner Mitte der die Volksgenoſſen 
weit überragende David zum König erkoren wird. Aber ſelbſt die Trennung des Reiches 
vermag feine Kräfte nicht zu zerſplittern; geftikt auf die Treue dreier anderer Stämme, 
Benjamin, Simeon und Levi, zum Rönigshaufe Davids, gibt er dem Gildreih den Namen 


Zubas Sfcharioth 39 


und erfreut fid unter dem Schutze der Erbmonarchie einer glücklichen Machtentwicklung, bis 
überreiche Kultur, die ſich offenbart in der Veräußerlichung des Innenlebens, in Spaltungen 
im politiſchen, religiöſen und geſellſchaftlichen Leben, ihn dem Verfall entgegenzuführen droht. 
Tatſächlich unterliegt er in den Kämpfen mit aſſyriſcher, ägyptiſcher und chaldäiſcher Macht; 
indeſſen auch in der Abhängigkeit weiß er ſich im Innern des eignen Volkes und Landes doch 
in der Vormachtſtellung zu behaupten; aus dem babyloniſchen Exil zurückkehrend erringt er 
auf altem Boden, im Mittelpunkt des Landes die Herrlichkeit der heiligen Stadt wiederauf- 
richtend, wiederum eine der früheren nahekommende Vorherrſchaft und überliefert den eige- 
nen Namen als Nationalitätsbezeichnung des ganzen Volkes, welches im weſentlichen ſich nur 
noch aus den Stämmen Juda, Benjamin und Levi zuſammenſetzt. — 

Wenn wir den Machttrieb, das Expanſionsbedürfnis des Stammes Zuda lediglich auf 
die äußere, politiſche Ausbreitung und Herrſchaft gerichtet ſehen, fo machte fih neben dem Ein- 
fluß dieſes Stammes im Volke Iſrael früh das Herrſchaftsſtreben eines andern geltend; dies 
war der Stamm Levi. Während aber Juda mit ängftliher Sorge feine Kräfte zu einem feſten 
Kern verſammelte, ſehen wir Levi ſchon in der ägyptiſchen Knechtſchaft ſich ſpalten; früh regt 
ſich in ihm, deſſen Angehörige im beſonderen zu geiſtlicher Betätigung neigen, der Zwieſpalt 
der Geiſter, der zu einem Sektenweſen die erſten Anſtöße gibt. So ſtellen ſchon Moſes und 
Aaron, beide der Sage nach verſchiedenen Teilen des bereits geſpaltenen Stammes entſproſ⸗ 
jen, den in fpdteren Zeiten immer wiederkehrenden Gegenſatz zwiſchen rein- ſittlicher Inner- 
lichkeit und dugerlider Werkheiligkeit dar. Ein weiterer Beweis für die Geiſtlichkeit dieſes 
Stammes ift die Tatſache, daß er landlos in Kanaan einzieht, da feine Mitglieder als Opfer- 
und Tempeldiener in die einzelnen Stämme ſich zerſtreut haben. Was urſprünglich dem zu 
politiſcher Tatſachenarbeit kraftloſen Stamme als ein notwendiges Übel erſchienen fein mag, 
ſtempelte der dem auserwählten Volke nie mangelnde Sinn für Realpolitik zu einer Tugend, 
indem beſtimmt ward, daß nur aus dem Stamme Levi hervorgegangene Männer mit dem 
Opfer- und Tempeldienſt betraut werden dürften. So retteten die Leviten den Beſtand eines 
Stammes, mit dem fie geſchichtlich kaum mehr als den Namen gemein haben. Sie ermöglich; 
ten ſich dadurch ſogar die Aufnahme in den erſt zu Davids Zeiten entſtandenen Prieſterſtand; 
obgleich ſie zwar damit zu bloßen Tempeldienern herabſanken, ſo ſicherten ſie ſich gleichwohl 
alle Vorteile des geiſtlichen Standes, die ihnen auch eine ſpätere Geſetzgebung, die eine Aus- 
ſonderung des Prieſterſtammes und eine Rangordnung der prieſterlichen Amter einführte, 
nicht erheblich gefdmalert zu haben ſcheint. 

Den auf innere Kraft geſtüͤtzten Machttrieb des Stammes Juba wandelt die politiſche 
und ſittliche Schwäche des Levitenſtammes zu einem „Willen zum Zwang“, geleitet von der 
Erkenntnis, daß ſich dem zu Großem Unfähigen ſo die einzige Möglichkeit biete, gewiſſermaßen 
im Trüben fiſchend die Wünſche nach eigenem Beſitzſtand zu befriedigen. — — — 

Ein Jahrzehnt vor dem Auftreten des Nazareners; in der Vorhalle des Tempels im 
Zudäerlande. Eine Gruppe eifrig und erregt disputierender Schriftgelehrter und Leviten 
feſſelt unſere Aufmerkſamkeit. In ihrer Mitte bemerken wir einen Jüngling, dem das in den 
ausſchließlichen Dienft des Geiſtes, in den ODienſt ſeeliſcher Kräfte geſtellte Feuer glühender 
orientaliſcher Sinnlichkeit aus den Augen leuchtet, mit jenem wehen, übernatürlichen Glanz, 
der blendet und zugleich mit einem dunklen Gefühl des Schreckens und Mitleidens erfüllt. 
Wir hören, wie er ſoeben vor den Ohren der ihn umdrängenden Männer das Bekenntnis von 
dem Unwert alles irdiſchen Seins ablegt. Nicht als ein freies, ehrliches Bekenntnis, deffen 
Erfüllung die Betätigung des eigenen Glaubens folgen foll, ſondern ein Bekenntnis, das, zwar 
an ſich ehrlich, aber nicht rein und frei aus dem tiefſten Herzensgrunde keimt; weil dort tief 
unten Wünſche ruhen, Wünfche eingeborener Art, deren Verleugnung nur mit dem Opfer der 
Perſönlichkeit erkauft werden könnte. Ein Judäer, hat auch er Anteil an dem Artrieb feines 
Stammes, auch er ſtrebt nach Macht, nach Außerer Wirkung, nach Anerkennung. Nur in dem, 


40 Judas Zfdartoth 


worin er anerkannt werden will, unterſcheidet fid fein Sehnen von dem feines Stammes. 
Nicht in der Betätigung eines äußeren Beſitzes, einer Machtſphäre, ruht ſein Begehren, ſondern 
gerade darin, daß man erkenne, daß die Wahrheit für ihn iſt, wenn er der Menſchheit in ſeinem 
Bekenntnis die Erlöſung von der Qual der Zeit bringen will. 

Aber er ift eine Zwiſchennatur; fein judäiſcher Machttrieb ift gepaart mit von ihm felbft 
nicht erkannter levitiſcher Ohnmacht. So kommt es, daß der Machttrieb ſich nicht auf dem 
dem ZJudäerſtamme von jeher beſtimmten Felde politiſcher Tätigkeit durchzuſetzen ſucht, fon- 
dern hinübergreift in die dem Levitenſtamme vorbehaltene Geiſtlichkeit; der Machttrieb aber, 
judäiſchen Urſprungs, hindert ihn wiederum, ein ganzer Levit zu werden; der „Wille zum 
Zwang“, deffen unbedingte Notwendigkeit dem Zudäer verborgen bleibt, fehlt ihm, und da- 
mit iſt's ihm verwehrt, ſeine Menſchenwünſche nach eigenem Beſitzſtand mit ſeiner Sehnſucht 
zu befriedigen. Denn jener Machttrieb hat ja zum Urgrunde ebenfalls Beſitzwünſche; das aber 
kann und darf diefer Zudäer in feiner Zwiſchennatur nicht erkennen, wenn er ſich damit nicht 
zeitlich aufgeben will. Darum ſträubt er ſich, wenn ihn dort der pfiffige Levit beiſeite zieht 
und ihm klarmachen will, daß er fein Bekenntnis ja wundervoll zur Befriedigung von Beſitz⸗ 
wünfchen ausbeuten könne. Sträubt ſich auch, wenn hier wieder ein ernſter Schriftgelehrter 
ihm den einzigen Weg weift, der ihm bei feiner Sehnſucht bleiben kann: den Weg des allmächti- 
gen Einſamen zu wandeln, fehlt's ihm an Kraft; dem Leviten zu folgen, hindert ihn die Rein- 
heit eines dem Machttrieb gepaarten ſeeliſchen Inſtinktes.— — — 

Eine einſame Bergeshalde des Judäerlandes, wohin nur gedämpft der Schall des 
Tages heraufzittert. Dort hinauf hat fih der Unruhvolle geflüchtet, dem es feine Doppelnatur 
verſagte, eins oder das andere ganz zu ſein. Nun iſt er der Einſiedler geworden; und iſt doch 
noch immer kaum ein Mann. Ihm war dies Fluchten als die einzige Möglichkeit erſchienen, 
ſich in ſeiner Sehnſucht rein und ſtark zu bewahren, wenn es ihm denn verſagt ſein ſoll, ſeine 
Erkenntnis lebendig zu machen. Auch hat ihm jener Levit in feinem Vorſchlage die ganze Er- 
bärmlichkeit der Menſchheit enthüllt; für den in reinen Höhen des Geiſtes, in den zarten Tiefen 
der Seele Aufgewachſenen genügt folder Anſtoß, ihm den Glauben an die Menſchheit gründ- 
lich zu untergraben. Daß die ſalomoniſche Weisheit von der Eitelkeit alles menſchlichen Seins, 
die Erkenntnis des ſchuldloſen, doch zum Segen gedeihenden Leidens eines Hiob Greifen- 
bekenntniſſe ſind, bleibt dem Jüngling verſchloſſen. Er ſieht auch nicht, daß ſolche Weisheiten 
Tröſtungen, nie aber Schlummerrufe ſein wollen; Tröſtungen, wenn allem, auch redlichem 
Mühen nicht erhoffter Erfolg wird, Tröſtungen, wenn unverdientes Leid die Seele zu zer- 
ſchmettern droht. Der Zwanzigjährige aber kann auf dieſe Weisheit nichts bauen, weil fie fei- 
nen Betätigungsdrang hemmen, ihn troſtlos und mutlos machen würde, da er fürchten müßte, 
mit allem Mühen nichts zu erringen; und wer möchte, mit zwanzig Jahren, um nichts ringen? 
Der Einſame dort oben iſt alt, legt ein Greiſenbekenntnis ab, mit zwanzig Jahren; ohne die 
Werte des Lebens kennen gelernt zu haben, wagt er's, fie zu verachten. Keine Jugend, kein 
frohes Hoffen und kühnes Wagen erſchließt ihm die Welt; die Worte der Weiſen mißverſtehend 
— ober vielleicht in allzu großer Tiefe und Klarheit erfaſſend — entſchlägt er ſich dem Orange 
des Tages; nur hin und her, wenn ein lauterer Ruf in der Tiefe erſchallt, lebt er eine Weile 
mit dem Weltenlärm, aber nur um immer und immer wieder, das Haupt ſchuͤttelnd, zu mur- 
meln: „Laß ſehen, wie weit der's treibt.“ Und alle, alle find fie wieder im Strom davon- 
getrieben, die da glaubten, wie einſt er, daß der Menſch zu beglücken fei. — — — — — 

Ein gewaltiger Prophet ift aufgeſtanden in Iſrael, herziehend vom Nordreich, auch dem 
Reiche des Südens Wahrheit zu künden, Erlöfung zu bringen. Der Ruhm feines Namens, 
der Ruf feiner Taten zieht vor ihm her, Täler und Höhen mit gewaltigem Range erfüllend. — 
Der Einſame horcht auf; fo laut, fo überzeugend hat's nie heraufgetönt in den Jahren, die er 
hier oben bisher geweilt. Gewiſſere Kunde durchfährt ihn mit freudigem Schrecken: der da 
unten, vom begeiſterten Volke umringt, durch die Lande und Städte zieht, der will, was dein 


Zudas Zſcharloth | 41 


Knabenwunſch war, der will nicht nur, er ſcheint zum Ziele zu gelangen! „Sorget nicht für den 
kommenden Tag“, ſo war ja auch deine Weisheit. „Trachtet am erſten nach dem Himmelreich“; 
dies Heil zu künden, wäreft auch du fo gern vors Volk getreten. — Aber, „laß ſehen, wie weit 
er's treibt“, — und der Einſame denkt der Bielguvielen. — 

Da ſcheucht ihn plötzlich ein anfangs kaum beachteter Ruf aus ſeiner Träumerei: „So 
wird euch folches alles zufallen !“ Weh greift's dem Einſamen ins Herz: der da, feinen Glau- 
ben verbreitend, einherzieht, denkt auch der Welt und ihrer Werte! Das war nie gehört, nie 
noch geahnt, daß man das eine tun, das andere nicht laſſen folle. — Ihn hält’s nicht länger 
auf einſamer Bergwarte; den muß er ſehen, der ſolches verheißend das Volk gewinnt; von 
Angeſicht zu Angeſicht, mit ihm leben, mit ihm wandeln, mit ihm lehren. 

Er ſteigt herab und grüßt den Nazarener, gewinnt feine Freundſchaft und zählt mit 
unter die Zwölfe, die ihm am nächſten, am liebſten find. Von Ort zu Ort begleitet den in 
Sanftmut Gewaltigen der Sieg; nur mit denen, die ſich im geiſtlichen Beſitzrecht dünken, kann 
er kein Verhältnis gewinnen, mit Prieſtern und Leviten. Judas, mit ihnen ſeelenverwandt, 
erkennt plötzlich den Grund feiner Einſamkeit, feiner Wirkensunmöͤglichkeit, in feiner Leviten- 
ohnmacht. Das wird fein Verhängnis. Den Gleichſtrebenden in Zeſus anzuerkennen, ward 
ihm nicht ſchwer, folange er ſich ihm innerlich verwandt glaubte. Jetzt ſieht er plötzlich die 
Kluft, die ihn von jenem trennt, die gewaltige Kluft zwiſchen Wollen und Können, zwiſchen 
Macht und Ohnmacht. In Jefus den Größeren zu ſehen, ihn als den Meiſter zu verehren, 
wird ihm unſäglich ſchwer, ja auf die Dauer unmöglich. 

Nicht niedriger Neid, mehr etwas wie Selbſterhaltungstrieb, erinnert ihn an die Trö⸗ 
ſtung feiner Cinfamteit: „Laß ſehen, wie weit er's treibt.“ Noch hofft er, auch dieſer hier wird 
verzagen, wird verzweifeln an der Menſchheit, wenn er ihre Erbärmlichkeit erft ganz erkennt; 
dann wäre er, Zubas, gerettet; dann könnte er triumphieren; vielleicht auch würde jener dann 
des Einſamen Gefährte. 

Eine freundliche Hoffnung, ein verſtändliches Wünſchen. — 

Aber immer weiter ſchreitet der Nazarener; mit bangender Seele ſieht Zudas den er- 
hofften Freund mehr und mehr dem Ernſt ſeiner Aufgabe ſich einleben; mehr und mehr drängt 
fich ihm die Befürchtung auf, der könne vollenden, was er fo herrlich begann; der könne aus- 
harren bis ans Ende, des Leidens Kelch ganz erſchöpfen und damit tatſächlich als der Größere, 
der Siegende hervorgehen. 

Der Machttrieb des Fudders kann nicht ruhen. Mit einer wilden, wehen, aus halber 
Verzweiflung geborenen Wut erſinnt er das letzte, was ihm den Freund erhalten könnte, — 
wie er glaubt; und er will doch nur fih erhalten! — Er will verfuchen, ihn feiner Aufgabe ab- 
zuwenden, im letzten Augenblick. Jefus foll die Erbärmlichkeit des Menſchen kennen lernen, 
damit ihm fein Entſchluß, fih zu opfern, leid werde. Und der Judder greift mit jähem Griff 
tief, tief, zerreißend in des Nazareners Herz. Er, der Geliebteſten einer, verrät den Freund, 
um ihn ſich zu erhalten; verrät ihn um einen Sündenfold, deffen geringe Höhe jede Abſicht 
auf äußeren Beſitz ausſchließt. „Sieh, fo wenig biſt du mir wert“, das ſoll der Nazarener emp- 
finden; dann wird er zagen und wanten; und er, der Verräter, will ihm dann ein Gefährte 
im wehen Schmerze fein. — — 

Entſetzt, in den Tiefen ſeines Seins entwurzelt, muß Zudas erkennen, daß dieſen Ge- 
waltigen nichts brechen kann; der ſchreitet mit königlicher Hoheit der Seele, in göttlicher Demut 
zum Kreuzestod. Sein Sieg ift des Judas Verderben; des Zudäers eee das erſte Sieges 


zeichen des Gottesſohnes. 
Walter Boelicke 


42 Modernismus in der proteſtantiſchen Theologie 


Modernismus in der proteſtantiſchen Theologie 


| Ji. Zo ſicher die Naturwiſſenſchaft für eine Weltanſchauung nicht ausreicht, fo gewiß 
dës ZO, muß jede Weltanfhauung fid zu den feftgeftellten Tatſachen der Maturwiffen- 
See, haft und der Geſchichte in Beziehung ſetzen, ihnen gegenüber einen klaren Stand- 
punti eumehmen, fih an ihnen orientieren. Auch die Religion, foweit fie nicht in innerem 
Gefühlsleben beſteht, hat das immer getan. Sie hat noch mehr getan; fie hat auch auf die 
zu einer beſtimmten Zeit herrſchenden, alfo in ihr „modernen“ Hypotheſen Rückſicht genom- 
men, und ſie konnte gar nicht anders. Denn die Religion wird getragen von Menſchen, und 
andere als „moderne“ Menſchen gibt es nicht. Wohl kann der Menſch ſeinen Schwerpunkt 
in der Vergangenheit ſuchen; doch den Feſſeln des für ihn modernen Zeitbewußtſeins hat ſich 
noch keiner zu entziehen vermocht. In dieſem Sinne war Moſes ein moderner Menſch, und 
es wäre lächerlich, von ihm zu fordern, daß er in bezug auf die Natur anderen als den modernen 
Meinungen feiner Zeit gefolgt wäre. Auch Chriftus war ein Kind feiner Zeit und feiner Um- 
gebung, alfo nicht weniger. ein moderner Menſch als die heute lebenden. In bezug auf die 
Natur konnte er nichts anderes glauben und lehren, als was den Anſchauungen ſeiner Zeit 
entſprach. Luther war gewiß ein moderner Menſch; ſein Geiſt ſtand allem Wiſſen ſeiner Zeit 
offen, war von allem Aberglauben ſeiner Zeit beeinflußt. 

Wenn ich Leute fih ihres modernen Standpunktes rühmen hörte, habe ich dies 
nie verſtanden; denn das ſpezifiſch Moderne ift vergänglich, und nur das, was in der Tages- 
meinungen Flucht als ſichergeſtellter Kern unſeres Wiſſens ſich erhält, alſo gerade das nicht 
Moderne, iſt dauernd wertvoller Beſitz der Menſchheit. Damit ſoll keineswegs verkannt werden, 
daß für die einzelne kürzere oder längere Phaſe der Menſchheitsgeſchichte auch die modernſten 
Ideen von höchſter Bedeutung find. Denn erft die Zukunft kann lehren, was von dieſen Ideen 
als Edelmetall feſtzuhalten ift, und was als Schlacke abfallen muß, was vergängliche Hülle, 
was unzerftörbarer Inhalt folder Ideen, ein dauerndes Gut des Menſchengeſchlechts blet- 
ben wird. 

Ich glaube, daß dieſen Geſichtspunkten ein hochintereſſantes Buch von Karl Beth: 
Der Entwicklungsgedanke und das Chriſtentum (Berlin, Edwin Runge, 1909. Preis 3.75 M) 
gerecht wird, weil der Verfaſſer, ordentlicher Profeſſor der evangeliſchen Theologie an der 
Aniverſität Wien, darin die chriſtliche Weltanſchauung mit der Naturwiſſenſchaft und der Natur- 
philoſophie in Beziehung treten läßt. Er unterzieht die Lehren des Chriſtentums einer Re- 
vifion, die ſich an der Biologie unſerer Tage orientiert, und welche die religiöſe Metaphyſik 
dem fortſchreitenden wiſſenſchaftlichen Erkennen der Zeit anpaßt. Als Maxime feiner Re- 
viſion kann der Satz bezeichnet werden, daß die Bibel nicht als Quelle für Wahrheiten aus 
dem Gebiete der Natur benutzt werden darf, ſondern daß darüber nur die Naturwiſſenſchaft 
zu entſcheiden hat. Beth iſt der Meinung, daß es kein verſteinertes Chriſtentum gebe, ſondern 
daß das Chriſtentum ſich fortwährend den begründeten Zeitanſchauungen anzupaſſen ver- 
mochte und fich auch ferner anpaſſen muͤſſe. In bezug auf die Abſtammungslehre ſagt B. wört- 
lich: „Die Deſzendenztheorie ift nicht bloß eine mit Hilfe der Phantasie aufgebaute Hypo- 
theſe, ſondern fie ift eine der beſtbegründeten Hypotheſen, die es zur Erklärung von natur- 
wiſſenſchaftlichen Tatbeſtänden gibt.“ „Bis zum heutigen Tage ift die Oeſzendenztheorie 
eine Hypotheſe, die auf einer großen Reihe von Indizienbeweiſen und Analogieſchlüſſen ruht, 
und freilich für den, welcher die Erklärung des gegenwärtig Beſtehenden verlangt, fo not- 
wendig ift, daß es kein Verſtändnis der organiſchen Welt ohne diefe Hypothefe gibt“ (S. 90 
und 106). Damit tritt B. ganz auf den Standpunkt, den ich ſelbſt ſtets in meinen Schriften 
eingenommen habe. 

B. ift der Anſicht, daß das Entwicklungsprinzip mit feiner Kontinuität der organiſchen 


Modernismus in der proteſtantiſchen Theologie 43 


Formen am beiten dem chriſtlichen Gottesbegriffe entſpricht. Die Entwicklung ift ihm dabei 
gleichbedeutend mit Schöpfung; fie enthüllt uns geradezu die Methode göttlichen Schaffens. 
In bezug auf die Natur ift ihm Gott tranfzendent und immanent zugleich. Damit verbindet 
B. die Anerkennung einer univerfellen Offenbarung Gottes in allen Religionen. In bezug 
auf die urſprüͤnglichen Religionen der Menſchheit ſchließt B. fih den Gedanken L. v. Schröders 
an, die ſich kurz dahin zuſammenfaſſen laſſen: „Es iſt einer da, es muß einer da ſein, der da 
will, daß wir ſo handeln!“ Und: „Es iſt einer da, es muß einer da ſein, der das alles gemacht 
hat!“ Über die Entwicklung der Religion ſagt B. Seite 205: „Aber hat denn die Religion wirt- 
lich eine Geſchichte, und kann man den Gedanken der Entwicklung auf ſie anwenden? So 
vorſichtig auch dieſe Frage erörtert werden muß: ich bin keinen Augenblick im Zweifel, ſie, 
ohne mißverſtanden zu werden, bejahen zu dürfen. Die Religion hat eine Geſchichte, und 
zwar eine Entwicklungsgeſchichte, und die göttliche Offenbarung ſelbſt ijt Geſchichte und be- 
deutet den entwicklungsgeſchichtlichen Faktor.“ In bezug auf den Offenbarungsbegriff aber 
heißt es Seite 201: „Immer, wenn wir von Offenbarung Gottes reden, meinen wir dies, 
daß von Gott beſtimmte Tatſachen gewirkt werden, an denen der Menſch der wirkſamen Gegen- 
wart eines überweltlichen lebendigen Geiſtes unmittelbar inne wird.“ 

Von einer durch und durch teleologiſchen Weltanſchauung ausgehend, hält B. die Ent- 
wicklung für die Produktionsweiſe der Gottheit bis zum menſchlichen Geiſte hinauf, ja, er be- 
hauptet geradezu, es ſei dies „das Poſtulat der chriſtlichen Betrachtung und Wertſchätzung 
von Welt und Menſch“ (S. 156). Das Problem der Menſchenabſtammung ift ihm dabei zu- 
nët ein zoologiſches. „Was über den mutmaßlichen Zuſammenhang des Menſchen mit dem 
Tierreiche zu erörtern iſt, alſo gerade die Frage nach der Abſtammung des Menſchen, kann 
allein von den Disziplinen der zoologiſchen Biologie im Verein mit der Paläontologie erledigt 
werden“ (S. 105). Allerdings kennen wir bisher die Ahnen des Menſchen nicht und können 
höchſtens vermutungsweiſe auf diefe oder jene Stammeltern geraten; Haeckels Stammbãume 
find zweifellos reine Phantaſieprodukte. Wir haben eine tieriſche Deſzendenz des Menſchen 
nur als das Wahrſcheinlichſte gelten zu laſſen, denn es iſt eine Forderung wiſſenſchaftlicher 
Konſequenz, auch den Menſchen nicht von der ODeſzendenz der Organismen auszuſchließen. 

Freilich iſt fir B. der Urſprung des Menſchen nicht bloß ein zoologiſches, ſondern auch ein 
pſychologiſches und ein ſprachwiſſenſchaftliches Problem. Schon Sprachvermögen und Kultur- 
fähigkeit bedingen einen Qualitätsunterſchied von allen Tieren; inſofern trat mit dem Menſchen 
etwas völlig Neues in den Naturlauf ein. Dieſe Neubildung betrachtet B. als eine f prung- 
weiſe erfolgte im Sinne von Röllikers Heterogeneſis, worin er auch mit E. v. Hart- 
mann übereinkommt. „Um den Sprung kommen wir nicht herum.“ Immerhin fet das Dogma 
aufzugeben, daß der Menſch fix und fertig als vollkommenes, unſterbliches Weſen aus Gottes 
Hand hervorgegangen ſei; als Plasma- Organismus ſei der Menſch immer ſterblich geweſen. 
Wie in der Ontogonie fidh der menſchliche Get allmählich entwickle, fo fei es auch in der Phy- 
logonie geſchehen. Die menſchliche Pſyche entſtand aus tieriſcher Pſyche, wenn fie fih auch 
zu einer Stufe unendlich höherer Vollkommenheit erhob; denn als freie Perſönlichkeit ragt 
der Menſch weit über die ganze übrige Natur hinaus, er iſt das Ziel ihrer Entwicklung. In 
dieſem Sinne fordert B. eine Reviſion der Meinungen über den Urſprung des Menſchen auch 
für die Religion. Die Revifion anderer Dogmen will er nicht von der Hand weiſen, fo z. B. 
die Lehre vom Sündenfall; denn die Urmenſchen waren Menſchen wie wir. In ihnen lag 
eine Dispofition zu geſunder leiblich-geiſtiger Entwicklung, und fie beſaßen ſchon Sittlichkeits⸗ 
gefühl; indem fie fih dazu in Widerſpruch festen, fündigten fie. Darum fei der Stand einer 
primdren Vollkommenheit fallen zu laſſen. Trotzdem werde der Lehre vom Ebenbilde Gottes 
im Menſchen durch die Anthropologie nicht widerſprochen. Die Meinung, daß der phyſiſche 
Tod durch die Sünde in die Welt gekommen, fei nicht aufrecht zu erhalten, nur um den „Stachel“ 
des Todes handle es ſich in der Pauliniſchen Lehre. 


44 Landarbeiter und Land flucht 


Auf die weiteren theologiſchen Abſchnitte des Buches, beſonders auf die darin vorge- 
tragene Chriſtologie, kann hier nicht näher eingegangen werden. Die Anſchauungen Beths 
ſind modern in jedem Sinne des Wortes, und nur die Zukunft kann lehren, was an dieſem 


„Modernismus“ Edelmetall, was Schlacke iſt; die letztere wird mit der Zeit von ſelbſt abfallen. 


J. Reinke 


dä 
Landarbeiter und Landflucht 


Tenn wir die Bücher zuſammenſtellen, in denen deutſche Arbeiter ihre Erlebniſſe 
und Gedanken niedergelegt haben, fo kommen wir zu einer an Zahl wie an Ge- 
S halt nicht unbedeutenden Reihe von Werken. Der Fabrik- und der Erdarbeiter, 
bee Einheimiſche und der Ausgewanderte, der Herumziehende und der Feſtangeſtellte treten 
vor uns hin und machen durch lebensvolle Schilderung ihre Welt zur unſeren. Der Landarbei- 
ter fehlt in dieſem Chor. Um auch ihn kennen zu lernen, durchmuſtern wir ferner den modernen 
Büchermarkt, — die vielgenannte Heimatdichtung muß uns den Landmann nahebringen! 

Bauerngeſchichten über Bauerngeſchichten liegen uns da vor, ältere, neuere, allerneueſte, 
ergreifend wahre und künſtlich hergeputzte, den Frieſen, den Heidjer, den Hochländer vim, 
lernen wir in feiner Beſonderheit und Eigenart kennen, — der abhängige Land- 
arbeiter begegnet uns nicht. 

Wir ſchreiten über die großen Güter, über die Edelhöfe, von denen uns Hunderte und 
aber Hunderte von Bänden erzählen. Da taucht der Tagelöhner wohl einmal als Staffage 
auf, als Hilfsbedürftiger, zu dem ſich holde Fräulein gütig herabneigen, als Nebenfigur, drollig 
in feiner Unbeholfenheit, — weiter dringen wir nicht zu ihm vor. 

Die hungernden Weber und der Fuhrmann, Winzer und Häusler, Schiffer und Fiſcher, 
Hirten und Zäger haben ihre Sänger gefunden, wir kennen Vagabundengeſchichten und Dienft- 
botenromane, vom Ringen und Wünſchen des großſtädtiſchen Proletariats, vom Hintertreppen- 
volk erzählen uns Bücher und zündende Theaterſtücke, — vom Landarbeiter wiſſen ſie nichts 
zu ſagen, was uns die Seele rührt. 

Nichts iſt charakteriſtiſcher für ſeine Stellung in der Welt als ihr Schweigen über ihn 
in der Literatur, und nichts ift ergreifender! Millionen und aber Millionen mitten im deutſchen 
Vaterland ſind es, die uns ferner zu ſtehen ſcheinen als Indianer und Hereros. Wir wiſſen nichts 
zu ſagen und zu ſingen von der großen Menſchenklaſſe um uns und darum müſſen wir ſchweigen, 
ſo tief, wie ſie ſelbſt ſchweigt. 

In langen Zeitungsartikeln, in feurigen Anſprachen vor großer Volksverſammlung, in 
Parlamentsreden, die im ganzen Lande widerhallen, drücken der ſtädtiſche Arbeiter oder ſeine 
Sendboten aus, was fie an Klagen haben und wohin ihr Verlangen geht. Für den Landarbei- 
ter gibt es keine Meinungsäußerung vor der Öffentlichkeit, keine Intereſſenvertretung in fel- 
nem Auftrag, keine Abgeordneten, die ſich verpflichteten, für ſeinen Stand einzutreten. Er iſt 
politiſch mundtot, er ſchweigt auch hier. Nur ein Zeichen gleichfalls ſtumm vorhandener 
Wünſche gibt er: das ift der beſtändige, unaufhaltſame, wortloſe Zug nach der Stadt. Hofft er 
von ihr das Zerſprengen feiner ſieben Siegel? ein Emporheben aus feinem Dämmerzuſtande? 
— Wir wiſſen es nicht! 

Aber wir geben vor, es zu wiſſen. 

Die einzige der breiten Öffentlichkeit bekannte Lebensäußerung des Landarbeiters, 
die Landflucht, ſie wurde beſprochen und gedeutet in unzähligen Verhandlungen und wird 
ferner beſprochen und gedeutet werden, nicht vom Arbeiter ſelbſt, nein, von allen andern — 
nur nicht von ihm ſelbſt. Ihn hat man noch gar nicht ausgeforſcht, keine Enqueten von Haus 


Landatbeiter und Lanbſlucht 45 


zu Haus veranftaltet, keine Fragebogen herumgeſchickt. Aber Intereſſe genug wendet man der 
Landflucht zu, vielleicht weniger des Arbeiters als des Arbeitgebers wegen? 

, Jedenfalls hat jeder fein Urteil fertig Aber diefe bedauerliche Erſcheinung, der Liberale, 
der nie eine Tagelöhnerkate betrat, der Sozialdemokrat, deffen Phraſen bei feinen ländlichen 
Agitationsreiſen unverſtanden verhallten, der Gutsbeſitzer, der täglich feinen Arbeitern begeg- 
net, ohne daß ſie ihn je in ihre Gedankenwelt ſchauen laſſen. 

Höhere Barlöhne, Vergnügungen und ſchrankenloſe Freiheit ziehen die Leute in die 
Stadt, eifern die einen. Schlechte Behandlung, unauskömmlicher Verdienſt, Wohnungselend 
treiben ſie vom Lande weg, lehren die andern. . 

Wir follten uns hüten, die Gründe immer wieder an den Fingern herzuzählen, denn 
wir kennen fie nicht genug. Wir können fie ahnen und zu enträtfeln fuchen, wir können fie zu 
unſerm ernſthaften Studium machen, — mehr ſind wir vorläufig nicht imſtande zu tun. 

Unſer grundlegendes Bemühen aber muß fein, den abhängigen Landarbeiter fo weit 
zu bringen, daß er ſelbſt uns zu enthüllen vermag, wo ihn der Schuh drückt, was ihn aus der 
Heimat hinweg in die Stadt zieht, die ihm fo felten hält, was fie ihm zu verſprechen ſchien. 

: Es ift ein weiter Weg, den wir zu gehen haben, ehe wir den Taglöhner aus feinem un- 
artikulierten Zuſtand zu der Möglichkeit ſelbſtändiger Außerungen gebracht haben werden, 
die er an die Allgemeinheit zu richten vermag. 

Diefer Weg aber iſt unumgänglich, wenn wir je zu einer befriedigenden Löſung der 
Landarbeiterfrage kommen ſollen, und darum ſollte er unverzüglich und mit aller Energie be- 
treten werden. Die einzelnen Etappen heißen: beſſere Schulbildung, Fortbildungsſchule, 
ländliche Volkshochſchule. Das Ziel iſt Koalitionsfreiheit, Ausbildung von Politikern aus dem 
Landarbeiterſtande ſelbſt und ihre Entſendung ins Parlament. 

„Mit Erſtaunen und mit Grauen hören’s die Ritter und Edelfrauen.“ Und wahrlich, 
man kann es Eingeweihten nicht verdenken, wenn ſie nicht ſanguiniſch einer ſolchen Entwick⸗ 
lungshoffnung gegenüberftehen. Vom Landarbeiterſtand zur Geiſtesbildung — ein ungeheurer 
Aufſtieg, und noch hat ihn wohl keiner vollbracht. 

Aus was für dirftigen ländlichen Verhältniſſen haben ſich unſere Großen, unſere Geiftes- 
helden ſchon entwickelt! In den unſcheinbaren Winkeln der Bauernhäuser, der Oorfhand- 
werker ſchaukelten die Wiegen derer, deren Namen fpäter durch die ganze Welt hinflogen. 
Wie anziehend wiffen uns Defregger, Thoma, Rofegger und viel andre mehr von ihrer befoel- 
denen und doch reichen Zugend auf dem Lande zu erzählen, deſſen Eindrücke trotz aller Ent- 
behrung fruchtbringend wirkten auf die Begabung, die ſich Bahn zu brechen ſuchte, und der 
es ſchließlich auch gelang. Aber aus den ungezählten Scharen der Snftleute und Scharwerker, 
der Tagelöhner und Hofgänger ift uns kein Führender erſtanden! 

Welch eiſerner Oruck muß auf dem ganzen Stande liegen, daß es dem einzelnen nicht 
gelingt, fih daraus hervor-, fih darüber hinauszuringen, daß er vielleicht nicht einmal einer 
Anſtrengung fähig iſt, um ſich in eine höhere geiſtige Welt hineinzuſchwingen! 

Sie den Landarbeitern aufzutun, das muß das ernſte Beſtreben der Gebildeten ſein. 
Dazu ſollten fih die Großgrundbeſitzer zuſammenſchließen und ſich mit den Landgeiſtlichen 
vereinigen, dazu ſollten die Regierung, die Landwirtſchaftskammern, die landwirtſchaftlichen 
Vereine ihnen helfen. 

Eine ganz umgebildete, nicht nur den ländlichen, ſondern auch den örtlichen Ber- 
Hdltniffen angepaßte Schule, Heimatkunde im engen und engſten Sinn ift ihre Grundlage. 
Daraufhin werden die jungen Lehrkräfte beſonders erzogen, für jeden Bezirk mit beſonderen 
Kenntniſſen und Lehrmitteln ausgeſtattet. Erſt von ihrem Heimatsort aus, an dem fie die Ve- 
deutung jeder Bodenſenkung, jedes alten Flußlaufes kennen lernten, in der Geſteine und Blu- 
men, Vorgeſchichte und Sitten, Bauart und Namen in ihrer Eigentuͤmlichteit für fie Leben ge- 
wannen, lernen ſie weiter hinausſchauen in die Welt, vom froh gewonnenen feſten Grunde 


46 Roſeggerzund die Parteien 


in die Ferne. — Gebt ift das anders. Von der Umwelt wird den Lehrplänen nach fo gut wie 
gar keine Notiz genommen in unſern Dorfſchulen. Die nächſte Umgebung bleibt unbeachtet, 
unverſtanden; das Fernerliegende aber bildet ein Gewirr unzuſammenhängender Vorſtellungen, 
die bald dieſes, bald jenes Geſicht annehmen können. Später verdichten ſie ſich leicht zum 
Bilde ſtädtiſcher Herrlichkeiten, außerordentlicher Erwerbs möglichkeiten weit weg von zu Haus. 
Sich ſelbſt auch nur einigermaßen ein Urteil zu bilden, dazu befähigt die Dorfſchule ebenſo⸗ 
wenig, wie den wunderſamen, feſſelnden Zauber der ländlichen Heimat zu ſchätzen. 

Solange diefe und viele andre Mängel der einklaſſigen Volksſchule, dieſer überaus dürf- 
tigen Bildungsanſtalt, noch nicht gehoben ſind, müßte die Fortbildungsſchule nachbeſſernd 
und ausgleichend wirken, — wenn wir eine hätten! 

Aber auch fie ift uns verſagt! Wenn nur die Lehrlinge und Ladenjünglinge fortgebildet 
werden, die Knechte und Dienſtgänger haben's ja nicht nötig! Wer kümmert ſich überhaupt 
um die! Mit den Händen in den Hoſentaſchen können ſie in ihrer Freizeit vor den Miſthaufen 
ſtehen oder, wenn ihnen das zu langweilig wird, trinken, Karten ſpielen, tanzen und liebeln 
gehen, — was bleibt ihnen zu tun übrig? Aber nachher wundert und entrüftet man ſich von 
Grund der Seele, wenn diefe Dorfjugend nicht außerordentlich tugendſam, ſittlich und unver- 
dorben iſt, wie man es bei ihrer ländlichen Abgeſchiedenheit doch von ihr erwarten kann und 
muß. Man ſchlägt die Augen empor und ſeufzt Aber die ſchrecklichen Erfahrungen, die man 
heutzutage machen muß. Und dann ziehen grade die jungen Leute noch in die Stadt, wo ſie 
doch auf dem Lande „alles“ haben können — eine beliebte Redewendung. 

Eine zweckmäßig eingerichtete Fortbildungsmöoͤglichkeit würde manchen halten oder wieder 
zurückführen. Der bloße Zwang, fidh einige Stunden wöchentlich in eine Stube ſperren zu laffen, 
um wieder Schuljunge zu ſpielen, tut's freilich nicht. Anregende Wanderlehrer, Vorträge mit 
Lichtbildern und Experimenten, belehrende Ausflüge und Heine Reifen, Handfertigkeitsunter- 
richt, daran anſchließende Ausſtellungen, Prämien und Stipendien müßten beleben und locken. 

Die fih Auszeichnenden gehen über zu Freiſtellen auf Fachanſtalten oder auf eine Bolts- 
hochſchule, denn wir hoffen inbrünſtig, daß letztere Einrichtung ſich von ihren Anfängen in 
Schleswig-Holſtein aus, wo fie nach dem bewährten däniſchen Muſter entſtanden ijt, bald über 
alle Gaue Deutſchlands verbreiten werde. 

Durch den eben beſchriebenen Bildungsgang würden grade die Begabteſten wieder 
ans Land gefeſſelt, während fie naturgemäß jetzt davon hinwegbrängen. Sie werden fähig 
fein, darüber nachzudenken, wie den Beſchwerden ihres Standes abzuhelfen, fie können mit 
uns darüber ratſchlagen, fie kennen fle ja ſelbſt, und der Drud des Schweigens ift von ihnen 
genommen! 

Dieſe geiſtige Elite wird uns zu Mitarbeitern, wenn wir Beſitzenden durch innere und 
äußere Kultur, durch Wohlfahrts- und Bildungseinrichtungen das Dorf zu dem zu machen 
Duden, was es febr wohl fein kann: die heißgeliebte Heimat, vor deren herzgewinnendem Sot: 
ber und Schimmer der Glanz der Großſtadt erbleicht wie Gaslicht vor Sommerſonnenſchein. 

E. v. Oertzen Dorow 


& 


Rofegger und die Parteien 


N er Türmer hatte aus dem „Heimgarten“ eine Außerung Rofeggers mitgeteilt, die 
Sy yy: ſich kurz in den Satz zuſammendrängen läßt, daß er keiner unſerer Parteien 
(Gs angehören könne. „Auf diefe Außerung“, ſchreibt nun Meiſter Rofegger felbjt 
im letzten Heft feiner Zeitſchrift, „ift im Türmer warmherzig entgegnet worden, daß gerade 
freie und ,höherſtehende“ Menſchen zu den verlotterten Parteien herabſteigen müßten, um 


N 


Sind die Nieberfadfen tonfervativ? 47 


fie zu veredeln. Das iſt ſchön und ideal gedacht, und manchem, der die richtige Haut dazu hat, 
mag’s wohl gelingen, eine verlotterte Partei günſtig zu beeinfluſſen, wenn er — nicht früher 
hinausgeworfen wird. Gewöhnlich pflegt der „Freie“, der „Beſſere“, der in einer Partei fein 
und bleiben will, die Farbe der Mehrzahl anzunehmen, ſonſt käme er ja zu keiner Geltung. 
Die Partei wählt den Führer, der ihr paßt, und ſobald er nicht im Sinne der Partei ‚führt‘, 
wird er abgeſetzt. Das wiederholt ſich alle Tage. Wer Großes will, der tut am beſten, eine neue 
Partei zu gründen, ſtatt ſich einer verdorbenen anzuſchließen. Es iſt dankbarer, Gleichgeſinnte 
zu ſammeln und zu leiten, als eine wilde Menge von Querköpfen zurechtrücken zu wollen. Und 
wenn ſie dir ſchon heute folgt, morgen folgt ſie einem andern. 

Sch gehöre ja gewiß auch zu einer Partei, und zwar zur Partei der Parteiloſen, wo der 
Richter, der Lehrer, der Dichter, ja ſelbſt der König ſteht oder zu ſtehen hat. Wer etwas be- 
wegen will, der muß außerhalb desfelben ſtehen. Das hat mir vor länger als zweitauſend 
Jahren ſchon Archimedes nachgeſchrieben.“ 


2 
Sind die Niederſachſen konſervativ? 


En einer Polemit, die uns hier nicht näher angeht, unterſucht Hermann Strunk in 
N der „Hilfe“ auch die Frage nach der politiſchen Grundgeſinnung der Niederſachſen: 
92 „Es ijt ja allgemein bekannt, daß der niederſächſiſche derjenige deutſche Volksſtamm 
ift, der am zäheſten Naturanlage, Sprache, Sitte, Brauch und Aberglauben feiner Vorfahren 
feſtgehalten hat und noch feſthält, alfo in beſtimmter Beziehung echt konſervativ ift. Die Blät⸗ 
ter der deutſchen Geſchichte erzählen in ihren älteſten und mittelalterlichen Teilen von den 
Ruhmestaten, die dieſer Konſervativismus auch in politiſcher Hinſicht für die Niederſachſen her⸗ 
vorgebracht hat. Aus dem Moment der Beharrlichkeit, der phyſiſchen und moraliſchen, ſtammt 
das Wuchtige, Unverwüͤſtliche und Anerſchöpfliche in der ſächſiſchen Natur, aber auch das Un- 
beugſame, Eigenſinnige und das Mißtrauen gegen das Neue. Aus dieſer Beharrungsanlage 
ſtrömt die Heimatliebe, die den Niederſachſen in Amerika drängt, in die Heimat zurückzukehren, 
erklärt es ſich, daß die verſprengten Häuflein der Niederſachſen in Livland ihre Sprache und 
Eigenart aufrechterhalten bis heute. Zu dieſer Beharrlichkeit trug, wie Dehio ausführt, viel 
bei die Tatſache, daß die Niederſachſen, ſchon an und für ſich der konfervativite aller Stämme, 
faſt ausſchließlich dem konſervativſten aller Stände, dem bäuerlichen, angehören. 

Sit es da nicht doch fo, daß die Niederſachſen für den politiſchen Konſervativismus ge- 
boren ſind? Beileibe nicht! Schon darum nicht, weil die konſervative Partei eine ausgeſprochen 
preußiſche Erſcheinung iſt. Und gegen alles Preußiſche hat der Hannoveraner eine mehr oder 
weniger ſtarke Abneigung. Auch für die autoritativen Grundſätze der Konſervativen, der Par- 
tei der Zunker und der herrſchenwollenden Prieſterſchaft, kann der Niederſachſe feiner Natur- 
anlage nach abſolut kein Verſtändnis, viel weniger Neigung haben. Welches ſind denn die 
Eigenſchaften, die die alten Niederſachſen als politiſche Weſen an ſich tragen, und die, da ſie 
im guten Sinne tonfervatin fihd, ihre Enkel beſitzen und hochhalten müſſen? Es find gerade 
die Eigenſchaften, die wir zu den weſentlichen Merkmalen eines wirklich gelebten Liberalismus 
rechnen müffen. Freiheitsgefühl, Selbſtändigkeitsſtreben, Selbftverwaltungstrieb, Geredtig- 
keitsgefühl! 

Es iſt bekannt, daß ſich in Niederſachſen — ich ſpreche beſonders von Nordhannover — 
die altgermaniſche Verfaſſung am längſten echt demokratiſch erhalten hat, im Lande Wurſten 
bis ins ſechzehnte Jahrhundert, daß die Bauern am längſten gemeinfrei waren, daß hier ein 
mächtiger Adel und ein Feudalwefen mit feinen Königen und Hinterſaſſen fehlte. Hier blühte 

t 


48 Das ſymboliſche Gitter 


naturgemäß ein ſtarkes Freiheitsgefühl, Stolz und Selbſtgefühl. Man hat bis heute noch das 
Bewußtſein, daß allen Menſchen gleiche Rechte zukommen; daher ſteht z. B. nach der hannover - 
ſchen Agrargeſetzgebung auch den Landarbeitern das freie Koalitionsrecht zu. An der Nordfee- 
kuͤſte entſtand das ſtolze Wort: Deus mare, Batavus litora fecit (Gott hat das Meer, der Frieſe 
die Geſtade geſchaffen). Und foll ich den Freiheitsſinn der hannoverſchen Frieſen noch beſon⸗ 
ders nachweiſen? Es genügt, wenn ich erinnere an die Sitte des Grußes bei den Frieſen: 
Cala frya Frejena! (Heil, freie Frieſen ) und an den alten niederſächſiſchen Wahlſpruch: ‚Lewer 
dod as Slaw! (‚Lieber tot als Sklave!) Und mit ſolchem Erbe an Mannesſtolz und Freiheits- 
gefühl follten die heutigen Niederſachſen prädeſtiniert fein zu Gefolgsleuten der preußiſch⸗ 
konſervativen Partei! 

Nein, auch heute noch iſt der Niederſachſe im Grunde ſeines Herzens freiheitlich geſinnt, 
hegt er Abneigung gegen jede ſtaatliche und bureaukratiſche Bevormundung, iſt er ſtolz auf 
ſeine freie Stammesart. Wie ſtark gerade in den Marſchen das Streben nach Selbſttätigkeit 
und Selbſtverwaltung ift, zeigt die Tatſache, daß fih die Kirchſpiele des Landes Hadeln bis 
zur preußiſchen Annexion ihr Recht auf Ausübung der niederen Gerichtsbarkeit nicht haben 
rauben laffen. In dem niederſächſiſchen Selbſtgefüͤhl, in einem falſch orientierten Geredtig- 
keitsgefühl und in altgermaniſcher Gefolgstreue liegen die eigentlichen Gründe der Entſtehung 
und der Dauer der welfiſchen Bewegung. Sie find die beſten Eigenſchaften der Welfen und 
nicht ein übertriebener Konſervativismus 

Einſt habe der Weiten den Often erobert, und gerade die Niederſachſen, die ihrer Natur- 
anlage nach das unübertroffene Koloniſtenmaterial feien, könnten den Löwenanteil für fid 
in Anſpruch nehmen. Jetzt ſcheine ſich der umgekehrte Vorgang abſpielen zu wollen: „oftelbi- 
ſcher Geiſt ſoll über die Elbe, die alte Kulturſcheide, geleitet und ven Niederſachſen eingeimpft 


werden. 
CES 
Das ee Gitter 


eigener Art, die fich fo wenig mit einer feierlichen Eröffnung bes Deutſchen Reichs- 
—— .. tages vergleichen laffe, wie Macht und Bedeutung des engliſchen Parlamentes 
und der beſcheidene Einfluß der deutſchen Volksvertretung ſich aneinander meſſen ließen: 
„Eröffnet in Deutſchland der Kaiſer in eigener Perſon den Reichstag, fo geſchieht dies bekannt- 
lich nicht im Reichstagsgebäude, ſondern im Berliner Stadtſchloſſe, wo fih zu dieſem Zwecke 
eine geringere oder größere Anzahl Abgeordneter in mehr oder minder auffälliger Weiſe ein- 
findet. Anders in England. Dort begibt ſich der König ſeinerſeits in feierlichem Zuge nach dem 
Parlament, um von dem Throne des Oberhauſes vor den verſammelten Mitgliedern beider 
Kammern ſeine Anſprache zu verleſen. 

Wer je den prunkvollen Saal der engliſchen Pairs mit den zwölf gemalten Fenſtern 
und den achtzehn Niſchen bewundert hat, in denen die Standbilder derer ſtehen, welche die 
erſten verfaſſungsmäßigen Freiheiten Englands erzwangen, dem wird auch jenes kräftige 
Eiſengitter aufgefallen fein, das in einer nicht zu üͤberſehenden Weiſe den Thronſitz des 
Königs umgibt. Der Uneingeweihte mag — wenigſtens ſofern er ein Deutſcher war —, der 
vaterländiſchen Fürſtenhymne gedenkend, ſich das Vorhandenſein dieſes Gitters damit er- 
klärt haben, daß die Höhe, die weder Roß noch Reiſige ſchirmen, im freiheitlichen England 
vielleicht eines eiſernen Gitters zum Schutze bebüͤrfe. 

Allein die Bedeutung dieſes Eiſengitters iſt eine weit tiefere. Das Gitter, welches den 
Thron des engliſchen Königs umgibt, ſoll jener Forderung der Verfaſſung Ausdruck verleihen, 


Bolksbürgertum und Weltbuͤrgertum 49 


daß der König in keiner Weiſe in die Gerechtſame des engliſchen Parlamentes eingreife. Die 
Privilegien des engliſchen Parlamentes geſtatten wohl, daß der König das Parlament eröffnet, 
nicht aber, daß er das Parlament betritt, und es iſt die Aufgabe jenes Gitters, die Fiktion auf- 
rechtzuerhalten, daß der Thronſitz des Königs fih gar nicht im Parlament befindet. In der Auf- 
rechterhaltung einer ſolchen Fiktion hat ſich aber die Bedeutung dieſes Eiſengitters nicht er- 
ſchöpft. Indem es vielmehr den König gleichſam dem Streite der Parteien entrückt, hat es 
ihn über die Parteien erhoben, und damit ift es zu einem nicht zu verachtenden Schutze der eng- 
liſchen Krone gegen die Wechſelfälle der Geſchichte geworden. 

Aber bie Bedeutung jenes eiſernen Gitters um den Thronſitz im engliſchen Oberhauſe 
reicht noch weiter. Za fie reicht fo weit, daß man in Oeutſchland mehr noch als das Fehlen des 
Gitters das Ausbleiben der Folgen bedauern muß, die fih in England aus feinem Vorhanden 
ſein ergeben haben. Denn jenes Eiſengitter zu Weſtminſter war nicht nur ſtets ein Schutz gegen 
verfaſſungswidrige Velleitäten des Königs und damit ein Schutz für ihn ſelber, es bildete auch 
gleichſam eine Barriere, die dem ſkrupelloſen Ehrgeiz einzelner politiſcher Gruppen ein recht 
wiberftandsfdbiges Hindernis bot. Gewiß, auch die parlamentariſche Geſchichte Englands 
zeigt Schattenſeiten und Angerechtigkeiten, obſchon es der unvergleichlich größeren politiſchen 
Energie ber engliſchen Bevölkerung ſtets verhältnismäßig raſch gelungen ift, fie wieder zu be- 
ſeitigen. Aber niemals wäre in England ein Zuſtand dauernd möglich geweſen, der einer poli- 
tiſchen Clique geſtattete, ſich vor ihre — wenigſtens der Verfaſſung nach gleichberechtigten — 
Mitbürger zu drängen, um nach Dahlmanns treffenden Worten ‚zwifchen diefe und den Landes- 
herrn tretend einen breiten Schatten auf das Antlitz des letzteren zu werfen. 


OY 
Volksbürgertum und Weltbürgertum 


vise Un feinem Buche „Sieg der Freude“ (Stuttgart, Julius Hoffmann) fest ſich Aeran- 
AG) der von Gleichen Rußwurm, ein Urenkel Schillers, auch mit dem Nationalitäts- 
(RSH gebanten auseinander: 

sede Nation birgt ein gemeinſames Fluidum, das man mit demſelben Rechte ihre Seele 
nennen kann, wie man das Geheimnisvolle im einzelnen Menſchen Seele nennt. Unſichtbar 
und unberührbar ſchwebt fie durch die Atmofphäre eines Landes und verdichtet fih hin und 
wieder zu greifbaren Tatſachen oder Erſcheinungen. Man kann an vielen Angehörigen einer 
Nation vorübergehen, kann fie beobachten und mit ihnen verkehren, ohne ein charakteriſtiſches 
Merkmal ihres Stammes auffallend gewahr zu werden. Auf einmal, plötzlich, ganz unerwartet, 
bricht die Nationalſeele durch, ein Ausruf, ein Wort, eine Bewegung hat ſie verraten, und man 
fagt ſich — je nach dem eigenen Standpunkt, befremdet oder erfreut —: So kann nur ein Ur- 
germane, ein Stockruſſe, ein Engländer denken oder tun! Das Vorhandenſein eines National 
charakters wird im gewöhnlichen Leben mehr gefühlt als geſehen, denn auffallende Züge be ; 
ginnt die nivellierende Kultur mehr und mehr zu verwiſchen. Sie hat die Unterſchiede zwiſchen 
Stadt und Land, zwiſchen einzelnen Tälern und benachbarten Städten ausgeglichen, ſie wird 
auch aus den verſchiedenſten Völkern den Typus des Europäers zuſammenſchleifen. 

Manchen Philoſophen des 19. Jahrhunderts hat die Frage beſchäftigt: War der National- 
charakter eines Volkes angeſtammt und ſchon vor der Ziviliſation vorhanden oder hat ihn 
dieſe ausdridlid und langſam geprägt? Emerſon, Taine, Nietzſche haben ſich mit den Grün- 
den und Erſcheinungen einer ausgeſprochenen Nationalität beſchäftigt. Zur Antwort mag 
eine kleine Geſchichte beitragen. Sch weiß nicht, ob fie alten Überlieferungen entſtammt oder 
ob fie ein jpäterer Dichter erfunden. Man erzählt, daß die Gallier auf Kriegsfahrten, oft es 

Der Türmer XI, 7 


50 Voltsbürgertum und Weltbürgertum 


donnerte, die Schwerter drohend emporſtreckten und riefen: Wenn der Himmel einftürzt, fo 
werden ihn unſere Waffen aufhalten. Hier ſpricht ſich der Mut eines Volkes aus, das nur gegen 
Menſchen zu kämpfen hatte und auch in der Natur nur einen menſchlichen Gegner ſah. 

Die Anfänge des Nationalcharakters mit allen feinen Übertreibungen liegen im Klima 
begründet, mit dieſem können fie ſich abſchwächen, verſtärken und ändern. Ob der National- 
charakter aber äußerlich laut und übertrieben erſcheint oder ob er innerlich in geheimem Schaffen 
an der Vollendung des Volkes arbeitet, hängt von den Wellen der Kultur ab, die ihn bloßlegen 
oder verdecken. Herder ſchrieb in den Ideen zur Philoſophie der Menſchheit: 

Die Mythologie jedes Volkes ift ein Abdruck der eigentlichen Art, wie es die Natur an- 
fab, inſonderheit, ob es, feinem Klima und Genius nach, mehr Gutes oder Übles in derſelben 
fand, und wie es ſich etwa das eine durch das andere zu erklären ſuchte. Auch in den wildeſten 
Strichen alfo und in den mißratenſten Zügen ift fie ein philoſophiſcher Verſuch der menſch⸗ 
lichen Seele. 

So hat der Nordländer feinem Sonnengotte eine wehmütige Poeſie verliehen, früher 
Tod rafft den Milden dahin, und die beraubte Erde klagt um den Geſchiedenen. Doch der 
füdlihe Sonnengott Phöbus ift ſchön und ſchrecklich zugleich wie ſüdliche Sonne, er ift Weder 
des Lebens, aber auch grauſamer Todesbringer mit feinen glühenden Pfeilen. Mythus und 
Poeſie eines fremden Volkes verſtändnisinnig zu erfaſſen, heißt dem Herzen dieſes Volkes naber 
kommen, denn ſo verſtehen wir ſein Freud und Leid. Menſchlich nahe rücken wir, ſobald Lächeln 
und Tränen eines andern uns recht begreiflich ſind, ſobald wir an der Größe und Tiefe ſeines 
Schickſals Anteil nehmen. Darum erweitert und bereichert die Beſchäftigung mit fremden 
Sprachen und Literaturen nicht nur den Geiſt, ſondern auch das Gemüt. Eigentlich erobert 
haben wir nur das, was gelernt hat uns zu lieben. Dieſe Tatſache macht die großen Dichter auch 
zu rechten Eroberern. Und jeder liebenswürdige Rosmopolit, der im Auslande durch beweg 
lichen Geiſt, herzliches Weſen und mitteilſames Wiſſen um Sympathie für ſeine Landsleute 
wirbt, macht friedliche Eroberungen in der Fremde. 

Kosmopolitiſch zu denken und fih überall gewandt zu benehmen, galt in der Aufklä⸗ 
rungszeit für das Ideal des Gebildeten. Den philoſophiſch geſinnten großdenkenden Menſchen 
ſchien jede Schranke kleinlich. Ein allzu feſtes Wurzeln hielten fie für einen Schädling der er- 
träumten Freiheit. Das aufkeimende Nationalgefühl, das den Wert der Mutterſprache betonte, 
kam zuerſt in Fichtes Reden zu beſonders kräftigem Ausdruck. „Der ausländiſche Genius wird 
ſein ein lieblicher Sylphe,“ ſagte der Philoſoph, „der mit leichtem Fluge über den Blumen 
hinſchwebt und ſich darauf niederläßt, ohne fie zu beugen, und ihren erquidenden Tau in ſich 
zieht, oder eine Biene, die aus denſelben Blumen mit geſchäftiger Kunſt den Honig ſammelt. 
Der deutſche Geiſt iſt ein Adler, der mit Gewalt ſeinen gewichtigen Leib emporreißt und mit 
ſtarkem Flügel viel Luft unter ſich bringt, um fih näher zu heben zur Sonne, deren An- 
ſchauung ihn entzückt. Die Kosmopoliten des 18. Jahrhunderts waren wohl ſtark ausgeprägte 
Perſönlichkeiten, aber ſie ſuchten darin etwas, Eigenſchaften, die ihnen von Natur angeſtammt 
waren, abzuwerfen oder wenigſtens zu verdecken. Sie dachten, ſchrieben und plauderten in 
franzöſiſcher Sprache, fie kleideten ſich nach Vorſchrift der Pariſer Geſellſchaft und überwan- 
den alle Fährlichkeiten, alles unbequeme fortgeſetzter Reifen, um ſchließlich als freie Menſchen 
mit der Entfernung unnötiger Feſſeln zu prunken. Was dieſe vergangenen Generationen 
als Feſſeln, als Bleigewicht für den Flug ihrer Gedanken empfanden, ift für die Gegenwart 
zum Schmuck geworden. Unter dem Mikroſkop betrachtet, zeigen ſich ſelbſt die Zdeale der ver- 
ſchiedenen Zeiten von dem großen Nützlichkeitsprinzip durchtränkt, das die fortſchreitende Ent- 
wicklung des Menſchengeſchlechts feit alters beherrſcht. Das Zdeal des Weltbürgertums ging 
einſt von Philoſophen und unterhaltungsfrohen Müßiggängern aus, denen das Bedürfnis 
naturgemäß fehlte, mit der Heimat in feſter Verbindung zu bleiben. Ubi bene, ibi patria mußte 
denen gelten, die irgendwo geſchuͤtzt und gepflegt einen abſtrakten Begriff erforſchen wollten, 


— 


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Ein hiſtoriſches Schlagwort 51 


genau wie jenen, die nur nach geiſtreicher Konverſation, nach Tanz und Spiel Verlangen tru- 
gen. Es waren Lebenstünftler, die vor jedem Zwang des Daſeins zurüuͤckſchreckten. Die Welt- 
bürger der Gegenwart gehören der arbeitenden Menſchheit. Sie find Handelsherren, Rauf- 
leute, Erfinder. Sie brauchen den Rückhalt eines ſtarken Vaterlandes. Ein berechtigter, ſicher 
begründeter Nationalſtolz vermehrt ihre Macht, ihren Beſitz, ihre Stellung. Wie einſt die vor- 
nehmen Kosmopoliten durch allgemein anerkannte, zierlich abgeſchliffene, überall gültige Git- 
ten und Auffaſſungen das Odium eines fremden Barbarentums abſchüttelten, fo muß es der 
weltläufige Mann der Gegenwart nach engliſchem Muſter durch Betonen einer machtvollen, 
Reſpekt gebietenden Nationalität. 

In der Übergangszeit vom einſtigen Begriff des Weltbürgertums zu der großen und 
freien Auffaſſung, die fic allmählich wieder Bahn bricht, waren kosmopolitiſch denkende Men- 
ſchen nur ſelten anzutreffen. Sie ſtanden im Gegenſatz zur herrſchenden Strömung und wur- 
den entweder bemitleidet oder verachtet. Ein deutſcher Maler, deſſen Haus vor ungefähr fünf- 
zig Jahren einen Mittelpunkt für Künſtler und Dichter bildete, brach den Verkehr mit Liſzt 
ab, nur weil ſich der berühmte Muſiker als Anhänger internationaler Ideen bekannte. Man 
wollte jene vornehme Unabhängigkeit nicht anerkennen, die das politiſche Gewiſſen dem äfthe- 
tiſchen unterordnete; die Staaten mußten erſt geſchaffen werden, deren feſtem Gefüge Lebens- 
kuͤnſtler und Weltbürger keinen Schaden mehr bringen. 

Oer Patriotismus in feiner herben, alle weicheren Einflüſſe zurückweiſenden Art hatte 
ſich immer als das beſte Belebungsmittel eines Volkes erwiefen, das ſich in abſtrakten Gpetu- 
lationen oder unfruchtbarem Wohlleben zu verlieren drohte. Das Oaſein der einſtigen Welt- 
bürger war abſtrakt und unfruchtbar geworden; denn die Kultur hatte jenen Höhepunkt noch 
nicht erreicht, der ein friedliches Zuſammenleben und -arbeiten der Völker geſtattete. Erft nach 
und nach iſt man zu der Einſicht gekommen, daß die Völker in regem Verkehr gegenſeitig nur 
lernen und gewinnen. Die Menſchen, die man früher Weltbürger nannte, ſahen, von ihrem 
Stamme gelöft, als unbeteiligte Zuſchauer dem Schauſpiele zu, bei dem bald ein Land, bald 
ein anderes in die Höhe ſchnellte. Unfere Kosmopoliten find Kämpfer. Ob fie in aufreibendem 
Sport um den Weltrekord ringen, ob fie Sandelshdufer gründen oder auch als Globetrotter 
den Erdkreis durchwandern, fie können eine gewiſſe nationale Färbung nicht verleugnen. Be- 
wußt oder unbewußt find fie ſtolz, Vertreter einer großen Raſſe zu fein, und ſehen mitleidig 
auf die Zeit der Ahnen herab, in der ein einzelner höchſtens ſeinen Fürſten vertreten konnte, 
ſtatt ſelbſt als verantwortliches Glied eines großen Ganzen zu erfcheinen ... 


Sr, 
Ein hiſtoriſches Schlagwort 
BENY2) 


N m Abend des 14. Juli 1789, erzählt die „Neue Welt“, wußte in Berfailles jedermann, 
A was fih in Paris begeben hatte: daß die Bevölkerung den Angriff der zum Staats- 
c ftreih aufgebotenen Truppen nicht erft abgewartet hatte, ſondern ſelbſt zum An- 
griff geſchritten und nach blutigem Kampf in den Beſitz der Baſtille gelangt war. Diefe Tat- 
ſachen, die den Sturz des alten Syſtems ſicherſtellten, kannte am Abend des 14. Zuli jedermann, 
bloß einer nicht, und das war der König. Ludwig XVI. Oer war von der Ramarilla, die ihn 
beherrſchte, gefliſſentlich Aber die Lage der Dinge getäuſcht worden: mit Hilfe von gefälſchten 
Kurs- und Theaterzetteln hatte man ihn glauben gemacht, daß in Paris alles in Ordnung 
fei. Erft fpdt abends am 14. Zuli erfuhr er die Wahrheit von einem der wenigen hoffähigen 
Leute, die nicht zur reaktionären Clique gehörten, vom Herzog von Liancourt. Ludwig fiel 
aus allen Wolken und brach in feiner ratloſen Überraſchung in die Worte aus: „Aber das ift 


52 Wie ber Naiſer arbeitet 


ja eine Revolte!“ Darauf erwiderte der Herzog von Liancourt ſchlagfertig: „Nein, Mafeſtät, 
es iſt keine Revolte, ſondern eine Revolution.“ 

Einund vierzig Jahre fpdter kam es wieder im Monat Zuli zu einer allgemeinen Erhebung 
der Pariſer Bevölkerung. König Karl X. und das Staatsſtreichkabinett Polignac hatten am 
26. Juli 1830, weil fic) ihr feudal-abſolutiſtiſcher Hochmut nicht vor der buͤrgerlich- liberalen 
Kammermehrheit beugen wollte, die geſetzwidrigen „Ordonnanzen“ in die Welt geworfen. 
Karl X. war feiner Sache fo ſicher, daß er am 26. Juli ganz gemütlich auf die Jagd ging und 
erft gegen Mitternacht nach St.-Cloud zuruͤckkehrte. Da war nun Paris ſchon in ſtürmiſcher 
Bewegung. Am 2. kam es ſchon zum Blutvergießen. Der allgemeine Straßenkampf begann 
erft am 28. Juli, aber am frühen Morgen dieſes Tages ſtarrte Iden ganz Paris von Barri- 
kaden, hinter denen die Bevölkerung kampfbereit Poſten gefaßt hatte. Der Oberbefehlshaber 
der Pariſer Truppen, Marſchall Marmont, war über dieſe Sachlage richtig informiert und wußte 
auch wohl, daß feine Regimenter großenteils febr wenig kampfluſtig feien. Jedenfalls Mar- 
mont machte fih über die Chancen des bevorſtehenden Kampfes keine Sllufionen, ſondern ver- 
ſuchte, den König aus der Sicherheit zu reißen, in der er fic) wiegte. Er bemühte fih, dem ver- 
blendeten Bourbonen, der in der Pariſer Bewegung noch immer bloß einen Krawall erblickte, 
den Star zu ſtechen durch eine briefliche Mahnung zum Rückzug, ſolange es noch Zeit. Dieſer 
Brief Marmonts vom Morgen des 28. Juli 1830 beginnt mit den Worten: „Ich babe die Ehre 
gehabt, Ew. Majeſtät zu melden, daß die Volkshaufen, welche die Ruhe der Hauptſtadt ſtörten, 
geſtern auseinandergetrieben wurden. Heute ſammeln fie fih von neuem, zahlreicher und dro- 
hender als zuvor. Es ift keine Revolte mehr, es ift eine Revolution..“ 
Die Wahrheit dieſes Wortes aber ſah Karl X. erſt ein, als es zu ſpät, als Schlacht und Thron 
verloren war. 

Noch einmal fiel das inhaltsſchwere Wort in einem entſcheidenden Augenblick, und zwar 
während der Märzſtürme des Jahres 1848. Am 13. März waren in der öſterreichiſchen Haupt- 
ſtadt bereits alle Klaſſen in leidenſchaftlicher Erregung, die dadurch zur Siedehitze geſteigert 
wurde, daß die Soldateska auf das Volk ſchoß. Während aber der alte Abſolutismus im vollen 
Zuſammenbruch begriffen war, hatte der bisher allmächtige Staatskanzler Metternich noch 
gar keine Vorſtellung vom Ernſt der Lage, ſondern redete ſich ein, es handle ſich bloß um einen 
Krawall von Juden, Polen, Italienern und Schweizern. So äußerte er ſich auch zu einer 
Deputation des Bürgerkorps, die auf Zugeſtändniſſe und Zurückziehung des Militärs drang. 
Und da antwortete ihm ein Mitglied der Deputation, Schleizer mit Namen: „Durchlaucht, 
das iſt kein Krawall, ſondern eine Revolution.“ So kehrt dies hiſtoriſche 
Wort dreimal wieder: 1789, 1850 und 1848. Man könnte denken, daß es ſich in den beiden 
letzten Fällen um eine Reminifzenz von 1789 handle. Aber das ſcheint nach den ganzen Um- 
ſtänden ausgeſchloſſen. Vielmehr legte die gleiche Situation die gleichen Worte auf die Lippen: 
der Verblendung, die ſich einbildet, mit einem Volksauflauf zu tun zu haben, hält man ent- 
gegen, daß es eine Volkserhebung iſt, keine Revolte, ſondern eine Revolution. 


42 
Wie der Kaiſer arbeitet 


DW lie arbeitet eigentlich der „Monarch“? In einem längeren Auffak der ,,Siddeut- 
Ch iden Monatshefte“ ftellt Friedrich Naumann auch diefe Frage. Aber nicht 
SA „in der Weije des neugierigen Zeitungsreporters, der wiſſen will, wann der 
Raifer früh aufſteht, wann er ausreitet, wie oft er fic) umkleidet, wie viele Unterfchriften er 
leiſtet und wie viele Hafen er auf der Hofjagd ſchießt. Alles das ift uns nebenſächlich. Die Frage, 


Wie ber Raifer arbeitet . 53 


die uns befchäftigt, ijt die, ob es nicht überhaupt und an fid eine große Illuſion ijt, daß ein 
einzelner Menſch fo große Aufgaben übernimmt, wie im modernen Begriffe der Monarchie 
liegen. Auch ein ſehr begabter Monarch kann doch ſchließlich nur eine begrenzte Zahl von 
Dingen wirklich wiſſen, um aber regieren zu können, muß man wiffen. 

Zweifellos iſt gerade beim gegenwärtigen deutſchen Kaiſer die Fähigkeit, ſich ſchnell 
in allerlei Dinge hineinzufinden, febr ausgebildet, aber ſelbſt wenn fie größer ware als bei irgend- 
einem andern ſterblichen Menſchen, ſo kann er nur einige Prozent von dem wirklich wiſſen, 
was in ſein Arbeitsgebiet gehört. Er muß für ſich denken und arbeiten laſſen und bleibt als 
Einzelmenſch fogufagen nur die innerſte Stelle des Apparates, der von außen her Monarch 
genannt wird. Alles wird ihm verarbeitet und nur in ſeinen letzten Stadien vorgetragen, und 
es gehört Kunſt dazu, die Speiſe der Wirklichkeiten für ihn zuzubereiten. Wir wollen damit 
nicht ſagen, daß ihm Falſches vorgetragen wird, aber es liegt in der Natur der Sache, daß er 
für breite Darlegungen weder Zeit noch Nerven übrig hat. Er bekommt Zeichnungen in äußer⸗ 
ſter Verkürzung, letzte Reduzierungen komplizierter Dinge. Was wird er beiſpielsweiſe von 
den Einzelheiten des Zolltarifes gewußt haben? Was kann er von den Einzelheiten des Bürger- 
lichen Geſetzbuches wiſſen? Wieweit kennt er die Akten der auswärtigen Politik? Was weiß 
er morgen noch von den Perſonen, die er heute empfangen mußte? Alles fliegt in fabelhaftem 
Wirbel an einem einzigen Ropfe vorbei: Weltpolitik, Familienſorgen, Schiffskonſtruktionen, 
babyloniſche Altertümer, päpſtliche Wünfche, Diviſionsmanöver, Einweihung eines Stand» 
bildes, Gerichtsverhandlungen gegen hohen Adel, Wilitärgerichte, Wechſel im Geſandtſchafts⸗ 
perfonal, neue Uniformen, Sozialpolitik, Geldfragen der Hausverwaltung, Literatur, Todes- 
fälle, Reidsfinangen, Mädchenſchulreform, landwirtſchaftliche Ausſtellung, Reibung im Mini- 
ſterium, Brief aus Petersburg, bulgariſche Wünſche, Hochzeit, Einladung, Eiſenbahn — wer 
kann es wiſſen, wer mag es beſchreiben, was alles an den Gehirnwindungen eines Monarchen 
auf und ab klettert? In dieſem Bewußtſein nun werden die ſchwerſten Entſcheidungen reif. 
Er ſteht zu allen dieſen Dingen nicht wie ein Zeitungsleſer, der nur träumend von ihnen er- 
fährt, nicht wie ein Journaliſt, der nur neugierig und unverantwortlich über fie ſchreibt, ſondern 
als der Mann, der im Fluge etwas Entſcheidendes ſprechen ſoll: Das und das will ich! Dort, 
wo der Wille am freieſten iſt, hat er am wenigſten Zeit, ſich auszugeſtalten. 

Das gebildete deutſche Publikum ift felten bereit, fic diefe ganze pſychologiſche Schwie- 
rigkeit des monarchiſchen Arbeitens zu vergegenwärtigen. Es hält fic an Außerlichteiten und 
zufällige Worte des Raifers über Runft und Religion, als ob dort die Einwirkungen des perjön- 
lichen Regiments lägen. Zweifellos ſagt der Kaiſer auch über Kunſt und Religion vielerlei, 
was mehr nach Potsdam paßt als nach Hamburg, aber allzugroß iſt der Schade davon gerade 
nicht, denn weder Runft noch Religion leben heute, foweit fie überhaupt lebendig find, von der 
Sonne des Auguſtus. Was hat es denn der Sezeſſion geſchadet, daß der Kaiſer fie nicht be- 
ſucht? Oder was wird es für den, Deutſchen Werkbund“ ausmachen, wenn der Raifer ihn nicht 
kennt? Weit tiefgreifender ift die Frage, ob es ein großer Staat vertragen kann, daß die wich- 
tigſten politiſchen Entſcheidungen von einem einzelnen Zentralbewußtſein abhängen. In 
der Politik geht es nicht fo wie in Runft und Religion, da pulfiert das wirkliche Leben in den 
monarchiſchen Willensakten. Ohne den Raifer wird im jetzigen Oeutſchland keine einzige größere 
politifche Idee durchgeführt. Alles muß warten, bis er fein Zeichen daruntergeſetzt hat. Alle 
Refolutionen der Parlamente, alle Agitationen der Parteien find nur imſtande, fo viel Be- 
wegung herzuſtellen, daß auch der Monarch davon berührt wird, aber ein Geſetzentwurf des 
Bundesrates erſcheint nicht, wenn er nicht irgendeinmal gejagt hat: Placet, es geht 


W 


54 Sas Leben ein Traum 


Das Leben ein Traum? 


d Diaen Brief Tolſtois Aber das „Karma“ veröffentlicht die „Ethiſche Kultur“ in deut- 
ed Ier Überſetzung von Dr. A. Starvan: 

„Sie fragen mich nach dem buddhiſtiſchen Begriff „Karma“. Wir leben im 
Traum beinahe genau fo wie im wachenden Zuſtand. Pascal fagt, glaube ich, folgendes:, Sähen 
wir uns im Traum beſtändig in ein und derſelben Lage, wachend aber in verſchiedenen, ſo 
würden wir den Traum für Wirklichkeit, die Wirklichkeit aber für einen Traum halten. Das 
iſt nicht ganz richtig. Die Wirklichkeit unterſcheidet ſich vom Traume dadurch, daß ſie eben 
wirklicher iſt, reeller. So daß ich ſagen würde: Wenn wir kein wirklicheres Leben kännten als 
den Traum, fo würden wir den Traum völlig für Leben anſehen und niemals in Zweifel dar- 
über geraten, daß dies das wirkliche Leben iſt. 

Sit denn jetzt unfer ganzes Leben, von der Geburt bis zum Tod, mit feinen Träumen 
ſeinerſeits nicht ein Traum, den wir für das wirkliche Leben halten und an deffen Wirklich- 
keit wir nur deshalb nicht zweifeln, weil wir kein anderes wirklicheres Leben kennen? So denke 
ich nicht nur, ſondern ich bin überzeugt, daß dem ſo iſt. 

’ Wie Träume in diefem Leben Zuſtände darſtellen, während deren wir von den Ein- 
drucken, Gedanken und Gefühlen eines vorangegangenen Lebens zehren, genau fo ift unfer 
jetziges Leben ein Zuſtand, während deffen wir vom Karma eines vorangegangenen wirkliche 
ren Lebens zehren und Kräfte ſammeln, das Karma aufzubauen zu einem folgenden, zu jenem 
wirklicheren Leben, aus dem wir hervorgegangen ſind. So wie wir Tauſende von Träumen in 
dieſem unſerem Leben erfahren, ſo iſt auch dieſes unſer Leben eines jener Tauſende von Leben, 
in die wir eintreten aus jenem wirklicheren, reelleren, echteren Leben, aus dem wir kommen, 
indem wir geboren werden, und wohin wir zurückkehren, wenn wir ſterben. Linter Leben ift 
einer der Träume aus jenem wirklicheren Leben, und fo weiter, in die Unendlichkeit, bis in das 
letzte, wahre Leben hinein — in das Leben Gottes. Die Geburt und das Entſtehen der erſten 
Vorſtellungen über die Welt ift das Einſchlafen und der ſüßeſte Schlaf; der Tod ift das Erwachen. 

Ein früher Tod heißt —: man hat den Menſchen geweckt, er hat fidh aber nicht ausge 
ſchlafen. Der Greiſentod heißt —: man hat ſich ausgeſchlafen, der Schlaf war aber ganz ſchwach, 
und man iſt von ſelbſt erwacht. Der Selbſtmord iſt ein Alpdrüden, das dadurch zerſtört wird, 
daß man ſich erinnert, daß man fchläft, ſich zuſammenrafft und erwacht. Ein Menſch, der allein 
nur dieſes Leben lebt, ohne Ahnung von einem anderen —: das iſt der feſte Schlaf ohne Träume, 
iſt ein halbtieriſcher Zuſtand. Im Traume zu fühlen, was um uns herum geſchieht, heißt leiſe 
ſchlafen, jeden Augenblick bereit ſein zum Erwachen, heißt, — wenn auch trübe — ſich jenes 
anderen Lebens bewußt fein, aus dem man hervorgegangen und in welches man zurückgeht. 

Im Schlaf iſt der Menſch immer ein Egoiſt und er lebt allein, ohne Teilnahme ande- 
rer, ohne Verbindung mit ihnen. In dem Leben, das wir das wahre Leben nennen, gibt es 
ſchon mehr Verbindung mit anderen, gibt es ſchon etwas, was der Nächſtenliebe gleicht. In 
jenem Leben aber, aus dem wir gekommen find und in welches wir zurückgehen, ift diefe Ber- 
bindung noch feſter, die Liebe iſt da nicht nur etwas Erſehntes, ſondern etwas Wirkliches. Wir 
fühlen ſchon in dieſem Traum, was es dort, vielleicht, gibt. Die Grundlage zu allem ift Iden 
in uns und ſie durchdringt alle Träume. 

3h wünichte, daß Sie mich verſtehen. Fh ſcherze nicht, ich erdichte nichts; ich glaube 
daran, ich ſehe zweifellos und weiß es, daß ich ſterbend mich freuen werde, daß ich in eine reellere 


Welt eingehe.“ 


Eine untergehende Welt 55 


Eine untergehende Welt 


Ke EX ine ſterbende Raffe in einer verddeten Welt — das ift nach einem Bericht im „B. T.“ 
G NG das Bild, das der bekannte Aſtronom Profeſſor Percival Lowell von dem Schiefal 
des Mars in feinem foeben erſcheinenden neueſten Buch über beten Planeten 
„Mars as the Abode of Life“ entwirft. Dieſes Buch, das eine befriedigende Erklärung 
für die fo viel gedeuteten Mars-Ranäle verſucht, lieft fih an manchen Stellen wie eine phan- 
taſtiſche Sichtung vom Weltuntergang und den letzten Menſchen. 

Profeſſor Lowell beſchäftigt fih zunächſt mit der Theorie, nach der es überhaupt kein 
Waſſer auf dem Mars gibt, weshalb dort auch keine Lebeweſen exiſtieren können. 
Diefe Annahme wird dadurch entkräftet, daß im vorigen Jahre durch die Photographie 
das Vorhandenſein von Waſſerdampf im Spektrum der Mars-Atmoſphäre nachgewieſen iſt. 
Waſſer ift alfo vorhanden, und aud andere Beobachtungen machen die Annahme fehe wahr- 
ſcheinlich, daß lebende Weſen auf dem Mars exiſtieren. Dadurch iſt aber auch die Behauptung 
möglich, daß die Mars-Kanäle großartige, künſtlich ausgeführte Arbeiten find. Der Planet 
ift zur Ausführung fold einer Unternehmung beſonders geeignet. Er hat keine Gebirge; 
ſeine Oberfläche iſt flach und einförmig. Er hat keine Geen; fie find ſeit langem ver- 
ſchwunden. 

Wegen ſeiner Kleinheit und der darum verminderten Schwerkraft kann 
auf dem Mars mit der gleichen Kraftmenge ſiebenmal ſo viel Arbeit geleiſtet werden wie auf 
der Erde. So kann man alfo annehmen, daß die Mars Bewohner bei gleicher Entwicklung ihrer 
Geiſteskräfte viel gewaltigere Leiſtungen hervorbringen können als die Erdenmenſchen, zumal 
wenn der Kampf um die Exiſtenz, das Drohen einer furchtbaren Gefahr fie zu verzweifelten 
Anſtrengungen anſpornt. So läßt fih die koloſſale Größe und Ausdehnung dieſer Mars- Kanäle 
begreifen, die ſich mit mathematiſch genauer Geradlinigkeit über Hunderte und ſogar Tauſende 
von Meilen erſtrecken und die Mars Oberfläche wie mit einer geometriſchen Zeichnung überziehen. 

Warum nun ſind dieſe Kanäle gemacht worden? Lowell ſucht eine Antwort zu geben, 
indem er den Mars und die Phänomene, die er der Forſchung darbietet, mit den Verhältniſſen 
unſerer Erde vergleicht. Der Mars iſt in ſeiner Entwickelung älter und weiter vorgeſchritten als 
die Erde; er iſt viel kleiner als ſie und hat ſich viel raſcher abgekühlt. Alle Planeten ſind, ein 
je höheres Alter fie erreichen, dem Schickſal unterworfen, ihr Waſſer zu verlieren. Ein Teil 
der Waſſermenge wird von dem Inneren aufgeſogen, ſobald der Planet abtühlt, und ift daher 
für immer für die Oberfläche verloren. Das andere Waſſer wird langſam an den Raum ab- 
gegeben, indem es verdunſtet, bis eine tote und waſſerloſe Sphäre den Planeten umgibt. Auf 
dem Mars nun wird das Waſſer immer ſeltener und ſeltener; es trocknet geradezu auf unter 
unſeren Augen. Wenn man ihn unter dem Teleſkop beſieht, ſo zeigt ſein größerer Teil ſich als 
eine odergelbe oder rötliche Fläche. Ockergelb oder rot ift auch die Färbung der Wü ften 
auf unferer Erde. „So wundervoll diefe opalartigen Tinten des Planeten durch das Fernrohr 
erſcheinen mögen, fie zeigen doch eine wahrhaft entſetzliche Wirklichkeit an. Dieſer rofiggelbe 
Zauber ift nur eine täuſchende Fata Morgana; eine weite Fläche wüſten Bodens, weltengroß 
in ihrer Ausdehnung, die den Planeten wie ein furchtbarer Gürtel umſpannt und an einigen 
Stellen faſt von Pol zu Pol reicht, das iſt es, was dieſes opalſchimmernde Glänzen verkündet. 
Diefe blendend reiche Färbung bedeutet die Erſtickung des Lebens, die mitleidlos mit dem Bu- 
nehmen dieſer opalfarbenen Stellen ſich ausbreitet. Fünf Achtel des Mars ſind 
jetzt ſchon eine öde Wüſte, grauſam einer brennenden Sonne ausgeſetzt und un- 
beſchuͤtzt von irgendeinem bergenden Schatten. Nicht mehr verfinſtern Wolken den Himmel 
dieſer Welt. Seit Menſchenaltern find die Seen ausgetrocknet. 

Und bieles Schauſpiel, das ſich dem Aſtronomen bietet, erhält noch ein beſonderes Inter 
eſſe daburch, daß hier das Schickſal unſerer Erde vor ausgenommen wird. 


56 Die Mutterpflanze unferer Rartoffel 


Auch die Erde wird dereinft, wenn aud langſamer, fo austrocknen und zu einer toten Welt wer- 
den. „Mit langſamer, doch ſtetiger Ausdehnung nehmen auch unſere Wüſten immer mehr Be- 
ſitz von der Erdoberfläche. Das Ende iſt zweifellos noch weit entfernt, aber es iſt ſo ſicher, wie 
daß morgen die Sonne aufgehen wird, es fet denn, daß irgendeine Nataſtrophe unſeren Unter- 
gang früher herbeiführt.“ 

Innerhalb der hiſtoriſchen Zeit Idéen hat die Waſſer menge der Erde ab- 
genommen. An den Küſten von Nordafrika kann man noch die Ruinen der großen Städte 
ſehen, die in den Römerzeiten hier blühten. Sie erhielten Waſſer durch ihre Aquädukte aus 
Gegenden, die heute wüft und leer find. In den Wüften von Agypten und Arizona hat man 
foſſile Aberreſte von Wäldern gefunden, wo jetzt das Klima keine Vegetation mehr entſtehen 
läßt. Das Verſchwinden des Waſſers hat die Bewohner des Mars nun langſam zu tieferen 
und immer tieferen Grabungen geführt. So find allmählich die Mars Kanäle entſtanden. 
Sie mögen zuerſt verhältnismäßig klein geweſen ſein und ſind erſt ausgedehnt worden, als 
das koſtbare Naß immer ſchwieriger und ſchwieriger zu erreichen war. Nur eine Raſſe von hohem 
Intellekt, die alle Geheimniffe der Technik aufs feinſte ausgebildet hatte, konnte alle Schwierig 
keiten überwinden und dieſe Arbeiten ausführen. Aber ihr heldenhafter Kampf mit den un- 
Uberwindliden Mächten der Natur muß erlahmen; er muß zum Untergang führen. Nach Lo- 
wells Meinung ſteht für eine nach aſtronomiſchem Maße nicht allzu ferne Zeit die völlige Ber- 
ödung des Mars bevor. „Anſern Nachkommen wird dann der Mars keinen Gegenſtand des 
Intereſſes und Studiums mehr bieten. Für uns aber erhält ſeine Beobachtung dadurch einen 
beſonderen Reiz, daß wir dieſem Drama des Unterganges aus der Ferne zuſehen können. 
Denn der Prozeß der Austrocknung, der den Planeten zu ſeiner gegenwärtigen Phaſe geführt 
hat, muß zu jenem Ende führen, daß endlich der letzte Funken Leben auf dem Mars erliſcht. 
Iſt dann der letzte Hauch entflohen, der letzte Lebenstropfen verſiegt, dann wird der Planet 
als eine tote Welt durch den Raum des Alls rollen; fein Schickſal ift dann vollendet.“ 


“zb 
Die Mutterpflanze unſerer Kartoffel 


A 

SE ie Pflanze, von der unſere kultivierte Kartoffel abſtammt, ift, jo ſonderbar es er- 
ſcheint, nicht bekannt. Das wäre an ſich von geringer praktiſcher Bedeutung, wenn 
nicht die Rartoffeltrantheit den Wunſch rege gemacht hätte, durch Kreuzung der 
Stammpflanze mit dem Kulturgewächs eine Erſtarkung zu erzielen, die Schutz gegen die Zn- 
fektion verhieße. Zu dieſem Zwecke hat, wie die „Nature“ berichtet, A. W. Sutton aus Rea- 
ding eine ſehr große Anzahl von wilden Arten in deren Heimatländern Chile und Peru und 
ebenſo in Nordamerika und anderwärts geſammelt. Allein auch ihm gelang es nicht, zu finden, 
was er ſuchte, und auch alle zu dem erwähnten Zweck unternommenen Kreuzungsverſuche 
verliefen vollſtändig ergebnislos. Einen neuen Anſtoß erhielten die Unterfuchungen Suttons 
durch das Auftauchen einer neuen Kartoffelart in Frankreich, die, durch Kreuzung erzielt, 
angeblich alle guten Eigenſchaften der gewöhnlichen Kartoffel aufwies und angeblich aus den 
Knollen einer wilden Art ſtammt. Die Nachprüfung ergab, daß Sutton feine Aufmerkſam⸗ 
keit auf eine ihm zugängliche wildwachſende Art von Solanum tuberosum wandte, die auf 
Suttons Verſuchsfeld vor etwa zwanzig Fahren gezogen war. Er hatte ſich lange nicht mehr 
um dies Gewächs gekümmert, weil es keine Früchte hervorbrachte. Aber in dieſer Zeit hatten 
die Knollen, die urfpriinglid nur ſehr klein waren, eine Größe von 4—6 om Ourchmeſſer er- 
reicht. Auch hatten ſie in gekochtem Zuſtand vollſtändig die Eigenſchaften einer gewöhnlichen 
Kartoffel. Im Zahre 1906 zeigte fidh aber plotzlich eine Fruchtkapſel, fo daß ſich mit einem Male 


Vom Fragen der Kinder 57 


die Möglichkeit, Züchtungsverſuche anzuſtellen, ergab. Dieſe lieferten ein außerordentliches 
Ergebnis. Während bei allen anderen wilden Arten niemals Variationserſcheinungen be- 
obachtet waren, zeigten die zwanzig Pflanzen, die aus dieſer einen Fruchtkapſel gezogen wur- 
den, Hidft verſchiedenen Charakter hinſichtlich der Blätter, Blüten und Knollen. Im all- 
gemeinen glichen fie den gewöhnlichen Kartoffelknollen. Es lag auf der Hand, daß dieſe wunder- 
liche Erſcheinung nur im Wege der Kreuzbefruchtung mit einer der in der Nachbarſchaft ftehen- 
den Kartoffelpflanzen zuſtande gekommen fein konnte. Verſuche ergaben die volle Beſtäti⸗ 
gung dieſer Annahme. Es gelang Sutton, in einwandfreier Weiſe die Kreuzungsfähigkeit 
der wilden Rartoffelart nachzuweiſen. Man vermutete allerdings, daß jenes Solanum tube- 
rosum nur eine verwilderte Form einer kultivierten Kartoffel ſei. Dieſe Anſicht hat ſich jedoch 
nicht als haltbar erwieſen, da ſämtliche bekannten wilden Arten Pollenkörner von ſymmetriſch 
eiförmiger oder elliptiſcher Form haben, was auch bei Solanum tuberosum der Fall ijt, während 
alle Pollenkörner von kultivierten Kartoffeln von äußerſt unregelmäßiger Form und Größe 
find und niemals elliptiſche Geſtalt aufweiſen. Es iſt dadurch mit Sicherheit nachgewieſen, 
daß es fih um eine wohlcharakteriſierte Pflanzenart handelt, die, wie aus der Kreuzungsfähig⸗ 
keit hervorgeht, wirklich die ſeit langem geſuchte Stammpflanze unfe 
rer Kartoffel darſtellt. Dieſe Stammutter aber hat vor mehr als zwanzig Jahren der 
Kartoffelkrankheit vollſtändig widerſtanden. Die damit bepflanzten Stellen blieben verſchont, 
während die anderen von der Kartoffelkrankheit ergriffen wurden. 


LPS 
Vom Fragen der Kinder 


"e ër oldene Worte lieft man darüber in Albert Ralthoffs „Zukunftsideal“ (Verlag Eugen 
(N 3 Diederichs, Jena): „Wir wiſſen, wie das Fragen zu den Lieblingsbeſchäftigungen 

Oder Kinder gehört. Hat ſolch ein kleiner Kindermund erſt einmal angefangen zu 
an fo iſt fo bald kein Ende des Fragens mehr abzuſehen. Diefes Fragen iſt die natürliche 
Kraft bes Kindesgeiſtes, darum auch fein natürliches Recht, und von der richtigen Anerkennung, 
dieſes Fragegeiſtes hängt es ab, ob dem Kinde die Luft des Denkens und die Freude des Ler- 
nens erhalten bleibt oder nicht. Sicher wird in unzähligen Fällen dieſe Luſt im Keime ſchon er- 
ſtickt, der Fragegeiſt wird totgeſchlagen, ehe er nur zu eigenem tätigen Leben erwacht iſt. Solche 
Barbarei beginnt ſchon im Haufe. Es ift eben unbequem, jederzeit dem Kinde Rede und Ant- 
wort ſtehen zu muͤſſen. Es ift fogar oft genug beſchämend für die Eltern, wenn in den Fragen 
des Rindes eine Beobachtungsgabe, ein Wiſſensdrang hervortritt, der über den Horizont der 
Erwadjenen ſelbſt weit hinausgeht. Da werden unſere Kinder eben unfere Erzieher. Es gilt 
für uns ſelbſt mitzulernen mit den Kleinen, neuen Ratfeln nachzuſinnen, an denen wir bisher 
achtlos vorübergegangen waren. Denkt, daß Gott gerade deshalb die fragende Kindesſeele 
zu uns ſendet, damit wir, die Großen, die im Orange des Lebens das Fragen ſo gut wie ganz 
verlernen oder ſchon verlernt haben, uns in ihm wieder üben mögen. Denn wer das Fragen 
verlernt hat, der hat auch das Denken verlernt und das Suchen, und nur im Suchen tritt die 
ganze Unendlichkeit des Lebens an uns heran, wird die Unendlichkeit, die Unergründlichkeit 
Gottes uns offenbar. Ein Fragender, ein Suchender, der iſt mehr als ein Wiſſender, ein Ge- 
lehrter; denn auch alles Wiſſen und alle Gelehrſamkeit gehören zum Menſchen nur ſo weit, 
als es ſelbſt auf dem Wege des Fragens und Suchens erworben iſt; ja alles Wiſſen, das nicht 
ein Antworten auf die Fragen des eigenen Geiſtes geweſen iſt, iſt eine Laſt, die den Menſchen 
druckt, zu deren Übernahme er fih nur gezwungen entſchließt. Darum aber wird die Barbarei, 
die im Hauſe angefangen, oft genug in der Schule fortgeſetzt, ja dort erſt zu ihrer vollen Slate 


58 Pienfidoten 


entwickelt. Es gibt doch nicht wenige Lehrer, die die Kunſt, den Fragegeiſt im Kinde zu ertöten, 
für ihre eigentliche Lebensaufgabe halten und deshalb dieſe Kunſt mit einem wahren Raffine- 
ment täglich, ſtündlich üben. Regeln lernen, die das Kind nicht verſteht, nicht verſtehen kann, 
weil fie willkürlich gebildet find, ohne eigenen inneren Sinn und Zuſammenhang zu haben; 
Jahreszahlen lernen, bei denen ſich das Kind nichts denken kann, nichts denken darf, weil jeder 
Gedanke Zeit beanſpruchen und die Schnelligkeit in der Wiedergabe des Gelernten, nach der 
die Zenſur ausgeſtellt wird, beeinträchtigen würde; Sprüche, Erzählungen, Liederverſe lernen, 
die um ſo maſſenhafter gefordert werden, je größer der Widerſpruch iſt, in dem ſie zu dem 
ganzen eigenen Denken des Kindes ſtehen — das iſt doch auch heute noch das grauſame Syſtem, 
das wir Unterricht nennen, und das um ſo entwickelter uns entgegentritt, je umfangreicher 
das Wiſſensgebiet iſt, das dem Kinde in der Schule gegeben werden ſoll. Und wollte das Kind 
auch noch für fic fragen: es darf ja nicht, es hat dazu keine Zeit, es muß lernen, lernen, immer 
lernen! Und das Lernen geht um ſo prompter, je weniger dabei gedacht, gefragt wird — bis 
der Menſch Aber allem Lernen das Wichtigſte verlernt hat: das Fragen, und das Wort fic be- 
wahrheitet, das Kant den Bildungsanſtalten der Gelehrten ausſtellt, daß die Akademien mehr 
abgeſchmackte Köpfe in die Welt ſchicken als irgendein anderer Stand des gemeinen Weſens. 
So kommt unſere gelehrte Bildung, auf die wir uns ſo viel einbilden, nach der wir den Stand 
unſerer Rultur zu bemeſſen pflegen, zuſtande durch ein Unrecht gegen das Kind, und der Menſch 
kann zu ihr nur kommen, wenn er auf ſein Grundrecht, auf das eigene Fragen und Denken 


Verzicht leiftet ...“ 


Dienſtboten 


N Zit der Pſychologie der Dienſtboten beſchäftigt fih der vom Türmer ſchon öfter 
AR rühmlich erwähnte Staatsanwalt Dr. Erich Wulffen- Dresden in der Zeitſchrift 
„ Geſetz und Recht“. Zu allen Zeiten feien Ragen über die Arbeitsleiſtungen und 
uber das Betragen der Dienſtboten laut geworden, niemals aber fei man ernſtlich einer Löfung 
der Frage dadurch näher getreten, daß man die Seelenzuſtände erforſchte und würdigte, in 
welchen fidh der Dienſtbote bei Leiſtung des Geſindedienſtes befindet. 

„Weſentlich ift dem Geſindevertrag vor allem, daß der Dienſtbote feine ganze Arbeits- 
kraft vom Aufſtehen bis zum Schlafengehen nur dem Nutzen der Dienſtherrſchaft widmet und 
auf jede Betätigung in eigenen Angelegenheiten, ſoweit nicht Geſetz und Dienſtherr es geſtatten, 
Verzicht leiſtet. 

Die praktiſche Folge diefer und der übrigen einſchneidenden Beſtimmungen ift eine 
ſoziale Sfolierung der Dienſtboten, mit der eine geſellſchaftliche Vereinſamung Hand in Hand 
geht. Die ſoziale Zfolierung hat das Vertrauen zur Herrſchaft untergraben, in welcher der Dienft- 
bote leicht eine Gegnerſchaft wittert, auch wo dies ganz und gar nicht der Fall iſt. 

So wird faſt jedes Heraustreten des Dienſtboten aus ſeinem inneren Zuſtande in ſeinen 
größeren und kleineren Angelegenheiten verhindert, wie ſehr ein ſolches Bedürfnis auch vom 
rein menſchlichen und ſozialen Standpunkte aus anzuerkennen ift. Unſere Hausfrauen find zu 
wenig ſozial gebildet, zu wenig fogial erzogen, um in dieſem Verhältniſſe angemeſſen und mit 
Erfolg wirken zu können. Soziale gſolierung und geſellſchaftliche Vereinſamung erzeugen nun 
in dem Dienſtboten eine ſeeliſche Verſtimmung, die Unluſt zur Arbeit, Unbotmäßigteit und eine 
Reihe anderer Übel im Gefolge hat, welche das Oienſtverhältnis zerſetzen. Häufig werden neuer- 
dings auch nicht mehr ganz junge Dienſtboten von einer inneren Unruhe erfaßt, die als jenes 
ſcheinbar unerklärliche Heimweh auftritt und ihnen das Bleiben unmöglich macht. In gewiſſen 


PDienfidoten 59 


Zuſtänden zeigen weibliche Dienftboten manchmal eine Empfindfamtelt, die zur Löſung des 
Dienſtverhältniſſes führt, weil fie von der Hausfrau ganz falſch beurteilt werden. 

Oer Dienſtbote iſt der Herrſchaft zur Treue verbunden und ſchuldig, ihr nach Kräften 
bei aller Gelegenheit Schaden zu verhüten und ihren Nutzen zu fördern. So ſteht es in den 
Seſindeordnungen. Dieſer Treue entſpräche als Gegenleiſtung eine ſoziale Firforge ſeitens 
der Herrſchaft; hierüber ſchweigt das Geſetz. So beklagen wir uns meiſt ohne Grund, daß der 
Dienſtbote die Angelegenheiten der Herrſchaft ebenowenig zu den ſeinigen macht, wie dieſe 
es jenem gegenüber tut. 

Die innere Verſtimmung und Unruhe treiben den Dienſtboten der Gergniigungs- und 
Genußſucht in die Arme. Viele Dienſtmädchen leben innerlich nur von einem Sonntag zum 
anderen. Tanz, Variétébeſuch, Alkohol und ſchlimmeres bilden oft die Hauptfreuden. Im 
Gefolge ijt das außereheliche Kind; die Proſtitution hat den ſtärkſten Zufluß aus den Dienft- 
mädchen. Wer vierzehn Tage lang vom zeitigen Morgen bis zum Schlafengehen unausgeſetzt 
für fremde Intereſſen arbeiten und ſeine eigenen perſönlichen Angelegenheiten völlig in den 
Hintergrund ſtellen muß, bedarf bei der ſeltenen Erholung Iden eines kräftigeren Nerven- 
reizes. Aufwand und Luxus der Herrſchaft ſteigern auch die Genußſucht des Dienſtboten. 
Aus ihr entſpringt die erhöhte Anſpruchsfähigkeit, die oft unglaubliche Blüten treibt. Wohl⸗ 
tätige Vereine, bie fic) mit der Geſindevermittelung befaſſen, verfehlen nicht felten die gerade 
ihnen zukommende erzieheriſche Wirkung auf die Dienſtboten, gehen nicht auf ihre Indivi- 
dualitdt ein und ſchicken fie wahllos den Herrſchaften zu. Aus der gefteigerten Genußſucht 
fließt die Landflucht des Geſindes. 

Die Anſprüche an die Arbeitsleiſtung des Dienſtboten find geſtiegen. Dabei ift die 
Leiſtungs fähigkeit zurückgegangen. Als die Dienſtmädchen früher ſich im allgemeinen aus dem 
unteren Bauernſtande rekrutierten, war eine große körperliche Arbeitskraft vorhanden. Heute 
bringt eine große Anzahl von Dienſtmädchen aus dem induſtriellen Arbeiterſtande eine ſchwächere 
Konſtitution mit. Wir vergeſſen auch leicht, daß es für einen unausgebildeten Dienſtboten 
nicht fo einfach ijt, ſich in der großſtädtiſchen, geräumigen Herrſchaftswohnung und in der wirt- 
ſchaftlichen Anordnung zurechtzufinden. Dabei hat manche Hausfrau wenig Fähigkeiten, einen 
Dienſtboten anzuleiten. In mancher Familie fehlt auch jeder Sinn für Ordnung und Reinlid- 
keit; der brauchbare Dienſtbote wird dann verdorben. 

Die Beſtimmungen der Geſindeordnungen ſtehen heute in der Hauptſache auf dem 
Papiere unb werden in der Wirklichkeit durch eine gewiſſe Umkehrung der Verhältniſſe leicht 
zur Ironie. Einer Aufhebung der Geſindeordnungen ftände inſoweit nichts entgegen. Mit 
dieſer Aufhebung ſelbſt iſt aber gar nichts getan und nichts erreicht. In einem ethiſch und ſozial 
vervollkommneten Dienſtverhältniſſe, das alle Härten der heutigen Zuſtände abgeſtreift hat, 
können die Intereſſen der Dienſtherrſchaft und des Dienſtboten gleich gefördert werden. Dienſt⸗ 
herr und Dienfibote müfjen fih innerlich wieder näher gebracht werden; nur fo ift das Problem 
zu löfen. Die Verinnerlichung des häuslichen Dienſtvertrages wird voran gehen und der fo- 
zialen Vertiefung des freien induſtriellen Arbeitsvertrages, zu der wir ganz ſicher gelangen wer- 
den, die Bahn brechen. Deshalb ſind alle Beſtrebungen willkommen zu heißen, die auf eine beſſere 
Bor und Ausbildung der Dienſtboten für Rechnung der Allgemeinheit und auf Veranſtaltungen 
bingielen, die ihnen die nötige Erholung an Körper, Geiſt und Gemüt und ein gewiſſes ſoziales 
Standesbewußtſein zu gewähren geeignet find. Die Stadtverwaltungen erachte ich für berufen, 
die ſoziale Zentralifierung in den Städten in die Hand zu nehmen. Nur der freudige Arbeiter 
kann wertvolle Oienſte leiſten; das iſt das vornehmſte Geſetz in der ganzen ſozialen Entwickelung.“ 


42 


60 Unerwartete Zobesfälle 


Anerwartete Todesfälle 
wo 


s roß ift die Zahl der Menſchen, die von guten ärztlichen Ratſchlägen nicht viel wiſſen 
ge wollen. So vernünftig eine geſunde Lebensweiſe auch ift: fie möchten, wie Dr. Artur 

2) Sperling in der „B. Z. a. Mittag“ ausführt, ihr eigenes Leben leben und nicht 
= ärztliche Ratſchläge darin geftört werden: „Ihre Natur ſagte ihnen ſchon, was ihnen be- 
kommt und was nicht, — ihre Organe arbeiteten alle fo brillant, daß ihr Magen Steine ver- 
trüge, ihre Nerven wären wie die Schiffstaue, ihre Leiſtungsfähigteit ohne Grenzen. Sie 
liebten es nicht, immer an ſich denken und bei jedem Giffen die ärztlichen Verordnungen berück- 
ſichtigen zu müſſen — das machte hypochondriſch. Der ZIdealzuſtand des Menſchen wäre der, 
den Arzt zu entbehren. Eine kleine Influenza, welche ſie lächelnd als alberne Modekrankheit 
bezeichnen, überwinden ſie, an eine zweite ſchließt ſich eine Lungenentzündung, und mit einem 
Male ift das blühende Leben dahin. Mit dem Anſchein einer gewiſſen Plötzlichkeit ift das Leben 
in den Tod übergegangen, und dennoch hat der Organismus des allmählich ſich ſelbſt vernichten 
den Menſchen ſo viel Warnungszeichen herausgeſteckt, daß es nur des offenen Auges bedurft 
hatte, fie zu ſehen, und der vernunftvollen Energie, daraus Belehrung zu ſchöpfen. Die Krank- 
heit iſt ein ſolches Warnungszeichen. Sie fagt uns, daß in dem Haushalt unſeres Körpers ver- 
ſchiedenes nicht funktioniert, und wenn die Krankheit den Kampf bezeichnet, welchen die ge- 
ſunden Zellen des Organismus gegen die kranken führen, ſo iſt es naturgemäß, daß ſowohl die 
geſunden wie die kranken Zellen die Sieger ſein können. Legt der Menſch alſo Wert darauf, 
zu leben, zu ſchaffen, zu arbeiten, — ſo muß er dafür ſorgen, daß die geſunden Zelltruppen 
in ſeinem Organismus an Zahl den kranken überlegen ſind, damit, wenn es zur Revolution in 
dieſem Staate kommt, die geſunden Truppen die kranken beſiegen. 

Aber ſo einfach es ſcheinen mag, ſo leicht ſetzt ſich dieſes Beſtreben nicht in die Tat um, 
und zwar vor allen Dingen deshalb nicht, weil der Menſch meiſtens ſelber nicht das richtige Ge- 
fühl dafür hat, wieviel von feinen Zelltruppen, welche ihm das Leben erhalten ſollen, geſund 
oder krank find, — und fagt’s ihm der Arzt, fo glaubt er's nicht. Setzen wir alfo bei jedem Men- 
ſchen einen Selbſterhaltungstrieb voraus, fo wird dieſer Trieb paralyfiert durch ein eigenartiges 
Verhalten des Organismus, welcher durch eine Reihenfolge von Täuſchungen den Inhaber 
nicht zur nötigen Fürſorge kommen läßt. Entweder ift die bereits erfolgte ausgedehnte An- 
kränkelung von vielen Zellen noch mit überwiegenden Luſtgefühlen verbunden, oder die vor- 
handenen Unluſtgefühle reichen noch nicht aus, um an eine derartige innere Desprganifation 
zu glauben, daß ſchnelles Einſchreiten nötig erſcheint. Unſere Erziehung iſt noch nicht ſo weit 
gediehen, daß uns allen das Auftreten von Unluſtgefühlen als der Ausdruck beginnender Krank- 
heit eingeprägt wird. Wir rechnen das Krankſein erft von der ausgebildeten Lungenentgiin- 
dung, der fertigen Gicht, den raſenden Schmerzen. Und die Geſundheitspflege beginnt bei uns 
privatim und ſtaatlich erſt mit und nach der Krankheit. Beweis: viele ſtaatliche Kranken und 
Irrenhäuſer, keine ſtaatlichen Sport- und Spielplätze und andere Veranſtaltungen zur Geſund⸗ 
erhaltung der Gefunden. Der gebildete und ungebildete Menſch lebt bei uns nach den von ihm 
ſelbſt für fic ſelbſt aufgeſtellten Rezepten und gleicht dabei dem Schiff ohne Steuer, weil elter- 
liche und ſtaatliche Erziehung nicht in der Lage geweſen ſind, ihm die nötigen Geſundheitsregeln 
mit auf den Weg zu geben. Er fällt von einem Extrem ins andere. Er glaubt, ſeiner Geſundheit 
beſonders zu dienen, wenn er fic für feds bis acht Wochen des Rauchens gänzlich enthält; 
dabei findet er, daß ihm die täglich genoſſenen ſechs Glas Bier nichts ſchaden. Das Umgekehrte 
kann ebenſooft beobachtet werden. Andere Leute glauben, fie hätten den Stein der Weiſen ge- 
funden, wenn fie täglich ihren Körper durch ein ‚Bad ftählten‘ — dabei dürften fie ſich's dann 
leiſten, gegen alle anderen Geſundheitsregeln gröblich zu verſtoßen. Es fehlt die Harmonie der 
Lebensweiſe, die notwendige Firjorge für die Okonomie des Haushaltes im Organismus. 
Es fehlt die Erziehung und Belehrung der Jugend zu einer ökonomiſchen, harmoniſchen Lebens- 


Squlblsdfinn 61 


weife mit dem Ziel: Arbeits- und Leiſtungsfähigkeit, es fehlt die private und ſtaatliche Für- 
forge für die Gefunden. 

Die Arzte find von Staats wegen im weſentlichen für die Kranken da — als ob unfere 
Nation zum größten Teil aus Kranken beſtände. Sie ſollten die Pflege der Geſunden als vor- 
nehmſte Pflicht zugewieſen erhalten. Sie ſollten belehrt werden, die allererſten Abweichungen 
von der Geſundheit zu erkennen und erfolgreich zu behandeln. Im Verein mit der oben er- 
wähnten Erziehung der Zugend würde eine ſolche Umbildung der ärztlichen Tätigkeit der Ge- 
fundbeit unſerer Männer und Frauen die beiten Dienſte leiſten. Von beiden Seiten würde er- 
kannt werden, daß eine fehlerhafte, unharmoniſche Lebensweiſe Iden als Krankheit aufzu- 
faſſen iſt. Von dieſem Geſichtspunkt aus betrachtet wird man finden, daß Krankheit ſchon 
lange beſteht, bevor der von uns als ‚eigentliche Krankheit“ aufgefaßte Zuſtand eintritt. Dieſer 
letztere Zuſtand trifft häufig ſchon einen durch Anſammlung vieler kranker Zelltruppen in ſeiner 
Widerſtandsfähigkeit geſchwächten Organismus. Der Grad der eingetretenen Schwächung iſt 
häufig febr ſchwer zu beurteilen; aber es ift kein Wunder, wenn die kranken Teile fidh kränker er- 
weiſen und die geſunden als nicht ſo geſund, wie wir vermuteten, und ſo iſt es denn plötzlich 
mit der Widerſtandsfähigkeit des ſogenannten gefunden Menſchen zu Ende. Er ſtarb im blühen- 
den Mannesalter in voller Gefundheit’ könnte man auf feinen Grabſtein ſchreiben. Indeſſen, 
bei richtigem Licht betrachtet, war feine ‚Sefundheit‘ ſchon lange eine in ihrer Bedeutung nicht 
erkannte Krankheit. Und fo kommt es zu plötzlichen, ganz unerwarteten Todesfällen.“ 


M 
Schulblödſinn 


we n der „Welt am Montag“ erzählt J. Lazarus: Ich habe jüngft einen kleinen Ge- 
; ) legenheitskauf gemacht. Mein Schreibwarenhändler konnte mir etwa taufend 
PLS) Klebeetiketts, wie man fie für Schulhefte braucht, zu dem niedrigen Preiſe von 
baren zehn Pfennigen ablaſſen. Warum? Weil wir einen Schulzopf haben, der zwar lang 
genug iſt, den abzuſchneiden ſich aber noch keiner erkühnt hat. Ich will Gelegenheit geben, 
die Schere dafür zu ſchleifen. Früher war es nämlich üblich, daß die Arbeiten der Schüler 
unſerer Unterrichtsanſtalten nach dem inneren Wert beurteilt wurden, heute werden ſie nach 
dem Etikett, das auf dem Heft klebt, und nach der Farbe des Heftdeckels beurteilt. Da gibt es 
durchaus nichts zu lachen, ich erzähle Tatſachen. Ein Vater, der fih gegen den Schulzopf auf- 
lehnte, mußte ſchweren Herzens die Schere wieder einſtecken; feinen Kindern wurde die Ab- 
nahme der Arbeiten verweigert, weil — auf dem Heft nicht das vorgeſchriebene Etikett klebte. 
Die Sache iſt aber noch viel verzwickter. In der einen Schule werden ovale Etiketts verlangt, 
in der anderen viereckige mit ſchwarzem Rand, in der dritten ſolche mit Linien, aber ohne Rand, 
in der vierten kunſtvoll geſchweifte, in der fünften achteckige und fo fort. Damit aber die Buch; 
händler nicht zu üppig werden und ſich zuviel Vorrat von den einzelnen Sorten hinlegen, 
werden die Beſtimmungen ab und zu „reformiert“. Auf der Schule, die bis heute noch ovale 
Etiketts hatte, werden von morgen an nur viereckige zugelaſſen, und wo bisher ein Doppel- 
rand üblich war, gelten plötzlich nur Etiketts mit einfachem Rand. Auf dieſe Weiſe bin ich zu 
meinem Gelegenheitskauf gekommen, denn es war gerade ein neuer Etikettukas ergangen 
und ein Poſten Etiketts mit Rand wurde „unmodern“. Unſeren Modezeitungen wäre eine 
Rubrik dafür zu empfehlen. 
Aber der Schulzopf iſt nicht nur aus Etiketts geflochten. Es iſt außerordentlich wert⸗ 
voll für die Kinder, daß fie in der A Schule Hefte mit ſchwarzem Detel benutzen, in der R Schule 
mit grünem und in der C-Schule mit blauem, und daß beileibe fih keiner gegen diefe päda- 


62 SSulbl3dfinn 


gogiſche Maßregel auflehnt. Denn entſchieden kann man in ein Heft mit blauem Deckel keine 
gute Arbeit ſchreiben, wenn die ganze Klaſſe ſchwarze Deckel führt. Schade, daß ich keine Ber- 
wendung für Schulhefte habe; bei dem Händler, wo ich die Etiketts kaufte, gab es nämlich 
auch „unmoderne“ Hefte billig, denn gerade war der A- Schule der ſchwarze Deckel verboten 
und der braune Deckel anbefohlen worden. Variatio delectat. Wahrſcheinlich haben ſich die 
Lehrer an der einen Farbe ſatt geſehen und wollen etwas anderes haben, wobei es nicht dar- 
auf ankommt, daß dem Händler der Vorrat unbrauchbar wird. Aber der Zopf iſt noch ein End- 
chen länger. Zu dem einen Ziedel gehört nämlich ein Heft mit dreizehn Linien auf der Seite, 
zu dem anderen eins mit fünfzehn, und zu dem dritten ein folches mit fiebzehn. Warum? Ber- 
pönte Frage! Wie darf ein preußiſcher Untertan fragen, warum fein Zunge auf dreizehn Linien 
ſchreiben muß, während der Junge vom Nachbar, der eine andere Schule desſelben Ortes be- 
ſucht, auf fünfzehn oder ſiebzehn arbeitet. Es gibt nicht nur Dinge zwiſchen Himmel und Erde, 
von denen ſich unſere Schulweisheit nichts träumen läßt, ſondern es gibt auch Dinge in der 
Schulweisheit, von denen ſich Himmel und Erde nichts träumen laffen. Genug, die Verord- 
nung beſteht, und der Schreibwarenhändler, der nicht mit ſchwarzen, grünen, blauen, braunen 
und bunten Heften für die verſchiedenen Schulen und mit den erforderlichen Linienunterſchie⸗ 
den aufwarten kann, ift nicht auf der Höhe. Was für die Schreiblinien recht ift, muß den Rechen- 
tacos billig fein. Folglich rechnet man in der H- Schule auf genau viereckigen Karos, in der 
T Schule auf länglichen und ich glaube in der K-Schule auf runden oder ſiebzehneckigen. Lieber 
Leſer, erſtaune vor fo viel Schulweisheit! Vielleicht biſt du zwar auch einmal zur Schule ge- 
gangen und haft rechnen und ſchreiben gelernt und vielleicht haft du es ſogar darin zu einiger 
Fertigkeit gebracht; dann wiſſe aber, daß du vollkommener geworden wäreſt, wenn du dich 
ſchon damals in die Myſterien der Karoformen und der Schreiblinien vertieft hätteſt, denn 
nur darin liegt der Schlüffel zur richtigen Lehrmethode. Ou kannſt nicht richtig ſchreiben gelernt 
haben, wenn dein Heft nur elf Zeilen hatte, nicht richtig rechnen, wenn die Karos in deinem 
Arbeitsheft um einen halben Millimeter kleiner oder größer waren, als die höhere Mathematik 
der Neuzeit fie vorzeichnet. Weißt du was, lieber Lefer? Schäme dich einfach, daß du das bis- 
her nicht gewußt haſt. 

Nun iſt es hoffentlich nicht mehr weit bis zur gänzlichen Uniformierung der Schule. 
Ich würde es für ſchrecklich halten, wenn die Rinder einer Rlaffe in der Farbe und im Schnitt 
ihrer Kleider nicht übereinſtimmen! Was man von der Farbe der Heftdeckel verlangen kann, 
ſollte man doch mit viel größerem Recht von der Farbe der Menſchendeckel verlangen! Es iſt 
geradezu empörend, wenn man noch immer geftattet, daß Max Schulze einen anderen Hut 
trägt als Karl Müller, trotzdem ſie derſelben Klaſſe angehören, daß Mieze Rosmarin in einem 
blauen Kleide zur Schule kommt, während Käthe Franke ein braunes trägt! Und nicht allein 
das. Die Schulmappen, die Federhalter und Federkäſten, die Einbände der Lehrbücher und 
die Löſchblätter! Wo findet man da in einer Schule vollkommene Übereinftimmung? Wie 
können die Kinder etwas Vernünftiges lernen, wenn fie m fo wichtigen Punkten verſagen? 
Mir graut 's! Hoffentlich ändert man diefe Dinge ſchleunigſt. Man erſpart damit mindeſtens 
drei Lehrſtunden täglich und kann, ohne den Schulplan zu gefährden, bei Arbeitsloſenzählungen, 
Einzügen hinterindiſcher Fürſten, Kindtaufen in höheren Kreiſen und ähnlichen wichtigen 
Ereigniſſen die Schule noch öfter ausfallen laffen. Wenn nur die äußere Abereinſtimmung 
gewahrt wird, vom Heftdeckel und Etikett angefangen bis herunter zu den Stiefelknöpfen oder 
einigen anderen Intimitäten. Nur müßten fi die Beteiligten vorſehen, daß fie ſich nicht auf 
den zu lang gewordenen Zopf treten. Sonſt müßte man freilich doch die Schere 


N 


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GIE A 


BL; Aut 


FE p Die hier veröffentlichten, dem freien Meinungsaustauſch bienenden — 
Einſendungen find unabhängig vom Standpunkte bes Herausgebers 


Nochmals Haeckels Fälſchungen 


Un Heft 6 des Türmers nimmt Profeſſor L. Gurlitt in einer Weiſe zu dieſem Thema 
das Wort, daß man darüber nur den Kopf ſchütteln kann. Seine Worte find eine 
D Verſchleierung der Tatſachen, die wohl den Moniſten-Papſt reinwaſchen, aber 
Le be Wahrheit nicht dienen. Da Haeckel den Keplerbund und mich ganz unmotiviert in 
die Affäre hineingezerrt hat, ſo erlaube ich mir, zu ihr hier das Wort zu ergreifen. 

Ehe ich auf Profeſſor Gurlitts Worte komme, gebe ich eine kurze Oarlegung der Tat- 
ſachen. Dr. Braß ſagt in einem Vortrag in Berlin (Frühjahr 1908), Haeckel habe einen Affen- 
embryo menfchenähnlicher, einen Menſchenembryo affenähnlicher gemacht; Haeckel nennt dies 
in einer öffentlichen Erklärung eine „bewußt dreiſte Unwahrheit“ und ergeht fih in weiteren 
haarfträubenden Beleidigungen gegen Dr. Brak; dieſer veröffentlichte im Spätherbſt 1908 
feine Broſchüre (Das Affenproblem, Leipzig, Biol. Verlag, 1 4), in der er an Hand vorgiig- 
licher Abbildungen mit (freilich ſehr ſcharfen) Worten die Wahrheit feiner Behauptungen nach; 
weiſt. So zeigt er z. B., daß Haeckel in den Tafeln feiner beiden letzten Veröffentlichun- 
gen dem Bilde eines Menſchen- Embryo nach His (einem febr ſorgfältigen Beobachter) Par- 
tien des Kopfteils fortgenommen, dagegen 11 Schwanzwirbel zugefügt hat, oder daß er dem 
Bilde des Embryos eines Makak (geſchwänzter Affe) nach Selenka den Schwanz fortgenommen 
und dann „Gibbon“ (ungeſchwänzter Affe) darunter geſchrieben hat uſw. — Haeckel ſchwieg 
zuerſt, bis ihn ein Artikel in der Münchner Allgemeinen Zeitung aufſtörte, und nun erließ er 
am 29. Dezember 1908 in der Berliner Volkszeitung einen unglaublichen Artikel, der von Be- 
leidigungen gegen Sra und den Keplerbund, den er ohne jeden Anlaß in die Sache 
hineinzerrte, ſtrotzte. Dr. Braß hatte feine Broſchüre ganz unabhängig vom K. B. heraus- 
gegeben, trotzdem wagt es Haeckel, andauernd von letzterem zu ſprechen, das iſt ungefähr ſo, 
als wollte man dem deutſchen Moniſtenbund die Fälſchungen Haeckels zuſchieben. In dem Wuſt 
von perſönlichen Beſchimpfungen des Haeckelſchen Artikels findet fih nun auch das Sugeftand- 
nis, daß er (Haeckel) in der Tat im Sinne von Dr. Braß „gefälſcht“ habe, um die fehlenden 
Süden feiner Entwicklungskette auszufüllen. Haeckel nennt dies beſchönigend „vergleichende 
Syntheſe“ und die Art ſeines Zeichnens „Schematiſieren“, gleichzeitig behauptet er, daß ſo 
wie er auch Hunderte von anderen Forſchern verfahren. Dies iſt die nackte Sachlage, an der 
keine Maus einen Faden abbeißt. Wir laffen nun alles weitere, was folgte und auch des Zn- 
tereſſanten genug bietet (3. B. die Erklärung von 46 Zoologen), fort und ſehen, was Prof. 
Dr. Ludwig Gurlitt aus dieſen Tatſachen macht. 

Prof. Gurlitt zieht ein eigenes Erlebnis heran: er habe eine alte griechiſche Grab- 
platte unterſucht und ihre Zeichnungen feſtgeſtellt, man habe es ihm nicht geglaubt, aber nach 


64 Vorſchläge zur Reform der militärifhen Geſellſchaft 


her habe ſich herausgeſtellt, daß er recht gehabt habe. So könne es auch bei Haeckel ſein, er ſagt: 
„Ich nehme an, daß Haeckel ... durch abſichtlich ſtarke Hervorhebungen das von ihm Geſehene 
nur dem Verſtändniſſe auch ſeiner Leſer entgegenbringen wollte.“ Es iſt mir unbegreiflich, 
wie man angeſichts der Tatſachen noch fo etwas „annehmen“ kann. Haedels Fall ift ja ein 
ganz anderer: er hat ja z. B. gar keinen Gibbonembryo (höchſt ſeltenes Material) unter- 
ſucht und geſehen, ſondern den Makakembryo nach Selenka entſprechend zugeſtutzt. 

Prof Gurlitt hat aber noch eine zweite zur erſten wenig paſſende Entſchuldigung für 
Haeckel bereit, „unzulängliche Kenntnis der wiſſenſchaftlichen Praxis“, nachdem kurz vorher 
Haedels hohe wiſſenſchaftliche Verdienſte hervorgehoben find. Ich traue meinen Augen nicht: 
wie kann ein Mann mit „unzulänglicher Kenntnis der wiſſenſchaftlichen Praxis“ noch beſondere 
wiſſenſchaftliche Verdienſte haben? 

Was Prof. Gurlitt dann noch alles vom Monismus uſw. ſagte, erübrigt ſich als gar nicht 
zur Sache gehörig von ſelbſt. Daß der Monismus oder die auch von mir hochgeſchätzte Defzen- 
denzlehre nun nach Haeckels Fälſchungen als nichtig erwieſen fei, hat meines Wiſſens noch nie- 
mand behauptet. Etwas anderes iſt es aber, daß Haeckel ſeine verwerflichen Manipulationen 
zu einem beſtimmten Zweck gemacht hat — wie er ja ſelbſt zugibt —, dadurch wird die Sache 
eben der „unzulänglichen Kenntnis“ uſw. entrückt und in ein beſonderes Licht geſtellt. Noch 
unberechtigter ift es, wenn Prof. Gurlitt die „Schöpfungsgeſchichte“ und gar die „Bibelgläu⸗ 
bigen“ in die Affäre hineinzieht. Das iſt eine Verſchiebung: es handelt ſich hier lediglich um eine 
verwerfliche Methode der Benutzung fremder Bilder ſowie um wiſſenſchaftliche Wahrhaftigkeit. 

Zum Schluß fragt Prof. Gurlitt: „Aber ſelbſt einmal zugegeben, Haeckel hätte als 
junger Gelehrter aus wiſſenſchaftlichem () Eifer die Geſetze ſtreng methodiſcher Befonnen- 
heit mißachtet, zugegeben — gibt es denn kein Vergeſſen und Entſchuldigen?“ — Oamit beweiſt 
Prof. Gurlitt, daß er die Sachlage gar nicht kennt und nicht weiß, daß es ſich um ganz neuer- 
liche Vergehen Haeckels handelt. Wenn aber jemand öffentlich über eine Sache urteilt, dann 
ſollte er ſich denn doch zunächſt über den einfachen Tatſachenbeſtand orientieren. 

Prof. Dr. E. Dennert 
2 


eber kommt es, daß fo manche ihr liebes deutſches Vaterland in jungen Jahren 
| fichon verlaſſen, um fidh in der Fremde eine neue Heimat (29 zu gründen? 
„efällt's ihnen nicht mehr in der alten Umgebung? Zit die Not ums Brot die 
Arſache? Finden ſie die Sitten zu roh? Es iſt wohl in einigen Ausnahmefällen möglich. Auch 
ſteckt ja im Oeutſchen noch der alte germaniſche Wandertrieb. Sehr oft ift es die Furcht vor 
dem „Dienen“. Diefes Wörtchen hat in unfrer Zeit einen eigentümlichen Aang bekommen; 
für viele, ſehr viele klingt es wie „Sklave ſein“. Zu einem nichtsnutzigen Flegel hört man wohl 
recht naiv fagen: Paß auf, guter Freund, wenn du mal eintreten mußt, wird dir ſchon manches 
vergehen; da wird man dich ſchon klein kriegen! Mit andern Worten: Das Militär ift eine 
Straferziehung, die Kaſernen ſind Strafanſtalten! 

Wohl iſt es lächerlich, wenn die verwöhnten Mutterſöhnchen in der Abſchiedsſtunde 
weinen und ſchluchzen; weniger unmännlich ſind aber die ſtillen Tränen, die da fragen: Was 
kommt nun? Oie Beurlaubten erzählen ja gewöhnlich die grauſigſten Mordgeſchichten über 
das Leben beim Militär. Die Zeitungen melden von ſchweren Vergehen und noch ſchwereren 
Strafen uſw. uſw. Dies alles kann einem jungen Menſchen das Herz wohl mal ſchwer machen. 
Darum faſſen die Verſtändigen unter ihnen das Bienen als eine zwar harte, aber unveränder- 
liche Notwendigkeit auf: „Zwei Jahr' ift keine Ewigkeit!“ — 


Vorſchlaͤge zur Reform der militärifhen Geſellſchaft 65- 


Sft diefe Auffaſſung richtig, wahr, ſchön, des deutſchen Vaterlandes würdig? Ich be- 
haupte: ſie iſt traurig, aber natuͤrlich. Der Beruf des deutſchen Soldaten könnte und müßte 
einer der edelſten ſein, und iſt einer der elendeſten. Die Verbeſſerungen der Zuſtände ſind meiſt 
nur Ldppereien, Flickwerk. Stolze Kaſernengebäude erblickſt du, aber vergeblich ſuchſt du da die 
Jünglinge, denen das Gefühl die Bruſt ſchwellt, daß ſie die Auserwählten ſind, die mit ihrem 
Blute ihr idealſtes Gut: Thron und Vaterland „mit Gott für Kaiſer und Reich“ verteidigen 
wollen. Dienſtboten, Flickſchneider, Stiefelputzer (beffer geſagt: Unteroffiziersſtie felputzer D 
Waſchweiber, Schlafmützen und Pflaſtertreter — wider Willen! Daß wir uns die Wahrheit 
nicht ſelbſt vorenthalten. „Arbeiten iſt keine Schande!“ Nein, ſage ich, es iſt eine Ehre. Aber 
würden alle dieſe Verrichtungen nur nicht als Strafen gebraucht und dazu benutzt, die Leute 
im Baume zu halten! Einige Beiſpielchen! Oer Unteroffizier vom Oienſt weckt die Leute. 
Ein „ dickfelliges, faules Schwein“ kann noch nicht aus feinem „Stinkkaſten“ fallen. Ich gebe 
zu, der Mann hat eine gelinde Strafe oder einen Verweis verdient. Aber was folgt? Flur 
oder Kaſernenhof fegen, Stiefel des Unteroffiziers putzen ufw. Zeder, der gedient hat, kennt 
alle Giele Mãtzchen. Die Arbeit wird zur Strafe. (Die Schule kennt ja leider auch die Straf- 
arbeiten) — Es iſt Appell. Einer hat ſeinen Rock nicht gut nachgeſehen, ſo daß ein Knopf zu 
topfichüttelnden Bewegungen geneigt ift. Es kann dies ein Verſehen fein, dem Manne kann es 
an der nötigen Zeit gemangelt haben; denn wie oft habe ich es erlebt, daß die Mannſchaften eine 
halbe Stunde nach dem Einrüden von einer ſchweren Übung ſchon wieder zum Appell antreten 
mußten! Kurz und gut: der Knopf ſitzt nicht, wie er foll. Der Herr Unteroffizier ſchneidet ſämt⸗ 
liche Knöpfe herunter, „damit der Mann etwas Arbeit bekommt“! Wieder eine Strafarbeit. 

Und die Folgen? Ein mehr gebildeter Menſch, der zufällig nicht im Beſitz des „Einjährigen“ 
iſt, aber früher nie dergleichen Arbeiten verrichtet hat, empfindet es als eine Schande, ſie nun 
als Strafe verrichten zu muͤſſen. Er ſträubt ſich. Der Vorgeſetzte droht; der andere gibt 
ein Widerwort; nochmaliges Drohen und Widerſtreben: der Unteroffizier konſtatiert Geborfams- 
verweigerung vor verſammelter Mannſchaft! Nach der Vorgeſchichte wird nicht gefragt, und 
in den meiſten Fällen wird der betreffende Soldat beſtraft. Daß es dabei zu Tätlichkeiten, 
Mord und Selbſtmord führen kann, kommt Gott fei Dant nur vereinzelt vor; aber der Haß 
und die Nachſucht keimen gut in den Herzen der Unglücklichen. Gehorſam foll der Soldat ler- 
nen, und man erzieht ihn zu ſklaviſcher Unterwürfigkeit. Kein Wunder, daß der Jammer am 
Morgen losgeht, daß man den Tag wieder vom „Elend“ abzieht und ſchon wieder verlangt, 
daß ſich der Tag neigen möge. Traurig aber wahr! 

Selten hört man die Soldaten über die Ofifziere ſchelten, immer und ewig über die 
Unteroffiziere. „Ja,“ höre ich da die meiſten einwerfen, „zum erſten find viel mehr Unter- 
offiziere da, und zum andern wohnen dieſe in der Kaſerne; zum dritten kommen ſie viel mehr 
mit den Gemeinen in Berührung.“ Pas könnte der Grund fein, iſt's aber nicht. Wir müſſen 
tiefer ſuchen: die Offiziere ſind durchweg gebildete Leute und darum menſchlicher, während 
die Unteroffiziere fih ſehr oft ihres früheren bürgerlichen Berufes ſchämen. Die Erfahrung 
babe ich gemacht, daß die wohlmeinenden unter ihnen alle von beſſerer Herkunft waren. Einigen 
von ihnen bewahre ich noch heute dankbare und liebevolle Erinnerungen; es wird mir eine 
Freude fein, ihnen im Leben nochmals zu begegnen. Und hier liegt der Punkt, wo eine Re- 
form unſeres Heeres einzuſetzen hat: gebt den Soldaten gebildete, entwickelte Unteroffiziere, 
die nicht ſich ſelbſt betrachten als Drillmaſchinen und Schweinetreiber; die nicht die Fußtritte, 
welche fie ſelbſt empfangen haben, mit Zinſen meinen zurüderftatten zu muͤſſen. Gebt ihnen 
Leute, die ſich Lehrer, Erzieher fühlen in einem hohen, edlen Berufe! 

Ferner: ſchafft Dinge aus dem Wege, die Anlaß geben können zu irgendwelchen Un- 
annehmlichkeiten. Dazu gehört Reform und teilweiſe Abſchaffung des „innern Dienſtes“. 
Richts, worüber der Soldat fo viel klagt als gerade über dieſes Kreuz! Wieviel Zeit und Kraft 
wird aber auch damit vergeudet! Warum werden die Errungenſchaften der Technik, nn 

Der Türme XI, 7 


66 Borjhlage zur Reform der militäriſchen Geſellſchaft 


heizung, elektriſches Licht uſw. uſw., nicht dem Leben in den Kaſernen dienſtbar gemacht? Sind 
die etwa nur für Privathäuſer und andere öffentliche Gebäude erfunden? Fd denke, doch wohl 
deshalb, um das Leben angenehmer zu geſtalten, um Zeit zu gewinnen fir des Menſchen innere 
Entwicklung. Ein Beifpiel zur Erläuterung: Es iſt harter, ſtrenger Winter. Morgens noch vor 
dem Wecken muß der „Stubendienſt“ hinaus, um zunächſt mal für den Ofen zu ſorgen. Das 
wäre ja nun weiter nicht ſo ſchlimm, wenn alles Nötige vorhanden wäre. Aber da fehlt zunächſt 
das Holz. Nun, ein paar alte Kiſten von Muttern ſind vielleicht noch da; im allerernſteſten 
Falle gibt es ja auch noch Schemel; kurz, Holz wird geſchafft. Aber ſo ohne weiteres brennt 
das ja auch nicht. Schnell wird Rat geſchafft: im Strohſack und in der Petroleumlampe liegt 
die Rettung ... Das Feuer brennt (was leider lange nicht immer der Fall iſt). Der Weckruf 
ertönt; die andern ſtehen auf, waſchen ſich, machen ihre Betten und kleiden ſich an. Die Waſſer⸗ 
friige werden leer und die Schmutzeimer voll. Der „Stubendienft“ muß natürlich ſorgen, 
daß beiden Übeln abgeholfen wird; ferner holt er den Kaffee und bringt die Stube in einen 
bewohnbaren Zuſtand. Die Pumpe auf dem Kaſernenhofe iſt natürlich zugefroren oder ge- 
ſperrt. Aber endlich gibt ſie doch Waſſer. Der „Stubendienſt“ erfüllt ſeine „Pflicht“, verrichtet 
feine weitern „Arbeiten“ und kommt endlich mit ſteifen Fingern, leerem Magen und ungepuß- 
ten Knöpfen „zur Stelle“, mit einem heimlichen Fußtritte eines „alten Kerls“ begrüßt, wenn 
er noch zufällig Rekrut ift oder über eine gute Börje verfügt. Aber er wird fih an der nädy- 
ften Generation ſchon rächen. O du vielgepriefene Kameradſchaftlichkeit! Aber auch hierbei 
ſpielt der Bildungsgrad der Mannſchaften und der Kompaniegeiſt wieder die Hauptrolle. 
Wäre nun in den Rieſengebäuden Zentralheizung, elektriſche Beleuchtung, in jeder Stube 
wenigſtens ein Kran mit Abgußbecken vorhanden, ſo wäre manchem Abel ſchon abgeholfen. 
Beſſer wäre es natürlich, die Stuben eben nur als Schlafſtuben zu benutzen und allgemeine 
Eh-, Arbeits- und Unterrichtsſäle einzurichten. Ym Eßzimmer natürlich Lift für die Küche uſw. 
Die Betten find im allgemeinen nicht fo ſchlecht, nur müßte man fie nicht wie Stockwerke über- 
einanderbauen. Auch iſt es nicht ſchlecht, wenn jeder für fein eignes Bett ſorgt, Unteroffiziere 
einbegriffen. Für das Reinigen der Zimmer und Flure ſtelle man aber Dienſtmägde an, dic 
bei Abweſenheit der Mannſchaften alles in Ordnung bringen. Das Ausgeben von ganzen Bro- 
ten ſollte man ſchon aus Sparſamkeitsrüͤckſichten vermeiden. Der Unterricht findet in einem 
beſondern Saale ſtatt, wo ſich zugleich eine Bibliothek befindet. Er ergehe ſich aber nicht 
in Weitſchweifigkeiten über Zimmerreinigen, Kleiderklopfen, Müllwegbringen, Achſelklappen 
uſw., ſondern er befaſſe ſich mit Rechnen, Geographie, Geſchichte, Kenntnis und Handhabung 
der Meßinſtrumente, Konſtruktion der Waffen. Das „Griffeklopfen“ fällt zum größten Teil 
natürlich weg. In Hauptſache beſteht der eigentliche Dienit in Abungen im Freien; Entfernung- 
ſchätzen, Patrouillen- und Wachdienſt, Orientieren nach Karten, Schießen und Turnen. Trotz 
dem iſt jeden Tag eine halbe Stunde ſtrammes Üben von nützlichen Griffen, wie z. B. das 
ererziermäßige Laden, nicht zu unterſchätzen. Der Soldat fei aber nicht in erſter Linie Parade- 
puppe. Ferner gönne man allen die nötigen Pauſen, beſonders für das Eſſen. Das Soldatenleben 
braucht wirklich nicht dem Hundeleben im Kriegsfalle fo ähnlich wie möglich geſtaltet zu werden. 
Ferner gehört in die Küche kein Militär-, ſondern Zivilperſonal, das genügend honoriert, beauf- 
ſichtigt und im Falle der Untüͤchtigkeit entlaſſen werden kann. Das Eſſen für Mannſchaften und 
Unteroffigiere fei gleich. Die Abendſtunden bleiben zur freien Verfügung einem jeden überlaffen. 

Die großen Scharfſchießübungen mit ihrem Barackenelend und Typhus, die Manöver 
mit ihren Biwaks ufw. find zum größten Teile überflüͤſſig. Mancher hat im fpätern Leben noch 
an den Folgen dieſer unſinnigen Anſtrengungen zu leiden. Schließlich: wenn alle die ndtigen 
Schulen durchlaufen hätten und das noch mehr nötige Geld beſäßen, würden wir in abſehbarer 
Zeit ein Heer beſitzen, das aus lauter Einjährigen beſteht. Das gibt zu denken. Meint man aber 
die fehlende Bildung durch ein jahrelanges Orillen und innern Oienſt erſetzen zu können? Es 
ſcheint fo. Ich behaupte aber: Weg mit dieſem Reſt aus mittelalterlicher Söldnerzeit! Zeder 


Anmutige Frauen! Startmutige Männer! 67 


deutſche Jüngling begrüße das Heranrüden feiner „Dienftzeit“ als eine Zeit freudigen Lernens und 
Schaffens; die Kaſerne muß eine Hochſchule der Vaterlandsliebe, Begeiſterung und Körperpflege 
werden, die alle gereifter, geſunder und zufriedener verlaſſen mögen, um mit derſelben Freude 
ihren alten Beruf wieder zu ergreifen. Dann follen fie das Gelernte anwenden. Zu Turn-, 
Spiel-, Schwimm; und Schützenvereinen follen fie fih zuſammenfinden. Weitere „Übungen“ (7 
find dann auch überflüffig. Und das Ende wird fein, daß unfer Kaiſer keine gedrillten Sklaven, 
ſondern freie, diſziplinierte Männer ins Feld führt, wenn je die Not es gebieten follte, was uns 
immer erſpart bleiben möge. W. H. in A. 


* 


Anmutige Frauen! Starkmutige Männer! 


Eine Tiſchrede 


s gibt ein Wort, wurzelecht und bodenſtändig, ehrenfeſt und dickfellig, derb und 
treu, das, zum Gruß geworden, eine Entartung erlebt hat. Es ift das Wort Mahl- 

| WE eit. Es gibt Leute, die fih den ganzen Vormittag oder gar noch länger mit dic- 
ſem Wort begrüßen, als wäre Eſſen und Trinken Sinn und Zweck ihres Lebens, der Inhalt 
ihrer Seele, das Ding an fic oder ein tiefer metaphyſiſcher Begriff. Da lobe ich mir den alten 
akademiſchen Brauch, guten Morgen zu ſagen auch über die Mittagslinie des Tages hinaus. 
Man wollte damit die Kraft, die Schönheit und den Segen des Morgens auch für die zweite 
Hälfte des Tages wünſchen. Es gibt einen Wunſch franzöſiſcher Herkunft, der etwas von der 
Oberflächlichkeit und Leichtigkeit feiner Heimat an ſich trägt. Ich meine das Wort: „A m ü- 
fieren Sie ſich, gutes Amüſement!“ Wieviel beffer und inhaltvoller der Wunſch: 
„Viel Freude!“ Denn zwiſchen beiden ift ein weiter ethiſcher und äſthetiſcher Abſtand. 
Das Amiifement wählt fic leichte, minderwertige Objekte; rechte Freude wendet fih wahrhaft 
würdigen Gegenſtänden, dem Wahren, Schönen, Edlen und Guten zu. Wer fic amüfiert, 
unterjchäßt oder vergleichgüͤltigt dabei die geiſtigen Werte, während man in der Freude die 
Erſtgeburt des Geiſtes feſtzuhalten, zu betonen und anzubauen weiß. Im Amüfement leidet 
der Wille Schaden, während die Freude nicht nur nicht eine Aushöhlung des Willens verſchul- 
det, ſondern in ſeiner Vertiefung und Verankerung die rechten Akzente findet und ſetzt. Das 
Amüfement zerſtreut und zerflattert, wahre Freude ſammelt und konzentriert. Das Amüfe- 
ment wirkt zerfloſſene, rechte Freude ſtarke Perſönlichkeiten. Jenes ift ſchließlich Monotonie, 
diefe Symphonie. Zene wirkt unklare, diefe einheitliche und ſtilvolle Individualitäten. Das 
Amüfement veräußerlicht, bindet und belaſtet. Wahre Freude verinnerlicht, macht frei und 
leicht. Im Amüſement erfolgt der Anruf der niederen Inſtinkte, in wahrer Freude die Aus- 
löſung der edlen, vornehmen Triebe. Freude fängt Sonnenlichter ins Gemüt ein und weiß 
fih aus ihnen ein Lichtkleid zu weben; wer fih nur amüfiert, legt Spinnengewebe und Wolken 
ſchatten Aber ſeine Stimmung. Rechte Freude ſchafft Sonntagskinder, wie denn überhaupt in 
der Freude echte Rindesart kund wird. Man kann ſich freuen wie ein Kind. Wie widerſinnig 
dagegen wäre die Rede: Man amüfiert ſich wie ein Kind! Oarum werden die Klaſſiker des 
Neuen Teſtamentes nicht müde, die Umartung in Kinderſinn mit dem größten Kinderfreunde, 
der je unter die Leute ging, zu preiſen und zu fordern. Wahre Freude hat olympiſchen Glanz, 
himmliſche Hoheit und Würde. Ihre ebenbürtige Schweſter ift währende Dankbarkeit; das 
Amfifement dagegen leidet in der Regel unter einem bitteren Bodenſatz im Gemüt, wo rechte 
Freude auf dem Goldgrunde ſonnenhafter Erfahrung und Erquickung ſich aufrichtet und Gott 
im Himmel Lieder ſingt. Afo fort mit dem Amüſement, aber allen den Wunſch: „Viel Freude!“ 

Lic. Dr. Gelderblom, Berlin 


N 


NS 
( A 


ie man in den Wald hineinruft, fo ſchallt's zurück. Man höre nach 
den überlauten Stimmen der „Rufer“ im Zirkus Buſch zu Berlin 
auch einmal das Echo. Im „März“ ſagt Dr. Heinrich Hutter der 
„ conſervativen Führung“ einige ausgeſuchte Liebens würdigkeiten: 
„Salluft hat die feine Beobachtung gemacht, daß eine Herrſchaft mit den 
Mitteln behauptet wird, mit denen ſie erobert wurde. Der preußiſche Adel hat 
ſeine Herrſchaft mit ungeiſtigen Mitteln erobert, darum ſucht er ſie mit ideenloſen 
Machtimpulſen und feudalen Ellenbogen zu bewahren. Weil aber jedermann das 
Bedürfnis hat, gewalttätige Aſpirationen ‚ethiſch“ zu beſchönigen, fo fagen die 
Durchſchnittsköpfe, fie feien „Raſſenmenſchen“, und der Staat habe ein Zntereſſe 
daran, daß die Herrenmenſchen oben bleiben. Weiter philoſophieren die wenig- 
ften; die andern find beglückt, wenn fie zufällig erfahren, daß ein deutſcher Philo- 
ſoph gefagt hat, ‚alles Beſtehende fei vernünftig“. Das erſcheint ihnen kerndeutſch, 
während es doch nur beſagt, daß die Einrichtungen ſo lange beſtehen, als nicht die 
Macht, die fie ſchuf, durch eine neue Macht verdrängt ijt; dann ift diefe ‚vernünf- 
tig“ und die frühere ,‚ unvernünftig“. 

Nun leben wir in einer Zeit, in welcher die Autorität der mechaniſchen Mit- 
tel unmerklich aber unverkennbar eingeſchrumpft iſt und der Staat nur jung bleibt, 
wenn er ſich junge Zdeen aſſimiliert. 

Diefem Geſetz und Gedankengang müßten mindeſtens die Klügeren unter 
den Konſervativen fih nicht verſchließen, fie müßten auch wiſſen, daß ihre Ideen 
nicht jung, ſondern alt find und der agrariſche Intereſſenkitt überhaupt keine „Idee“ 
iſt. Sie müßten alſo einen Rechtfertigungsgrund für die prätendierte politiſche 
Hegemonie ſchaffen, das heißt ein Verſtändnis für die ſtaatlichen Notwendigkeiten 
entwickeln wie für die Unmöglichkeit der Verdrängung höherer, zwingender An- 
ſchauungsreihen. | 

Dieſer Prozeß hatte allerſpäteſtens nach dem 13. Dezember 1906 einſetzen 
und, ſobald er einſetzte, ſich in den Perſonen der Führer ſpiegeln ſollen. Wer iſt 
aber der Kopf der konſervativen Partei im Reichstag und wer vermag einen 


Zürmers Tagebuch 69 


einzigen Mann zu bezeichnen, der dort Führertalent und ſtaatsmänniſche Eigen- 
ſchaften bewieſen hätte? Es iſt niemand da, rein niemand. Hie und da wird ein 
wenig vom preußiſchen Abgeordnetenhaus herüberregiert; aber die Herren, die 
in der Prinz Albrecht Straße als Staatsmänner gelten, geben nur Gaſtrollen im 
Reichstag und fühlen ſich hier offenſichtlich ſelbſt unſicher.“ 

So rage als „leitender Kopf“ der des Herrn von Oldenburg hervor, 
der zurzeit das große Wort führe. Er fei ein „glänzendes Exemplar für den Nach- 
weis der geiſtigen Impotenz der konſervativen Partei“ und verdiene darum eine 
beſondere Beſichtigung: 

„Kurt Maria Fürchtegott Elard von Oldenburg-Januſchau ift Nitterguts- 
beſitzer, Kammerherr und Rittmeiſter a. D. der Gardeulanen. Er behandelt die 
Politik wie den Militärdienſt und ſieht die Nationalliberalen wie Infanteriſten, die 
Sozialdemokraten wie Trainſoldaten an. Er redet wie bei einem Liebesmahl und 
bedauert immer, nicht mit einem Hurra, Hurra, Hurra! ſchließen zu können. Er 
arbeitet in Royalismus mit den unerhörteſten oder vielmehr mit den öfteſt gehör- 
ten Gemeinplätzen, aber er hat beobachtet, daß man mit dieſen oratoriſche Wir- 
kungen zu erzielen vermag, wenn man fie mit brüsker Unverfrorenheit und im ſporen- 
raſſelnden Kaſernenton von ſich gibt. Wegen dieſer beiden Eigenſchaften wird er 
von ſeinen Freunden als Hauptkerl beſtaunt, und das hebt ſein Selbſtbewußtſein, 
das laut Verſicherung von Kennern ſeiner Lebensgewohnheiten durch „Lektüre“ 
nicht gedrückt ijt. 

Er hat auf der Tribüne mit Stolz verkündet, daß er in der Armee nie ein- 
geſehn habe, wozu es überhaupt einen Reichstag gebe, und daß er einfach ſeinem 
königlichen Herrn durch dick und dünn zu folgen entſchloſſen ſei. So hat er auch 
am 11. Dezember 1908 ein paar Sätze von fic) gegeben, die wie eine Verteidigung 
des abſoluten Regimentes hätten ausſehen follen, aber fo unklar und ſchlecht am 
Platze waren, daß ſelbſt die antiliberale , Tägliche Rundſchau“ die konſervative Par- 
tei durch die Unzulänglichkeit dieſes Schildknappen kompromittiert nannte. 

Dieſer Kurt Maria Fürchtegott erklärt — phraſendurſtig, wie es alle gedanken 
armen Redner find — die Nachlaßſteuer für einen ‚Stoß ins Herz der Landwirt- 
haft‘, obgleich fie die kleinen und mittleren Bauern überhaupt nicht trifft. Gleich 
dernach verrät er den tieferen Beweggrund in den denkwürdigen Worten, er wolle 
„das Portemonnaie der Beſitzenden nicht den Beſitzloſen ausliefern“. Er protla- 
miert damit als konſervatives Programm in den Tagen des Reichs-Finanzkrachs 
den Schutz der Beſitzenden gegen neue Steuern! Er will aus dem Portemonnaie 
der Unbemittelten immer mehr Pfennige durch Konſumſteuern herausholen, um 
das Portemonnaie der Beſitzenden geſchloſſen halten zu können. 

Fürchtegott von Oldenburg in Januſchau ſperrte im Januar 1909 dem 
Miniſterpräſidenten Bernhard von Bülow in der Wilhelmſtraße das übliche Be- 
grüßungstelegramm und warf ihm in Danzig den Fehdehandſchuh hin, mit der 
Bewegung des Ritters Don Quixote. Bernhard von Bülow jedoch mußte ihm, 
gleichfalls im Januar 1909, einen Roten Adler dritter Klaſſe umhängen als 
Belohnung fiir ſeine hervorragenden politiſchen Leiſtungen. Das iſt der Humor, 

das iſt der grimmige Hohn der Berliner Politik von heute. 


70 | Zürmers Tagebuch 


Herr von Oldenburg ift aus demſelben Holz wie der frühere Miniſter von Pod- 
bielski, der auch als Reichstagsabgeordneter und Miniſter völlig verſagt hat, jetzt 
aber gleichfalls die Stimme gegen den armen Fürſten Bülow erhebt, deffen Staats- 
kunſt fic) durch die Verbeugungen retten muß, die er auf den agrariſchen Zubel- 
feſten zu machen die Geſchicklichkeit beſitzt. 

Als Dritter im Bund erhebt Karl Friedrich Georg von Treuenfels, Mitglied 
der mecklenburgiſchen Ritterſchaft, die tönende Stimme für die tonfervative Par- 
tei. Der Mecklenburger ruft im franzöſiſchen „Matin“ wehe über die projektierte 
und in Elſaß-Lothringen längſt beſtehende Erbſchaftsſteuer: „En effet, nous n'y 
voyons que idée socialiste; celle de Pexpropriation!“ 

Man wende nicht ein, der Reichstagsabgeordnete von Treuenfels gehöre zu 
den kleineren Geiſtern. Er iſt mit ſeinem banalen Argument, das gegen jede 
Steuer geltend gemacht werden kann, — der reine Typus der „Führenden“. 

Auch in der jüngſten Führerrede des Freiherrn von Richthofen - Damsdorf 
ließ ſich kein politiſcher Lichtblick, tein lucidum intervallum in der konſervativen 
Blindheit entdecken. Dieſer Staatsmann, der jeweils mit Unterftigung des Zen- 
trums in den Reichstag gelangt, plädiert für einen neuen Pakt mit den Schwar- 
zen und iſt bereit, den Fürſten Bülow, der kein Zentrumskanzler, mit dem Kaiſer, 
der kein Zentrumskaiſer ſein will, in den Schloßhof von Kanoſſa zu führen, nur 
damit das Portemonnaie des Großbeſitzes vor der Beiſteuer zur Deckung des 
Reichsdefizits möglichſt verſchont werde. Herr von Richthofen ift derſelbe naive 
Staatsmann, der jetzt vor einem Jahr bei einer vertraulichen Beſprechung die 
Frage an den Fürſten Bülow geſtellt hat: ‚Aber was haben denn wir Konſervativen 
von Ihrer Politik?“ worauf ihn Bülow anſah und erwiderte: „Meine Erklärung 
vom 10. Januar!“ Diefes authentiſche Geſpräch ijt charakteriſtiſch für beide Herren. 
Dem konſervativen Führer war es gänzlich entgangen, welchen ungeheuern Dienſt 
der Kanzler unmittelbar zuvor feiner Partei durch die proklamierte Ronfervie- 
rung des Dreiklaſſenwahlrechts geleiſtet hatte, auf dem die töner- 
nen Füße der konſervativen Partei ſtehen. 

Man mag alſo die Stichproben machen, wo man will, — man zieht nirgends 
Treffer. Die konſervative Partei hat keinen Kopf und hat keine Köpfe. Das wiſſen 
die konſervative Partei und das Parlament, das weiß der Reichskanzler, und auch 
dem Kaiſer kann man es auf die Dauer nicht verheimlichen. 

Und weil die konſervative Partei trotzdem herrſcht, deswegen herrſcht die 
Kopfloſigkeit. Daran leidet unſere Reichspolitik, das verſchuldet die falſche preußiſche 
Politik, das ſchädigt die auswärtige Reichsvertretung und das verhunzt die Reichs- 
finanzreform.“ | 

Nicht ohne entgegenkommendes Verſtändnis äußert fid ein Süddeutſcher in 
der „Berliner Volkszeitung“: 

„Der Herr von Januſchau, der oſtelbiſche Junker v. Oldenburg, ift von einer 
wahrhaft erfriſchenden Unbefangenheit, tritt in Waſſerſtiefeln auf und macht aus 
feinem Junkerherzen keine Mördergrube. Man weiß, woran man mit ihm ift, 
unverhüllt trägt er ſeinen Klaſſenegoismus zur Schau. Er glaubt an das ‚alte 
Preußen“, und daß bei Zena nicht die Junker eine moraliſche Niederlage erlitten 


Zürmers Tagebuch 71 


haben, ſondern das preußiſche Volk ſelbſt. Daß ſeine jüngſten Offenherzigkeiten 
gerade bei der Debatte über die Nachlaßſteuer, alfo bei einer Sache, bei der auch die 
preußiſchen Zunker einmal ausnahmsweiſe etwas für den Staat opfern ſollen, 
hervortraten, läßt feine Unbefangenheit in beſonders erheiternder Art erſcheinen. 

Alſo ohne Preußen ijt das Reich nichts, ohne dieſes geht es unter der Füh- 
rung der ſüddeutſchen Demokraten ‚einer dunklen Zukunft entgegen“ — und das 
alles wegen der vermaledeiten — Nachlaßſteuer!! Und weil Fürſt Bülow keinen 
Grundbeſitz bei Tilſit oder Rummelsburg beſitzt, kennt der Reichskanzler die „For- 
derungen des Volkes nicht. 

Um fo beffer kennt der Herr von Januſchau die „Forderungen des Volles“, er 
beſitzt zwar unſeres Wiſſens keinen Grundbeſitz bei Rummelsburg, aber doch in Weft- 
preußen — und das genügt, um die Fühlung mit dem Volke nicht zu verlieren 

Der Herr von und über Zanuſchau hat ein kindliches Gemüt, das in ſeiner 
Einfalt ahnt, was dem Reiche und Preußen bevorſteht, wenn die ſüddeutſchen 
Demokraten einmal das Heft in die Hände bekommen ſollten; er ahnt ganz richtig, 
daß es dann mit der Herrſchaft des preußiſchen Junkertums im Reiche aus ift. 

Neuerdings heißt es, daß der Herr von und über Januſchau in den Reihen 
der Konſervativen nicht ernſt genommen werde. Bei manchen preußiſchen Hod- 
tories, die lieber in eleganten Lackſtiefeln einherſchleichen, ſtatt in Waſſerſtiefeln 
daherzuſtampfen, daß man es überall hört, mag der naive Junker Herr v. Olden- 
burg vielleicht als ein „‚Schreckenskind“ geſchätzt werden, aber daß er nur ausge- 
ſprochen hat, was ſeine Kaſte denkt und wünſcht, hat ihm ein anderer Junker, 
Herr v. Treuenfels, ausdrücklich teſtiert. 

Was ijt die Wahrheit? Solange den Konſervativen der Reichsblock mate- 
riell wie ideell keine Opfer auferlegt, ſo lange dulden ſie ihn; wenn aber für das 
Reich in feinen finanziellen Nöten von den Zuntern auch einmal ein Opfer gebracht 
werden foll, dann pfeifen fie auf den ganzen Reichsblock und malen dem angit- 
erfüllten „Volk“ um Gut, Januſchau und Rummelsburg die furchtbare Jakobiner 
herrſchaft der, ſüddeutſchen Demokraten“ an die Wand. Nun, Liebe erweckt Gegen- 
liebe, und wenn die Herren von ZJanuſchau, Treuenfels und ähnlichen oſtelbiſchen 
Kleinſtaaten in einer Herrſchaft der ‚Jüddeutfchen Demokraten“ eine „dunkle Zu- 
kunft“ des Reiches ſehen, fo fei ihnen ebenſo aufrichtig gejagt, daß die ‚ſüddeutſchen 
Demokraten“ der Meinung ſind, daß das Reich ſo lange nicht aus ſeinem politiſchen 
und wirtſchaftlichen Sumpfe kommen wird, ſolange die preußiſchen Junker in 
Preußen und damit logiſcherweiſe auch im Reiche in der Vorherrſchaft ſind. 

Und nun gar noch die preußiſche Wahlreform! Das bedeutet 
den ſicheren Untergang des alten Preußen! Hoher Kornzoll, Dreiklaſſenwablrecht 
und ſonſtige Privilegien des Junkertums, das ſind die ſtarken Felſen, auf denen 
Preußen und das Reich ruhen und ohne die die ‚dunkle Zukunft“ mit den ,fid- 
deutſchen Demokraten‘ nicht mehr zu verhüten ift, natürlich auch nicht mehr — fo 
ſchwatzen die Konſervativen — der Sturz der Monarchie! Es war derſelbe 
Herr von Janufdau, der einſt den Bundes fürſten den Rat gab, ſich 

Sturmbänder an ihre Kronen machen zu laſſen, damit ſie ihnen 


nicht herunterfielen 


72 Zürmers Tagebuch 


Ohne Preußen kein Reich — das ift zweifellos ein wahres Wort, aber 
nicht minder wahr ijt aud, daß das ‚alte Preußen“ mit feinem Dreiklaſſenwahl- 
recht und der Zunkerherrſchaft für das Reich ein Schwergewicht darſtellt, das 
ihm den freien Gang unmöglich macht. Erſt ein neues Preußen mit einer freien 
Volksvertretung, ohne Junkervorherrſchaft, wie es ſchon vor über hundert Jahren 
die Scharnhorſt, Gneiſenau, Stein, Hardenberg, Fichte und andere wahre Patrioten 
es fic) vorgeſtellt hatten, wird dem Reiche fein, was es ihm fein follte: Die Vor- 
macht des Volksſtaates Deutſches Reich.“ 

Der „Vorwärts“ macht aus feinem Herzen erft recht keine Mördergrube. 
Die preußiſche Regierung ift nach ihm „überhaupt“ eine Anomalie unter den Re- 
gierungen der europäiſchen Kulturſtaaten: „Obgleich die mittelalterliche Feudal- 
wirtſchaft in einzelnen dieſer Staaten weit größere Reſte hinterlaſſen hat, als in 
Preußen, deſſen weſtliche Provinzen zu den induſtriell entwickeltſten der Welt 
gehören, hat fic) doch nirgends das feudal⸗ſtändiſche Weſen und die feudal-jtändifche 
Auffaſſung einen entſcheidenderen Einfluß auf die Staatsverwaltung geſichert, 
als im Lande der Hohenzollern. Nicht die Bedürfniſſe der für das ſtaatliche Wirt- 
ſchaftsleben maßgebenden, kulturell am höchſten ſtehenden weſtlichen Landes- 
gebiete beſtimmen die Richtung der offiziellen preußiſchen Politik, ſondern die 
Intereſſen des Großgrundbeſitzes in den rückſtändigſten, wirtſchaftlich unfelbitän- 
digen öſtlichen Teilen des Staatsgebietes. Es gibt kein Land Europas, von Spa- 
nien bis Norwegen, in dem der Großgrundbeſitz in gleichem Maße die Krone, 
die Bureaukratie, das Heer, die Geſetzgebung beherrſcht und in dem zugleich dieſe 
herrſchende Schicht geiſtig und wirtſchaftlich ſo wenig für die Entwickelung des 
Landes bedeutet, wie in Preußen. Tatſächlich wäre das Zunkertum Oſtelbiens 
längſt bankerott, wenn es nicht auf Volkskoſten, das heißt auf Koſten der arbeiten- 
den Volksſchichten, die es beherrſcht und deren Anteilnahme an der Geſetzgebung 
es mit allen Mitteln zu hindern ſucht, künſtlich konſerviert würde, und wenn nicht 
ferner für die Sprößlinge der Zunkerfamilien alle gutdotierten Poſten des inneren 
Verwaltungsdienſtes wie der Armee und des diplomatiſchen Dienſtes reſerviert 
blieben. Würde heute die wirtſchaftliche Geſetzgebung Englands, Belgiens, Hol- 
lands oder irgend eines anderen europdifden Kulturlandes auf Preußen über- 
tragen, die Junkerherrlichkeit bräche unhaltbar in fih zuſammen. Nur durch die 
agrariſche Zollgeſetzgebung, die offenen und verſteckten Ausfuhrprämien, Steuer- 
privilegien, Staatsdotationen und die Refervierung der hohen Staatspoſten fiir 
den oſtelbiſchen Grundadel wird ſie aufrechterhalten. 

So iſt es heute eine Tatſache in Preußen, daß ſeine regierende Schicht aus 
eigener wirtſchaftlicher Kraft nicht mehr zu exiſtieren vermag, ſondern auf Koſten 
derer ernährt und erhalten wird, die eine der ſchönſten Zierden der preußiſchen 
Sunterfafte, der preußiſche Finanzminiſter Freiherr v. Rheinbaben, in komiſcher 
Verkennung ſeiner eigenen Bedeutung und der wirtſchaftlichen Impotenz der 
Junkerkaſte aufforderte, aus Preußen auszuwandern, wenn ihnen deffen Regi- 
ment nicht gefiele. Ein Rat, der, wenn er befolgt würde, den Zuſammenbruch der 
ganzen preußiſchen Staatsherrlichkeit zur Folge hätte, während die Auswanderung 
des Freiherrn v. Rheinbaben und feiner Geiftesperwandten nach den Gefilden 


Züürmers Tagebuch 73 


der neuen Welt lediglich bewirken würde, daß ſich das geiſtige Niveau der höchſten 
preußiſchen Beamtenſchicht etwas höbe und auf dem amerikaniſchen Arbeitsmarkt 
den Hotelbedienfteten, Tang- und Reitlehrern eine neue ſtarke Konkurrenz entftünde. 

Se mehr aber das Junkertum zu einer nur noch durch Staatsdotationen 
exiſtierenden Kaſte, zu einem Hindernis für die kulturelle Entwickelung Preußens 
und damit ganz Deutſchlands wird, deſto mehr ſucht es ſich die Stützen ſeiner 
Macht zu erhalten. Deshalb ſeine Vorliebe für den Militarismus und fiir feudale 
Offizierkorps, für die Konſervierung eines unter junkerlich-höfiſchem Einfluß ftehen- 
den perſönlichen Regiments, für landrätliche Regierungsbureaukratie. Deshalb 
ſein Widerwille gegen jedes Zugeſtändnis an das parlamentariſche Regime, gegen 
das Eindringen nicht feudaliſtiſcher Elemente in die oberen Schichten der Bureau- 
tratie und des Offizierkorps. Deshalb vor allem fein Kampf gegen jede Erweite- 
rung des preußiſchen Dreiklaſſenwahlrechts, die den arbeitenden Volksſchichten 
irgendwelchen namhaften Einfluß auf den preußiſchen Landtag verſchaffen könnte. 

Nach der Anſicht der Junker ift es ſchon ſchlimm genug, daß für den Reichs- 
tag das allgemeine Wahlrecht gilt. Deſſen Beſeitigung iſt daher einer ihrer heißeſten 
Herzenswünſche. Da fih aber die Abſchaffung des Reichstagswahlrechts nicht ohne 
weiteres vornehmen läßt, ſo muß nach ihrer Meinung dem Reichstag in einem von 
der Junkerkaſte beherrſchten preußiſchen Abgeordnetenhauſe ein feudal-ſtändiſches 
Gegengewicht entgegengeſtellt, und die Kompetenzen dieſes Hauſes müſſen mög- 
lichſt erweitert werden. Je mehr aber das Junkertum darauf hinarbeitet, das 
preußiſche Abgeordnetenhaus als Stütze feiner Machtſtellung in Preußen und über 
dieſes hinaus im Reiche auszubauen, deſto dringender ergibt ſich nicht nur für das 
durch eine feile Intereſſengeſetzgebung zur Unterhaltung der Junker gezwungene 
Volk, ſondern nicht minder für alle ... den kulturellen Fortſchritt der Nation er- 
ſtrebenden buͤrgerlichen Elemente das Gebot, dieſes Bollwerk junkerlicher Reaktion 
zu ſtuüͤrzen und den arbeitenden Klaſſen die ihrer Zahl und Bedeutung entſprechende 
Vertretung im preußiſchen Parlament zu ſchaffen 

Mögen ſie — von ihrem Standpunkte aus mit Recht — gegen eine ſolche 
Kritik aufbegehren: lernen follten die Herren doch aus ihr. „Man hat den Ron- 
ſervativen“, — das ſchreibt ein bekannter konſervativer Publiziſt in der 
„Täglichen Rundſchau“, „früher oft den Vorwurf gemacht, daß ſie der Regierung 
gegenuber nicht ſelbſtändig genug ſeien. Daß das nicht immer zutraf, geht ſchon 
daraus hervor, daß auch oft genug von einer konſervativen Fronde die Rede ge- 
wefen ift. Aber ſchon aus der Art dieſer Vorwürfe ift zu ſehen, daß das Verhält- 
nis dieſer Partei zum Staat anders gedacht wird als das jeder andern. Ob das 
Intereſſe des Staats immer richtig verſtanden worden ift, kommt dabei nicht in 
Frage. Zedenfalls aber iſt bei den Konſervativen immer das Streben vorhanden 
geweſen, das, was man wollte, nicht aus willkürlich aufgeſtellten Parteiprinzipien, 
ſondern aus dem Intereſſe des Staates abzuleiten. An der 
Art, wie das geſchah, konnte viel auszuſetzen ſein. Man konnte dieſe Taktik egoiſtiſch, 
rüdjichtslos, engherzig, rüdftändig finden und vielleicht noch alles mögliche dazu, 
aber fie war in ihrer Art fachlich und von Staatsgefühl durchdrungen. Wenn der 
Staat f o n jt in einer Notlage an die Ronfervativen alten Schlages herangetreten 


74 Zürmers Tagebuch 


wäre und von ihnen die Zuſtimmung zur Nachlaßſteuer verlangt hätte, mit der 
Begründung, daß dies der einzige gangbare Weg ſei, um die Sache zuſtande zu 
bringen, ſo hätten ſie gewiß an den gemachten Vorſchlägen noch viel geändert und 
alles getan, um ſie mit den Sonderintereſſen der von ihnen bevorzugten Kreiſe 
in Einklang zu bringen, aber ſie hätten es verſchmäht, in einer ſolchen Lage dem 
Staate mit dem einzigen Hinweis auf ihre Parteiprinzipien und auf die drohende 
Ungnade ihrer Wähler entgegenzutreten. Das überließen fie früher den Dottri- 
nären auf der Linken. Heute foll diefe Methode für tonfervativ gelten.“ 

Wie man auch über die Partei denken mochte: — Demagogentum 
konnte man ihr früher nicht vorwerfen. Das hat fidh leider geändert, nachdem 
fich die Konſervativen von der rein- agrariſchen Intereſſenvertretung des Bundes 
der Landwirte ins Schlepptau haben nehmen laffen. Auch diefe Sntereffenvertre- 
tung hat, wie jede andere, ihre Berechtigung — in gewiſſen Grenzen. Aber 
dieſe Grenzen find längft überſchritten, und die Organiſation 
iſt im Begriff, ſich zu einer öffentlichen Gefahr auszuwachſen. Oas wird bis 
tief in konſervative Kreiſe hinein auf das bitterſte empfunden. Wer über dieſe 
Entwicklung noch im unklaren ſein konnte, dem wird die ebenſo ſkandalöſe wie 
bezeichnende Behandlung, die der bedeutendſte wiſſenſchaftliche Vertreter 
agrariſcher Intereſſen, der Profeſſor Adolf Wagner, von feinen ,,Gefinnungs- 
genoſſen“ über fih ergehen laffen mußte, die Augen geöffnet haben. Die 34. Ge- 
neralverſammlung der agrariſchen Steuer- und Wirtſchaftsreformer hat ſich mit 
dieſem Ruhm bedeckt. Und das, weil der greiſe Gelehrte ſich dort, im Gegenſatz 
zu ſeinem Vorredner Profeſſor Gerlach, des Verbrechens ſchuldig machte, für die 
Nachlaßſteuer einzutreten: 

„Ich fage ganz keck heraus, die Nachlaß und Erbſchaftsſteuer halte ich für 
notwendig, da wir keine beſſeren direkten Steuern im Oeutſchen Reiche erhalten 
können. (Lebhafter Widerſpruch.) Eine beſſere Steuer wäre eine 
direkte Einkommen- und Vermögensſteuer, aber die können wir aus den bekannten 
Gründen nicht einführen. In dem Gerlachſchen Vortrag habe ich etwas vermißt: 
er hat immer nur mit den beſtehenden indirekten Steuern gerechnet und nicht mit 
den neuen indirekten Steuern, die kommen ſollen. Hätte er das getan, würde er 
abermals eine ſtarke Belaſtung der Maſſen haben konſtatieren müffen. Darüber 
ging er aber hinweg. Er fagte, es wäre eine Frage, daß die indirekten Verbrauchs; 
ſteuern die Maſſen belaſten. In der Tat aber wird relativ die Maffe der Bevölke⸗ 
rung viel ſchwerer getroffen als die wohlhabenden Klaſſen. (Lebhafter Wider- 
ſpruch.) Darüber kann kein Zweifel fein. Die unentbehrlichen und notwendigen 
Agrarzölle haben auch bei uns im Durchſchnitt zur Erhöhung der Preiſe geführt, 
und diefe Erhöhung machte fih wieder bei den Maſſen fühlbar. (W id erf p ru d.) 
Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß, wenn wir auf das Einkommen des klei- 
nen und mittleren Mannes die indirekten Verbrauchsſteuern abrechnen, wir re- 
lativ eine viel höhere Summe bekommen als bei den Wohlhabenden und Reichen. 
(Stürmiſcher Widerſpruch.) Was iſt es aber, was bei dem kleinen 
Mann als freies Einkommen übrigbleibt? Es bleibt ihm für beſſere materielle 
oder geiſtige Genuͤſſe überhaupt nichts übrig. (St ür miſcher Widerfprud; 


- . w + 


Zürmers Tagebuch 75 


Ohorufe; Zuruf: 5 Glas Bier täglich) Wir müſſen doch daran 
denken, daß in Deutſchland Hunderttauſende von Menſchen ein Einkommen von 
unter 900 M haben, das ſteuerfrei bleiben muß. (Zuruf: Ungeredhter- 
weiſeh Es fragt ſich, ob es ungerechterweiſe iſt. Was bleibt aber nach Abzug 
der notwendigen Genußmittel beim kleinen Mann übrig, während die wohlhaben- 
den Kreiſe ein viel größeres freies Einkommen haben? (Stürmiſcher Wider- 
ſpruch.) Die Hälfte bleibt den Wohlhabenden für Luxuszwecke übrig, während 
der kleine Mann nichts hat. (Erneuter ſtürmiſcher Widerſpruch.) 

Dieſer Geſichtspunkt hat nun glücklicherweiſe auch in Regierungskreiſen An- 
erkennung gefunden. (Zuruf: Leider! leider) Pie Regierung ſteht auf 
dem richtigen Standpunkt, und ich bin ein Mann der Theorie und Wiſſenſchaft. 
(Stürmiſches Hohngelächter.) Lachen Sie nicht darüber! Die Theo- 
rien, die Sie verfechten, ſind auf Ihre eigenen kleinen Anſichten zugeſchnitten. 
(Erneuter ſtürmiſcher Widerſpruch.) Direkte Steuern im Reich 
können wir ſonſt nicht einführen, und es bleibt keine andere Steuer übrig. (Zu- 
ruf: Luxusſteuer!) Mit der Luxusſteuer werden Sie nichts erreichen, außerdem 
wird fie nichts einbringen. (Zuruf: Kohle, Kohle !) Wenn Sie die Kohle beſteuern, 
werden Sie auch nicht den eigentlichen Beſitz als ſolchen treffen, der getroffen wer- 
den ſoll. (Stürmiſcher Widerſpruch.) 

Was gegen die Erbſchaftsſteuer eingewendet werden ſolle, halte ich nicht 
für richtig. Ich habe das feit langen Jahren als Mann der Wiſſenſchaft vertreten. 
(Lachen.) Ich glaube, die große Mehrheit meiner theoretiſchen Fachgenoſſen 
für mich zu haben. (St ür miſches Hohngelächter.) Darauf legen Sie 
keinen Wert, das weiß ich, ich berufe mich aber auf die Praxis. Welche Staaten 
haben die Erbſchaftsſteuer eingeführt? England, das die höchſte Einkommen- 
ſteuer hat. (Zuruf: Aber es hat keine Vermögensſteuer!) Nun, die Erbſchafts⸗ 
ſteuern bringen in England allein 400 Millionen. In Frankreich ſehen Sie den- 
ſelben egoiſtiſchen Rampf der Beſitzenden gegen die Beſteuerung des Beſitzes. 
(Stürmiſche Ohorufe.) Vorzugsweiſe lehnt fih dort die Bourgeoiſie 
dagegen auf. Außerdem hat Frankreich andere Steuern, die koloſſal wirken. Und 
gehen Sie nach Oſterreich, da haben Sie eine neue Einkommenſteuer und außer- 
dem die Erbſchaftsſteuer. Die hier vorgebrachten Einwendungen führte man auch 
dort an, trotzdem wurde die Erbſchaftsſteuer angenommen. (Leider!) Es wurde 
nicht erwähnt, daß die Nachlaßſteuer erft von 20 000 & an erhoben wird, daß der 
größte Teil des bäuerlichen Kleinbeſitzes ſteuerfrei bleibt, und daß bei 20 000 M 
100 & gezahlt werden follen und in ein paar Raten. Da kann man doch nicht fagen, 
daß der Familienſinn geſtört wird, daß der Sohn nun nicht mehr erben will. Das 
ſind Phraſen, mit denen man alles widerlegen könnte. (Widerſpruch.) 

Man ſagte, das mobile Kapital wird ſich drücken. Nun, da haben wir die 
Kontrolle durch die Einkommenſteuer. (Widerſpruch.) Man ſollte außerdem 
die Steuerhinterziehung nicht nur mit Geld, ſondern auch mit Gefängnis beſtrafen. 
(Sehr richtig) Wenn der kleine Mann immer fagt, ihr beſteuert mein Salz, mein 
Bier, meinen Branntwein, das bißchen Kaffee und Zucker, alles, was ich genieße, 
und wenn ihr nun auch einmal etwas bezahlen ſollt, dann 


76 Zürmers Tagebuch 


erklärt ihr ein rundes Nein, was foll ich ihnen dann erwidern? (Stürmiſches 
Gelächter.) Es iſt kein Ruhm für das preußiſche Herrenhaus, daß es feiner- 
zeit bei der Miquelſchen Steuerreform 4 % Einkommenſteuer von 100 000 M ab 
ablehnte, da konnten die kleinen Leute ſagen: Das tut ihr in Konſequenz 
eueres Patriotismus. (Große Anruhe.) Sobald ihr ernſtlich zab- 
len ſollt, kommt ihr mit Einwendungen. So kann es nicht weitergehen. Ich habe 
meinen Standpunkt vertreten; wenn Sie darauf nicht mehr Wert legen, als Sie 
ſonſt zu tun pflegen bei einem Mann der Wiſſenſchaft .. (Große Unruhe, 
in Der die nachfolgenden Worte des Redners verloren 
gehen.) Aber ich habe meine Pflicht getan, ich ſtehe hier und ich kann nicht 
anders. Ich halte die Nachlaßſteuer fir gut und richtig, wir brauchen direkte Steuern 
für die wohlhabenden Klaſſen. (Erneute Schlußrufe.) Wenn wir die 
Finanzreform wollen, die politiſch und ſozial richtig durchgeführt iſt, dann können 
wir von einer direkten Beſitzſteuer nicht abſehen. Deshalb möchte ich Sie bitten, 
die Nachlaß und Erbſchaftsſteuer nicht unbedingt abzulehnen. Sie haben keine 
andere Steuer. (Stürmiſche Ohorufe; Zurufe: Verbrauchs- 
ſteu ern!) Sie können nicht von neuem alles auf die Verbrauchsſteuern ab- 
wälzen. Direkte Steuern müſſen geſchaffen werden, deshalb hoffe und wünfche 
ich, daß die Nachlaß und Erbſchaftsſteuer eingeführt werde.“ (Stürmiſche 
Widerſprüche; Ziſchenz vereinzelter Beifall.) 

„Dem ehrwürdigen, ehrlichen und unermüdlichen Forſcher,“ fo faßt Naumann 
in der „Hilfe“ den Eindruck zuſammen, „der erſten Leuchte der Finanzwiſſenſchaft, 
hat man Szenen gemacht, als ob es fih um irgendeinen hergelaufe- 
nen Nichtswiſſer handle. Von Achtung vor einem langen Leben voll an- 
geſtrengteſter Gedankenarbeit keine Spur! Und gerade dieſer Adolf 
Wagner hatſeinen Schild fo oft über die Junker gehalten. In zahl- 
loſen Debatten hat er fie verteidigt; er war der wiſſenſchaftliche Vertreter des Zoll- 
gedankens. Alle Zöller auf der ganzen Erde arbeiten mit feinen Studien und Be- 
hauptungen. Geht hin zu den literariſchen Vertretern Chamberlains in England, 
fie machen Auszüge aus Wagner. Wenn wir in Oeutſchland gegen die Zollerhöhun- 
gen gekämpft haben, da war das Stärkſte, was man uns entgegen- 
werfen konnte, die Autorität dieſes Mannes. Er tat es nicht, um 
Dank und Lohn zu haben, denn wenn je ein Profeſſor, dem man den Titel Exzellenz 
angehängt hat, frei war von Kniebeugungen, ſo war er es. Ihn achten alle ſeine 
Gegner, ihn achten die Demokraten und Sozialdemokraten, obwohl er ein ton- 
fervativer Geheimrat ift, weil er ein ganzer Kerl ift, aber feine eignen Par- 
teigenoſſen ziſchen ihn aus und treiben ein Luderſpiel 
mit ihm, weil er für eine Steuer ift, die die Konſervativen früher felber 
gefordert haben 

Wer in der Welt war berechtigter, den Konſervativen die Staatspflicht der 
Wohlhabenden vorzuhalten, als gerade er? Wie oft hat vorher Wagner den arbei- 
tenden Klaſſen vorgehalten, daß es ohne ſtarke Beſteuerung der Getränke und 
Maſſenbedürfniſſe nicht abgehe! Sooft er das tat, iſt er bekämpft worden, 
aber nicht beſchimpft. Nun aber, wo er ſich auch einmal nach oben hin 


Fürmers Tagebuch 77 


wendet und von den Pflichten des Beſitzes redet, da bäumt ſich die Wut der 
‚Staatserbaltenden‘ gegen ihn in die Höhe, und fie lachen dem alten Mann in fein 
feſtes, gedankendurchfurchtes Angeſicht und rufen: Schluß! Er aber geht nach 
Hauſe und denkt darüber nach, was heute konſervativ heißt. 

Was heißt es denn? Es heißt: Wir wollen vom Staate erhalten werden! 
Der Staat iſt dazu da, die gutsherrliche Gerichtsbarkeit zu ſchützen, die ftandes- 
herrliche Steuerfreiheit zu bewahren, die Grundrenten zu erhöhen, die Getreide- 
preiſe zu ſteigern, den Adel in die beſten Stellen zu bringen, aber ſobald der Staat 
auch von ihnen etwas haben will, da brüllen ſie wie Ochſen, die gebraten werden 
ſollen, da ſtellen ſie ſich ſelbſt um den beſten ihrer eignen Wiſſenſchaftler herum 
und verlachen ihn. So lächerlich iſt es ihnen, daß ſie etwas 
leiſten follen. Eine vornehme Geſellſchaft!“ 

Wahrlich, ein gefundenes Freſſen, ein Dauerfutter für den „Simpliziſſi- 
mus“, der denn auch nicht ermangelt hat, das „Ereignis“ gleich in zwei ſaftigen 
Feſtgedichten freudetrunken zu feiern. 

Und der Grund dieſes Deſperadotums? Nun, wir wiſſen's ja: die nie 
ruhende Sorge um das teure „deutſche Gemüt“, das teure „deutſche Familien- 
leben“, das von der Nachlaßſteuer „mit rauher Hand zerſtört“ würde. Der kon- 
ſervative Profeſſor Hans Oelbrück lieſt's freilich anders. Und wie anders! 
In den „Preußiſchen Jahrbüchern“ ſpricht er fih darüber mit aller nur wünfchens- 
werten Deutlichkeit aus: 

„Die Einwände ethiſcher und gemütlicher Art, die man da- 
gegen erhoben bat, find völlig gegenſtandslos und durch die Erbichafts- 
ſteuern, die in deutſchen Cingelftaaten bereits beſtehen, auch praktiſch widerlegt, 
und daß in irgendeiner Form neben den indirekten Steuern, die die Maſſen be- 
laſten, auch eine Heranziehung des Beſitzes ſtattfinden ſolle, war von Anfang an 
unter den Blodparteien abgemacht. Weshalb alfo widerſetzt fic jetzt ein Teil die- 
ſer Parteien, die doch im Prinzip gewiß die Reform wünſchen, dieſer einfachſten 
und natürlichſten Löſung? Als man an das Problem dieſer Finanzreform heran- 
trat, durfte man glauben, gerade an dieſer Stelle den geringſten Schwierigkeiten 
zu begegnen, da man ja auf der einen Seite ſogar die Sozialdemokraten dafür 
haben konnte und auf der anderen die Organe des Bundes der Landwirte, die 
„Deutſche Tageszeitung“ und das „‚Politiſche Handbuch“ des Bundes fih für diefe 
Steuerreform ausgeſprochen hatten. Gerade der Bund der Landwirte aber hat 
ſich jetzt zum Mittelpunkt des Widerſtandes gemacht, und das iſt nicht ſo ganz 
unnatürlich. Der Bund der Landwirte ift ein demagogiſches In- 
titut, und die Führer jeder Demagogie müſſen ihr Beſtreben immer darauf 
gerichtet haben, ihre NMaſſen durch Anregung einer Leidenſchaft 
oder eines materiellen Intereſſes zuſammenzuhalten. 
Die Reichsſteuerreform ijt von vornherein darauf angelegt, die agrariſchen In- 
tereſſen nach Möglichkeit zu ſchonen, aber den Führern des Bundes der Landwirte 
darf das nicht genügen. So wie ihnen bei den neuen Handelsverträgen die un- 
geheure Erhöhung der Agrarzölle noch immer nicht ge 
nügte, ſondern fie aufs äußerſte dagegen kämpften, um bei ihren Anhängern 


78 Zürmers Tagebuch 


den Schein zu erweden, als ob nod) mehr zu erlangen möglich gewefen wäre, fo 
fanden fie jetzt den Punkt, wo die Intereſſenoppoſition einzuſetzen hatte, in der 
Nachlaßſteuer heraus, um von der Landwirtſchaft auch diefe minimale Laft ab- 
zuwenden. Man denke: die Steuer beginnt überhaupt erſt bei Nach- 
läſſen über 20,000 Mart, und ein Gut zu 180,000 Mark 
wird mit nicht mehr als einer Steuer von 264 Mark 89 Pfennig 
auf 20 Sabre belaſtet. Aber nicht umſonſt ift der ‚Bund‘ einſt gegründet worden 
mit dem Ruf, ſich an der Sozialdemokratie ein Beiſpiel zu nehmen, und in jeder 
Klaſſen- oder Berufsorganiſation haben die wildeſten Radikalen, die 
für das Standesintereſſe die höchſten Forderungen ſtellen, ſtets die Führung.“ 

Und doch hat es mit dem „deutſchen Gemüt“ feine Richtigkeit. Nur muß 
es eben, weil es doch fo unfäglich zart iſt, vor der „rauhen Hand“ des Steuerboten 
geſchützt und deshalb in feſtem Verſchluß gehalten werden —: im „Portemonnaie 
der Beſitzenden“. O rühret, rühret nicht daran! Delbrück aber ijt grauſam genug, 
beſagtes Gemüt aus ſeiner keuſchen Verborgenheit mit brutaler Fauſt an den 
ſchnöden Tag zu zerren. Die Einführung einer allgemeinen Nachlaßſteuer, ſo 
meint er, würde das mit deutſcher Treue gehütete Geheimnis der — Unter- 
deklarationen offenkundig machen. Das Privatvermögen in 
Preußen müſſe nämlich auf etwa 155 Milliarden geſchätzt werden, die 
Steuerdeklaration ergebe dagegen nur rund 100 Milliarden, 
und bei dieſer Differenz ſei die Landwirtſchaft nicht der Leidtragende: 

„Die Unterdeklarationen haben bei Kaufleuten und Gewerbetreibenden in- 
ſofern eine gewiſſe Grenze, als ſie nicht den Kredit ſchädigen dür- 
fen; man nimmt fogar an, daß hier und da ein Geſchäftsmann wohl fein Ver- 
mögen zu hoch angibt, in der Hoffnung, daß von dieſer Deklaration etwas ruchbar 
und dadurch fein Kredit gehoben werde. Aber diefe Methode der Rreditverbeife- 
rung iſt doch zu koſtſpielig, um häufig zu ſein, und ſie entfällt völlig bei 
den Landwirten. Bei dieſen ſpielt ihre Vermögensdeklaration für den Rre- 
dit keinerlei Rolle; er hängt von ganz andern Umftänden ab. Zeder Nachbar iſt 
imſtande, ebenſowohl ſich eine Meinung über den objektiven Wert eines Land- 
gutes zu bilden, wie die ſubjektive Wirtſchaftstüchtigkeit des Beſitzers einzuſchätzen. 
Ganz umgekehrt, wer ſein Einkommen und ſein Vermögen hoch deklariert, macht 
fih dadurch in der Nach barſchaft unbeliebt, da man fürchtet, nach die- 
ſem Beiſpiel auch ſchärfer herangezogen werden zu können. Mir ſind darüber die 
erbaulichſten Geſchichten aus dem Kreiſe von Guts- und Schloßbeſitzern erzählt 
worden. Die Veranlagungskommiſſionen find bei ihren Nach- 
prüfungen mil de, denn an ihrer Spitze ſteht der Landrat, und der Landrat 
ift durch Rückſichten der Politik wie der Karriere gezwungen, es mit feinem Kreiſe, 
das heißt den Grundbeſitzern nicht zu verderben. 

Verſteht man nunmehr, weshalb man in gewiſſen Kreiſen und namentlich 
in agrariſchen findet, daß die Nachlaßſteuer die Heiligkeit des Familienlebens an- 
taſte? Es iſt ja nicht bloß der materielle Verluſt, der entſteht, wenn bei der Schät- 
zung des Nachlaſſes durch den Reichsſteuerinſpektor herauskommt, um wieviel 
das Einkommen der Vermögen bisher zu gering deklariert worden iſt, ſondern es 


Zürmers Tagebuch 79 


ift auch, ganz ohne Fronie geſprochen, moraliſch peinlich für die Hinterbliebenen, 
fo gegen den Erblaſſer, den Vater oder die Mutter, als Zeugen angerufen zu werden. 

Der öffentlichen Meinung aber kann die Tatſache, daß die beſitzenden Klaſ- 
fen in Preußen ſtatt etwa 155 Milliarden nur 91,653 verſteuern, nicht laut genug 
ins Ohr gerufen werden.“ 

Nun einmal das Eis gebrochen ift, plaudern und fingen die Wäſſerlein gar 
munter. „Wer jemals“, fo plätſchert's in der „Oüſſeldorfer Zeitung“, „in oſtelbiſche 
Verhältniſſe hineingeſchaut hat, weiß, daß hier nicht etwa eine oder die andere er- 
bauliche Geſchichte über Unterdeflarationen zu erzählen ift, ſondern daß ein a u s- 
gebildetes Syſtem der Steuerdrüderei beſteht, das die agrari- 
ſchen Kreiſe und alle, die mit ihnen Fühlung haben, in engem Bunde hält. Hier 
aus unſerer eigenen Kenntnis nur eine einzige der erbaulichen Geſchichten, die 
Herr Oelbrück in feinem Köcher zurückhält. Ein Gewerbetreibender in einer halb- 
polniſchen Gegend, der in enger geſchäftlicher Fühlung mit der geſamten Land- 
wirtſchaft feines Kreiſes ſteht, ſpricht in vertrauter Geſellſchaft der nächſten Groß- 
ſtadt von feiner Deklaration, auf Grund deren er ein Einkommen von zehntauſend 
Mart verſteuert. Das anfängliche peinliche Schweigen der Zuhörer, die ſämtlich 
genau wiſſen, daß der Mann etwa den zehnfachen Betrag jährlich zurücklegt, bricht 
ſchließlich eine ſchüchterne Frage. „Mein Lieber,“ antwortet der Induſtrielle, , wenn 
ich es mir beikommen ließe, hunderttauſend Mark zu deklarieren, ſo würde mir 
erſtens einmal, wenn es bekannt würde, der Pöbel die Fenſter einwerfen und mein 
Haus demolieren. Dann aber erhielte ich eine freundliche Aufforderung des Herrn 
Landrats zu einem Beſuch, und bei dieſem Beſuche bekäme ich folgendes zu hören: 
Verehrter Herr, es ift Ihnen ja wohl bekannt, daß unfer Reichstagsabgeordneter 
X., der größte Beſitzer im Kreiſe, ein Einkommen von zwölftauſend Mark hat; 
Herr Oberamtmann B., der Pächter des großen Domänenkomplexes, verſteuert 
acht, und ich ſelbſt, der ich ja auch etwas Grundbeſitz habe, komme trotz meines 
Beamtengehaltes nicht höher. Ich darf wohl mit Sicherheit annehmen, daß Sie 
ſich bei Ihren Angaben geirrt und eine Null zuviel geſchrieben haben. — Wollte 
id’, fo ſagte unfer Gewährsmann, ‚der Steuerbehörde gegenüber ein ehrlicher 
Mann bleiben, ſo wäre mir der geſellſchaftliche wie der geſchäftliche Boykott ſicher 
und der Ruin meines blühenden Geſchäftes unausbleiblich.“ 

Man brauchte nun ſolche Geſchichtchen nicht allzu tragiſch zu nehmen, wenn 
ſie nicht ſofort von anderen ähnlicher Art unterſtützt, und vor allem: — wenn ſie 
nicht bereitwilligſt geglaubt würden. Der Tanz geht aber immer weiter. In 
der „Oeutſchen Zeitung“ treten Großgrundbeſitzer und Kleingrundbeſitzer, Re- 
gierungsbeamte uſw. einen förmlichen Reigen an. Ein Leſer aus dem Oſten: 

„In unſerer Gegend z. B. herrſcht ſelbſt unter den kleinen Bauern das größte 
Befremden nach jeder Neueinſchätzung, wie die Herren Gutsbeſitzer fic einſchãtzen 
bzw. eingeſchätzt werden. Trotz Jagdvergnügen und Geſellſchaft, wofür das Geld 
augenſcheinlich vorhanden ift, vermag fih der Gutsbeſitzer fo viel Wirtſchafts⸗ 
unkoſten herauszurechnen, daß er — es gibt natürlich auch viele Ausnahmen — 
einen rechten Quark an Einkommenſteuer zahlt. Beſondere Luxusgegenſtände, 
als neue Spazierfahrtwagen, Livreen uſw., können von dem Einkommen außer- 


80 Zürmers Tagebuch 


dem noch beſchafft werden. Der Bauer fieht das alles mit an, er ſelbſt kann nur 
durch anhaltende ſchwere Arbeit und größte Sparſamkeit etwas erwerben und 
muß dabei viel mehr Einkommenſteuer zahlen als der Gutsbeſitzer. Daß Guts- 
beſitzer, die geſellſchaftlich ſehr nobel auftreten, mitunter bedeutend geringere 
Einkommenſteuer zahlen als vielköpfige Lehrerfamilien auf dem Lande, dafür 
könnten von hier auch die verſchiedenſten Beiſpiele angeführt werden.“ 

Ein höherer Beamter: 

„Während die Lebenshaltung der meiſten Grundbeſitzer meiner Nachbar- 
ſchaft über die meinige erheblich hinausgeht, machte ich bei der letzten Landtags- 
wahl durch einen Blick in die Steuerliſte die Wahrnehmung, daß einer dieſer Herren 
(Haushalt: 2 Inſpektoren, 1 Mamſell, 1 Diener, 2 Mädchen, 1 Kutſcher, 1 Stall- 
burſche, 4 Kutſch-, 2 Reitpferde; das übrige dementſprechendd weniger als 
den fünften Teil meiner Einkommenſteuer bezahlte. Die Mitglieder der 
ländlichen Steuereinſchätzungskommiſſion meinen, das fei ander wärts auch 
f o, und man zuckt die Achſel, um nicht mit allen in Krieg zu geraten. Wird einer 
einmal geſtellt, indem man ihm nachweiſt, daß er als großer Herr lebt und als 
Koſſät ſteuert, ſo erklärt er, vom Kapital zu leben.“ 

Ein Kleingrundbeſitzer: | 

„Der Rleingrundbefi wird nach Hektar und der Großgrundbeſitz nach den 
Reſultaten der Buchführung beſteuert. Bei landwirtſchaftlichen Betrieben mit 
Buchführung (meiſt Großgrundbeſitz) werden alle Ausgaben abgezogen: für Ma- 
ſchinen, künſtliche Dünger, Arbeitslöhne, kurzum alles, was eben an Ausgaben 
im ganzen Jahr vorkommt. Da iſt es natürlich ſelbſtverſtändlich, daß leicht ſo viel 
gebucht werden kann, daß nur wenig verſteuerbares Vermögen übrigbleibt. 

Klingt es nicht wie ein Märchen, wenn man hört, daß noch vor ein paar Jah- 
ren ein Gut von 7000 Morgen, buchſtäblich ſiebentauſend Morgen, 
keine Einkommenſteuer bezahlte? Ich beſitze ein Bauerngut von 
240 Morgen und bezahle 44 M Steuern. Ein Gutsbeſitzer der Nachbarſchaft mit 
einem Areal von 1000 Morgen bezahlt nicht fo viel, obwohl der Boden mindeſtens 
dieſelbe Güte hat. Als ich einmal einen Landrat auf die ſchreiende Ungeredtig- 
keit dieſer Beſteuerung hinwies, erklärte er mir: „Führen Sie doch auch Buch!“ 
Ein höherer Regierungsbeamter gab mir auf denſelben Hinweis zur Antwort: 
„Wenn das die Herren vor ihrem Gewiſſen verantworten können!“ 

Es müßte intereſſant ſein, ſtatiſtiſch die Größe der nach Hektar und nach der 
Buchführung beſteuerten Gebiete und ihre Steuererträge gegenüberzuftellen! Selbit- 
verſtändlich glaube ich gern, daß viele nach beſtem Wiſſen und Willen Buch führen. 
Dod wenn alle Ausgaben einzeln aufgeführt werden, fo wird die Summe der 
Ausgaben bedeutend größer ſein, als wenn die Ausgaben in Bauſch und Bogen 
angeſetzt werden, wie es bei der Hektarbeſteuerung der Fall iſt. Deshalb kann ich 
diefe verſchiedene Art der Beſteuerung nur als ein Unrecht gegen den Bauern- 
ſtand und überhaupt gegen die ganzen Steuerzahler bezeichnen. Außerdem be- 
haupte ich noch einmal: Wird auch der Großgrundbeſitz, denn in Oſtelbien 
liegt Rittergut an Rittergut und Fideikommiß an Fideikommiß, nach Hektar be- 
ſteuert, ſo wird der Finanzminiſter die fehlenden Millionen erhalten!“ 


Zürmers Tagebucd 81 


Man ſieht: das „deutſche Gemüt“ hat auch feine Schattenſeiten — für andere, 
die weniger — „Gemüt“ haben. 

* * 
* 

Ein beherzigenswertes Geleitwort gab der „Schwäbiſche Merkur“ den in 
Berlin verſammelt geweſenen Überagrariern mit auf den Heimweg: 

„Man ſieht in dieſen kernigen, von keinerlei Großſtadtluft angekränkelten 
oder verdorbenen Männern mit Recht den nationalen Jungbrunnen, das immer 
wieder fic) erneuernde Kraftreſervoir des ganzen Volkes. Und man muß es des- 
halb mit freudiger Genugtuung begrüßen, wenn ſie im Jahr einmal Scholle und 
Pflug verlaſſen, um der Reichshauptſtadt vor Augen zu führen, woher im Grunde 
die Stärke Deutfchlands ſtammt. Hier die robuſte Kraft des heimatlichen Bodens — 
dort die in den Städten und in der deutſchen Zentrale konzentrierte Intelligenz! 
Wem von beiden Teilen ſollte dieſe Art von Konfrontation nicht frommen? Beiden 
iſt die Erkenntnis des gegenſeitigen Aufeinander-Angewieſenſeins von Nutzen, 
beiden iſt die Gelegenheit gegeben, das beſſere Verſtändnis füreinander zu finden, 
um vom anderen zu lernen. Aber in dieſem Jahr ſtehen wir doch unter dem Ein- 
druck, daß die Annäherung nicht mehr von der erwünſchten Gegenſeitigkeit ge- 
tragen iff. Der in den letzten Jahren leidlich überbrückte Antagonismus zwiſchen 
ſtädtiſchem Liberalismus und nationalem Opferſinn einerſeits und der agrarfonfer- 
vativen Politik der Selbſtſucht anderſeits iſt wieder voll in die Erſcheinung getre- 
ten und hat in der Erwürgung ſozial und national gerechtfertigter Steuerprobleme 
ſofort auch Ausdruck gefunden 

Die ganze Agrargeſetzgebung iſt in einem die Preishaltung fördernden, den 
ländlichen Beſitz feſtigenden Sinn geändert worden, ſo daß die Klagen über den 
Niedergang der Landwirtſchaft im Zirkus Buſch längſt nicht mehr gehört wurden. 
Wir wiſſen, daß damit zugleich dem vaterländiſchen Geſamtintereſſe genutzt wurde 
. . . Aber man hat doch erwartet, daß nach dieſen Jahren voll Segen und Wohl- 
ſtand auch bei den Agrariern die Einſicht einkehre, daß die Nation, nachdem 
fie fo viel gegeben, nunmehr auch berechtigt fei, Opfer zu ver- 
langen; wie von jedem anderen Erwerbszweig und Berufe, ſo auch vom deutſchen 
Bauern. Wir find darin ſchwer enttäuſcht worden, obſchon diefe Opfer von lader- 
licher Geringfügigkeit waren, ſo daß ſie kaum noch den Großbauern, geſchweige 
denn den eigentlichen Bauern trafen. Es liegt darum — abgeſehen von der be- 
dauerlichen Erſcheinung, daß die Konſervativen wieder völlig unter die Leitung 
der Agrarradikalen geraten ſind — ein frevelhaftes Spiel darin, gerade 
die Bauern gegen Nachlaß und Erbſchaftsſteuern mobil zu machen und fie, die 
weitaus das Gros im Zirkus Buſch bilden, zum Vorſpann einer Politik 
der Selbſtſucht zu mißbrauchen, die den Beginn unüberſehbarer 
innerpolitiſcher Verwickelungen bedeuten kann.“ 

Das find ehrliche Freundesworte. Und ich kann nicht mehr, als fie unter- 
ſchreiben. Alſo: auf fröhliches Wiederſehn im nächſten Fahr! Dann aber, bitte, 
etwas weniger „deutſches Gemüt“! ) 


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Frühlingsſpiele 

Von 


Friedrich Schönemann 


{at bie werit min eigen fin, 
mir taele iebod der Winter w 


OG iefe zwei Verſe des Heinrich von Veldecke find das Grundmotiv des 
Le 9. ganzen mittelalterlichen Sanges. Man muß ſich die Härte des 
e 3 6 Winters im Mittelalter vorſtellen: die vereiſten und verſchneiten 

2 traken find unwegbar, alle Adern geſelligen Verkehrs eingefroren, 
der einzelne bleibt den ganzen langen Wintertag unbarmherzig von aller Welt 
abgeſchnitten und auf ſeine vier Wände beſchränkt. Denkt man dann noch an das 
Unbehagliche der Wohnungen, die nichts vom heutigen „Heim“ an fic) haben, In ` 
begreift man die troſtloſe Klage über den böſen Winter in unzähligen höfiſchen 
und volkstümlichen Liedern. E | | 

Bis dann alles Leid in Luft aufgeht. Der Frühling ift wieder im Land: 

| des wirt vil manic herze frö, 

des ſelben troeſtet fid daz min. 

Auf die Bedeutung des Jahreswechſels für das deutſche 
Volksleben hat zuerſt Ludwig Uhland hingewieſen. Damit hat er an die Detten 
Quellen deutſchen Seelenlebens gerührt. Den Germanen, die den großen Cin- 
fluß der Natur auf ihr äußeres und inneres Leben verſpürten, wurde ihr Natur 
gefühl zur Kun jt und zur Religion. Wie jede Seelenkunſt allgemein in dem 
Geheimnis ruht, mit Worten von Vorſtellungen, die der Naturvorgang auslöft, 
an die Harfe menſchlicher Empfindungen zu rühren, fo ift ein Mythus, die Runft- 
form eben der Religion, einfach ein bildlich wiedergegebener, ein geſpielter Natur- 
vorgang. Die Sötter ſind letzten Endes perſonifizierte Naturkräfte, freundliche 
und feindliche Mächte. Naturbegeiſtung, Naturbeſeelung ift allgemein menſch⸗ 
lich: das Streben aller Naturvölker, Menſchenähnliches hinter allem Geſchehen 
zu ſuchen, Außeres durch Inneres zu erklären. Der Germane im befonderen er- 
lebte äußerſt harte Gegenſätze zwiſchen Winter und Sommer. Seine auf Ver- 


— 


Schönemann: Felblingsfpiele 83 


innerlichung geſtellte Volksſeele drängte außerdem zur Einfühlung. So richten fidh 
feine Rultzeiten nach den Jahreszeiten. In Norwegen feierte man Mitt winter 
im Januar, eine Art Zulfeſt, um für das Heil des Wachstums zu bitten, den 
Sommeranfang Mitte April und Winteranfang Mitte Oktober als 
Erntedankfeſt. Mannigfach ſind die Symbole der Vegetation; da gibt es z. B. ein 
„Regenmädchen“, das mit Laub bekränzt ins Waſſer getaucht wird... Man 
verehrt vor allem inbriinjtig im Feuer die Sonne, die von der Nacht und vom 
Winter erlöſt, die das Eis von der Welt und vom Menſchen nimmt. | 

Alle Lebensfreude, die der Winter gebunden hielt, löſt fih durch die Früh- 
lingsſonne in innigen Herzensſtrömen. Das Volk verlangt eine augenfällige Dar- 
ſtellung feiner Gefühle. Und fo entſteht jener alte Gebrauch: das ,Fodaus- 
tragen des Winters“. Die Zeit dieſer Feier, die ſich beſonders noch im 
Fränkiſchen und Thüringiſchen findet, ſchwankt, in der Regel ijt es der Sonntag 
Ldtare. In vielen thüͤringiſchen Orten hat man einſt beim Erwachen des Früh- 
lings den Tod als häßlich gekleidete Strohpuppe hinausgetrieben. Daran ſchloß 
ſich ein Volksfeſt, an dem die Kinder großen Anteil hatten. 

Zn Tambach im Thüringer Wald gibt es ein althergebrachtes Spiel: auf einem 
hölzernen, mit Tannengewinden geſchmückten turmartigen Geſtell, das im Freien, 
mitten im Ort, erbaut iſt, befindet ſich eine „Prinzeſſin“. Ein „Ritter“ mit Gefolge 
zu Pferde kommt ſie rauben. Lange Reden werden zwiſchen Ritter und Prin- 
zeſſin geführt. (In Steiermark entſpinnt ſich hierbei zwiſchen Sommer und Winter 
ein förmlicher Rechtshandel mit langen Anklagen und Verteidigungen.) Es find 
im Grunde dieſelben Gedanken, wie ſie ſich in der Edda mancherlei geformt 
vorfinden: Oer Frühling befreit die Erde aus der Gewalt der Eisrieſen. Man 
denke auch an das Nibelungenlied, wo allerdings Siegfried vielleicht 
mehr ein heiterer Lichtgott, der Morgen, iſt als der Frühling, wo es ſich alſo um 
einen Tagesmythus handeln müßte, bei dem die Waberlohe die Morgendämme⸗ 
rung, das Rheingold die Sonne, Siegfried den Sonnengott, Brunhilde die zu 
befreiende Nacht (oder die Erde, das Dornröschen oder Schneewittchen der Mär- 
chen?) bedeuten. Iſt hier nur der Zwillingsmythus der von Tag und Nacht, 
vielleicht auch von Sonne und Erde, ſo findet ſich der zwiſchen Sommer und Winter 
ganz deutlich im — Hamlet. Man iſt erft in den allerletzten Jahren auf das 
Mythiſche des Brudermords in der Hamletſage aufmerkſam geworden. Der Gom- 
merkönig ſtirbt durch die Tücke ſeines Bruders, des böſen Winterkönigs. Hamlet, 
der Fruͤhlingsheld, rächt feinen Vater, den Sommer, indem er den Palaſt 
des Brudermörders Winter in Flammen aufgehen läßt. Vorher hat er — das 
gehört zur Sagenüberlieferung — den König Winter unter einem Netz mit ſpitzen 
Widerhaken (den Keimen der Saat unterm Schnee!) an die Erde geheftet. 

Das Feuer als Symbol der Sonne ſpielt von Urzeiten her ſeine überaus 
wichtige Rolle in den Fruhlingsſpielen. So ſcheint ein früherer Eiſenacher 
Brauch auf Urgermaniſches zurüdzugehen. Zunge Burſchen und Mädchen trugen 
ein Rad, an dem ein ſtrohernes Mannsbild befeſtigt war, auf den Mittelberg zwi⸗ 
ſchen Eiſenach und der Wartburg. Oroben zündeten ſie es an. Mit dem rollenden 
Rad liefen fie dann bergab. Danach wurde meiſt eine Art Maibaum errichtet. — 


84 = Schönemann: Frühlingsſpiele 


Bei dem alten Feſte der Faſtnacht oder Faſenacht wurde ein Strohfeuer verbrannt. 
Zu Mittſommer ſtellten brennende Holzſcheiben oder Räder mit vielen Speichen 
den Sonnenſegen dar. Stee alte Form erweiterte fih dann zum Johannisfeuer. 
Natürlich miſchen ſich die einzelnen Gebräuche leicht, ſo daß heute ein deutliches 
Unterfcheiden oft unmöglich ift. So vermengte fich einzelnes aus dem „Todaus- 
tragen“ mit der ſpäteren Frühlingsfeier zu Pfingſten, der Maifeier, wobei der 
Waikönig oder die Maikönigin ihre Herrſchaft mit dem Verbrennen oder dem Er- 
ſäufen des alten Herrſchers, eines Strohmannes oder Strohwiſches einleiteten. 

Eigenartig ift die Frühlingsfeier in Eiſenach. Hier hat man für den „Som- 
mergewinn einen urkundlichen Beweis aus dem Fabre 1286. Seit 1897 feiert 
man dieſes altehrwürdige Feſt wieder allgemein, finnig, poetiſch und volkstüm- 
lich, unter der allerregſten Beteiligung der Schuljugend. Dem Feſtzug eigentiim- 
lich find: der Winterwagen mit dem alten König Winter und einer echten Shü- 
ringer Spinnſtube, und der Sommerwagen, auf dem die Göttin „Sunna“ hold 
unter hohem Baldachin thront, von Elfen umgeben; voran und hinterher Mufit- 
kapellen mit Herolden. Drei Strohhüllen, die Winterſymbole, werden auch hier 
feierlich dem Flammentode übergeben. Das Sommergewinnslied und manches 
andere „Offizielle“ machen den Tag der Wintervertreibung zu einem ſchönen und 
gehaltvollen Volks- und Kinderfeſt. 

Was in Eiſenach verſtändnisvoll künſtlich erneuert wurde, das findet ſich in 
Aberreſten ſicher noch häufig im deutſchen Land. Bei einzelnen Umzügen diefer 
Art wijfen oft die Dariteller gar nicht mehr, um was es fih handelt. Leider hat 
die jahrhundertelange Gleichgültigkeit der „gebildeten“ Deutſchen gegen die eige- 
nen Volksſitten und -gebräuche viel Schönes einſchlafen laffen. Nur noch Weniges 
läßt ſich heute retten. Vielleicht würde eine bewußte künſtleriſche 
Ausgeſtaltung altehrwürdiger Naturſymbolik, wie fie ſich 
in Sagen und beſonders in tieffinnigen Märchen ausdrückt, dem Oeutſchen 
manchen Volkskulturwert wiederbringen. Manche verdienſtvolle Vor- 
arbeit iſt in dieſer Hinſicht bereits geleiſtet worden, ſo von dem unermüdlichen 
Dr. Oskar Oähnhardt in feinen Naturgeſchichtlichen Volks- 
märchen und den Heimatklängen aus deutſchen Gauen (beide 
Werke bei B. G. Teubner in Leipzig erſchienen). 

Im Sinne des alten Frühlingsſpiels möchte nun aud Felix von Steng- 
Lin auf die Jugend wirken: mit feinem Schneewittchen, einem „Winter- 
und Frühlingsmärchen“ (mit einem Anhang, enthaltend Erläuterungen zur Auf- 
führung, 58 S. br. 1.20 M im Selbſtverlag des Verfaſſers, Zehlendorf, Wannfee- 
bahn). Es ift ein Verſuch, in einer neuen, ſelbſterfundenen Handlung, die ſich in- 
des an die Vorgänge des allbekannten Märchens anſchließt, den uralten Frühlings- 
mythus im Schneewittchen Märchenſtoff auf feine urſprüngliche Bedeutung zurück- 
zuführen. „Die Naturvorgänge von dem Abſterben des Lebens an über den 
Winter hinweg bis zum Erwachen des Frühlings finden ihre ſinnbildliche Dar- 
ſtellung durch lebende Geſtalten. Die Stiefmutter des alten Märchens, die durch 
ihren Jäger Schneewittchen töten laffen will, erſcheint hier als Eiskönigin (d. h. als 
Verkörperung des Winters), die danach trachtet, das junge Leben in der Natur zu 


Kummers Literaturgeſchichte des 19. Jahrhunderts 85 


töten durch Sturm und Unwetter (Jäger Brauſekalt). Das junge Leben ſelbſt 
flieht zu den Zwergen, ... unter die Erde, ... wohin der Froſt nicht dringen kann.“ 
Im ganzen und im einzelnen bewegt ſich in dieſen Vorſtellungen die Handlung 
weiter. „Nachdem das Leben im Eiſe (Glasſarge) erſtarrt iſt, kommt endlich der 
Prinz, der neue Frühling, und erweckt die ſchlafende, erſtarrte Erde durch ſeinen 
Kuß zu neuem Leben.“ 

Man kann derartige Frühlings- oder Vorfrühlingsfeiern natürlich ſehr ver- 
ſchieden geſtalten. Stenglins „Schneewittchen“ iſt ein ſchöner Verſuch und iſt 
mehr als Vorfeier im geſchloſſenen Raum gedacht, d. h. als Theaterſtück, das 
der Jugend gegeben wird, wie man ihnen um Weihnachten die Weihnachtsmärchen 
bietet. Es ift im Februar 1906 zum erſtenmal im Erziehungsheim „Am Urban“ 
(Zehlendorf) aufgeführt und warm aufgenommen worden. Glück zu! Das herr 
liche volkserzieheriſche Ziel: die ſinnige Auffaſſung der 
Natur fördern zu helfen, ift bedeutend genug, um der Aufmerkſam- 
keit aller Deutſchen von Gemüt ſicher zu fein. 

Noch aus einem anderen Grunde ift dieſes „Schneewittchen“ bemertens- 
wert. Es bringt im ug endſpiel zugleich Tanz und Geſang zur Entfaltung. 
Damit deutet es auf etwas Wichtiges: wie aus Kinderſpiel und Kinderlied, aus 
gemeinſamen Tänzen im Rhythmus des Geſanges eine fröhliche ſchöne Unbefangen- 
heit der Bewegungsformen entſtehen kann, die vielleicht langſam und organiſch 
zu neuen würdigen Tanzgebilden führt. Jn dieſer Richtung regt 
Minna Radcezwills ſchöner Aufſatz „Reigen und Reigentanz“ 
in: Schönheit und Gymnaſtik (Zur Aſthetik der Leibeserziehung von 
A. A. Schmidt, K. Möller und M. Radcezwill, bei B. G. Teubner 
1907) ungemein an; Stoff liefert derſelben Reigenſammlung, endlich 
das wertvolle Büchelchen Gertrud Meyers: Tanzſpiele und Sing- 
tänze (beide Werke ebenda). 


gleich auf der erſten Seite von Friedrich Kummers „Oeutſcher Literaturgeſchichte 
des en ee Jahrhunderts“ (Dresden, Reiner, 720 S., 12 4) lieft man 


Sn Des Epigonentums überwunden haben und nicht mehr glauben, daß in Goethes Todes- 
jahr die Uhr der deutſchen Literatur für ein Menſchenalter ſtehen geblieben ift. Dreißig Jahre 
und länger hat der Vorwurf des Epigonentums unſer Schrifttum geſchädigt, hat hohe, edle 
Dichter dauernd oder zeitweiſe erbittert, hat ... der Nation, zumal der Jugend, die Freude 
an der lebenden Oichtung getrübt. Von dem Epigonentum ift ja, Gott fei Dant, heute nicht 
mehr die Rede. Doch feit zehn bis fünfzehn Jahren hat ſich ein andrer Begriff in unſere Literatur- 
geſchichte eingeſchlichen, der nicht weniger ſchädlich und ſchulmeiſterlich ift: der Begriff der 
Decadence.” 


86 Rummers Literaturgeſchichte des 19. Zahrhunderts 


Kummer lehnt es hier alſo deutlich ab, ſowohl mit dem Begriff „Epigonentum“ (von 
Zmmermann geprägt), als auch mit dem Schlagwort „Decadence“ (dem Bezirk Verlaines 
entſtammend) in feiner Charakteriſtik der Dichter des 19. Jahrhunderts zu hantieren. Um fo 
mehr war ich überraſcht, gleich bei den erſten Blicken in fein Werk auf das Wort „Epigonentum“ 
zu ſtoßen, und zwar in der Kennzeichnung eines lebenden Dichters (S. 672). Bei uns jetzigen 
Zeitgenoſſen, die wir noch mitten in ſchwerer und langſamer Entfaltung ſtehen, darf jene Be- 
merkung, daß „hohe und edle Dichter dauernd oder zeitweiſe erbittert“ worden ſeien durch 
den „Vorwurf des Epigonentums“, demnach ausgeſchaltet werden? 

Auch den Begriff der Decadence, d. h. Entartung und Auflöfung, lehnt Kummer als Orien- 
tierungswort ab. Dafür ſucht er nach einer „andren Anſchauungsweiſe, die auf die organiſche 
Entwicklung den Hauptwert legt und die doppelte Aufgabe löſt, die Erſcheinungen der Gegen- 
wart zu erklären und zugleich Raum für die Entwicklung in der Zukunft gu laſſen“. Dies führt 
ihn zu der neuen Einteilung, die er in ſeiner Literaturgeſchichte angewendet hat. „Es iſt klar,“ 
ſagt er, „daß die bisherigen künſtlichen Einteilungen (nach den poetiſchen Gattungen, nach 
Blüte- und Verfallzeiten, nach überragenden Perſonen, nach einzelnen Schulen, nach der 
Heimat, nach Jahrzehnten, nach ſcholaſtiſchen und feuilletoniſtiſchen Schlagworten uſw.) im 
Grunde nur Notbehelfe find (7). Ich habe einen anderen Verſuch gemacht. Ich feke an die Stelle 
der künſtlichen Einteilung die natürliche in Generationen. In fünf Generationen gruppiert 
ſich für mich das geſamte politiſche, wirtſchaftliche, ſoziale, künſtleriſche und wiſſenſchaftliche 
Leben des Jahrhunderts. Ihr Keimen, Blühen, Reifen und Welten ſtelle ich dar“... Einer 
„kuͤnſtlichen“ Einteilung ſetzt er alfo eine „natürliche“ gegenüber. Dieſe Worte beſtechen auf 
den erſten Anblick. Sehen wir aber ſchärfer zu, ſo ſtellt ſich uns bei dieſer zunächſt ſcheinbar 
modernen, d. h. naturgeſchichtlichen Gliederung die Frage ein: Iſt denn aber für die Ge i ft e s- 
geſchichte, um die es ſich doch hier handelt, der Geſichtspunkt der Nat ur geſchichte wirklich 
der „naturliche“? Dedt fih eine geiſtige Entwicklung wirklich mit dem Keimen, Blühen, Reifen 
und Welten der „Generationen“? Mit andren Worten: Darf in der Tat ein zoologiſcher Ge- 
ſichtspunkt in das Land des Geiſtes hinübergetragen werden? 

Das Zeitalter eines Herder und Kant würde ſofort verneinen. Ein Blick in die Geiftes- 
geſchichte der Menſchheit zeigt uns, daß mit bloßer Alterseinteilung eine heilloſe Verwirrung 
in die geiſtigen Gruppierungen, mit Hilfe derer wir uns in der Weltgeſchichte zurechtzufinden 
pflegen, einreißen würde. Erſt zwiſchen 1780 und 1790 z. B. ſchrieb der alternde Rant feine 
gauptwerke; Klopſtock lebte, einflußlos auf die Entwicklung, Jahrzehnte über feine entſcheidende 
geiſtige Wirkung hinaus; Goethe umfaßt eine ganze Epoche uſw. Sofort und unmerklich fchie- 
ben ſich bei einem Blick in das Weltgeſchehen geiſtige Geſichtspunkte ein; iſt doch dieſer Blick 
ſelber ſchon eine vergeiſtigende Kraft. Denn nicht daß einer körperlich lebt, iſt im Geiſtesland 
das Wichtige, ſondern ſeine Ausſtrahlung, ſein Werk, ſein geiſtiges Sein. Und dies bricht oft 
erſt zum ſiebzigſten Geburtstag (Raabe) oder nach des Dichters Tod entſcheidend durch. Und 
dann erſt kann man von ſeinem Eintreten in das geiſtige Leben einer Nation ſprechen. 

Das ſpuͤrt denn auch Kummer ſelber. Und fo zieht ſich durch fein Werk ein doppelter 
Geſichtspunkt: ein körperlicher nach „Generationen“ und eine künftleriihe Wertung nach 
Grad und Art des Talentes. Wirkt bei jener körperlichen Gliederung in unſerem Zeitalter 
Haeckels die Milieu-Theorie nach, die Geiſtiges aus Zeit und Umwelt zu erklären geneigt ift, 
fo wird bei der zweiten Betrachtungsweiſe der Verfaſſer zum fubjettiven Kunſtrichter. In 
beiden Fällen leiſtet Rummer Lidtiges: in der Kennzeichnung der Generationen wie in der 
Kennzeichnung der Talente. Das Buch zeichnet ſich überhaupt durch Ernſt und Beſonnenheit 
aus; es iſt bei aller Sachlichkeit von einer wohlwollenden Anteilnahme durchzogen. Oer Stil 
ift klar, feft, reif; es ſpricht daraus eine ruhige Männlichkeit. Aber — einen überragenden, 
einheitlichen geiſtigen Geſichtspunkt hat er von vornherein und von Grund aus nicht gefunden. 
Jene beiden Geſichtspunkte laufen nebeneinander durch das Buch: naturgeſchichtlich, biologiſch, 


Mummers LiteraturgefHidte des 19. Jahrhunderte 87 


biographiſch — oder wie man dies nennen mag — der eine; und der andre teilt Zenſuren aus. 
Und das iſt erſt recht bedenklich. 

Nämlich: innerhalb der Generationen wird nicht etwa nach Alter oder nach Bejens- 
art gegliedert; ſondern hier, wo nun alfo dennoch ein geiftiger (,tinftlider’) Geſichtspunkt 
einfegt, finden wir folgende gefährliche, weil fubjettive und willkuͤrliche Gliederung: „Führende 
Talente; ſelbſtändige Talente ohne führende Bedeutung; abhängige Talente“; dann ,, Pfad- 
finder“ oder „Vorläufer“; wiederum „Dichter des Abergangs“; auch „Anterhaltungsfchrift- 
ſteller“; plötzlich auch „Modetalente der Reaktion“. Ja, wo bleibt denn hier die angeblich „neue 
Einteilung“ nach „natürlichen“ Geſichtspunkten? Sind wir hier nicht doch bedenklich mitten 
in „küͤnſtliche Notbehelfe“ geraten? Und ift dies frühzeitige Austeilen von Rangordnungen 
wirklich ſachlicher als das Gruppieren nach Geſchmacksſchulen? 

Wir ſehen demnach bei Kummer Oichter wie Geibel, Stifter, Auerbach, Halm friedlich 
als „Pfadfinder“ der „dritten Generation“ nebeneinander ſtehen. Raabe wird neben Groth, 
Reuter, Holtei, Pichler, Kurz als Talent derſelben Höhe unter die „ſelbſtändigen Talente ohne 
führende Bedeutung“ eingeordnet. Als „führende Talente“ der vierten Generation ſtehen neben- 
einander Anzengruber, C. F. Meyer und Marie von Ebner -Eſchenbach; gleich dahinter ſteht 
Rofegger zwiſchen Wildenbruch, Wilbrandt, Viſcher und andren „ſelbſtändigen Talenten ohne 
führende Bedeutung“; der eigenartige Spitteler bildet mit Kirchbach und Avenarius eine 
Gruppe der vierten Generation, und zwar als „Dichter des Übergangs“; Fontane ſieht fid 
neben Nietzſche, Hauptmann und Liliencron unter „führende Talente“ verſetzt; Polenz ſteht an 
der Spitze ber ſelbſtändigen Talente ohne führende Bedeutung“, und zwar neben Max Halbe, 
dem dann der ſcharf ausgeprägte Dehmel folgt, worauf ſich Wedekind anſchließt. Zu dieſen 
„größeren“ ſelbſtändigen Talenten geſellen ſich als „kleinere“: Stephan George, Rilke, Lien- 
hard und die Naturaliſten Stehr und Mann nebſt Heſſe; Hoffmannsthal aber rückt zu Guſtav 
Falke, und zwar, ebenſo wie Schnitzler und Bahr, noch eine Stufe tiefer als wir vorher Ge- 
nannten: dieſe vier letzteren erhalten nur das Prädikat „abhängige Talente“. 

Sh weiß nicht: fühlt der Verfaſſer nicht die leiſe Beleidigung, die darin liegt, fich bereits 
mitten im Schaffen derart von einem Altersgenoſſen einrangiert zu ſehen? 

Kummer zieht in feinem reichhaltigen Werk auch die Vertreter der „naturwiſſenſchaft⸗ 
lichen und philoſophiſchen Strömungen“ in den Kreis der Betrachtung; er wirft einen Blick 
auf die „Parallelerſcheinungen in der Kunſt“, auf die „Einflüffe aus der Fremde“, auf die Wich- 
tigkeit der „Preſſe“. Auch dieſe Abſchnitte ſind, ſo wie ſie hier vorliegen, anerkennenswerte 
Orientierungen. Aber auch hier ein Nebeneinander, kein durchgehender, großer Einheits“ 
Geſichtspunkt, der das Material auch zu verarbeiten und zu überwinden ſuchte. 

Was nun die Einzelheiten anbelangt, fo zeichnet fih das Werk beſonders durch geſchmack⸗ 
dolle biographiſche Verarbeitung des Materials und durch vielfache Inhaltsangaben aus; auch 
die Charakteriſierungsweiſe iſt vornehm und gehaltvoll. Kummer ſtellt ſich auf modernen Boden; 
ſorgfältig, aber nirgends kritiklos einfach Gefolgſchaft leiſtend, kennzeichnet er z. B. Haupt- 
mann beſonders ausführlich; ebenſo Hebbel, den er als „Genie“ neben Richard Wagner (7), 
nicht neben den kongenialen Grillparzer ſtellt. Bei Nietzſche leſen wir den bedenklichen Satz: 
„Nietzſche ift neben Hauptmann der wichtigſte dichteriſche Führer der fünften Generation. 
Vas dieſer für das Orama, iſt Nietzſche für die Lyrik.“ (Dies würde Julius Bab für Dehmel 
beanſpruchen.) „Aber er war mehr. Er war der ſtärkſte Gegner des Naturalismus, von dem 
auch Hauptmann eine Zeitlang (bloß 7) beherrſcht wurde; durch feine Kunſt und feine felt den 
Romantikertagen (7) unerhörte Hervorkehrung des eigenen Fc wandelt ſich der äußere Zm- 
preſſionismus der deutſchen Dichtung in einen inneren Impreſſionismus (7). Von Nietzſche 
gehen wiſſentlich oder unwiſſentlich Scharen von Lyrikern aus. Das Traumſtüͤck, das ſymboliſche 
Märchendrama, die Luft an prangender Farbe, die Vorliebe für die Renaiffance, all das hängt 
mit Nietzſche zuſammen“ ... Hier haben wir nun mit unſerem entſcheidenden Einwand an- 


88 Kummers Literaturgeſchichte des 19. Jahrhunderts 


zuknüpfen. Nicht etwa weil hier die Einflüſſe Nietzſches auf Koſten der vielen gufammen- 
wirkenden Einflüffe, beſonders Frankreichs, überſchätzt werden. Aus einem tieferen Grunde 
vielmehr. 

Oer Verfaſſer ſchätzt meine „Wege nach Weimar“ und nennt fie „jehr bedeutend“. Er 
hätte aus dieſen Bänden erſehen können, daß ich ſeiner unphiloſophiſchen Gliederungs- und 
Einſchätzungsweiſe, bei aller Sympathie für ſeine Vortragsart und ſeine Perſönlichkeit, ab- 
lehnend gegenüberftehen muß. Es handelt fih da nicht um einzelnes; da kann man ſich in vielem 
recht wohl verjtändigen. Aber Kummer gehört zu jenen zahlloſen modernen Betrachtern, die 
den unüberbrüdbaren Gegenſatz zwiſchen klaſſiſch- romantiſcher Seelenſtimmung und realiſtiſch⸗ 
naturaliſtiſcher Schauweiſe noch nicht wieder erlebt haben. Wir haben neulich in dieſen Blät- 
tern, in einem Aufſatz „Von Fanny bis Elektra“, die beiden Geiſtesepochen zu kennzeichnen 
verſucht. Periodiſch geht durch die Welt eine idealiſtiſche, d. h. mehr vom Geiſt, von Ideen, 
vom Gemüt beſtimmte Richtung, die von innen heraus fromm und froh geſtaltet, und eine 
realiſtiſche Anſchauungsweiſe, die ſich mehr der zweifelnden, analyſierenden Zergliederung 
und Abſchilderung zuwendet und die Materie zum Ausganspunkt nimmt. Von Klopſtocks 
Auftreten bis zu Goethes Tod haben wir dieſelbe Grundſtimmung; und eine beſondere Ge- 
ſtimmtheit ift denn auch dem Zeitalter von Hebbel oder Heine bis zu Fbjen und Nietzſche eigen- 
tiimlid. Es find ungefähr achtzig Jahre dort und hier. Dort find Gemüt und Liebe an der Ar- 
beit, hier Verſtand und Kritik. 

Mitten aber in unſerer Epoche ſteht iſoliert und durch Heinrich von Stein (wie ich im erſten 
Bande meiner „Wege nach Weimar“ gezeigt habe) mit Weimars Idealismus geiſtige Ber- 
bindung tniipfend: die Bayreuther Gruppe. Wagners gralſuchende Lebens- und Runjtanfdau- 
ung, wie fie auch aus feinen Büchern hervortritt, gehört zum Stimmungsbereich Ropftod- 
Herder ⸗Schiller⸗ Goethe nebſt Romantik. Mit Hebbel aber fegt der analyſierende Zweifel ein; 
er ift ein Erſtling der zäh und faft grauſam das Problem verwickelnden Unterfuchungsweife. 
Die klaſſiſche Vereinfachungskraft, wie fie aus den Sonaten und Symphonien des wahrlich 
großzügig ringenden Beethoven gläubig emporbricht, hat aufgehört. Noch in den zwei 
bittren Propheten Carlyle und Schopenhauer, beſonders aber in Emerſon, dann in Heinrich 
von Stein und Gobineau, dem Dichter des „Amadis“, iſt dieſer Schillerſche Orang nach 
einfach- großem Menſchentum, dieſer geheime Glaube an die Gottheit, diefe innerlich unge- 
brochene Gläubigkeit an die Hoheit im Menſchen. Nietzſche ſtand anfangs in dieſer Gruppe; 
dann riß es ihn hinüber auf die kritiſche und zweifelnde Seite, wo er fich doch nicht letzten Endes 
in feinem Element fühlte: denn fein „Zarathuſtra“ will ja nur, was alle Idealiſten des neun- 
zehnten Jahrhunderts dem Maſſentum abzuringen verſucht haben: Erlöſung des inneren 
Menſchentums, Heldenhaftigkeit der Seele, die heute im Maſſenvertrieb rückſichtslos ver- 
braucht wird. 

Mit ganzer Seele ſtehe ich auf Seite jener Idealiſten. Von Wagner bis Schiller, von 
Emerſon bis Goethe und Klopſtock, von Stein bis Kant, von Gobineau bis Herder, von Beet- 
hoven bis Bach — und von Bachs glaubig-tiefer Mufit bis Hans Sachs und Dürer, bis Walther 
und Wolfram uſw. — bilden fie das, was man eben deutſchen Idealismus nennt. 

Und nun muß doch wohl der Kernfehler des Kummerſchen Werkes: fein Standpunkt 
oder vielmehr fein Nicht⸗Standpunkt deutlich hervorgehoben werden. Unfer Literarhiſtoriker 
will „das Dickicht der modernen Literatur lichten“, will „die Höhenzüge der Entwicklung klarer 
hervortreten laſſen“. Wohlan, welchen übergeordneten literaturphiloſophiſchen Standpunkt 
wählt er bei dieſer Sichtung? 

Er verwirft den Ausdruck „Decadence“ als ein ungeeignetes Orientierungsmittel. 
„Oer Begriff der Decadence iſt die Senkgrube geworden, in die man alles hineintut, was 
einem in der Literatur der Gegenwart menſchlich oder künſtleriſch nicht paßt, oder was man 
ſonſt nicht unterbringen kann.“ Mit Verlaub: wer ſind die „man“, die mit einem ſo trivialen. 


feummers Literaturgeſchichte des 19. Jahrhunderts 89 


„nicht paßt“ oder aus Platz Verlegenheit zu jenem Abwehrwort greifen? Warum paßt es 
ihnen nicht? Steckt wirklich nichts Tieferes in ihrer Empfindung, die fih in Worten wie „fremd⸗ 
ländiſch, entartet, krankhaft, ſchamlos“ Luft macht? — Hier beginnt das Problem. Und hier 
verſagt Kummer. Er geht in ſeiner ausgleichenden Milde ſo weit, zu ſagen: „Oer Vorwurf 
der Decadence beginnt zu einem Alp zu werden, der auf der Dichtung der Gegenwart ruht“ 
— und das angeſichts des breit alle Bühnen und Schaufenſter beſetzenden Geiſtes der „Sa- 
lome“, eines Wilde, Wedekind, Shaw, der Simpliziſſimusſtimmung, des Sexualismus und 
jener ganzen Zeitſtimmung, die nun ſogar mit einem Schillerpreiſe die groteske Tragikomödie 
„Tantris der Narr“ krönt?! Wo ruht denn hier ein Alp? Auf dieſen Erfolgreichen — 
oder auf den Zurüdgedrängten, die nach den großen, ſtillen Idealen und nach Seelenwärme 
ſuchen ?! 

Man wird es nicht als Empfindlichkeit auslegen, wenn ich auf Kummers Beſprechung 
des Typus Wedekind hinweiſe: — er beſpricht ihn ſeitenlang, wenn auch mit Bedenken, und 
reiht ihn unter die „größeren ſelbſtändigen Talente“ ein. Zu meinem Erſtaunen ſehe ich dann 
meine eigene, ſo ſchroff entgegengeſetzte Geiſtesarbeit in derſelben Reihenfolge auftauchen, 
es ſtehen zwiſchen uns bloß Rilke und Stefan George — nein doch, es iſt ein Unterſchied, ein 
gradueller nämlich: wir drei letzteren ſitzen eine Stufe tiefer und erhalten bloß die Zenſur: 
„kleinere ſelbſtändige Talente“. Iſt das nun die „natürliche“ Einteilung?! 

Nein, da hat Kummers Landsmann Lamprecht denn doch bedeutend geiſtvollere Gefichts- 
punkte angeſtrebt. Kummers biologiſche und Zenſuren austeilende Gruppierung verhält ſich 
zu Herderſcher Geſchichtsſchreibung, wie ſich etwa Haeckel zu Kant verhält. 

Denn noch einmal: ihm ift der Unterſchied zwiſchen klaſſiſch-romantiſcher und rea- 
liſtiſch-naturaliſtiſcher Geiſtesſtimmung nicht zum inneren Erlebnis geworden. Man ge- 
ſtatte mir, das immer wieder zu ſagen. Auch der neueſte Geſchichtsſchreiber des deutſchen 
Sdealismus (Kronenberg; München, Beckſcher Verlag) faßt die Epoche von etwa 1750 bis etwa 
1830 als eine geiſtige Einheit. Und fo möchte ich auch hier wieder darauf aufmerkſam machen, 
daß jene Epoche etwa in Bachs Todesjahr, mit Klopſtocks „Meſſias“, mit Goethes Geburt 
(alſo um 1750) einſetzt. Sie iſt umrahmt von religiös geſtimmten Werken wie „Meſſias“ und 
„Fauſt II“; der Geift des großen Bach und einer künſtleriſch vertieften und beſeelten Frömmig⸗ 
keit (Spener, Zinzendorf) ſcheint nachzuwirken, in Herder bedeutende Geſtalt anzunehmen, 
in Schleiermacher und Schelling weiterzuleben, in der Muſik eines Haydn, Beethoven, Mozart 
heruͤberzuklingen, belebt von Winckelmanns Schönheitslehre, von Kants Ethik, von Schillers 
beflügeltem Glauben an die übergeordneten Ideale. Dieſer Geift ſchwingt noch durch die Ro- 
mantik, von Novalis und Hölderlin bis Eichendorff, Uhland, Geibel, Richter, Schwind, Schu- 
bert und anderen romantiſch oder klaſſiziſtiſch geſtimmten Gemütsnaturellen, die durchdrungen 
waren vom Glauben an Schönheit, Güte und Gottheit. Und dieſer Geiſt ſucht heute wieder 
emporzudringen und wird morgen in neuen Formen ſiegen. 

Aber um die Zeit von Goethes Tod, vorbereitet ſchon vom Kritizismus der Aufklärung, 
ward eine andere Geelen- und Geiſtesſtimmung mächtig. Es ift eine Stimmung des zweifelnden 
Verſtandes, des zergliedernden Pſychologismus — es ift das Zeitalter der Analyſe, was wörtlich 
„Auflöſung“ heißt und den Gegenſatz bildet zur Kraft des Zuſammenfaſſens und gufammen- 
faſſenden Vereinfachens, der „Syntheſe“ 

So etwa wäre dies Problem anzufaſſen. Es gibt Leute in unſerer jetzigen „Genera- 
tion“, die mit Grillparzer ſagen können: „Ich komme aus andren Zeiten und hoffe, in andre 
zu gehn.“ Well fie eben anders geſtimmt find, anderswo geiſtig zu Hauſe find, nicht im jetzt 
vorherrſchenden Zeitgeiſt. Aber das wird man erſt in einiger Zeit erkennen, wenn man mehr 
optiſchen Abſtand gewonnen hat. Wir haben unter Thema bereits überfchritten und brechen 
biemit ab. | | F. Lienhard 


* 


90 Heinrich von Reber 


Heinrich von Reder 
(Geſtorben am 17. Februar 1909) 


er bayriſche Generalmajor, der Maler, Zeichner und Dichter Heinrich Ritter von 

Reder iſt im hohen Alter von 84 Jahren geſtorben. Manche, die ihn als Lyriker 
855 ſchätzten, aber ihn nicht näher gekannt haben, mögen über dieſes Alter überraſcht fein; 
denn noch vor zehn Jahren ungefähr befand ſich Reder mitten unter den Modernen, unter den 
güngſten; man konnte häufig einige feiner friſchen, knappen Natur-, Jagd-, Dorf-, Wald- 
oder Moorſtimmungen mit ihren kernigen, oft fein ironiſchen Pointen z. B. in der , Gefell- 
ſchaft“, dem ſeinerzeit führenden Blatte der Modernen, finden. Dann hörte man plötzlich 
nichts mehr von ihm; ich weiß, daß er noch ganze Hefte voll Poeſien aus früheren und ſpäteren 
Jahren zu Haufe liegen hat, aber er behielt fie für fid; es ift nicht feine Schuld, daß er eigent- 
lich fo gut wie unbekannt blieb, — obwohl gerade feine natürlichen, von ehrlichſter und männ- 
lichſter Empfindung getragenen, charaktervollen Poeſien geeignet ſind, ſich Freunde im Volke 
zu erwerben. 

Von Haufe aus gehört der am 19. März 1824 im Reichsſtädtchen Mellrichſtadt in Unter- 
franken geborene Dichter, der zeit feines Lebens ein von feinem Berufe begeifterter Soldat 
war — er hat mit bitteren Gefühlen 1866 gegen Preußen gefochten und 1870/71 fechzehn- 
mal als Artilleriehauptmann im Feuer geſtanden —, einem ganz anderen Oichterkreiſe an. 
Er iſt Nitter der berühmten Tafelrunde „der grotodile · „Mitglied der von König Max II. be- 
günjtigten Künſtlergemeinſchaft in München gewefen, der u. a. auch Geibel, Heyſe, Hopfen, 
Groſſe, Dahn, Graf von Schack, Hermann Lingg, Viktor von Scheffel angehört haben. In 
dieſem Kreiſe war er einer der beliebteſten und humorvollſten Dichter und Zechgenoſſen. 
Zn feinen früheſten Dichtungen ift er auch von dieſem Kreiſe künſtleriſch beeinflußt worden. 
Schon im Jahre 1854 hatte er mit feinem Freunde Waldemar Neumann ein Bändchen Ge- 
dichte unter dem Titel „Soldatenlieder von zwei deutſchen Offizieren“ herausgegeben. Dieſe 
Lieder erfreuten ſich in militäriſchen Kreiſen großer Beliebtheit und wurden gern gefungen. 
1861 erſchien die Monographie „Der Bayerwald“, geſchildert und illuſtriert von Heinrich 
Reder. Erſt viele Jahre ſpäter gab Reder einige neue Werke heraus: 1885 „Federzeichnungen 
aus Wald und Flur“, 1892 „Wotans Heer“. Diefe epiſche Dichtung hatte Reder bereits 1853 
begonnen und im Oktober 1886 auf der Rottmannshöhe am Starnberger See vollendet. Ich 
übergehe die kleine lyriſch⸗epiſche Dichtung „Notes und blaues Blut“ u. a. und nenne als die 
befte und auch am bekannteſten gewordene Sammlung das „Lypriſche Skizzenbuch“ 
(1893). Dod ich vergaß die 1859 erſchienenen „Gedichte“ aufzuführen. Neder hat fpater 
originellere Töne gefunden, aber es find doch einige Balladen von kräftiger, echt voltstüm- 
licher Art in den „Gedichten“ nicht zu überſehen („Der arme Sünder“, „Oie wilde Fahre“, 
„Ran“ u. a.). 

Gewiß muten uns die „Federzeichnungen“, die Gedichte des „Lyriſchen Skizzenbuches“ 
wie mit ſchöngeſpitztem Stifte ſorgfältig hingezeichnete Beobachtungen und Stimmungen 
des reifen, des alternden Mannes an; aber doch liegt über ihnen die Friſche eines ſtets ſich 
jung und geſund fühlenden, elaſtiſchen Geiſtes. Schwere innere Kämpfe mancherlei Art ſind 
auch dieſem Dichter nicht erſpart geblieben. Wie wäre es ſonſt möglich, daß aus dieſen 
ſcheinbar ſo leicht hingeworfenen Skizzen, aus dieſen farbigen Naturſtimmungen, aus dieſen 
Gedichten des reinen Zuſtands immer wieder eine menſchlich eigenartige, vieles wiſſende 
und vieles andeutende und vieles verſchweigende Individualität uns anblickt, ein Lebens- 
philoſoph, ein Vielerfahrener, ein nach Kampf und Sieg in ſich Ruhender, doch wahrhaft 
Lebendiger? 


* 


Heinrich, von Reder l 91 


In einem Steinbruch ſaß ich lang Gerölle ſchob fidh langſam fort, 
Auf einem Block und ſann. Luftſprünge machte der Stein, 
Dieweil vom Rande manches Mal Dod ſchließlich lagen alle ſtill 
Der Ries hernleder rann. Am Boden groß und klein. 


Da fuhr ich auf. Wozu die Heb, 
Gedränge, Orue und Stoß? 

Sch eil hinweg und dachte mir, 
Oem gleicht des Menſchen Los. 


* 
Derfallen fteht im Waldesgrund Nicht weit entfernt ragt in die Luft 
Am Saumweg eine Schmiebe, Ein lang geſtreckt Gebäude, 
Oraus tönt nicht mehr ber Hammerſchlag Dort walten im Maſchinenraum 
Sum arbeltsfrohen Liede. Berußte Hammerleute. 


Mit Nägeln aus der Dampffabrit 
Vard zu der Sarg geſchlagen, 

Der den verarmten Hammerſchmled 
Zu Grabe hat getragen. 

Nicht alle dieſer meiſt dreiſtrophigen Gedichte ſind von demſelben Werte. Die reine 
Naturſtimmung wiegt vor; aber gerade auch in dieſen Gedichten atmet eine herbe, einfache 
Schönheit; die feine Linienführung, die ſorgſam gewählten Farben laffen uns der einfachen, 
boc intimen Reize der japaniſchen Malerei gedenken. 


Mit Purpurglut durchbricht den Wald Ole Nachtigall beginnt den Sang, 
Des Tages Scheldeſtunde, Und mit den letzten Gluten 

Die Bäume zeichnen ſcharf fic ab Scheint heißer ihre Sehnſucht ſich 
Tleſſchwarz auf golbnem Grunde. 3m Liebe zu verbluten. 


Mit kalten Farben taucht der Oſt 
Den Wald in ſtilles Ounkel, 

She Lied nur dringt daraus empor 
Wie Abenbrot- Ge funkel. 


Faft kaum ein anderer moderner Oichter hat die Alpenwelt in ihrer Grofartigteit, 
das Leben der Alpler, der Hirten und Sennerinnen in fo knappen und lebendigen Bildern dar- 
geſtellt wie Reder. Hier kam der Maler und Zeichner dem Oichter zu Hilfe. Mit Vorliebe hat 
Reder Motive aus den Alpen mit Pinſel oder Feder feſtgehalten. Am liebſten ſind mir jedoch 
auch auf dieſem Kunſtgebiete die kleinen, zarten, ſtimmungsvollen Skizzen, in denen ein Motiv 
aus Heide und Moor zur Darſtellung gelangt ift. 

In dem nicht zu unterſchätzenden Epos „Wotans Heer“, dem ich wenigſtens noch 
einige Worte widmen möchte, hat Reder die verſchiedenen Sagen vom wilden Jager mit einer 
von ihm frei erfundenen Fabel verſchmolzen. Von der — Gott fei Dank! — verfloſſenen Bußen- 
ſcheibenepik unterſcheidet ſich dieſe Dichtung nicht allein durch den kräftigen, an Simrocks beſte 
Nachdichtungen alter Volksepen gemahnenden Stil, durch die lebensvolle realiſtiſche Oar- 
ſtellung, ſondern auch durch den an echt epiſchen Bildern und Epiſoden und auch an Ideen 
reichen Inhalt. Oer Held iſt die Perſonifikation germaniſchen Weſens, das im Chriſtentum 
nicht ganz aufzugehen vermag, ſondern gleichſam aus angeborener Neigung immer wieder 
ſich der Natur und den in ihr waltenden Kräften mit heimlicher myſtiſcher Inbrunſt oder offe- 
ner Empörung gegen den fremden üͤberperſönlichen Chriſtengott hingibt. Ein Ausgleich wird 
nie ſtattfinden. Diefer Dualismus erſcheint als Problem hinter dem bunten Kulturbilde Reders, 
das deshalb ebenfalls ein zwieſpältiges, bald zum Chriſtenglauben, bald zur Naturreligion 
binneigendes Weſen zeigt, hierin aber gerade die große charaktervolle Ehrlichkeit ihres Schöp- 
fers bezeugt, der auch am Schluſſe keinen „Kompromiß“, keine ſcheinbare Löſung geben kann 
und geben will, gans Benzmann 


By 


92 Neue Erzählungsblicher 


Neue Erzählungsbücher 


Arthur Schnitzler: Der Weg ins Freie. Roman. (Berlin, S. Fiſcher, 
M 4.—, geb. M 5.—). | 

Ich babe dieſes Buch, trotzdem es zu den beſtgemachten gehört, nur mit ſtarker Über- 
windung zu Ende leſen können. Oder vielleicht, weil es ſo gut gemacht iſt. Schnitzler iſt 
mir immer vorwiegend als KRKunſthandwerker erſchienen. Die Mache ift ihm die 
Hauptſache. Die Form iſt bei ihm keine Notwendigkeit, erzwungen durch den Gehalt; fon- 
dern dieſer muß Zwang erleiden, damit jene Schnitzlers Anſprüchen genügt. Und trotzdem 
habe ich nicht auf einer Seite den Genuß des Virtuoſentums, denn dieſes wird immer erſt 
genußreich, wenn es dionyſiſch wird. Schnitzler aber ift kalt. Darum wirkt auch die Gelaffen- 
heit, die Ruhe, mit der das Problem dieſes Buches entwickelt wird, nicht als Ergebnis männlicher 
Selbſtbeherrſchung, tiefen Ernſtes, ſondern als Mache, als eine Art von Stil, den man zur Ab- 
wedflung ebenſogut einmal anwenden kann wie Aufgeregtheit oder lodernde Leidenſchaft. 

Noch ein anderes war es, was mir die Lektüre dieſes Buches ſo ſchwer machte: die Art 
der Behandlung des Erotiſchen. Gegen Ende des Buches ſteht von einem der Auftretenden 
der Satz: „Menſchen, die ſich ſo viel, faſt ausſchließlich mit ſich ſelbſt beſchäftigen, verwinden 
ja ſeeliſche Schmerzen überraſchend ſchnell. Auf ſolchen Naturen laſtet das geringfügigſte 
phyſiſche Unbehagen viel drüdender, als jede Art von Herzenspein, ſelbſt Untreue und Tod 
geliebter Perſonen. Es rührt wohl daher, daß jeder Seelenſchmerz irgendwie unſerer Eitel“ 
keit ſchmeichelt, was man von einem Typhus oder Magenkatarrh nicht behaupten kann.“ 
Schnitzler hat eigentlich lauter ſolche Menſchen auf die Beine geſtellt, und offenbar iſt er ſelber 
fo einer. Denn man hat das Gefühl, daß das hier aufgegriffene größere Problem mit der Wol- 
luſt und dem Hochmut eines zielbewußt arbeitenden Operateurs auseinandergelegt wird. 
Es ift geradezu widerwärtig, mit welcher Wichtigkeit alle Phaſen eines in der Liebe auch nicht 
einmal aus der ſelbſtſüchtigen Genießerei herauskommenden jungen Grafen entwickelt wer- 
den. Wo daraus ein Weg ins Freie führen ſoll, iſt nicht einzuſehen. 

Doch vielleicht ijt diefe ſtarke Betonung von allerlei Liebesproblemen nur das wohl- 
bedachte und im Hinblick auf den Leſer peinlich abgewogene Gegengewicht gegen das tiefere 
Problem des Buches. Man hat es um dieſes Problems willen als das Buch des Z uden- 
tums bezeichnet. Auch nach meinem Empfinden ift es die befte Behandlung, die die Juden- 
frage wenigſtens für Öfterreich bis heute gefunden hat. Freilich für mein Gefühl zum großen 
Teil wider den Willen des Verfaſſers. Das, worin dieſe Unterſuchungen verſagen, iſt 
mir beſonders lehrreich geweſen. Zm übrigen aber trifft die oben zitierte, an ſich ſelber wieder 
echt jüdiſche Behauptung, daß der Seelenſchmerz der Eitelkeit ſchmeichelt, auch für die Art zu, 
wie hier die Judenfrage behandelt wird. So viele verſchiedene Typen uns vorgeführt werden, 
ſo grundverſchieden ſich dieſe zu dem Problem ſtellen: die Selbſtgefälligkeit, pro- 
blematiſch zu ſein, fehlt bei keinem. Und das ſcheint mir denn doch auf einem Mangel 
der Beobachtung zu beruhen. Es gibt unbedingt auch in Oſterreich eine Unmaſſe Juden, die 
an der Judenfrage nicht mehr ſchwer tragen. Selbſtverſtändlich wird auch an vielen Stellen 
Judentum und Oeutſchtum gegeneinander geſtellt. Deutſchtum dann natürlich als Antifemi- 
tismus. Man wird ſich nicht weiter verwundern, daß der Verfaſſer vom deutſchen Fühlen 
ſo gar nichts verſteht, daß er uns auf dieſer Seite eigentlich lauter Karikaturen (zum Teil ohne 
Abſicht) vorführt. Es gibt eben nicht bloß die Eitelkeit des Seelenſchmerzes; außerdem iſt 
nichts ſchlimmer, als eine gekränkte weibiſche Eigenliebe. Und weibiſch iſt die Art dieſes Buches, 
die Art eigentlich aller darin auftretenden Menſchen. In Wien nennen das dann die hierher 
gehörigen Kreiſe „Geſchmackskultur“. 

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Moderne Stilfragen 
Ein Beitrag zur Geſchichte des deutſchen Kunſthandwerks 


Von 


Johannes Gaulfe 


ie Zerfahrenheit der Formenſprache, die Stilloſigkeit in Kunſt und 
Leben iſt eine Beſonderheit unſerer Zeit, die zum größeren Teil 
durch das Überwiegen eines einſeitig geſchulten Spezialiſtentums 
; auf allen Gebieten menſchlicher Tätigkeit hervorgerufen wird. Das 
Haffifche Altertum und das Mittelalter kannten kein Stilproblem in unſerem Sinne, 
weil in jenen Zeiten das Prinzip der Teilung der Arbeit im Produktionsprozeß 
noch nicht allgemein durchgeführt war. Man machte auch keinen Unterſchied zwiſchen 
der ſogenannten großen Kunſt und dem Kunſthandwerk. Die Kunſt entwickelte ſich 
organiſch aus dem Handwerk. Die mittelalterliche Kunſt iſt ſogar als die höchſte 
Entwicklungsform, als die Blüte des Handwerks überhaupt anzuſprechen. Die 
figürlichen Arbeiten der frühchriſtlichen Moſaik-, Sarkophag und Kleinkunſt, die 
neben einer vollendeten handwerklichen Technik große anatomiſche Unrichtigkeiten 
und Verzeichnungen aufweifen, laffen darauf ſchließen, daß fie von künſtleriſch un- 
geſchulten Handwerkern hergeſtellt ſind. Während des ganzen Mittelalters ſehen 
wir bald den Künſtler im Handwerk, bald den Handwerker in der Kunſt ſchaffen. 
Eine ſcharfe Trennung zwiſchen figürlicher und ornamentaler, dekorativer und 
Kleinkunſt iſt kaum wahrzunehmen. Die großen italieniſchen Künſtler, die, wie 
Lionardo, auch Meiſter wiſſenſchaftlicher Dijgiplinen waren, haben uns mit wenigen 
Ausnahmen auch Werke der Kleinkunſt und des Kunſthandwerks oder Entwürfe 
zu dekoratiwen Gegenſtänden hinterlaſſen. Als den Typus — wenn auch nicht den 
größten — des italieniſchen Renaiſſancekünſtlers nenne ich Benvenuto Cellini, 
der nicht nur als Bildhauer und Erzgießer, ſondern auch als Goldſchmied und 
Medailleur hochgeſchätzt war. Seine Perſeusſtatue hat einen ebenſo bedeutenden 
Weltruf erlangt wie das berühmte Salzfaß, das als ein charakteriſtiſches Erzeug- 
nis des italieniſchen Kunſthandwerks gilt. 
* Roch deutlicher find die Beziehungen zwiſchen Kunſt und Handwerk an den 
Werken der unter der Herrſchaft des gotiſchen Stils ſtehenden mittelalterlichen 


94 Gaulle: Moderne Stufragen 


deutſchen Kunſt wahrzunehmen. Während der antike Bauſtil und teilweiſe auch 
der Bauſtil der Renaiſſance fih in feinen Hauptformen nicht rein auf die Klein- 
kunſt übertragen läßt, durchdringt die Gotik alle Gegenſtände, von der Faſſade 
des Doms bis zum Weihrauchbecken und den kleinſten Schmuckgegenſtänden, mit 
dem ihr eigentümlichen Get, Die Stileinheit in der Architektur, Runft und Orna- 
mentit ift das hervorſtechende Merkmal der Gotik; ſelbſt der menſchlichen Geſtalt 
wird im gotiſchen Stil ein ſtarker Zwang angetan. Die Glieder wachſen ins Maß 
loſe und Phantaſtiſche, das Gewand nimmt ſpitzige Ecken und Formen an, und 
ſelbſt der Geſichtsausdruck der Figur iſt von dem melancholiſchen Ernſt beherrſcht, 
den die Gotik atmet. Eine Teilung der Arbeit und eine Zerlegung der Kunſt in 
eigentliche Kunſt und Kunſthandwerk konnte allein Iden aus ſtiliſtiſchen Gründen 
nicht durchgeführt werden. 

Die größten deutſchen Meiſter der Plaſtik, Adam Krafft, der Bildhauer und 
Steinmetz, und Peter Viſcher, der Erzgießer und Modelleur, legen in allen ihren 
Werken Zeugnis von der innigen Verquickung von Kunſt und Handwerk im deut- 
ſchen Mittelalter ab. Zwar hatten ſich Iden beide die Formen der italieniſchen 
Renaiſſance angeeignet und in ihrer Weiſe umgeformt, doch wurzelten fie noch 
fo ſtark in der handwerklichen Tradition der Gotik, daß fie in jedem Zuge den Hand- 
werker erkennen laffen. Auch Dürer, der von allen deutſchen Künſtlern die reichſte 
und vielſeitigſte Entwicklung durchgemacht hat, verdankt ſein Können nicht zum 
geringſten ſeiner handwerklichen Schulung. Die vielen deutſchen Kleinmeiſter, 
die Zeichner und Stecher, die im Reformationszeitalter eine außerordentliche 
Fruchtbarkeit entfaltet haben, ſind vom Handwerk zur Kunſt emporgeſtiegen. 
Ihre Werke haben nach Jahrhunderten nichts von ihrer Urſprünglichkeit und Friſche 
eingebüßt. Zeder Gegenſtand des mittelalterlichen Kunſthandwerks iſt das Pro- 
dukt einer perſönlichen Arbeitsleiſtung; er erzählt uns von den Leiden und Freu- 
den ſeines Schöpfers, von ſeinem Kampf mit dem ſtarren Material und ſeiner 
raſtloſen Erfindungstätigkeit. 

Das mittelalterliche deutſche Kunſthandwerk hat fih bis in das 16. Jahr- 
hundert hinein in aufſteigender Linie bewegt. Urſprünglich von der Kirche, die 
einen glänzenden künſtleriſchen Apparat für ihren Zeremoniendienſt nicht ent- 
behren konnte, reichlich mit Aufträgen bedacht, fanden Kunſt und Kunſthandwerk 
ſpäter im Bürgertum der Reichsſtädte eine kräftige Stütze. Dagegen haben die 
Fürſten und die Adelsgeſchlechter Deutſchlands, im Gegenſatz zu dem ariftotrati- 
ſchen Mäzenatentum Staliens, im ganzen wenig Verſtändnis für die Kunſt ihrer 
Zeit beſeſſen. — 

Wir können zwei Jahrhunderte überſpringen. Die endloſen Religions und 
Kabinettskriege, von denen Deutſchland nach der Reformation heimgeſucht wurde, 
die einen alten Kulturboden in eine Wüſtenei umwandelten, brachten auch die 
geſunde Entwickelung der deutſchen Kunſt und des Kunſthandwerks zu einem 
plötzlichen Stillſtand. Die geringen Anſätze einer künſtleriſchen Betriebſamkeit, 
die wir im 18. Jahrhundert hier und da beobachten können, haben mit der Kunſt 
nichts zu tun. Der künſtleriſche Geſchmack hatte den denkbar größten Tiefſtand 
erreicht. Die vornehme Welt und die Geiſtesariſtokratie äſthetiſierte zwar viel in 


Gaulle: Moderne Stilfragen 95. 


ihren Teekränzchen, aber ihre einſeitig abſtrakte Geiſtesbildung war nicht dazu 
angetan, der wirklichen Kunſt zu neuem Leben zu verhelfen. Die Geiſteskultur 
jener Zeit war in ihrer Weſensart eine philoſophiſche, keine künſtleriſche. Die führen 
den Geiſter, die ſich an der ſatten Kultur der Vergangenheit berauſchten, waren 
in ihrem innerſten Weſen Spießbürger, denen jegliche Genußfreudigkeit fehlte. 
Selbſt Künſtler der klaſſiziſtiſchen und romantiſchen Schule waren Aſketen, wie 
es uns die ſchemenhaften Gebilde ihrer Mufe andeuten. Die überſprudelnde Lebens- 
freude, das ſinnliche Genießen war ihnen verhaßt, und die Pracht- und Luxus- 
entfaltung galt ihnen als eine Sünde gegen den Geiſt der Kunſt. Legte doch ſelbſt 
Goethe keinen Wert auf eine luxuriöſe Umgebung, die er gerade gut genug yet 
für Menſchen, die keine eigenen Gedanken haben! 

Es mag zutreffen, daß die Literaten und Aſtheten der Biedermeierzeit aus 
der Not eine Tugend machten, indem ſie alles von ſich wieſen, was als Merkmal 
einer dſthetiſchen Kultur gelten kann. Die Zeit war arm an materiellen Gütern, 
die Tradition mit der genußfähigeren Vergangenheit unterbrochen, und die Werke 
der deutſchen Kunſt und des Kunſthandwerks waren in Vergeſſenheit geraten. 
Das war das Ende des künſtleriſchen Niedergangsprozeſſes, der in Oeutſchland bei 
Beginn der Religionskriege einſetzte. Alle Verſuche, Kunſt und Handwerk auf 
einer neuen Baſis zu reorganifieren und einen eigenen Stil zu entwickeln, ver- 
liefen reſultatlos. War es ein Charakteriſtikum der großen Kultur- und Runft- 
epochen der Vergangenheit, wie der Gotik, der Renaiſſance, des Barock und Ro- 
koko, daß ſie ſich ausſchließlich eines Stils für die geſamte kirchliche und profane 
Architektur und das Kunſthandwerk bedienten, fo begann das 19. Jahrhundert 
damit, die Stile der Vergangenheit der Reihe nach neu zu beleben. Selbſt ein 
Mann von ſtarkem künſtleriſchen Empfinden, der hervorragende Berliner Archi- 
tett Schinkel, erwartete das Heil von der Wiederbelebung der antiken Formen- 
ſprache und ihrer Übertragung auf neugeitliche Gegenſtände. 

* 

Als die Ratlofigkeit am größten war, erſchien ein neuer wirtſchaftlicher Fat- 
tor auf der Bildfläche: der induſtrielle Kapitalismus. Einiger Handwerksbetriebe 
hatte er ſich bereits in der erſten Hälfte des vorigen Jahrhunderts bemächtigt; 
bald geriet das Kunſthandwerk in ein drückendes Abhängigkeits verhältnis zum 
Induſtrialismus, der ehemalige ſelbſtändige Kunſthandwerker wurde nach und 
nach zu einem Lohnarbeiter und Spezialiſten gemacht. 

Die Wiederbelebung des Kunſthandwerks, von der in dieſen Tagen viel ge- 
ſprochen und geſchrieben wird, ſtellt ſomit einen Widerſpruch in ſich dar. Es ſollte 
zutreffender heißen: Entſtehung der Kunſtinduſtrie. Denn die Tradition mit dem 
alten deutſchen Kunſthandwerk konnte ſchon aus dem Grunde nicht wieder auf- 
gefriſcht werden, weil der Induſtrialismus ſich einer anderen Arbeitsmethode be- 
dient als das Kunſthandwerk. Maſchine und Spezialiſtentum find die beiden Vor- 
ausſetzungen des kapitaliſtiſchen Induſtriebetriebes geworden. Der moderne Unter- 
nehmer braucht „Hände“, keine ſelbſtändig ſchaffenden Handwerker und Künſtler, 
in der Induſtrie wie in der Kunſtinduſtrie. Das Arbeitsprodukt ift nicht mehr die 
Geſamtleiſtung einer denkenden Perſönlichkeit, ſondern ein Rompler von Einzel- 


96 Gaulle: Moderne Stilfragen 


leiſtungen vieler Arbeitshände. Das Mittelalter und die Renaiſſance kannten nicht 
die Teilung der menſchlichen Perſönlichkeit. Das Fabrikat muß andererſeits auch 
jo beſchaffen fein, daß es den Geſchmack der Maffe trifft; äſthetiſche Räſonnements 
gibt es für den Unternehmer nicht. Im Mittelalter war der Konſumentenkreis 
von kunſtgewerblichen Gegenſtänden ein relativ kleiner. Das Patriziat, die Zunft, 
die Fürſten und die Kirche kamen eigentlich nur als Auftraggeber in Betracht. 
Der mittelalterliche Kunſthandwerker fertigte den Gegenſtand meiſtens auf Be- 
ſtellung an; er hatte infolgedeſſen nur den individuellen Geſchmack eines Men- 
ſchen oder einer kleinen Gruppe von Menſchen zu befriedigen. Mit der Induſtria- 
liſierung des Kunſthandwerks erweiterte ſich indeſſen der Konſumentenkreis ſtetig. 
Den Fürſten, der Kirche und den Ständen ſchloß fih das Bürgertum und ſchließ 
lich auch die beſſer entlohnte Arbeiterſchaft als kunſtkonſumierendes Publikum an. 
Die Folge war eine fortgeſetzte Verbilligung und Verſchlechterung des Artikels. 

Als in den ſiebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts die Kunſtinduſtrie ſich 
in Deutſchland ausbreitete, ſpielten Form und Material des Gegenſtandes über- 
haupt keine Rolle. Das künſtleriſch ungebildete, nur kaufmänniſch geſchulte Unter- 
nehmertum hatte fih eigentlich nur des vernachläſſigten Kunſthandwerks ange- 
nommen, weil es materielle Erfolge verſprach. Nach einer dürftigen Wirtichafts- 
periode war Geld ins Land gekommen — für deutſche Verhältniſſe waren es 
ganz ungewöhnliche Summen. Die ganze Nation hatte ſich in einen Gründer- 
taumel geſtürzt, das Kapital drängte nach Anlage und Verwertung; Geldverdie- 
nen und Geldausgeben war das Leitmotiv der Zeit. Aus der günſtigen Wirtfchafts- 
konjunktur zog aber nicht nur das Unternehmertum ſeinen Nutzen, ſondern auch die 
Arbeiterſchaft. Die Löhne ſchnellten in die Höhe, die geſamte Lebenshaltung 
ſtieg, ſelbſt der unteren Schichten bemächtigte ſich eine gewiſſe Verſchwendungs⸗ 
ſucht und ein verſchwommenes äſthetiſches Bedürfnis. Die kunſtgewerblichen 
KRamſchartikel, die mit reklamehaften Anpreiſungen in gewaltigen Mengen auf 
den Markt geworfen wurden, fanden überall den erwünſchten Abſatz. Die Fabri- 
kanten der Bronze- und Zinkgußinduſtrie, der Porzellan- und Terrakotta-, der 
Möbel- und Holzſchnitzinduſtrie konnten oft die Nachfrage nicht decken. Bald fehlte 
es auch an Muſtern. Das kaufkräftige Publikum forderte ohne Unterlaß etwas 
Neues, und die Unternehmer gaben ſich alle erdenkliche Mühe, effektvolle und 
„originelle“ Artikel herzuſtellen. Wie in der Architektur, fo wurden auch im Runft- 
handwerk und in der Kunſtinduſtrie ſämtliche hiſtoriſchen Stile der Reihe nach 
„modern“. 

Zunächſt gab man dem „Altdeutſchen“ den Vorzug. Die erſte Münchener 
Kunſtgewerbeausſtellung im Jahre 1876 ſtand nod im Zeichen der mifverftande- 
nen und korrumpierten deutſchen Renaiſſance. Als das „Altdeutſche“ nicht mehr 
zog, griff man auf italieniſche Vorbilder zurück. Einige Zeit war in der Runft- 
induſtrie ein korrupter italieniſcher Renaiſſanceſtil, der ſich weiterhin in barocke 
Formen auflöſte, tonangebend. Zur Abwechſelung wurden auch die Stile der 
franzöſiſchen Könige und ſchließlich das Rokoko „modern“. Die zahlreichen Artikel 
der Bronzeinduſtrie, die Bilderrahmen, die Schreibzeuge, die Aſchbecher, die Leuch- 
ter und Lampen ufw. laffen uns den Modewechſel der Stile am deutlichſten er- 


Gaulte: Moberne Stilfragen 97 


kennen; fie zeigen uns aber auch, wie das Unternehmertum fih die Ideen der 
Vergangenheit zunutze gemacht hat, ohne bei feinem Ummwertungsprozeß in der 
Kunſtinduſtrie neue äſthetiſche Werte geſchaffen zu haben. 

Die „Wiederbelebung“ des Kunſthandwerks in der Gründerperiode hat in 
der Hauptſache nur eine Verwilderung des Geſchmacks bewirkt. Faft zwei Jahr- 
zehnte hielt die Verwahrloſung des Kunſthandwerks durch die Induſtrie an. Es 
tam die Zeit der „Zmitationen“, der Pjeudo- und Attrappenkunſt. Die Induſtrie 
hat es in der Kunſt, einem minderwertigen Material den Anſtrich und Zuſchnitt 
des Echten zu geben und die techniſche und konſtruktive Eigenart eines Stoffes 
auf den anderen zu übertragen, bald zu einer unvergleichlichen Meiſterſchaft ge- 
bracht. Es ift kaum ein Gebiet der Induſtrie von der „Imitation“ — auf gut deutſch: 
Schwindel — verſchont geblieben. Die Bronzeinduſtrie verlegte ſich auf die Her- 
ſtellung von „Kunſtbronzen“, das heißt von Zinkgüſſen, die durch einen galvani- 
ſchen Überzug und eine raffinierte Patinierung einen bronzeartigen Anſtrich er- 
hielten. Bald kam die „Galvanobronze“, die der künſtleriſchen Qualität des Gegen- 
ſtandes noch weniger Rechnung trägt als der Zinkguß, in Aufnahme. Die Stud- 
und Kunſtſteininduſtrie hat zur Verſchönerung der Mietskaſernen das ihrige bei- 
getragen. Die Innendekoration, die durch billige Stuckartikel, Leder- und Holz- 
imitationen der Mietwohnung einen äußerlich gediegenen Anſtrich gibt, dürfte in 
dieſer Beziehung den Rekord erlangt haben. Die Galanteriewaren-, Gold- und 
Silber, erſatz“ Induſtrie leiſtet nicht minder Hervorragendes in der Smitation. 
Oft genug ijt es nur mit Hilfe exakter Apparate möglich, das Echte von dem Un- 
echten zu unterſcheiden. | 

Ka 

Die dem Induſtrialismus eigentümliche Maſſenfabrikation in Verbindung 
mit der Modernifierungs- und Imitationstendenz der Induſtrie hat die Entwide- 
lung eines neuen Stils Jahrzehnte hindurch aufgehalten, wenn nicht gar ver- 
hindert. Ein geiſtiges Armutszeugnis, wie es keine andere Zeit fic ſelbſt ausge- 
ſtellt hat. Das ſahen ſchließlich die Künſtler und Aſtheten vom Fach ſelber ein. 
So durfte es nicht weitergehen, wollten wir nicht im Sumpfe des Induſtrialismus 
erſticken. Es war vor allen Dingen nötig, ſich wieder auf die eigenen Füße zu 
ſtellen, um Eigenes hervorbringen zu können. Die Propagandiſten des neuen 
Kunſthandwerks und des neuen Stils hatten ferner eingeſehen, daß Material und 
Form des Gegenſtandes miteinander in Einklang gebracht werden müffe, um eine 
das Auge befriedigende (äſthetiſche) Wirkung zu erzielen. Der Induſtrialismus hatte 
durch die Maſſenfabrikation und den Zmitationsſchwindel alle äſthetiſchen Werte auf 
den Kopf geſtellt. Der Gegenſtand ſchien nur noch um des Ornaments willen da zu 
ſein; der ihm innewohnende Zweck wurde kaum noch durch die Form ausgedrückt. 

Alſo fort mit den Ornamenten! Fort mit jedem überflüſſigen Beiwerk, 
das dem Gegenſtand wie ein Paraſitenſchwarm anhaftet! Ein großer Reinigungs- 
prozeß ſetzte ein. Die ſchauerlichen Faſſaden der Mietskaſernen, die Möbel, die 
Gebrauchs- und Luxusgegenſtände wurden ihres lächerlichen ornamentalen Bei- 
werks entlleidet. Der neue Stil charakteriſierte fich in der ſcharfen Betonung des 


Zweckmäßigen. Die ſich aus der Konſtruktion des Gegenſtandes ä Form 
Ser Eimer XI, 7 


98 Gaulle: Moderne Stilfeagen 


ſollte unter allen Umftänden gewahrt bleiben. So hatte u. a. ein Stuhl in feiner 
geſamten Erſcheinung lediglich den Zweckgedanken, dem er entſproſſen ift, aus- 
zudrücken. Eine mit ſcharfkantigen Ornamenten gezierte Lehne, wie ſie unter der 
Herrſchaft des deutſchen Nenaiffanceftils üblich war, ift ſchon an ſich eine Stil- 
widrigkeit. Ein Gebrauchsgegenſtand hat keinen dekorativen Zweck zu erfüllen, 
ſondern, wie es der Name ſchon ausdrückt, den Zweck, gebraucht und weiterhin 
verbraucht zu werden. Jedenfalls muß das Ornament — ſofern es überhaupt 
noch Verwendung findet — ſo beſchaffen ſein, daß es ſich der aus der Konſtruktion 
hervorgegangenen Form des Gegenſtandes anſchmiegt. 

Im letzten Jahrzehnt find von Künſtlern und Kunſthandwerkern mannig- 
fache Verſuche unternommen worden, eine neue Formenſprache zu erfinden und 
einzuführen. Neben vielen verfehlten Experimenten find auch einige höchſt be- 
achtenswerte Leiſtungen, die tatſächlich den Reiz der Neuheit und Eigenart auf- 
weiſen, erzielt worden. Es wäre allerdings verfrüht, ſchon heute ein abſchließendes 
Urteil über den werdenden Stil zu fällen, doch kann man ihm eine günſtige Pro- 
gnoſe wohl ſtellen, ſcheint er doch geradezu aus dem Geiſte der Zeit geboren zu 
ſein. Der Zweckmäßigkeitsgedanke beherrſcht die Welt, das Wirtſchaftsſyſtem, die 
Menſchen und ihre Umgebung: die Gebrauchs- und Luxusgegenſtände, die Möbel, 
die Wohnhäuſer, das Koſtüm u. a. m. 

Im letzten Grunde find die Hauptformen der Architektur und der angewandten 
Künſte immer der plaſtiſche Ausdruck eines beſonderen Zweckgedankens geweſen. 
Es iſt wohl noch keinem Architekten eingefallen, ein Gewölbe um feiner Schön- 
heit willen zu konſtruieren: wo und in welchem Zuſammenhange wir es auch an- 
treffen, ſtets erfüllt es einen architektoniſchen Zweck. Aus dem Zweckgedanken 
ergab ſich die Form. Daher erſcheinen uns alle Gegenſtände, die ihren Zweck durch 
die ihnen eigene Form ausdrücken, als harmoniſch abgeſtimmt, ſtilvoll, gemein- 
hin als ſchön, mögen fie auch den verſchiedenſten Ideenkreiſen angehören. Unſere 
äfthetifchen Vorſtellungen find an kein beſtimmtes Schema gebunden. Die Hot, 
ſiſche wie die gotiſche Architektur, die doch in ihrer Erſcheinungsform die denkbar 
größten Gegenſätze ausdrücken, iſt jede für ſich betrachtet ſchön; eine jede ſtellt 
eine in ſich geſchloſſene Stileinheit dar. — 

Was wird weiter folgen? Wir leben in einer neuen Eiſenzeit. Frühere 
Perioden begnügten ſich mit Stein und Holz als Ausführungsmaterial in der 
Architektur, wir haben das Eiſen uns in größerem Umfange nutzbar gemacht. 
Die meiſten Bauwerke, die Verkehrs- und Handelszwecken dienen, ſind aus Eiſen 
konſtruiert. Die Maſchinen und die modernen Verkehrsmittel, die Lokomotiven, 
Dampfer, Kraftfahrzeuge find faſt ausſchließlich aus dieſem Material hergeſtellt. 
Nun liegt es aber in der Eigenart des Eiſens, daß es keine willkürliche Verſchöne⸗ 
rung verträgt, ebenſowenig wie der beſondere Zweck, den jene Gegenſtände erfüllen, 
eine willkürliche Abweichung von der Grundform und eine Ornamentierung duldet. 
Eine Staatskaroſſe des 18. Jahrhunderts ließ ſich durch plaſtiſche Ornamente ver- 
ſchönern, ohne daß dadurch ein Hindernis für die Bewegungsfreiheit des Fahr- 
zeuges hervorgerufen wurde. Man ſtelle ſich dagegen eine Lokomotive nach Art 
der alten Vehikel „verſchönert“ vor! Nicht allein das Material, ſondern auch der 


Gaulle: Moderne Stilfragen 99 


Zweck der Lokomotive wie die räumlichen Verhältniſſe, denen fie zugewieſen ift, 
würden jeden „Verſchönerungsverſuch“ energiſch abweiſen. 

In allen Betriebs- und Verkehrsmitteln unſerer Zeit iſt demnach lediglich 
aus Zweckmäßigkeitsgründen die konſtruktive Form gewahrt worden. Eine Er- 
ſcheinung, die nicht ohne Einfluß auf die äſthetiſche Anſchauung des modernen 
Menſchen bleiben konnte. Die neue Stilbewegung durfte daher dieſes Moment 
nicht umgehen, wollte ſie ſich mit Erfolg durchſetzen. Aus dieſem Grunde werden 
auch die geſchichtlich überkommenen Eigenarten der alten Stile, die vorwiegend 
durch die handwerkliche Produktionsweiſe bedingt waren, kaum wieder zur Gel- 
tung kommen. Die moderne Technik, die maſchinelle Produktionsweiſe drängt 
geradezu auf eine einheitliche Behandlung des Gegenſtandes hin. Der neue Stil 
ſteht von vornherein im Zeichen der Maſſenfabrikation. Der moderne Konſum 
erſtreckt ſich auf alle Bevölkerungsſchichten. Die Induſtrie und Kunſtinduſtrie 
wendet fid) mit ihren Erzeugniſſen an die Geſamtheit, die Verkehrs- und Betriebs- 
mittel dienen dem ganzen Volke. Während fic früher der Bedarf an Gegenftdn- 
den der Kunſt und des Kunſthandwerks auf die oberen Schichten der Bevölkerung 
erſtreckte, beanſprucht heute ein jeder ſeinen Anteil aus der Produktionsmenge, 
mag er auch noch fo geringfügig fein. Anſere Zeit ſteht im Zeichen der kollektiven 
Bedarfsbefriedigung in Kleidung und Lebensunterhalt, in Kunſt und Literatur, 
zu Haufe wie auf der Reife, im öffentlichen wie im privaten Leben. Ich nenne 
nur als Stätten der öffentlichen Bedarfsbefriedigung die Theater und Konzert- 
häuſer, die Hotels und Reſtaurants, die Cafés und Bars, die Eiſenbahnzüge und 
Dampfſchiffe, die Warenhäuſer und Ausſtellungen. Das moderne Wirtſchafts⸗ 
leben neigt immer ſtärker einer öffentlichen Pracht- und Luxusentfaltung zu, 
da ſich das Leben der meiſten Menſchen infolge der Wechſelhaftigkeit der Zuſtände 
außerhalb des „eigenen Heims“ — das für den Großſtadtnomaden faſt ſchon ein 
mythiſcher Begriff geworden iſt — abſpielt. 

Einheit der Form, Einheit der Bedarfsgeſtaltung, Einheit des Geſchmacks! 
Unfer Wirtſchaftsſyſtem übt — das dürfen wir uns nicht verſchweigen — in jeder 
Beziehung nivellierende Wirkungen aus. Der Vereinheitlichung des Koſtüms für 
alle Berufsſtände und Klaſſen, die ſich im 19. Jahrhundert vollzogen hat, folgt 
nunmehr eine Vereinheitlichung des Milieus, eine Schablonifierung der Tages- 
und Luxusbedürfniſſe, des Geſchmackes überhaupt. Induſtrie und Wirtſchaft haben 
die hergebrachten äſthetiſchen Werte „ſchön“ und „häßlich“ vernichtet, wie über- 
haupt die an ſich „zweckloſe“ Schönheit aufgehoben und eine neue Wertung der 
Dinge nach den Geſichtspunkten des Zweckmäßigen und Angenehmen, des Kom- 
forts, angebahnt. Ich verweiſe inſonderheit auf die Erzeugniſſe der Möbelinduſtrie, 
über deren aſthetiſche Wertung die Meinungen ja ſtark auseinandergehen, die man 
aber auch bei aller Würdigung der neuen künſtleriſchen Beſtrebungen kaum als 
eine dauernde Bereicherung des Formenſchatzes bezeichnen kann. Andererſeits wäre 
es aber auch verfehlt, ſchon heute Schlußfolgerungen aus den bisherigen Leiſtungen 
zu ziehen. Wir können im beſten Falle nur die allgemeine Entwicklungstendenz aus 
einer Reihe von Erſcheinungen ableiten, jede Spekulation darüber hinaus verwickelt 


uns jedoch in Trugſchlüſſe. 
wor 


100 Neue Bilderwerte 


Neue Bilderwerke 


2 Wie Sturmflut der buchhändleriſchen Neuerfheinungen ift überſtanden. Noch bis 

unmittelbar vor Weihnachten gehen die Wogen hoch und tragen immer neues Gut 
auf den kaum entlaſteten Schreibtiſch des Umſchauhaltenden. Glüdlicherweife 
hat ſich die Bücherkaufluſt im deutſchen Volke gegen früher außerordentlich geſteigert und 


kommt nicht mehr bloß dem Weihnachtsmarkte zugute. Das Buch, das Bild nicht weniger, 


und die Vereinigung beider im Bilderwerke insbeſondere, bleibt ja dauernd der Gegenſtand, 
bei dem ſich die Kunſt des Schenkens zuerſt erlernen und am eheſten ſinnreich üben läßt. 
Nicht leicht läuft man mit Büchern die Gefahr, Geſchmackloſes oder Überflüffiges zu ſchenken. 
So wollen wir alſo auch jetzt noch in raſchem Überblicke eine Zahl von Werken kennen lernen, 
die eine eindringlichere grundſätzliche Behandlung nicht nötig haben. Da ift zunächſt noch 
von einigen Bildern zu ſprechen. 

Einen willkommenen Schmuck für das Eh- und Wohnzimmer des chriſtlichen Haufes 


bildet Frit Uhdes Romm, Herr Zeſu, fet unfer Gaſt!“, von dem im Kom- 


miſſionsverlag des Albrecht OSürer-Hauſes zu Berlin ein guter Farbendruck 
(Bildgröße 414% x 33 om) erſchienen ift. Daß damit gleichzeitig eines der beſten Werke neu- 
deutſcher religidfer Malerei die dieſer Maltechnik zuträglichſte Verbreitung in farbiger Wieder- 
gabe erfabrt, ift vom kunſterzieheriſchen Standpunkte ſehr zu begrüßen. 

Wer über den Verluſt nicht hinwegkommt, den der Vierfarbendruck notgedrungener- 
melle gegenüber der Farbigkeit des Urbildes bedeutet, aber doch nicht über die Mittel verfügt, 


ſich gute Originalgemälde anzuſchaffen, andererſeits auch nicht auf den farbigen Wandſchmuck 


verzichten will, dem bietet fic ein ſchöner Ausweg in den farbigen Künſtler Stein- 
zeichnungen, die ſeit einigen Jahren in verſchiedenen Größen zu außerordentlich billigen 
Preiſen in den Handel gebracht werden. Denn bei der ganzen Art, wie diefe Künftler-Stein- 
zeichnungen entſtehen, haben wir es bier in gewiſſem Sinne mit Originalarbeiten zu tun. 
Unter den Hunderten von Blättern, die im letzten Jahrzehnt vor allem von den Leipziger 
Verlegern Voigtländer und Teubner in den Handel gebracht worden find, befinden ſich natür- 
lich auch ſolche, die die Vorbedingungen eines guten Ergebniſſes nicht erfüllen: ſie ſind nicht 
als Steinzeichnung gedacht, nutzen nicht die eigenartigen Werte, die diefe Orudweife gegenüber 
jeder anderen Oarſtellungstechnik beſitzt, muten ihr andererſeits Aufgaben zu, die fie nicht 
beffer zu löſen vermag, als etwa das Vierfarbendruckverfahren. Vor allem zu Beginn, als es 
galt, einmal eine große Zahl von Blättern auf den Markt zu bringen, iſt mancher Mißgriff 
mit untergelaufen. Jetzt, wo nur langſam weitergearbeitet wird, kommt durchweg Ausgezeich- 
netes heraus. — Mir liegen die neuen Blätter des Verlages B. G. Teubner in Leipzig 
vor. Es find deren vier in kleinem Format (Al x 30 cm Bildgröße, Blatt 2.50 M). Außer- 
ordentlich friſch iſt Ulrich Webers „Apfelblüte“, vor allem zum Schmuck des Rinder- 
zimmers geeignet. — Sehr tonig wirkt Leni Matthäis „Tauwetter“. —N Herdt- 
les „Vorfrühling“ arbeitet mit ſtark gebrochenen und verſchwimmenden Lichttönen und 
bringt diefe in dem weiteren Sehabſtand, den diefe Bilder ja erheiſchen, ſehr hübſch zur Cin- 
heit zuſammen, ſo daß das Bildchen auch an dunkler Wand eine beſondere Leuchtkraft bewähren 
wird. — Hermann Petzet, von dem ich ſchon früher gute Blätter geſehen habe, gewinnt 
auch in ſeinem „Landenden Fiſcherboot“ durch die Kraft der Farben. Den Realismus, 
daß Segel und Boot das Eigentümerzeichen P. 48 fo aufdringlich zeigen, hätte er fih allerdings 
lieber ſparen ſollen. Die Zahl lenkt die Aufmerkſamkeit des Beſchauers über Gebühr auf ſich. 

Sehr wirkſam als Supraporte oder Fries ift Karl Otto Matthäis „Aus den Vier- 
landen“ zu verwerten (104 x 45% om). Das ganze Bild ift auf drei Farbentöne komponiert 
und in feinen einfachen Motiven großzügig gegliedert. — Eugen OF walds „Auf der Heide“ 
(75 x 55 cm, 5 M) vermag mich nicht fo voll zu befriedigen. Die Abendbeleuchtung bedingt 


Neue Bilberwerte 101 


jene Umftimmung von Farbenwerten auf den Figuren, die gerade beim Oruck auf glattem 
Papier zu leicht jenes Impreſſioniſtiſche (d. i. nur vorübergehend Geltende) einbüßt, das die 
Hand des Malers uns fo leicht empfinden laſſen kann. Dann aber bleibt dem Beſchauer die 
Frage: „Stimmt die Farbe auch?“ und damit wird das volle Genießen ungünſtig beeinflußt. — 
Zum Schluſſe noch eines von den ganz großen Bildern (70 x 100 cm, 6 M). Theodor Herr- 
manns „Seeblick“ arbeitet mit jenen breit gegeneinandergeſetzten Tonwerten, die das Sonder- 
gebiet der Lithographie bilden und in ihr beſonders günftig herauskommen. Alles in allem be- 
deuten auch dieſe Bilder wieder eine wertvolle Bereicherung unſeres häuslichen Wanbſchmuckes. 

Auch einige Mappenwerke harren der Würdigung. 

Wir haben fo wenige Künſtler von wirklich monumentalem Fühlen, daß man um fo: 
freudiger jede Gabe dieſer Auserwählten entgegennimmt. So wird man auch dankbar die Neu- 
ausgabe der zehn Holzschnitte begrüßen, die Alfred Rethel als Vierundzwanzigjähriger 
für eine Prachtausgabe des Nibelungenliedes ſchuf. Dieſe Fakſimile-Wiedergabe der 
alten Holzſchnitte gibt Szenen der letzten furchtbar tragiſchen Abenteuer mit fo wuchtiger Cin- 
fachheit wieder, daß dieſe elementaren Blätter in dreißigfacher Vergrößerung viel monumen- 
taler wirken würden, als 9/100 aller deutſchen Wandmalerei der letzten feds Jahrzehnte. Der. 
gleiche Verlag Fritz Heyder, Berlin, der auf den guten Gedanken des Neudrucks (er koſtet 1.20 4) 
gekommen ift, bringt für 3 M eine Fibus Mappe von 12 Blättern, die den Verehrern dieſes 
Künſtlers ſehr willkommen fein wird, da He als perſönliches Lebensbekenntnis wirkt. l 

Zm beiten Sinne volkstümlich, eine Gabe, die wir dem ganzen Volke, hoch wie niedrig, 
ins Heim wünfchen möchten, ift das von der Freien Lehrer-Gereinigung für Kunſtpflege heraus- 
gegebene Sammelheft „Landſchaften von Hans Thoma“ (Mainz, Zoſ. Scholz, 
10. Fünfzehn in guter Autotypie wiedergegebene Bilder aus dem Schwarzwald, dem Tau- 
nus, von Donau und Rhein, aus der Alpenwelt und aus Stalien find hier vereinigt. Mit dem 
Wort „deutſch“ wird fo viel Mißbrauch getrieben; wer feinen ganzen ſchönen Vollinhalt er- 
fahren will, der ſehe dieſe Landſchaftsbilder Thomas an. Es wird ſich ihm als erſtes Kennwort 
dlefes Künſtlers das Wörtchen deutſch aufdrängen. Herzens - und Gemütsreichtum, Sinn für 
Größe, Liebe zum Kleinen, beſchauliche Zufriedenheit und dennoch drängendes Sehnen, — 
alles iſt hier enthalten. 

Sch für meine Perſon empfinde es nicht als Gegenſatz, wenn ich danach den im Verlag 
Karl Rob. Langewieſche zu Düffeldorf erſchienenen Band „Griechiſche Bildwerke“ 
zur Hand nehme. Es war ja auch derſelbe Goethe, der im gleichen Werke neben das deutſche 
Leben in der engen mittelalterlichen Stadt die freie Schönheit der Helena-Epiſode ſtellte. 
Sewif find es verſchiedene Welten, aber gerade uns Oeutſchen fällt es nicht ſchwer, in die grie- 
chiſche einzudringen, zumal wir im Innern immer die Sehnſucht danach tragen. Es iſt ja auch 
leicht begreiflich, daß, wer ſo wie wir in allen Welterſcheinungen das Problematiſche fühlt, 
weil ein innerer Zwang uns treibt, immer wieder nach dem Verhältnis unſeres Selbſt zu die- 
fer Welterſcheinung zu forſchen, dahin gelangt, im Freiſe in vom Problematiſchen 
das GS Lü ck zu erblicken. Dieſe Freiheit fühlen wir nirgendwo ſtärker als in der griechiſchen 
Kunſt. Aus dieſer Freiheit ſtammt die unbedingte Freudigkeit des Sehens, das volle Vefriedigt- 
fein und damit auch das reſtloſe Ausſchöpfen der Schönheit alles Sichtbaren. Dieſe zum er- 
ſtaunlichen Preiſe von 1.80 A dargebotene Sammlung von 140 Abbildungen griechiſcher 
Bildwerke iſt von Max Sauerland ſehr gut ausgewählt und verſtändnisvoll eingeleitet. Daß 
die Werke der Kraftzeit vor den fpäteren und ihrer bereits etwas ſpieleriſch gewordenen An 
mut bevorzugt wurden, iſt nicht nur geſchichtlich gerecht, ſondern auch kunſterzieheriſch geſund. 

Und wieder zurück aus der griechiſchen Schönheitswelt ins deutſche Vaterland. Denn 
das immer kräftiger ſich entfaltende Verlangen nach architektoniſcher Kultur kann durch nichts 
beſſere Nahrung und geſundere Richtung erhalten als durch genaue Renntnis der hodentwidel- 
ten Baukultur unſerer Vorfahren. In ſehr glidlicher Weiſe wird diefe Fähigkeit zu maleriſcher 


102 Neue Bilberwerte 


Geſamtwirkung im älteren deutſchen Städtebau herausgearbeitet in den zwölf „Oeutſchen 
Städtebildern“ von H. Braun, die J. J. Webers Verlag in Leipzig in guten Nach- 
bildungen herausgegeben hat (2 M). 

Bilderwerke vornehmſter Art find die in ihrem roten Gewande allmählich überall be- 
kannten „Klaſſiker der Kunſt“, von denen die Oeutſche Verlagsanſtalt in Stuttgart 
foeben den dreizehnten Band auf den Markt gebracht hat. Er iſt van Oy ck gewidmet, dem 
einzigen Modemaler der Kunſtgeſchichte, der noch nie aus der Mode gekommen IL 537 Ge- 
mälde des Meiſters find in trefflichen Reproduktionen wiedergegeben. Wir werden zu ihnen 
hingeführt durch eine bei aller Wärme ſehr ſachlich gehaltene Würdigung des Künſtlers und 
Menſchen aus der Feder Emil Schaeffers. Ausführliche kritiſche Nachweiſe über Standort, 
Entſtehungszeit der einzelnen Werke, überſichtliche Regiſter bilden den Anhang. Der Band 
koſtet 15 K. Die Bildermaſſe wird in zwei Gruppen dargeboten, deren erſte die Werke reli- 
giöſen, mythologiſchen und geſchichtlichen Inhalts, die andere, größere, die Bildniſſe bringt. 
Die ſtoffliche Teilnahme auch für diefe Abteilung ift viel größer, als man zunächſt bei Bildniſſen 
vorausſetzen möchte, da die Mehrzahl der Oargeftellten durch geſchichtliche Bedeutung oder 
geſellſchaftliche Stellung hervorragende Menſchen waren. Van One ift einer der „glücklichen“ 
Rünftler, die ſchier als Erbe verwalten konnten, was andere mühſam erringen mußten, dadurch 
außerordentlich früh erfolgreich, aber vielleicht gerade infolge dieſer Nampfloſigkeit raſch körper 
lich und auch künſtleriſch verzehrt. Wir empfehlen immer wieder dieſe Bände als ausgiebigſte 
Unterlage für kunſtgeſchichtliche Studien und mehr noch als hervorragend Schöne Bilderbücher 
für reife Menſchen. | 

Um des außerordentlich reichen Bildermaterials willen, das hier beigegeben iſt, gehört 
auch die Monographie in dieſen Zuſammenhang, die Artur Roeßler dem öſterreichiſchen 
Meiſter Ferdinand Georg Wald müller gewidmet hat (Wien, Karl Graeſer & 
Ko., 5 A). Die Wiederentdeckung dieſes ſchon vor einem Menſchenalter verſtorbenen Wiener 
Künſtlers war eine der ſchönſten Überraſchungen, die die Berliner „Jahrhundertausſtellung“ 
uns gebracht hat. Durch ſeither veranſtaltete Sonderausſtellungen hat man nun erkannt, daß 
jene beſchränkte Neihe von Meiſterwerken nicht die Vereinigung einiger Glücksfälle im Schaffen 
dieſes Mannes bedeutete, ſondern nur eine Auswahl aus einem außerordentlich reichen, gleich 
wertigen Lebenswerke darſtellte. Das vorliegende Buch erfüllt die dankbare Aufgabe, der 
Allgemeinheit einen Einblick in dieſes blühende Schaffen zu vermitteln. Auf 130 Seiten ſind 
in ſorgfältigen, auf Mattpapier gedruckten Autotypien die Mehrzahl der Gemälde Waldmüllers 
wiedergegeben. In drei Gruppen: Bildniſſe, Landſchaften, Genreſtücke, die in ſich jeweils 
chronologiſch geordnet ſind, lernen wir ein Lebenswerk kennen, deſſen Inhalt zwar nicht von 
überwältigender Größe, aber von ſtarkem ſeeliſchen und geiſtigen Gehalt if. Wohl ift auch 
Waldmüller nicht immer den Gefahren des Genrebildes entronnen, aber fein Empfinden ift 
echt und wahr, feine Darſtellungsweiſe auf ein großes Können geſtützt, und in allem waltet jener 
gut geſchulte Geſchmack des alten Wien, der von aller Senſationsſucht, aller Aufdringlichkeit, 
allem falſchen Schein frei iſt. Schon dieſe Abweſenheit der ſchlimmſten Fehler bedeutet einen 
großen Wert, der durch die Anweſenheit einer vornehmen Behäbigkeit, einer wohligen Lebens- 
kunſt und einer lichten Sinnenfreudigkeit noch außerordentlich gehoben wird. Das Buch ver- 
dient weite Verbreitung. 

Auch als Konfirmationsgeſchenk vielfach willkommen fein wird ein Lutherbuch aus dem 
Verlage M. Heinſius in Leipzig (8 M): „Luther, wie er lebte und wirkte, für 
das deutſche Volk dargeſtellt in Bildern von Hugo L. Braune, mit begleitendem Text von 
Kirchenrat Heſſe“. Zwanzig ganzſeitige Bildertafeln, wozu noch eine große Zahl von Leiſten 
kommt, begleiten Luthers ganzes Leben, ſo daß der aus den Bildern entwickelte Text mit dieſen 
vereint eine eindringliche Beſchreibung des Wirkens Luthers mit reichlichen Ausblicken auf die 
Zeitgeſchichte bringt. Braunes Art wirkt beim erſten Blick etwas tüftelig für dieſen Stoff, aber 


Oe Le eee ee Re eee 


Ludwig Fahrentrog 103 


feine hervorragende Fähigkeit ber Raumbehandlung bringt doch Größe in die im Detail auger- 
ordentlich reichen Blatter. 

Den Beſchluß mache ein Buch, das wohl imſtande ijt, den uns arg verleideten Begriff 
der Prachtausgabe von Oichterwerken wieder zu Ehren zu bringen. Die Herderſche Verlags“ 
handlung in Freiburg bringt eine der beſten Schwarzwalderzählungen von Heinr. Hans jakob: 
den „Vogt auf Mühlſtein“, in Verbindung mit acht Heliogravüren nach Originalzeichnungen 
von Wilh. H a f e mann (12.4). Dieſe Bilder find in Landſchaften und Figuren echter Schwarz- 
wald. Das Beſte von Benjamin Vautier iſt in ihnen lebendig. So wird es manchem Freude 
bereiten, KS Perle Hansjakobſcher Dichtung in einer fo ſchönen Faffung fein eigen zu nennen. 


St. 
LS 
Ludwig Fahrenkrog 


K on den Werken Ludwig Fahrenkrogs, von denen wir auch im vorliegenden 
9, Türmerhefte einige Proben bringen können, kommen jetzt in der Münchener 
Sy JSraphbiſchen Geſellſchaft Pick & Ro. ſehr ſchöne Reproduktionen in 
Photograviire und Rohledrud in den Handel. Bei der großen Schärfe des Zeichneriſchen, der 
außerordentlichen Bedeutung aller Formgebung in Fahrenkrogs Runft ift dieſes treffliche Wieder; 
gabeverfahren bei ihm beſonders angebracht. Die Bilder erſcheinen alle in verſchiedenen Großen 
und koſten für das Blatt in Imperialgravuͤre 15 M (Kohledruck 12 M), Foliogravüre 4 M (bzw. 
3 M), Eſtampegravüre 1 M. Zunächſt find feds Blätter erſchienen. „Ecce Homo“ ift eine 
ältere Arbeit des Rünftlers, der damals ſich noch nicht zu feinem bartloſen Chriſtustypus durch 
gearbeitet hatte. Doch liegt auch dieſem Chriftus bereits die fpätere Auffaſſung zugrunde. Bor- 
züglich iſt die Charakteriſtik der Köpfe des Pilatus und der wilden Menge. Die Blätter „Predigt 
Chrifti“ und „Die Seele Deines Kindes“, wie hier das Blatt „Chriftus und das Kind“ genannt 
wird, haben wir im Türmer in kleineren Reproduktionen gebracht. Bei beiden Blättern find wir 
vielfach aus dem Leſerkreis nach größeren Reproduktionen angefragt worden. Hier ſind ſie nun 
in Formaten dargeboten, in denen man die dazu vorzüglich geeigneten Blätter als Wandſchmuck 
verwerten kann. — In denſelben Kreis gehört „Die Verſuchung“, außerordentlich packend durch 
den Ausdruck des qualvollen Rämpfens in der Geſtalt Chrifti und des ſündhaft ſchönen Luzi- 
fers. Die ſymboliſche Weltbedeutung des Einzelvorganges iſt ohne alle Aufdringlichkeit ge- 
dankenreich gedeutet durch in Wolkendunſt verſchwimmende Geſtaltungen, in denen fih die 
ewige Wiederholung der Verſuchung, die an jeden zum Großen Berufenen herantritt, aus- 
ſpricht. — Das Bild „Neues Leben“ ift der Zubelhymnus des Menſchen, dem die Verjüngung 
ſeines Seins in der Geſtalt des Kindes in die Hand gegeben wird und damit die Möglichkeit, 
durch die Kraft der Erziehung und der Einwirkung auf die verjüngte Wiederholung des eige- 
nen Fleiſches und Blutes und des eigenen Geiſtes ſegnend und befruchtend einzuwirken. — 
Bleibt dann noch ein Bild leichteren Inhalts, das hier leider als „Sündenfall“ bezeichnet wird. 
Das ift ein bedauerlicher Mißgriff. Bei dem außerordentlichen Ernſt der Natur Fahrenkrogs 
führt eine derartige Bezeichnung in die Irre. Es iſt nicht Humor, fondern ein Witz, wenn wir 
bier ein liebes Heines Mädel in einen Apfel beißen ſehen. Es wäre ſehr gut, wenn fic der Titel 
aufdruck bei der Auflage noch verändern ließe. Fahrenkrogs Humor ift fo tief, daß er der koket⸗ 
tierenden Pointe nicht bedarf. 


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Georg Friedrich Händel 
Zum 150. Todestag 


Von 


Dr. Karl Storck 


> er immer ſtrebend fih bemüht, den können wir erlöſen“: das Lebens- 
A N heilswort aus Goethes „Fauſt“ ift auch das tiefſte Heilswort für 
IR AH die Kunſt. „Erlöſung“ ift die höchſte Aufgabe der Kunſt; Erlöſung 
s für den Künſtler, Erlöſung für den Menſchen, dem jener feine 
Gaben ſpendet; Erlöſung von der Erde Kleinheit und Wirrnis; Erlöſung aus dem 
eigenen Irren und Suchen; Erlöſung endlich im Sinne von Auslöſung des Beſten 
in unſerer eigenen Perſönlichkeit. Alle große Kunſt iſt ein Kampf; ohne ihn wäre 
der Begriff Erlöſung ja auch hinfällig. Ein Kampf, wie das Leben zum Großen 
hin ein Kampf iſt; nur daß die Lockungen im Reiche der Kunſt noch viel füßer und 
ſchmeichleriſcher ſind als im Leben, nur daß die Sünde, das Erliegen unter der 
Verſuchung noch viel furchtbarer wirkt als im Leben. So leicht gelangt man da- 
hin, in der Kunſt nur Genuß zu ſehen, Schmuck des Lebens, Verſchönerung der 
Stunden, ohne Blick auf die Geſamtentwicklung des Daſeins. Es fei ferne von 
uns, die zu verkleinern, die für eine Stunde unfer Dafein zu verſchönen vermögen, 
aber gerade wenn wir an edles Menſchentum denken, wenn wir wieder an Fauſt 
denken, das Symbol des Hinaufmenſchen, ſo klingt uns jenes Wort ins Ohr, mit 
dem dieſer gewaltigſte Streber ſich vom Leben befriedigt erklären will in dem 
Augenblicke, zu dem er ſagen kann: „Verweile doch, du biſt ſo ſchön.“ Der 
ſtarke Geiſt, der edle Sinn, das große Herz vermögen nur dann Befriedigung zu 
empfinden, wenn fie nicht für die Stunde gehoben, ſondern für die Dauer ge- 
fördert werden. ggf ) 7 
Bei keinem Künſtler, ſelbſt bei Goethe nicht, empfinde ich fo die troſtvolle 
Wahrheit jenes Wortes, das an der Spitze dieſer Ausführungen ſteht, wie gerade 
bei Händel. Es iſt wohl auch der einzige Fall in der ganzen Kunſtgeſchichte, daß 


Stord: Georg Friedrich Händel 105 


ein Rünjtler, dem eine Lebensdauer von über ſiebzig Jahren vergönnt war, der 
als Kind bereits wahre Schöpferkraft bekundete und dann durch ein ganzes Leben 
hindurch eine ſchier unbegreifliche ſchöpferiſche Fähigkeit bewahrte und gleichzeitig 
eine ungeheure Arbeit leiſtete, — ich ſage: es iſt der einzige Fall, daß gerade eine 
ſolche Natur im Greiſenalter den Gipfel erklimmt, als Greis eigentlich erſt die 
Erlöſung für ſich und die Welt in der Auslöſung des Innerften und Reichſten feiner 
Perſönlichkeit findet. 

Die deutſche Geiſtesgeſchichte erhält gleich der unſeres kulturellen und poli- 
tiſchen Geſamtlebens eines der merkwürdigſten Charaktermerkmale durch ihre 
Zwiefältigkeit. Zwiefältigkeit — in allen unglücklichen Stunden deut- 
ſchen Lebens wird fie zur Zwieſpältigkeit — iſt ja an ſich Kennzeichen des 
deutſchen Weſens, der deutſchen Natur und ſogar der deutſchen Landſchaft. Liebe 
zum Kleinen, Wichtignehmen der engſten Enge, Umfriedung des ganzen Seins 
auf der einen Seite; Wolkenflug, phantaſtiſche Geftaltung des ſinnlich nie Er- 
faßten, Orang in ſchrankenloſe Weite auf der anderen Seite. Dieſe Zwiefältig⸗ 
keit deutſchen Lebens hat in der deutſchen Kunſt ihren wunderbarſten und reichſten 
Ausdruck erhalten. Einmal in einzelnen Perſönlichkeiten. Am charakteriſtiſchſten 
wohl, wenn auch nicht am ſchönſten bei Jean Paul, in dem das Schulmeiſterlein 
neben dem Titan lebt. Am reichſten bei Dürer, der neben die kühnſte Phantajie- 
geſtaltung von Ritter, Tod und Teufel die peinlichſte Wirklichkeitszeichnung des 
abgehackten Flügels einer Nebelkrähe fegt. Am erſchuͤtterndſten bei jener großen 
Zahl von Sturm- und Drangnaturen, die es nicht vermochten, die beiden Welten 
getrennt zu halten, und ſich nun zwiſchen ihnen hin und her geriſſen fühlten, wie 
ſelbſt der große Heinrich von Kleiſt. Und dann endlich die wunderbar harmoniſche 
Auslöſung der beiden zur unvergleichlichen Einheit in Goethe. Daneben zeigt 
dann unſere Kunſtgeſchichte dieſe Zwiefältigkeit im gleichzeitigen Nebeneinander 
ſtarker Perſönlichkeiten: Böcklin —Leibl, Wagner — Brahms, Gottfried Keller — 
Konrad Ferdinand Meyer, Hebbel Anzengruber, Goethe Schiller, Herder — 
Leſſing, Beethoven Mozart, Bach — Händel. Man könnte die Zuſammenſtellung 
vielfach auch anders geben, könnte neben Böcklin Feuerbach ſtellen und hätte, 
wie bei Goethe und Schiller, neben dem FInnerlichkeitsdramatiker den Sheatra- 
liker im guten Sinne des Wortes, und ſo bei allen, je nachdem man den Blick nach 
einer beſtimmten Lebensrichtung hin einſtellt. 

Denn es iſt ja das Wunderbare an der deutſchen Kunſt, daß fie nicht bloß 
kuͤnſtleriſche Ausſprache, ſondern Offenbarung von Menſchentum ift. — — — — 

Die Muſikgeſchichte hat von jeher Bach und Händel gerne nebeneinander- 
geſtellt. In dem Sinne, wie es gewöhnlich geſchieht, halte ich diefe Nebeneinander- 
ſtellung nicht für glücklich. Bach iſt im Grunde ebenſo eine Unvergleichlichkeit wie 
Goethe, und wenn man mit Recht Schiller neben Goethe ſtellen kann als für dieſen 
Lebensabſchnitt wertvollſte Ergänzung zum Geſamtgehalt deutſcher Art hin, ſo 
ift das zwiſchen Händel und Bach deshalb unmöglich, weil diefe beiden Kuͤnſtler 
teine Berührung hatten, auch künſtleriſch wohl kaum, wenn auch ſicher Bach von 
Händel mehr kennen gelernt hat, als umgekehrt. Es ift wohl auch kaum zu über- 
ſehen, daß Händel einer perſönlichen Begegnung mit Bach ausgewichen ift, viel- 


106 Store: Georg Friedrich Händel 


leicht aus dem Gefühl heraus, daß der wenige Wochen Jüngere trotz feiner äußeren 
Lebensenge viel weiter und tiefer gekommen war als Händel, der auf den Zinnen 
des Lebens ſtand. 

Auch rein muſikaliſch ſehe ich in Händel nicht die Ergänzung zu Bach, der 
eigentlich ſo univerſal iſt, daß er, wie Goethe, die Welt gibt und innerlich keiner 
Ergänzung bedarf. Er bedarf höchſtens der Ergänzung hinſichtlich der Get ati- 
gungsformen des Seins, ſo wie ſchließlich Goethe für das Theater nicht 
ausreicht. Bach hat gar keine Oper geſchaffen, und die geſamte muſikaliſche Pro- 
duktion bedurfte in der Hinſicht wohl der Ergänzung, inſofern das deutſche Weſen 
auch in dieſer Runftform feinen Ausdruck heiſchte, aber dann ſteht trotz feiner zahl- 
loſen Opern nicht Händel neben Bach, ſondern Gluck. Ich halte es auch für un- 
recht, wenn man Händel auf die Höhe Bachs ſtellen wollte, wie es vor allem von 
früheren Muſikhiſtorikern geſchehen iſt, wenn ſie ihn nicht gar über Bach ſtellten. 
Wenn man Rünftler nach dem einſchätzen muß, was von ihrem Geſamtwerk dauernd 
lebendig bleibt, dann iſt Bach überhaupt einzig daſtehend in der Muſik. Er ſcheint 
wie aus den Zeiten hinausgerückt und darum auch der Zeit nicht unterworfen, 
die ſonſt gerade der Muſik ſo viel Gewalt antut und ihrer Wirkungsfähigkeit ſo 
enge Schranken zieht. Das gilt bis zu einem gewiſſen Grade fogar für die for- 
male Seite in Bachs Werken, wo das merkwürdige Zuſammentreffen, daß er die 
Stile, die grundſätzlich geſchiedenen Ausdrucksformen zweier vollſtändig getrenn- 
ter Muſikauffaſſungen in ſich vereinigt und beide einigt, fo daß eine Muſikſprache 
herausgekommen ijt, die nun für fich ſteht, als eigentlich etwas aus dem allgemei- 
nen Gange der Entwicklung Unmögliches und deshalb auch den Bedingungen 
dieſer Entwicklung nicht Unterworfenes. Bach iſt, wie Goethe, eine Perſönlichkeit, 
in der ſpätere Menſchen ganz unterzutauchen vermögen, weil ihnen das Schaffen 
dieſes Menſchen die ganze Welt darſtellen kann, und zwar eine ſo weite Welt, 
wie nur die begnadetſten Geiſter ſie ſich zu erobern vermögen. Händel iſt, damit 
verglichen, ebenſo wie Schiller, durch eine Einſeitigkeit ſo ungeheuer groß, von 
unvergleichlichem Werte für beſtimmte Momente und Stimmungen des Lebens, 
aber nicht von lebenausfüllender Kraft. 

Und doch drängt ſich einem, wenn man an Bach denkt, der Name Händel 
unwillkuͤrlich auf, und man behält, trotz aller Erkenntnis der weltumfaſſenden Kunſt 
Bachs, das Gefühl einer wertvollen Ergänzung. Es wird einem dabei nur nach 
genauer Nachprüfung dieſes Gefühls klar, daß es ſeinen Urſprung nicht im eigent- 
lich Künſtleriſchen, fondem im allgemein Menſchlichen hat. Händel ift 
einerſeits als Menſch die unbedingt notwendige Ergänzung Bachs zum großen 
deutſchen Geſamtweſen, und darüber hinaus auch für das Verhältnis vom Rünft- 
ler zum Menſchſein. Als Menſch, weil er da die Weite gegenüber der Enge dar- 
ſtellt, den Eroberer der Menſchheit, den Ausſtrahler feines Seins über die Gefamt- 
heit hin, mit einem Worte: den Univerfalmenfchen gegenüber dem Menſchen der 
Einſamkeit, des Ganz- in-ſich-Stehens, Sich-Abſchließens. In Künſtlererſcheinungen 
wie Händel und, wenn auch in geringerem Maße, Schiller offenbart ſich fiir eine 
Zeit, in der der Tatendrang, das Siegfriedhafte des deutſchen Weſens keine Be- 
tätigungsgelegenheit fand, dieſelbe Naturanlage wie in Bismarck. Bach feiner- 


Stora: Georg Friedrich Händel 107 


feitos ift dagegen die reinſte Verkörperung des deutſchen Eigenbrötlertums. Das 
geht eigentlich noch über die mittelalterlichen Myſtiker; denn diefe ſuchten die Er- 
löſung von der Welt durch die Verſenkung in die Gottheit; ein Bach verarbeitet 
das alles in der eigenen Bruſt. Das einzige Mittel, das er dazu braucht, iſt ſeine 
Kunſt. Er braucht kein Lehren, keine Betätigung nach außen, keine Aufführungs- 
möglichkeit für feine Werke, alles das, was unter den Begriff „Wirkung auf 
die Welt“ fällt, iſt bei Bach gleichgültig. Er braucht nur ſein Schaffen. Und 
in dieſem Schaffen gibt er die ganze Welt in der Spiegelung feines Innenlebens. 
Alles, was Problem ift, ruht ja als Keim in jeder Menſchenſeele, der Mikrokos- 
mos gegenüber dem Makrokosmos. Und da die Muſik gerade befreit iſt von alle- 
dem, was im weiteſten Sinne materielle Geſtaltung des Lebens iſt, iſt ſie vor 
allem imſtande, jenem Menſchen vollkommenen Ausdruck ſeines Seins gewähren 
zu können, der nicht durch das Erleben in der Welt die Probleme erfaßt, ſondern 
durch das Erleben in ſich ſelbſt. 

Händel iſt die ganz entgegengeſetzte Natur. Für ihn iſt Erleben Aufnahme 
der ganzen Umwelt in fic hinein; die Erkenntnis und das Miterleben der Erfchei- 
nungen der Welt ſind für ihn Notwendigkeit, und darum ſtrahlt alles, was er ſchafft, 
ſofort auf dieſe Welt zurück. Er braucht die Welt für ſein Schaffen, und es gibt 
bei ihm keine Heimlichkeiten dieſes Schaffens. Wie Wagner, wie Schiller iſt er 
eine „exklamative“ Natur, um diefe Selbſtcharakteriſtit Wagners aufzunehmen. 
Er ſchafft ſich nicht „frei“ im Goetheſchen Sinne und in der Bachſchen Art, aus 
rein perſönlicher Not; ſondern er ſchafft für die Menſchheit mit der bewußten Ab- 
ſicht des Wirkens auf diefe Menſchheit. Darum konnte bei Händel auch nicht, wie 
bei Bach, der ganze Menſch im Künſtler aufgehen, ſondern der Künſtler im Men- 
ſchen. Der Künſtler Händel ſteht im Dienfte des Tätigkeits- 
menſchen, die Kunſt ift ihm das Mittel der Betätigung für die Welt, zur Er- 
oberung und Beherrſchung dieſer Welt. Einem Bach war es im Grunde ganz gleich- 
gültig, wie fich die Welt zu feiner Kunſt ſtellte. Für wenigſtens neun Zehntel fei- 
ner Werke hat er niemals die Wirkung auf die Menſchheit erprobt, was ihn aber 
keinen Augenblick in der ſteten Neuſchöpfung von Werken behinderte. Händels 
ganzes Schaffen dagegen wird geleitet durch die Bedürfniſſe der Welt, 
die er aufgreift, um durch ihre Befriedigung die Welt zu beherrſchen. 

Solche Naturen wie Händel bekommen die Geſetze ihrer Entwicklung nicht 
von der Kunſt, ſondern vom Leben. Derartige Menſchen wollen im täglichen Leben 
ſtehen und an dieſem mitwirken. Und wenn fie als ſolches Wirkungsmittel in die- 
ſem Leben eine Kunſt beſitzen, ſo werden ſie dieſe Kunſt dort ergreifen, wo ſie 
im Leben ſteht, und werden fie deshalb auch fo ergreifen, wie fie im Leben ſteht. 
Ein derartiger Künſtler wird alſo die öffentlichen Formen ſeiner Kunſt 
aufnehmen und in ihnen ſein Beſtes zu geben ſuchen. Er iſt Realpolitiker 
der Kunſt, arbeitet mit den gegebenen Werten; er it nicht 8dealiſt, 
der eine ganz neu e Kunſt ſchafft, fuͤr die dann die Welt erſt gewonnen werden 
muß. Aus der Perſpektive des Lebens angeſehen auf die Bedeutung für die Welt 
bin, die doch für den Menſchen als Organismus immer darin liegt, wie er wäh- 
rend ſeines Lebens wirkt, iſt ein derartiger Künſtler der große Kämpfer, 


108 Stord: Georg Friedrich Handel! 


der ſtets auf dem Poften ijt, der Mann der Zeit, der Führer für feine Zeitgenoſſen 
oder auch ihr Tyrann. Aus dieſem Geſichtspunkt heraus kann er auch in allen jenen 
Dingen auf dem rechten Wege geweſen ſein, wo er vom Ewigkeitsſtandpunkt der 
Kunſt aus ſtets geirrt hat. Denn dieſe Einſchätzung des Kunſtwerkes als Runit- 
werk iſtlosgelöſt von der Zeit, in der es entſtanden ift, für die es ge- 
ſchaffen iſt; ja ſtreng genommen iſt ja Kunſt nicht für eine beſtimmte Zeit, auch 
gar nicht für beſtimmte Menſchen geſchaffen, ſondern ſie iſt geſchaffen, weil ſie 
geſchaffen werden mußte aus den inneren Lebensnotwendigkeiten eines einzel- 
nen heraus. Goethe hat ſeine Werke nicht geſchaffen, um die Welt zu führen, um 
ſie beſſer zu machen oder für irgendwelche Ideen zu gewinnen, ſondern, wie er 
ſelbſt ſagt, um ſich freizudichten. So trägt die Kunſt Ideale in ſich, die unabhängig 
ſind von der Welt und ihren Geſchehniſſen, und die ungeheure Wirkungskraft 
wie die Dauer der fo entſtandenen Kunſt liegt gerade darin, daß fie eigentlich auber- 
halb der Zeiten ſteht, daß ſie für ſich emporgewachſen und ohne irgendeinen Zweck 
ift; deshalb ewig als ein Ganzes, in ſich Stehendes, von nichts Außerem Beding- 
tes ſtehen bleibt, zu dem nun zu allen Zeiten, an allen Orten Menſchen von ſich 
aus wieder den Weg finden. Ein ſolcher Künſtler iſt Bach. Und auch hierin iſt, 
wenigſtens für den größeren Teil ſeines Schaffens, Händel ſein Widerpart. 
Der größte Teil von Händels Schaffen iſt heute tot und nicht mehr zum Leben 
zu wecken, trotzdem oder vielleicht weil zur Zeit ihrer Entſtehung dieſe Werke 
von höchſter Wirkungskraft waren und einen Mittelpunkt, ja die Höhe der betreffen- 
den Kunſtgattung darſtellten. Aber für uns ift diefe Kunſtgattung eben ſelber un- 
möglich geworden, und fie ift in unſeren Augen ein Irrtum, der dadurch nicht an- 
nehmbar wird, daß er im einzelnen fo ſchön umkleidet, fo eindrucksvoll vorgetragen 
wird. Durch mehr als dreißig Jahre hindurch hat Händel feine unvergleichliche 
Arbeitskraft ganz in den Dienſt der italieniſchen Oper geftellt; mit die- 
ſer ſind ſeine Werke verſunken und unlebensfähig geworden. Die Natur Händels 
war fo außerordentlich dramatiſch, fein Lebensgang hat ihn überdies in die Hei- 
mat eines Shakeſpeare geführt, fo daß man nicht annehmen kann, daß Händel die 
innere Unmöglichkeit, die im Kern unſittliche Grundlage, auf der die virtuoſen 
Formen der italieniſchen Oper aufgebaut waren, nicht erkannt haben ſollte. Man 
kann auch nicht ſagen, Händel habe ſich eben dieſer Opernform zugewendet, weil 
keine andere da war: er hätte ja mit feiner ungeheuren ſchöpferiſchen Kraft wohl 
ſelbſt die Fähigkeit beſeſſen, das Reformationswerk ins Werk zu ſetzen, das der 
künſtleriſch weit ſchwächere Gluck durchgeführt hat. Abgeſehen davon iſt es ja keine 
Notwendigkeit, daß man Opern komponiert; und Bach hat, trotz der außerordentlich 
ſtarken dramatiſchen Veranlagung, die in ihm lag, auf das Theater verzichtet. 
Nein, man darf ſich darüber keinen Augenblick im Zweifel ſein: wenn Händel in 
dieſer Weiſe an der italieniſchen Opernform feſthielt, ſo geſchah es, weil ſie jene 
muſikaliſche Ausdrucksform war, die am ſtärkſten auf ſeine Zeitgenoſſen einwirkte. 
Die italieniſche Oper als Gattung beherrſchte die ganze Welt. Wenn er die italie- 
niſche Oper beherrſchte, ſo war er der Weltbeherrſcher. Und Händel hat ſich mit 
dieſer italieniſchen Oper nicht nur künſtleriſch, ſondern auch geſchäftlich aufs innigſte 
verbunden. Für ihn war eine weſentliche Forderung, daß ihm ſeine Kunſt nicht 


Storck: Georg Friedrich Handel 109 


nur Ehren, ſondern auch Gewinn einbrachte. Er ift vielleicht der glänzendſte Grand- 
ſeigneur der Kunſt, eigentlich in feinem Wefen der einzige Volltypus des Re- 
naiſſanceherrſchers im Bereiche der Muſik, der auch menſchlich von 
wahrem gHerrſchergefühl beſeelt war, wenn er an feinem Dirigentenpult ſtand 
oder für ſein bzw. das von ihm künſtleriſch geleitete Theater mit rieſigen Mitteln 
die bedeutendſten Sänger der Welt anwarb. Und er machte fih nicht nur die Mode- 
gattung, ſondern auch die Modenarrheiten in ihr zu Dienſten, — um zuherrſchen. 

Ja, er machte fie fih zu Dienften, aber er diente ihnen nicht! Und 
hierin liegt der Grund für die enzig daſtehende Tatſache, daß Händel in einem Alter, 
in dem ſelbſt bei einem Goethe die dichteriſche Schöpferkraft nachließ, imſtande 
war, eine ganz neuartige, die feinem innerſten Weſen entſprechende Runit- 
form zu geſtalten und in dieſer ewig unvergängliche Werke zu ſchaffen. 

Händel hat, wenn er ſich ſo lange in den Oienſt der italieniſchen Oper ſtellte, 
geirrt, aber nicht betrogen. Daß das möglich war, daß ein ſo vorſichtiger Geiſt ſich 
ſo irren konnte, beruht auf dem oben geſchilderten Verhältnis des Menſchen in 
Händel zum Künſtler, beruht darauf, daß für Händel Lebensnotwendigkeit war, 
auf die Menſchheit zu wirken in breiteſter Offentlichkeit, auf das ganze Volk, ein 
Herrſcher zu ſein. Solche Tatmenſchen ſind realpolitiſche Naturen. Wenn die 
Kunſt für ſie das Mittel der Lebensbetätigung wird, ſo ſind ſie durch die innerſte 
Notwendigkeit ihrer Natur auf jene Gattung der Kunſt eingeſtellt, die dieſe Offent- 
lichkeitswirkung auf die betreffende Zeit gewährleiſtet. Und Händel hat die Gat- 
tung der italieniſchen Oper preisgegeben, das dürfen wir auf keinen Fall über- 
ſehen, nicht weil er perſönliche Mißerfolge in dieſer Gattung gehabt hat, ſondern 
weil alle mit ihr verknüpften Unternehmungen in London geſcheitert waren, ſo 
daß ſich Händel ſagen mußte: Die Zeit dieſer Gattung iſt vorbei, 
ſie wirkt eben nicht mehr auf das Volk. Er hat dann noch als tapferer Kämpfer den 
Rüdzug verteidigt und hat als ſtolzer Beſiegter den Rampfplat fo verlaſſen, daß 
trotz feines pekuniären und geſundheitlichen und doch auch halb geiſtigen Ruins 
keinem der Gedanke kommen durfte, daß er nicht imſtande geweſen wäre, weiter- 
zukämpfen, wenn er gewollt hätte. 

In wunderbar kurzer Zeit geneſen, trat er dann wieder auf den Kampfplatz 
der öffentlichen Kunſtwirkſamkeit. Jetzt führte er ganz andere Waffen, 
völlig neue Kräfte ins Feld. Mit ihnen hat er dauernd geſiegt. In dieſem 
Sinne bewährte ſich an ihm das Goetheſche Wort vom Erlöſtwerden des immer 
ehrlich Strebenden. 

+ *. 
* 

Für dieſes Strebend-ſich Bemühen bietet Händels Leben ein wundervolles 
Beiſpiel. Trotzdem er fein ganzes rieſenhaftes Schaffen in den Dienft der Öffent- 
lichkeitswirkung ſtellte, verliert man doch nie das Gefühl, beſtätigen ſeine Werke 
auf jeder Seite, daß er die ungeheure Machtſtellung, die ihm ſein Erfolg verliehen 
hat, niemals mißbraucht hat zum Schaden der Runft. Es blieb dauernd fein Gtre- 
ben, das denkbar Beſte zu ſchaffen. Seine ganze Natur ruhte nicht eher, bevor 
er nicht den größten und gewaltigſten Ausdruck für ſeine Abſicht gefunden. Es 
ijt außerordentlich bezeichnend, daß er gewiffe Motive, ja ganze Arienformen 


110 Storck: Georg Friebridy Händel 


und Melodiegänge immer und immer wieder aufnahm. Aber jedes neue Auf- 
nehmen ift nicht Wiederholung, ſondern Verſtärkung, es ift, als könne er, dem die 
Gedanken in unendlicher Maffe zuſtrömen, es nicht vertragen, daß einer der ein- 
mal hingeſtellten Gedanken nicht in ſeiner vollen Tiefe und Kraft ausgenutzt ſei. 
So hat Händel, dem Gebrauch ſeiner Zeit folgend, ruhig melodiſche Erfindungen 
anderer Komponiſten in feinen Werken aufgenommen. Daß das Not an Erfindungs- 
kraft geweſen ſei, hat noch niemand zu behaupten gewagt, der die unerſchöpfliche 
Erfindungskraft dieſes Mannes erkannt hat. Er hat ja auch nie das Betreffende 
ſo übernommen, wie es da war, ſondern nur als Material, als ein für dieſen Punkt 
in ſeinen Werken großartig geeignetes Material, bei dem er nun zeigte, was ſich 
damit machen ließ. 

Sein ſtetes Strebend- ſich Bemühen offenbarte fidh ferner darin, daß es fiir 
ihn ke in Raſten, kein Genießen im Erreichten gab. Mit Geldgewinnſucht 
und dergleichen hat das gar nichts zu tun. Es iſt ausſchließlich das Bemühen, 
immer Beſſeres und Größeres zu ſchaffen, das innere Bedürfnis, ſtets im Vorder- 
treffen des Kampfes zu ſtehen. Das war keine Eitelkeit, ſondern Verantwortungs⸗ 
gefühl, die Pflicht, die ihm ſeine ungeheure Kraft auferlegte. Wie oft hätte er 
ruhen, auf Lorbeeren ausruhen können! 

Am 23. Februar 1685 war er geboren. Im Kinde offenbaren ſich ſchon die 
glänzendſten Fähigkeiten für Muſik, bei aller Welt finden diefe Fähigkeiten An- 
erkennung; nur der bei der Geburt des Knaben bereits im Greiſenalter ſtehende 
Vater, bei dem die Stärke der Willenskraft und Charakterfeſtigkeit ſchon zur 
Halsſtarrigkeit geworden war, ift auch durch die glänzendſten Anerbietungen re- 
gierender Fürſten nicht zu beſtimmen, ſeinen Sohn die Künſtlerlaufbahn ergrei- 
fen zu laſſen. Trotz der Lockungen, die jo die Welt ihm bot, bleibt der Zunge feinem 
Vater treu. Und als der Tod den Erzeuger wegruft, erfüllt der Sohn doch den 
väterlichen Willen und ergreift das Studium der Rechte, bis der Beruf zum Muſiker 
ſo überzeugend ſich offenbart, daß es Bosheit geweſen wäre, ihm nicht zu folgen. 
Oer ſiebzehnjährige Jüngling beſaß bereits eine Stellung in Halle, und er hätte 
hier zweifellos als Organiſt und Kantor ein befriedetes Daſein gefunden. 

Aber alles, was er jemals erreicht hatte, galt ihm nichts, ſondern nur das, 
was noch zu erreichen war. So iſt er ſchon 1705 in Hamburg, der einzigen deutſchen 
Stadt, die eine deutſche Oper bejak. Er erklärte eigentlich den Leuten von vorn- 
herein, daß er nur gekommen fei, um zu lernen. Mit zwanzig Jahren iſt er der an- 
erkannte Meiſter in der Hanſaſtadt, deren reichem Wohlleben ſo glänzende Talente 
wie Reifer erlagen. Händel genoß mit wie nur einer. Er iſt zeitlebens auch im Leben 
eine Kraftnatur geweſen. Aber tiefer berührte ihn nichts als ſein Streben nach 
dem hohen Ziel. Er lernte alles. Er hat unten im Orcheſter geſeſſen als Spieler, 
wurde Dirigent und Komponiſt. Er gewann Erfolge, wie ſie keinem der andern, 
altbewährten Meiſter in der Hanſaſtadt beſchieden geweſen waren. Trotzdem, 
in dem Augenblick, in dem er das Gefühl hat, alles ſich zu eigen gemacht zu haben, 
was Hamburg ihm künſtleriſch bieten kann, beſinnt er fih keinen Augenblick, den 
ſichern Beſitz preiszugeben, und zieht nach Stalien. 

Sein Weg hier iſt Sieg und Triumph. Und Sieger zu fein hier, im geprie- 


Stord: Georg Friedrich Händel 111 


ſenen Lande der Muſik, von dem aus die damalige Welt muſikaliſch erobert wurde, 
mußte doch ſelbſt dem ehrgeizigſten Geiſte genügen. Aber Händel war eben nicht 
ehrgeizig im gewöhnlichen Sinne, ſondern Streber nach dem H öd- 
Hen, Genau fo gut, wie er fih vorher die ganze Art der Hamburger Oper zu eigen 
gemacht hatte, wurde er hier vollkommener Italiener. Er nahm nur, was er brau- 
chen konnte, was ihm zweckdienlich ſchien; er bleibt eben in jedem Dinge Herr- 
ſcher, wird niemals Diener — allerdings auch nie Diener ſeiner Kunſt, ſondern 
immer Herrſcher durch ſie. Man kann deutlich fühlen, was Händel von ſeinem 
achtzehnten Jahre ab bis ans Lebensende als Ziel vorgeſchwebt hat: es war 
keineswegs, der erſte Opernkomponiſt der Welt zu wer- 
den, ſondern in der Muſik ſich die Mittel zu ſchaffen, das 
ungeheuer Große und Monumentale, das in ihm lebte, 
mit einer unwiderſtehlichen Ausdruckskraft verkünden 
zu können. 

Handel ift zweifellos neben Michelangelo die mon umentalſte Rünft- 
lernatur aller Zeiten, ein Künſtler, der im Kleinſten noch den Geiſt des Großen 
verfpürt, dem alles Kleine, Zierliche, Feine, und fei es an fih noch fo ſchön und noch 
fo reich, nur dadurch wertvoll wurde, daß es zur Bereicherung eines großen, um- 
faſſenden Gedankens, zu deſſen überzeugenderem und hinreißenderem Ausdruck 
diente. Stück für Stück gewinnt er fih derartig alles. Gegenüber der neuen Er- 
ſcheinung iſt er immer der beſcheiden Lernende. Er eignet ſich das an, was er noch 
nicht kann. Dann, im Beſitz der Mittel, durchdringt er ſie, um zu erkennen, wofür 
fie zu brauchen find. So wird i h m immer wieder, was den anderen End- 
zweck iſt, bloß Mittel zu einem größeren. 

Da ift die ganze wunderbare Geſangskunſt der damaligen Staliener. 
Einmal die Fähigkeit, den Ton an ſich in einer ſchier unbegrenzten Fülle an- und 
abſchwellen zu laſſen, alſo dieſen Ton an ſich ſo ausdrucksvoll zu machen, wie es 
nur in dem Material dieſes Tones möglich ift; dann die Fähigkeit einer fchier un- 
begrenzten Geläufigkeit, d. i. Fähigkeit der Ausſchmückung, der charaktervollen 
Umſpielung, der unerſchöpflichen Abwechſelung! Die ganze italieniſche Oper jener 
Zeit iſt ſo dem Staunen über dieſe Schönheit hingegeben, daß dieſes Können 
Zweck wird. Bei Händel aber iſt das alles nur ein Mittel, um den Wabrheits- 
ausdruck des dramatiſchen Inhalts ſeiner Werke zu ſteigern. 

In derſelben Weiſe ergreift Händel das O r h efter der italieniſchen Oper. 
Er übernimmt es ſo, wie er es vorfindet; es war nicht mehr die Stufe, auf die 
es der erſte große Orcheſterkünſtler Monteverdi in ſeinem „Orpheo“ geſetzt hatte, 
vielmehr hatte die große Entwicklung der Geſangskunſt auf die Inſtrumental- 
mufit eingewirkt. Während Monteverdi nach einer möglichſt mannigfaltigen Be- 
ſetzung geſtrebt hatte, wodurch ihm reicher Farbenwechſel, den er zur Charakteri- 
ſierung verwertete, ermöglicht war, hatte fidh allmählich die Benutzung des Streicher- 
hors als Mittelpunkt herausgebildet und, entſprechend dem Geiſt der Renaiſſance 
nach individueller Betätigung, das Streben, das einzelne Inſtrument ſoliſtiſch ber: 
vortreten zu laſſen. Es entwickelte ſich dadurch jene fiir lange Zeit charakteriſtiſche 
Form des Concertino, wo eine oder zwei Sologeigen mit Violoncello als felb- 


112 Stora: Georg Feledrih Handel 


ſtändige ſoliſtiſche Gruppe dem Groſſo des übrigen Orcheſters gegenübertreten. 
Händel übernimmt alſo dieſes Orcheſter. Da es ihm aber auf die Wahrheit des 
Ausdrucks des ihm vorliegenden Textes ankommt — er iſt deshalb, genau wie 
Mozart, von der Qualität des ihm zur Verfügung ſtehenden Textbuches abhängig —, 
genügt es ihm nicht, dieſem Orcheſter die Aufgabe der Begleitung zuzuweiſen. 
Er erkennt im Orcheſter wieder die ungeheure Fähigkeit der Charakteriſierung; 
zunächſt, wie es dieſe Gruppierung des damaligen italieniſchen Orcheſters mit ſich 
brachte, nur in line ar er Hinſicht, alfo als Mittel, in die Melodiebildung einzu- 
greifen, fich mit der Geſangſtimme eng zu verſchmelzen, fie zu bereichern; dann aber 
erkennt er auch in immer ſteigendem Maße die Bedeutung der Farbe des Tons. 
Das Orcheſter wird bei ihm Malerei, und zwar in ſo hohem Maße, daß aus dem 
Reichtum der Palette heraus, die ihm dieſes Orcheſter in die Hand gibt, vielfach 
der ganze muſikaliſche Gedanke erſt entſteht, ſo daß alſo die Fülle der Mittel ihn 
anregt, eine beſondere Form des Ausdrucks zu finden. Der „Gelegenheits“künſtler 
im Sinne Goethes zeigt ſich hier; freilich ganz ins Muſikaliſche übertragen. 

Das alles kommt nun keineswegs auf einmal. Gerade darin offenbart ſich 
dieſes niemals läſſige Streben, daß Händel ſtets vervollkommnet, immer bereichert, 
alles, was ein anderer findet, ſoweit es in ſein Kunſtwerk hineinpaßt, aufnimmt 
und verarbeitet. In unſerer Zeit war Verdi in der Hinſicht eine ähnliche Natur. 
In dieſer Möglichkeit, ſtets Neues zu finden und zu erfinden, liegt auch eine Er- 
klärung dafür, daß Händel fih in dieſer an fih verwerflichen Gattung der italie- 
niſchen Oper ſo lange wohlgefühlt hat. 

Nichts hat Händel ferner gelegen, als ſich damit zu begnügen, ein gefeierter 
Maeſtro gu fein. Schon 1709 reißt er fih von den italieniſchen Triumphen los 
und geht nach dem kleinen Hannover, hauptſächlich weil er hier in der Nähe Stef- 
fanis war, des glänzendſten Meiſters des italieniſchen Rammergefangs, von dem 
er lernen wollte. Und dann führte ihn der Weg nach England. Hier, im ger- 
maniſchen Lande, konnte ſeine deutſche Kunſt heimiſch werden. Anderſeits war 
in England die italieniſche Oper um ſo mehr zur Herrſchaft berufen, als ein eigenes 
nationales muſikdramatiſches Schaffen ſich ihr nicht entgegenſtellte. Die Lon- 
doner Oper war wohl die beſte italieniſche Oper der damaligen Welt. Trotzdem 
kam fie immer wieder zu wirtſchaftlichem Ruin. Die Pauſen zwiſchen dem Be- 
ſtehen zweier derartiger Unternehmungen füllte Händel aus, indem er muſikaliſch 
lernte, was er in England lernen konnte. Das war vor allem Kirchenmuſik mit 
Verwendung großer Chormaſſen. Was er auf dieſem Gebiete zum Teil bereits 
1717—20 ſchuf, ift für ihn die unmittelbare Vorbereitung feiner ſpäteren Oratorien 
kompoſition. 

gm Sommer 1737 war Händel ein ruinierter Mann. Geſchäftlich, das 
mußte er einſehen, ließ ſich jetzt eine italieniſche Oper nicht mehr halten. Aber 
infolge der ungeheuren Anſtrengung, die er fih zuvor zur Erhaltung feines Opern- 
unternehmens auferlegt hatte, waren auch ſeine geiſtigen und körperlichen Kräfte 
verbraucht. Ein Schlagfluß, der ihn körperlich lähmte und zeitweilig ſogar geiſtig 
ſtörte, vollendete den Ruin. Händel war damals zweiundfünfzig Jahre alt und 
blickte auf ein mehr als dreißigjähriges Schaffen mit der italieniſchen Oper als 


Storck: Georg Friedrich Handed 113 


Hauptinhalt zurück. Und nun mußte er ſich ſagen, daß er am Ende ſtand mit all 
dem, was er bisher geleiſtet hatte. Es ijt ein einzig daſtehendes Beiſpiel von Helden- 
tum, daß durch ſo furchtbare Erfahrungen dieſer Mann nicht vernichtet wird. Er 
nimmt ſich nicht viel Zeit zur Erholung. Mit unerhörten Gewaltkuren bringt er 
ſeinen Körper wieder in Ordnung. 

Im Zuni 1737 war Handel als ſchwerkranker Mann nach Aachen N S 
im November ftand er wieder gefund in London. 1738 find dann zwei fo unge- 
heure Werke wie der „Saul“ und „Iſrael in Agypten“ entſtanden. 

Auch bei der Geſtaltung feines Oratoriums ſehen wir bei Händel die 
doppelte Eigenſchaft, aus allem, was ihm geboten wird, oder was das Leben ihm 
zuträgt, das für ein beſtimmtes Ziel Wertvolle herauszugreifen und dann das 
aufgegriffene Problem ſtetig zu vertiefen. Da Händel nicht zu den Schriftſtellern 
unter den Muſikern gehört, wie ſonſt alle, die als Reformatoren auftraten, kommt 
man leicht auf den Gedanken, daß er ſich bei ſeinem Schaffen lediglich von der 
muſikaliſchen Schöpferluſt und nicht von weitergreifenden kulturpolitiſchen Ab- 
ſichten habe leiten laſſen. Das iſt aber zweifellos falſch. Gerade weil Händel immer 
im Zuſammenhang mit dem Leben ſchuf und mit der ausgeſprochenen Abſicht, 
wirkſam in dieſes tatſächliche Leben einzugreifen, war er ſicher ein denkender 
Künſtler, ein bewußt ſchaffender. Sein Oratorium ift eine reform“ 
toriſche Tat. 

Daran ändert die Tatſache nichts, daß er ſchon vorher, als der Schwerpunkt 
ſeines Schaffens in der italieniſchen Oper lag, Oratorien geſchaffen hatte. Eins 
davon entſteht in feiner Jugendzeit in Stalien. Dann hat er 1720 in jener erſten 
größeren Pauſe, die der Zuſammenbruch der italieniſchen Opernunternehmungen 
in ſein Opernſchaffen gebracht hatte, zwei Oratorien geſchrieben, ein bibliſches, 
„either“, und ein mythologiſch-klaſſiſches, „Uzis und Galathea“. Bedeutungs- 
voll iſt dabei, daß er die Anregung zu dieſen Werken aus jenen Kreiſen engliſcher 
Muſikliebhaber empfangen hatte, die nach einer nationalen Muſik ſtrebten. Trotz 
dem unterſcheiden ſich dieſe Werke im Grunde nicht weſentlich von den damals 
üblichen italieniſchen, ſind auch in italieniſcher Sprache geſchrieben. Sie waren 
eigentlich weiter nichts als „geiſtliche Opern“ oder Paſtoralopern mit einiger 
Verſchiebung des muſikaliſchen Schwergewichts, weil hier eine ſtärkere Beteiligung 
des Chors möglich war als bei der gewöhnlichen Form der italieniſchen Oper. 

Händel hat alſo beim Schaffen dieſer Werke natürlich ihre dramatiſche Auf- 
führung vor Augen gehabt. Da erhob 1731 bei einer Aufführung der „Eſther“ 
der Biſchof von London Einſpruch gegen die dramatiſche Aktion eines bibliſchen 
Stoffes. Das Werk kam alſo ohne Schauſpielerei zur Aufführung, man hatte nur 
einen ſzeniſchen Stimmungsrahmen und allenfalls die dem Stoff entſprechende 
Roftümierung der Mitwirkenden gegeben. Sofort erkannte der Meiſter die außer- 
ordentlichen Vorteile, die dieſe Loslöſung von den Bedingungen der Bühne barg. 
Was Einengung ſein ſollte, wurde Vorzug; er wurde muſikaliſch frei. 

Für die Oper iſt Händel nie auf den Gedanken einer anderen Reform ge- 
kommen; wir dürfen nämlich feine weltlichen Oratorien, wie er fie auch ſpäter 
noch geſchaffen hat, als Opern ohne ſchauſpieleriſche e 

Der Farmer XI, 7 


114 Storck: Georg Friebrich Händel 


bezeichnen. Das iſt gewiß eine Zwittergattung; aber man darf gerade bei Händel 
nicht vergeſſen, daß die von ihm fo behandelten weltlichen Stoffe der Heroen- 
und Mythengeſchichte unzählige Male bereits in Opern behandelt worden waren; 
daß überhaupt das geſpielte Drama in der ganzen alten italieniſchen Opera seria 
keine Bedeutung hatte. Er gab alſo auf dieſe Weiſe den geringen Reiz, den die 
Darſtellung dieſer aller Welt längſt bekannten und vertrauten Vorgänge ausüben 
konnte, preis, um dafür die völlige Freiheit im Muſikaliſchen einzutauſchen. 

Dieſe „Opernreform“ — wir wollen einmal den Ausdruck beibehalten — 
hat natürlich niemals für die Entwicklung des muſikaliſchen Dramas von Bedeu- 
tung werden können, da ſie ja mit einem Verzicht aufs Dramatiſche verbunden 
war. Sie bedeutet vielmehr den letzten Schritt in jener Richtung, der die dra- 
matiſche Dichtung in der Oper nur eine Gelegenheit zur Anbringung von Muſik 
war. Vom dramatiſchen Standpunkt und auch natürlich vom muſikdramatiſchen 
ijt diefe Gattung zweifellos verwerflich; vom muſikaliſchen Standpunkt ift fie da- 
gegen außerordentlich wertvoll. Sie ſtellt hier die denkbar höchſte Ausbildung 
der Liedform dar. Wenn wir uns in das Verhältnis der Ballade zum lyriſchen 
Gedicht denken, ſtehen wir auf dem Wege, der zu dieſer Art von Oper führt. Die 
Ballade bringt Erzählung und im Munde des Erzählers Worte und Rede ver- 
ſchiedener imaginärer Perſonen. Dieſes weltliche Oratorium ſtellt dieſe Per- 
ſonen als Individuen hin und neben ſie die Welt, die Menſchheit in der Geſtalt 
des Chors. Wir erleben einen Vorgang hier geiſtig mit, indem wir die Art, wie 
dieſe Einzelmenſchen und die Gefamtheit die Ereigniſſe empfinden und über fie 
denken, erfahren. Wir wohnen nicht den Ereigniſſen bei, ſondern erhalten deren 
Widerſpiegelung in der Seele der dabei Beteiligten. Das iſt zweifellos eine 
muſikaliſch außerordentlich dankbare Gattung, und auch gegen die Sonderſtellung 
dieſer Gattung im geſamten Kunſtgebiete läßt ſich nichts Stichhaltiges einwenden. 
Händel hat dieſe Gattung des weltlichen Oratoriums nicht zur Höhe geführt, 
dazu war er doch zu lange Theatraliker der Oper geweſen, und es lag ihm jetzt 
an dieſer Gattung nicht fo viel. Er hat die dichteriſche Seite dabei nicht weiter durch- 
dacht und jedenfalls nicht auf die Textdichter einen größeren Einfluß zu gewinnen 
verſucht; aber ein Oratorium wie Haydns „Jahreszeiten“ iſt bei ihm doch ſchon 
im Kern vorbereitet, und vor allem ließe diefe Gattung noch einen glänzenden Aus- 
bau zu. Bekanntlich hat man dieſen Ausbau auch verſucht, vor allem Karl Löwe 
in ſeinen weltlichen Oratorien. Aber die Späteren ſind dem Fehler verfallen, 
daß ſie vor allem auch muſikaliſch wieder an die Oper heranrückten, ſtatt ſich noch 
viel bewußter von ihr zu trennen. 

Es ließe fidh hier eine Kunſtgattung ſchaffen, die man als muſikaliſches 
Epos bezeichnen könnte, eine Rhapſodie größten Stils. Und ich meine, diefe 
Gattung tut uns dringend not. Sie wäre vor allen Dingen berufen, die © e- 
ſchichte für das künſtleriſche Volksleben lebendig zu machen, die ungeheuren 
Erziehungswerte, die die Geſchichte birgt, für unfer Volksbewußtſein zu fchöpfe- 
riſchen Lebenswerten dadurch zu geſtalten, daß ſie durch die künſtleriſche Form 
zu ſtärkſter Eindringlichkeit erhoben würden. Die geſchichtliche Oper bleibt ein 
Unfug. Das Singen dieſer Helden und Perſonen der Weltgeſchichte ift an fih ein 


Storck: Georg Friedrih Handel 115 


Schlag ins Geſicht realiſtiſcher Wahrheit, die gerade gegenüber dem gefchichtlichen 
Stoffe ſich als notwendig für unſer Gefühl aufdrängt. Auch das geſchichtliche Drama 
leidet ja für unſer heutiges Empfinden an dieſem Zwieſpalt, und wir erhalten 
bei allen großen Werken, mit ganz verſchwindenden Ausnahmen, ſeeliſche Dramen 
einer geſchichtlichen Perſönlichkeit, nicht aber das Orama der Geſchichte 
des Volkes, das ſie erlebt. Man ſollte doch darüber ſtutzig werden, daß das, 
was in Shakeſpeares Hiftorien für uns wirklich lebendig iſt, die einzelnen ungeheu- 
ren Charaktergeſtalten find, daß das Hiſtoriſche in „Richard III.“ uns völlig gleich- 
gültig läßt, daß die Geſtalt Falſtaffs uns tauſendmal mehr feſſelt als die geſamten 
geſchichtlichen Vorgänge, die in den Dramen behandelt werden, in denen er auf- 
tritt. Das einzige Drama, das man entgegenhalten könnte, iſt Schillers „Tell“. 
Und es iſt ſehr bezeichnend, daß dieſer Tell ſelbſt nicht hiſtoriſch iſt, daß er im Grunde 
nichts anderes ift als die Sagenſtoffe, die ein Richard Wagner fidh ertor: die Ber- 
körperung nämlich des Empfindens und Denkens eines Volkes. 

Aber davon abgeſehen, ob wir wahrhaft geſchichtliche Dramen bekommen 
können oder nicht, gibt es ſicherlich nur ganz wenige geſchichtliche Stoffe, die die 
Vorbedingungen für die dramatiſche Lebendigmachung auf der Bühne in ſich 
tragen. Man denke nur an Gobineaus „Renaiſſance“, die trotz allem, was man 
ſagen mag, niemals ein Bühnenwerk iſt. Und trotz der unzähligen Bemühungen 
iſt es bis heute noch nicht gelungen, uns ein wirkliches Renaiſſancedrama zu geben; 
wohlverſtanden nicht das Drama eines echten Renaiſſancemenſchen, ſondern dieſer 
Menſchheitsbewegung. 

Hier könnte dieſes weltliche Oratorium einrücken, losgelöſt von 
den Bedingungen der Bühne und der Spielfähigkeit. Die Muſik bietet in der Ge- 
ſtalt der Chorkompoſition die Möglichkeit, die Welt, das Volk, die Menſchheit zum 
Träger des Ganzen zu machen. Erzähler und Einzelmenſch vermögen in jeder 
beliebigen Zuſammenſtellung vor uns hinzutreten. Derartig innerlich bra- 
matiſche Werke werden durch die muſikaliſche Behandlung losgelöſt aus dem Sarge 
der Buchdramatik. Die Muſik iſt das Mittel, das uns Bühne und Spiel erſetzt. 
Ihre gerade Einwirkung auf das ſeeliſche Empfinden macht fie zur ausgeſproche⸗ 
nen Phantaſiekunſt auch für den Hörer, deſſen Phantaſie in fo ſtarke Tätigkeit ver- 
ſetzt wird, daß ihm das ſeeliſche Miterleben dieſer Vorgänge dazu verhilft, ſie 
ſin nlich ſich vorſtellen zu können und ihren geiſtigen Gehalt auch in fih aufzunehmen. 

Sch habe oben gejagt, daß Handel das weltliche Oratorium nicht fo weit ge- 
führt hat; aber die Gattung hat er uns doch geſchaffen durch ſeine bibliſchen Ora- 
torien. Ich brauche nur an „Iſrael in Agypten“ zu erinnern. Hier fehlt alles, 
was an einen dramatiſchen Helden im gewöhnlichen Sinne erinnert. Der Held 
ift ausſchließlich das Volk, und was an Einzelperſonen auftritt, find Stimmen 
aus dem Volke. Mit unwiderſtehlicher Eindringlichkeit wird uns das € r- 
leben eines Volkes dargeſtellt; wir erleben ſeine Schickſale mit, wir ſehen 
ſein Tun; wir erhalten Geſchichte in der großartigſten und lebendigſten Weiſe. 
Gegenüber einem fo wirklich daſtehenden Kunſtwerke haben doch theoretiſche Aus- 
laſſungen, ob die Gattung an fih verwerflich oder unlebensfähig fei, keinerlei Be- 
deutung. Es ift einfach lächerlich, über die Lebensfähigkeit und Daſeinsberechti⸗ 


116 Storck: Georg Friebrich Handel 


gung einer Kunſtform zu ſtreiten, wenn ein in ihr geſtaltetes Werk nach 170 Jahren 
noch derartig von Leben ſtrotzt. 

Die anderen altteſtamentariſchen Oratorien Händels zeigen, daß dieſelbe Be- 
handlungsart auch dann möglich ift, wenn der Einzelmenſch als Träger der Hand- 
lung mehr hervortritt. Gewiß trifft es zu, daß dieſer altteſtamentariſche Held kein 
Held in unſerem Sinne ift, weil er immer Werkzeug in der Hand des über dem Gan- 
zen thronenden Gottes iſt und nicht eigentlich Vollbringer des eigenen Wollens 
und Denkens. Der altteſtamentariſche Held iſt eben darum kein „dramatiſcher“ 
Held, weil er nicht gegenüber Gott und der Welt die Verantwortung für ſein Tun 
trägt, weil er nicht als Einzelindividuum gegen die Welt ſteht, ſondern immer 
nur die höchſte Spitze in der Geſamtmaſſe Volk darſtellt. Es zeugt alſo von dem 
außerordentlich ſcharfen Inſtinkte Händels, daß er fih gerade diefe altteftamen- 
tariſchen Helden für ſeine Oratorien erkor, ſo gewiß die Wahl zunächſt einfach aus 
der geſamten geiſtigen und religiöſen Einſtellung ſeiner Zeit heraus getroffen iſt. 
Aber wir hätten es ja auch nicht nötig, ſolche Tatmenſchen wie Bismarck im Ora- 
torium ſingen zu laſſen. Wir würden dieſen Bismarck ja auch in der Oper nicht 
vertragen und wahrſcheinlich fogar im Schauſpiel nicht. Bevor die redenden Künſte 
eine ſolche Geſtalt erfaſſen dürfen, muß ſie mehr zum geiſtigen Begriff geworden 
ſein. Wohl aber ließe ſich ſehr gut ein weltliches Oratorium denken, das Bismarcks 
Taten feierte, ſein Leben in großen Bildern uns vorführte; und wir brauchten ja 
dann gerade in dieſem weltlichen Oratorium nur vorgeführt zu bekommen, was 
wir anderen gegenüber Bismarck fühlen und denken, wie wir feine Taten emp- 
finden. Auch das iſt hiſtoriſch, und zwar Geſchichte größten Stils. 

Auch nach der Richtung hat uns Händel eigentlich bereits das Beiſpiel ge- 
geben in feinem „RM ef fias“. Bis auf den heutigen Tag haben zahlloſe Künſtler 
verſucht, die Geſtalt Feju für das Drama zu gewinnen, und fie find daran geſcheitert. 
Der Theatraliker Händel fühlte, daß gerade dieſe Geſtalt dramatiſch nicht zu faſſen 
ift, weil das Leben und Erleben Jefu uns niemals in der Bedeutung, die es für 
ihn hatte, erſcheint, ſondern immer in der, die es für uns hat. Es gibt keinen foär- 
feren Beweis dafür, daß nie wieder eine Geſtalt fo ganz ſich der Menſchheit hin- 
gegeben hat, als gerade dieſes eigentümliche Verhältnis. Die Einſtellung unſeres 
Empfindens gegenüber Jefu ift immer lyriſch, weil fein Verhältnis zur Welt lyriſch 
ift als ſeeliſcher und Empfindungswert für diefe Welt. Darum find auch alle Ber- 
Juche, Sefus im Roman oder im Epos vor uns hinzuſtellen, mißlungen. Ich glaube 
überhaupt, die Wortdichtung an ſich muß hier ſcheitern. Der Dichter kann nichts 
Beſſeres geben als einen denkbar einfachen Bericht. Bei jedem weiteren Schritte 
wird er Verkünder feiner Stimmung, Lyriker, und hier fehlt ihm dann das Aus- 
drucksmittel, das groß und erhaben genug für dieſen Stoff wäre. Der Muſiker be- 
ſitzt es. Was Klopſtock mit ſeinem „Meſſias“ verſuchte, war bereits ſechs Jahre 
vor der Veröffentlichung der erſten Geſänge dieſes Werkes geſchaffen in Händels 
„Meſſias“: die lyriſche Betrachtung des Lebens und Wirkens Jeſu. Auch dieſes 
Werk iſt ein Formtypus, der dritte in Händels Oratorienreihe. Wir haben von 
ihm das Epos großen Stils mit dem Rhapfoden: „Iſrael in Agypten“; zweitens 
das dramatiſche Oratorium im Zufammenwirken des hervorragenden Einzel- 


Die Eonintervalle des Rududerufs 117 


menſchen mit dem Volk als Geſamtſpiegelung großer geſchichtlicher Begebenheiten: 
„Saul“, „Simſon“, „Judas Makkabäus“; und nun drittens die lyriſch-epiſche 
Betrachtung über die Bedeutung eines hervorragenden Einzelmenſchen und ſeines 
Werkes für alle Zeiten bis in die unmittelbare Gegenwart. 

Mit dieſer Darſtellung des Oratoriums Händels habe ich die bedeutſamſte 
Seite feiner Anregungskraft für die Gegenwart dargelegt, und zwar für das gegen- 
wärtige Kunſtſchaffen. Hierzu käme dann gleich, als damit aufs engſte verwandt, 
ſein Stil: Monumentalität und Größe, Unterordnung alles einzelnen unter die 
Geſamtgedanken, Vertiefung und Ausſchöpfung dieſes Hauptgedankens. Händel 
beſitzt alſo in höchſtem Maße das, was unſerer zeitgenöſſiſchen Muſik fehlt: den 
Verzicht oder genauer die Hintanſetzung aller Einzelheiten, aller kleinen Einfälle, 
das ſtete Hinarbeiten auf den großen typiſchen und damit für die ganze Menfch- 
heit bedeutenden Gehalt. 

Auch der Menſch Händel wuchs immer mehr zur gewaltigen Monumentali- 
tät. 1751 über der Arbeit an feinem letzten Oratorium „Jephtha“ fing er an zu 
erblinden. Der Verfall der Schriftzüge verrät die Fortſchritte der Krankheit; 
aber der Geiſt blieb wach und der Wille ſtark. Auch die volle Erblindung behinderte 
ihn nicht, alljährlich bis zum Tode (am 14. April 1759) feine großen Oratorien 
aufführungen zu veranftalten; Tauſende erbaute fein wunderbares Orgelſpiel. 
3a, wenn Samſons Arie erklang: „Tiefdunkle Nacht! nicht Sonn’, nicht Mond 
erfreut mein Angeſicht“, da entquollen wohl Tränen aus den blinden Augen des 
an der Orgel ſitzenden Meiſters, der einſt mit fo hochgemuten und ſtolzen Herricher- 
blicken die ſchöne Welt umfaßt hatte; aber die Hand griff ſicher die gewaltigen A- 
torde feiner erhabenen Mufil, 

Der Geift herrſcht, nicht der Körper. Der Got lebt, mag der Körper ver- 
gehen. So wird auch, ſelbſt wenn ſeine Werke einmal für die Menſchheit ganz 
„hiſtoriſch“ werden ſollten, der Geiſt von Händels Künſtlertum in un verminderter 
Lebendigkeit erſtrahlen. 


17 AU Wee — d an’ — 
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Die Tonintervalle des Kuckucksrufs 


* Dielleicht darf ich die geneigten Lefer darauf aufmerkſam machen, daß gerade in der 

| Dy d' Frankfurter Gegend, zwiſchen Taunus und Speſſart — auch fonft im Reich, wenn 
auch nicht fo ſpezifiſch —, die Tonintervalle des Kuckucksrufs verſchieden find — — 
eine Naturtatſache, die einigen wenigen Ornithologen bekannt iſt und von mir in den 
letzten Sommern beſonders erforſcht wurde. Ich habe dieſer Sache ſchon eine kleine Abhandlung 
gewidmet in den Jahrbüchern des Weſtfäliſchen Provinzialvereins für Wiſſenſchaft und Kunſt 
(Zoologiſche Sektion in Münſter) 1906. Der gewöhnliche Kuckucksruf geht in der kleinen Terz. 
So rufen auch die m e i ft e n Kuckucke in unſerem mitteldeutſchen Land, ebenſo auch am 
ganzen Rhein lauf hin. Daneben ruft aber eine ganze große Anzahl in der großen Terz. 
Es ift dies carakteriſtiſch, auffallend, aber jedenfalls pofitiv ſicher feſtgeſtellt. Die Terzen ſelbſt, 
ob groß aber Hein, find vollkommen exakt. Zu beachten ift dabei, daß das Tonbild des Rududs- 


118 Die Tonintervalle des Rududsrufs 


rufs, des einzigen Bogelfangs bzw. Lockrufs, der in muſikaliſch fid er beſtimmbaren Tönen 
erſchallt, gang genau gemeſſen und wiedergegeben werden kann. Es gibt alfo Dur- und Woll- 
kuckucke. Die große Terz, übrigens auch der Tonſchritt des Komponiſtenkuckucke, klingt melan- 
choliſcher als die friſche, fröhliche Kleinterz. Etwa ein Viertel aller Vögel läßt fie erſchallen. 
Es gibt aber auch ſolche Kuckucke, die ihren Ruf in noch anderen Tonſchritten erklingen laffen, 
nämlich in der Quart und großen Sekunde. Ein mir befreundeter Herr vom Neuen 
Wiesbadener Konſervatorium (Muſikdirektor Hochſtetter) teilte mir ſeinerzeit mit, daß er am 
großen und kleinen Feldberg im Taunus und überhaupt dort herum in der 
Gegend den Ruf in der Quart entſchieden gar nicht felten gehört hat. Einen Getundentududs- 
ruf möchte ich immer als einen verunglückten oder Abergefdnappten anſehen. Einen ſolchen 
verwenden darum auch nicht die großen deutſchen Komponiſten in ihren Werken, während 
Beethoven zweimal — ob aus Zufall oder wirklicher Naturkenntnis? — den Kuckucksruf in 
der Quart ertönen laffen foll. Es wäre ja möglich, daß der große Meiſter auch in Heinen Dingen 
ſo genau war, daß er nur das wiedergab, was er wirklich einmal gehört hat in der freien Natur 
ſelbſt. Auch bemerkt Oswald Kühn in Stuttgart, der Herausgeber der „Neuen Muſik- Zeitung“, 
gelegentlich der Analyſe der Mahler léen Symphonie Nr. 1 in Nr. 16 des 26. Jahrgangs 
dieſer Zeitſchrift, daß er den Kuckuck wirklich einmal — aber auch nur ein einziges Mal — in 
dieſem Intervall habe rufen hören. Nach Dr. B. Hoffmann laffen aud Haydn (in Rinder- 
ſymphonie), Johann Jakob Walter (1694), Zohanna Kinkel geb. Matthieux (in 
Vogelkantate), Mozart (in Figaros Hochzeit), Humperdinck (in Hänſel und Gretel) den 
Kuckuck in der Terz rufen. 

Nun intereſſieren uns naturlich auch die Töne ſelbſt, in denen der Kuckuck ruft. 
Übrigens ſchon einer meiner mittelalterlichen Amtskollegen, ein Geiſtlicher namens Simon 
Fornſete, der in Reading (Berkſhire) lebte, hat beſonderes Intereſſe am Kuckucksruf ge- 
habt. Er verwendet ihn im Jahre 1226 in dem ſechsſtimmigen Doppelkanon „Sumer is 
icumen in, Lhude fing cuccu“, Damit ift das Kuckucksmotiv ſicher eins, wenn nicht über- 
haupt das am früheſten in der muſikaliſchen Literatur auftauchende Lautmotiv aus der 
Vogelwelt. Fornſete läßt aber fälſchlicherweiſe den Ruf aufſteigen, ſtatt hinabgehen, aber 
ganz richtig in der kleinen Terz, in d—f Im Mainzer Becken und überhaupt in 
unſerer Umgegend ift es faſt regelmäßig das eingeſtrichene e, auf das der Vogel mit be- 
wunderungswürdiger Sicherheit einſetzt; desgleichen im Schwarzwald in der Gegend um 
Baden-Baden, in den Forſten des Teutoburger Waldes; es gibt aber auch 
Gegenden, wo der Nachbarton es als erſter Ton nicht ſelten angetroffen wird, ſo hörte ich 
ihn in einem beſtimmten Oden waldtälchen von etlichen Vögeln. Im Mainzer Becken 
erſchallt die normale Kleinterz, fie fegt prompt mit e (dem eingeſtrichenen) ein und ift von 
abſoluter Tonreinheit. Der Kuckucksruf lautet demnach dort e—cis, als Großterz e—o. 


Kleinterz: SER oder — Großterz. 


Dazu würden dann gehören als Quart e—h, als Sekunde ein reines volles e- d, und 
Dr. E. v. Freyhold denkt fogar noch an eine nicht ganz verbürgbare verminderte Quint. Letzterer 
Beobachter und der große Vogelkenner Naumann haben beide einen anormalen Kuckuck ge- 
kannt, der in drei Tönen immer und regelmäßig gerufen hat (unregelmäßig kommt ja ab 
und zu einmal ſolches vor bei einem verunglückten Ruf eines ſonſt normalen Schlägers), und 
Naumann gibt auch die drei Töne an; von dieſen beiden Wundertieren hielt ſich der eine im 
Teutoburger Wald, der andere jahrelang an der mittleren Elbe auf. v. Freyhold hat insbeſondere 
die Badener Kuckucksrufe geprüft und dazu ein daumendickes Inſtrument aus Neufllber, eine 
Stimmpfeife mit drehbarem Oberteil, mit welchem man einen jeden der zwölf Halbtöne einer 
Oktave genau angeben kann, benützt; dies Inſtrument trug er ſtets bei ſich. „Überall, wohin 


Die Tonintervalle bes Nududsrufs l 119 


id weit und breit auf meinen Spaziergängen kam, überall hörte ich den Kuckuck mit bewunde- 
rungswüͤͤrdiger Sicherheit auf e einſetzen. Es war, als hätten alle diefe Vögel eine Stimm- 
gabel oder Stimmpfeife im Halſe, nach der ſie ſich richteten. Durch das offene Fenſter meines 
Schlafzimmers vernahm ich täglich in den frühen Morgenſtunden zahlreiche Kuckucksrufe von 
den waldigen Höhen des Battert her. Ein Griff nach der auf dem Nachttiſch bereitliegenden 
auf e geſtellten Stimmpfeife überzeugte mich, daß auch diefe Rufer in kleinen oder großen Ter- 
zen der e Regel folgten.“ 

Dieſe Sachlage liegt alſo nach anderweitigen und meinen Beobachtungen unbedingt 
ſicher feſt. 

Dazu machen wir nun die [ehr merkwürdige Beobachtung, daß die Kuckucke 
eines anderen deutſchen Gaues oder Landſtrichs in einer anderen Ton- 
höhe zu rufen anfangen. Die Kuckucksrufe im Land an der mittleren Elbe, alſo etwa in 
der Gegend Magdeburg-Halle, haben eine andere Tonlage — wenigſtens hatten fie das vor 
100 Jahren, zur Zeit Naumanns, und haben es wohl auch heute noch. Der größte und bedeu- 
tendſte Ornitholog nicht nur Deutſchlands, ſondern der ganzen Welt, der ganz unbedingt fichere 
Naumann gibt für die bezeichnete Gegend, ſeine Heimat, als erſten Ton Fis an und er ſagt: 
Auf der gewöhnlichen Flöte, womit man ihn täuſchend nachahmen kann, ſind es die Töne fis 
und d in der mittleren (eingeſtrichenen) Oktave und ſie tönen ſo laut, daß man bei ſtillem Wetter 
den Kuckuck wohl eine halbe Stunde weit rufen hört. „Faft alle rufen in dieſem Ton, wenig- 
ſtens iſt der Unterſchied nicht auffallend, doch gibt es auch welche, die einen halben bis ganzen 
Ton höher ſtimmen, aber ein folder, bei welchem der obere Ton g und der untere dennoch d 
iſt, wird viel ſeltener gehört (das wäre alſo die Quart); er wird dadurch ſehr auffallend und 
kenntlich. Das Männchen, das Iden feit vielen Fahren (32) in der Nähe meines Wohnorts 
wohnt, hat einen ſolchen auffallend hohen Ruf, daß es aus g noch in gis ũberſchlägt, alfo Kuickuck 
tuft, wodurch es fih vor allen kenntlich macht und mir dadurch Gelegenheit zu mancher inter- 
eſſanten Beobachtung gab.“ 

Man könnte nun vielleicht meinen, daß die e—0 Vögel und e—cis-Bögel auch mit es 
anfangen könnten. Es wäre ja denkbar, daß z. B. Ermüdung zum Oetonieren veranlaßt. Aber 
dies iſt tatſächlich nicht der Fall. Die tiefere Stimmung in es wird ſchon am frühen Morgen 
gehört und konſtant bei denſelben Vögeln. Allzuhäufiges Rufen macht den Vogel ſchließlich 
heiſer, ändert aber nicht die Tonhöhe ab. 

ch bin feft überzeugt, daß jede Rududsmutter ihre Rufart auf ihre 
Jungen ſtrikte forterbt. And daß gerade in unferer Rhein-Maingegend e und- 
e, Dur- und Moll-, Sekund- und Quarttudude zuſammenſtoßen, erkläre ich mir daraus, 
daß die verſchiedenſten Terrainarten, die laubwaldbedeckten Bergrücken des Taunus, die nadel- 
waldbedeckten des Speſſarts, die ſtillen Waldtäler des Odenwalds, das ebene Gartengelande 
der Wetterau, die Wieſen und Ackerlandſchaften Starkenburgs, das wellige Rebhügelland 
Rheinheſſens am Rhein-Main zuſammenſtoßen und damit eben m. E. auch verſchieden geartete 
Wald- und Felbtudude mit ſpezifiſch verſchiedenem Ruf. 

In meiner „Wertſchätzung unſerer Vögel“ (Stuttgart 1908) habe ich — im muſikaliſchen 
(richtiger geſagt: die Geſangwerte der Vögel abſchätzenden) Teil, S. 22—21 — dieſe letztere 
Erkenntnis noch nicht bringen und bewerten können, weil fie aus ganz neuzeitlichen Beobach- 
tungen reſultiert; ich werde es in einem fpäteren Werk nachholen. 

Wilhelm Schuſter 


Epilog zur „Elektra“ 
(ESA 


CFS s find nicht die äußeren Geſchehniſſe, die mich veranlaſſen, nochmals zur „Elettra“ 
4 Hä JB das Wort zu ergreifen: nicht die erſchütternde Tatſache, daß Generalmuſikdirektor 
—. » von Schuch infolge der Uberanftrengung bei der dritten Wiederholung des Werkes 
ſich eine „Muskelzerreißung“ im rechten Arme zugezogen hat; man ſieht daran nur, daß Liſzts 
feines Wort vom Dirigenten: „Wir find Steuerleute, nicht Ruderknechte“ nicht mehr volle 
Geltung beſitzt. Auch aus der Herausforderung zum muſikaliſchen Zweikampf, die im Namen 
der durch Straußens Anwurf „verblödende Variétévorſtellungen“ beleidigten Artiſten der 
Chemnitzer Kapellmeiſter Clement an Strauß richtet, fei nur als charakteriſtiſche Außerung 
gewiſſer Stimmungen eine Stelle mitgeteilt: „Auch Sie, Herr Dr. Strauß, arbeiten mit alten, 
febr, febr alten Dariététrids! Was ift z. B. Ihr Tanz der ſieben Schleier? Ihre knarrenden 
Türen uſw. uſw. find Wirkungen, die jeder Clown mit viel geringeren Mitteln effektvoll er- 
zielt. Entkleiden Sie ſich des Bluffs eines von über hundert Mann Orcheſter erzielten Spet- 
takels, der Spekulation auf den hyſteriſch perverſen Gefühlsdunſt einer Opiumhöhle, ich be- 
zweifle, ob Sie imſtande wären, ein Publikum fünfzehn Minuten als Autor fo gut zu unter- 
halten und zu erbauen, wie es fo viele Variétékünſtler tun.“ 

Wichtiger ſind etliche „Bekenntniſſe“, die Richard Strauß einem Ausfrager des „Neuen 
Wiener Tageblattes“ gemacht hat. Zwar der Hinweis auf Wagners „Triſtan“, der anfangs 
wie ein Chaos gewirkt habe und jetzt als klar und einfach (7) empfunden werde, mit der Folge- 
rung, daß es auch mit der „Kompliziertheit“ feiner Werke nicht anders fein werde, ift nicht ſtich 
haltig. Kompliziertheit an fih braucht ebenſowenig ein Fehler zu fein, wie deren Ber- 
ſchwinden für unſer Empfinden ein verfehltes Werk beſſer macht. Es kommt auf die Urſachen 
jener Kompliziertheit an. Ausgiebiger iſt die folgende Stelle: „Alles, was Muſik erfordert, 
muß ſymphoniſch geſtaltet, alſo polyphon gearbeitet werden, ſo zwar, daß auch die Singſtimme 
auf der Bühne als ein integrierender Beſtandteil des vielſtimmigen Satzes betrachtet wird. 
Wenn aber ein Teil der Dichtung in Frage kommt, der dem Hörer einen beſtimmten Vorgang 
ſofort verſtändlich machen ſoll, dann muß man unbedingt homophon ſein.“ Danach unterſcheidet 
Strauß in ſeinen Dramen Stellen, die Muſik erfordern, und ſolche, die ſie eigentlich verbieten. 
Er komponiert die letzteren aber trotzdem (aus äußerlich“ ſtiliſtiſchen Gründen wohl); nur tom- 
poniert er dieſe homophon, im Gegenſatz zu jenen andern, die ſymphoniſch zu halten ſind. 
Zunächſt ift alfo für Strauß ſymphoniſch = polyphon. Zweitens verrät fidh hier, daß er feine 
Stoffe nicht muſikdramatiſch auffaßt; denn dann müßte er ſie ſchon deshalb fallen laſſen, weil 
Vorgänge der Dichtung, die ſofort verſtändlich werden ſollen, ſeine Art der Vertonung nicht 
vertragen. 

Damit bin ich dem Kernpunkt meiner heutigen Ausführungen nahe, die als Antwort 
auf manche Fragen aus dem Leſerkreiſe dienen ſollen, die wiſſen wollen, warum ich im Auf- 


Auf der Warte 121 


ſatz des letzten Heftes geſagt habe: „Strauß iſt durchaus Orcheſtermuſiker und in beträchtlichem 
Maße Symphoniker.“ Ob denn das nicht das gleiche ſei? Nein! And ich bedauere heute, 
die Bezeichnung als „Symphoniker“ nicht ſtärker eingeſchränkt zu haben. Denn es iſt für die 
Stellung von Richard Strauß entſcheidend, daß ihm etwas zu dem geiſtigen Begriff „Sym- 
phoniker“ fehlt, wie wir ihn durch Beethoven verkörpert erhalten haben. Das einfache grie- 
chiſche „symphonein“ = Zuſammenklingen hat durch zweihundert Jahre der Entwicklung 
keine andere Bedeutung gehabt als „Tonſtück, Klangſtück“. Und erſt durch Haydn und Mozart 
iſt die Bedeutung eines Geiſtigen herausgebildet worden. Wenn auch bei dieſen beiden, mit 
Wagner zu ſprechen, der Schwerpunkt in der Darſtellung des Zuſtändlichen liegt, ſo ſind doch 
dieſe Zuſtände vor allem in den letzten Symphonien Mozarts Ergebniſſe eines einzigen geifti- 
gen und ſeeliſchen Organismus. Ich meine ſo, daß der ſeeliſche Zuſtand, den etwa der zweite 
und dritte Satz einer Mozartſchen Symphonie vor uns ausleben, mit dem Erleben desſelben 
Menſchen, dem der erſte und vierte Satz gehört, organiſch verbunden ſind. Die Art, wie das 
Scherzo bei Mozart Freude bringt, offenbart durchaus dieſelbe erlebende Individualität, der 
die Energie und die Entſchloſſenheit zur Tat der zugehörigen letzten Sätze gehört. Das iſt ein 
rieſiger Unterſchied gegenüber der vorangehenden Symphonie, in der ja von Tanzformen 
her drei ober vier verſchiedenartige Charakterſtücke bloß durch tonale Zuſammengehörigkeit 
verbunden wurden, alſo rein muſikaliſch formal. Bei Mozart haben wir in den vier Sätzen 
verſchiedene Seelenzuſtände der gleichen Individualität. i 

Beethoven fekte an die Stelle des Zuſtändlichen die Entwicklung eines Erlebens. 
Das ift der Hochbegriff von Symphoneion. Hier wird das Wort ganz zur Deckung des geiſtigen 
Inhalts. Die Welt der Klänge wirkt zuſammen, um ein Leben zu veranſchaulichen, um ein 
Leben auszudrucken. Hier herrſcht vollkommen der Geiſt, der feine künſtleriſche Weisheit in der 
Auswahl offenbart. Für alles künſtleriſche Schaffen ift diefe Auswahl wichtiger, als das Gam- 
meln. Auch die höchſte Fähigkeit der Beobachtung, der Aufnahme von allen Erſcheinungen 
reicht nicht dazu aus, nun ſelber aus eigenen Kräften ein Kunſtwerk zu ſchöpfen. Um das tun 
zu können, muß der Künſtler gewiſſermaßen wieder aus den ſämtlichen Teilen der Erſcheinung 
einen chaotiſchen Urſtoff bilden, aus dem er dann, wie einſt die Gottheit, ſeinem Ebenbilde 
gemäß neue Weſen ſchafft. So wie Prometheus: „Hier fi’ ich, forme Menſchen nach mei- 
nem Bilde; ein Geſchlecht, das mir gleich ſei.“ E 

Die Fähigkeit, das zu können, ift der Kern des Begriffes Heldentum, wie wir ihn heute 
ausſprechen. Denn für die Art dieſer Kraft bleibt es ſich völlig gleichgültig, wie ſie ſich äußert. 
gedes wirkliche Schaffen ift Tat. Die Form, in der fie für die Welt erſcheint, ift hundertfältig. 
Ihr Wert für die Welt hängt im weſentlichen von der jeweiligen Einſtellung dieſer Welt ab, 
die bald das, bald jenes mehr braucht, von dem oder jenem mehr gefördert werden kann. Der 
einen Zeit tut Bismarck not, der anderen Goethe. Die innere Urkraft beider Genien bleibt 
eng verwandt, was ſchon Napoleon und Goethe wechſelſeitig ineinander erkannt haben. 

In der Kunſt hat dieſes Heldentum nie und nirgends einen ſo reinen Ausdruck erhalten 
wie in der Symphonie Beethovens. Das iſt leicht erklärlich, weil die Muſik freier ift als jede 
andere Rımjt von den Außenerſcheinungen der Dinge. Sie ift, wie Schopenhauer hervorgehoben 
hat, imſtande, die „Ideen“ zu geben, während alle anderen Künſte ſich dahin beſchränken 
mëllen, „Abbilder dieſer Ideen“ zu übermitteln. & 

Man wird verſtehen, weshalb ich Bedenken trage, in diefem höchſten Sinne Strauß 
den Ehrennamen des Symphonikers zu geben, wenn ich fagen muß, daß er in allen feinen Wer- 
ken ſich darauf beſchränkt hat, Abbilder zu geben. Gewiß, in einigen, und bezeichnenderweiſe 
in den dauernd bedeutendſten und padendften ſeiner Werte, Abbilder ſeines Selbſt. Es ſind das 
das Frühwerk, Hon Zuan“, dann „Tod und Verklärung“, „Till Eulenſpiegels luftige Streiche“, 
„Ein Heldenleben“ und die „Symphonia domestica“. Schon die Titel ergeben, daß Don Zuan, 
der die Kataſtrophe von Byrons „Don Zuan“ zum Ausgangspunkt nimmt, ebenſo wie „Sill 


122 | Auf der Warte 


Eulenſpiegel“ Sondereigenſchaften des Komponiſten zum Ausdruck bringen. Allerdings die 
beiden ſtärkſten: die Leidenſchaft der Liebe, zuweilen möchte man fagen die Brüͤnſtigkeit, und 
das überlegen ironiſche Spiel aus dem Bewußtſein ungeheurer Formbeherrſchung heraus 
gegen alle Formen, die — darin kehrt fih die Ironie wider Strauß ſelbſt — ihm ſelber bei 
anderen immer als Formeln erſcheinen, während er nicht merkt, daß auch er ſelber oft genug 
nur der Technik dient, von ihr GEN und getrieben wird. Und das heißt eben Formel 
ſtatt Form. 

Deshalb hat auch das Verhältnis zur Technik — hier vor allem die Art der motiviſchen 
und kontrapunktiſchen Arbeit — eine ſo einſchneidende Bedeutung für Strauß' Entwicklung, 
erſcheint nicht etwa als Ausdruck feiner geiſtigen Wandlung, indem er deren Folge wäre. Viel- 
mehr iſt der Wandel der Ausdrucksweiſe (Technik) das Entſcheidende, der geiſtige Inhalt bleibt. 

Von dieſem Geſichtspunkt aus iſt die reifſte Schöpfung von Strauß, jene, in der auch 
der ſeeliſche Gehalt am reinſten als „Idee“ im Sinne Schopenhauers erſcheint: „Tod und 
Verklärung“. Das Schickſal: erft Kämpfer und Bekämpfter, Sieger im Tode, nach dieſem im 
Gedächtnis ſeines Volkes zum Heros verklärt — das iſt nicht nur typiſch für das Erleben des 
Genies, ſondern bei deſſen Weſensart geradezu notwendig. Daß bei Strauß der „Held“ immer 
erſt ſterben muß, bevor er anerkannt wird, während er bei Beethoven immer als Lebender ins 
Reich der Freude gelangt, iſt Temperamentsſchwäche, vielleicht auch Zeitſchwäche. An ſich hat 
Strauß aus ſeinem perſönlichen Leben heraus zu dieſer Auffaſſung keinen Grund. Eher kann 
ihm zuweilen der Gedanke kommen, daß ſeine Rieſenerfolge ſich nicht dauerhaft erweiſen möchten. 

Gegenüber „Tod und Verklärung“ bedeuten „Ein Heldenleben“ und die „Häusliche 
Symphonie“ als rein muſikaliſche Geſtaltung eines ſeeliſchen Inhalts unbedingt einen Rück- 
ſchritt. Dieſer Rückſchritt ift eine Folge der techniſchen Wandlung: der Freskomaler Strauß 
iſt zum Impreſſioniſten geworden. Strauß arbeitet mit einer Fülle kleiner Themen, deren 
kontrapunktiſches Spiel muſikaliſch und geiſtig den Inhalt ergibt. Impreſſionismus iſt ein 
innerer Widerſpruch zum großen, d. i. ausgedehnten, ver- und entwickelten Inhalt. Denn 
Impreſſionismus iſt Feſthalten des Augenblicks als Erlebnis. Entwicklung aber heißt die Quint- 
eſſenz von Millionen Augenblicken geben. Strauß will dieſe Entwicklung erreichen durch ein 
Aneinanderreihen ſolcher Augenblicke (Kinematograph). Er fühlt aber als echte Muſikernatur, 
daß die Muſik ein ungeheures Mittel beſitzt, durch die Kontrapunktik zahlloſe dieſer Augenblicke 
aus dem Nacheinander ins Gleichzeitige zu verſetzen. Gelingt es dann, aus ber, Fülle dieſer 
gleichzeitig tönenden Augenblicksergebniſſe rein muſikaliſch eine Einheit heraus zu ſchmieden: 
ſo iſt auf einmal die Idee dieſes Lebens gegeben. 

An dieſem Punkte ſteht jetzt Richard Strauß. Man kann ruhig „Salome“ und „Elektra“ 
hinzunehmen, die nur verkappte ſymphoniſche Dichtungen ſind. Hier gewinnt der Komponiſt 
die hundert Augenblicke, die er als muſikaliſche Impreſſionen verwertet, aus dem Geſchehen 
und den Charakteren des Dramas und ſtrebt dann zum Schluß zur großen Einheit (Tanz Clet- 
tras). Aber die ſklaviſche Treue gegenüber der Dichtung hindert ihn an dieſer vollen ſymphoni⸗ 
ſchen Entfaltung, wie He ihn zuvor zu einer ſchlimmen Außerlichkeit zwang. Denn Strauß ſchöpft 
nicht aus der „Dichtung“ Elektra, nicht aus dem Grundgehalt, ſondern aus der Wo rt faffung 
Hofmannsthals. Wie ein Vampyr — man gerät unwillkürlich in die blutrünſtigen Vorſtellungen 
der Dichtung hinein — ſaugt er aus jedem Worte das Lebensblut für feine Muſik. Wohl- 
verſtanden: aus jedem einzelnen Worte. Wie widerwillig karikierende Melodramatiker klebt 
Strauß an jedem Worte, das er nach feiner Bedeutung malt. Da wird bildhaft von Schmeiß 
fliegen geredet — flugs ſchwirrt das etle Gezücht um uns. Chryſotemis verſichert, fie möchte 
in kalten Sturmnächten ein Kind an ihrem Fleiſche wärmen — ſofort jagt der Sturm durchs 
Orcheſter. Leider fehlt das wimmernde Kind ufw. uſw. Dagegen helfen nicht einzelne wunder- 
ſchöne Stellen, denn es bleiben eben „Stellen“, Einzelheiten, wo erft ein Ganzes das Mufit- 
drama ſchafft und erſt recht die Symphonie. 


Auf ber Warte 123 


Sn ber Hinficht ſteht in dieſer letzten Schaffensperiode weitaus am höchſten die „Sym- 
phonia domestica“, alfo bezeichnenderweiſe ein Werk, in dem Strauß durchaus aus eigenem 
Erleben ſchöpft. Aber noch ſteht dieſes Werk als einheitliche Symphonie nicht auf der Stufe 
von „Tod und Verklärung“. Dieſe wird er wohl wieder erreichen; eine höhere wäre ihm erſt 
nach einer Vertiefung ſeines perſönlichen Heldentums erreichbar. Aber um auch nur die Höhe 
von „Tod und Verklärung“ zu gewinnen, muß er alle Einzelheit en vom Standpunkte 
des Endzieles ſehen. Da werden die Außerlichkeiten, Zufälligkeiten und Kleinigkeiten 
des Lebens ihm auch als ſolche erſcheinen. Logiſcherweiſe wird er ſie auch dann muſikaliſch 
entſprechend behandeln. In den bisherigen Werken nimmt er alles gleich wichtig, höchſtens 
daß er einzelnes ausführlicher behandelt. 

Das iſt es, was jetzt den Hörer ſtört und aus allem wieder herausreißt, was auch das 
Gedankliche verſchiebt und Unklarheiten verurſacht. Im einzelnen das zu verfolgen, führt zu 
weit. Aber wenn für einen luſtigen Streit zweier Ehegatten eine rieſige Doppelfuge auf- 
gewendet wird, das gewaltigſte formale Rüſtzeug in der ganzen Symphonie, in der auch des 
Rinfilers Schaffen und Sorgen vor uns hintritt, fo zeigt dieſer Fall klar die Mißverhältniſſe, 
die fich bei dieſer Art ergeben müſſen. 

Das Weſentliche alles echten Heldentums iſt, daß die Erkenntnis des Hohen und Großen, 
zu dem man den inneren „Beruf“ fühlt, als Verpflichtung wirkt zu großzügiger Lebensauf- 
faſſung. Das Bismarckſche „nicht über Zwirnsfäden ſtolpern“ iſt ganz unabhängig von der 
Anwendung in dem Einzelfalle: ein Lebensgrundſatz. Aber nicht nur die Zwirnsfäden, die das 
äußere Leben über den Weg ſpannt, miiffen niedergetreten werden, auch über die im eigenen 
Ich darf man nicht ſtolpern. Dieſe Dinge miiffen fein und müffen deshalb fo abgetan werden 
wie die alltäglichen Funktionen des Körpers. Sobald man dieſe „wichtig“ nimmt, iſt etwas 
nicht in Ordnung; nur Krankheit gebietet und entſchuldigt es. Heldentum aber iſt Geſundheit. 

Karl Storck 
ZS 


| Hauptmanns Grifelda 
Aufführung im Berliner Leſſingtheater. Buch bei © Silder 


ANE AS 


Sr Mi Un Boccaccios Delamerone taucht am Ausgang als letzte Geftalt des närriſch bunten 
HG | ) Reigens verliebter Mönche, gehörnter Ehemänner, liſtenreicher Frauen die rüb- 
rende Demutserſcheinung der ſchmerzensreichen, vielgeprüften Griſelda auf. Eines 
Bauern Tochter war fie, und ein hoher Herr, von Sonderlingsſitten, der Markgraf von Sa- 
luzza nahm fie, gedrängt, fidh gu vermäblen, aus der Laune einer Stunde zum Weibe. Schwere 
Leidenszeit wird ihr die Ehe, da der Mann, von böſer Luſt geplagt, ihr harte Proben auferlegt, 
die Kinder ihr entreißt, ſie aus dem Hauſe treibt, bis er ſie, von ihrer Sanftmut überwunden, 
zu fih zurüdberuft und fie erhöht. 

In die deutſchen Volksbücher ging dlefe Geſtalt über, und Hans Sachs brachte fie auf 
die Bühne, zu der fie in neuerer Zeit der Oſterreicher Halm wiederkehren ließ. 

Ein zeitgebundener Stoff ift das. Die duldende Frau, die Märtyrerin, in ſchweigender 
Holdheit auf dem Oornenwege wandelnd, ergeben und in tiefſter Seele gläubig untertan dem 
hohen Herrn, das iſt mittelalterliche Vorſtellung und irdiſcher Ableger der auf Goldgrund ge- 
malten Heiligenlegenden, die vom Kreuz zur Krone, vom Leiden zur Seligkeit führen. Und 
Genovena ijt die Schweſter der Griſeldis. 
kez Us man nun hörte, daß Gerhart Hauptmann fih der alten Sage verſchrieben habe, 
konnte man eigentlich ſogleich annehmen, daß in dieſer Form der nackten Gegenüberftellung 
männlich deuteler Defpotie und weiblicher Ergebenheit kaum eine Auferſtehung für unfer 


124 Auf der Warte 


Gefühl möglich fei. Als ein primitives Bildwerk aus der Frühzeit, mit einem archaiſchen 
Raffinement gezeichnet, ginge das vielleicht, aber in menſchliche Verſtändnisnähe iſt ſolcher 
Mann und ſolche Frau nicht mehr zu bringen. Der Schatten von Fbjens Nora würde fie 
vertreiben. 

Hauptmann hat das natürlich ſelbſt gefühlt, und er prägte den Stoff ganz frei aus. 
Nicht auf Goldgrund malte er, nicht mit Paſſionslyrik inſtrumentierte er, ſondern ihn reizte 
die Idee des Erdhaften, des Naturkindlichen, Starkwüchſigen an dem Griſeldaweſen. Er wollte 
das hochgewachſene Magdtum des in Acker und Wieſe wurzelnden Mädchens, der Tochter der 
Erde, verdichten, und einen Mann wollte er ihr geben, der gleich ihr hochgemut und aufrecht, 
dabei ein Großer der Welt, in der Bauerndirne den eingebornen Adel erkennt, den Adel der 
Natur voll Saft und Kraft und Gliederprangen. Es ſchwebte dem Oichter etwas vor von Mann 
und Männin, geneſishaft, von Adam und Eva, wie ſie van Eyck gebildet. 

Und das ſprach er in den erſten Szenen feiner dramatiſchen Bilderreihe kraftvoll aus, 
gar nicht artiſtiſch mit Literatur⸗-Beigeſchmack, ſondern robuſt ſtrotzend, mit einer animaliſchen 
AUrſprünglichkeit. 

Etwas Tierhaftes, Urweltliches ift darin, wie diefe beiden Menſchen, ſtarrnackig und 
eigenwiitig, ſich zum erſtenmal gegenſeitig meſſen, haßfletſchend und dabei getrieben vom 
Verlangen. Wie ein altes Trutzlied geht das zornige Hin und Her ihrer Reden, und gewalt- 
tätig regen ſich die Hände, bis er das Recht des Stärkeren gebraucht und die wehrhafte Maid 
unter ſeine Fäuſte biegt. 

Das iſt vehement gemacht, das wettert nur ſo, das fährt daher mit der Sprungkraft 
und der Tatzenwucht einer prachtvollen Beſtie. 

Und dieſer ſtiebende Rhythmus hält auch noch an in der Szene, als Graf Ulrich zum 
zweitenmal an den Zaun der Bauernhütte kommt, diesmal nicht als ein Waldläufer, ſondern 
mit Gefolge und Hofſtaat, und in wilder Laune und mit wiiften Humoren um Griſelda freit. 
Seinen Verwandten zur Kränke tut er das und aus der Eigenſinnigkeit des Gewaltmenſchen, 
der jedem Einfall blindlings nachgibt. 

Wieder geht die Trutzweiſe zwiſchen beiden, wieder bäumt ſich zornmutig, zähnelnir- 
ſchend ihr Aufbegehren unter den Peitſchenhieben ſeiner höhniſchen Stachelworte; ein erbitter- 
tes Ringen gibt es zwiſchen dieſen beiden von dem Saft der Erde dampfenden Menſchenkindern. 
Und fein und echt iſt's, wie das junge Weib in all ihrer Herbheit und ihrem Grimm unter dem 
Zwanggriff des Mannes erſchauert, wie im Haß ein anderer Brand erwacht, den ihre zornigen 
Tränen nicht löſchen können. Ein Hauch germaniſcher Zungfrauenmären liegt darüber, etwas 
von Siegfried und Brunhilds kämpfender Liebe. 

Vorſpiel iſt das, dann folgt ein Zwiſchenſpiel und dann das Ehedrama. 

Seder dieſer Teile ſteht für ſich da, in jedem find, ohne daß Hauptmann die ſeeliſchen 
Abergänge zur Oarſtellung bringt, die beiden Hauptperſonen, Griſelda und Graf Ulrich, andere 
Menſchen. Nur die Namen bleiben gleich, ihre Art erſcheint in veränderter Geſtalt. Dadurch 
ſchwächt ſich der Anteil am Schickſal ſehr ab, es bleibt höchſtens eine Wirkung gewiſſer Moment- 
ſituationen und lyriſcher Stimmungen. Hauptmann hat eben wieder — das ift peinlich gu mer- 
ken — feine in der Empfängnis gut geratene Idee nicht künſtleriſch ausgetragen. Es blieb Stüd- 
werk. Die Menſchen wuchſen nicht organiſch in ihr Schickſal hinein, nicht aus ihrer Charakter- 
anlage ſchöpfte Hauptmann die Motive, ſondern er konſtruierte ihnen künſtlich ein Schickſal, 
er trug in fie von außen beliebige Motive hinein und brachte deren Folgen in locker aneinander; 
gereihten Bildern zur Zufallserſcheinung. Das wird am Ehedrama näher zu zeigen ſein. 

Ganz für ſich ſteht das vierte Bild, das Zwiſchenſpiel, ein emblematiſches Hochzeitslied. 
Da ift das Paar ſchon völlig ausgewechſelt. Der Mann leuchtet gütig milde, fern von feinen 
wilden Jägerſpäßen, und Griſelda iſt mit dem hochzeitlichen Brokatgewand zu einer ſtiliſierten 
allegoriſchen Figur geworden, die von „feliger Nutzloſigkeit“ ſpricht. 


Auf. der? Warte 125 


Mit dem Klima der erſten Szenen hat das ſchon nichts mehr zu tun. Betrachtet man es 
iſoliert, wie es iſt, ſo wird man freilich von einer beſonderen ſtillen Schönheit getroffen. Dieſe 
Szene, da die Landleute mit ſymboliſchen Gaben des Ackers und dem Werkzeug der Feld- 
beſtellung glückwünſchend kommen, gleicht einem Oüͤrerſchen Ornamentſtichblatt, und ganz aus 
dieſer lapidaren Welt iſt's, wie Griſelda verſonnen die blinkende Senſe, gleichermaßen das Zeichen 
des Todes und der korngeſchwellten Fruchtbarkeit, ergreift und raunend alte, ewige Sprüche 
vom Saen und Ernten ſpricht. Ewigkeits- und Vergänglichkeitsklang ſchwebt tief und rein: 

Zwiſchen Saat und Maht 

Liegt ber ſteinichte Lebenspfab, 
Eiſerner Pflug, eiſerner Arm, 
Eiſerne Sonne, daß Gott erbarm. 
Eiſerner Fuß, eiſernes Muß, 
Harter Mangel im Überfluß, 
Harter Mangel, kahle Not 

Unb ein ſchweißgeſäuertes Brot. 

Das könnte als Reimweis unter dem faltenreichen Bildnis einer „ſeligen Schnitterin“ 
ſtehen, vom Nürnberger Meiſter in Hols geſchnitten. 

Ourch Ton, Linie und Weiſe gewinnt es uns, auch wenn uns der unvermittelte Stil- 
wechſel dieſe Perſonen fremd macht. 

Gar nicht aber finden wir mehr zu ihnen, wenn alsdann mit dem fünften Bild das 
eigentliche Drama beginnt. 

Aus den Vorausſetzungen hätten ſich für Hauptmann zwei Möglichkeiten ergeben, 
um Konfliktsbewegung zu bringen. 

Einmal hatte er das Motiv des Standesunterſchiedes ausbauen können, oder pindho- 
logiſch ausgiebiger wäre vielleicht der Widerſtreit der beiden ſich ſo weſensähnlichen Hartköpfe 
geweſen, Petruchio- und Käthchen-Variationen etwa. 

Beides würden logiſche Ergebniſſe der Situationen und der Charaktere fein, die uns 
im Anfang ſo leibhaftig exponiert wurden. 

Hauptmann aber vergißt das alles ſcheinbar und fängt mit neuen Perſonen ein neues 
Stück an. 

Der Graf Ulrich, der nun auftritt, hat nichts mehr von jener ſtrudelnden Tollköpfig⸗ 
keit. Er ijt ein verſtörter, gedankenkranker Grübler, aus Hebbelfchen Dämonenkreiſen entfprun- 
gen. Es frißt an ſeiner Seele böſes Weſen, monomaniſche Süchte quälen ihn, ſchwarzgallige 
Eiferſucht hat ihn bis ins Mark vergiftet. Und nicht die gewöhnliche Eiferſucht, die ein beſtimm⸗ 
tes Ziel im Auge hat und einen Widerſacher beargwöhnt. Nein, es iſt blinde, verſtockte Ge- 
mütszerrüttung, in der ein belaſteter Menſch von hölliſchen Furien fo zerſtört wird, daß er in 
ſeinem Wahn alles haßt und verfolgt, was die geliebte Frau überhaupt nur angeht. Der kranke 
Zweifel am Ganzbeſitz, an dem Herodes leidet, der hat hier den Grafen Ulrich angefallen, 
und ſeine Eiferſucht gilt vor allem dem Kind, das Griſelda ihm trägt. Schon im Mutterleib 
perwünfcht er es, und tobend ſtüͤrzt er davon, wenn dieſes Kindes nur Erwähnung getan wird. 

Griſelda ſelbſt gleicht auch in nichts mehr der harten Trutzmagd von damals, ſie iſt ganz 
minniglich, weich, demutsvoll ergeben, dem Urbild verwandt. Dieſe Metamorphoſe zur lieben- 
den, hingebenden Mutterfrau iſt dem Dichter wohl auf Treu und Glauben hinzunehmen, fie 
kann naturhaft ſein. 

Bei der Verkehrung des Mannes aber ſtellen wir ihm doch die peinliche Frage: „Weißt 
du, wie das ward?“ 

Es genügt mir nicht, daß einfach konſtatierend mitgeteilt wird, jetzt fei ein folder Um- 
ſchlag eben eingetreten; es geht nicht an, daß eine Perſon hinter der Szene ihr Weſen wie ein 
Roftüm wechſelt und in ganz anderer Haut fih präſentiert. Intereſſant und zur Teilnahme 
zwingend ift nur das Miterleben ſeeliſcher Entwicklungen; transparent ſoll uns der ſchöpferiſche 


126 Auf ber Warte 


Künſtler die Prozeſſe des Inneren machen, aus denen dann ſolche Wandelungen als Refultate 
ſich ergeben. 

Anterläßt er das und begnügt er fih mit der bequemen Mitteilung, daß eine Perſon 
fogujagen in andere Amſtände gekommen ift als vorher, fo darf er ſich nicht wundern, wenn 
wir dies, ohne uns ſtark überzeugt und beteiligt zu fühlen, nur kühl uns anhören. 

Man braucht dabei nicht einmal daran zu zweifeln, daß Graf Ulrich von dieſem Cifer- 
wahn geſchlagen ift. Es kann möglich fein. Aber Möglichkeit allein ift ein ſchwacher Hebel für 
dramatiſches Intereſſe, nicht Möglichkeit will man fühlen, ſondern zwingende Notwendigkeit. 
Nur dann ſind wir angeſpannt und folgen atemlos, nur dann ſind wir mitverkettet im ehernen 
Schickſalsring. 

Möglichkeit läßt ja auch noch andere Möglichkeiten zu, und da kann man ſich einige 
denken, die viel größere Wahrſcheinlichkeit haben als die, die Hauptmann wählte. Stellt man 
fich das ſtrotzende erdhafte Adam- und- Eva-Paar des Anfangs vor, fo liegt der Gedanke viel 
näher, daß dieſer Mann von ſeiner Männin gerade ein Kind haben will, Bein von ſeinem Bein, 
Fleiſch von ihrem Fleiſch. Zum Elementariſchen und zum Geneſishaften, das in dem Zwiſchen⸗ 
ſpiel deutungsvoll klang, paßt Fruchtbarkeit, gute Hoffnung, Mutterleib und Vaterfreude ja 
durchaus. Und dazu kommt auch noch das dynaſtiſche Motiv der Erblichkeit, das vorher an- 
geſchlagen wurde. Der Markgraf muß einen Sohn haben, um feine Herrſchaft eigenem Blut 
vererben zu können. Man erwartete alſo eher von ihm den „Schrei nach dem Kinde“ zu 
hören als den Srrjinnsfluh auf das Ungeborene. 

Man kann vielleicht annehmen, daß Hauptmann an eine Erklärung für die Verfaſſung 
ſeines Ulrich gedacht hat. Er könnte dies Kind haſſen, weil es ihm den Beſitz der Frau entzieht 
und ihm den Genuß raubt. Aus ſinnlicher Vollblütigkeit käme dann die Verſtörung. 

Aber auch das paßt wenig zu dem wilden Waldfaun, wie wir den Grafen kennen gelernt 
haben. Der würde, unbeſchadet der Liebe zu feinem Eheweib, feine Luft ſchon irgendwo und 
irgendwie büßen; darben und Toten wäre feine Sache nicht. 

Hauptmann hat offenbar nicht das rechte Einheits und Zuſammenhangsgefüuͤhl mit feinen 
Menſchen, ihm iſt hier ſchöpferiſches Herzenskennen und Nierenprüfen leider nicht eigen. Er 
erfindet ihnen auf dem Reflexionswege ein fremdes Schickſal, imputiert es ihnen und gewinnt 
jo künſtlich die Vorgangsbewegung für die dramatiſchen Szenen. 

Rechneriſche Überlegung beſorgt das Auseinanderbringen und dann wieder die ſchließ 
liche Vereinigung des Paares. 

And die Rechnung und die Überlegung find dabei nicht einmal feinſpinnig, ſondern 
eigentlich recht primitiv, und was ſich begibt, wird einfach als Tatſachenmaterial mitgeteilt. 

Als Griſelda ihr Kind, einen Sohn, zur Welt gebracht, nimmt es der Graf ihr fort, und als 
fie nach dem Kinde fragt, verläßt er fie in wilder Wut und hauſt von da an in feiner Zagdhütte. 

Griſelda fühlt ſich verſchmäht und verſtoßen, ſie legt ihre Magdkleider wieder an und 
kehrt zu ihren Eltern zurück und ſchwört, nur als Dienerin würde fie das Schloß wieder be- 
treten. Im letzten Bild große Verwandlung und Läuterung: Ulrich läßt fein Kind heimholen, 
er ſelbſt zieht in fein Schloß ein, und er ruft leidenſchaftlich Griſelda zu ſich. Als Magd naht 
ſie, die Stufen der Treppe ſcheuert ſie, ſo trifft er ſie, und in den Armen liegen ſich beide 

Wie das ward, bleibt der Phantaſie der Zuſchauer überlaffen. Und da alle bewirkenden 
inneren Triebkräfte hinter den Kuliſſen ſpielen, empfindet man dies Schlußbild auch nicht 
als eine wahrhafte Löſung ſchwerer innerer Kriſen. Man ſieht es nur als einen Affektmoment 
an und möchte nicht dafür gutſagen, daß die Stürme nicht morgen von neuem anfangen. 

Im Momentanen erweiſt aber Hauptmann in dieſem letzten Bild viel ſchwingendes 
Gefühl. So ſchwach das Dramatiſch-Pſychologiſche ift, die lidenlofe Schmiedung ſeeliſcher 
Gliederungen, fo fein ift das Lyriſch- Pſychologiſche, die Erfüllung der einzelnen Gefühlsfitua- 
tion mit Duft und Klang. 


Auf beri Warte 127 


Es ift z. B. ein erleſenes Dorftellungsmotiv, daß, als Griſelda die Stufen ſcheuert, 
ihr Kind von weither angebracht wird, und daß ſie unerkannt als Magd ihr eigenes Fleiſch und 
Blut die Treppe hinauftragen muß. 

Und in der Vereinigungsſzene iſt die Situation zwiſchen zwei Menſchen tief erfaßt. 
„Räuber!“ ſo wollte Griſelda zu dem Vater ihres Kindes ſchreien, doch als er ſie in die Arme 
nimmt, da kann fie nur immer wieder fagen: „Küſſe mich.“ 

Und ein feines, deutevolles Wort, wenn auch vielleicht zu bewußt für Griſelda, ſteht 
am Ende: „Ou mußt mich weniger lieben, Geliebter.“ 

Doch iſolierte Schönheit iſt das, die Ornamente an einem Bau, der an ſich brüchig iſt. 
Und ſo können ſie nicht glücklich machen. Felix Poppenberg 


l * 


Die Neuinſzenierung des „Hamlet“ im Kgl. Schauſpielhaus 
zu Dresden 


rungen von „Was ihr wollt“, des „Kaufmanns von Venedig“ und des „Sommernachtstraumes“ 
auf der Reinhardtſchen Bühne zu Berlin geſehen hat, wird zugeben, daß diefe märchenhafte 
Fülle prächtiger Oetorationsmotive der Phantaſie keinerlei Spielraum mehr gewährt und 
von dem Inhalt der Dichtung eher ablenkt, als ihn vertieft. Und wenn auch für die genannten 
Stüde als farbenfrohe Einkleidung noch zuläſſig, fo muß ſolche reiche Dekoration für den Geiſt 
ernſterer Shakeſpeareſcher Dramen geradezu verhängnisvoll wirken. Der Dresdener Neu- 
inſzenierungsverſuch des „Hamlet“ nun nimmt demgegenüber keineswegs den Standpunkt 
nuͤchterner Einfachheitsfanatiker ein, die zur Bühne des 16. Jahrhunderts zurückkehren möchten, 
wohl aber iſt er ein Verſuch genialer Vereinfachung oder beſſer geſagt Stilifierung zu nennen, 
der das Drama in eine feierliche Sphäre des Zeitlos-Heroiſchen rückt. 

Profeſſor Fritz Schumacher, der fih bereits um moderne Architektur und Raumkunſt 
große Verdienſte erwarb, löſte das Techniſche wie das Künſtleriſche des Problems meiſterlich; 
er hat die Möglichkeit einer faft unverkürzten Hamletaufführung von einer feltenen Zeierlich- 
keit und Erhabenheit des Eindruckes geſchaffen, bei der fich die rein äſthetiſchen Werte des male- 
riſch dekorativen Ausſtattungswerkes wie die Skulptur gotiſcher Dome als dienende Glieder 
ſtreng dem hehren Bau des dramatiſchen Kunſtwerks unterordnen. 

Zunächſt ein kurzes Wort über das Techniſche, ſoweit es allgemein verſtändlich ſein kann: 
Um einen ſiebzehnmaligen Szenenwechſel ohne ſtörende Pauſen zu ermöglichen, find plaſtiſche 
Architekturteile gefunden worden, Terraſſen, Erhöhungen, Stufen, Mauern, Bogen und Gäu- 
len, die als Grunddekoration während des ganzen Stückes ſtehen bleiben können, indem ſie 
durch leichte Verſchiebung und Verkleidung ein neues Geſicht gewinnen. Ein Syſtem ſchwerer 
Samtvorhänge, von oben herabfallend und von der Seite heranrauſchend, ſchließt den jeweili⸗ 
gen Raum wirkungsvoll ab und bietet wiederum zahlreiche Verwandlungs möglichkeiten. So 
tann ein breiter Repräſentationsraum raſch zu einem intimeren Innenraum geſtaltet werden. 
Die läftigen Soffitten find ganz beſeitigt worden; ein geteilter Seitenvorhang von dunkler, 
ſatter Farbe verhüllt die beendete Szene für ein paar Minuten, den Zuſchauer in der kurz 
zuvor in ihm erweckten Stimmung belaſſend, die nun feierlich bis zur neuen Szene weiter- 
klingen kann. j 

Schon ift hierbei das äſthetiſche Moment erkennbar. In großen, erhabenen Linien 
heben ſich zunächſt die Außenfzenerien, Terraſſen, Bogen und Mauern, vom beſtirnten Nacht- 


— i 


128 Auf der Warte 


himmel ab. Ausblide von hehrer Unendlichkeit wurden gefchaffen, vom Schauer des Grauen- 
vollen, Unheilſchwangeren durchweht: Balladenſtimmung von machtvoller Eindringlichkeit, 
erhöht durch die maleriſch wechſelvollen Silhouetten der ſich gegen den Himmel abzeichnenden 
Rittergeſtalten, der düſteren, von ſeeliſchen Leiden umzitterten Geſtalt Hamlets und der phos- 
phoreszierenden Erſcheinung des Geiſtes. Dies nur ein Beiſpiel dafür, wie hier Stimmung 
zu Stimmung kommt und alles nur dazu da iſt, den Eindruck des geſprochenen Wortes zu 
vertiefen. 

Die gleiche Strenge der Stilijierung waltet bei der Innendekoration vor: nur das Not- 
wendige wurde gegeben, das dem Charakter der jeweiligen Szene Weſentliche — an ſich weit 
ſprechender als die gewohnte Anhäufung ſtilechten Dekors. Geſchickt angebrachte Erhöhungen, 
Galerien und Baluſtraden ermöglichen ſehr abwechſlungsvolle Poſen der Schauſpieler, die 
immer ganz ſelbſtverſtändlich erſcheinen. Auch die Koſtüme aus prachtvoll wirkenden Stoffen 
ſind von großzügiger Einfachheit. Grundtypus wohl das 14. Jahrhundert, doch alles wurde 
allgemeiner, zeitloſer gehalten. Auch hier der Balladenſtimmung des Ganzen angepaßte Sti- 
liſierung. Neben der Linie tritt die Farbe in eine herrſchende Rolle, und der uns Deutſchen 
oft gemachte Vorwurf, daß wir des künſtleriſchen Farbenſinnes ermangelten, wird durchaus 
hinfällig. Nur wenige Töne, grün, blau, violett, find vorhanden, aber in unendlichen Abftufun- 
gen, und fie kehren in den Koſtümen wieder, ſtreng und ernſt bei den Hauptträgern der Hand- 
lung — verſtärkt durch das tiefe Schwarz des Hamlet, dann freundlicher bei den leichter gehalte- 
nen Nebenfiguren (Roſenkrantz und Güldenſtern) und endlich weicher und zarter in den Ge- 
wändern der Frauen. Das Kleid Ophelias ift an fih ein farbiges Wunderwerk. Und doch will 
nichts Geltung für ſich allein beſitzen. Alles ſteht in Harmonie mit der ſzeniſchen Umgebung 
und bietet in feiner Geſamtheit nur die plaſtiſch- maleriſche Verdeutlichung des Geiſtes der 
Dichtung. 
| Das wurde nicht bloß geſchaffen mit der feinen Augenkultur eines vornehmen Rünft- 
lers, ſondern aus der tieferen Kultur eines für die Grundſtimmung des dichteriſchen Meijter- 
werkes wunderbar empfänglichen Rünftlergeiftes. Und darum wirken diefe Dekorationen nicht 
mehr bloß als Dekor; der Rahmen erſcheint nicht bloß als Rahmen. Es iſt hier im höchſten Sinne 
Stil, reinſter Einklang von Geiſt und Form gefunden worden. Der Vorwurf, moderne Dekora- 
tionen ſeien nur Zweck an ſich, kann dieſe Inſzenierung des Hamlet nicht treffen. Wer immer 
von dem Bühnenbild gefeſſelt wird, wird zugleich auch gefeſſelt werden vom Geiſt der Dichtung; 
gewaltig, ja von eindringlicher Wucht kommt das Schickſalsſchwere des „Hamlet“ in dieſem 
Rahmen zur Geltung, eben weil der Rahmen unmittelbar aus der Hamletſtimmung geboren 
wurde. Anna Brunnemann 


ZS 
Stuttgarter Senſationen 
K 


SC En den erſten Monaten des Jahrs hat es ein aus vier Bühnenkünſtlern zufammen- 
S AJ geſetztes Wanderquartett unternommen, die Segnungen von Otto Borngräbers 
oe rotiſchem Myſterium „Die erſten Menſchen“ in die deutſchen Provinzen zu tragen. 
Die Reife ging bis Stuttgart ohne weſentlichen Unfall vor fih. Hier traf das Stück ein Ber- 
bot der Stadtdireltion, die von der in der Dichtung ſtellenweiſe zutage tretenden „brutalen 
Sinnlichkeit“ Sitte und Ordnung gefährdet wähnte. Böſe Zungen behaupten, die Leitung des 
Reſidenztheaters, wo die Aufführungen ſtattfinden ſollten, habe das Verbot provoziert, um 
ihr bisher im Dunkeln blühendes Unternehmen in blendende elektriſche Beleuchtung zu ſetzen. 
Das iſt natürlich eitel Verleumdung. Zedenfalls aber hatte die Theaterdirektion von der Ent- 


Tos 
D 
| 


- gleifung jener Behörde den Vorteil. Die rechtlich anfechtbare und fachlich nicht gerechtfertigte 


Maßregelung hatte in einem Lande, wo die Hofbühne im denkbar freiſinnigſten Geiſte geleitet 


Auf der Warte 129 


werden darf, doppelt und dreifach unterbleiben müſſen. Die nächſthöhere Inftanz entſchied 
kluger und billigerweiſe gegen die Stadtdirektion und gab das Drama frei. Die Zwiſchenzeit 
benutzte die Preſſe zu einer Propaganda, die vollkommen berechtigt war, ſoweit ſie ſich gegen 
den Verſuch richtete, Württemberg mit einer bevormundenden Theaterzenſur zu beglücken. 
Leider ließen ſich aber übereifrige Federn dazu verführen, auf das beanſtandete Stück ſelbſt 
Lobeshymnen anzuſtimmen, die es ſeiner künſtleriſchen Bedeutung nach durchaus nicht ver- 
dient. Als die Vorſtellungen wirklich zuſtande kamen, entſtand eine förmliche Wallfahrt nach 
dem Refldengtheater, bis endlich die Wirkung der Hypnofe nachließ und die Hereingefallenen 
ſich entſetzlich gelangweilt zu haben geſtanden. 

Noch war dieſe Senſation nicht verrauſcht, als ein neuer Taumel die Gemüter der ſonſt 
fo friedlich-ſtillen Reſidenz am jetzt nur noch unterirdiſch fließenden Neſenbach ergriff. Gabriele 
Reuter las im Verein „Freie Bühne“ vor, und die Zeitungen wußten namentlich zu berichten, 
daß die „Matrone im Silberhaar“ einen ungemein ſympathiſchen Eindruck gemacht habe. 
Tags darauf wollte die Dichterin im Verein „Mutterſchutz“ etliche Kapitel aus ihrem neue- 
ſten Roman „Das Tränenhaus“ vortragen. Die Sitzung ſollte im Saal des Rönigin-Olga- 
Baus ſtattfinden; indeſſen wurde noch in letzter Stunde von der hohen Hausherrin, der die 
Beſtrebungen des Vereins nicht zuſagen, die Erlaubnis widerrufen, ſo daß in der Eile ein andres 
Lokal aufgeſucht werden mußte. Das machte natürlich böſes Blut. Und die unlogiſche Folge 
war wiederum die, daß die Dichterin, gegen die fih die Maßregelung in erſter Linie richtete, 
auf ein unverdientes Piedeſtal erhoben wurde. Ehrbare Frauen, die ein tiefes Grauen emp- 
fänden, wenn ihnen ein Schritt vom Wege ihrer korrekt bürgerlichen Exiſtenz zugemutet würde, 
warfen ſich für eine Bewegung ins Zeug, die in ihren äußerſten Konſequenzen den Mann 
auf die Rolle eines notwendigen Übels zur Befriedigung des Mutterſchaftsbedürfniſſes ver- 
weiſt. Und „Das Tränenhaus“, für das ſich ja leider auch vernünftige Kritiker begeiftert haben, 
wurde nun plötzlich in allen Tonarten als ein großartiges Kunſtwerk geprieſen, dem die An- 
nahme, daß es autobiographiſchen Wert beſitze, noch ein beſondres Relief verlieh. In Wahr- 
heit hat ſich Gabriele Reuter in dieſem naturaliſtiſchen Roman an einen Stoff gewagt, dem 
fie nicht gewachſen ift, und deffen Brutalitäten eben infolge des kuͤnſtleriſchen Abmangels um 
ſo abſtoßender wirken. 

In beiden Fällen hat fic wieder einmal die leidige Erſcheinung geoffenbart, daß ſchon 
das geringſte Märtyrertum alle Begriffe zu verwirren und Maßſtäbe zu verrücken vermag. 
Eine um ſo ernſtere Warnung liegt darin, literariſche Märtyrer zu ſchaffen. Die beabſichtigte 
Reklame iſt eine fo große Macht in unſerem Kulturleben, daß es daneben nicht noch der unbeab- 
ſichtigten bedarf. Unſre öffentliche Meinung ſteht auf allen Gebieten im Zeichen der Nervoſität. 
Das Senfationsbedürfnis des Publikums wächſt noch täglich, und unter denen, welche die öffent- 
liche Meinung machen, gibt es allzu viele, die dieſen ungeſunden Hunger zu befriedigen be- 
ſtrebt ſind. Den Schaden davon hat die gute Literatur, die allem Schwindel abhold iſt, ſich aber 
durch ihren inneren Wert allein immer weniger durchzuſetzen vermag. Und ſchließlich muß 
das deutſche Volk ſelbſt die Zeche bezahlen, wenn es ſich fortgeſetzt Steine für Brot vorſetzen läßt. 

R. 


Ka 


Bühnenſklaven 


wl 
G NN Un den ,Dotumenten des Fortſchritts“ (Georg Reimer, Berlin) gibt der Schau- 
2) ſpieler F. Rolau eine beredte Schilderung der Zuſtände im Theaterweſen. Welche 
Vas x Summe von Elend hinter dem fo oft zu toller Laune, zum Lachen und Lächeln ge- 
zwungenen Künſtler! Man höre und frage ſich dann, ob der Schauſpieler bis heute — von den 
bekannten wenigen Ausnahmen abgeſehen — mehr war als der Sklave feines Brotherrn, des 
Der Simer XI, 7 9 


e 


130 Auf der Warte 


Direktors: „Die meiſten Paragraphen des Kontrakts lauten überhaupt: Das Mitglied iſt ver- 
pflichtet ..., die Direktion ift berechtigt ..., das Mitglied verzichtet ..., die Direktion behält 
ſich das Recht vor... Nur in ganz wenigen Fällen darf das Mitglied. Den Satz: Der 
Direktor ift verpflichtet ... habe ich, trotzdem ich viele Kontrakte vieler Direktoren geleſen 
habe, noch nirgends gefunden. Nur in einem Punkte ſteht dem Mitgliede ein unbeftreit- 
bares Recht zu, nämlich dann, wenn es dem Heren Direktor pränumerando einen Monat 
Arbeit geleiſtet hat und der Herr Direktor poſtnumerando die Bezahlung verweigert. Dann 
darf der Schauſpieler weitere Pränumerandoarbeit verweigern. 

Wenn auch bisher die deutſchen Schauſpieler aus Mangel an Einheit und zielbewußter 
Führung ſich die unglaublichen, dem ſozialen Empfinden hohnſprechenden Bertragsbeftimmun- 
gen gefallen ließen, ſo darf man doch nicht glauben, daß ſie deshalb damit zufrieden geweſen 
wären. Kraft des vorhandenen Kapitals diktierten die Direktoren die Vertragsbedingungen, 
aus denen klar und deutlich hervorgeht, daß niemand es wagen darf, an ihrer Ehrenhaftigkeit 
zu zweifeln, während ſie von dem Schauſpieler das Gegenteil anzunehmen geneigt ſind. Wird 
z. B. ein Schauſpieler krank und meldet dies ſeiner Direktion, ſo behält ſich dieſe das Recht vor, 
die Krankheit fo lange für Schwindel zu halten, bis ihr angeſtellter Vertrauensarzt das Gegen- 
teil bekundet. Zeugniſſe von Hausärzten haben der Direktion gegenüber keine Gültigkeit. Gr: 
klärt der Theaterarzt, er könne die Krankheit nicht konſtatieren, ſo muß das Witglied ſpielen. 
Die Wut über ſolche beſchämenden Beſtimmungen kommt am beſten zum Ausdruck durch die 
in Theaterkreiſen turfierenden Garderobenwitze. Zum Beiſpiel: Wenn ein Schauſpieler wäh- 
rend der Vorſtellung auf offener Szene ſtirbt, fo macht er fih dadurch eines groben Vertrags- 
bruches ſchuldig, und ſeine Erben ſind verpflichtet, der Direktion den erwachſenen Schaden in 
Höhe der Einnahme eines ausverkauften Hauſes zu erſetzen. Außerdem verfällt der Direktion 
die vereinbarte Konventionalſtrafe. Dagegen verbleibt die Leiche im Beſitz der Direktion, fo- 
lange es angängig iſt, und bat nach wie vor ihre ganze Kraft zur Verfügung zu ſtellen für ſtumme 
Rollen, Komparſerie und Statiſterie. Die Desinfektionskoſten find von den Erben zu tragen. 
Das Geſchichtchen iſt noch nicht einmal zu Ende, die innere Empörung, die nur den Witz, von 
Mund zu Mund erzählt, als Ventil hat, zeitigt derbere Außerungen, die ſich nicht wiedergeben 
laſſen. 

Weiter! Die Direktion behält ſich einſeitiges Kündigungsrecht vor: nach vierzehn Tagen 
im Probemonat, zum Ablauf der erſten Spielzeit bei zweijährigen Kontrakten, zum Ablauf 
der erſten und dritten Spielzeit bei fünfjährigen Verträgen, während der Schauſpieler unbedingt 
gebunden iſt, ob ihm das Engagement gefällt oder nicht. In Krankheitsfällen entfällt ſofort das 
Spielhonorar, meiſt die Hälfte der Gage betragend; nach kurzer Zeit, oft nach einer Woche, 
ijt der Direktor berechtigt, den Vertrag für gelöſt zu erklären. Wird aber ein Mitglied gar ton- 
traktbrüchig, fo ift eine einzige Strafe gar nicht mehr ausreichend, das Vergehen zu fühnen. 
Erſtens verfällt die vereinbarte Ronventionalftrafe, meiſt in Höhe einer Fahresgage. Hat das 
Mitglied dieſe aber bezahlt, ſo iſt es nicht etwa frei, ſondern muß weiter ſeinen Verpflichtungen 
gegen die Direktion nachkommen, und tut es das nicht, ſo treten die Beſtimmungen in Kraft, 
nach denen es an keiner dem Bühnenverein angehörenden Bühne mehr auftreten darf fiir die 
Dauer von drei bis fünf Jahren. Tritt der Kontraktbrüchige an einer Nichtvereinsbühne auf, 
jo gelten diefe Beſtimmungen gar bis zu fünf Jahren nach Ablauf des gebrochenen Vertrages. 
Man ſieht, daß das Geſchichtchen von den Verpflichtungen des toten Schauspielers auf ganz 
realem Boden gewachſen iſt. 

So ſtand es zu leſen in dem neuen Vertrage, den der Bühnenverein einſtimmig an- 
genommen hatte, und den die deutſchen Schaufpieler in der Delegiertenverfammlung vom 
Dezember 1908 ebenſo einſtimmig abgelehnt haben. Zum erſten Male waren die Oelegierten 
einig, daß es unwürdig ſei, einen ſolchen Vertrag zu ſanktionieren. 

Es ſoll in Zukunft von zwei Gleichberechtigten ein Vertrag geſchloſſen werden. Der 


Auf der Warte 131 


eine zahlt und der andere leiſtet, und der Vertrag ſoll beiden Teilen gleicherweiſe Rechte und 
Pflichten auferlegen. 

Daß der Bühnenverein den Verſuch macht, bie ſehr lebenskräftige Bühnengenoſſenſchaft 
totzuſchweigen, ift fein Privatvergnigen. Sie lebt und wirkt weiter. Daß der Bühnenverein 
aber den unwürdigen Verſuch gemacht hat, die Penſionsanſtalt der Schauſpieler zu zerſtören, 
daß er durch Schädigung der Invaliden, der Greiſe und Witwen die Schauſpieler niederzwingen 
will, hat ihn um den letzten Reſt der Sympathie gebracht, und der Schauſpieler darf ſtolz ſagen, 
daß die geſamte Öffentlichkeit auf feiner Seite ſteht.“ 


* 


Kinematographie und Bildung 
Ca DE k ur Blindheit kann verkennen, welch ungeheure Macht der Kinematograph als Unter- 


9 baltungsmittel geworden ift. Man mag über einzelnes nicht hinwegkommen, wie 
PR 2 B. daß dieſer Abklatſch der Wirklichkeit alle Phantafie zerſtöre, — man kann fich 
der Einſicht nicht verſchließen, daß der Kinematograph nicht zu verdrängen iſt. Ein ſolches 
Rinotheater ift ein zu leichtes und ſelbſt an kleinern Orten noch reich lohnendes Geſchäft; fo 


wird es an Unternehmern nie fehlen, die dann in der Ausnutzung aller Senſationen, in der 


Spekulation auf die niedern Inſtinkte mächtige Waffen haben. So wird ſich alſo der vernünf⸗ 
tige Volksmann die Veredelung der Kinematographie zum Ziele ſetzen und 
verſuchen, diefe großartige Maſchine in den Dienſt des Guten und Schönen zu ſtellen. In der 
„Frankf. Ztg.“ berichtet der Direktor eines Zwickauer Kinotheaters über ſeine Bemühungen 
auf dieſem Gebiete. Betrachtet man ſich zunächſt den augenblicklichen allgemeinen Zuſtand, 
fo „zieht am meiſten natürlich das ſogenannte ſenſationelle Genre. Sherlock Holmes und Nick 
Carter ſind hier die Heroen. Von erſterem ſind drei Serien erſchienen, von letzterem, glaube 
ich, fünf. Noch ſchlimmer find die Indianergeſchichten „Buffalo Bill“, ,Riffle Bill“ u. dgl., 
mit denen die einzelnen Firmen einander übertrumpfen wollen. — Einen wahrhaft betlagens- 
werten Niedergang hat das humoriſtiſche Genre zu verzeichnen. Ich nenne nur einige 
Titel wie „Nervöſes Zucken der Zunge“, „Lehmann hat Pferdefieiſch gegeſſen“, „Karos Rache“. 
Auf erſterem ein Mann, der einige hundert Male feine Zunge aller Welt ins Geſicht heraus- 
ſtreckt. Auf dem zweiten wird Lehmann zum Schluß ein Schaukelpferd aus dem Bauche ge- 
ſchnitten. Auf dem dritten eine Verfolgungsſzene (ſehr beliebt, weil leicht zu arrangieren). 
Außer ſolchen noch einige flotte Pariſer Ehebruchsſzenen (Der betrogene Othello“ u. dgl.). —- 
Bei den ſogenannten Dramen iſt leider das ſentimentale Moment ſehr ſtark vertreten, und ein- 
zig und allein die ſogenannten aktuellen Films haben erfreulicherweiſe in der Mehrzahl 
echten, wahren Bildungswert. Da treffen wir herrliche Landſchaftsbilder wie „Im Lande der 
Mitternachtsſonne“, „Madras“, „Agyptiſche Reiſebilder“, ‚Die Lüneburger Heide“, „Nordſee⸗ 
ſtrand“ uſw., ferner febr belehrende Völkerkundefilms: „Arabiſche Töpferei“, ‚Unter den Lappen‘, 
Krokodiljagden am Blauen Nil“ uſw. — Das wäre ungefähr eine kurze Ourchſicht des heutigen 
Filmbeſtandes auf feinen Runft- und Bildungswert hin. 

Das Programm eines heutigen ,erfttlaffigen’ Theaters hat eine Länge von etwa 1000 
bis 1100 Meter und ungefähr folgende Zuſammenſetzung: 2 aktuelle Films, 2 Dramen, 1 Rine- 
phon Aufnahme (Sprachbild, 70 Meter), 1 koloriertes Bild und 2 humoriſtiſche. Wie man ſieht, 
ein rechtes Potpourri! Ein Konglomerat, das nie einen ſchönen, einheitlichen, harmoniſchen 
Runfteindrud hinterlaſſen kann. Es gibt auch tatſächlich Beſucher, die fic) die beiden Landſchafts⸗ 
bilder anſehen und dann — verſchwinden. Sie wollen ſich den Genuß nicht durch das übrige 
verkümmern laffen, ſehr erklärlicherweiſe. 


132 Auf der Warte 


Wie ließe ſich alſo wohl ein ſchöner, einheitlicher Geſamteindruck erzielen? Sicherlich 
nur, wenn man es verſteht, die ſchönen Künſte und Wiſſenſchaften heranzuziehen, d. h. die 
Kinematographie höheren Bildungszwecken unterzuordnen. Als Beiſpiele mögen die beiden 
Abende dienen, die am 11. und 18. Januar d. J. in den Zwickauer Kino-Salons ſtattfanden. 
Der erſte war Detlev v. Lilieneron gewidmet. Es wurde eine ſachliche hiſtoriſche und äſthetiſche 
Einführung in fein Schaffen gegeben, die mit Proben aus feinen Gedichten belegt ward. Be- 
ſonders wurde das nordiſche Moment in feinen Balladen und Heimatsliedern betont, und 
hierzwiſchen wurden drei prachtvolle nordiſche Landſchaftsfilms vorgeführt. Am zweiten Abend 
fprad ein Ingenieur über ‚Moderne Großinduſtrie'. Zwiſchen den Vortrag wurde die Bor- 
führung folgender grandioſer Films eingeſtreut: „Modernes Sägewerk“, ‚Eiſenwerke Creuzot“ 
und ‚Eiſengießereien Couillet. Man fab, wie die in Weißglut glühenden rieſigen Eiſenblöcke 
von ungeheuren Rränen hin und her bewegt werden, und wohl jeder Hörer und Zuſchauer 
hat von dieſem Abend einen nachhaltigen Eindruck von der impoſanten Arbeitsleiſtung der 
heutigen Induſtrie davongetragen. — Wenn fidh die Kinematographie fo in den Dienft der 
Volksbildung und Jugendbelehrung ſtellt, wird fie ſicherlich ſchon in der allernächſten Zukunft 
als ein mächtiger Erziehungsfaktor gewürdigt werden, deffen Bedeutung von keinem 
Pädagogen mehr verkannt werden dürfte. Geht doch bei jedem neu aus den Tiefen menfd- 
lichen Geiſtes auftauchenden Gebiet der Weg von Unterhaltung zu Bildung.“ — 

Das iſt ein ſehr nachahmenswertes Beiſpiel, dem viele Nachfolge zu wünſchen wäre. 
Das Unterhaltungs- und humoriſtiſche Genre ließe ſich leicht heben, wenn man nach franzöſi- 
fhem Vorbilde Preisausſchreiben für eine ſolche künſtleriſche Kilometerdichterei erließe. Auch 
wäre es unſchwer, das frühere Schattentheater hier einmünden zu laffen. Es ift ja 
ſonſt doch nicht mehr recht lebensfähig. St. 


Zi 
Vom ſüdbayeriſchen Volfsbiloungsverband 


ls ift kein ſchöner Name, aber er gehört einem tüchtigen Verein, der aus der bloßen 
Theorie und dem blutleeren Aſthetengejammer über Unkultur zur praktiſchen Tat 


aber auch nicht ſchlechter. Ich für meine Perſon halte aus einer ziemlich reichen Erfahrung 
(freilich nur im ſüddeutſch-ſchweizeriſchen Gebiete) heraus das Landvolk für der Kunſt wenig- 
ſtens ebenſo zugänglich wie das Stadtvolk bis hoch in den Mittelſtand hinein. Man heuchle 
nur nicht fo febr mit Bildungs- und Kunſthunger. Daß man gern ins Theater oder ins Kon- 
zert geht — ja, wer täte das nicht! Auch die Kunſtausſtellungen beſucht man, — aber mit den 
Muſeen ſteht's ſchon ſchlimmer. Wie oft mußte ich es aber auch in gebildeten Kreiſen erleben, 
auf Nachfragen nach einem wertvollen künſtleriſchen Privatbeſitz in der gleichen Stadt kaum 
beſcheidene Auskunft erhalten zu können. Aus alledem iſt kein Vorwurf zu machen. Wir haben 
ja ſo vielerlei Abhaltung, ſind vielfach ſo verbraucht — auch Bequemlichkeit erſcheint mir noch 
nicht als Staatsverbrechen —, daß wir nicht dazu gelangen, Kunſt aufzuſuchen. Die Run ft 
muß zu uns kommenz oder es müſſen wenigſtens beſondere Gelegenheiten geſchaffen 
werden, die uns anſtacheln (z. B. Kunſtausſtellungen). Auch die Preſſe könnte da viel mehr 
tun, indem ſie häufiger auf wertvolle, leicht erreichbare Kunſtwerke aufmerkſam machte. 
Weit ſchwieriger als für die Städter liegen die Verhältniſſe für die Landbewohner. 
Hier fehlen die „Gelegenheiten“ gänzlich, und das einzige Angebot iſt in der Regel ſchlecht 
(Rolportage für Buchhandel und Oldruckbilder). Hier kann nur ein ſyſtematiſches Anbieteſyſtem 
guter Kunſt helfen, wie es ſich jetzt der obengenannte Verein, deſſen Vorſitzender der bekannte 
Stadtſchulrat Kerſchenſteiner ift, angelegen fein läßt. Zunächſt auf dem Gebiete der b ild en- 


———— 


Auf ber Warte | 133 


den Kunſt, wo er Wanderkunſtausſtellungen veranftaltet, die mit kluger Rückſichtnahme auf 
die ländlichen Verhältniſſe zuſammengeſtellt find. 

„Wanderkunſtausſtellungen als ſolche“, leſen wir in einem Aufſatz der „Münch. Neueſt. 
Nachr.“, „ſind ja nichts Neues. Man hat ſchon früher, auch in der Provinz, mit ihnen Verſuche 
gemacht, aber der Erfolg ift doch ziemlich zweifelhaft geblieben und zum mindeſten nicht fidt- 
bar geworden. Das Neue, was der genannte Verband bringt, liegt vor allem darin, daß ſich 
an die Ausſtellung auch ein Verkauf anſchließt. Es iſt klar, daß damit allein eine Probe auf den 
Erfolg gemacht werden kann, ja daß nur ſo ein bleibender Erfolg erzielt wird. Wenn nämlich 
dem kleinen Mann nicht zugleich mit der Ausſtellung die Gelegenheit geboten wird, das Bild, 
das ihm gefällt, zu erwerben, fo hat das ganze Unternehmen nur einen bedingten, ja illufori- 
ſchen Wert. Die bunte, fremde Welt der Kunſt geht vorüber, verblaßt bald wie ein Traumbild 
und wird vergeſſen. Die erwachten Geiſter wiſſen nicht, wo fie das neu entſtandene Bedürf- 
nis befriedigen können. Es erliſcht wieder aus Mangel an Nahrung. 

Dieſem Umſtande, der zugleich einen bedeutſamen wirtſchaftlichen Wink gibt, paßt ſich 
die Organifation des bayeriſchen Volksbildungsunternehmens an. Zuerſt einige Worte über 
die Ausſtellung ſelbſt. Sie ſetzt ſich aus ungefähr zweihundert Bildern zuſammen, die ſämtlich 
gerahmt und zu entſprechend mäßigem Preiſe verkäuflich ſind. Die Hälfte etwa beſteht aus 
Schwarzdruckbildern, die übrigen Blätter ſind farbig. Raffael und Rembrandt ſind in dieſer 
Sammlung ſo gut vertreten wie Dürer, Holbein, Tizian und Leonardo. Von Neueren finden 
wir Lenbach, Spitzweg, Schwind und Thoma, ferner Uhde, Ernſt Liebermann, Reller-Reut- 
lingen, Paul Hey, Angelo Jank, Hoeß, Zumbuſch, Georgi und viele andere. Die Ausſtellung 
dauert immer eine Woche mit zwei Sonntagen, da an dieſen der Beſuch erfahrungsgemäß am 
ſtärkſten ift. Ein Eintrittsgeld wird natürlich nicht erhoben. Bedeutende Schwierig- 
keiten verurſacht nicht ſelten die Lokalfrage, da nicht immer ein Turnſaal oder ein größerer 
Rathausſaal zur Verfügung ſteht. In der Regel beaufſichtigt ein freiwilliger Ausſchuß die Aus- 
ſtellung, und einzelne für die Sache intereſſierte Perſonen übernehmen Führungen durch ſie. 

Die Refultate, die mit dieſen Ausſtellungen bisher erzielt wurden, find überraſchend 
und in mancher Hinſicht, beſonders auch pſychologiſch, febr intereſſant. Die Zahl der Beſucher 
betrug z. B. in Mehring 1500, Landsberg 2000, Weilheim 1200, Murnau 1000, Erding 1400, 
Salzburghofen 1800, Türkheim 1900; Kempten mit ſeiner höheren Einwohnerzahl wies einen 
weſentlich ſtärkeren Beſuch auf. Und das find ſonſt Ortſchaften mit zwei- bis höchſtens feds- 
tauſend Einwohnern. Nicht minder rege als der Beſuch geſtaltete fih der Verkauf; es wur- 
den auf acht Ausſtellungen faſt zweit auſend Bilder erworben. Buntdrucke wurden be- 
vorzugt. An manchen Orten fanden die religiöſen Bilder größeren Abſatz. So wurde in Salz- 
burghofen allein die Madonna des Fra Filippo Lippi zwanzigmal gekauft. Aber der Geſchmack 
ift verſchieden. In Mehring war es Keller-Reutlingen, der mit feinen drei verſchiedenen Blät⸗ 
tern fünfundvierzigmal verlangt wurde. Großer Teilnahme begegnen auch Darftellungen 
geſchichtlicher Szenen und Perſönlichkeiten, wie der Krieg 1870/71, Napoleon und der alte 
Fritz. Von den Landſchaftern ſcheint es beſonders Georgi zu fein, der mit feinem feinen Ber- 
ſtändnis für das bayeriſche Landleben den Leuten näher kommt. Hier wird auch die Kritik wach, 
die fidh zuweilen in anerkennender Bewunderung ausſpricht: ‚Dös is amal a ſchöner Stier!“ 
aber auch mit dem Tadel nicht zurüdhält, wenn der Maler mit Perſpektive oder Lebenswahr- 
heit in Konflikt gekommen iſt. Da fährt z. B. auf einem Bilde ein Poſtkutſcher, das Horn an 
den Lippen, luſtig blaſend einen Abhang hinunter. Wie viele Städter würden daran nichts 
auszuſetzen finden! Der Landmann aber ſagt ſich ſofort, daß das nicht geht. Wenn der Mann 
einen Abhang hinunterfährt, hat er mit beiden Händen fo viel zu tun, um die Pferde zu zügeln, 
daß er nicht noch imſtande ift, das Poſthorn an die Lippen zu halten. Dieſer oft in der Aus- 
ſtellung gehörte Tadel zeigt, wie eingehend ſich der kleine Mann mit dem Stoff der Bilder 


befaßt. 


134 Auf der Warte 


Zuweilen werden Schulklaſſen in die Ausſtellung geführt. Die Kinder werden veranlaßt, 
ihr Lieblingsbild auszuwählen. Darüber wird dann der nächſte Aufſatz geſchrieben, in dem be- 
gründet werden muß, warum gerade das erwählte Bild dem Kinde ſo gut gefallen hat. Die 
Gründe find verſchieden, aber für die Kindesſeele oft ſehr bezeichnend. Dem einen hat der 
Himmel auf dem Bilde fo ſchön ausgeſehen, ein anderes hat das Fefustind fo hũbſch gefunden. 
Daß ein Kind ſich für ein Bild intereſſiert, weil es darauf die ihm bekannte und befreundete 
Umwelt, etwa Dorf und Gehöft und Acker, wiedererkennt, kommt ſeltener vor. Das Kind will 
immer etwas Außergewöhnliches ſehen, ſtofflich oder maleriſch, fet dies nun religiödſer Art 
oder der Märchenwelt, dem Fabelreich entnommen.“ 

Man erſieht aus allem die große Bedeutung des Stofflichen und wird darauf dauernd 
Rüͤckſicht nehmen müfjen für Angebot und Fernhalten. Ob's die Aſtheten und manche Kraft- 
huber auch verdrießt, gehört zum letzteren vor allem auch die Nudität, die von dieſen Bevöͤlke⸗ 
rungsklaſſen niemals naiv und niemals rein künſtleriſch angeſehen wird. 

Wichtig für das dauernde Gelingen iſt dann auch die Berückſichtigung ſozialer Ge- 
ſichtspunkte. Erſtens dürfen die ortsanſäſſigen Handwerker (alſo vor allem die Glaſer oder 
Rahmenſchreiner) nicht um ihren Verdienſt kommen; zweitens muß die Gegnerſchaft des alt- 
eingeführten Kolporteurs, für den ſeine Eriſtenz auf dem Spiele ſteht, ſo überwunden werden, 
daß er aus dem natürlichen Gegner ein Anhänger wird. Nicht durch Wecken feines kunſtäſtheti⸗ 
ſchen Gewiſſens (daß es unmoraliſch fei, ſchlechte Kunſt zu verbreiten, uſw.), ſondern durch Be- 
willigung eines guten Verdienſtes. Wenn ſie an guten Kunſtblättern ebenſoviel verdienen wie 
an ſchlechten, werden die Zwiſchenhändler, ohne deren Mitwirken alle Verbreitungs⸗ 
arbeit nur vorübergehend iſt, die beſten Förderer der Kunſterziehung auf dem Lande ſein. 


St. 
* 
Ein Volkskinderheim 


er eifrige Leiter der Heidelberger Volksbücherei, Georg Zink, hat das Modell einer 
1 Anſtalt hergeſtellt, in der Kindern im Alter von ſechs bis vierzehn Jahren, deren 
Eltern aus beruflichen oder andern Gründen nicht in der Lage find, ihnen die nötige 
Aufſicht zukommen zu laſſen, ein Heim geſchaffen wird, in dem ſie ſpielen und lernen können. 
Dieſe VWohlfahrtsanlage läßt fih als Anbau an Volksbibliotheken oder Leſehallen oder auch 
an Volksſchulen ohne große Roften ermöglichen. Im „Heidelberger Tagebl.“ gibt der Urheber 
felber folgende kurze Schilderung feines Planes: 

„Die lange Vorderſeite des Gebäudes hat ein großes Fenſter, entlang deſſen der mit 
Leſepulten, Schreib- und Werkzeug ausgeſtattete Leſe - und Arbeitstiſch nebſt zugehöriger Bank 
ſteht. An der Rüd- ſowie an der rechten Seitenwand find Büchertifche mit darüber befindlichen 
Geſimſen zum Aufſtellen von Bildern und Tafeln angebracht. Den Anfang machen von Künſt⸗ 
lern gezeichnete Bilderbücher; Märchenbilder und bücher, die Mainzer ſowie Münchener 
Zugendichriften folgen. Dann kommen, beiſpielsweiſe im Anſchluß an Rotkäppchen“ oder 
„Schneewittchen“, Abbildungen und Schilderungen des Waldes, der bekannteren Tiere, Ge- 
ſteine uſw., wobei Sammlungen von Geſteinen, Hölzern, ausgeſtopften Tieren und ähnliches 
auf Sondergeſtellen Ausgeſtelltes ergänzen. Die nächſte Abteilung umfaßt die Sagen in Bild 
und Schrift, um auf die Geſchichte und Heimatkunde überzuleiten. Landkarten, eine Erdkugel, 
Terrarium, Aquarium, Pflanzenſammlungen, endlich Marken-, Münzen- und Wappenzufammen- 
ſtellungen helfen hier als Anſchauungsmittel. Ein mit Hilfe des Schreiberſchen Verlages in 
Eßlingen ausgearbeitetes Puppentheater mit Phonograph bildet den Übergang zur Kunſt 
und Kultur, über welche Gebiete die entſprechenden Buchwerke zur Belehrung ausliegen. 


Auf ber Warte 135 


Vor der Miniaturbühne ift für Sitzgelegenheit geforgt, was beſonders erwähnt wird, weil fonft 
nur auf den gutbelichteten Arbeitstiſch bzw. deſſen Bank verwieſen ſein ſoll. Abhandlungen 
und Zeichnungen aus dem Reiche der Technik ſind mit Handfertigkeitsarbeiten vereinigt, wozu 
Hyans Kronenzimmerkäſten fo ſchön anſpornen. Dieſe bieten zugeſchnittenes Holz nebſt Wert- 
zeug und verlangen den Aufbau ganzer Bauernhöfe, Burgen uſw. nach Zeichnung. Auch 
Teubners Künſtlermodellierbogen find nicht überſehen. Desgleichen Strick-, Stick- und Näh- 
arbeiten für die Mädchen. Allgemeine Bildungsſchriften und illuſtrierte Bibeln fehlen nicht. 
Von Spielen find namentlich die belehrenden, wis Dichterquartette uſw., vorhanden; zeit- 
gemäße Unterhaltungsarbeiten, wie Luftſchiff- und Autorennen, find auch nicht verbannt. 
Die übrigbleibende linke Seitenwand trägt über dem Aufſichtspodium eine große Tafel, was 
in Gemeinſchaft mit der nebenanſtehenden Rechenmaſchine ſchon andeutet, daß dieſes Pläß- 
chen für die Durchſprechung der Schulaufgaben vorbehalten ijt. Die freie obere Rückwand⸗ 
fläche iſt mit bibliſchen und lehrreichen Sprüchen behängt, während die Profeſſor Moeſtſche 
Büfte der Großherzogin von Baden und eine als Kalender wie Zeitmeſſer dienende Wanduhr 
in entſprechender Höhe die beiden Seitenwände ausſchmücken. Neben der in die rechte Geiten- 
wand eingelaffenen Türe hält ein Staffelbrett in Mappen mehrere Jugendzeitſchriften bereit. 
Gegenüber, als Abſchluß des Leſetiſches, ſteht die Figur des Kinderſchutzengels. Das befchrie- 
bene Modell ift aus Holz, Glas und Pappe gearbeitet, 50 cm lang, 25 om hoch, 32 om tief und 
hat nach vorn neigendes rotes Ziegeldach. Das große Frontfenſter, die bewegliche Türe und 
das abnehmbare Dach ermöglichen den Einblick. Eine künſtliche Beleuchtung ift nicht vorge- 
ſehen, weil es täglich nur von 2—6 und 1—4 Uhr (im Winter) nachmittags geöffnet ſein ſoll, 
damit ein Straßenlaufen der Kinder in der Dämmerungszeit vermieden wird. Die Heizung 
erfolgt vom Hauptgebäude aus.“ 

Für Heidelberg iſt die Verwirklichung des ſchönen Planes durch die finanzielle Mithilfe 
einer Dame geſichert. Es wäre vor allem zu wünſchen, daß auch für Dörfer etwas Ähnliches 
geſchaffen würde, freilich in Einzelheiten mannigfach abgeändert. Es ſollte nicht ſchwer halten, 
durch Sammlungen die Mittel dafür auch an kleineren Orten zuſammenzubekommen. 


Zi 
O deutſche Schutzmannherrlichkeit! 


ürzlich ging ich in Wiesbaden ſpazieren. Es war am letzten Sonntag im Januar. 
Plötzlich kommt mir ein kleiner Zug entgegen. Etwa hundert Arbeiter im Sonntags- 
rock. Sie fingen die Arbeitermarſeillaiſe. Zu ihren Seiten etwa zwanzig Schutz- 
leute, die in den Trupp hinein Püffe erteilen. Man hat den Eindruck eines Sträflings- 
transp orte. Nur daß die Sträflinge alle recht vergnügt ausſehen und fidh aus der „ſchützen 
den“ Begleitung nichts zu machen ſcheinen. Ich gehe weiter. Schritt für Schritt Schutzleute. 
Ein ungeheures Aufgebot. Als ob man am Vorabend der Revolution ſtände. An allen Ecken 
berittene Schutzleute auf den Trottoiren., Nicht bloß in der Altſtadt, 
ſondern auch im Kurviertel. Die Kurfremden und ſonſtigen Sonntagsſpaziergänger werden 
unter die Arbeitertrupps in den Straßenſchmutz hineingedrängt. Denn auf den Trottoiren iſt 
man in Gefahr, ü berritten zu werden. Die Schutzleute erlauben fih Damen gegenüber 
Bemerkungen wie: „Sie mit dem großen Hut da, gehen Sie weg, ſonſt gibt's was!“ oder: 
„Gehen Sie weiter! Jd) habe Sie heute ſchon zweimal geſehen!“ — Ajo von einem Schutz- 
mann nur geſehen zu werden, iſt ſchon gefährlich, am Ende gar ſtrafbar! 
Es war lehrreich, dabei das Verhalten der „Canaille“ Volk zu betrachten. Der Wies- 
badener ift ſehr ruhig, febr beſonnen. Man hörte nirgends erbitterte Ausrufe, nur ruhige pumo- 
tiſtiſche Bemerkungen. Die „Sozis“ ſchwenkten ihre Hüte und riefen: „Es lebe das allgemeine 


136 Auf ber Warte 


Wahlrecht!“ Gelegentlich ſchwenkten auch andere mit. Das Benehmen der Schußleute wurde 
ohne Erregung mit heiterem Gelächter aufgenommen. 

Nun muß man fih doch unwillkürlich fragen: einmal, warum dieſe beleidigende Sonder- 
ſtellung einer vom Reichstag anerkannten Partei gegenüber? Und zum andern, warum dieſes 
unglückſelige Prinzip der Senſation? Wenn die Regierung eine Partei unterdrücken will, 
obwohl ihr dazu jedes moraliſche Recht fehlt, warum dann macht ſie auf ſolche Weiſe für die 
Sozialdemokratie Propaganda? Denn derartige Verſuche, De monſtrationen zu im 
ſzenieren, ſind die glänzendſte Propaganda für die rote Gefahr. Warum? Warum das? 
Tant de bruit pour une omelette! Hätte man die Leute einfach gehen laſſen, ſie hätten nicht 
mehr Aufſehen gemacht als ein durchziehender Geſangverein. Warum alſo dieſes Aufbauſchen 
von Ereigniſſen, die erſt gemacht werden müſſen? Warum dieſes Hineindonnern und Hinein- 
witzeln in eine friedfertige Menge, nur ummit unendlicher Müh e einige Verhaftungen 
fertig zu bringen? Das ijt ein unglüdfeliges Prinzip. Der brutale Feudalismus der 
Leibeigenſchaft iſt heute in unſer Polizeiweſen gefahren. Die preußiſche Polizeiwirtſchaft ſchafft 
mehr vaterlandsloſe Geſellen als alle ſozialdemokratiſchen Redner zuſammen! Und nebenbei 
bemerkt ſind wir auch gerade ſo weit gekommen, daß unſer Schutzmannsweſen nahezu eine 
Organiſation zur Beläſtigung des Publikums geworden iſt. Welche Zronie! 
Schutz ſuchen müſſen vor dem Schutzmann! Elegante Herren und Damen ſpringen unter die 
Sozis, um ſich vor den Schutzleuten in Sicherheit zu bringen! So wälzt ſich der bunte Strom 
im Gefühl deutſcher Reichseinheit durch die Pfützen, während die berittenen Schutzleute den 
Bürgerſteig beſetzt halten. Welche Komödie! Und welcher Witz in dem überlegen geſitteten 
Verhalten des Publikums gegenüber den „Vertretern“ der öffentlichen Ruhe und Sittlichkeit! 

Wie wäre es, wenn wir in unſre Bildungsbeſtrebungen einmal das deutſche Polizei- 
weſen einfaßten? Der Schutzmann bildet in unſerm modernen Leben eine barocke Figur. 
Es iſt nicht immer leicht, um dieſes lebendige Verkehrshindernis herumzukommen. Es iſt auch 
nicht angenehm, wegen dieſer veralteten Erſcheinung beſtändig vom Ausland gehänſelt zu 
werden. Hier tut Wandel not. Wir Deutſche pflegen uns über unſre Schwächen gern mit einem 
heitern Lächeln hinwegzuſetzen. Das iſt liebenswürdig und vornehm; aber nicht immer klug. 
Es iſt weiſer, Schäden zu beſſern, als zuzudecken. Wir lachen über den deutſchen Schutzmann. 
Er iſt der Wauwau, der unſern Zdealen nichts anhaben kann. Alles gut und ſchön! Aber wir 
ſollten uns dennoch der Pflicht nicht entſchlagen, ihn wijfen zu laffen, daß er für uns da ift, — 
nicht wir für ihn. Civis 


Ze 


Luxus 
* 


. an hofft mit Einführung einer „Luxusſteuer“ dem Glanze rauſchender Feſte 
und der Verſchwendungsſucht Einhalt zu tun. Man möchte fo gerne zum Wohle 
des Volkes die preußiſche Sparſamkeit wieder einführen. 
Auch bei einer Luxusſteuer würde alles beim alten bleiben. Die Reichen werden rafo- 
nieren, ſich aber nicht einſchränken, ihr Leben nach keiner Richtung hin anders geſtalten. Die 
weniger Bemittelten werden es nach wie vor für ihre Pflicht halten, mitzutun, auch wenn 
ſie darüber elend zugrunde gehen. 

Die wahnſinnige Verſchwendungsſucht unſerer Zeit iſt ein Symptom beginnender 
Dekadenz. Den Sitz der Krankheit gilt es zu erforſchen, falls man den Wunſch hat, ſie zu heilen. 

Deutſcher Sinn und das deutſche Familienhaus ſind uns verloren gegangen. Das 
deutſche Haus, in dem die Mutter ſchaltete und waltete, in dem Einfachheit, Frohſinn und 
Zufriedenheit herrſchten. Das deutſche Familienhaus, das Freunden, Bekannten und Frem- 
den allezeit offen ſtand und in dem ſich alle bei einfacher Bewirtung heimiſch fühlten. Jetzt 


Auf der Warte 137 


find feine Pforten geſchloſſen. Ein- oder zweimal im Jahr öffnen fie fid, man gibt eine Ab- 
fütterung, glaubt ſie geben zu müſſen. Tage vor dem Feſt und viele nachher wird gehungert, 
man kann aber trotzdem die einlaufenden Rechnungen nicht zahlen. Und was haben die Gajt- 
geber von ihrer Mühe? von ihren Sorgen? Die ſcharfen, mitleidloſen Augen weiblicher Gäſte 
ſehen doch die Blößen, die ſich unter dem Flitter notdürftig verbergen, und junge Herren er⸗ 
zahlen uns, daß es bei ſo und ſo gar nicht nett war, es gab nicht einmal Sekt oder doch zu wenig. 

Frauen haben unſer Familienhaus niedergeriſſen, ihre Pflicht iſt es, es wieder auf- 
zubauen. Frauen haben Familienbande zerriſſen, an ihnen iſt es, fie wieder zu knüpfen. Wür- 
den unſere Frauen die Ausdauer und Energie, die fie feit Jahren auf Erreichung perfön- 
licher Wünſche verwenden, einmal in den Dienſt ihres Vaterlandes ſtellen, ſo könnten ſie 
zum Wohle unſeres Volkes Großes leiſten. An Kraft fehlt es nicht, wohl aber an gutem Willen, 
hauptſächlich jedoch an nationalem Empfinden. Wenn ein Schiff auf hoher See in Gefahr ift, 
der Sturm durch die Maſten pfeift, die Wellen über Bord gehen, erſchallt das Rommando: 
„alle Mann an Bord“ — alſo Frauen heraus! legt Hand an, ſteuert dem Luxus, erſtickt in euren 
Herzen den Nachahmungstrieb und die Sucht, fremde Sitten und Gebräuche bei uns einzu- 
führen. Lernt von anderen Nationen eure nationale Individualität hoch halten, die 
perſönliche entwickelt ſich dann von ſelbſt. 

Wer nicht blind durchs Leben geht, wird ſich kaum der Einſicht verſchließen können, 
daß unſer geſellſchaftliches Leben trotz zunehmender Bildung immer mehr verflacht und unſere 
Feſte immer mehr Bacchanalien ähnlicher werden. 

Schöne Räume, elektriſche Beleuchtung, blühende, duftende Blumen, saufhige Palmen- 
ecken, ſchöne Frauen in koſtbaren Gewändern und reichem Schmuck, glänzende Uniformen 
geben ein farbenprächtiges Bild. Ein Abendfeſt ift künſtleriſch ſchön, das leugnen zu wollen, 
wäre albern. Hat man ſich an der Pracht fatt geſehen, das Bild in fic) aufgenommen, fo ſieht 
man ſich die Menſchen etwas näher an. Schöne Frauen, berühmte Männer, Träger vornehmer 
Namen, Künſtler, Offiziere, Schriftſteller ſtoßen, drängen, ſchieben fih durch die Räume. Auf 
allen Geſichtern das ſtereotype geſellſchaftliche Lächeln, ſehr verbindlich, ſehr geiſtlos, ſehr 
verlangweilt. 

Die Gaſtgeber großer und kleiner Feſte machten Iden vor Jahren die betrübende Er- 
fahrung, daß die Pracht ihrer Feſte, die Uppigtcit ihrer Gaſtmähler und der in Strömen fließende 
Sekt — wie es im geſellſchaftlichen Jargon heißt — nicht ausreichten, um die Gäſte zu befrie- 
digen. Sie ſannen auf Mittel, die überſättigte Geſellſchaft zu animieren. Man verfiel auf 
Rünftler. Das half. Die Menſchen fingen an zu ſchwatzen, ſehr lebhaft fogar. Daß fie die Kunſt 
entweihten und die Rünftler kränkten, war ein Gedanke, der ihnen fernlag. Nach einer Saiſon 
verſagten die Künſtler — oder lehnten fie es ab, ſich und die Kunſt zu proſtituieren? Die Ge- 
ſellſchaft bedarf immer kräftigerer Mittel, um ihre Nerven zu kitzeln. Coupletſänger aus irgend- 
einem Kabarett werden jetzt zum Animieren herangezogen, und das Allermodernſte find tine- 
matographiſche Vorſtellungen. In Sſterreich wird natürlich der Jubiläumsfeſtzug den Gäften 
vorgeführt. 

Was wird jetzt nod kommen? Schönheitsabende oder römiſche Gaſtmähler mit be- 
kränzten Herren? Mit der Pracht der Fefte hält der Kleiderluxus der Frau Schritt. Er ift maß 
los und fängt an, mauvais genre zu werden. 

Die Frau ſoll ſich geſchmackvoll kleiden, das iſt ihr gutes Recht; im Hauſe für Mann und 
Kinder ſich zu ſchmuͤcken, ihre Pflicht. Sich hübſch kleiden heißt jedoch nicht nur in Samt und 
Seide einherrauſchen, ſondern ſich ſeiner Individualität, ſeinem Alter und ſeinen Einnahmen 
gemäß kleiden. Es iſt keineswegs Eitelkeit, die Frauen veranlaßt, einem Luxus zu frönen, 
für den ihnen oft die Mittel fehlen; es iſt der Nachahmungstrieb und die krankhafte Sucht, 
andere zu übertrumpfen. Oieſe Sucht zeigt fih überall, im Kleiderluxus, in der Pracht der 
Feſte, in den üppigen Gaſtmählern, und überall find Frauen die treibenden Kräfte. 


138 Auf der Warte 


Kleiderkünſtler, in deren Intereſſe der Kleiderluxus liegt, haben nicht nur offene Augen 
für die jeweiligen Zeitverhältniſſe, ſondern auch Verſtändnis für die Schwächen des Weibes. 
So bringen ſie denn immer neue Moden auf den Markt, eine extravaganter und koſtbarer als 
die andere. Dieſer fortwährende Wechſel in der Kleidung entſpricht der Haft, Unruhe und Ner- 
voſität unſerer Zeit. Der moderne Luxus in der Frauenkleidung beſteht nicht ſo ſehr in der 
Koſtbarkeit der einzelnen Toilette — die Gewänder unſerer Ur- und Großmütter koſteten ficher- 
lich weit mehr —, als in dem Wechjel der Moden. Unſere Frauen find Sklavinnen der Mode 
und irgendeines Schneiderkünſtlers, deſſen Tyrannei ſich hochſtehende und geiſtvolle Frauen 
entziehen ſollten. 

Sd würde raufchende Feſte, üppige Gaſtmähler, in Strömen fließenden Sekt und toft- 
bare Toiletten gelten laffen, wenn ich fröhliche, glückliche Menſchen fände. Mir begegnen nur 
nervöſe, abgehetzte, unzufriedene Männer und Frauen, die in wilder Haft von einem Feſte 
zum andern jagen, ſich immer langweilen, immer über die Pflichten, die ihnen die Geſellſchaft 
auferlegt, klagen, und die immer die Welt ändern möchten. Daß man aber zuerſt ſich ſelbſt 
ändern muß, bevor man die Welt verbeſſern könnte, fällt ihnen nicht ein. 

Die preußiſche Sparſamkeit, ſagen wir lieber die deutſche Einfachheit, könnten nur unſere 
Frauen einführen — vielleicht könnten ſie auch unſer geſellſchaftliches Leben etwas vergeiſtigen? 

Kathinka von Roſen 
ZS 


Das Warenhaus und die Frauen 


E, der „Frankfurter Zeitung“ betrachtet Carry Brachvogel „Das Warenhaus als 
{G Erzieher“: Es war und ift ja eine der lächerlichſten Angewohnheiten der Klein- 
—tſtädterin (die übrigens auch in einer Weltſtadt geboren fein tann), daß fie, 
ihr Kleid, ihr Hut, ihre Handſchuhe, ihre Konſerven, ihre Küchentücher oder ihre 
Papierſervietten dem Verkäufer (und natürlich auch dem Geſchäftsinhaber) nicht etwa nur 
ein Geſchäft, ſondern ſozuſagen eine Herzensangelegenheit darſtellen follen. „Nein, gnä- 
dige Frau, für Sie paßt fo was nicht!“ „O, ich kenne doch den Geſchmack von gnädige 
Frau und weiß, daß Sie ſo etwas nicht lieben!“ „Da hab' ich etwas ganz Beſonderes, 
was ich nur beſonderen Kundinnen zeige!“ „Wie ich das beſtellte, hab' ich gleich an gnädige 
Frau gedacht,“ vim, Zum Schluß noch die Verſicherung, daß es „eine beſondere Ehre“ war, 
wenn die Dame nach drei Stunden der Wahl und Qual endlich unter Hinterlaſſung von ein 
paar Mark den Laden verließ, mit dem erhebenden Gefühl, daß ſie, Frau A., doch etwas ganz 
anderes ſei als Frau B. oder C., die natürlich ihrerſeits genau ebenſo „individuell“ bedient 
wurden und daher mit demſelben verächtlichen Hochgefühl auf Frau A. blicken. Der Gigant 
auf dem Wirtſchaftsmarkt kennt dies Mandarinentum in Damenkleidern nicht. Er ift der ge- 
duldigſte, höflichſte und unermüͤdlichſte Verkäufer, den man fic denken kann, aber er ift im beiten 
Sinn Sozialdemokrat, und eine zahlende Kundſchaft gilt ihm genau ſo viel wie die andere. 
Anperſönlich ſteht er ihnen gegenüber, weiß nichts von ihren Exiſtenzen, will nichts davon wiſſen, 
als daß er ihnen gute Ware zu liefern hat und ſie ihm gutes Geld. Les affaires sont les affaires, 
Geſchäft ift Geſchäft — mehr haben fih er und die Frau nicht zu fagen; ob etwas für fie 
paßt oder nicht, muß ſie ſelbſt wiſſen und entſcheiden. Er redet nicht drein, er bevormundet 
ſie nicht, er ſchmeichelt nicht ihrer Eitelkeit und ihrem Wunſch, etwas Beſonderes zu ſein. 
Ganz ſelbſtverſtändlich rangiert er die Prätenziöſe, die ſich aus keinem erſichtlichen Grund 
Wunder was einbildet, in die Reihen der Allgemeinheit und erzieht ſo, ohne Lehrbuch und 
Dogma, die Frau, die mit ihm in Verbindung tritt, zu dem großen ſozialen Zuge, 
der durch unſere ganze Zeit geht 


Auf der Warte 139 


Ich ſagte vorhin, jede zahlende Kundſchaft fei dem Giganten gleich wert. Ich muß 
hinzufuͤgen, daß es nicht zahlende Kundſchaft für ihn überhaupt nicht gibt, denn auch auf dem 
Gebiet der Rechenkunſt hat er ſich die Frau erzogen: „Kaufe nur, was du heute oder ſpäteſtens 
morgen zahlen kannſt; geborgt wird nicht!“ Und dieſe Erziehung zur praktiſchen Arithmetik 
geht Hand in Hand mit jener Erziehung zur Allgemeinheit, die ich oben erwähnte, wächſt 
logiſch aus ihr heraus. Ganz ſelbſtverſtändlich muß der Geſchäftsmann, der mit der Gnädigen 
in einem perſönlichen Verhältnis ſteht, ihr auch finanziell das weitgehendſte Vertrauen ſchenken. 
Er muß, wenn fie will, ihr unbegrenzten Kredit gewähren und würde ſchön angefahren wer- 
den, wenn er ſich's beikommen ließe, ſeine Ware nur gegen bar abzugeben oder mit der quit- 
tierten Rechnung, auf deren Begleichung der Bote wartet, ins Haus zu ſchicken. Wahrſchein⸗ 
lid verlöre er ſogar die Rundfchaft, denn mehr als eine Dame kann man ſich entrüften hören: 
„Nein, diefe Unverſchämtheit! ſchickt mir der Menſch eine quittierte Rechnung ins Haus! Zu 
dem geh' ich nie mehr hin!“ Oer Gigant hat mit dieſer heilloſen Konfuſion merkantiler Be- 
griffe aufgeräumt, er erlaubt fidh, der zimperlichen Dame als Uſus vorzuſchreiben, was ihr 
ſonſt als Ungehörigkeit erſchien. Er läßt ſich auf keine Tifteleien ein, wie: „Gott, ich kann's 
ja zahlen, aber ich will doch nicht ſo gedrängt werden“, ſondern macht ihr einfach durch die Praxis 
den faſt vergeſſenen Grundſatz aufs neue klar, daß Geſchäft ein Vertrag auf Gegenſeitigkeit 
und es keineswegs ein Zeichen von „Nobleſſe“ iſt (wie manche Damen ſich einbilden), Cin- 
kaufe möglichſt lange nicht zu bezahlen, fondern, im Gegenteil, ein Symptom der Unpüntt- 
lichkeit, ein Defekt des Rechtlichkeitsſinns. 

Noch eine andere Kleinſtadt- und Kleinfrauengewohnheit ertötet der Gigant: das ab- 
ſcheuliche Feilſchen und Herunter bieten, das die Frauen ehedem als das zuverläſſigſte 
Merkmal wirtſchaftlichen Sinnes betrachteten. Die Kundin des Varenhauſes lernt vom erſten 
Tage an, was feſte Preiſe ſind. Es gibt natürlich auch eine ganze Anzahl anderer Geſchäfte, 
in denen „Feſte Preiſe“ zu leſen ſteht, aber die bevorzugte Käuferin, das heißt, diejenige, die 
in dem bekannten „perſönlichen Verhältnis“ zum Warenlager ſteht, verſucht eben doch bei 
Gelegenheit, das Gebot der Unwandelbarkeit zu verſchieben. „Einer fo alten Kundſchaft, wie 
ich bin, könnten Sie doch einmal einen Ausnahmepreis machen!“ uſw. Im Warenhaus, mit der 
gar keine perſönliche Intimität ſie verbindet, für das es in dieſem Sinn überhaupt keine „alte 
Kundſchaft“ gibt und geben kann, wird auch die Keckſte zögern, ein ſolches Anſinnen zu ſtellen. 
Sei es, daß der ganze Riefenapparat des Rieſen ihr imponiert, die Millionenſäcke, die hinter 
ihm ſtehen — ich habe noch nie gehört, daß eine verſuchte, im Warenhaus um den Preis zu feil- 
ſchen, außer vielleicht in den allererſten Tagen der Eröffnung, wo das allgemeine Mißtrauen 
meinte, der Gigant hielte ſo eine Art vergrößerten Ramſchbazar. Damals probierten wohl die 
Heinen Frauen aller Stände, ob's nicht auch hier nach der alten Mode ginge: „Handeln und 
Bieten macht's Geſchäft“; aber nach ganz kurzer Zeit ſchon hatten ſie begriffen, daß es hier 
wirklich nicht anging, und fie begannen zu fpüren, wie kleinlich und unerfreulich es ift, im buch 
ſtäblichen Sinne „handeln“ zu miiffen. Es iſt nicht das geringſte Verdienſt des Giganten, daß 
er die Käuferinnen zu einem reelleren und großzügigeren Geſchäfts⸗- 
gebaren hinlenkt und ihnen zugleich kapabel macht, daß ſie ſich nach ihrer Decke ſtrecken 
follen, nicht durch unterbieten und Quengeln zu erreichen verſuchen, was vielleicht ſonſt ihrem 
Geldbeutel unerreichbar wäre. 

Aber nicht nur im moraliſchen Sinn wirkt das Warenhaus erzieheriſch, nein, es regt 
auch unferen Geiſt an, öffnet uns das Auge für die Größe des Nützlichen, für die A ſthetik 
der Alltäglichkeit. Schon hat es einen eigenen Bauſtil hervorgebracht, ſchon mühen 
ſich die Rünftler um fein Heim, wie fie fih in früheren Jahrhunderten um die Schlöſſer kunſt⸗ 
liebender Zürften mühten. Und ſteht man dann vor fold einem merkantilen Palaſt, dann 
eröffnen fih dem Nachdenklichen bedeutſame Perſpektiven — Weltperſpektiven. Welche Un- 
ſumme von Energie, Fleiß, Tat- und Gedankenkraft mußte eine Generation nach der andern 


140 Auf ber Warte 


aufbringen, bis aus dem engen, finftern Kaufladen der Vorväter dieſer ſtrahlende Enkel er- 
ſtehen konnte, der zugleich ein großer Kaufherr und ein Mäcen iſt. Über die ganze Erde hin 
mußte das eiſerne und das diplomatiſche Netz unſerer Verbindungen geſponnen werden, da- 
mit hier in einer Verſchwendung, die berauſcht und entzückt, die Waren des Okzidents und des 
Orients feilgeboten werden können. In dieſer prachtvollen Verſchwendung, in dieſem zehn- 
fachen Überfluß liegt ein unbeſchreiblicher Reiz. Was bedeuten uns ein einzelner Teppich, 
ein oder zwei Schildpattkämme, eine Handvoll Krabben? Nichts, gar nichts, als ein Bedürfnis 
des Tages oder des Jahres. Hunderte von Teppichen aber, Tauſende von Schildpattkämmen, 
Zehntauſende von Krabben wirken allein durch ihr Maſſenangebot faszinierend. Das Wort 
von der Maſſenſuggeſtion, das ſonſt immer nur für die Volksmenge angewendet wird, erhält 
hier eine ganz eigenartige Bedeutung. Was ſonſt, als Einzelerſcheinung, ſich reizvoll darſtellt, 
gewinnt in der Maſſe und durch ſie eine wilde Schönheit, von der man vorher nichts ahnte; 
eine flutende Kraft ſpringt daraus hervor, die die geheimen Zuſammenhänge der Alltäglich- 
keit mit den großen Problemen der Zeit und der Nation verrät. Daraus hört einer, der gute 
Ohren hat, im Warenhaus über das banale Surren des Kauftages weg das Getriebe des Welt- 
markts brauſen, und gute Augen ſehen unſere Schiffe an fremden Küſten landen, damit ſie 
köſtliche Frachten tauſchen und heimſchleppen zu dem Giganten, der, obgleich aus einer prat- 
tiſchen Notwendigkeit geboren, doch eben zu gigantiſch iſt, um nur ihr und nicht auch höheren 
Kräften zu dienen. . 


Die Gretchenfrage 


d s wird wohl kaum noch ein junges Mädchen geben, meint Dr. Ernſt Franck (Mün- 
0 chen) in der „Frankf. Ztg.“, das ſich veranlaßt fühlte, ſeinen Erwählten durch die 
Frage, wie er es mit der Religion habe, in Verlegenheit zu ſetzen. Im Gegen- 
teil: der Freigeiſt, der Spötter wirkt oft als intellektueller Fetiſch auf die weibliche Sexualität, 
während ein Liebhaber, der feinen Zugendglauben bewahrt hat und gar durch Bibelzitate 
und Tiſchgebete treuherzig dokumentiert, leicht komiſch, zum mindeſten provinzial, veraltet 
erſcheint. Vielleicht, daß die Frau Mama in unſerer Zeit eine Frage nach der Konfeſſion noch 
für erheblich hält oder daß der Herr Papa, wenn er zufällig preußiſcher Regierungsbeamter 
ift, auf die Kirchlichkeit des künftigen Schwiegerſohns einen gewiſſen Wert legt. Aber 
ſonſt iſt die Gretchenfrage aus der Mode gekommen. 

Indeſſen: ſie lebt weiter, ja ſie iſt eigentlich immer dageweſen, wenn auch mit 
anderem Text. Sie wechſelte und wechſelt nur ihren ſachlichen Inhalt. Sie bleibt ein kleines 
unſterbliches Symbol der Menſchheit. Sie hallt durch die Jahrhunderte, materiell ſich wan- 
delnd, aber mit unangenehmer Schärfe des Tons, und begleitet die ganze Geiſtesgeſchichte. 
Sie begleitet auch die politiſche Geſchichte, den Zwiſt der Könige, den Kampf der Nationen 
und Parteien, den Rieſenſchritt der großen Perſönlichkeiten von Cäſar bis zu Bismarck. 

Schon in früher Zeit war fie religiös-theologiſch. Eine ihrer erſten Faſſungen lautete: 
„Was dünket euch um Chrifto? Wes Sohn ift er?“ Etliche Längengrade öſtlicher, einige Jabr- 
hunderte ſpäter erklang fie: „Zit Mohammed der Geſandte Gottes?“ und Feuer und Schwert 
raften hinter der Frageſtellung drein. Es kam die Zeit, da die Philoſophie die Magd der Theo- 
logie war, es kam die Zeit der Reformation: die Gretchenfrage der Ronfeffion wurde 
aktuell. Damals verbrannte man hagere Ketzer in gottwohlgefälligem Feuer, in dem doch 
die feiſten Frageſteller, Ankläger und Richter, viel luſtiger gekniſtert hätten. 

Die Zeiten wurden fanfter, in Königsberg ging die Morgenſonne auf. Die Grethen- 
frage wurde ethiſch, wenn ſie auch metaphyſiſch blieb: ſie vermählte ſich mit dem Primat der 
praktiſchen Vernunft. Sie fragte: Iſt dein Kunſtwerk, dein Buch, deine Weltanſchauung, 


Auf der Warte 141 


dein Handeln, deine Lebensführung wenigftens moralif dh? Iſt wenigftens die Moral 
dir indiskutabel? Es ſcheint, daß dieſe Gretchenfrage nicht immer den Geiſt auf ihrer Seite 
hatte. Der ſchlug ſich, unmoraliſch, wie er zuweilen iſt, zur Konkurrenz und ſekundierte der 
nun auftauchenden äſthetiſchen Gretchenfrage. Der Aſche der Romantik entſtieg der 
neuromantiſche Phönix. Nietzſche, Wilde, die Prdraffacliten, die Anwälte der äſthetiſchen 
Weltanſchauung ſchrieben, predigten und malten. Die ethiſche und die äſthetiſche Grethen- 
frage gerieten ſich in die Haare, und der werttheoretiſche Streit iſt noch heute nicht entſchieden. 

Seder Stand, jede Kaſte haben ihre Gretchenfrage. Wie fie beantwortet wird, das 
beſtimmt die entſcheidende Wertung des Gefragten, fein perſönliches Schickſal, feine Auf- 
nahme in den Kreis, den Ring, die Klaſſe. Zit er von Familie? fragt der Adel. Brief- oder 
Uradel? fragt der alte Adel. Hat er ſechzehn, zweiunddreißig, vierundſechzig Ahnen? fragt, 
wer wegen allzu hohen Adels des Rechnens und Schreibens unkundig iſt. Gehört er zu uns? 
fragt die Gelehrten-, die Literatenklique. Hat er Jura ſtudiert, ift er Korpſier und Referve- 
offizier? erkundigt ſich die Beamtenhierarchie. Iſt er anormal? fragt die Boheme. Macht 
er uns den Hof? fragen die Frauen, — meint er es ehrlich? die jungen Mädchen, — ift er pen- 
fionsberechtigt? die Mütter. Iſt fie hübſch? fragen die Männer, wenn fie lieben — hat fie 
Geld? wenn fie heiraten wollen. Hat er, hat fie Geld? Es gibt Leute, welche diefe Grethen- 
frage für univerſell halten. 

Die Gretchenfrage ift der Pivot, das Schibboleth, die Ballotage, das Schwert des Da- 
motles. Sie ift aber auch die geiſtige Beſchränktheit, die ſubjektive Begrenztheit, der Egoismus 
und die Trägheitdes Herzens. Die Gretchenfrage enthält alles, was in unſerer Zeit, 
unſerem Vaterlande Zopf, Vorurteil, Mandarinentum, Kaſtengeiſt und einſeitiger Partei- 
ſtandpunkt iſt. Sie hat, wie die Hydra, hundert Köpfe. Nur der einzelne kann ſie überwinden. 
Kann fie in feinem Kreiſe überwinden, wenn er fie entweder gar nicht aufwirft oder fie fo um- 
fänglich faßt, wie der Geſtalter Gretchens, der Erſinner ihrer unſterblichen Frage es tat. Auch 
Goethe hatte ſeine Gretchenfrage. Sie lautete bei jedem Dinge: iſt es echt, wahr, fruchtbar? 
Regt es an, belehrt es, nützt es? Und bei jedem Menſchen: Taugt er was? Wirkt er? Hat 
fein Tun „Folge“? Fördert er feine Umwelt? Denn für Goethe blieb — der Vergleich ſtammt 
von Emerſon — ſtets Talleyrands Frage die Hauptſache: nicht, ift er reich? Fit er verbächtig? 
ait er einer von den Gutgeſinnten? Hat er diefe oder jene Fähigkeit? St er einer von den 
Unruhigen? Einer von den Konſervativen? ſondern nur: 8 ſter überhaupt je mand? 
Vertritt er etwas in ſeiner Perſon? Er muß in ſeiner eigenen Art gut fein. 

In dieſer Faſſung wird die Gretchenfrage zum Symbol feinſter Toleranz, die aus im- 
manenter Kritik erwächſt, zum Mundſtück umfaſſender Gerechtigkeit, der höchſten Tugend, 
weil ſie Kopf und Herz, Intelligenz und Wohlwollen fordert und zur Betätigung zwingt. 


Zi 
Armut als Sportobjekt 


erlin W. hat eine neue Senſation. Unter der Devife: „Die Dame in Runft 
und Mode“ hat ein Kunſtgewerbehaus in der Leipziger Straße eine Ausſtellung 
von Luxusartikeln eröffnet, die nach einer Schilderung des „Vorwärts“ in ihrer Auf- 
machung nach verſchiedenen Richtungen wahrhaft verblüffend wirkt: „Was man fonft in den 
großen Mode bazaren nur verſtreut zu ſehen bekommt, all das lururidfe, zum „Interieur“ und 
„Trouſſeau der vornehmen Dame gehörende Drum und Oran ift hier in einer Weiſe arrangiert, 
die ein realiſtiſches Bild von dem üppigen, verſchwenderiſchen Leben gibt, das man auf den Höhen 
der Menſchheit führt. All die unzähligen komplizierten Dinge, deren man in dieſen Kreiſen 
zum Schmud, zur Pflege des Körpers, zur Toilette bedarf, find in auserleſenen, wertvollen 


142 Auf der Warte 


Exemplaren in einer langen Reihe von parfümierten Boudoirs, Salons, Schlaf- und Toilette- 
zimmern künſtleriſch zwanglos fo gruppiert, als ob fie ſich — wie der Katalog fih ausdrückt — 
‚nach der Nähe ihrer ſchönen Beſitzerin ſehnen“. In dieſer Weiſe iſt z. B. das Schlafgemach einer 
Weltdame, die im Begriffe ſteht, abzureiſen, arrangiert. Dieſe Idee gibt Veranlaſſung, in ge- 
öffneten Schränken, Schubläden, Handtaſchen und Koffern, die an Pracht und Gediegenheit 
miteinander wetteifern, all die eleganten Kleider und Bluſen, die duftigen Wäſcheſchätze, fei- 
denen Strümpfe, feinen Schuhe und tauſend Kleinigkeiten der Toilette zu zeigen, die zur 
Reifeausrüftung der reichen Dame gehören. 

Schmock, auf der Höhe feiner Aufgabe, verſäumt nicht, in der bürgerlichen Preſſe rüh- 
mend des edlen Zweckes dieſer Ausſtellung zu gedenken. So wie man in der vornehmen 
Welt ſonſt, um ſein ſoziales Gewiſſen zu ſalvieren, zum Beſten der Armen“ tanzt, muſiziert 
und fih amüfiert, fo zeigt man hier, wie man ſtandesgemäß wohnt, ſchläft und ſich ſchmückt — 
zum Beſten der Erholungshäuſer für Heim arbeiterinnen. Da- 
mit ift der Wohltätigkeitshumbug der Herrſchenden entſchieden um eine neue Note bereichert 
worden. Shr ſoziales Verſtändnis aber ließe fic gar nicht beffer charakteriſieren als durch die 
Tatſache, daß fie ſozuſagen in aller Offentlichkeit eine Orgie tollſter Prunk und Verſchwen⸗ 
dungsſucht veranftalten, um armen Heimarbeiterinnen einige kleine Vergünſtigungen zu ver- 
ſchaffen. Erholungshäuſer wären für dieſe Ausgebeutetſten unter allen Ausgebeuteten gewiß 
eine ſehr wünſchenswerte Sache, aber es gibt eine ganze Reihe von Dingen, die ihnen unend- 
lich viel mehr not täten. Das wird jeder zugeben, der jener anderen Ausſtellung beigewohnt, 
die vor nicht allzulanger Zeit in düſteren, unvergeßlichen Bildern das namenloſe Elend der Heim- 
arbeit enthüllte, ein Elend, deſſen Größe aller Wohltätigkeitsbeſtrebungen ſpottet. 

Die Armut als Sportobjekt der reichen Damen, das iſt eben Mode. 


Mit ſozialer Erkenntnis oder ſozialem Streben hat das abſolut nichts zu tun. Was die Arbeite“ 


tinnen allgemein und die Heimarbeiterinnen insbeſondere verlangen, das ift Schutz gegen 
ſchrankenloſe Ausbeutung und die Anerkennung als gleichberechtigte Staatsbürger 


ZS 


Notizbuch E 


Der ganze Jammer unſerer Konzertmiſere offenbart fih in einem Briefe, den der „Ber⸗ 

liner Lokalanzeiger“ veröffentlicht. Er lautet: 
„Sehr geehrter Herr Redakteur! 

Was foll ich tun, um bekannt zu werden? Fd habe alles verſucht, was mir angeraten 
wurde, aber es hat nichts genützt. Das Publikum weiß von mir heute noch ſo wenig wie vor 
drei Jahren, als ich den erſten Schritt in die Offentlichkeit wagte. Nun finde ich in den Zei- 
tungen ein Inſerat, das ich Ihnen anbei überſende: 


Singakademie. 
Mittwoch, 17. Februar, abends 8 Uhr: 


Liederabend 


Else Nachbau. 


Karten an der Abendkasse. 
Eintritt frei. 


ch knüpfe daran die Bitte, mir zu raten, ob ich es ebenſo machen ſoll wie Fräulein 
Nachbau. Nehmen Sie mir die Beläſtigung nicht übel und erlauben Sie mir, Ihnen zu foil- 


Auf der Warte 143 


dern, wie es mir ergangen ift: Nachdem ich zuerft längere Zeit bei verſchiedenen ,Gefangs- 
meiſtern“, die mir gar nichts beibrachten, und dann noch vier Fahre bei einer wirklich verftändi- 
gen Lehrerin ſtudiert hatte, wollte ich mein erſtes Konzert geben. Frau K. ließ es zwar an 
Warnungen vor allzu großer Hoffnungsfreudigkeit nicht fehlen, aber jetzt zum erſten Male 
glaubte ich ihr nicht, ich hatte es ja oft genug erlebt, daß Sängerinnen, die wirklich viel weniger 
konnten als ich, rauſchenden Beifall ernteten. Mir erſchien die Welt im roſigſten Licht, und mein 
Vater, der Tauſende fiir meinen Unterricht aufgewendet hatte, gab auch noch die paar Hundert 
her, die der Herr Konzertdirektor für das Arrangement des Liederabends verlangte. Alles ging 
gut, der Saal war ganz anſehnlich gefüllt, und nach jeder Nummer bekam ich rauſchenden 
Applaus. Yd war felig in der feſten Überzeugung, daß nun mein Glück gemacht fei. Um fo 
herber war die Enttäuſchung, die hinterher kam. 

Zuerſt die Abrechnung. Außer einigen näheren Bekannten hatte nur eine Zeitung eine 
Karte gekauft, alle übrigen Beſucher waren auf Freibillette gekommen, die die Agentur ver- 
ſandt hatte, wie ſie es immer tut, weil ein leerer Saal deprimierend wirkt. Aber, ſagte der 
Direktor, in Zukunft werde es ſchon anders werden, ich hätte ja einen großen Erfolg gehabt, 
und alle Kritiker ſeien eingeladen geweſen. Jawohl, eingeladen waren ſie, aber im Konzert 
waren ſie nicht. Alle Zeitungen wurden gekauft und mit Heißhunger durchflogen, ein, zwei, 
drei Tage. Vergeblich. Ein einziges Referat erſchien, und in dem konnte ich leſen, daß ich eine 
ſtimmlich und muſikaliſch begabte Sängerin zu fein ſcheine, daß aber die ſtümperhafte Beglei- 
tung ein feſtes Urteil unmöglich und längeren Aufenthalt unerträglich gemacht habe. Natür- 
lich wurde der Agent mit den ſchwerſten Vorwürfen überhäuft, aber er wußte fie nicht nur ge- 
ſchickt zu parieren, ſondern verſtand es fogar, mich und die Meinigen noch in den beiden folgen- 
den Jahren zu weiteren Konzerten zu verleiten. Dann habe ich es aufgegeben und erteile nun, 
um meinem Vater nicht länger auf der Taſche zu liegen, ſelbſt Unterricht an Anfängerinnen, 
die mir meine gute Lehrerin zuweiſt, ſo daß ich wenigſtens meinen Unterhalt verdiene. Nun 
aber hat die Annonce neue Hoffnungen in mir geweckt. Glauben Sie, daß man auf dem Wege 
des Freikonzerts mehr Ausſicht hat, bekannt zu werden? Man will doch nichts unverſucht 
laſſen, damit nicht alle Mühen und Koſten für immer vergeblich bleiben. 

Im voraus beſtens dankend Ihre ſehr ergebene R. M.“ 

Das ift kein Ausnahmeſchickſal, ſondern die Regel. Ich habe es auch im Türmer ſchon 
oft ausgeführt, daß das Konzertagenturweſen, wie es heute beſteht, nicht nur jedes geſunde 
Muſikleben unterbindet, ſondern obendrein im Grunde ein ganz gemeines Ausbeuteſyſtem ift. 
Hier gibt es nur eins: Zuſammenſchluß der Künſtler. Ich wage kaum noch darauf zu hoffen. 
Die Macht der Konzertagenturen iſt unglaublich groß, der ganze Jammer dieſer Verhältniſſe 
in der breiten Öffentlichkeit viel zu wenig bekannt. So kann man nur warnen. Keine Lauf- 
bahn iſt in der Regel ſchwieriger, mühſeliger und im Verhältnis zu den geringen Ausſichten 
koſtſpieliger als die des Muſikvirtuoſen, insbeſondere des Sängers. Für Geſang kommen noch 
die ganz erbärmlichen Unterrichtsverhältniffe hinzu. Von den Geſangslehrern werden weit 
mehr Stimmen ruiniert als ausgebildet. Mögen fic Eltern ja nicht durch die zunächſt immer 
günjtigen Urteile von Geſangslehrern verführen laffen, ihre Töchter das Geſangsſtudium er- 
greifen zu laffen, Die Geſangslehrer wollen Stunden geben! Immer fordere man erft das 
Urteil unabhängiger Sachverſtändiger ein, die keinen Nutzen von der Wahl des Künſtlerberufes 
durch den Prüfling haben. 


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Die Wildenbr ud- Gedenkfeiern in Berlin waren ſehr dürftig. Statt den Dra- 
matiker mit der Aufführung feiner Werke zu ehren, gab es „Matineen“ mit geiſtreichen „Cau- 
ſerien“, Liedervorträgen u. dgl. Nur das Schillertheater brachte eine Neueinſtudierung der 
„Karolinger“, die ſich dabei wenigſtens fo lebensfähig erwiefen, wie die „modernſte“ Produktion. 


144 Auf der Warte 


Dieſen „Karolingern“ ift einſt durch eine von der Berliner Studentenſchaft veranftaltete 
Aufführung der Weg auf die Bühne gebahnt worden. Auch jetzt haben wir eine ſolche „Aka 
demiſche Bühne“. Die hat in dieſem Winter bislang zwei Streiche vollführt. Der erſte war 
die Darbietung des „Letzten Streiches der Königin von Navarra“, der zweite, noch ſchlimmere, 
die Aufführung von Wedekinds „Junger Welt“. Dieſe junge Welt war ſelbſt den Berlinern zu 
fenit — das Stück ift ja auch ſchon zwölf Jahre alt —, zu faft- und kraftlos. Aber was ift das 
für eine akademiſche Jugend, die fo greiſenhafte, krankhafte und blutloſe Werke mit großen 
Koſten auf die Bühne zu bringen ſtrebt? Wie können akademiſche Lehrer das Protektorat 
über ſolche Unternehmungen führen?! 

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Das Oüffeldorfer „Neue Schauſpielhaus“ hat fih den Luxus geleiſtet, in Paris eine 
Reihe deutſcher Cheatervorftellungen zu veranſtalten. Man muß ein geringer Kenner der fran- 
zöſiſchen Volksſeele ſein, wenn man für ein derartiges Unternehmen von der Pariſer Kritik 
mehr erwartete, als eine gewiſſe herablaſſende Teilnahme. Zu mehr ift das Ausland, insbefon- 
dere Frankreich, viel zu ſelbſtbewußt. Wenn man nur endlich von ſolchen Vorfällen etwas mehr 
Eigenſtolz lernen und nicht mit hündiſcher Dankbarkeit die kargen Broſamen einer überlegen 
geſpendeten Anerkennung auflefen wollte. Der Pariſer Berichterſtatter der „Oeutſchen Bei- 
tung“ erhebt bei dieſer Gelegenheit eine beherzigenswerte Mahnung. 

„Die Pariſer Kritiker find, wie man weiß, ſehr ſelbſtbewußte Herren; das zeigt aufs 
neue das Gaſtſpiel des Oiffeldorfer Schauſpielhauſes im Marigny-Theater. An der „Medea“ 
der Frau Luiſe Dumont fand man begreiflicherweiſe gar keinen Gefallen, und was das Meifter- 
werk Grillparzers anlangt, fo ſpielte man dagegen mit einem Anhauch von Rührung die Médée’ 
des Catulle Mendes und deren Verkörperung durch die Gegond-Weber aus. Das ift noch zu 
entſchuldigen. Etwas dreiſt mutet es aber an, daß die Pariſer Kunſtrichter direkt über die deutſche 
Sprache herfielen, über ihre harte Unſchönheit, über den Mißklang der Berfe, über den Ron- 
ſonantenſchwall der Tiraden, über die Häßlichkeit der Interjektionen. Ein Chorus des Mib- 
fallens wird in den Blättern angeſtimmt. Das Amüfante an der Sache iſt, daß jeder Kritiker 
am Schluſſe feiner Betrachtungen mit dem Empfinden vornehmer Genugtuung erklärt, er ver- 
ſtehe nicht Deutſch, bloß fein Ohr fage ihm, wie ſchlecht das Drama, wie häßlich die Sprache fei. 
Am ſchlimmſten kommt Lugne-Pée, der Veranſtalter des Gaſtſpieles, davon, denn man zwei- 
felt an ſeinem künſtleriſchen Urteil, das ihn dazu beſtimmte, deutſche Schauſpieler nach Paris 
zu führen. Und nun halte man dagegen als unbeſtreitbare Tatſache die ſtets glänzende Auf- 
nahme franzöſiſcher Komödianten bei uns, mögen fie nod fo abgeklappert und verſpielt“ fein, 
mit noch ſolch jämmerlichen Reften einſtiger Herrlichkeit aufwarten!! Wir jubeln ihnen zu, 
ehe wir ſie geſehen und verſtanden haben, und die höchſten Kreiſe intereſſieren ſich für ſie; es 
gibt Orden und Ehrenzeichen, ſie werden in der „Woche“ abkonterfeit, von Miſter Holzbock 
interviewt uſw. — kurz und gut, es wird ein Weſens von ihnen gemacht als feien fie von einem 
anderen Stern gefallen. „O Oeutſchland, Vaterland, die Träne hängt mir an der Wimper, 
wenn ich dein gedenke!“ — 

Aber noch andere Umſtände müſſen bei dieſem Gaſtſpiele recht verſtimmen. Die Ver- 
anftalterin dieſes deutſchen Gaſtſpiels, Frau Dumont, hatte nichts Eiligeres zu tun, als 
vor den Franzoſen ihre franzöſiſche Abſtammung zu betonen. Unter den fünf Stücken aber, 
die man in Paris bei dieſem deutſchen Gaſtſpiel vorführte, waren zwei norwegiſche und 
ein ruſſiſches, dann Grillparzers — der den Franzoſen ſehr fremdartig ſein muß — „Medea“; 
Goethe aber wurde mit dem Gelegenheitsſcherz „Triumph der Empfindſamkeit“ vorgeſtellt! 


Verantwortlicher und Chefredatteur: Seannot Emil Freiherr von Grotthuß, Bad Oeynhauſen in Weſtfalen. 
Literatur, Bildende Kunſt, Mufle und Auf der Warte: Dr. Rari Storck, Berlin W., Landshuterſtraße 3. 
Orud und Verlag: Greiner & Pfeiffer, Stuttgart. . 


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„Künſtleriſche Kultur“ 


Von 


Prof. Dr. Ed. Heyd 


(aß man feinem Nächſten wegnehmen foll, was man unter einem Schein 
SÉ j des Rechtens irgend kann, ift auch ſchon die Lebensidee älterer Zivili⸗ 

4 Ei fationen geweſen. Daß aber jeder immer von allem haben muß, ob 
s es ihm etwas taugt oder nicht, ift mit ſolcher Entſchiedenheit doch 


früher noch nicht als Kern der Bildung aufgefaßt worden. 


Oas Oeutſche Reich ſchließt fih dem maßgeblich an, und in dieſer Beziehung 
haben wir nun die Engländer in ihrem Lord Elgin glücklich geſchlagen: in Potsdam 
vor der Orangerie ſtehen die großen, ſchönen Bronzen, diefe in ein unbefchreib- 
lich lebendiges Drachen- und Formenſpiel eingefaßten aſtronomiſchen Inſtrumente, 
die man in China weggenommen hat. Zch rechne mich zu den ſogenannten guten 
Deutfchen; aber vor dieſen chineſiſchen Bronzen ballen fih mir die Fäuſte, daß 
eine Nation mit unferem Pedellengeſchmack fo etwas einem alten künſtleriſchen 
Volke wegzunehmen wagt. Allerdings etwas verlegen ſtehen ſie im Froſt und 
Regen da oben auf der Terraſſe da, wo das Publikum ſie mit der üblichen Ge- 
ſchwindigkeit [hon wieder vergeſſen hat. Ganz reicht es doch nicht zu der Sieges 
miene, womit der Wohlhabendere von heute die Leute tot autelt oder zu großen 
Beſtechungsſkandalen erklärt, nicht zu verſtehen, worüber man ſich drüben auf- 
rege, es ſei· wohl nur Neidhammelei. | | 

Ser Tümer XI, 8 10 


146 Heyd: „Künſtleriſche Kultur“ 


Das Beſtreben, von allem zu haben, Gourmand in allem zu ſein oder doch 
ſo zu tun, iſt unſer Bildungsanzeiger geworden, und das am fetteſten gedruckte 
Wort auf der nationalen Kraut- und Rübenſpeiſekarte heißt „künſtleriſche Kultur“. 
Wer nicht mitmacht, dem mangelt der Sinn für das Schöne, für perſönliche ,, Ge- 
ſtaltung“, für reife Erziehung. 

In der Kinderſtube geht dieſe Art von Lebensbereicherung an. Da werden 
die alten lieben Bilder nach Raffael, oder ſei es auch nach W. Kaulbach, entfernt 
und dafür ein Buntdruck mit gelben Küken oder kranken Hühnern angebracht, näm- 
lich damit das Kind „adäquate Eindrücke“ gewinne. Im beſſeren Bierreſtaurant 
müſſen ein paar beim Antiquitätenhändler aufgetriebene Biſchofs- oder Stifter- 
ſtatuen aus irgend einer ſäkulariſierten Barockkirche die künſtleriſche Kultur ver- 
treten, und der Herr Ober hängt ihnen das gemeinverſtändliche Plakat um den 
Hals, daß „ab heute“ Salvator zum Ausſchank gelange; unter dem Plakat ſieht 
man dann noch Namen, Titel und Jahreszahl des armen Biſchofs, die im gebil- 
deten Berlin niemals fehlen dürfen, ganz wie bei der Polizei. 

Von Berlin will ich lieber gleich wieder aufhören. Was uns verſöhnend 
immer wieder hinaustragen muß aus dieſer Stadt in eine Welt von ruhig freier 
Schönheit, das iſt ja, außer den großen Seeflächen, das nahe Potsdam. 

Aber auch da! Unter Kolbenſchlägen, die uns die Geſchichts- und Runft- 
befliſſenheit von heute verſetzt, genießt man dieſe vom Zauber der Erinnerung 
überſponnene geſchmacksariſtokratiſche Herrlichkeit. Da hat man im großen Garten 
in der Hauptallee, die den Blick auf Sansſouci öffnet, eine Marmorkopie nach 
Rauchs Friedrich dem Großen aufgeſtellt. Natürlich mußte dabei unter den Pferde- 
bauch ein weißer Kloß von Mannsdicke geſchoben werden, weil bekanntlich ein 
Bronzepferd auf zwei Hufen ſtehen kann, ein marmornes aber nicht einmal auf 
vieren. So ſteht nun dieſes weiße Monſtrum mitten im Wege, macht den alten, 
feinen Durchblick zu Schanden und überſchneidet fih außerdem noch mit einigen 
ähnlichen Störungen der Allee. Droben, auf dem ehemaligen Potsdamer Wein- 
berg, liegt des großen, einſamen Friedrich Schlößchen, Knobelsdorffs kaum vom 
geſamten Rokoko übertroffenes Werk. Wie eine lachende Arpeggie von einem 
Flügel zum andern läuft der ſandſteinerne Figurenſchmuck die Faſſade entlang, 
nach Form und Farbenton vollendete Einheit mit ihr, dieſe ſich wohlig dehnenden 
Männer und üppig aus der Herme blühenden, die Arme werfenden Weiber. — 
Aber was iſt hier geſchehen! Um dieſes reſervierteſte und heiter ſouveränſte aller 
Schlößchen in feiner altersfeinen Hellgold- Tönung klotzt abermaliger zuckerweißer 
Marmor, dicke koloſſale Badewannen ſtehen zwecklos im Freien und zu Stumpf- 
ſinn ſtiliſierte Löwen ſchauen als lebloſe Maſſen in ſie hinein. 

Alles herzensgut gemeint, in ſeiner Art rührend, und vollends das, was in 
dem Zimmer der Sterbeſtunde von 1786 geſchehen ift, um die Erinnerung, hier 
wo man mit angehaltenem Atem eintritt, durch einen Marmorberg zu unter- 
ſtreichen. Ich denke gar nicht daran, daß mir jeder zuſtimmen foll, wenn ich pietät- 
voller fände, man trüge ihn wieder weg. Sicherlich iſt dieſer im Marmor ſterbende 
Friedrich von Harro Magnuſſen für viele, viele Leute gerade das Richtige, es 
nimmt ihnen — nichts. Für die Art Leute, die auch erſt glücklich ift, wenn in dem 


Heyck: „Künſtleriſche Kultur“ 147 


wilden, ſchönen Höllental bei Freiburg auf dem „Hirſchſprung“ benannten Felſen 
ein blecherner Hirſch aufgeſtellt ift, uſw. ch habe nur den Einzelfall genommen, 
der am nächſten zur Hand lag, weil er dem allgemeinen oder allgemeinſten Orange 
nach Geſchmacksbetätigung konform ift. 

Es iſt ja der gleiche, der durch das ganze weite deutſche Reich geht und jede 
feiner Schönheiten, feiner Erinnerungen darauf anſieht, was man zu deren Verdeut- 
lichung noch tun könnte. Auf den ſagenumwobenen Bergen muß ein gewaltiges 
Futtermauerdenkmal die Stimmung vernichten, wegen der es draufgeſetzt iſt; mit 
Ach und Krach ift das „Loreleydenkmal“ vorläufig abgewendet; der Binger Rhein- 
biegung droht ein großes, nationales Bismarckmonument, auf das doch wahrlich 
nicht ein ſolches Odium geladen werden ſollte; den Blick auf Koblenz und die 
Moſelmündung vernichtet ein wilder Denkmalskontur, deſſen labyrinthiſche Linien 
der befte Rebusrater nicht auseinander bringt; in den Städten zerſtören fade Mar- 
mormänner das Architekturbild und die atemfreie alte, ſchöne Näumigkeit der 
Märkte und Plätze; moderne Amts- und Poſtgebäude als Talmikopien der roma- 
niſchen oder Renaiſſanceſchönheit ihrer Städte überſchreien die echten Gebäude 
dieſes alten Stils, ſolange, bis man auch ſie zu Talmi „reſtauriert“. 

Aberall iſt Kunſtaktion. Wo früher neben dem Dom oder der Kirche, etwa 
unter einer Linde, ein Nothäuschen aus gebogenem Blech ſtand, welches der Un- 
beteiligte gar nicht zu ſehen brauchte, ſteht heute eines preislich da im — Stilcharakter 
des Gotteshauſes: wie Mama und Kind. Aber die heißen's gut, die immer glauben, 
ein Stil tut's, und niemals begreifen, daß Stil etwas ganz anderes iſt: inwendi- 
ges Gefühl, richtiges Gefühl, richtig empfindender Takt. Mit den Stilen, mit der 
Bildung in Kunſtdingen, mit den unzähligen Schulen, Muſeen, Borbilderfamm- 
lungen, Publikationen will man es zwingen. 

Immer mehr junge Leute, die doch künftig etwas „können“ follen, zieht man 
aus der Lehre hinweg in ſchabloniſierende Schulen, aus der Werkſtatt hinweg, wo 
jie ehedem dem Meifter am entſtehenden Einzelwert den feinen Sinn und die 
Kunſtgriffe ablauſchten. Man ſetzt ſie über Bücher, über Vorbildermappen, daß 
fie aus Vorhandenem eine geleimte Kopie oder ein „originelles“ Ouodlibet von 
gegenſeitig unmöglichen Motiven zuſammenſtoppeln lernen. Am Schluß des fo- 
genannten Studiums ſteht an der Stelle des Gefellen- und Meiſterſtücks, die einft- 
mals gekonnt ſein mußten, die Lächerlichkeit eines Examens und Diploms. Ob 
man etwas verſteht, etwas kann, etwas inwendig fühlt, etwas ſelber als lebendiger 
Menſch ſieht und empfindet, iſt nicht nur nebenſächlich, nein, es ſchadet nur, man 
kommt dadurch mit allem Maßgeblichen in Konflikt. Das Eingetrichterte iſt alles. 
Daher überall das Geſtrige, Hiſtoriſche, das einmal an feiner Stelle richtig — Ge- 
weſene, das zur neueſten Mode Zuſammengeſuchte, niemals aber das Lebendige. 
Ein Mann hatte dieſes, aber der iſt ſoeben ſchon wieder geſtorben, wie er gerade 
anfing, auf die Zeit zu wirken, ich meine Meſſel. 

Die ganze ungeheure Kunſtbetätigung krankt an der ewigen Gefchichtlich- 
keit, die — was zwar paradox klingt — eins iſt mit Traditionsloſigkeit. (Zu der 
deplacierten Geſchichtlichkeit kommt die deplacierte Ausländerei, was nur das- 
ſelbe in Grün ift. Letzte Neuheit: engliſche Parterre-Landhäuſer in engen Ber- 


148 Heyd: ,,Rinftlerifhe Kultur“ 


liner Vororten und entſprechend mißhandelt, das Dach bald bis oben aufgeriffen 
von einem Giebel, bald jäh bis an die Erde hinuntergezogen, und zwei Miets- 
ſtockwerke mit Manſardenwänden in das nun auf einmal zur Hauptſache ge- 
wordene Dach hineingemogelt. 

Immer Vorbild, und nie ein eigenes Bild. Wie luſtloſe Schüler, die einer 
dem andern auf die Tafel gucken und zu Hauſe ihre Eſelsbrücken haben, ſo treibt's 
die ganze große Zahl. Und ſtets, bei dem freſſenden Bedürfnis nach immer Neuem, 
macht irgendein eilfertiges kulturgeſchichtliches Mißverſtändnis das größte Mode- 
geſchrei. Biedermeier iſt vorbei, momentan will „Directoire“ werden; bis zu den 
Satinfabrikanten haſcht man nach dem neuen Wort. 

Der Künſtler krankt an Kunſtgeſchichte, und der Tagesfeuilletoniſt krankt 
daran, daß er nichts von Kunſtgeſchichte verſteht. Denn dann hätte er Maßſtäbe 
und blieſe ſich nicht bei jeder Neuheit, die aber ſtets eine korrumpierte Entlehnung 
ijt, die Lunge vor Entzücken aus. Im übrigen iſt er nur ein gehetzter, ſonſt ein red- 
licher Mann. Er ſieht und ſpürt doch, wie beiſpielsweiſe ſchon nur der alte Scha- 
dow ein Kerl war, daß die Heutigen ſich lieber ein paar Tage nicht im Spiegel 
ſehen. Aber es braucht immer erft eine Schadow-Ausſtellung, daß er dahinterkommt. 
Ein dunkles Wünſchen hinterbleibt, aber weiter haſtet die nervöſe Ahr des Tages 

Ich bin ungern grob, ich muß mich nur kurz Toilen, Und einer muß es ein- 
mal ſagen. Was kommt bei all unſerer wahnſinnigen Kunſtpaukerei heraus? 
Nur Entfremdung von der Ehrlichkeit, vom Eigengefühl, vom ſicheren natürlichen 
Takt. Zit es für ehrliche Leute möglich, fich heute genau fo lebhaft für Marses zu 
begeiſtern, wie geſtern (und morgen wieder) für Liebermann? Beides durch- 
einander kann doch nur der, der keine Spur von Gefühl dafür hat, was beide Künſt⸗ 
ler können (oder nicht können) und vor allem, was ſie, getrennt voneinander durch 
die ganze Breite der Menſchheit, mit ihrer Kunſt wollen. 

Wo aber mit ſolcher Hilfloſigkeit und inneren Langeweile das Kunſtgetue 
auf der Oberfläche wirr umhertreibt, da wird dann das Feld verheißungsvoll für 
geſchäftige Roheiten und frivole Parodien, auf die ja der Witz unſerer Tage am 
innigſten geſtimmt iſt. Da nun glücklich den beſſeren Kreiſen der Name Rembrandt 
hinlänglich in die Ohren getutet iſt, macht die Firma Henkel trocken aus ſeiner Ra- 
dierung des „Fauſt“ oder „Alchimiſten“ ein ganzſeitiges Sektinſerat, das dann 
zwiſchen den Bildern der Münchener „Jugend“ wie eines von ihren prangt. Die 
Normannenſchiffe des Teppichs von Bayeux, kaum ehe das Publikum ſie kennt, 
find Iden wieder Plakat geworden für „Purgen, das ideale Abführmittel“. Und 
bei Wertheim, zu deſſen Lobrednern ich ſonſt überzeugt gehöre, liegen Tiſchdecken 
und Rückenkiſſen, worauf „dem deutſchen Haufe“ die altägyptiſchen Wandmale⸗ 
reien zu eigen gemacht werden ſollen. Der arme Dante endlich, als goldbronzierte 
Büſte oder als altdeutſche bemalte Holzſkulptur aus Gips, ſteht mit Raritatur- 
fratzen zuſammen im Schleuderbazar. 

Dieſe Kunſtgeſchichtsmeierei ſei Bildung? Reſpektloſigkeit iſt ſie vor allen 
Dingen. Alſo nichts weniger als Bildung; eine innerlichſt brutale, aber weil's 
Mode iſt, von niemand mehr deutlich gefühlte Zudringlichkeit und Allesbefingerei 
iſt ſie nur. Wer wirkliches Intereſſe für die vor viertauſend Jahren gemalten 


Send: „Nünſtlerlſche Nultur“ 149 


agyptiſchen Szenen hat, der verträgt fie trotz aller Lichtbildervorträge nicht als 
Frau Buchholzens Rückenkiſſen. Und wer wahrhaftes Geſchichtsgefuͤhl hat, der 
empört ſich, daß man die alten Könige, die ſich ganze Pyramiden erbauten, um 
im Tode ſicher zu ſein, grabſchänderiſch herausholt, ſie nackt auswickelt und als 
vertrodnete Mumiengeſichter in die Glaskäſten des Muſeums zu Giſeh legt, zur 
weidlichen Beluſtigung für Cooks und Stangens Reifende. 

Das Abel ſitzt eben viel tiefer, und man darf nicht zu ſehr die einzelne Erfchei- 
nung anklagen. Die Kunſtbetätigung, auf die im engeren und produktiven Sinn ich 
zunächſt wieder zu ſprechen komme, ift dank des lehrhaften, nicht lernhaften Unter- 
richts und der beliebten Handbücherei in ein eingebildetes, aber unſicheres Berlitz 
ſchool-⸗Verhältnis zum Künſtleriſchen und allem Geſchmack gelangt, und darüber 
hat das naive Verhältnis, ſoweit wir es als natürliche Sprache ſchon hatten, ver- 
loren gehen müſſen. Das naive und taktvolle Kunſtgefühl unſerer vorletzten Jahr- 
hunderte brauchte ja darum nicht das zu ſein, das etwa ſchon als Volk die alten 
Germanen angeboren beſaßen — der „germaniſche“ Stil- und Runenunfug heut- 
zutage iſt vielmehr nur einer unter allen übrigen. Gefühl für Richtiges und 
Schönes drang auch auf andere Weiſe als durch die Bilder der Natur ſeit alters 
durchs Volk und wurde unvermerkt — was das Wichtigſte ift — von ihm aufge- 
nommen. Um nur einiges aufzuzählen: durch gut gebaute Kirchen und deren 
lichte, harmoniſche Verhältniſſe; durch die zahlloſen Altargemälde, vor denen die 
katholiſche Frömmigkeit ſich unmittelbar auf die Betbank wirft, fo daß fie die „hei- 
ligen“ Bilder auch wirklich ſieht, mit ihren vielleicht keineswegs großartigen, aber 
immerhin lieblichen oder ſchwungvollen und damals immer doch gekonnten Figuren 
und Geſichtern; ferner durch die naiv angeftaunten, aber auch naiv mit dem Ge- 
fühl begriffenen ſchönen Schlöſſer der alten Grandſeigneurzeiten; und immer durch 
ein in Stadt und Land gedeihlich beſchäftigtes, weil unüberfülltes Handwerk, 
welches für die großen Herren des Klerus und des Adels arbeitete, die keine ge- 
lehrten Stilabenteuerlichkeiten wollten, aber dafür das Beſtellte nur in innerer 
und äußerer Sicherheit aus dem Stil der Zeit vollendet ertrugen. Da war Sra- 
dition im Volke, und ſie ſtand zu der Naivität deswegen nicht im Widerſpruch. 
Darum iſt uns vom Mittelalter bis zu den Zeiten des Rokoko kein Stuhl oder 
Schrank oder Leuchter erhalten, der nicht wohltuend und ſchön für Auge und Emp- 
findung iſt und den nicht eine, wenn auch ſtille, beſchränkte künſtleriſche Kultur 
uns als anſpruchsloſes Zeugnis hinterlaſſen hat. 

Das iſt vorbei. Allein noch in jenen ſelbſtbegnügten deutſchen Gegenden, 
wo der Menſch nicht viel weiter zum Gedankenglück braucht, als daß man „g'ſund“ 
bleibt und der geiſtliche Herr die Seele abſolviert, da entzückt fih unfer Auge noch 
heute, wie richtig und gut die Häuſer gebaut ſind, welche naive Gartenkunſt ſie um- 
blüht, wie ſachverſtanden und hübſch das Gerät ift und was für eine feine und dis- 
krete Handwerkskunſt in Schnitzerei und Ornamenten ſteckt. Das aber ſind Inſeln 
des Geſchmacks geworden, bewohnt von Bauern. Sonſt hat die Bildungsfuchſerei 
die küͤnſtleriſche Kultur zu Haus und Hof hinausgejagt, die — fie uns bringen will. 

Und dazu kommt ein anderes: der raſende materielle Wettbewerb. Die Er- 
findung kann auch verſuchsweiſe das Schöne nicht mehr zum oberſten Ziel ſetzen, 


150 Heyd: „Rünftlerifhe Kultur 


fondern nur noch die Senſation, das Allerneueſte. Und abermals durch die Be- 
dingungen des Kampfes um die größte Senſation wird fie zum grell überfchreien- 
den Mißton gedrängt. Nehmen wir wieder das Beiſpiel des Plakats. Es gab eine 
Zeit, wo eine flüchtige Ausſicht fih auftat, als ob am eheſten noch durch die wer- 
bende Zweckidee des Plakats die Kunſt zu eindrucksſtark mit ſicheren Mitteln hin- 
geſchriebenen Schönheiten folle genötigt und erzogen werden. Das ift raſch vor- 
übergegangen, denn diefe Verſuche blieben eindruckslos auf unfer von einer Runft- 
ſenſation zur andern gehetztes Publikum. Die Aufgabe des wirkſamen Plakats iſt 
ſchon wieder die Aufreizung, die bewußte Dummheit oder Ekligkeit, die uns ärgern 
und damit erreichen foll, daß wir fie nicht überſehen. Genau aber mit dieſer In- 
tention des um jeden Preis Auffälligen werden auch Möbel, Kleidermoden und 
ſogenannte Kunſtwerke heute ausgeſonnen. Der Ellbogenkampf aller gegen alle 
ijt die Charybde, die jegliche Reſtchen oder Anläufe von Geſchmack wegſtrudeln 
und verſchlingen muß. Dagegen ijt vorläufig nicht aufzukommen, ſelbſt der tunft- 
verſtändigſte Staat ſtände wie ein Don Quichote gegen Windmühlenflügel. — 

Aber wir müſſen die Fragen noch anders und erweiternd ſtellen. Was über- 
haupt bringt in ein Volk den Geſchmack? Tut es die Bildung oder tut ſie es nicht? 
Sit nun einmal das eine Volk für Geſchmack und Schönheit beſonders begabt, 
und das andere wieder hoffnungslos auf alle Dauer nicht? 

Springen wir von uns auf die alten Griechen hinüber. Es wird ja wohl 
nicht beſtritten werden, daß ſie einiges vom Schönen verſtanden haben, trotzdem 
ſie ſich wohl weder in Klingers Brahms hineinſtudiert noch Rodins drückenden 
„Denker“ oder Sindings Schienbeinküſſer für das Sublimſte an menſchlicher Offen- 
barung erklärt haben würden. 

Wie find nun die Griechen zu derjenigen Schönheit und künſtleriſchen Kultur 
gekommen, die feit den Zeiten der Polyklet und Phidias — jahrhundertelang, 
wenn auch nicht mehr geſteigert, ſo doch in reſpektabler Höhe erhalten — all ihre 
Lebensformen adelt? Die ihre ganze Täglichkeit durchdringt, bis zur vollendeten 
Linie jedes Rruges und Olfläſchchens, bis zur naiven Nobleſſe jeglicher Gebärde, 
bis zum ſchönheitsſicheren Tragen des einfachſten oder auch wieder des vielfältig 
drapierten Gewandes? Gab ihnen diefe lebendige Schönheit eben ihr hochgeftei- 
gerter, auf alles und jedes ausgedehnter kunſtgewerblicher Sinn, in Gemeinſam- 
keit mit dem höheren öffentlichen Kunſtbetrieb? 

Nein, dagegen liegen die unanfechtbaren Beweiſe auf der Hand. Hier iſt 
vielmehr aus dieſen Beweiſen, aber auch aus anderen, mit allem Nachdruck ein 
Satz aufzuſtellen, den kein Menſch bei uns und vor allem auch nicht der kultur- 
eifrige Staat ſich klar zu machen ſcheint. Ihn zu erweiſen, iſt der poſitive Zweck 
dieſes Aufſatzes. Dieſer Satz ift: Das Aſthetiſche entſteht im letzten 
Arſprung gar nicht durch die Kunſt, ſo daß es von ihr 
ins Leben übergeht. Sondern aus dem Leben, aus deſſen geeigneter 
Vorentwicklung muß das Aſthetiſche oder das Schöne werden, daß es von da aus 
die Kunſt empfängt und aufnimmt. Dann mag fie damit wuchern und weiter- 
erobern und von fih aus die Täglichkeit wieder bereichern und erfreuen. 

Die Griechen waren ein recht altes Volk geworden, als ihre ſchon längft maffen- 


Heyd: ,Milnfilerifhe Rultur“ 151 


hafte Runft wie eine neue verjüngende Empfängnis in fih den Sinn des Schönen 
aufnahm, den ich nicht durch Definitionen hier erſt verunklaren will. Wir über- 
ſehen aber dieſe kulturgeſchichtliche Altersreife der „klaſſiſchen“ Hellenenzeit ſo 
leicht, weil die Griechen erft fpat Bücher und Nachrichten für uns zu ſchreiben be- 
gannen. Sie waren längſt in vorklaſſiſcher Zeit ein verblüffend „modernes“, 
auf kriegs und feegerüftete Kolonialpolitik angewieſenes Gewerbs- und Handels- 
volk geworden, längſt kein ſtillſäſſiges Ackerbürgervolk mit Feld-, Gemüſe-, Oliven- 
und Weinbau mehr. 

Sie waren Menſchen, die ſchon zur Zeit der homeriſchen Gedichte mit be- 
wußten Gedanken die Reize und Verſöhnungen des Lebens feierten, was immer 
erft die reiferen Völker tun. Sie hatten auch gar keine kindlichen Angſte vor den 
Göttern mehr, in dieſer vermeintlichen Frühzeit, ein Diomedes kämpft bei Homer 
mit dem ehernen Ares und verwundet ihn, daß der Gott ſich, wie zehntauſend 
Männer ſchreiend, aus dem Staube macht. Der Menſch ſchon der homeriſchen 
Zeit begriff die Göttergeſtalten als Abſtraktionen der geſteigertſten Wefenseigen- 
ſchaften von ihm ſelbſt, und inſofern zu Deukalions Geſchlechte ſtiegen damals 
die Olympiſchen herab. Dieſe Griechen hatten ſchon die Kriterien des göttergleichen 
oder weltlich „vollendeten Menſchen“, auf deffen von Stand und Reichtum un- 
abhängige Formulierung einzig nach ihnen nur wieder die ganz reife Renaiſſance, 
zur Zeit des Caſtiglione, gekommen iſt. Und ſie hatten dem allem entſprechend 
den Sport, der ſehr zu unterſcheiden iſt vom naiven Kinderſpiel, das von der Würde 
des Erwachſenen verſchmäht wird, der ſich aber immer dann einſtellt, aus einem 
Sehnen nach Gegengewichten, wenn die Völker es überdrüſſig werden, allzu lange 
fon unjung, immer nur geſchäftlich, erwerbsgierig, in Überlegungen und Ge- 
dankenarbeit hingehetzt zu ſein. 

3a, fie waren ſchon damals fo reif an Selbſtrechenſchaft geworden, daß etwa 
gleichalterig mit den homeriſchen Gedichten die um 820 v. Chr. einſetzende Lykur- 
giſche Geſetzgebung die ganze Lebensidee des individualiſtiſchen Vorteils und 
Geſchäftsgewinns zur Seite warf wie ein vertragenes Hemd. Was ſie mit aller 
Bewußtheit als radikale Reform durchſetzte, das war die Frugalität, die Selbit- 
loſigkeit, der unbedingte Gemeindefinn, die Mannszucht, die Körperkultur, der 
Sport als Inhalt des Tages, der entſchloſſenſte Verzicht auf Überfeinerung, die 
Rückkehr zur Natur. Auf dieſer Baſis erhob fih ihre neue, pſychologiſch begründete 
Dafeinsform reſpektvoller und ſelbſtachtungsvoller, aufs höchſte ſolidariſcher, fid 
den ubrigen Hellenen gelaſſen und witzig überlegen fühlender Menſchen, die die 
Redfeligteit des Geſchäfts „lakoniſch“ verachteten. Eine radikale, kulturgeſchicht⸗ 
lich aber ganz „ſpäte“ Umwandlung, für die bei uns noch niemand reif wäre als 
— ein paar vor ihrem eigenen Reichtum und Komfort davonflüchtende, als Natur- 
menſchen lebende Allerreichſte in Nordamerika, die man freilich auch dort nur erſt 
als Sonderlinge begreift. 

Sparta wurde auf lange das zurückgezogenſte Gemeinweſen; aber in allem, 
was Bürgerfinn, Tapferkeit und Sport anlangte, wurde es muſtergebend und 
machte Schule. Die Spartaner wurden zuerſt die ſchönen Menſchen Griechen 
lands, und zwar die Männer und die Frauen, das heißt die nach dem Willen des 


152 gend: „Rünftlerifhe Rultur “ 


Geſetzes bis zur Eheſchließung am Turn; und Sportſpiel teilnehmenden großen, 
geſunden, kraftgeübten Mädchen. Übrigens auch ſonſt im Peloponnes, bei den 
Aoliern und u. a. in Theben, ſtanden die Frauen nicht ſozial jo tief unter den Män- 
nern wie in Athen. Drum ſah man die Mädchen im ſportlichen Wettlauf und bei 
ihren Spielen, und unter den Aoliern konnte um 600 v. Chr. eine Dichterin von ſo 
hoher geiſtiger Bedeutung wie Sappho entſtehen, die wieder einen Kreis „vornehmer 
Jungfrauen“ als Schülerinnen um fic fab. Dagegen beharren allerdings Attika und 
das Soniertum, die am meiſten das helleniſche Gewerbe- und Kaufmannsweſen 
vertreten, bei einer halborientaliſchen Schicklichkeit, die die Frauen geiſtig und 
geſellig niederhält, ſie ſo ziemlich ins Haus einſperrt und dem Manne die deſto 
eifrigere Vorliebe und Bewunderung übrig läßt für die kleinen und großen 
Hetären, für die durch Begabungen, Schönheit und kluge freie Lebensmeiſterung 
ſich ihre Stellung erobernden Aſpaſien und Phrynen. In dieſen Dingen verſchieben 
wir die Norm, wenn wir immer unwillkürlich Athen, weil wir das meiſte und das 
ſchönſte von ihm wiſſen, mit dem übrigen Griechenland identifizieren. 

Es ift das Leidige beim Sport, daß er nahezu notwendig zum Rekord und 
Championweſen führt, wenn dem nicht entgegengearbeitet wird. Aber die Griechen 
haben doch nichts geahnt von der entréemäßigen Menſchenſchinderei, die heute 
bei uns als Sport geht. Und fie haben nicht einfeitige Spezialleiſtungen heran- 
gezüchtet. Durch die überwiegend einfachen Ubungen und Spiele des Körpers 
in feiner wundervollen leichten Freiheit haben fie geſunde Stärke un d Behendig- 
keit zugleich ausgebildet; nicht muskelknollige, banauſiſche Athleten, ſondern traft- 
voll elegante, geſchwinde, geſtreckte Geſtalten erzog das Gymnaſion, deſſen Abe 
immer der Wettlauf blieb. 

Des weiteren aber hat es der Sport an fih, daß der Menſch auf das Phy- 
ſiſche bei ſich und anderen zu achten beginnt und auf die Bilder des Spiels. Und 
hier nun ift aus folder gewohnten Beobachtung der Sinn erwachſen für das þar- 
moniſch Richtige und Rhythmiſche in dem Einzelnen wie in der Gruppe, für das 
wohltuend befriedigte Gefühl daraus, alſo für das Schöne im Menſchen und für 
das Schöne in Bewegung und Kompoſition der Bilder. 

Etwa dreihundert Fahre vor der Aginetengruppe waren die Griechen z u 
ſolchen äſthetiſchen Erreichungen bereits gelangt. Das 
bezeugen uns durch zahlloſe Stellen und durch ihre Geſamtauffaſſung die homeri- 
ſchen Gedichte, denen der programmatiſche Sport, zum Beiſpiel zur Totenfeier des 
Patroklos, ſchon nicht nur etwas Selbſtverſtändliches, ſondern auch Weihevolles und, 
wie wir fagen würden, Ideales ift. Ich verweiſe für das bewußt äſthetiſche Sehen 
dieſer homeriſchen Griechen nur auf die Szene der Nauſikaa mit ihren Mägden 
oder auf das feſtliche Reigenbild in der Ilias 18, 593 ff. 


Blühende Jünglinge dort und vielumworbene Jungfraun 
Tanzten, einander die Hände erfaſſend an den Gelenken. 

Schön gewobenen Chiton trugen die Jünglinge, hell wie 
Glänzendes Ol, und die Mädchen umhüllte zarteres Linnen. 
Jegliche Tänzerin ſchmückte ein lieblicher Kranz, und den Tänzern 
Blinkten goldene Dolche an ſilbernen Gürtelgehängen. 


Heye: „Rünftlerifhe Kultur“ 153 


Bald nun tanzten alle mit leichtgemeſſenen Tritten 

Kreiſend rundum, ſo wie oft die befeſtigte Scheibe der Töpfer 
Sitzend mit prüfenden Händen herumdreht, ob ſie auch laufe; 
Bald dann tanzten ſie wieder in Reihen gegeneinander. 

Zahlreich ſtand das Gedräng um den lieblichen Reigen verſammelt, 


Innig erfreut 


Da iſt die modernſte objektive Freude an dem anmutvollen Bilde, die ſich 
ſogar jchon durch das Medium der Zuſchauenden auszudrücken weiß. 

Und nun vergleiche man neben dieſem vom Dichter künſtleriſch hingeſtellten 
Bilde die zeitlich entſprechende griechiſche Kunſt. Sie möchte ja derartiges bilden, 
denkt an ſolche Darſtellungen und tut ſich in der Vorſtellung gut; obige Stelle ge- 
hört in die Beſchreibung des von dem Götterſchmied Hephäſtos für Achilleus ge- 
fertigten Schildes. So ijt es: die Kunſt möchte mit mit dieſem bewegten fport- 
lichen und feſtlichen Leben, das die Schönheit gefunden und begriffen hat — und 
das Recht auf die Feſte begriffen hat aus der ſauren Mühe und Arbeit, denn auch 
ſoweit iſt ſchon Homer. Aber wie ſtammelt dieſe Bildnerei der homeriſchen Periode, 
der niemand helfen kann als ſie ſelbſt; wie klebt ſie noch in kindlichen oder rohen 
Traditionen, wo das Auge und der Sinn des Sehens weit vorauseilen, um Jahr- 
hunderte! Nein, nicht erſt die Kunſt der Griechen hat ihnen das Gefühl des Lebens 
frei und großzügig gemacht, ſondern im Nachtrab, mühſelig hat ſie allmählich das 
Leben eingeholt, bis ſie endlich dann ſelber frei und großzügig, edel und ſicher ward. 

Und nun ergibt fih Gegenprobe und Beſtätigung bei den Völkern, die anders 
als die Griechen aus ihren Wirklichkeiten zu keinem bewußten Schönheitsbegriff 
gelangten. Bemerkenswerteſtes, Erſtaunliches in Beobachtung und Technik haben 
die mehrtauſendjährige Kunſt der Agypter, die der Aſſyrer, die der Inder auf dem 
Wege geſteigerter Handwerfstradition fih errungen. In ihrer Art unübertrefflich 
haben ſie dargeſtellt, was das Leben bei ihnen ſah oder was in den Begriffskreis 
der Lebenden fiel: majeſtätiſche Könige, diſziplinierte Krieger, prachtvolle Kämpfe 
und Zagden, höchſt korrekte zeremonielle Trachten und kennzeichnende Roftüme, 
geſchmeidige Tänzerinnen des Nillandes in realiſtiſch feiner Erlauſchung der ſchwin⸗ 
gend ekſtatiſchen Bewegung, ſpukhafte Götter mit Sperberköpfen, Krokodilköpfen, 
Löwenköpfen, geflügelte Greife mit Menſchenköpfen, brahmaniſche Götter mit 
maſſenhaften Armen, Beinen und Köpfen, und abermals Tänzerinnen, indiſch 
nach dem Geſchmack einer genudelten, weichen Uppigkeit, dann famoſe Tierfiguren, 
intereſſante ſtiliſierte Ornamente 

Nur auf das eine ſind ſie bei aller „Kunſt“ nie verfallen, ganz einfach deshalb, 
weil ihr Leben dazu nicht gelangt war: den Begriff einer durch fich ſelbſt erfreuen; 
den Schönheit. Wenn fie Tanzbilder ſehen, fo ſieht dieſe nicht eine edlere Er- 
ziehung des Auges, wie bei Homer, wo auch der Reiz des Farbenſchimmers, der 
hellen Gewänder in ihrer leicht mitflatternden Bewegung ſchon bewußt beachtet 
wird. gene Bildnerei, fei es die ägyptiſche oder indiſche, ſieht die dortigen Tänze- 
rinnen nur erſt mit den Augen einer eindeutigen Erotik, die plump wie die Praxis 
ſelber vor allem auf der Entkleidung beſteht. Oder fie ſieht ihre ſonſtigen Ge- 
ſtalten und Bilder mit den Augen des Handwerkers, der ſeine Mitmenſchen recht 


154 Send: „Rünftlerifche Kultur“ 


gut erfaßt, mit dem Augenaufſchlag des Untertanen, mit dem Gedankengang 
des formelkundigen Beamten, mit der Zweckabſicht des Prieſters, der die guten 
Leute vor den ſpukhaft unmenſchlichen, phantaſtiſch ungeheuerlichen Göttern 
gruſeln macht. 

Der Grieche mit dem Gefühl des ſelbſterkämpften und ſelbſterzogenen Lebens 
weiß von dieſen alten, dumpfen Angſten nichts mehr. Er erinnert gar nicht mehr, 
woher er die Ungeſtalt des Minotaurus oder der Harpyien, woher er eigentlich die 
kuhäugige Hera und eulendugige Athene hat; aus den alten barbariſchen Mythen 
formt er längſt ſchon eine lebenshelle, menſchlich poetiſche Welt. Auf dem Spiel- 
platz und Feſtplatz hat er Begriffe und Normen dieſes menſchlich Schönen, Vollen- 
deten gefunden. Aber von der Anmut, vom Zdeal des Körperlichen, kommt er wei- 
ter zu dem des Perſönlichen. Mit Recht gewinnt er die Maxime, daß, wer fid) tör- 
perlich überwacht und im leidenſchaftlichen Wettkampf zur höchſten Leiſtung ſich 
anſtrengt, die doch nichts einbringt, als beſtenfalls ein öffentliches Genanntwerden, 
einen Zweig des überall wachſenden Lorbeers, daß der auch ſeeliſch kein gewöhn- 
licher, kleinlicher Spießbürger und geiſtesträger Banauſe mehr bleiben werde und 
daß eine offenkundige Beziehung beſtehe zwiſchen geſunder Kraft von Körper und 
von Geiſt und Seele, zwiſchen Adel der Erſcheinung und Adel des Wollens und 
Willens. Das unermüdliche Turnen und Spielen und körperliche Selbſtbeobachten, 
dieſes tägliche Geſprächsthema aller, das iſt der ſpezifiſch griechiſche Hebel, womit 
ſich wie am eigenen Schopfe dieſes maßlos gierige, liſtige, profitliche, ſinnliche 
Volkstum über ſich ſelbſt emporgezogen hat. Dies iſt der Ausgangspunkt, von 
wo aus ſich die Kräfte, die Begabungen, Gedanken, Lebenswünſche und endlich 
auch die Laſter veredeln, die das Griechentum ſchon als Beſitz mitbringt aus einer 
für uns ſcheinbar frühen, aber darum nichts weniger als primitiven und naiven, 
fondern in Überliſtung, Betrug, Ehefrauenverführung, Mitgiftjägerei, Witwen- 
umfreiung, Knabenliebe und ſonſtigen Kennzeichen recht „reifer“ Kultur ſchon 
wohlbewanderten Städtebewohnerzeit. 

Vom Sportplatz her, der ſomit die eigentümlich umfaſſende griechiſche Gelbjt- 
erziehungsſchule wird, veredelt fih auch die Aſthetik der Tracht. Wieder nicht etwa 
durch die Kunſt. Dieſe vielmehr gibt die Trachten im ſogenannten griechiſchen 
Mittelalter — vor der Blütezeit — ſo ſklaviſch wie ein Modejournal wieder: die 
künſtlich arrangierten Flechten und Zöpfchen und Röllchen bei Männern und Frauen, 
die mit Vorliebe geblümten und gemuſterten reichen Kleider und die Neigung des 
noch unfein und unfrei befangenen Menſchen zu gehäuftem Schmuck. Erſt durch 
die lange, mittelbare Einwirkung des Spielplatzes kehrt ſich das Verhältnis um, 
daß nicht mehr der Körper zugehangen wird mit Kleidern und Zieraten, die feine 
Rythmen entſtellen, ſondern daß das vereinfachte Kleid ein feines „Echo“ wird, 
um mit Goethe zu reden, für die bewunderungsvoll nunmehr erfaßte Eigenfchön- 
heit der Geſtalt. 

Das iſt der Weg; aus den jahrhundertelangen ſtarren Moden führt er zur 
klaſſiſchen helleniſchen Gewandung, zur Verringerung des Kleideraufwandes, zum 
einfachen Chiton, der nun aber mit höchſter, perſönlicher Kunſt angelegt und ge- 
tragen wird, nebſt dem gewöhnlich als „Mantel“ überſetzten, gleichfalls die viel- 


ccc ee a ee 


Heyd: „Nüͤnſtleriſche Rultur“ 155 


ſeitigſten Variationen der Benutzung gewährenden Umſchlagetuch. Das ganze 
Verhältnis des Menſchen zu ſeiner Bekleidung und Entkleidung wird ein äſthetiſches 
und dabei fouverdnes, und die bildende Kunſt hat dabei nach wie vor nur die Rolle, 
daß ſie mitgeht. Sie begreift ſchönheitsfreudig die freie Herrlichkeit des Körpers, 
die ſie nun darzuſtellen ſich erobert, des vollendeten, einheitlichen Zweckgebildes 
der Natur. Aber ſie will und ſoll es nicht im Gegenſatz zum Leben, ſondern folgt 
dieſem nur. Sie ſtellt ſich nicht, wie die unſere, als phantaſievolle Lüge und 
inſofern als eine ungelöſte Häßlichkeit dem gegenüber, was die Wirklichkeit er- 
trägt und gutheißt. 

Sie folgt den von Stufe zu Stufe erreichten Emanzipationen des Körper- 
lichen zur freien Schönheit, aber ſie wahrt auch die für die Wirklichkeit geltenden 
Zurückhaltungen noch. So denkt fie in all ihrem vielſeitigſten Reichtum noch 
lange nicht an die Entkleidung des Weibes, worin eine künſtleriſche Kultur von 
der Qualität der unſeren die hauptſächliche Aufgabe des Bildners ſieht. Auch nicht 
nach dem mehr oder minder armſeligen Modell im zugeſchloſſenen Atelier bildet 
— oder verbildet — der Grieche das Schöne. Ganz auf andere Art, dem Oichter 
vergleichbar, trägt er die freie Welt des Seienden in empfängnisſtarker Seele, und 
aus dem Kennen und Mitfein auf den Nacktplätzen von Jugend an ſchreibt er wie 
der Dichter das innerlich geſchaute allgemeine Schöne hin. Er lieſt es nicht ab, 
er geht dem allzu Individuellen und Porträthaften nicht nur, weil er mehr will, 
aus dem Wege, ſondern auch aus einem ſehr feinen inneren Haltmachen vor dem 
allzu Perſönlichen, welches unſere grobe und rohe Schicklichkeit nicht kennt und 
gar nicht verſtehen würde. Er iſt der freie Herr der Form, aber als Menſch eines 
ganzen Volkes, das mit Homer aufgewachſen und das imſtande ijt, einem Gopho- 
ties zu folgen, durchdringt er die geklärte Form mit dem, was er ſelber als Perſön- 
lichkeit ijt, als Mitträger einer Kultur, die feit Jahrhunderten nun das Menſchliche 
frei zu den Göttern erhebt und die Herrlichkeit der Götter als die eines ausdruds- 
ſtärkſten Menſchentums verſteht. 

So wird dieſe künſtleriſche Kultur. Nicht aus Schulen, nicht aus Lehren, 
nicht aus haltloſen Phantaſiereichen der bildenden Kunſt kommt fie; aus der Gelbjt- 
erhebung des Lebens entfaltet ſie ſich als die langſam herangereifte herrliche Blüte. 
Und darum iſt keine Lüge, keine Künſtelei in dieſer Kunſt und in der griechiſchen 
Frohempfindung des Schönen. Jeder trägt fie in ſich und mit fic; der bürger- 
lichſte Argiver oder Athener ift ein Menſch, der das Natürliche äſthetiſch verſteht 
und beifpielsweife die mit ihrem Waſſerkrug oder Fruchtkorb auf dem Kopf ſchreiten- 
den hochgereckten Geftalten der ſtarken Landmädchen fo ſkulptural und arditetto- 
niſch zu ſehen vermag, wie der Bildner, der ſie als Karyatiden an das Erechtheion 
auf der Volksburg ſtellt. Der Grieche wird ein unbemüht künſtleriſcher Menſch, 
der aber auch die Forderungen und Anfprüche eines ſolchen ſtellt und bis ins Kleinſte 
nur die von Feingefühl geführte Form noch um ſich duldet. 

Den Inhalt des Lebens edel und groß und zart zu empfinden, wird, wenn 
nicht die allgemeine Praxis, fo doch ihr bewußtes Ideal. Dieſes letzte, worauf es 
ankommt, wird uns durch nichts beſſer verdeutlicht, als durch das immer am meiſten 
charakteriſtiſche Verhalten im Grabmonument. Hier werden uns diefe vielen ſchö⸗ 


156 Send: Rünftlerifhe Rultur“ 


nen Grabreliefs zum Zeugnis, die gar nichts mehr beteuern und abbilden oder 
porträtieren, ſondern die nur eine formenedle, allereinfachſte Szene des Lebens, 
welches zum Hades gegangen iſt, wiedergeben, wobei die Andeutung des per- 
ſönlichen Gedenkens und der Wehmut allein nur aus der leiſen Sprache der Hal- 
tung in dieſen Reliefgeſtalten nachempfunden werden ſoll. 

Das iſt die Geneſis der griechiſchen „Begabung“ für das Schöne. Die Folge⸗ 
rung aber zu ziehen, wer hat es bisher verſtanden? Erſtlich einmal die Römer nicht. 
All ihr dilettantiſcher und ſammleriſcher Griecheneifer, der auf keiner lebendigen 
Vorentwicklung ſtehen konnte, hat ſie als Volk und ihre Gebildeten nicht befreit 
aus ihrer Spießerei und kleinen, gemeinen, geſchäftlichen und juriſtiſchen Spitz 
findigkeit, aus der typiſchen Dreieinigkeit von Habſucht, Dinerſchlemmerei und 
Protz, noch bis übers Grab hinaus — „von meinem Geld hab' ich's mir gebaut“, 
ſo ſteht an Monumenten des römiſchen Kurfürſtendamms der Toten, der Via 
Appia. Aber ſelbſt die Renaiſſance hat die Bedingungen, die aus der Geſamtheit 
kommen müſſen, nicht verſtanden. Sie wurde als geiſtig-äſthetiſche Erſcheinung 
von oben her getragen, von der höfiſch-patriziſchen Bildung und der vornehmen 
Zahlungsfähigkeit. Weshalb ſie auch ſo ſchnell wieder erledigt war und alle ihre 
hohen Werte, darunter das Weiterdringen von ihr aus zu den Griechen, als noch 
immer unerfüllte Programme übrig gelaſſen hat. 

So lange aber nun heute wir auch nur wie die Römer ſind: unſere Streber 
dem Klientenpöbel der römiſchen Vornehmen gleichen, der Reichtum alles gilt 
und die Genüſſe unſerer Reichen ſich unheimlich den Schilderungen der römiſchen 
Satiriker nähern, unſer Sport aber ſich ſchon wieder darin gefällt, neue Gladia- 
torenſchauſpiele und Zirkusbeſtialitäten zu erzeugen, ſo lange kann ſehr ſchwer eine 
Kunſtfreundſchaft werden, die echter als die des ſkrupellos zuſammenhäufenden 
Verres iſt, und die künſtleriſche Kultur des Ganzen bleibt einfach eine Vorgaukelei. 
Es geht nicht, wie bei den von Hauſe aus wenig edlen Griechen, aufwärts aus den 
Bösartigkeiten und Niedrigkeiten der halbgebildeten menſchlichen Natur. Son- 
dern es geht aus der an ſich gutartigen germaniſchen Natur immer ungehemmter 
in die, wenn auch überlackierte Brutalität hinein. 

And die Runft, auch für ſich genommen, wird fo nichts und kann nichts wer- 
den. Auch dann nicht, wenn ihr beſſere Wünſche vorſchweben. Sie ſcheinen ja 
nun wieder über dem Namen Marées fih zu regen, wie vor achtzehn Jahren in 
München, ſo jetzt in Berlin, wohin alles auch einmal kommen muß: über dieſem 
Künſtler, der ſo recht den in Vorſtellungen vagierenden, aber ſie nicht faſſenden, 
nicht bewältigenden Wunſch einer vom Gewöhnlichen nicht mehr in Feſſeln ge- 
ſchlagenen Lebensäſthetik charakteriſiert. Es geht aber mit dem Kauen am Pinſel 
nicht, und viel, viel tiefer liegen Problem und Erhebungsmöglichkeiten eingebettet; 
aus einer Umformung des ganzen Dafeins, aus von Grund aus veränderten Lebens- 
führungen und Lebensideen der Wirklichkeit müßte es kommen. 

Hierzu ſind allererſte Teilanſätze da. Sie müßten aber in dieſer Bedeutung 
begriffen werden. Darüber wäre einmal für ſich zu reden. Aus dem natürlichen 
Boden, ſo, wie aus der Knolle die Lilie ins Licht wächſt, nur ſo kann es kommen 
und — dauert lange. Einer ſolchen, alfo organiſchen Entwicklung ſteht aber vor- 


Appelshaeufer: Ein friſcher Morgen 157 


läufig, anſtatt ihr zu Hilfe zu kommen, ſehr viel mehr entgegen, im Grunde der 
geſamte geſellſchaftliche Zuſtand. Und inzwiſchen vermehrt alle mechaniſche Runit- 
geſchichte innerhalb der Kunſt nur das Wirrſal, und alle Staatsbemühung um Kunſt- 
bildung bleibt eine Aufwendung, die nur Einzelheiten, aber keinem umfaſſend 
erkannten Zweck zugute kommt. 


Ein friſcher Morgen 
Von 


Hans Appelshaeuſer 


War einſt ein Dichter und geſunder Denker, Da kam mit einer Freundin jene Dame 
Dem eine Dame aus den höhern Ständen Gemächlich und geputzt vorbeigeſchlendert. 


Produkte ihrer Geiſtesarbeit ſchickte. Sie fab den Denker im beſcheidnen Kleide, 
Sie bat ihn, ihre Sachen einzureichen Das Perlenſalz des Fleißes rann vom Schädel, 
An irgend eines der bekanntern Blätter, So emſig hackte er in ſeinem Garten, 
Damit ihr Name in die Zungen käme. Den Duft des morgenfriſchen Beets zu trinken. 
Das letztre hat fie freilich nicht geſchrieben, Sie ſah ihn fo und wandte leiſe lächelnd 
Der Kenner aber hat's herausgefunden. Sich voll Genugtuung zu ihrer Freundin: 
Er hat das Manufſkript mit zarten Worten Das alſo iſt er, dem ich meine Sachen 

In ihre feine Hand zurückgeſendet, Zur Publizierung unlängft überfandte? 
Damit fie eine Lehre daraus zöge, Nun iſt mir alles klar, wenn ich hier ſehe, 


Soweit dies möglich iſt bei einer Dame. Wie er wie ein Prolet die Erde ſchaufelt! 


Nicht lange drauf war unſer ſtiller Dichter Der Dichter hat die Worte wohl vernommen. 
In ſeinem Garten mit der Hacke tätig. Er hat die Dame flüchtig nur betrachtet, 
Er war ſo ſehr mit der Natur verwachſen, Die ihn ſo recht nach ihrer Art gewürdigt. 
Daß ſein Gehirn aus ihrem reinen Atem Dann hat er wieder ruhig fortgeſchaufelt, 
Die köſtlichſten der Sinnesgaben formte, Hat ſeiner Erde reinen Hauch getrunken 
Die abſeits liegen von der Alltagsware. Und edleren Gedanken nachgeſonnen 


| 


Die Briefe des alten Joſias Köppen 


Von 
Marie Diers 
(Fortſetzung) 


Greeſchenbock bei Pöpplitz, Donnerstag den 20. Dezember 1888. 
| Meine liebe Tochter Elfe! i 

Leinen Brief habe ich am letzten Freitag erhalten und freue mich, daß 
Du wieder wohlauf biſt. Nun können wir ja, Gott ſei Dank, das 
liebe Weihnachtsfeſt in Ruhe und Freude verleben. Heute morgen 
— bin ich dahinter gekommen, daß Mamſell mir einen Baum anputzen 
wollte, das habe ihr aber ſtreng verboten. Ich feh’ ja den Baum im Saal, wenn die 
Leute beſchert werden, damit iſt's genug. Man bloß keine Tuerei, das lieb’ ich nicht. 

Ich ſchreibe Dir Iden heute zu Weihnachten, weil Lepel das Paket morgen 
mitnehmen foll. Es ift auch höchſte Zeit dafür, jetzt haben fie auf allen Poſtämtern 
zu tun. Die Eier werden hoffentlich heil ankommen, jetzt ſind ſie in Berlin wohl 
doll teuer, ſchreibe mir doch mal, wieviel die Mandel koſtet. Und dann ſind's am 
Ende auch noch Kalkeier. Die ſchwarze Henne und die beiden kleinen bunten legen 
Iden feit November jeden Tag, läßt die Mamſell fagen. Die Butter ift auch von 
der beiten; Ihr werdet's wohl ſchmecken. Zits wahr, daß bei Euch die Milch fo 
ſchlecht iſt? Ich denke alle Morgen, wenn ich hier meine Sahne in den Kaffee 
gieße, an Euch. Möchte Euch wohl gerne abgeben. 

Den Haufen Pfeffernüſſe und Pfefferkuchen, den Mamſell Dir ſchön ein- 
gepackt hat, wirſt wohl bald hinter haben, Diern, ſo wie ich Dich kenne. Leckerſchnut' 
warſt ja immer. Weißt, wenn in meinem Weihnachtsteller ein Loch war, ſagte 
Mutter immer: „Das hat entweder Fiek Ballermann genaſcht oder Elſe.“ Denn 
Deiner war ſchon lang alle, ehe das Feſt rum war. Und was ich noch von den Pfeffer- 
nüſſen ſagen wollte: ich habe ſie gekoſtet. Sind ja ganz ſchön, aber ſo, wie Mutter 
ſie machte, hat noch keiner ſie rausgebracht, kein einziger. Es fehlt immer was 
dran. Deine Mutter mein' ich, Elſe. Bei Großmutter waren ſie viel weicher, 
ſo wie hier die Bauern backen. Aber ſchöner. 

Dann habe ich Dir noch Kleiderſtoff gekauft bei Engelmann. Du wirft Dich 
wohl freuen. Eigentlich iſt's Unfinn, fo zarte roſa Farbe, und dick muß es doch auch 


Olers: Die Briefe des alten Zoflas Röppen 159 


fein für den Winter. Aber ich dachte mir: Nun iſt die Diern mal da in Berlin, 
nun laß ſie auch mal mitmachen. Dich ſchämen und zurückſtehen ſollſt Ou auch nicht, 
da tu' ich ſchon mal ein übriges. 

Was das kleine gemalte Bildchen betrifft, fo hängſt Ou es Dir wohl über 
Dein Bett auf. Ich fah es neulich bei Scholl im Fenſter. Es gefiel mir gleich über 
die Maßen, wie der Weg da ins Dorf geht, und die verſchneiten Bäume und das 
Häuschen mit dem ſchiefen Dach. Das iſt doch grade ſo, als wenn man von der 
Friedenſeer Seite nach Greeſchenbock kommt. Nicht? Zch bin ja dann immer ein 
bißchen ſchwerfällig, ging auch erft weiter und dachte: Ach, was ſollſt Du das tau- 
fen! Weißt gar nicht mal, wieviel es koſtet, und am Ende mag die Diern es nicht 
mal leiden. Aber nach ein paar Schritten dacht' ich doch: Iſt aber doch mal was 
Poetiſches, nicht nur Kleider und Eßzeug. Freuen wird ſie ſich doch — kehr' ich alſo 
um und rein in den Laden. Na, es war auch nicht ſo teuer, und da haſt Du es nun. 

Für Tante — na, meinetwegen denn: Tante Calla ſchicke ich das Buch: 
Durch Kreuz zur Krone mit. Zch verſtehe ja von ſo etwas nichts, aber der Einband 
iſt doch ſehr fein, und Herr Scholl meinte auch, das wäre ſehr für Damen. Baue 
es ihr nur auf. Dann habe ich Dir noch ein Paar warme Handſchuhe gekauft, 
weil Ou alle Tage auf die Straße mußt. Fühl mal ordentlich im Mittelfinger von 
dem rechten Handſchuh nach, da ſteckt noch eine Kleinigkeit drin; hätte Dir gern 
mehr gegeben, aber dies Jahr iſt zu ſchlecht. Ich habe manche Sorgen. Na — 
ich will Dir zu Weihnachten nicht das Herz ſchwer machen. 

Was mich aber wundert in Deinem Brief, iſt zweierlei. Erſtens, daß Ihr 
dort keinen Schnee habt. Hier liegt er fo hoch, daß Lepel einen Tag nicht durch- 
gekommen iſt, bis ihm die Bauern von Friedenſee den Weg bis an unſere Mark 
geſchaufelt haben. Unſere Leute hatte ich ſchon den Tag vorher drangekriegt. 
Aber natürlich, die dickfelligen Bauern kommen immer drei Naf’ lang erſt hinter- 
drein gebödelt. Da muß man immer erſt ihnen die Schnauze zeigen, Anſtand 
und Manier von ſelbſt haben ſie nicht. Bei Euch haben ſie aber wohl zu viel davon, 
daß ſie am liebſten den ſchönen weißen Schnee, der doch des Winters Zierde iſt, 
ganz aus der Welt ſchaffen? Da ſoll wohl alles jetzt ohne Natur nur mit Maſchinen 
gehn? Nein, Diern, das kannſt Du auch mit Recht vermiſſen. Ein Winter ohne 
Schnee iſt gar kein Winter. 

Zweitens gefällt mir nicht, daß man dort von Weihnachten wohl in den Stra- 
ßen und an den ſchönen Läden was merkt, aber nicht bei Euch zu Hauſe. Tante 
Calla kann nicht backen, ſchreibſt Du, hat auch gar nicht genug Schüſſeln, Töpfe 
und Kuchenbleche dazu. Ja zum Donnerwetter noch mal, dann ſchafft fie ſich's 
eben an. Sits wohl von unferer ſeligen Mutter her gewöhnt, daß man alles fertig 
vom Konditor bezieht? Nein, alle ihre Eigenart in Ehren, aber das habe ich doch 
nicht gedacht, daß fie fih fo weit verirren könnte! Wenn in der heiligen Advents- 
zeit nicht immer ſo ein geheimnisvoller Kuchenduft durchs Haus zöge, dann möchte 
man ja ſchon die ganze Choſe hinſchmeißen. Wenn das Leben keine Feſtzeit mehr 
hat, iſt's ja wie ein grauer Sack, den man fic) über den Kopf zieht und unten zu- 
bindet. Ich ſag's ja nicht ums Rucheneffen, aber um der ſchönen Sitte willen. 

Wenn erſt eins fällt. fällt auch mehr. Dann ſtehn wir nachher da, ſtumm und dumm, 


160 Diers: Die Briefe des alten Zoflas Köppen 


und wiſſen zuletzt nicht mehr, warum wir morgens aufſtehn und uns anziehn, 
weil alles eine egale Fläche geworden iſt. Dann ſchneidet Euch nur gleich die Naſe 
ab, dann ſeid Ihr auch im ganzen Geſicht gleich. 

Na, ich will zu Weihnachten nicht ſchimpfen. Daß Du am Advent zur Kirche 
geweſen but und gelungen haft: Wie foll ich dich empfangen, ift recht. Sch meine 
ja nicht, daß alles jo glatt und klar ift, wie die Herren Paſtoren es uns vordemon- 
ſtrieren, aber ſchadet nichts. Man geht auch nicht in die Kirche, um zu grübeln, 
ſondern um ſich da ganz ſtill hinzuſetzen und auf ſich wirken zu laſſen, was da im 
Orgelbrauſen und in alten ſchönen Geſchichten auf einen niederkommt. Wenn ich 
mal ſo recht erhoben und beſeligt aus der Kirche komme und doch nicht weiß, woher 
und warum das iſt, fo denke ich oft bei mir: Das ift eben mal wieder eine Aus- 
gießung des Heiligen Geiſtes geweſen, und du alter knochiger Landmann haſt 
eben dabei ſein dürfen. Aber das ſage ich Paſtor Friedrichs nicht. Er würde mir 
zuviel darum herum erklären, bis der ganze Schmelz und Zauber fort wäre und 
ich mir vorkäme wie ein dummer Bauer, der über Philoſophie hat reden wollen. 
Womit ich aber nichts gegen unſeren Paſtor Friedrichs geſagt haben will. Der 
iſt ein alter braver Herr und macht's, fo gut er kann. Und auf dem Fach hat er 
ja ſtudiert. Sch weiß nur nicht, wie man fo was ftudieren kann, wovon man doch 
im Grunde auch nichts Gewiſſes weiß. 

Na laß. Am Heiligen Abend, Uhr ſechs, kommt Paſtor Friedrichs wieder 
rüber, wie alle Jahr', und hält im Saal die Chriſtfeier ab. Weißt noch, Diern? 
Ich fep noch Deine Augen funkeln vor Erwartung, weil's nun gleich losging. 
Haft wohl mitgeſungen: 

Schönſtes Kindlein in dem Stalle, 

Sei uns freundlich, bring uns alle 

Dabin, da mit ſüßem Schalle 

Dich der Engel Heer erhöht. 
Aber Deine Andacht war doch man eine gemiſchte. Nun, der liebe Gott wird wohl 
nicht ſtrenger geweſen ſein als Dein Vater und wird gedacht haben: Kinder ſind 
Kinder. Laß ſie jökeln und ihre Albereien im Kopf haben. Das Leben ſchüttelt 
ſie ſchon früh genug, dann kommt die Andacht ganz von ſelbſt. Ich brauche mich 
nicht danach zu reißen — nach ſolchem Kroppzeug! Daß ich lachen müßte! 

— — Meine arme kleine Diern, mir wird ganz anders, wenn ich dran denke, 
daß Du dies alles in dieſem Jahr nicht haſt. Na, ſteck nur die Naſe in Mamſells 
Pfeffernüſſe, da riechſt Du doch wenigſtens ein Stück Weihnachten. Und im Gree- 
ſchenbocker Backofen ſind ſie gebacken. 

Aber ein Klavier hat Tante Calla doch. Da ſpiel Du Dir man: Vom Himmel 
hoch, wenn's auch kein anderer hören will, und denke dabei an mich, wie ich an 
Dich. Dann ſind wir doch zuſammen und feiern. 

Von der Berechnung will ich diesmal nichts ſagen. Um Weihnachten muß 
man ein Auge zudrücken. Aber nachher geht's wieder ſtramm. 

Dir und der Tante wünſcht ein fröhliches Feſt 

Dein getreuer Vater 
Joſias Köppen. 


* * 


Piers: Pie Briefe des alten Zoſtas Röppen | 161 


Greeſchenbock, am heiligen erften Feiertag. 
Meine liebe alte Diern! 

Sch danke Dir ſchön. Wo haft Ou nur die Zeit hergekriegt, mir den ſchönen 
Botten zu ſchnitzen? Da werden fih aber die Zigarren ſtaatſch drin ausnehmen. 
Das Dedden, das Tante Calla mir gemalt hat, lege ich vorläufig in die Schub- 
lade. Du kannſt ihm einen Platz in der guten Stube geben, wenn Du kommſt. 
Die iſt jetzt zum Feſt geheizt. Mamſell wollte es durchaus, obwohl es keinen Zweck hat. 
Ä Der Oberförſter iſt hier, er fährt nach Pöpplitz und foll den Brief mitnehmen. 
Sh habe Lepel gefagt, er braucht auch am zweiten Feiertag nicht kommen, damit 
er auch weiß, daß Weihnachten ift. Sollteſt Du mir geſchrieben haben, fo kann 
das ja bis übermorgen warten. 

Sage auch Tante Calla meinen Oank für das Oeckchen und ſage ihr nicht, 
daß ich nicht weiß, was ich damit anfangen ſoll. Man muß ſich ſo was nicht 
merken laſſen. ' 

Nun feiert vergnügt. Dein getreuer Bater 

i Joſias Köppen. 
1 a 
ze 
Greeſchenbock bei Pöpplitz, Freitag den 28. Dezember 1888. 
Meine liebe Tochter Elſe! 

Deine’ Tante hat mir hinter Deinem Rüden geſchrieben und mir im Paket 
meine Geſchenke retourgeſchickt. Sie meint, das roſa wollene Kleid könnteſt Du 
doch nicht tragen, das Bildchen wäre „total untünftleriih“, verdürbe Dir nur den 
Geſchmack, und daß ich ihr fold) ein Buch ſchicke, fet lächerlich. Sie bittet mich, 
es nicht uͤbelzunehmen, aber Männer verſtünden fih meiſt nicht aufs Einkaufen. 
Du wärſt auch erſchrocken geweſen, wenn Du es auch nicht ſagteſt. Sie erklärt 
mir nun, was ich dafür kaufen ſoll. 

Aber ich bin heute in Pöpplitz geweſen und habe alles zurückgegeben. Engel- 
mann und Herr Scholl waren auch ſehr gefällig dabei, fie kennen mich ja. Ich ſchicke 
Euch nun ſtatt deſſen das Geld, das es gekoſtet hat, durch Anweiſung. Es iſt doch 
beſſer, Ihr ſucht es Euch ſelbſt aus. 

Mich wundert nur, daß die Pfeffernüſſe nicht auch retour gekommen ſind. 
Na laß man. Ich verſtehe mich ja auch nicht auf ſolche Dinge. 

Dein getreuer Vater 


Joſias Köppen. 
* 8 * 

(Anſichtspoſtkarte vom Greeſchenbockener Hof mit dem Gutshauſe im Hinter- 

grund. Sofias Köppen in feiner Zoppe vor der Haustür.) | 
Den 31. Dezember 1888, 
Meine liebe Tochter Elfe! 

Diefe Karten habe ich noch heimlich in der Woche vor dem Feſt machen 
laſſen. Ich wollte ſie Dir nun erſt nicht ſchicken, aber ich denke jetzt doch, ſie werden 
Dich intereſſieren. Ein geſegnetes neues Jahr wünſcht Dir 

Dein getreuer Vater Joſias Köppen. 


k * 
oe 
11 


Der Sürme XI, 8 


162 Piers: Die Briefe bes alten Fofias Röppen 


Greeſchenbock, Sonntag den 20. Januar 1889. 
Meine liebe Tochter Elſe! 

Na, Elſing, nun wollen wir das man laſſen. Deine drei Briefe habe ich er- 
halten, und Du mußt Oich nicht wundern, daß ich ſie bis heute unbeantwortet 
ließ. Mir lag das doch noch ein bißchen ſchwer auf. Aber nun habe ich's hinter 
und nun wollen wir das vergeſſen. 

3m glaub' Dir's ja, Sierning, daß das nicht mit Deinem Willen geſchehen 
iſt, und daß Dich das viele Tränen gekoſtet hat. Ich will Dir auch ſagen, daß ich 
zuerſt am liebſten das olle Zeugs all in die Ecke geſchmiſſen hätte und es da ver- 
faulen laſſen. Aber dann tat's mir doch leid, hat ſo viel Geld gekoſtet. Da habe 
ich am 28. nachmittags zu Kittel geſchickt, er ſoll man anſpannen, und ich habe den 
Krempel wieder zuſammengepackt, was nicht ſchön geworden iſt. Aber das war 
ja nun gleich. 

Und peinlich war's mir dann auch. Am meiſten bei Herrn Scholl, wo ich doch 
ziemlich fremd bin, aber auch bei Engelmann, der Tatſache wegen. Der eine Kom- 
mis hat auch gepliert und hat ſich das Lachen verbiſſen, aber Engelmann hat ihn 
rausgeſchickt und iſt ſehr nett geweſen. Beinahe zu nett, weißt du, ſo als wenn er 
Mitleid mit mir hätte, und Du wärſt ſolche — na, ich weiß nicht, was. Das hat 
mich auch wieder geärgert. Aber ich hab's mir nicht merken laſſen und habe ganz 
ſtur getan und habe das Geld da im Konto ſtehen laffen. Erft ſollteſt Du's nicht haben, 
aber unterwegs habe ich mir dann doch gedacht: Was kann die arme Diern dafür. 
Ich verſtehe ja auch nichts davon und Tante Calla hat's wohl nicht fo bös gemeint. 
Na, dachte ich, ſchick's ihr man, iſt ja doch mal Weihnachten. 

Ich wollte man bloß, daß ſich das nicht rumredet in Pöpplitz. Kolling Möhrs 
vor allem braucht ſo was ſchon gar nicht zu wiſſen. Aber iſt ja auch gleich. 

So Elſing, nun wollen wir das begraben. Sei man ſchön fleißig, daß Du 
Oſtern in die erſte Seminarklaſſe kommſt und übers Jahr fertig biſt. 

Aus Deinen Berechnungen konnte ich erſt nicht klug kriegen, aber nun geht's 
ſchon. Mach man ordentlich fort. 

Hier liegt immer noch dicker Schnee. Einmal fo vor acht Tagen hat's getaut 
und geregnet, aber es iſt wieder Froſt und Schnee gekommen. 

Dein getreuer Vater Sofias Köppen. 

* 
6 
Greeſchenbock, Mittwoch den 30. Januar 1889, 
Meine liebe Tochter Elſe! 

Deinen Brief habe ich erhalten und kann auf Deine Bitte nur mit Nein ant- 
worten. Das ijt nichts für Did, und ich will nicht, daß Du dahin gehſt. Laß Tante 
Calla gehn, ſo viel ſie Luſt hat, über die habe ich nichts zu ſagen und will es auch 
gar nicht. Ob es da „fein und vornehm“ hergeht, liebe Diern, kannſt Du noch lange 
nicht beurteilen, und auf Tante Callas Urteil gebe ich nichts. So viel iſt gewiß: 
Ehrbarkeit und Gottesfürchtigkeit exiſtiert in ſolchen Künſtlerklubs nicht, und wenn 
fie ſich außen nod fo „fein und vornehm“ tun. 

Wie Du ſchreibſt, find auch „Künſtler“ da, nicht nur Frauenzimmer. Nein, 
meine Diern, da gehſt Du nicht hin, ſo lang ich noch etwas über Dich zu ſagen 


Slers: Die Briefe des alten Zoflas Ksppen 163 


habe. Ich habe Dich hier gern auf den landwirtſchaftlichen Ball gehen laffen, und 
als die Pöpplitzer Juriſten Einladungskarten verſchickten, habe ich mich Dir zu 
Liebe auch fein gemacht und bin mitgegangen. Alles, was recht iſt. Aber unter 
das Schnurrantenvolk laſſe ich meine Tochter nicht. 

Nun tröſte Dich nur und lerne fleißig. Das iſt die Hauptſache. 

Madame Ricke hat das Reißen und liegt zu Bett. Es ift Tauwind gekom- 
men und jetzt regnet es ſeit heute früh in einer Tour. 

Dein getreuer Vater 
Zoſias Köppen 


% 
x 


Greeſchenbock bei Pöpplitz, Sonnabend den 2. Februar 1889, 
Meine liebe Schweſter Line! 

Entſchuldige, daß ich, wenn ich an Oich direkt ſchreibe, Dich noch bei Deinem 
alten Namen nenne, es kommt mir ſonſt ſo ungewohnt vor. Ich habe Dich nicht 
beleidigen wollen und Deine Freunde und Freundinnen auch nicht. Dies iſt nur 
ſo meine Anſicht, und meine Tochter ſoll in meinen Wegen bleiben, das iſt mein 
Wunſch und Wille, und mir als Vater auch nicht zu verdenken. Liebe Schweſter, 
meine Wege find nicht Deine Wege und meine Gedanken find nicht Deine Ge- 
danken. Ich ſage ja nicht, daß meine beſſer ſind, aber es iſt doch nun mal ſo. Wir 
haben ſchon als Kinder nicht recht gepaßt, und als wir eingeſegnet ſind, iſt es ganz 
auseinandergegangen. Womit ich nicht geſagt haben will, daß ich nicht brüder 
liche Liebe für Dich hege, und wenn Du ins Unglück kämſt, Dir nicht treu zur Seite 
ſtehen würde. Du warſt immer für das „Künſtleriſche“, und ich habe das nie leiden 
gekonnt. 

Ich habe Dir mein allereinzigſtes Kind, was mir vom Leben noch übrig ge- 
blieben ift, anvertraut, weil ich weiß, daß der Kern bei Dir gut ift. Es ift doch immer 
Köppenſche Art, was auch darüber wächſt. Ich zahle Dir auch eine anſtändige 
Penſion, damit Du Dich nicht etwa übertuſt mit der Diern. Freilich, bei Euren Ber- 
liner Preiſen langt ſie wohl nur ſoeben zu, und ich hatte gemeint, Dir noch etwas 
Extraes anzutun. Was mir Elſe von der Milch und den Eiern geſchrieben hat, iſt 
ja einfach doll. Ich möchte nur wiſſen, wo das Geld alles bleibt, wir Landleute 
kriegen's nicht, ſo viel ſteht feſt. Na, ich will davon aufhören. Wenn ich auf 
das Thema komme, bricht mir ſchon wieder der Schweiß aus allen Poren und 
mir prickelt's über und über. 

Liebe Schweſter, ich hab's Dir nicht übel genommen, das mit Weihnachten, 
obwohl mich's bitter gekränkt hat, und ich habe das Wurmen darüber lange nicht 
loswerden können. So nimm Ou mir dies auch nicht übel. Zeder pfeift feine Weiſe, 
man muß ihn laſſen. Meine Tochter kriegt ſchon anderwärts das Vergnügen, 
das ihr zukommt, darum keine Bange. Gebt hat fie fleißig zu lernen, damit das 
Geld nicht fortgeworfen ift. Dazu hab' ich's nicht, das weiß Gott. Zch fike manch- 
mal bis in die Nacht und rechne, aber davon verſtehſt Ou nichts und willſt es auch 
wohl nicht anhören. Dein getreuer Bruder 

Sofias Köppen. 


164 Piers: Die Briefe bes alten Zoſias Köppen 


Greeſchenbock, Sonntag den 17. Februar 1889, 
Meine liebe Tochter Elfe! 

Dein Brief hat diesmal lange auf fih warten laſſen. Vergangenen Donners- 
tag habe ich ſchon mal Lepel ſeine ganze Taſche auf dem Flurtiſch umkehren laſſen, 
weil ich meinte, es hätte ſich doch noch was darin verſteckt. War aber nicht der Fall. 

Nun, es iſt ja gut, daß Du geſund und fleißig biſt. Das iſt die Hauptſache. 
Das viele Schreiben tut auch gar nicht ſo nötig. Was iſt denn auch immer Neues zu 
ſchreiben? Hier paſſiert nichts. Die Weiber ſind beim Weben. Madame Ricke 
auch, fie läßt Dir ſagen, fie webte jetzt Dein Hochzeitslaken. Und in Deiner glüd- 
lichſten Stunde würdeſt Du alle die Liebe und die guten Wünſche, die fie hinein- 
gewoben hat, als goldene Fäden leuchten ſehn. Sd ſchreib Dir das, weil fie mich 
ausdrücklich darum gebeten hat, aber es iſt ja Weiberſchnack. Ich habe ihr das auch 
zu verſtehen gegeben: „Elſe hat jetzt anderes zu tun, als an Hochzeiten zu denken.“ 
Ja, ja. 

Uber die Karte mit dem Tiergarten, die Du ihr in ihrer Krankheit geſchickt 
haſt, hat ſie ſich ſehr gefreut und läßt vielmals danken. Mit ihrem Schreiben ginge 
es ja man ſchwach, läßt fie Dir fagen, Zu ihrer Zeit hätte man das noch nicht fo 
gelernt wie heute. 

Ich habe geſtern unſeren jungen Bullen „Robert“ für 700 Mark verkauft. 


alte aber auch reichlich wert, ein kapitaler Kerl. Siegfried hat auch 20 Mark ab- - 


bekommen. Döchting, erzähl dies aber Tante Calla lieber nicht. Die denkt dann 
gleich, das Geld ſpringt bei mir nur ſo, während es doch zum Handel und Wandel 
gehört und groß nötig iſt. 

Neulich war der junge Daul hier, Hellmut, der nun auch ſchon Forftreferen- 
dar iſt, ein ganz ſtaatſcher Kerl. Er fragte auch nach Dir und läßt Dich grüßen. 
Als er ein kleiner Zunge war und hier immer in ſeinen Samthöschen mit Willi 
ſpielte, mochte Mutter ihn ſo gern. „Man merkt die feine Erziehung,“ ſagte ſie. 
3a, es ijt ſchon was wert, ein gebildetes Haus. Bei meinem guten Rolling wachſen 
die Kinder auf wie die jungen Hunde. Der Ferdinand mit dem roten Haar hat 
jetzt die Milchwirtſchaft übernommen, er iſt ein richtiger Bauer, ganz wie der Alte. 
Aber gut ſind ſie doch. 

Nun, ich will Dich nicht vom Arbeiten abziehen. Mache man tüchtig weiter, 
daß Du bald fertig but, Sein getreuer Vater 

Sofias Köppen. 


% 
* 


Greeſchenbock, Sonntag den 3. März 1889. 
Meine liebe Tochter Elſe! 

Deine beiden Briefe habe ich erhalten. Sage mal, meine Tochter, kommt 
es mir nur fo vor oder fehlt Dir was? Zch will nichts davon fagen, daß fie kürzer 
ſind, das kommt von viel zu tun. Vor Oſtern geht's wohl auf allen Schulen heiß 
her. Aber es iſt ſo etwas Anderes drin, ſo etwas Steifes oder Gezwungenes oder 
als ſäße Dir was im Wege. Na lak, ich kann mich ja auch täuſchen. Immer iſt 
man ja auch nicht aufgelegt zum Schreiben. Brauchſt nichts darauf zu antworten 
und Oich nicht zu entſchuldigen, wenn's weiter nichts iſt. 


Diers: Die Briefe des alten Foflas Röppen 165 


Sekt fängt's hier an, lebendig zu werden. Wenn die Frühjahrsarbeit erft 
im Gange iſt, komme ich auch nicht mehr zum Schreiben, bin auch Sonntags dann 
zu müde. Für ſolche Dinge ift der Winter gut. i 

Eben kommt die Mamſell und fagt, ich folle die Schneeglöckchen mit in den 
Brief legen, ſie wären vom Himbeerſteig, da im Gebüſch, wo die vielen ſind. 

Sa, jetzt läutet's wieder Frühling. Iſt doch man ſchön, der Winter ift immer 
ſo lang auf dem Lande. 

Dich und Tante Calla grüßt Dein getreuer Vater 

Joſias Köppen. 

Nachſchrift. Eben fällt mir ein, Du biſt vielleicht bodig wegen des Künſtler⸗ 
klubs. Na Diern, ſo was laß Dir man vergehn. Damit kommſt Ou bei mir nicht 
durch. Schreib mir mal, ob es an dem iſt. 

* * 
* 
Greeſchenbock, Sonntag den 10. März 1889. 
Meine liebe Elſe! 

Deinen Brief habe ich geſtern gekriegt und will ihn man gleich beantworten, 
ehe daß er wieder ſchimmlig wird. Elſing, ich habe mir heute früh im Bett aus- 
gedacht: es iſt doch wohl am beſten, Du kommſt Oſtern her. Es iſt ja noch lange hin, 
Oſtern fällt ſpät, erft am 21. April, drei Wochen ſpäter als im vorigen Jahr. Du 
biſt dann bald ſieben Monate fortgeweſen. Teuer wird's ja auf die vierzehn Tage, 
und ich hab's jetzt wenig übrig zum Verſchleudern. Aber ich habe hin und her 
gedacht. Du biſt doch mein einzigſtes Rind noch, und wenn ich Willis Militärjahr 
und Ausbildung bezahlen müßte, wäre es noch viel mehr. Ach, ich tät's ja auch 
gern, lieber ein volles Haus und Sorgen, als keine und die leeren Wände, die einen 
angrinſen. 

Sa alſo, was ich ſagen wollte: ich habe jetzt ſolche Unruhe um Dich, ich muß 
Dich mal ſehen. Mag ja tauſendmal ſein, daß ich mich täuſche mit Deinen Briefen, 
aber ich werde was nicht los, das ſteckt mir ordentlich wie ein Knopf im Halſe, ich 
kann kaum drüber ſchlucken. Mit dem Schreiben iſt's doch auch nichts. Hundert 
Briefe ſind eine Minute angucken nicht wert. Wenn ich denke, Du ſtehſt hier und 
fagit: Nein, Vater, oder: Ja, Vater, fo ift das mehr als bogenlange Auseinander- 
ſetzungen, wo der andere guckt und grübelt und die Worte bald ſo rum dreht und 
bald ſo rum. 

Sc hätte nie gedacht, was das Sprechen mit der Stimme und der Augen- 
ſchein doch für mächtige Dinge ſind. 

Aljo litte Diern, wir machen's fo. Du kommſt zu Oſtern. Das kannſt Ou 
glauben, wenn man das denkt, dann ſieht der Kalender einen mit einmal anders an. 

gm Garten hat die Mamſell ſchon die ganze Woche graben laffen, der Früh- 
ling ſcheint ſich ja diesmal auch zu ſputen. Hoffentlich wird's ein beſſeres Jahr. 
Da Oſtern fo ſpät fällt, wirft Du ſchon alle Bäume voll Knoſpen finden. 

Nun ſoll's mich doch wundern, was Ou auf dieſen Brief ſchreiben wirft. 

Dein getreuer Vater 
Sofias Köppen. 


166 Diers: Die Briefe des alten Fofias Röppen 


Greeſchenbock bei Pöpplitz, Sonntag den 24. März. 
Meine liebe Schweſter Line! 

Ich bitte Dich, mir einmal offenherzig zu ſchreiben, ob was mit Elfe “os ift 
und was das iſt. Sie ſchreibt und ſchreibt, aber es iſt was Fremdes drin und ich 
krieg's nicht raus. Vor vierzehn Tagen hab' ich ihr mitgeteilt, ſie könnte zu 
Oſtern nach Hauſe kommen, und ſie ſchreibt darauf: Das iſt ja fein und das iſt 
ja ſchön. Aber es klingt alles ſo anders, als käme es nicht aus dem Herzen, ſondern 
ſo irgendwo nebenbei her, wo es nicht klingt und nicht tönt. Ein paarmal wollte 
ich Dir ſchreiben und dachte dann: Mache Dich nicht lächerlich, was ſoll's denn 
fein? Aber es läßt mir keine Ruhe, iſt doch auch meine Tochter, für die ich ver- 
antwortlich bin. 

Ich bitte Dich herzlich als meine Schweſter, daß Du mir ſagſt, ob ſie vielleicht 
eine Liebelei oder ſonſt was im Kopfe hat. Das könnte doch ſein, vielleicht für 
einen Lehrer. Hier ſind zwei, die es wohl auf ſie abgeſehen haben: Der Ferdinand 
Möhrs, dem ſitzt ſie ſchon lange im Kopf, iſt aber nichts für ſie. Er ſpricht nicht mal 
ganz richtig deutſch, und hat brandrotes Haar außerdem. Und dann der Hellmut 
Daul, ein ganz forſcher, neiter Kerl, der was in ſich hat, aber ein zurückhaltender 
Menih. Von dem hat's mir der alte Daul geradezu gejagt. Wäre mir nicht un- 
lieb, und warten müßten fie doch noch ein paar Jahre, ſelbſt wenn Hellmut als 
Aſſeſſor eine Privatförſterei kriegt. 

Na, von dem allen ſagſt Du ihr nichts. Ich wollte Dir nur mitteilen, daß 
hier auch ſchon für ſie der Tiſch gedeckt iſt, und daß ſie nicht nötig hat, im fremden 
Land zu ſchmachten. 

Etwas i ft los mit ihr, das fühl’ ich zu genau. Sie ift die Alte nicht mehr. 
Nun gib mir Nachricht. 

Dein getreuer Bruder 
Joſias Köppen. 


* ** 
* 


Greeſchenbock, Donnerstag den 28. März 1889. 
Meine liebe Tochter Elſe! 

Deinen und Tante Lines Brief habe ich ſoeben erhalten. Fd laffe Lepel 
warten. Das war allerdings nichts Erfreuliches. Was ſoll ich darauf ſchreiben? 
Ich habe manches erwartet, aber daß ſolche gemeine Heimlichkeit und Ungehorfam- 
lichkeit dahinter ſteckte, darauf konnte ich freilich bei allem Nachdenken nicht kommen. 
3m weiß nicht, was ich Dir noch fagen oder befehlen foll. Du tuft ja dann doch 
hinter meinem Rüden anders. Was nutzt das nun alles noch? Ich muß mir erft 
überdenken, ob ich Dich nach dieſem nicht ganz nach Hauſe nehme, ehe Du mir 
völlig da draußen verdorben wirſt. 

An Tante Line ſage man, daß ſie ihren Brief auch hätte ungeſchrieben laſſen 
können. Wenn die für einen bittet, iſt's ſchon immer ein ſchlechtes Zeichen. Mir 
iſt ſo bitter im Mund, daß ich alle Augenblicke ausſpucken muß. 

| Dein Vater Z. K. 


* 
e & 


Oilers: Die Briefe des alten Zoflas Röppen 167 


Greeſchenbock, Sonntag den 7. April 1889. 
Weine liebe Tochter Elſe! 

Ich kann Dir jetzt ja auch wieder mal ſchreiben. Ich will Dir nur. fagen, 
daß ich Deine drei Briefe die ganze Woche hier uneröffnet habe liegen gehabt. 
Eben, am Sonntagnachmittag, habe ich ſie alle drei geleſen. 

Heute früh war Paftor Friedrichs hier und hat im Saal gepredigt. Er hatte 
den Text: Wer von Gott iſt, der höret Gottes Wort, darum höret ihr nicht, denn 
ihr ſeid nicht von Gott. Er hat's ſchön gemacht, und ich habe viel verſtanden, wie 
er es gemeint hat. Wiederſagen kann ich's nicht. Als er aufhörte, war mein Herz 
ganz weich, aber ich habe ihm nichts geſagt. Ich habe gedacht: Zwiſchen Vater und 
Kind gehört kein anderer Menſch, nicht einmal ein Pfarrer. 

Dann, als ich allein war und alles ſtill um mich her, und die Sonne auf den 
gofplatz ſcheint, und die Hühner gackern, habe ich Deine Briefe geleſen. Ja ſiehſt 
Du wohl, mein Diern, die Frucht der Sünde iſt bitter. Iſt nur gut, daß Du das 
auch geſchmeckt haſt. Was helfen Oir nun alle tollen, wilden Abende, die Du gegen 
Deines Vaters Willen in dem wüſten Künſtlerlokal heimlich mitgemacht bat, 
wenn Ou jetzt ſo viel darüber weinen mußt aus Reue und Trauer. Das iſt's, das 
ſchlechte Gewiſſen iſt's geweſen, was Deine Briefe ſo fremd und ſcheu gemacht hat. 
Du haſt Dich mit einem Male fürchten müſſen. Ja, Elſe, ich habe dieſe letzten 
zehn Tage ſchwer tragen miiffen und bin gebückt gegangen, daß mich die Leute 
haben gefragt, ob mir was weh tut. Habe ihnen nicht ſagen können, was weh 
tut. Dachte allezeit: Ich habe mein Letztes verloren. 

Was nutzt mir ein Rind, das fremde Wege geht und mid. betrügt und ver- 
lacht mit falſchen Freunden? 

Ach Diern, das war ſchon eine bittre Tour. 

Ich will Dir jetzt vergeben, Elfe, weil Du fo große Reue haft. Bei Euch da- 
hinten wird's ja wohl ſchon als Tugend gelten, habe ich mir gedacht, daß Du es 
mir überhaupt geſagt haft. Rann ich nicht fo anſehn. Ich weiß an mir: eine Lüge- 
rei und Heimlichtuerei mit ſich ſchleppen, iſt die größte Strafe. Kommt keine andre 
dagegen an. Die drückt und beißt und beißt und drückt, daß man beinah wahn- 
ſinnig davon wird. Da iſt's eine Wohltat und Hilfe, zu beichten, und keine Tugend. 
Dann iſt's runter: „So, Vater, nun ſchlage Du zu. Fc ergebe mich Dir.“ Ich 
weiß, wie wohl dann einem iſt. Aber daß in Eurem Künſtlerklub das als Tugend 
oder gar als Derrüdtheit angeſehen wird, kann ich mir denken. 

Soh will dann auch zuſchlagen, meine Diern. Du kommſt Oſtern 
nicht nach Hauſe. Aber dann will ich Dir wieder vergeben und noch einmal 
Vertrauen zu Dir haben, daß Du das Fahr über noch dort bleiben und auslernen 
kannſt. 

Am 31. v. M. ſchickte ich das Geld an Tante Calla ab. Es gilt für April, 
auch Dein Schulgeld. Mit dem anderen halte Haus. 

Elſing, tu ſo was auch ja und ja nicht wieder. 

Sein getreuer Vater 
Soflas Köppen. 


168 Diers: Die Briefe des alten Fofias Röppen 


Greeſchenbock, Sonntag den 5. Mai 1889. 
Meine liebe Tochter Elſe! 

Ja, ich weiß wohl, Elſing, ich habe vier Wochen lang nicht geſchrieben. Was 
ſollte ich auch wohl? Ich hatte das Schreiben fo über. Ich bin auch ſchwer über 
das Oſterfeſt weggekommen. Wie die Mamſell Kuchen gebacken hat, habe ich 
immer denken müſſen: Das iſt nun alles anders, das iſt nun alles anders. 

Du ſchreibſt, ich hätte Dir doch vergeben, und pochſt darauf, daß ich nun wie- 
der ſo ſein ſollte wie früher. Ja, das geht man nicht ſo leicht. Vergeben hab' ich 
Dir ja, gewiß, aber der Druck, den man auf der Bruſt hat, der muß doch erft all- 
mählich von ſelber weggehn. Da läßt fih nicht viel bei machen, auch wenn's man 
ſelber will. 

Es geht ja nun auch ſchon beſſer. 

Wenn das Wetter fo beibleibt, kriegen wir ein ſchönes Heujahr diesmal. 
Das tut auch not. Aber Mairegen kann nicht ſchaden. Kriegſt Du denn da zwiſchen 
all den hohen Häuſern auch etwas vom Frühling zu ſehn? jt wohl man ſchwach. 

Na, ſchadet nichts, die Hälfte der Zeit, daß Du dort geweſen biſt, iſt nun ja 
auch bald vorüber, und die zweite Hälfte glitſcht immer ſchneller. 

Sch [chide Tante Calla zwei Pfund Maibutter und friſche Eier mit. Hoffent- 
lich gehn ſie nicht entzwei, ſie ſind ja gut in Häckſel verpackt, aber auf der Bahn 
ſchmeißen ſie doch manchmal zu doll damit herum. So merkt Ihr doch auch, daß 
es jetzt auf dem Lande überall in Saft geht. In Berlin ift wohl jede Jahreszeit 
gleich. 

Was der Profeſſor Groſſer zu Deinen Aufſätzen gejagt hat, freut mich. Ja, 
ausdrücken haft Du Did ſchon immer gut können, ſchon als kleines Kind. Wenn 
Du man fleißig biſt und geſund bleibſt, dann wirſt Du ſchon was leiſten im Leben. 

Adieu. Ich bin das viele Schreiben gar nicht mehr gewohnt, und bin auch 
müde von der Arbeit. Wit den Knechten iſt jedes Jahr weniger los, man muß 
vorn und hinten ſein, wenn's Fortgang haben ſoll. Na, wenn man nur weiß, 
wofür man arbeitet, dann geht ja alles. Vor ein paar Wochen habe ich ja mal 
gedacht, ich wüßte es nicht mehr. Halte Dich nur brav, Elſing, das iſt und bleibt 
die Hauptſache. Dein getreuer Vater 

Joſias Köppen. 


1. * 
x% 


Greeſchenbock, Mittwoch den 29. Mai 1889. 
Liebes Elſing! 

Ich gratuliere Dir vielmals zu Deinem Geburtstage und wünſche Dir, daß 
der liebe Gott Dir Geſundheit ſchenke und daß Du ein braves und kindliches Herz 
behalten mögeſt. Denke nur recht andächtig über alles nach, was Dir das ver- 
gangene Jahr alles gebracht hat, und denke auch an die ſchwarzen Punkte, die Du 
ſelbſt da hineingebracht haſt. Und dann faſſe mutig Vorſätze für das neue Zahr. 
Dann wird's Dir mit Gottes Hilfe ſchon gelingen. 

Liebe Diern, den Kuchen hat Mamſell Dir gebacken. Fk ihn aber ſchön vor- 
ſichtig, es iſt nämlich was eingebacken, was Du finden ſollſt. Viel iſt's ja nicht, 


Oilers: Die Briefe des alten Zoflas Röppen 169 


aber zu einer neuen Bluſe oder ein Paar niedrigen Sommerſchuhen langt's ſchon 
noch. — 

Ich muß ſchon aufhören. Es drängt zu febr mit der Arbeit. Die Leute find 
alle beim Kartoffel- Behacken. 

Nun feiere vergnügt und laß Dir den Kuchen ſchmecken. 

Dein getreuer Vater Joſias Köppen. 

Nachſchrift. Madame Ride hat mir das Briefchen an Dich zum Mitſchicken 
gebracht, aber laß es Tante Calla nicht leſen. Die würde ſich nur an die fehlerhaften 
Außerlichkeiten halten und den Kern nicht finden. Mamſell und die Mädchen und 
der alte Siegfried laſſen Dir alle gratulieren. 

** * 
* 
Greeſchenbock, Sonnabend den 8. Juni 1889, 
Keine liebe Tochter Elfe! 

Morgen als zum ſchönen Pfingſtfeſt will ich Dir doch in aller Eile einen 
ſchönen Gruß ſchicken. Sft jetzt nicht viel los mit dem Schreiben. Wir kriegen pracht- 
volles Heu und wohl zwanzig Fuder mehr als im vergangenen Jahr. Geſtern und 
vorgeſtern iſt Schafſchur geweſen. Du glaubſt nicht, wie man jetzt immer auf- 
paſſen muß. Es iſt, als ob die Kerls gar keine eigne Ehre mehr im Leibe hätten, 
und die Dierns ſind nicht beſſer. Das denkt bloß an das Tanzen im Krug und für 
die Arbeit hat's kein Intereſſe. Ob Mamſell der Arbeit gewachſen ſein wird, wenn 
alle die fremden Schnitter zur Ernte einrücken, weiß ich noch nicht. Aber dann 
biſt Du ja da! Ein bißchen mithelfen wirſt Du doch auch noch können. 

Nun rückt Johanni heran und mit ihr die Pachtzahlung. Wir wollen nur ernft- 
lich hoffen, daß die Jahre beſſer werden, und dann auch das Herz ein bißchen leichter. 

Dauls laſſen Dich grüßen, auch Malden und Frida Möhrs. Daß die Alteſte, 
Anna, ſich mit dem Kaufmann neben der Poſt, Hirzel, verlobt hat, haſt Du wohl 
noch erlebt. Na, wenn der dem Kolling als Schwiegerſohn gut genug iſt, ſoll mir's 
recht ſein. Nach Heringen ſtinkt er Sonntags wie alltags, und um die Mitgift hat's 
auch ſchon Reibereien gegeben. Da mag ja aber auch der Alte gern dran ſchuld ſein. 

Im übrigen, was gehn uns andre Leute an, halte Du Did nur gut. 

Dich grüßt Dein getreuer Vater Zofias Köppen. 

* R 

(Die bekannte Anſichtskarte von Greeſchenbock.) 

Sonntag den 30. Juli. 
Liebe Elſe! 

Nun iſt's keine Woche mehr. Du fährſt alſo 8 Uhr 35 vom Stettiner Bahnhof 
ab. Vergiß nicht, umzuſteigen. In Pöpplitz wartet der Wagen auf dem Bahnhof, 
balte Did nicht auf, keine fünf Minuten. geinrich hat alle 
Beſorgungen ſchon gemacht. Halte Oich mit nichts auf. 

Am nächſten Sonntag wachſt Ou ſchon hier auf. 

Oein Vater. 
Fortſetzung folgt) 


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Kleiſt⸗Netzow 


Von 


Herman v. Petersdorff 


s gibt ein bekanntes Wort Bismarcks über das Zunkertum, das er gegen 
feinen alten Freund, den Kreuzzeitungsrundſchauer Ludwig v. Ger- 
lach, gebraucht hat. Es iſt im November 1851 gefallen und lautet: 
„Überhaupt ift der norddeutſche Funker, mögen Sie in Ihren Rund- 

ſchauen ſchelten, wie Sie wollen, doch in Oeutſchland der Einäugige unter den Blin- 

den; es gibt nur Junker und Schneider in dieſem Lande, und der richtige Junker 
kommt nur in dem norddeutſchen Flachlande vor.“ Bismarck, der damals eben 

Bundestagsgeſandter geworden war, hatte dabei mehrere Kollegen in Frankfurt 

im Auge, den Hannoveraner v. Schele, den Mecklenburger v. Oertzen und den 

Holſteiner v. Bülow, den Vater des jetzigen deutſchen Reichskanzlers. Zu dieſen 

fühlte er ſich ſichtlich hingezogen, und ſie ſind ihm alle drei befreundet geworden. 

Bei ihnen fand er geſunden Wirklichkeitsſinn und eine gewiſſe Großzügigkeit des 

politiſchen Denkens. Anderweitig begegnete er im Lande nur zu febr der Klein 

geiſtigkeit und Spießbürgerei. Die Fülle ſcharf ausgeprägter, kernhafter Naturen 
voll trotzigen Selbſtgefühls und ſtolzen Unabhängigkeitsſinns unter dem nord- 
deutſchen Adel iſt in der Tat eine erfriſchende, hiſtoriſche Erſcheinung für jeden, 
der Freude an kraftvollem Weſen hat und fih den Blick durch Voreingenommen⸗ 
heit nicht trüben läßt. Jemand, der fo recht Verſtändnis dafür beſaß, ift Theodor 

Fontane geweſen. Dem war das preußiſche Junkertum ans Herz gewachſen. 

Das zeigen nicht nur ſeine „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“; man 

findet es auch auf jedem Blatte ſeiner „Briefe“ beſtätigt. „Zehn Generationen 

von 500 Schultzes und Lehmanns find noch lange nicht fo intereſſant wie die Gene- 
rationen eines eing gen Marwitzzweiges“, hat diefer gegen den Verdacht reaktio- 
närer Geſinnung gefeite Dichter am 28. Mai 1860 geſchrieben und damit dasſelbe 
geſagt, was Bismarck in jenem Briefe an den Präſidenten v. Gerlach behauptete. 

Bei näherer Betrachtung gewinnen dieſe kernhaften Glieder des altpreußiſchen 

Sunfertums met, Wer wird nicht einem Mann wie dem Herrn auf Trieglaff, dem 

Pommern Adolf v. Thadden, feine Sympathie zuwenden !? Seitdem die Fürſtin 

Eleonore Reuß ſein Lebensbild gezeichnet hat, kann man doch gar nicht anders. 

Wer empfindet nicht wahrhafte Freude, wenn er die humorvollen, rückhaltlos auf- 


Petersdorff: Nleiſt· Retzow 171 


richtigen Briefe von Moritz v. Blanckenburg auf Zimmerhauſen an Albrecht von 
Roon lieft? Neuerdings hat Friedrich Meuſel die Lebens erinnerungen des Junkers 
Friedrich Auguft Ludwig v. d. Marwitz, Herrn auf Friedersdorf, erweitert heraus- 
gegeben. Wer hat wohl den Mut, die urwüͤchſige Kraft und Tüchtigkeit diefes glühen 
den Patrioten, die ſittliche Reinheit dieſes Mannes trotz aller feiner Befangen- 
heit zu leugnen? Wem geht nicht das Herz auf, wenn er in der jetzt erſchienenen 
Biographie Blüchers aus der Feder des Generals v. Unger die herrlichen Briefe 
dieſes mecklenburgiſchen Adelsſproſſes lieſt? Das Weſen des Staatsmannes der 
deutſchen Einheit beſteht zum großen Teile aus jenen Eigenſchaften, die die Stärke 
des nordbeutſchen Junkers ausmachen. Ahnungsvoll hat der große Denker aus 
jüdiſchem Stamm, Julius Stahl, vorausgeſagt, daß eine Miſchung mit dieſem 
Sunterblute für den wahrhaften preußiſchen Staatsmann erforderlich fei, als er 
am 5. März 1852 ausrief: „Ich halte den General v. Marwitz nicht für den voll- 
ſtändigen reinen Repräſentanten der preußiſchen Politik, ich halte aber auch den 
Staatsminiſter von Stein nicht dafür. Wenn ein Staatsmann dieſe beiden in ſich 
vereinigen und verſöhnen könnte, dann würde er vielleicht das wahre, vollkommene 
Urbild des preußiſchen Staatsmannes ſein. Einen ſolchen Staatsmann können 
wir nur von Gott erbitten.“ 

Als ich vor einigen Jahren von der Kleiſtſchen Geſamtfamilie angegangen 
wurde, ein Lebensbild Kleiſt-Retzows zu zeichnen, das inzwiſchen bei Cotta in 
Stuttgart erſchienen iſt, da machte ich es zur Bedingung, daß ich frei und unbeirrt 
durch irgendwelche Rückſichten urteilen dürfte. Einen Panegyrikus zu ſchreiben, 
war ich nicht geſonnen. Ich hätte mir und der Wiſſenſchaft, der ich diene, etwas 
vergeben, wenn ich nicht mit möglichſter Unbefangenheit an die Löſung meiner 
Aufgabe herangetreten wäre. Mir war es wohl bewußt, daß Kleiſt-Retzow ein 
ſtarrer Doktrinär geweſen ift; und das Bedenkliche dieſes Doktrinarismus ſollte 
in meinem Buche deutlich hervorgehoben werden. Die Hinterbliebenen Kleiſt- 
Retzows ſind hochherzig genug geweſen, mir eine Fülle von brieflichem Material 
aus dem Nachlaß des alten Herrn zur Verfügung zu ſtellen. Dazu kamen viele 
Briefe Kleiſts an Freunde, die ich von anderer Seite erhielt, z. B. auch ſeine Briefe 
an den Fürſten Bismarck. So ausgerüſtet, durfte ich wohl an die Arbeit gehen. 
Von vornherein konn e ich mir ja auch ſagen, daß es ein reizvoller Vorwurf war, 
das Bild dieſes knorrigen Junkers ſeinen Freunden und Feinden vorzuführen. 

Einer Bitte der Schriftleitung folgend, will ich Kleiſt-Retzows Bild den 
Leſern des „Türmers“ mit einigen Strichen zeichnen. 

In Kleiſt-Retzow ift ein anderer Typ des ZJunkertums vertreten als der, den 
F. A. L. v. d. Marwitz vertritt. Marwitzens politiſche Nolle empfing ihren Stem- 
pel durch die Stein-Hardenbergſche Geſetzgebung. Kleiſt-Retzow unterſcheidet fidh 
von Marwitz vornehmlich durch den religiös-myſtiſchen Einſchlag. Er ift, religiös 
betrachtet, das Produkt der pommerſchen Erweckung, einer tiefinnerlichen religiöſen 
Bewegung, die nach den Befreiungskriegen einſetzte. Die Gebrüder von Below, 
Ernſt v. Senfft-Pilſach, Thadden- Trieglaff, Moritz v. Blanckenburg find mit Kleiſt 
von ihr erfaßt oder doch ſtark beeinflußt worden. Auch die Gebrüder Gerlach, 
ſelbſt Roon, ja fogar Bismarck wurden von ihr berührt. Waren ja doch Bis- 


172 Petersdorff: Aleiſt· Retzow 


marcks Schwiegereltern, Heinrich v. Puttkamer auf Reinfeld und ſeine Gemahlin 
Zuitgarde, geborene v. Glaſenapp, die geliebte Stiefſchweſter Kleiſt-Retzows, 
begeiſterte Anhänger dieſes modernen Puritanertums. Luitgarde v. Puttkamer 
ebenſo wie die erſte Frau Moritz Blanckenburgs und Blanckenburg ſelbſt haben in 
ihrem Glaubenseifer weſentlich auf Bismarcks religiöfe Stellung eingewirkt. Die 
tiefinnerliche religiöfe Richtung Kleiſt-Netzows ift der hervorſtechendſte Zug in 
ſeinem Weſen geworden und geblieben. 

Bei meinem Studium ſeines Lebensganges war es für mich nun wahrhaft 
ergreifend, zu verfolgen, mit welchem tiefen Ernſte dieſer Sproß des altberühmten 
hinterpommerſchen Geſchlechts der Kleiſte von früh an fein Leben auffaßte und 
wie er gerungen hat nach inniger Gemeinſchaft mit ſeinem Gotte, bis er ihrer ganz 
gewiß war. Um einmal Kleines mit Großem zu vergleichen: Kleiſts innere Kämpfe 
erinnern etwas an die Seelenkämpfe Martin Luthers, wie ſie neuerdings wieder 
von Adolf Hausrath in ſeiner Lutherbiographie geſchildert worden ſind. Ich hätte 
dieſen Gedanken nicht ausgeſprochen, wenn er mir gegenüber nicht auch von anderer, 
geſchätzter Seite geäußert worden wäre. Nicht oft wird der Entwicklungsgang 
ſelbſt bedeutenderer Männer ſo klar ermittelt werden können, wie der Kleiſts, von 
einer Prophezeiung ſeines erſten Erziehers an zu den Gewiſſenskämpfen auf 
Schulpforta und auf der Göttinger Univerfitat, dem Umgang mit dem frommen 
Baron Kottwitz in Berlin und zu dem religiös-politiſchen Drill unter der über- 
legenen Leitung des Präſidenten Ludwig v. Gerlach am Frankfurter Oberlandes- 
gericht. Es war mir auch wertvoll, den Nachweis zu erbringen, daß dieſer welt- 
flüchtige Pietiſt eine höchſt gründliche Schulbildung auf der berühmten Schul- 
pforta erhalten hat und diefe Anſtalt als primus omnium verließ. Es ift ja ein weit- 
verbreitetes Vorurteil, daß die Zunker nichts wiſſen und nichts gelernt haben. 
Friedrich Meuſel hat neuerdings überraſchende Proben von der gründlichen und 
vielſeitigen Bildung des märkiſchen Landadels zu Anfang des vorigen Jahrhunderts 
vorgelegt. Der pietiſtiſche Thadden Trieglaff war ebenfalls ein reich- und tief- 
gebildeter Mann. Nicht minder gilt das bekanntlich von Albrecht v. Roon. Auch 
Kleiſt-Retzow wird man jetzt den Junkern beizuzählen haben, die eine treffliche Bil- 
dung genoſſen. Noch auf der Univerfität zeigte er vielfeitige wiſſenſchaftliche 3n- 
tereſſen. Später hat er freilich nicht mehr ganz Schritt gehalten mit der allgemei- 
nen Entwicklung der Bildung und ſich mehr auf Übung feiner frommen Werke 
beſchränkt. 

Die Kernhaftigkeit feines Weſens und die felſenfeſte Gründung feiner religiös- 
politiſchen Stellung zeigten ſich zuerſt weithin bei Ausbruch der Revolution im 
Jahre 1848. Wie er in jener Zeit als Landrat des Kreiſes Belgard, als Mitbegründer 
der Kreuzzeitung und als jugendlicher Präſident des Junkerparlaments mannhaft 
und keck die Fahne der Monarchie hochhielt und den zerſtörenden Tendenzen ent- 
gegentrat, wird immer ein Ruhmestitel für ihn bleiben. Die allgemeine Aufmerk- 
ſamkeit lenkte ſich damals auf ihn. Der junge Landrat ſollte gleich Miniſter werden. 
Wenigſtens zog er in die Kammer ein und feierte dort bald Triumphe als ftir- 
miſcher und glänzender Vorkämpfer der konſervativen Ideen. Zugleich ſpielte 
ſich eins der reizendſten Idylle ab, die wir aus dem Leben großer Männer kennen, 


Peters borff: Melit-Nekow 173 


fein trautes Zuſammenleben mit feinem, nur durch wenige Monate von ihm im 
Alter getrennten angeheirateten Neffen Otto v. Bismarck. Die beiden waren da- 
mals die Verkörperung des Stockpreußentums. Ihr Name wurde ſtets zuſammen 
genannt. Faſt gleichzeitig ſtellte man ſie dann auf höhere Poſten. Bismarck kam 
nach Frankfurt, und der 36jährige Kleiſt nach Koblenz als Oberpräſident der ihm 
ganz fremden Rheinlande. 

Sieben und ein halbes Jahr hat er da auf exponiertem Poſten geſtanden. 
Seine Ernennung dorthin war ein großer Mißgriff des Minifterpräfidenten Otto 
v. Manteuffel. Allzu ſchwer war es für den wackeren Pommern, unter den lebens- 
luſtigen Rheinländern gegen eine widerwillige Beamtenſchaft und neben dem ihm 
damals nicht günſtig geſinnten Prinzen von Preußen und deſſen Gemahlin zu 
erſprießlichem Wirken zu gelangen. Viel Kraft wurde dabei von beiden Seiten ver- 
geudet, die beſſer anders hätte verwendet werden können. Gewaltige Friktionen 
hat Kleiſt damals zu überwinden gehabt. Aber er hat fie doch großenteils über- 
wunden, und es iſt ihm gelungen, trotz aller Widerwärtigkeiten und Anfeindungen 
wirklich viel des Bleibenden und Guten zu ſchaffen, was ſpätere Geſchlechter un- 
umwunden anerkannten. Wie er unerſchrocken mit glühendem Eifer und rieſiger 
Tatkraft voll ſittlichen Ernſtes der ihm geſtellten Aufgabe gerecht zu werden ſuchte 
und bar von jeder Menſchenfurcht auch gegen den willensſtarken Bruder ſeines 
Königs und die geiſtvolle Prinzeſſin Auguſta die Anſichten der Regierung vertrat 
und durchführte, das wird immer eine intereſſante Erſcheinung bleiben. Es zeigte 
fih damals — niemand wird das verkennen —, daß Kleiſt aus gen au demſelben 
Holze geſchnitzt war wie Marwitz. 

Bei Beginn der Regentſchaft des Prinzen von Preußen verließ Kleiſt, vier- 
undvierzigjährig, die Rheinlande. In einem Alter, wo andere erft zu höheren Stel- 
len zu kommen pflegen, war dieſer tatkräftige Mann, deſſen jugendliches Feuer 
alle Welt elektriſierte, als Beamter ſchon gleichſam zum alten Eiſen geworfen. 
Dafür öffnete ſich ihm jetzt wieder die parlamentariſche Laufbahn, indem er als 
Vertreter der Familie v. Kleiſt einen Platz im Herrenhauſe erhielt. Noch mehr als 
drei Jahrzehnte hat er ſeitdem fortan im Vordergrunde des parlamentariſchen 
Lebens geſtanden. Sein innerlicher Ernſt und ſein ſchon damals weißes Haar 
verliehen ihm etwas Patriarchaliſches. Sein heißes Blut bewirkte es aber, daß 
er zeitlebens ein Draufgänger blieb, und der ihm hauptſächlich von Ludwig Gerlach 
eingeimpfte Doktrinarismus machte ihn ungeeignet zu einem Staatsmann. Nichts 
ijt Kleiſt weniger geweſen als ein Diplomat. Seine Kampfnatur fand reichlich Ge- 
legenheit, ſich zu betätigen in den Jahren der neuen Ara und während des Streites 
um die Heeresreform. Mit Begeiſterung trat er in dem Verfaſſungskonflikt für 
feinen alten Freund Bismarck ein. Auch auf dem Wege nach Schleswig-Holitein, 
ja auch in den Feldzug gegen Öfterreich folgte er ihm nach, wenn auch ſchon wider- 
ſtrebend. Hatte er bereits in den erſten Jahren feiner parlamentariſchen Wirkſam- 
keit, als er mit Bismarck zuſammen lebte, einige Male in wichtigeren Fragen der 
Realpolitit den Entſchluß gefunden, fih von feinem politiſchen Lehrmeiſter Lud- 
wig Gerlach zu trennen, fo bewahrte er auch im Gegenſatz zu dem allzu doktrinären 
Präſidenten während der erſten Phaſen der deutſchen Politik Bismarcks die Ge- 


174 Petersdorff: Rleift-Rekow 


meinſchaft mit dieſem. Den Schachzug des großen Staatsmannes, den diefer mit 
der Indemnitätsforderung ausführte, vermochte Kleiſts Ooktrinarismus jedoch nicht 
gutzuheißen. Damals trat der erſte Riß in dem Freundſchaftsverhältnis zu Bis- 
marg ein. Zum Bruche kam es dann nach dem Deutſch-Franzöſiſchen Kriege bei 
Einbringung des Schulaufſichtsgeſetzes. Schon aus der Zeit der Berufung Bismarcks 
an die Spitze des Miniſteriums und aus den Tagen, da der engere Freundeskreis 
Kleiſts in Meinungsverſchiedenheiten über die Aufrollung der deutſchen Frage ge- 
riet, konnte ich in meinem Buche über Kleiſt wichtige Briefe mitteilen. Die Cnt- 
ſtehung des Bruches zwiſchen Bismarck und Kleiſt erfährt eine neue Beleuchtung 
durch einen von mir im Nachlaß Kleiſts aufgefundenen Brief des Kultusminiſters 
v. Mühler. Das geringe diplomatiſche Geſchick Kleiſts und fein Ooktrinarismus haben 
bier viel geſchadet, nicht nur feiner eigenen Partei, ſondern auch der Geſamtpolitik. 
Oas trifft ebenſo für die weitere Entwickelung des kirchenpolitiſchen Streites zu. 
Um ſo vorteilhafter tritt in jenen Jahren fein feſter Charakter hervor. Er ließ 
ſich nicht verbittern und trotz der ſchlimmen Behandlung, die ihm von Bismarck 
widerfuhr, bewahrte er perſönlich ein ſchönes Gleichmaß. Hochdramatiſch iſt die 
Rolle, die er bei dem Kampfe um die Kreisordnung ſpielte. Er iſt der eigentliche 
Organiſator dieſes Kampfes geweſen. Aber er war hier, wie überhaupt in der 
ganzen Zeit der liberalen Geſetzgebung, der Hemmſchuh einer gedeihlichen Ent- 
wickelung der Politik. Er wollte in der liberalen Flut gleichſam der Deichhaupt- 
mann fein, der die Springflut einzudämmen ſuchte. Das konnte ihm aber um des- 
willen nicht gelingen, weil er nicht genügende Fähigkeit zur Anpaſſung an den 
Gang der Dinge beſaß. Vielfach trieb er den leitenden Staatsmann durch fein Vor- 
gehen noch weiter in die liberale Bahn. 

Bei der großen Rechtsſchwenkung des Fürſten Bismarck fand der treue Mann 
dann wieder den Anſchluß an den Kanzler, und zwar nicht im Herrenhauſe, in dem 
er ſo manchen Strauß mit dem Zugendfreunde ausgefochten hatte, ſondern auf 
der Arena des Reichstages, in dem er ſeit dem Jahre 1877 in ununterbrochener 
Folge bis zu ſeinem am 20. Mai 1892 erfolgten Tode die frommen Lutheraner 
des Wahlkreiſes Herford-Halle vertrat. Kleiſts machtvolle Rede für das Sozialiften- 
geſetz vom 17. September 1878 veranlaßte den Reichskanzler, ihm nach ſo langen 
Jahren bitteren Grolles die Hand zur Verſöhnung zu reichen. In der fozialpoliti- 
ſchen Geſetzgebung war Kleiſt, wie fih denken läßt, Bismarcks eifriger Gefolgs- 
mann. Nur daß der Kanzler zur Frage der Sonntagsruhe eine mandefterlide Hal- 
tung beibehielt, trübte Kleiſts Freude an der von der Regierung eingeleiteten Sozial- 
politik. Es bildete einen der ſchönſten Triumphe ſeines Lebens, daß er bei den ſchon 
feit feiner Koblenzer Tätigkeit ſyſtematiſch angejteliten Bemühungen zur Durch- 
führung einer ſtrengeren Sonntagsruhe, die auf einen Schutz des kleinen Mannes 
gegen die Ausbeutung ausgingen, ſchließlich größere Erfolge erzielte. Seine red- 
neriſche Kraft trat zuweilen auch an anderer Stelle als im Parlament und in 
kirchlichen Körperſchaften eindrucksvoll in die Erſcheinung, ſo bei der Lutherfeier 
in Wittenberg im Jahre 1883, wo fic die gefeiertſten Rangelredner vor der flammen- 
den religidfen Beredſamkeit dieſes Laien ehrfurchtsvoll beugten. Seine mit Hammer- 
ſtein zuſammen unternommenen Schritte zur Stärkung der Stellung der evange- 


Petereborff: Kleiſt-Netzow 175 


liſchen Kirche entfernten ihn wieder weiter von dem führenden Mann feiner Zeit, 
ohne daß es darum aufs neue zum Bruche kam. Ze älter er wurde, je einflußreicher 
ſchien er zu werden. Seine unermüdliche Tatkraft hat etwas Wunderbares. Zu- 
letzt ſchien er fih auch zum Diplomaten zu entwickeln, wie feine Taktik bei der Be- 
ratung der Herrfurthſchen Gemeindeordnung zeigt. Hatte er ſchon früher oft ge- 
nug ſeine große Begabung für zweckmäßige Einrichtungen in der Verwaltung ge- 
zeigt, ſo auch diesmal. Ebenſo hatte er einen entſcheidenden Anteil an dem Erlaß 
des Rentengutgeſetzes. Eine ſchwere Enttäuſchung verurſachte es ihm, als das 
Zedlitzſche Volksſchulgeſetz zurückgezogen wurde. Seine letzte Tat war die Ent- 
fernung des Quertreibers bei jener Vorlage, des Herrn v. Helldorff-Bedra, aus 
der konſervativen Partei des Herrenhauſes. 

Ein ſchönes Familienleben, ein reicher Gedankenaustauſch mit Freunden, wie 
Blanckenburg, Ludwig Gerlach, dem auch mit Bismarck befreundeten Alexander 
v. Below-Hohendorf, dem Kreuzzeitungsredakteur Hermann Wagener, dem Pro- 
feſſor der Theologie Ernſt Ranke, dem Geheimrat Schede, dem Oberpräſidenten 
v. Senfft-Pilſach, Shadden-Zrieglaff, dem Gutsbeſitzer Andrae-Roman, dem Super- 
intendenten Meinhold und vielen anderen Männern, nicht zuletzt natürlich mit 
Bismarck, ein unabläſſiges Wirken auf dem Gebiete der Inneren Miſſion, nament- 
lich in ſeinem Heimatkreiſe Belgard, und dort vornehmlich in ſeinem Gute Kieckow 
und in der Stadt Polzin, umrankt und durchzieht anmutig das politiſche Wirken 
des Mannes. Zn ſeiner völligen Selbſtloſigkeit, ſeiner herrlichen Willenskraft, 
ſeinem köſtlichen Freimut, ſeinem glühenden Patriotismus und ſeiner kindlichen 
Frömmigkeit ſteht er bei aller innerlichen Gebundenheit vor uns als einer der lauter- 
ſten Charaktere, die es gegeben hat. Ebenſo ſtark aber wie der Eindruck ſeiner fitt- 
lichen Lauterkeit war der, den feine Feuerſeele hinterließ. Die „Frankfurter Zei- 
tung“ ſchrieb von ihm bei ſeinem Tode in einem glänzenden Artikel: „Wer ihn in 
den letzten Fahren reden fab und hörte, mußte an die Schilderung denken, die Freilig- 
rath in feinem erſten Gedicht, im, Moostee“, von den isländiſchen Vulkanen gegeben 
hat, in denen unter ſchneeigem Haupte die glühende Maffe lodert.“ Immer ehr- 
würdiger wurde dieſes Haupt mit dem dichten ſchlohweißen Haar. Sichtbar breitete 
ſich der Schimmer der Ewigkeit darüber aus. Er ruht, wo er geboren wurde und 
wo er ſtarb: auf ſeinem lieben Gute Kieckow. 

Der Typ des Puritaners, den Hans v. Kleiſt-Retzow vertritt, iſt unter dem 
altpreußiſchen Adel im Ausſterben begriffen. Man findet in dieſem kaum noch 
einen namhaften Vertreter desſelben. Seitdem iſt, gewiſſermaßen zurüdlentend 
zu dem Marwitzſchen Typ, die Zeit der Nichts-als-Agrarier für die Junker ge- 
kommen. Sie kämpfen um Sein und Nichtſein des Herrengeſchlechts, dem fie an- 
gehören. So war es wohl die rechte Stunde, als die Kleiſtſche Familie an mich 
berantrat und mich bat, dieſem Vertreter des alten Preußentums, der in einer 
langen Reihe von ſcharfumriſſenen Perſönlichkeiten einen ehrenvollen Platz ein- 
nimmt, ein biographiſches Denkmal zu ſetzen. 


Wë 


Heimfehr 


Von 


Eilhard Erich Pauls 


och lebte der Krieg. Wo er ſchritt, zerſtampfte ſein Fuß die Saaten 
und alles Hoffen; fein Atem war Feuer und verbrannte die Ge- 
höfte. Dörfer lagen vor ihm und blühendes Leben, Verweſen und 
SAU Wüſteneien zog er hinter fih her. An die dreißig Jahre fon hatte 

er gewährt und am Lande gefreſſen, ein Ende war nicht abzuſehen. l 

Noch lebte der Krieg. Da ging leicht ein junges Blut die Landſtraße dahin 
durch ſchlafenden Septembermorgen. Acker waren geweſen, ſchwarz und glan- 
zend im Frühjahr, im Hochſommer ein goldenes Wogenmeer, als noch der Frie- 
den auf der Höhe kornſchwankender Wagen ſaß und fang. Der Krieg ſchritt vor- 
über, einmal und wieder; und die Heide zog über das Ackerfeld und zeigte ihre 
troſtloſe Pracht und Herrlichkeit. 

Der Knabe ſchritt einher mit trotzigen Augen. In allen anderen Zeiten wäre 
er ein Kind von zwölf Jahren geweſen. Der Krieg hatte ihn geboren, der Krieg 
hatte ihn erzogen. Der Krieg erzieht in zwölf Jahren harte, ſelbſtändige Männer. 
Der Krieg will Krieger haben. So führte auch der Knabe an feiner Seiten ein 
langes Hiebſchwert und am Gürtel eine blank geputzte alte Reiterpiſtole. Sein 
Stolz aber war ein langes Dolchmeſſer, das ihm im ſelben Gürtel ſteckte, auf deſſen 
Griff feine Hand liebkoſend ruhte. Der Griff war aus Stahl wie die Klinge. Dar- 
auf war mit feinen Strichen eingeritzt die Heimkehr des verlorenen Sohnes, der 
auf die Knie niederfällt: „Vater, ich habe geſündigt im Himmel und vor dir!“ 
Oer Vater aber erhebt ſich von ſeinem Thronſitze, breitet die Arme aus und geht 
ihm entgegen, feinen lieben Sohn aus dem Staube zu heben. Der Knauf des Dold- 
griffes zeigte einen großen, feuerroten Rubin. Den Dolch liebte der Knabe. Er 
war ihm in ſeiner gleich einer jungen Wildkatze geſchmeidigen Gewandtheit eine 
angemeſſenere Waffe als das große Hiebſchwert, für das ſeine junge Kraft nicht 
ausreichen wollte. Der lange Dolch war ihm mehr als einmal in Herbergen und 
wilden Händeln Lebensretter geweſen. Der Rubin hatte auch in des Knaben raſcher 
Hand mehr als einmal geleuchtet, wenn der blanke Stahl vor ihm fremdes Blut 


wi 


t 


Pauls: Heimtehr 177 


trank. Den Solch hatte der Knabe in den Trümmern einer geweſenen Stadt ge- 
funden. Eine Frauenleiche hatte dabei gelegen. 

Nach langer Wanderung über wüſtes Land und durch verwildernden Forſt 
ſtand der Knabe am Waldrande. Die Straße und das Land ſenkten ſich vor ihm 
zu einer weiten Ebene, die rings von Höhen und ſchützenden Urwäldern, gleich dem, 
den er in ſtundenlanger Wanderung durchquert hatte, umgeben war. Grüne Wie- 
ſen füllten die Ebene aus, in deren Mitte ein Dörfchen in der Sonne lag. Das 
ſcharfe Auge des Knaben entdeckte in nächſter Nähe des Dörfchens gar einige 
wenige kümmerlich angebaute Felder. 

Her Knabe ſtand lange ſtill und fab ernſt und trotzig in die Ebene. 

„Das ift alfo Buchholz“, flüſterte er. „Das alfo ijt die Heimat.“ 

Dann ſchritt er weiter. 

An einer Biegung des Weges ftand ein Stein. Darauf ſaß ein Weib, das 
mit ihren ſchwachen, rot umränderten Augen den Knaben erſt ſah, als er dicht 
vor ihr ſtand. 

Dann aber ſprang das häßliche, alte, zerlumpte und ſchmutzige Weib mit 
fliegender Haft auf und warf fic dem Knaben zu Füßen, ehe er zur Seite ſpringen 
konnte, klammerte ihre dünnen, kraftloſen Arme um des Knaben Beine und küßte 
inbruͤnſtig die ſchmutzigen Stiefel. Mit dem Gefühl des Giele riß der Knabe fidh 
los. Aber die Alte rutſchte auf den Knien ihm nach, umklammerte wieder mit 
zitternder Haſt ſeine Beine, barg den verwitterten Kopf im Staube der Straße 
und ſchrie in die Erde hinein: 

„Mein Junge, mein kleiner Junge!“ 

Und nach einer Weile, die der Knabe fie mit Ekel halb und halb mit Mitleid 
betrachtet hatte, richtete ſie ſich auf, betaſtete mit zitternden Händen das Tuch 
ſeiner Hoſen, ſein Schwert, ſeine Reiterpiſtole, richtete ſich auf den Knien auf, 
rutſchte näher zu ihm heran, der unwillig ſtehen blieb, und ſah ihm voll in das 
trotzige Geſicht. Die triefenden, roten Augen des alten, verlotterten Weibes wur- 
den ſchön im Strahl der Mutterliebe. 

„Wilde Reiter haben meinen kleinen Zungen geraubt. Mein kleiner Zunge 
iſt wieder gekommen. Ich habe jeden Tag auf ihn gewartet, jeden Tag, Sommer 
und Winter.“ 

Der Knabe ſtampfte mit dem Fuße, böſer Arger funkelte in ſeinem harten 
Geſichte. 

„Teufel, dann ſeid Ihr Alte meine Mutter!“ fluchte er. | 

Und die Alte taftete liebkoſend an dem Tuche feines Anzuges und ftammette 
antwortend: 

„Mein lieber kleiner Zunge, mein Zunge, mein —“ 

Und dabei warf fie ſich wieder in den Staub nieder und ſchrie den Namen 
heraus, immer wieder, bis ihr gieriges Schreien in ein klägliches Wimmern 
überging: 

„Mein Heiner, Heiner, mein Heiner!“ 

Da atmete der Knabe auf und fchüttelte ſich, und fein Geſicht wurde wieder 
glatt. Der Ekel entſchwand daraus, das harte Unbehagen darin wich dem au 

Der Türmer XI, 8 


178 Pauls: Heimkehr 


~- „Ich heiße nicht Heiner“, ſagte er, und leiſe murmelte er: „Diable, ich wäre 
umgekehrt, ſollte das Weib meine Mutter ſein. 

„Mein lieber, mein Heiner!“ wimmerte das Weib im Staube der Straße. 

„Ich bin Euer Zunge nicht!“ rief der Knabe ärgerlich. „Ich gehöre dem 
Pfarrer von Buchholz. Fit das da Buchholz?“ fragte er. 

Das vertrocknete Weib ſtand langſam auf. Langſam nickte es und langſam 
weinte es. 

„Mein lieber kleiner Junge!“ 

Den harten Knaben wandelte faſt eine Weichheit an, der er ſich ſchämte. 

„Wenn das Buchholz iſt, ſo kommt, Mutter, ich will heim!“ 

Als er fie aber „Mutter“ anredete, brach das Weib wimmernd in fih zu- 
ſammen. 

„Mein Heiner, mein lieber kleiner Junge!“ ſchluchzte fie. 

Der Knabe ließ fie liegen und weinen und ſpielte mit dem Dolche in feinem 
Gürtel, während ſie in den Staub und Schmutz der Straße ihre haſtigen Hände 
eingrub. 

Als ſie endlich ruhiger wurde, begann er zu fragen: 

„Wann wurde Euer Heiner geraubt?“ 

Das Weib glotzte ihn verſtändnislos an, daß er feine Frage mehrmals wieder- 
holte. Dann griff ſie erſchreckt in ihre Haare und zog eine dünne Strähne weißen, 
ſchmutzigen Haupthaares ins Geſicht. Ein irres Lächeln ſpielte um ihren Mund. 
Dann redete ſie leiſe und raſch: l 

„Des Pfarrers Zunge wurde geraubt. Heißt er Hans?“ 

Der Rnabe nidte. 

| „Des Pfarrers Hans wurde geraubt. Als des Pfarrers Hans geboren wurde, 
war mein Heiner ſchon in der Welt, ſchon lange im Kriege. Als mein Junge von 
den Soldaten fortgeſchleppt wurde, mein lieber kleiner Zunge, da waren meine 
Haare braun.“ | 

Sie blickte wieder auf den Jungen vor ſich und nickte ihm vertraut lächelnd zu. 

„Ich habe lange auf dich gewartet, Heiner, febr lange, Sommer und Winter, 
bis meine Haare weiß wurden. Aber ich wußte, daß du wieder kommen würdeſt. 
Nun mußt du auch lieb ſein, Heiner.“ 

Der Knabe ſtieß fie ärgerlich mit den Füßen von fih, als fie ſich ihm wieder 
verlangend nähern wollte. 

„Euer Knabe muß jetzt groß ſein, wenn er ſo früh ſchon geraubt wurde“, 
ſagte er. „Ich ſah geſtern in der Stadt einen Soldaten, der ſagte in der Schenke, 
daß er nach Buchholz wollte. Darum brach ich frühe von der Stadt auf, denn ich 
wollte vor ihm hier ſein. Das wird Euer Heiner ſein.“ 

„Mein Heiner iſt ein lieber kleiner Zunge“, ſagte das Weib bekümmert. 

„Mein Vater aber iſt der Pfarrer von Buchholz“, ſprach der Knabe entſchieden. 

Da ging ein häßliches Lachen über des alten Weibes häßliche Züge, ein 
Lachen faſt des Haſſes und befriedigten Haſſes. 

„Ihr feid mein Heiner nicht“, ſagte fie und nickte fortwährend mit dem Kopfe. 
„Mein Heiner iſt ein lieber kleiner Zunge. Aber Ihr ſeid des Pfarrers. O ja, 


Pauls: Heimkehr 179 


Shr werdet Freude haben an Eurem Vater, und er wird große Freude haben an 
ſeinem Sohne. Der Herr Pfarrer führt ſtraffe Zügel, wenn er auch keine Hände 
mehr hat. Und wenn Ihr hingeht, mein hübſcher junger Herr Soldat“ — die 
Alte höhnte mit dem heiſeren Klang ihrer Stimme —, „den Empfang, wißt Ihr, 
den möchte ich gar gerne mit anſehen.“ | 

Der Knabe, der fich ſelbſt Hans genannt hatte, wandte fic) verächtlich von 
der Alten ab und ging dem Dorfe zu, das im Wieſengrunde vor ihm lag. Das ver- 
trocknete Weib humpelte hinter ihm her. Einmal noch redete er ſie an: 

„Lebt meine Mutter?“ 

Der Ton ſeiner Frage verriet Angſt. 

„Die Pfarrerin?“ antwortete das Weib. „Ob fie noch lebt? — Wer weiß? 
Schwediſche Reiter, wißt Ihr, kamen. Von der Pfarrerin ſah man ſeitdem nichts 
mehr.“ 

„So!“ ſagte der Knabe hart und trotzig. 

Er griff mächtig aus. Unruhe überfiel ihn, wo er das Dorf ſeiner Heimat 
vor ſich ſah; heilige Angſt, wo die nächſte Stunde ihn zu ſeinem Vater führen 
ſollte; und gewaltiges Heimgefühl bewegte ihn, den zwölfjährigen Knaben, der 
ſechs Jahre ſeines jungen Lebens in einem wilden Soldatentroß gewandert war 
und nicht wußte, was Heimat und was Mutterherz und Vaterhaus bedeutete. 

Das Weib hinter ihm kicherte leiſe. 

Unruhe und Angſt wuchſen in dem Knaben. Sein Herz klopfte, feine Hände 
fpielten unruhig mit dem Dolch in feinem Gürtel. Faft lief der Knabe, aber das 
Weib folgte dicht auf feinen Ferien, immerfort vor ſich hinmurmelnd und kichernd. 

Bei den erſten zerfallenen Hütten des Dorfes ſtutzte der Knabe. Ein zer- 
riſſener, häßlicher, tönerner Schall ſchrie durch das Dorf. Er ſah ſich fragend nach 
dem Weibe um, das in raſchem Trott hinter ihm war und faſt mit ihm gufammen- 
geſtoßen wäre, als er ſtehen blieb. Das Weib lachte. | 

„Es läutet zur Kirche“, fagte fie. „Da findet Ihr Euern Vater gleich. Den 
Empfang, den Empfang, da werd' ich ihn ſehen.“ 

Der Knabe runzelte die Stirn und ging langſam weiter. Zu beiden Seiten 
des Weges ftanden verfallene Hütten, aber kein Menſch ſtand vor den offenen Türen, 
keiner trat bei dem ſchrillen Schrei der zerſprungenen Betglocke auf die ſchmutzige 
Straße. 

Hans war ſchon eine Strecke in das Dorf hineingegangen, als er die erſten 
Menſchen ſah. Da ftanden ſich zwei Hütten einander gegenüber. In der halb 
hängenden Tür der einen Hütte ſtand ein junges Weib, ein elend krankes Kind 
auf dem Arme. Das Weib ſah gleichgültig der Arbeit eines alten Bauern zu, der 
von ihrer eigenen Hütte Latten losſchlug und damit die klaffenden Schäden des 
gegenüberliegenden Häuschens ausbeſſerte. Der Bauer war verwittert und grob, 
aber das junge Weib war ſchön. | 

„Wo iſt das Pfarrhaus?“ fragte Hans. 

Der Bauer ſah ihn lange Zeit ſtumpf und erſtaunt an. Endlich fragte er: 

„Wer ſeid Ihr?“ 

Und packte die Axt, mit der er arbeitete, kräftig am Griffe. 


180 Pauls: Heimkehr 


Das alte Weib, das mit Hans gekommen war, antwortete: 

„s iſt des Pfarrers Zunge, den die Schweden mitgenommen haben. Er iſt 
wiedergekommen, mein Heiner ift nicht wiedergekommen“, fekte fie kläglich hinzu. 

Der Bauer ſah Hans ſtumpfſinnig an, aber die junge Frau legte ihr Kind auf 
die Straße, kam herüber zu Hans, ergriff des Knaben Hand und küßte ſie zärtlich. 

„Schöner Soldat!“ flüſterte ſie. 

Die anderen lachten. 

„Hörſt du die Kirchenglocken, Bauer?“ fragte das alte Weib. „Wir müſſen 
in die Kirche. Denk an den Empfang!“ 

Da grinſte der Bauer. 

„Seid Ihr der Mann der Alten?“ fragte Hans. 

Der Bauer nickte. 

„Dann kommt Euer Heiner auch noch heute. Zch traf ihn in der Stadt. 
's iſt Friede, glaub’ ich.“ 5 

„Unſinn!“ rief der Bauer. „Kommt zur Kirche!“ 

Hans folgte ihm, ebenſo die Frauen. Das kranke Kind ließen ſie ſorglos 
auf der Straße zurück. 

Die Kirche war groß, aber wie alles ringsum verfallen. Der Platz war an 
allen Seiten rot überſät von den Stücken der heruntergefallenen und zerbrochenen 
Dachziegel. Auch die Mauern begannen zu zerbröckeln. 

Sie war groß, ſie hätte Hunderten Platz geboten und hatte es getan, ehe 
der Krieg das Land verheerte. Zegt mochten zwanzig beim Gottesdienſte fein, 
Männer und Weiber, alle bekümmert und ſtumpfſinnig. Und dieſe zwanzig waren 
alle Bewohner des Dorfes, die von vielen Hunderten übriggeblieben waren. 

Der Bauer und die beiden Weiber traten zu den Verſammelten. Hans 
folgte ihnen langſam. Er hatte Angſt, Angſt vor dem Empfang, den ſie alle mit 
anſehen wollten. Da war es ihm ganz recht, daß er ſeinen Vater in der Kirche 
erſt ſehen konnte, ehe er ihn begrüßte. 

Der Pfarrer ſtand inmitten des weiten Altarraumes, der durch eine Schranke 
von dem Schiffe der Kirche abgetrennt war. Er ſtand regungslos da, die Arme 
tief in die Falten eines zerriſſenen Talares verſteckt, an den Altartiſch gelehnt, 
auf dem zwei Kerzen brannten, die ohne Leuchter auf den Tiſch feſtgeklebt waren. 
Der Pfarrer ſah ſtarr vor ſich hin. 

Hans hatte Zeit, den Vater zu ſehen, und Muße genug, in den Mienen des 
Mannes dort zu ſuchen, was in der Erinnerung als Vater ihn begleitet hatte, 
wenn er in der Mitte wüſt ſcheltender Troßweiber hinter einem Heere herzog. 

Der Pfarrer war groß und hager, das Geſicht war ſtreng und hart und immer 
bewegt von nervöſem Zucken. Aber die Augen waren nicht zu ſehen. 

Es drängte Hans, vorzuſtürzen, vor dem Manne niederzufallen. Er hatte 
nie daran gedacht, daß ſein Mund um Liebe betteln könnte. Sein Herz kannte die 
Liebe nicht. Zetzt zog es ihn vorwärts. Aber Angſt und Scheu hielten ihn zurück. 

Die zwanzig bekümmerten Geſtalten, die die Gemeinde ausmachten, ftan- 
den ſtumm nahe der Rampe. Sie alle ſahen zum Pfarrer hin und in allen Geſichtern 
ſtand Angſt. 


Pauls: Heimtehr 181 


Es war ganz ſtill in der Kirche. Die Orgel lag in Trümmern, geſungen ward 
hier ſeit Jahren nicht. Und die Stille legte ſich ſchwer auf das verängſtete Herz 
des Knaben. Er hielt es nicht aus, wie die zwanzig Bauern und Weiber um ihn, 
mit ergebener Scheu zu dem ſtummen Pfarrer zu ſtarren und geduldig auf ſeine 
Worte zu warten. Hanſens Augen irrten unruhig in der Kirche umher, blieben an 
dem Altarbilde über der Geftalt feines Vaters haften, das die Oſtergeſchichte dar- 
ſtellte. Mitten durch das Bild ging ein großer Riß, der nur notdürftig wieder ge- 
flickt war. Hanſens Augen irrten zu den Fenſtern, in denen die Glasſcheiben zer- 
brochen waren, zu der Kanzel, die zuſammengeſtürzt war, und irrten wieder zurück 
zu dem Pfarrer, der noch immer ſtumm vor dem Altartiſche ſtand. 

Größer wurde die Angſt in des Knaben Herz, haſtiger noch ging ſein Atem. 

Da hob der Pfarrer langſam und ſchwer die Augen, die lagen tief und brann- 
ten von flackerndem Feuer. | 

Und er begann zu predigen. | | 

Seine Stimme war gebrochen und heifer. Das hatte ein Schwedentrunt 
gemacht. Aber er ſprach ſehr langſam und deutlich. | 

Und er redete. 

Hans zitterte, hielt fih nur mit Mühe auf den Beinen. 

Und der Pfarrer ſprach: 

„Ihr wißt, daß die Raiferliden unſere große Altarbibel mit ſich genommen 
haben, und ihr wißt auch, daß ich, ſeit die Schweden hier waren, eine Bibel nicht 
mehr halten kann.“ 

Dabei ſtreckte er mit einer jähen Bewegung beide Arme vor, ſchlug die Salar- 
ärmel mit einer ungeſchickten Bewegung zurück und hielt der Gemeinde zwei 
brennend rote Armſtümpfe entgegen. : 

Hans machte einen raſchen Schritt vorwärts. 

„Vater!“ flüſterte er entſetzt. 

Aber er blieb an ſeinem Platze. 

Und der Pfarrer redete weiter: . 

„Ihr wißt aber auch ohne Bibel, daß ich euch das Wort Gottes rede, wie 
es dieſe Tage uns offenbaret iſt, wie es dieſe langen ſchrecklichen Jahre uns offen- 
bart iſt.“ À 
Er hielt inne, er ſchöpfte tief Atem, als mache es ihm Beſchwerde zu reden, 
als ſuche er die Worte für ſeine Gedanken. Er hatte ſeine Armſtümpfe wieder in 
den Falten feines Talars vergraben. Er ſtand wieder ganz ſtill an den Altartiſch 
gelehnt. Rein Glied bewegte er, auch fein Geſicht war ſtarr geworden. Die heiſere 
Stimme kam aus einer Maſchine. 

Langſam ſprach er weiter: 

„Mir ſind Gottes wunderbare Wege klar geworden. Wenn ich richtig rechne, 
ſo ſind, ſeit der Krieg in fernen Gegenden anhub zu wüten, da unſer Dorf noch 
den lieblichen Traum ewigen Friedens ſchlummerte, dreißig Jahre vergangen, 
wenn anders ich richtig rechne. Aber ich habe das Rechnen verlernt in dieſer Zeit, 
wie ihr das Denken verlernt habt, und es können der Jahre mehr ſein oder auch 
weniger. Dreißig Jahre aber find ein Menſchenleben. Da merkte ich Gottes Wege. 


182 Pauls: Heimkehr 


Die Saaten find verſtampft, unſere Felder find elend geworden, eure Hütten ver- 
fallen, und dies Gotteshaus wird in wenigen Jahren über uns zuſammenbrechen. 
Da merkte ich Gottes Wege. Denn ſehet, in wenigen Jahren werdet ihr keiner 
Hütten mehr bedürfen, und wir alle nicht mehr eines Gotteshauſes. Seht, der 
Krieg kam ins Land, einmal und ein zweites Mal und wieder, der Krieg kam und 
ging, und unſere Herzen ſind ſehr einſam geworden. Sehr einſam ſind ſie geworden.“ 

„Vater!“ ſtöhnte Hans, aber er blieb an ſeinem Platze. 

„Da merkte ich Gottes Wege: Denn der Krieg kam aus Gottes Sand. Es 
ſind zwar einige unter euch, die meinen, daß der Krieg nicht aus Gottes Hand käme. 
Die reden in ihrem törichten Herzen: Es iſt kein Gott. Ich aber ſage euch, und ich 
weiß, was ich euch ſage: Es gibt nur einen Gott, und dieſer eine Gott ſandte den 
Krieg. Es wollen zwar einige unter euch nicht ſtille halten und reden, es ſei ein 
Teufel in der Hölle, und Satan hätte den Krieg geſandt und ſeine Feldoberſten 
in die Welt. Ich aber ſage euch, und ich weiß, was ich ſage: Gott hat den Krieg 
geſandt, und es gibt keinen Teufel.“ 

Der Pfarrer hielt an, aber ſeine Augen blieben ſtarr und brannten. Unter 
den Bauern war keine Bewegung, und keine Bewegung in ihren Geſichtern. 

Und wieder redete der Pfarrer: 

„Den Krieg ſandte Gott und Hungersnot und Krankheit, die Teufel in der 

Menſchheit ſandte er, papiſtiſche und lutheriſche Heere, beides eins; denn auch Gott 
weiß, was er tut. Es ſind Jahrtauſende her, aber die Geſchichte kennt ihr alle, 
da ſandte Gott die Waſſer aus, aus dem Himmel und aus der Tiefe, denn die Sünde 
der Menſchheit ſtank zum Himmel. Und eine große Sündflut erſäufte alle Menſchen. 
Das war vor vielen Jahrtauſenden. Aber damals wußte Gott noch nicht, was er 
tat. Jetzt aber weiß er es. Und ich habe feine Wege erfahren und tünde fie euch. 
Damals vor den vielen Jahrtauſenden, aber ihr kennt alle die Geſchichte, damals 
ließ Gott einen Menſchen leben und ſeine Familie, den Noah. Und das war ein 
Fehler, den Gott nicht ein zweites Mal tun wird. Er wird uns jetzt alle verderben, 
und keiner wird entkommen. Solches verkündige ich euch als den heiligen Willen 
Gottes.“ 
N Der Pfarrer hatte zuletzt laut geſprochen, ſeine gebrochene Stimme hatte 
ſchrill geklungen. Sekt hielt er erſchöpft inne. Die Geſichter feiner Zuhörer waren 
febr bekümmert. Der Weiber etliche heulten, aber die Bauern nickten ernſt und zu- 
ſtimmend zu den furchtbaren Worten ihres Pfarrherrn. SE umklammerte krampf⸗ 
haft den Griff ſeines Dolches. | 

Und wieder begann ruhig und heifer der Pfarrer: 

„Wenn Gott die Menſchheit alſo verderben will, und ich kündete euch dieſen 
ſeinen heiligen Willen, fo müßt ihr als ſeine Kindlein ihm ſtille halten und gebor- 
chen. Wie könnt ihr euch vermeſſen, euch zu wehren gegen Gottes allmächtige 
Größe? Ihr ſeht es draußen auf allen Straßen, das Haus verdirbt, wo der Bauer 
nicht hilft. Aber was nützt die Arbeit eurer Hände? Das Feld verdirbt, wo nicht 
geſät wird. Aber was hilft eure Saat? Die Hufe feindlicher Roſſe ernten. So 
hat der Herr von uns die Hände genommen. Was wollt ihr euch ſträuben? 3% 
fage euch, ſeid ſtille im. Herrn. Und gehorchet feinen Geboten!“ 


> 


Pauls: Heimkehr 185 


Da kroch ein ſtarkknochiges Bauernweib zu der Rampe heran und ſchrie: 

„Wir wollen ſtille ſein und gehorchen. Was ſollen wir tun?“ 

Über des Pfarrers fanatiſch finſteres Antlitz ging ein Schein von Milde, 
aber er rührte kein Glied und keine Miene, als er weiter ſprach: 

„Ich bleibe bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“ 

Und das war den Bauern und ihren Weibern ein großer Troſt. Ein Zug 
der Ruhe ging über ihre Geſichter, in denen angeſtrengtes Nachdenken lag. Hans 
war betäubt von dem, was ſein Vater ihm gepredigt hatte. 

Und der Pfarrer fuhr fort: 

„Was ihr tun ſollt, werde ich euch jederzeit ſagen. Ihr ſollt eure Felder nicht 
bebauen, denn eure Felder ſollen wüſte liegen, ſpricht der Herr. Ihr ſollt keine 
Hütten errichten, denn eure Hütten ſollen zu Staub werden, ſpricht der Herr. 
Ihr ſollt nicht Feſte feiern für euern Leib, denn eure Leiber ſollen zu Aſche werden, 
ſpricht der Herr. Ihr follt nicht freien und hochzeiten, denn der Herr will uns ver- 
derben, ſpricht der Herr. Und —“ 

Der Pfarrer richtete ſich gerade auf und richtete beide roten Armſtümpfe 
gen Himmel — 

„And wo ihr einen Soldaten findet, da ſollt ihr ihn totſchlagen, ſpricht der 
Herr, denn das iſt ein Teufel!“ 

Der Pfarrer fant wieder zuſammen und vergrub feine Arme, an denen die 
Hände fehlten. Die Bauern aber erhoben ſich. Die Weiber kreiſchten in heller Wut, 
ihre Geſichter waren verzerrt, und die Männer packten ihre Knüttel feſt, die ſie 
mitgebracht hatten, und ſchlugen hart gegen die Steinflieſen und gegen das Holz- 
werk der Rampe, und fluchten und ſtießen zornige Drohworte aus. Der älteſte 
der Bauern trat vor und ſprach für alle: 

„Ja, Pfarrer, das wollen wir alles tun, beſonders aber das Letzte!“ 

Und alle Bauern und Bauernfrauen um ihn ſchrien: 

„Beſonders aber das Letzte!“ 

Ein Bauer erhob ſeinen Knüttel und ging auf Hans los, der ſeinen Dolch 
gepackt hatte und entſetzt „Vater!“ rief. Da aber ſprang das junge irrſinnige 
Weib vor, das ihr Kind im Staube der Straße hatte liegen laſſen, ihn zu ſchützen. 
Und der alte Bauer, der Hans mit in die Kirche genommen hatte, rief: 

„Den laßt, das iſt des Pfarrers Knabe, der zurückgekehrt iſt.“ 

Zn den Tumult hinein redete der Pfarrer wieder, der wieder feine ſtarre 
Ruhe angenommen hatte: 

„Ja, die Soldaten ſollt ihr totſchlagen wie räudige Hunde, ſpricht der Herr. 
Und ſo einer eurer Knaben, die in den Krieg gegangen ſind, zurückkehren, ſollt 
ihr ſie verſtoßen, ſpricht der Herr!“ 

Da ward es totenſtill in der Kirche. 

Scheu und furchtſam drängten die Bauern von Hans zurück, der zitterte. 
Sie gaben ihm den Weg zu feinem Vater frei. Der aber hatte wieder die Augen- 
lider geſenkt und ſtand an den Altartiſch gelehnt; nur in ſeinem Geſichte zuckte es 
wie von wilder Aufregung. In der Kirche aber war das Schweigen banger An- 
dacht und furchtſamer Erwartung. 


184 Pauls: Heimkehr 


Da ſtürzte der Knabe vor. Durch die Rampe lief er. Die Bauern drängten 
ihm nicht nach. Nur das irrſinnige, junge, ſchöne Weib folgte ihm langſam, 
das ihn vorher ſchon beſchützt hatte. Bis an die Stufen des Altars rannte der er- 
regte Knabe. Dort warf er ſich vor ſeinem Vater nieder und m: ihm feine Ber- 
zweiflung entgegen: 

„Vater! Vater!“ 

Der Pfarrer öffnete jäh ſeine Augen, in denen das wilde Feuer brannte, 
ſtreckte den Oberkörper weit vor, breitete die Armſtümpfe wie abwehrend vor ſich 
aus und ſah mit entſetzten Augen ſtarr vor fih auf den. Knaben. 

„Hans!“ rief er. 

Es war der Schrei eines todwunden Herzens. 

In dem Antlitze des Pfarrers arbeitete eine mächtige Erregung. Feder 
Nerv zuckte, die Naſenflügel bebten, langſam zog ſich die Stirnhaut zu einer tiefen 
Falte zuſammen. Sein Atem ward zu einem Stöhnen, ward das Röcheln eines 
Sterbenden. Und neben dem Atmen des Pfarrers war kein Laut zu hören in 
der weiten Kirche. 

So ſtand der Pfarrer eine Ewigkeit, ſtarr und kämpfend. Und vor ihm lag 
ſein Knabe, taſtete mit bebender Hand nach dem langen Gewande ſeines Vaters, 
aber erhob nicht ſein Antlitz. 

„Vater!“ flüfterte er. 

Da zuckte ein Stöhnen durch den Körper des Mannes, und dieſes Stöhnen 
klang hart durch die Kirche und machte das Herz eines jeden erbeben. Der Knabe 
wimmerte zu ſeinen Füßen. Der Pfarrer aber richtete ſich hoch auf. Sein Geſicht 
war ſtahlhart geworden, das Feuer in ſeinen Augen aber glühte in irrſinniger 
Glut. Er barg wieder die Stümpfe ſeiner Arme im Talare und ſtand wieder er- 
ſtarrt da wie vordem, da er predigte. 

And er ſprach, doch ſein Flüſtern war heiſer, raſſelnd geworden. Aber 
ſeine Worte waren deutlich für jeden bis in den letzten Winkel der Kirche hinein, 
und der Ton ſeiner Stimme ging durch die Seelen wie Schwerter. 

„So euer Knabe heimkehrt aus dem Kriege, ſollt ihr ihn verſtoßen, ſpricht 
der Herr, denn er will uns verderben!“ 

Wuchtig wie Keulenſchläge fielen dieſe wilden Flüſterworte. Schweiß ſtand 
dem Pfarrer auf der Stirne. Der Knabe aber weinte. j 

Und dann redete der Pfarrer weiter, und feine Predigt bohrte fid in die 
ächzenden Herzen ſeiner Bauern und erregte in dieſen Herzen Grimm und Wut 
und Verzweiflung. 

„Denn der Herr will uns verderben. Ich habe gekämpft, ich habe gezweifelt, 
aber ich habe erkannt den Willen des Höchſten. Groß und gewaltig iſt ſein Name. 
Die Menſchen ſind zu einem Greuel geworden. Darum will er die Menſchheit 
vertilgen von ſeiner Erde. Wir hören und gehorchen. Oder habt ihr des Greuels 
noch immer nicht ſatt, ihr Gequälten?“ 

Als der Knabe, der vor ihm auf den Altarſtufen lag, lauter weinte, flüſterte 
er faſt weich: 

„Weine nicht, Knabe! Hans, weine nicht. Du ſollſt gehorchen.“ 


~ 


Pauls: Heimkehr 185 


Dann aber fuhr er drohend fort: 

„Wollt ihr den Greuel ewig machen auf dieſer Erde? Soll ich euch erinnern 
an eure Schreckniſſe? Als die Schweden hier geweſen waren, da war mein Weib 
verſchwunden, wie vor ihm mein Knabe hier. Da ſuchte ich mein Weib im Tale 
aufwärts und abwärts, in den Wäldern ringsum und in den Dörfern ringsum, 
auf den Straßen, die nach Süden führen, und auf den Straßen, die nach Mitter- 
nacht gehen. Da ſuchte ich mein Weib zwei Wochen lang und fand es nicht und 
fand nicht ſeine Leiche. Und du, Bauer dort, und du, alte Mutter, wenn euer Sohn, 
auf den ihr wartet, heimkehren wird, dann wird er ein Soldat ſein, ein Räuber 
und Mordbrenner. Die Soldaten tötet, ſpricht der Herr.“ 

„Mein Heiner iſt ein lieber, kleiner Junge,“ flüſterte das Weib und kicherte. 

„Oder ſoll ich euch an eure Höfe erinnern, euer Hab und Gut und Beſitztum? 
Ehe der Krieg hierherkam, waren acht große Bauerngüter hier, die kleinen nicht 
zu zählen. Iſt anderes übrig geblieben von den Bauernhöfen als ein einziges, 
irrſinniges Weib, das ſeit einem Jahre ein Soldatenkind hat? Und dies iſt das 
einzige Rind in dem Dorfe Buchholz und ift elend und wird übers Jahr tot fein. 
Vo find eure anderen Kinder geblieben? Eure ſüßen kleinen Knaben mit den offe- 
nen Augen? Eure Mädchen mit den blonden Zöpfen?“ 

Von den Weibern heulten einige laut, den Bauern aber verzerrte Wut die 
Geſichter. | 

„Wieviel waren ihrer im Oorfe, und keines ift übrig geblieben. Soll ich euch 
reden von dem Tage, da die Soldaten kamen? Jd) weiß es nicht mehr, ob es 
Papiſten waren oder Ligiften, ob fie kaiſerlich waren oder ſchwediſch, ob fie Pappen- 
heim gehorchten oder Mansfeld oder Torſtenſon oder Wrangel. Soldaten waren 
es, genug, Soldaten waren es. Schlagt ſie tot, ſpricht der Herr!“ * 

„Schlagt ſie tot!“ ſchrien antwortend die Bauern. 

„Seht, das war ein einziger Tag und eine Nacht. Wieviel Kinder ſpielten 
vor jenem Tage im Dorfe? Nach ihm war keins mehr da. Sie waren betrunken, 
die Soldaten. Sie töteten nicht die Weiber und töteten nicht die Männer, fie mor- 
deten nur die Kinder, die Herodesknechte.“ 

Die Bauern ſchäumten vor Wut, wie ſie jenes ſchrecklichen Tages gedachten. 

„Eure lieben kleinen Rinder, Knaben und Mägdlein. Deines und deines 
und deines —“ i 

„Schlagt fie tot!“ ſchrien die Bauern. 

„Schlagt ſie tot!“ ſchrien die Weiber. 

„Vater!“ rief Hans und bedeckte entſetzt mit beiden Händen ſeine Augen, 
ſeine Ohren und wieder ſeine Augen. 

„Tötet ſie, ſpricht der Herr!“ rief der Pfarrer. 

Da öffnete fic) die Tür der Kirche, und eine Lichtflut von der untergehen 
den Sonne drang in das dämmernde Innere des zerſtörten Gotteshauſes. 

In der geöffneten Tür aber ftand, hohe Lederftiefel an den Beinen, Leder- 
toller um die Bruſt, darüber eine breite gelbe Schärpe, an der ein mächtiges Schwert 
bing, die wallende Feder auf dem breitkrempigen Hute — in der Tür ftand ein 
Soldat, ſchwenkte fröhlich den Hut und rief ſchallend: 


186 Pauls: Heimkehr 


„Grüß Gott!“ 
Entſetzt prallten die Bauern zurück. 
„Soldaten!“ kreiſchten die Weiber. 

Von den letzten aber ſchrie einer: 

„Schlagt ihn tot!“ ö 

Da ward die Wut wieder blutigrot! in den Bauern. Mit erhobenen Knütteln 
ſprangen ſie von allen Seiten auf den Soldaten ein, tobend und ſchreiend. 

Der Pfarrer ſtand ſtumm und erſtarrt an dem Altar und deckte ſeine Augen 
mit den ſchweren Augenlidern. 

Der Soldat zog ſich beſtürzt zurück und verſchwand aus der Kirche. Die 
Bauern drangen ihm nach. 

Während von draußen wüſtes Lärmen hereindrang, ward es ſtill und ein- 
ſam in der Kirche. 

Regungslos ſtand der Pfarrer. | Ä 

Langſam erhob ſich da Hans und fah feinen Vater furchtſam an. Der aber 
rührte ſich nicht und fühlte doch die Augen des Knaben auf ſich up. 

Nod einmal flüfterte Hans: 

„Vater! — Vater, ich bin zurückgekommen —‘ | 

Da ſchüttelte der Pfarrer langſam und hae das Haupt. Noch einmal 
klang des Pfarrers Stimme weich: | 

„Geh, mein lieber Hans!“ | 

Dann ging der Pfarrer und achtete nicht auf den Verzweiflungsſchrei ſeines 
Kindes hinter ihm. Der Pfarrer ging und verriegelte die eu der Sakriſtei 
hinter ſich. 

Da verſtummte das Weinen des Knaben. Ein herber Stok D EEN fein 
Geſicht. Er zog fein Dolchmeſſer aus dem Gürtel, packte es mit kräftiger Fauſt, 
als wollte er den Griff in der Hand zerquetſchen, und verließ die Kirche. 

Draußen tollte der Kampf und wüſtes Geſchrei. Der Soldat ſtand gegen 
eine Linde gelehnt und hieb weite Kreiſe mit ſeinem mächtigen Schwerte. Die 
Bauern um ihn tobten und fluchten und erhoben drohend Knüttel und Arte, aber 
waren zu feige, heranzukommen. 

Der wilden Gruppe näherte ſich Hans. Er ſchob die Bauern auseinander 
und ſtand bald dem Soldaten gegenüber. Dort ſprach er ruhig: 

„Auch ich bin Soldat. Auch mich können ſie hier nicht gebrauchen. 

Lachend erwiderte ihm der Soldat: | 

„So komm heran und hilf mir gegen Lumpen!“ 

Hans trat zu ihm und ſtellte ſich an ſeine Seite. 

Wieder und toller noch wüteten und ſchrien die Bauern: 

„Schlagt ſie tot!“ 

Aber es wagte ſich keiner heran. 

Da erhob der alte Bauer, den Hans vor dem wilden Gottesdienſte in der 
Horfſtraße getroffen hatte, ſeine Axt, die er zur Zerſtörung des Nachbarhauſes 
und zur Ausbeſſerung ſeines eigenen gebraucht hatte, und trat vor. 

„sh mache ein Ende!“ rief er. 


Paule: Heimkehr | 187 


Hans biß die Zähne aufeinander, packte ſeinen Dolch feſter und ſuchte die 
Stelle, wo er ihn dem Bauern in den Leib bohren wollte. 

Mit geſchwungener Axt trat der Bauer vor. Noch hieb der Soldat mit fei- 
nem Schwerte um fih. Als aber der alte Bauer herzuſprang, ba ſenkte der Gol- 
dat ſein breites Schwert, ließ den Kopf auf die Bruſt ſinken, deckte ſich nicht und 
ſprach ruhig, als erwarte er ergeben den Todesſtreich: 

„Das iſt mein Vater!“ we 

Stille ward es im Rreife, und der Bauer tat den Hieb nicht, wozu er die 
Axt geſchwungen hatte. Langfam ließ er die Waffe ſinken. Langſam wendete er 
ſich um. Seine Augen ſuchten in der Menge. Dann lachte er laut. 

„Mutter,“ rief er, „Mutter, heute kommen alle unſere Kinder wieder. “ 

Aber fein altes Weib war nicht in dem Rreife. _ 

„Schlagt fie tot!“ ſchrie wieder einer aus der Menge der Bauern. 

„Verſucht's!“ ſagte der Alte und ſtellte ſich mit ſeiner Axt zu dem Soldaten 
und Hans. 

Da wichen die Bauern und gingen in ihre Hütten. 

Als der Platz leer war, wandte fih der alte Bauer zu dem Soldaten. 

„Alſo du biſt Heiner?“ fragte er. 

„Ja, der bin ich!“ rief der Soldat freudig und ſtreckte dem Bauern die 
Rechte hin. 

Aber der Bauer ſchlug nicht ein. | 

„Oer Pfarrer fagt, wir follen die Soldaten totſchlagen und die Kinder ver- 
ſtoßen“, ſagte er. „Wenn du hier bleibſt, Heiner, ſchlagen dich auch die Bauern 
tot. Ihr habt es zu wüſt mit uns gemacht.“ 

„Aber ich bin ja nie im Dorfe geweſen.“ e 

„Ganz gleich“, antwortete der Alte ruhig. „Soldat iſt Soldat.“ 

Da ward des Soldaten Antlitz ſehr bekümmert. 

„Wenn Ihr wüßtet, Vater, wie mächtig ich mich auf die Heimat gefreut 
habe!“ klagte er. „Ich bin faſt zwanzig Jahre weg geweſen.“ 

Der Bauer zuckte die Achſeln. 

„Soll ich nun wieder ins Elend?“ klagte der Fremde. 

„Wollen Muttern fragen“, antwortete der Bauer. 

Er ging, und der Soldat folgte ihm. Hans trottete hinterher. 

Der Bauer betrat zuerſt feine Hütte. | 

„Da ift Heiner, Mutter“, fagte er langſam und ſchwer. 

Heiner trat nach ihm furchtſam durch die Türe. 

Da flog ihm das junge irrſinnige Weib, das in der Ecke gekauert hatte, um 
den Maden und küßte ihn. 

„Mein Trauter iſt wieder da!“ jauchzte ſie. 

Der Soldat ſchüttelte fie von ſich ab, da ging fie wieder in das Dunkel der 
Hütte zurück und weinte. 

Die alte Frau ſaß am Fenſter und ſtierte blöde vor ſich hin. 

Zu ihr trat der Soldat. 

„Mutter!“ ſprach er. Ein inniges Flehen lag in dem Ton. 


188 Wolframsdorff-Baars: Aphorismen 


Die Alte aber wies auf den Knaben Hans, der nach dem Soldaten in die 
Hütte getreten war. 

„Mein Heiner iſt ein lieber kleiner Zunge. Der da will es s nicht ſein. Der it 
des Pfarrers. Dafür hat ihn der Pfarrer verſtoßen.“ | 

Sie kicherte boshaft, Hans ſtöhnte. 

Und wieder redete die Alte: 

„Ich werde meinen Jungen nicht verſtoßen.“ 

Da flehte der Soldat wieder: 

„Ich bin Euer Heiner. Zch bitte Euch, Mutter, verſtoßt mich nicht!“ 

Aber die Alte ſchüttelte den häßlichen Kopf. 

„Mein Heiner iſt ein lieber kleiner Zunge. Ihr aber ſeid ein Soldat, und 
einen Soldaten, hat der Pfarrer geſagt, ſollen wir totſchlagen, ſpricht der Herr!“ 

Und dann ſprang ſie auf und ſchrie erboſt: 

„Du haſt meinen Heiner fortgeſchleppt. Du biſt ein Soldat. Schlagt ihn 
tot!“ Und griff nach der Axt in der Hand des alten Bauern. 

Der Soldat faßte verwirrt mit beiden Händen an die Schläfen. 

„Geht“, ſagte der Bauer, der die Art feſthielt. 

Gomm, Bruder!“ ſprach Hans und zog den Soldaten mit ſich fort. 

Wie fie durch die Tür wankten, ſtand die Irrſinnige auf. 

„3% gehe mit euch!“ 

Heiner lachte grimmig. 

Aber das junge Weib nickte. 

„Ich weiß ein Dorf, jenſeits des Waldes“, ſprach es ernſthaft. »Dabin will 
ich euch führen.“ 

Hans nidte ihr zu. 

Draußen war die Dunkelheit. 


I 


Aphorismen 


Von 
Melanie von Wolframsdorff-Baars 


Menſchenwerk und Gotteswerk, wie verſchieden! Beide entzücken oft durch ihre Schön- 
heit. Legt man aber einen kleinen Teil von ihnen unter das Vergrößerungsglas, dann wirkt das 
erſtere grob und häßlich, während letzteres, fei es auch nur ein Bluͤtenblättchen oder der kleine 
Flügel eines Inſekts, noch unendlich viel ſchöner und künſtlicher uns entgegentritt. 


* 


Die Menſchen haben fo viele Gaben, aber karg, ſcheint es mir, ift diejenige verteilt, fid 
mit rechtem Verſtändnis an die Stelle feines Mitmenſchen zu verſetzen. Dieſer Mangel be- 
weiſt zuletzt nichts anderes als die Unzulänglichkeit menſchlicher Liebe. 


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Vaterlandsliebe und Weltbürgertum 


Se 3 S ie Pflicht der Vaterlandsliebe wurzelt im vaterländifchen Gefühl, in der Liebe eines 
ry 46 Menſchen zu dem Geſellſchaftskörper, dem er angehört und der an das Territorium 
. gebunden ift, das er fein Vaterland nennt. Sie ſchließt den Wunſch ein, fein Wohl- 
ergehen zu fördern und es jederzeit blühen und gedeihen zu ſehen. Dieſer Wunſch ift das Er- 
gebnis einer ganzen Reihe von Gefühlen: der Liebe der Menſchen zu denen, unter welchen 
ſie leben, ihrer Anhänglichkeit an den Ort, wo ſie aufgewachſen ſind oder wo ſie einen Teil ihres 
Lebens zugebracht haben, ihrer Liebe zu ihrer Raſſe und Sprache und endlich zu den Traditio- 
nen, Gewohnheiten, Geſetzen und Inſtitutionen der Geſellſchaft, in der fie geboren find und 
zu der ſie gehören. l 
Wahre Vaterlanbsliebe fekt eine Abſtraktionsfähigkeit voraus, die man bei den niedrig- 
ſtehenden Wilden kaum erwarten kann. Aber bei den untultivierten Völkern einer höheren 
Stufe ſcheint fie durchaus nicht unbekannt zu fein. Manche nordamerikaniſchen Indianerſtämme 
werden wegen ihrer wahrhaft patriotiſchen Gemüͤtsverfaſſung, wegen ihrer ſtarken Anhänglich- 
keit an ihren Stamm und ihr Land gelobt. Carver ſagt von den Nadoweſſiern: „Die Ehre ihres 
Stammes und die Wohlfahrt ihres Volkes ift das erſte und vorherrſchende Gefühl in ihren Her- 
zen, und hieraus folgen zum großen Zeil all ihre Tugenden und Fehler. Zn dieſem Punkt auf- 
gerüttelt, trotzen fie jeder Gefahr, ertragen fie die ausgeſuchteſten Qualen und ſterben in ihrer 
Standhaftigkeit triumphierend; das ift nicht die Eigenſchaft der einzelnen, ſondern ein natio- 
nales Merkmal.“ Vaterlandsliebe und Gemeingeiſt zeigten ſich oft in hervorragender Weiſe 
bei den Tahitern. Der Maori „liebt fein Vaterland und die Rechte feiner Ahnen und er will 
für das Land ſeiner Kinder kämpfen“. Von den Guanchas auf Teneriffa wird uns geſagt, 
die Vaterlandsliebe fei ihre Haupttugend. Die gleiche Eigenſchaft zeichnet die Jorubas in Weft- 
afrika aus: „Keine Menſchengruppe“, ſagt Mac Gregor, „kann ihr Land mehr lieben.“ Burd- 
hardt ſchreibt: „Was die Anhänglichkeit betrifft, die ein Beduine für feinen eignen Stamm emp- 
findet, das tiefgefühlte Intereſſe, das er für deffen Macht und Ruhm hat, und die Opfer jeder 
Art, die er bereit ijt für deffen Wohlergehen zu bringen, fo find dies Gefühle, welche felten 
mit gleicher Stärke bei anderen Völkern vorherrſchen; mit frohlockendem Stolz und bewußter 
Vaterlandsliebe, nicht geringer als die, welche die Geſchichte der griechiſchen und Schweizer 
Republiken veredelt haben, ergreift ein Aneze, wenn er plötzlich angegriffen wird, ſeine Lanze 
und ruft, fie über feinem Haupte ſchwingend: „Ich bin ein Aneze!“ | 
Viele der Elemente, aus denen die eigentliche Vaterlandsliebe emporgewadfen iſt, 
laffen ſich klar ſchon bei den Wilden der niedrigſten Art unterſcheiden. Eine rührende Filuftra- 
tion dieſes Gefühls gibt uns das Betragen des wilden Knaben, der in den Wäldern bei Aven- 


190 | "be Vaterlanbsllebe und Weltbürgertum 


ron gefunden wurde, wo er den größten Teil feines jungen Lebens in völliger Iſolierung von 
allen menſchlichen Weſen gelebt hatte. Nachdem er bereits in Paris untergebracht war, führte 
man ihn einſt wieder aufs Land, in das Tal von Montmorence. Als er die Wälder und Hügel 
des reizenden Tales ſah, ſpiegelte ſich Freude in ſeinen Augen, in allen Bewegungen und 
Stellungen feines Körpers. Er ſchien raſtloſer und ſcheuer denn je, „und trotz der unermüd- 
lichſten Aufmerkſamkeit, die ſeinen Wünſchen entgegengebracht, und der liebevollſten Gorg- 
falt, die für ihn aufgewendet wurde, ſchien er nur von dem ängſtlichen Wunſch befeelt, die Flucht 
zu ergreifen.“ Howitt erzählt uns von einem auſtraliſchen Eingeborenen, der in Tränen aus- 
brach, als er mit ihm fein Lager für eine kurze Reife von einer Woche verlaſſen ſollte. Immer 
wieder ſprach er zu ſich ſelbſt: „Mein Vaterland, mein Volk, ich werde ſie nicht ſehen.“ 
Die Veddahs auf Ceylon „würden ihr wildes Waldleben für kein anderes eintauſchen, und ſie 
konnten nur unter den größten Schwierigkeiten dazu gebracht werden, ihre geliebte Einfam- 
keit ſelbſt nur auf kurze Zeit zu verlaſſen.“ Die Stiéns von Kambodſcha hängen fo ſehr an ihren 
Wäldern und Bergen, daß die Trennung von ihrer Heimat ihnen dem Tode gleich dünkt. Wie 
Guppy erwähnt, ſterben die Bewohner der Salomonsinſeln auf dem Wege zu den Plantagen 
auf den Fidſchiinſeln oder in Queensland nicht felten an Heimweh. Nach Ellis nehmen die 
Hovas auf Madagaskar, wenn fie fic zu einer Reife rüften, ein kleines Häufchen ihrer Heimats- 
erde mit, das ſie unterwegs betrachten, wobei ſie ihre Götter anflehen, es möge ihnen geſtattet 
fein, zurückzukehren und die Erde dem Platz wiederzugeben, von dem fie genommen ift. Craw- 
ford bemerkt, daß im Malaiiſchen Archipel die Anhänglichkeit an den heimatlichen Boden bei 
den ackerbautreibenden, alfo ſeßhaften Stämmen ſtärker ift als bei den ein Nomadenleben füh- 
renden. Aber auch die Niſchinam, der nomadiſchſte von allen kaliforniſchen Stämmen, zeigen 
eine große Anhänglichkeit an das Tal oder die Ebene, die ſie als ihre Heimat betrachten. 

Unter einigen unziviliſierten Völkern zeigt ſich ſchließlich auch die Kraft der Raffen- 
und Spracheinheit, ſelbſt außerhalb der ſozialen oder politiſchen Einheit. Burckhardt bemerkt, 
daß die Beduinen nicht nur für die Ehre ihres eigenen Stammes beſorgt ſind, ſondern auch die 
Intereſſen aller anderen Stämme mehr oder weniger als an das ihres eignen Stammes ge- 
knüpft betrachten und oft einen allgemeinen „Esprit de corps“ an den Tag legen, indem ſie 
„die Verluſte irgendeines ihrer Stämme bejammern, die von Angriffen durch Anſiedler oder 
fremde Truppen herrühren, ſelbſt dann, wenn ſie mit dieſem Stamme in Fehde ſind“. Ein 
Bewohner von Tonga „liebt die Inſel, auf der er geboren ift, im beſonderen und alle Tonga- 
inſeln im allgemeinen, da fie Ein Land find und Eine Sprache reden“. Reiſende haben be- 
obachtet, wie günftig es bei Expeditionen zu unziviliſierten Völkern iſt, ihre Sprache ein wenig 
zu verſtehen, da damit zwiſchen Eingeborenen und Fremden ſogleich ein ſympathiſches Band 
gegeben iſt. Selbſt der wenigſt zugängliche Berber vom Groß Atlas belohnt, trotz feines außer; 
ordentlichen Haſſes gegen die Europäer, den mit einem freundlichen Blick, der ihn, zu ſeinem 
großen Erſtaunen, mit ein paar Worten feiner eignen. Sprache anredet. 

Ahnlich wie andere Abarten des altruiſtiſchen Gefühls ift auch die Baterlandalicbe 
sendet, die Eigenfchaften des Gegenſtandes, für den fie empfunden wird, zu überſchätzen, 
und fie tut dies um fo eher, als die Liebe zum Heimatland gewöhnlich untrennbar mit der Eigen 
liebe vermiſcht iſt. Der gewöhnliche typiſche Patriot hat den feſten Willen, ſeine Nation für 
die beſte zu halten. Wenn, wie ſo viele Leute heute anzunehmen ſcheinen, ein ſolcher Wille 
ein weſentliches Merkmal der Vaterlandsliebe iſt, ſo ſind die Wilden ebenſo gute Patrioten 
wie irgendeiner. Ihrer Meinung nach find fie dem Weißen weit überlegen. Nach dem Glau- 
ben der Eskimos war der erſte Menſch, den das große Wefen machte, ein Mißgriff, worauf 
er beijeite gelegt und „kob- lu- na! genannt wurde, was fo viel wie „weißer Mann“ bedeutet, 
aber ein zweiter Verſuch des Großen Weſens führte zur Bildung eines vollkommenen Menfchen, 
der „in · nu“ genannt wurde, welchen Namen die Eskimos fic ſelbſt beilegen. Wenn auſtraliſche 
Eingeborene zur Arbeit aufgefordert werden, antworten ſie häufig: „Weißer Mann arbeitet, 


Daterlanbeflebe und Weltbuͤrgertum 191 


ſchwarzer nicht; ſchwarzer Mann Gentleman.“ Wird irgendeine Dummheit gemacht, fo ge- 
brauchen die Tſchippeway- Indianer einen Ausdruck, der fo viel beſagt als: „dumm wie ein weißer 
Mann“. Sieht ein Südſee-Inſulaner einen febr unbeholfenen Menſchen, fo jagt er: „Wie dumm 
Sie find; find Sie vielleicht ein Engländer?“ Williams erzählt von einem Bewohner der Fidſchi⸗ 
inſeln, der in den Vereinigten Staaten geweſen war und nun von ſeinen Häuptlingen den 
Befehl bekam, zu berichten, welche Gegend des weißen Mannes beſſer ſei als die Fidſchiinſeln 
und in welcher Hinſicht. Er war jedenfalls in feinem der Wahrheit entſprechenden Berichte 
noch nicht febr weit gekommen, als einer ausrief: „Er ift ein geſchwätziger Burſche!“ Ein ande- 
rer ſchrie: „Er iſt unverſchämt!“ während einige ſagten: „Tötet ihn!“ Die Korjäken find logi- 
ſcher; um zu beweiſen, daß die Erzählungen von den Vorteilen anderer Länder ebenſo viele 
Lügen find, fagen fie zu dem Fremden: „Wenn ihr diefe Vorteile zu Haufe genießen könnt, 
warum nehmt ihr euch fo viel Mühe, bis zu uns zu kommen?“ Aber die Korjäken werden ihrer- 
feits über die Achſel angeſchaut, von ihren Nachbarn, den Tſchuktſchen, welche die umwohnen⸗ 
den Völker „alte Weiber“ nennen, nur gut genug, ihre Herden zu hüten und ihre Tributpflichti⸗ 
gen zu fein. Die Ainos verachten die Japaner genau fo wie die Japaner fie verachten und 
ſind von „der Überlegenheit ihres eignen Blutes und ihrer Abſtammung über die aller anderen 
Volker der Welt“ überzeugt. Selbſt die im größten Elend lebenden Veddahs auf Ceylon haben 
eine ſehr hohe Meinung von ſich und ſehen mit Verachtung auf ihre ziviliſierten Nachbarn 
herab. Wie es bei Kulturvölkern häufig der Fall iſt, legen auch viele Wilde ihrem eignen 
Volke alle Arten von Tugenden in vollkommnem Grade bei. Die ſüdamerikaniſchen Mbayas 
halten fich nach Azara „für das edelſte, großmütigſte und tapferſte Volk der Welt, das am beſten 
ſein ehrlich gegebenes Wort hält“. Die Eskimos vom Norton-Sund gebrauchen, wenn ſie von 
fih ſprechen, das Wort „ju-pik“, was ſoviel wie feines oder vollkommenes Volk heißt, wäh- 
rend ein Indianer „in- ki- lik genannt wird, nach einem Worte, das „Lausei“ bedeutet. Stößt 
ein Grönländer auf einen Menſchen mit angenehmem und beſcheidenem Benehmen, ſo iſt 
feine gewöhnliche Bemerkung: „Er ift faſt fo wohlerzogen wie wir“ oder: „er beginnt ein Menſch 
zu. werden“, d. h. ein Grönländer. Der Wilde betrachtet fein Volk als d a s Volk, als die Wurzel 
aller anderen, das die Mitte der Welt einnimmt. Die Hottentotten lieben es, fic „die Menſchen 
der Menſchen“ zu nennen. Die Indianer des Ungava-Oiſtrikts an der Hudfonsbai geben fic 
ſelbſt den Namen „nenenot“, d. h. wahre oder ideale rote Männer. In der Sprache der ZIli- 
nois- Indianer heißt das Wort „illinois Menſchen, „als wenn fie alle anderen Indianer als 
Tiere betrachteten“. Nach Brett glauben die Eingeborenen von Haiti, ihre Inſel fei vor allen 
Dingen dageweſen, Sonne und Mond ſeien aus einer ihrer Höhlen hervorgegangen und die 
Menſchen aus einer anderen. Zeder auſtraliſche Stamm betrachtet ſein Heimatland als das 
Zentrum der Welt, von dem in den meiſten Fällen geglaubt wird, daß es fih nach jeder Rich- 
tung nur einige hundert Meilen weit ausbreitet. 
Ahnliche Gefühle und Gedanken finden wir bei Völtern mit altertümlicher Kultur. 

Den Chineſen wird gelehrt, ſich über alle Völker erhaben zu denken. In ihren Schriften, den 
alten wie den neuen, iſt das Wort Fremder regelmäßig von irgend einem geringſchätzigen 
Beiwort begleitet, das die Anwiſſenheit, Roheit, Halsſtarrigkeit oder Gemeinheit fremder 
Nationen ausdrückt, wie auch ihre Verpflichtungen gegen oder ihre Abhängigkeit von China. 
Für Konfuzius ſelber war China „Das Reich der Mitte“, die „Menge großer Staaten“, „ganz 
unter dem Himmel“; außer dieſem Lande lebten ſeiner Anſicht nach nur rohe und barbariſche 
Stämme. Nach japaniſchen Begriffen war Nippon das zuerſt geſchaffene Land und das Ben- 
trum der Welt. Die alten Ägypter betrachteten ſich als das auserleſene, von den Göttern be 
ſonders geliebte Volk. Sie allein hießen „Menſchen“ (romet); andere Völker waren Neger, 
Aſiaten oder Libyer, aber nicht Menſchen; nach dem Mythos ſtammten dieſe Völker von den 
Feinden der Götter ab. Der nationale Stolz der Aſſyrer, auf den die juͤdiſchen Propheten 
ſo häufig hinwieſen, tritt überall in ihren Keilinſchriften hervor; ſie ſind die weiſen, die tapferen, 


192 Vaterlandellebe und Weltbürgertum 


die mächtigen Männer, die gleich der Sintflut alle Hinderniſſe hinwegreißen; ihre Rönige find 
die „unvergleichlichen, unwiderſtehlichen“, und ihre Götter find hocherhaben über den Göttern 
aller anderen Völker. Für die Juden war ihr eigenes Land ein „außerordentlich gutes Land“, 
„wo Mild und Honig fließt“, „der Ruhm aller Länder“, und feine Einwohner waren ein þei- 
liges Volk, das der Herr erwählt hat, „ein eigenes Volk unter ihm zu ſein, über allen Völkern, 
welche die Erde bedecken“. Uber die alten Perſer ſchreibt Herodot: „Sie betrachten ſich ſelbſt 
als in jeder Hinſicht hoch erhaben über den Reſt der Menſchheit und find der Meinung, die 
anderen ſeien der Vollkommenheit um ſoviel näher, als ſie mehr in ihrer Nachbarſchaft wohnen, 
woraus folgt, daß diejenigen, welche die entfernteſten find, die erbärmlichſten der Menſch⸗ 
beit fein müſſen“. Bis auf den heutigen Tag hat der Monarch von Perſien den Titel „Zentrum 
der Welt“ behalten, und es ift nicht leicht, einen Eingeborenen von ZIspahan davon zu über- 
zeugen, daß irgend eine europäiſche Hauptſtadt feiner Vaterſtadt überlegen fein kann. Die 
Griechen nannten Delphi, oder beffer den runden Stein im Oelphiſchen Tempel, „den Nabel“ 
oder „Mittelpunkt der Erde“, und die natürlichen Beziehungen zwiſchen ihnen und den Bar- 
baren waren ihrer Meinung nach die von Herren und Sklaven. 

Im altertümlichen Staat wird das nationale Gefühl zuweilen durch das religiöfe ftart 
unterftüßt, während wir andererſeits auch dafür Beiſpiele beſitzen, daß die Religion eher Liebe 
für die Familie, den Clan oder die Kaſte als Liebe für das ganze Volk einflößt oder auch ein 
Band bildet, das nicht nur Volksgenoſſen, ſondern auch Mitglieder verſchiedener politiſcher 
Gemeinſchaften umſchließt. Der Ahnenkultus der Chineſen hat ſchwerlich zu wahrer Bater- 
landsliebe geführt. Welche Liebe für das allgemeine Wohl bei den vediſchen Ariern auch vor- 
geherrſcht haben mag, ſie verſchwand ſicherlich unter dem Einfluß des Brahmanismus oder 
wurde doch beſchränkt auf die Rafte, das Dorf oder die Familie. Der Zoroaſtriſche Ahura- Mazda 
war kein nationaler Gott, ſondern „der Gott der Arier“, d. h. aller Völker, die das alte Fran 
bewohnten, und dieſe waren beſtändig im Kampf miteinander; die Mohammedaner, obgleich 
von gemeinſamem Haß gegen die Chriſten beſeelt, zeigen doch wenig Gemeingeiſt in bezug 
auf ihre beſonderen Heimatländer, da dieſe aus einer Anzahl loſe verbundener, oft ſehr ver- 
ſchiedenartiger Elemente zuſammengeſetzt ſind, unter der Herrſchaft eines Monarchen, deſſen 
Macht in vielen Diftritten mehr nominell als reell iſt. Im alten Griechenland und Rom ent- 
hielt die Vaterlandsliebe zweifelsohne ein religiöſes Clement — jeder Staat und jede Stadt 
beſaß ihre Schutzgötter und Heroen, die als ihre eigentlichen Herren betrachtet wurden, aber 
in erſter Reihe war dieſer Patriotismus Liebe des freien Bürgers für feine heimatlichen In- 
ſtitutionen, eine Bürgertugend, die auf dem Boden der Freiheit erwuchs. Als die beiden Spar- 
taner, die zu Xerxes gefandt wurden, um getötet zu werden, von einem feiner Statthalter 
aufgefordert wurden, ſich dem Könige zu ergeben, antworteten ſie: „Wenn ihr wüßtet, was 
Freiheit ift, würdet ihr uns bitten, für fle zu kämpfen, nicht nur mit dem Speer allein, fon- 
dern auch noch mit der Streitaxt“. Und von den Athenern, die zur Zeit der Perſerkriege lebten, 
ſagte Demoſthenes, daß fie lieber für ihr Land ſterben wollten, als es in Sklaverei ſehen, und 
daß fie die Schmach und den Schimpf desjenigen, der in einer eroberten Stadt lebt, ſchreclicher 
finden als den Tod. Wie Ledy bemerkt, „ſchillert im Altertum der Einfluß der Baterlands- 
liebe durch jede Fiber des moraliſchen und intellektuellen Lebens“. In einigen griechiſchen 
Städten war die Auswanderung geſetzlich verboten, in Argos ſogar bei Todesſtrafe. In der 
„Republik“ opfert Plato die Familie dem Staatsintereſſe. Cicero ſtellte die Pflicht gegen ſein 
Land gleich nach der Pflicht gegen die unſterblichen Götter und vor die Pflicht gegen ſeine 
Eltern. „Von allen Beziehungen“, ſagt er, „iſt keine gewichtiger, keine teurer, als die zwiſchen 
jedem Menſchen und feiner Heimat. Unfere Eltern find uns teuer; unſere Rinder, unſere Ber- 
wandten, unſere Freunde ſind uns teuer, doch unſer Vaterland umfaßt allein ſchon alle unſere 
Zuneigungen. Welcher gute Mann wird zögern, für ſein Vaterland zu ſterben, wenn es dieſem 
nutzen kann?“ 


Vaterlandollebe und Weltbirgertum 195 


Der Mangel an Vaterlandsliebe bei einem Menſchen wird von ſeinen Landsleuten 
als eine Beleidigung aufgefaßt, die fic) gegen fie ſelber kehrt, und der Zorn darüber, der ja von 
einer ganzen Gemeinſchaft empfunden wird, hat die Tendenz, zur ſittlichen Mißbilligung 
zu werden. Aus den gleichen Gründen ſind Taten der Vaterlandsliebe geeignet, als Ausfluß 
höchſter Moral gelobt zu werden. Doch kann der Patriot, indem er ſein eigenes Volk fördert, 
anderen Völkern Schaden zufügen, und wo das altruiſtiſche Gefühl weit genug iſt, um ſich 
über die Grenzen des Staates auszudehnen, und ſtark genug, um feine Stimme im Wettbewerb 
mit der Heimatsliebe und der Selbſtliebe hören zu laſſen, da kann das Vorgehen des Patrioten 
getadelt werden. In niedrigen Kulturzuſtänden werden die Intereſſen Fremder überhaupt 
nicht beachtet, ausgenommen wenn die Pflicht der Gaſtfreundſchaft fie ſchuͤtzt; doch allmäh- 
lich arbeitet der Altruismus darauf hin, ſich auszubreiten, bis ſchließlich den Menſchen Pflichten 
gegen die geſamte Menſchheit auferlegt werden. Die chineſiſchen Moraliſten ſchärfen Wohl- 
wollen und Güte gegen alle Menſchen ein, ohne zwiſchen den Völkern zu unterſcheiden. Mihrtze, 
der in der Zeit zwiſchen Konfuzius und Menzius lebte, lehrte ſogar, daß wir alle Menſchen 
gleichmäßig lieben ſollen, doch wurde dieſe Lehre mit der Begründung angegriffen, daß ſie die 
beſonderen Pflichten gegen die Familie aufhebe. Im Thai-Schang wird gefagt, daß ein guter 
Menſch gegen jedes Geſchöpf Wohlwollen empfinden wird und ſelbſt die Inſekten, die Gräfer 
und Bäume nicht verletzen ſollte. Der Buddhismus macht die allgemeine Liebe zur Pflicht: 
„So wie eine Mutter ſelbſt mit Gefahr ihres eignen Lebens ihren Sohn ſchützt, ihren einzigen 
Sohn, ſo ſoll ein Menſch Wohlwollen ohne Maß gegen alle Weſen in ſich ausbilden, ungehinderte 
Liebe und Güte gegen die ganze Welt, um ihn, über ihm und unter ihm.“ Nach dem indiſchen 
Werk Pantſchatantra ift es die Gorge Heinmütiger Geiſter, ob ein Menſch fremd ift oder unferes- 
gleichen, da alle irdiſchen Weſen dem verwandt find, der hochherzig veranlagt ift. In Griechen- 
land und Rom entſtanden Philoſophen, die gegen die nationale Engherzigkeit und die natio- 
nalen Vorurteile kämpften. Demokrit von Abdera ſagte, daß dem Weiſen jedes Land recht 
ſei, und daß die gute Seele die ganze Welt zum Vaterland habe. Die gleichen Anſchauungen 
wurden von Theodorus, einem der letzten Cyrenaiker, verbreitet, der die beſonders ausgeprägte 
Liebe zur Heimat als lächerlich brandmarkte. Namentlich die Zyniker legten geringen Wert 
auf die Zugehörigkeit zu einem beſtimmten Staat, da ſie ſich als Weltbürger erklärten. Aber 
wie der kürzlich verſtorbene Zeller bemerkte, ſollte diefe Lehre im Munde der Zyniker weniger 
die wahrhafte Zuſammengehörigkeit und Einheit der ganzen Menſchheit ausdrücken als die 
Unabhängigkeit der Philoſophen von Land und Heimſtätte. Es war die ſtoiſche Philoſophie, 
die zuerſt dem Begriff der Weltbürgerfchaft einen beſtimmten pofitiven Sinn gab und ihn zu 
hiſtoriſcher Bedeutung emporhob. Der Bürger von Alexanders rieſigem Reich war in einem 
gewiſſen Sinne Bürger der ganzen Welt geworden: nationale Mißhelligkeiten aber wurden 
in dieſem Reiche um fo eher überwunden, als die verſchiedenen Völker, die es umfaßte, nicht 
nur unter gemeinſamer Herrſchaft ſtanden, ſondern auch eine gemeinſame Kultur hatten. 
In der Tat, der Begründer des Stoizismus war felbft nur ein halber Grieche. Doch gibt es noch 
einen unverkennbaren Zuſammenhang zwiſchen dem Begriff des Weltbürgertums und dem 
Syſtem des Stoizismus im allgemeinen. Nach den Stoikern bildet die Gleichheit der Vernunft 
in den Individuen das Fundament der menſchlichen Geſellſchaft: daher haben wir keinen Grund, 
dieſe Geſellſchaft auf ein einzelnes Volk zu beſchränken. Wir ſind alle, ſagt Seneca, Glieder 
eines großen Korpers, des Univerſums, „wir find alle durch die Natur verwandt, die uns aus 
den gleichen Elementen gebildet und zu den gleichen Zwecken hierher geſetzt hat.“ „Wenn unſere 
Vernunft gemeinſam iſt,“ ſagt Mark Aurel, „dann gibt es auch ein gemeinſames Geſetz, da 
die Vernunft uns befiehlt, was wir tun und was wir nicht tun ſollen; gibt es ein gemeinſames 
Geſetz, fo find wir Mitbürger, und ift dem fo, fo find wir Glieder einer politiſchen Gemein- 
ſchaft — die Welt iſt gleichſam ein Staat.“ Zu dieſem großen Staat, der alle vernünftigen Weſen 
umfaßt, ſtehen die individuellen Staaten im gleichen Verhältnis wie die Häufer einer Stadt 

Oer Türmer XI, 8 13 


194 Daterlanbsliebe und Weltbürgertum 


zur Geſamtſtadt, und dem weiſen Mann wird es gleich fein, in welche beſondere Gemeinſchaft 
der Zufall der Geburt ihn geſetzt hat. 

Doch das römiſche Zdeal der Vaterlandsliebe mit feiner äußerſten Geringſchätzung 
aller fremden Nationen wurde nicht von den Philoſophen allein bekämpft, in noch größeren 
Widerſtreit geriet es mit der neuen Religion. Der Chriſt und der Stoiker verwarfen es aus 
verſchiedenen Beweggründen; während der Stoiker ſich als Weltbürger fühlte, fühlte ſich der 
Chriſt als Himmelsbürger, fir den die Erde nur ein Verbannungsort iſt. Das Chriſtentum 
war dem Staate an fidh nicht feindlich, doch war ihm auch nichts gleichgültiger als die Angelegen- 
heiten des Staates. Tertullian ſagte, daß alle Chriſten ihre Gebete für das Leben des Kaiſers 
emporſenden und ebenſo für ihre Statthalter und Obrigkeiten, für das Wohl des Staates 
und den Frieden des Reiches; doch der Kaiſer ſollte nur ſo lange Gehorſam finden, als ſeine 
Befehle nicht gegen Gottes Geſetze verſtießen, denn ein Chriſt ſolle eher leiden wie Daniel in 
der Löwengrube, als gegen ſeinen Glauben ſündigen. In der Tat gab es im ganzen römiſchen 
Reich keine Menſchen, die ſo ſehr jedes Vaterlandsgefühls bar waren wie die erſten Chriſten. 
Sie hatten keine Liebe für Judäa, fie vergaßen Galiläa bald, fie kümmerten ſich nicht um den 
Ruhm Griechenlands oder Roms. Wenn die Richter fie nach ihrem Vaterlande fragten, ant- 
worteten fie: „Ich bin ein Chrift. Und lange nachdem das Chriſtentum Staatsreligion ge- 
worden war, erklärte der heilige Auguſtinus, daß es in Anbetracht dieſes kurzen und vergäng- 
lichen Lebens nichts verſchlage, unter weſſen Herrſchaft ein ſterblicher Menſch lebt, wenn er 
nur nicht zu gottloſen oder ungerechten Handlungen gezwungen wird. Als fpäter die Kirche fich 
zu einer politiſchen, vom Staate unabhängigen Macht entwickelte, wurde fie ſogar der ent- 
ſchiedene Feind nationaler Intereſſen. Im ſiebzehnten Jahrhundert nannte ein Sefuitengene- 
ral die Vaterlandsliebe eine Plage und den ſicherſten Tod der Chriſtenliebe. 

Mit dem Fall des römiſchen Reichs ſtarb die Vaterlandsliebe in Europa aus und blieb 
jahrhundertelang ausgelöſcht. Es war ein Gefühl, das ſich weder mit der umherſchweifenden 
Lebensweiſe der teutoniſchen Stämme vereinigen ließ, noch mit dem feudalen Syſtem, das 
überall entſtand, wo ſie feſte Wohnſtätten aufſchlugen. Die Ritter allerdings entbehrten nicht 
einer naturlichen Liebe für ihre Heimat. Der Troubadour Bernard de Ventadour fingt in 
rührender Weife: „Quan la doussa aura venta — Deves nostre pais — Mes veiaire que senta — 
Odor de Paradis“ — er vergleicht fein Heimatland mit dem Paradieſe. Doch für einen Men- 
ſchen des Mittelalters bedeutete ſein Land wenig mehr als die Nachbarſchaft, in der er lebte. 
Königreiche wohl, aber nicht Nationen gab es damals. Die erſte Pflicht eines Vaſallen war 
Treue gegen ſeinen Herrn, doch kein nationaler Geiſt verband die verſchiedenen Barone eines 
Landes untereinander. Ein Mann konnte gleichzeitig Vaſall des Königs von England und 
des Königs von Frankreich ſein, und die Barone verkauften oft aus Laune, Leidenſchaft oder 
gemeinem Interejje ihre Dienſte an Feinde des Reiches. Auch die Würde feiner Ritterſchaft 
zwang den Ritter fortwährend zu einem Verhalten, das von allen nationalen Intereſſen ver- 
ſchieden war. Die Sache einer unglücklichen Dame mußte in vielen Fällen der des Landes, 
dem man angehörte, vorgezogen werden, ſo wenn der Captal de Bouche, obgleich engliſcher 
Antertan, nicht zögerte, ſeine Truppen mit denen des Compte de Foix zu vereinigen, um den 
Damen in einer franzöſiſchen Stadt beizuſtehen, wo fie von der aufrührerifchen Landbevölke⸗ 
rung belagert und mit Gewalttaten bedroht wurden. Wenn die Pflichten eines Ritters gegen 
fein Land in den Grundſätzen der Ritterſchaft erwähnt werden, fo treten fie als Pflichten gegen 
ſeinen Herrn auf. „Der ſchlechte Ritter,“ heißt es, „der nicht ſeinem irdiſchen Herrn und ſeinem 
Heimatland gegen einen andern Fürſten hilft, iſt ein pflichtloſer Ritter.“ Weit davon entfernt, 
im Kodex der Ritterſchaft Gegenſtand eines ausdrücklichen Befehls zu fein, wie Gautier ver- 
ſichert, hat die wahre Vaterlandsliebe dort überhaupt keinen Platz. Sie war nicht als Zdeal 
bekannt, noch weniger exiſtierte fie in Wirklichkeit, weder unter den Rittern noch unter den 
Gemeinen. Ebenſo wie ein Herzog von Orleans ſich durch Waffenbrüderſchaft und Bündnis 


Vaterlandeliebe und Weltbürgertum 195 


mit einem Herzog von Lancaſter verbrüdern konnte, hatten engliſche Kaufleute die Gewohn⸗ 
heit, Völker, die mit England im Kriege lagen, mit Vorräten zu verſehen, die auf engliſchen 
Märkten gekauft wurden, und mit Waffen, die von engliſchen Händen gearbeitet waren. Wenn, 
wie Gaſton Paris behauptet, ein tiefes Gefühl nationaler Einheit das Rolandslied eingegeben 
hat, ſo iſt es eine ſonderbare, aber nicht zu leugnende Tatſache, daß kein deutliches Zeichen 
dieſes Gefühls ſich in der mittelalterlichen Geſchichte Frankreichs vor den engliſchen Kriegen zeigt. 

Neben dem Feudalismus und dem Mangel an politiſchem Zuſammenhang gab es noch 
andere Faktoren, die gleichfalls dazu beitrugen, eine Entwicklung der nationalen Perſönlich- 
keit und der Anhänglichkeit ans Vaterland zu hemmen. Dieſes Gefühl ſetzt nicht nur voraus, 
daß die verſchiedenen Teile, aus denen ein Land zuſammengeſetzt iſt, ein lebhaftes Gefühl 
ihrer Einheitlichkeit haben, ſondern auch, daß ſie, einmal geeinigt, ſich klar als eine von den 
anderen Nationen unterſchiedene Nation fühlen. Im Mittelalter waren nationale Unterſchiede 
durch die Vorherrſchaft der allgemeinen Kirche ſtark verdunkelt, ebenſo durch die Schaffung 
des Heiligen Römiſchen Reichs, durch das Übergewicht einer gemeinſamen Sprache als ein- 
zigen Trägers geiſtiger Kultur und durch den unentwickelten Zuſtand der Mutterſprachen. 
Es galt als Zeichen von Unwiſſenheit, ſich eines einheimiſchen Dialekts zu bedienen, und als 
ſündhaft, weltliche Intereſſen höher zu ſtellen als die Anſprüche der Kirche. Als Machiavelli 
erklärte, daß er ſein Vaterland höher ſchätze als das Heil ſeiner Seele, fand ihn das Volk der 
Gottesläfterung ſchuldig; und als die Venezianer dem Bannſtrahl des Papſtes Trotz boten, 
indem fie erklärten, fie ſeien in erſter Reihe Venezianer und erft in zweiter Chriſten, hörte die 
Welt das mit großem Erſtaunen. 

In England entwickelte fih das nationale Gefühl früher als auf dem Kontinent, zweifel 
los infolge ſeiner Inſellage und ſeiner freieren Einrichtungen; wie Montesquieu bemerkt, 
reift die Vaterlandsliebe am beſten in Demokratien. Zur Zeit der engliſchen Reformation 
hatte der Sinn für das gemeinſchaftliche nationale Leben erſichtlich ſtark um ſich gegriffen, 
und die Liebe zu England ift nie in vollendeterer Form ausgedruckt worden als bei Shakeſpeare. 
Gleichzeitig wurde der vaterländiſche Sinn durch religiöſe Bigotterie und Parteigeiſt oft aufs 
gröbſte verdorben. Selbſt Kämpfer der Freiheit, wie Lord Ruſſell und Algernon Sidney, 
nahmen franzöſiſches Geld in der Hoffnung an, den König in Verlegenheit zu bringen. Gid- 
Hen verſuchte fogar, de Witt dazu zu bewegen, in England einen Einfall zu machen. Ins- 
befondere die Rönigstreue erwies ſich als ein viel ſtärkerer Antrieb als die Vaterlandsliebe. Ein 
Rönigstreuer wie Strafford hatte halbwilde iriſche Truppen gegen feine eignen Landsleute 
benützt, und die ſchottiſchen Jakobiten forderten die Franzoſen zu einem Einfall auf. 

In Frankreich war die Entwicklung des nationalen Gefühls eng an die wachſende könig 
liche Macht und ihren allmählichen Sieg über den Feudalismus geknüpft. Das Wort „patrie“ 
kommt zum erſtenmal bei dem Chroniſten Karls VII., Jean Chartier, vor, und er verdammte 
auch jene Franzoſen als „Verräter“, die gegen Ende des hundertjährigen Krieges auf ſeiten 
der Engländer kämpften. Doch war die Vaterlandsliebe lange Zeit hindurch untrennbar mit 
der Treue gegen den Herrfcher verknüpft. Nach Boſſuet „liegt der ganze Staat in der Perſon 
des Prinzen“, und Whrd Coner bemerkt, Colbert habe geglaubt, „Königreich“ und „Vaterland“ 
bedeuteten das gleiche. Im 18. Jahrhundert folgte auf den Geiſt der Königstreue der der 
Empörung, doch der Grundton der großen Bewegung, die zur Revolution führte, war die Frei- 
heit und Gleichheit des Individuums, nicht der Ruhm oder die Wohlfahrt der Nation. Die 
Menſchen wurden mehr als Glieder der Menſchheit denn als Bürger eines beſtimmten Staates 
betrachtet. Bürger jedes Volkes zu fein, nicht feinem eigenen Vaterlande allein anzugehören, 
war der Traum der franzöſiſchen Schriftſteller des achtzehnten Jahrhunderts. „Der wahre 
Weiſe ift ein Weltbürger“, fagt ein Luſtſpieldichter jener Zeit. Diderot frägt, was ein größeres 
Verdienſt ſei, die Menſchheit aufzuklären, die ewig bleibt, oder das eigene Vaterland zu retten, 
das vergänglich ift. Nach Voltaire ift die Vaterlandsliebe aus Selbſtliebe und Vorurteilen zu- 


196 Daterlandsliebe und Weltbuͤrgertum 


ſammengeſetzt und bringt uns nur zu oft dazu, Feinde unſerer Mitmenſchen zu werden: „Es 
iſt klar, daß ein Land nicht gewinnen kann, ohne daß ein anderes verliert, und daß es nicht fie- 
gen kann, ohne Menſchen unglücklich zu machen. Das alfo ift menſchliches Schickſal: die Größe 
feines Landes wünfchen heißt gleichzeitig feinen Nachbarn Böſes wünſchen.“ In Oeutſchland 
fühlten ſich Leſſing, Goethe und Schiller als Weltbürger, nicht als Oeutſche oder gar als Sach 
ſen und Schwaben; und Klopſtock mit ſeiner Begeiſterung für deutſches Volk und deutſche 
Sprache machte faſt einen überſpannten Eindruck. Leſſing ſchreibt unverhohlen, daß ihm das 
Lob, ein glühender Patriot zu fein, nicht imponiere; er fühle durchaus keine beſondre Bater- 
landsliebe und dieſe fei beſtenfalls eine heroiſche Schwäche, ohne die er ſehr leicht beſtehen könne. 

Die erſte franzöſiſche Revolution bezeichnet den Beginn eines neuen Abſchnitts in der 
Geſchichte der Vaterlandsliebe. Sie flößte den Maſſen Leidenſchaft für die Einheit des Bater- 
landes ein, für die „eine, unteilbare“ Republik. Gleichzeitig wurden alle Völker als Brüder 
erklärt, und wenn mit fremden Völkern Krieg geführt wurde, fo geſchah es nur, um fie von ihren 
Bedrückern zu befreien. Allmählich jedoch wurde das Fntereffe für die Angelegenheiten ande- 
ter Länder mehr und mehr ſelbſtiſch; der Verſuch, fie zu befreien, wurde von dem Wunjd, 
ſie zu unterjochen, verdrängt, und dies erweckte ein Gefühl in Europa, das beſtimmt war, die 
größte Macht in der Geſchichte des neunzehnten Jahrhunderts zu werden: das Gefühl der Natio- 
nalität. Als Napoleon franzöſiſche Verwaltung in den Ländern einführte, deren Regenten 
er abgeſetzt oder degradiert hatte, widerſetzte ſich das Volk dieſer Anderung. Dieſer Widerſtand 
ging vom Volk aus, denn die Herrſcher waren abweſend oder hilflos, und er war national, 
denn er wendete ſich gegen fremde Einrichtungen. Er war aufgerüttelt mehr durch das Ge- 
fühl nationaler als politiſcher Einheit, es war ein Proteſt gegen die Herrſchaft von Raſſe über 
Salle, Das nationale Element in dieſer Bewegung war in gewiſſer Weiſe von der franzöſiſchen 
Revolution ſelbſt vorweggenommen worden. Das franzöſiſche Volk war von ihr als ethno- 
logiſche, nicht als geſchichtliche Einheit aufgefaßt worden; Abſtammung war an die Stelle der 
Tradition getreten; der Gedanke einer von der Vergangenheit unkontrollierten Souveränität 
des Volkes gebar den Gedanken der Nationalität unabhängig von dem politiſchen Einfluß der 
Geſchichte. Aber die Menſchen wurden ſich, wie richtig bemerkt worden iſt, des nationalen 
Elements der Revolution erſt durch deren Eroberungen klar, nicht bei ihrem Beginn. 

Seit damals ift das Raſſengefühl das ſtärkſte Element in der europäiſchen Vaterlands- 
liebe, und es hat ſich allmählich faſt zu einer Gefahr für die Menſchheit entwickelt. Es hatte 
mit einem Proteſt gegen die Herrſchaft einer Raſſe über die andere begonnen und führte zu 
der Verdammung jedes Staates, der verſchiedene Rafjen umſchloß; ſchließlich entwickelte es 
fih zu der Lehre, daß Staat und Nationalität fo weit als möglich fih decken müſſen. Nach die- 
fer Theorie kann die herrſchende Nation die untergeordneten Nationen, die innerhalb der Gren- 
zen des Staates wohnen, nicht zur Gleichheit mit ſich zulaſſen, da in dieſem Falle der Staat 
aufhören würde, national zu fein, was wieder gegen das Prinzip feines Beſtehens überhaupt 
wäre; oder die ſchwächeren Nationen werden gezwungen, ihre Sprache, ihre Einrichtungen und 
ihre Individualität zu ändern, um von der herrſchenden Raffe abſorbiert zu werden. Die füh- 
rende Nationalität macht ihre Anſpruͤche auf Superiorität aber nicht nur allen anderen inner- 
halb des politiſchen Körpers befindlichen Nationalitäten gegenüber geltend, ſie erhebt auch den 
Anſpruch, fih auf Koſten fremder Nationen und Raffen auszudehnen. Für den Nationaliſten 
ift all dies wahre Vaterlandsliebe. Doch gleichzeitig find entgegengeſetzte Ideale am Wert, 
Der Eifer des Nationalismus im neunzehnten Jahrhundert war nicht imſtande, den weltbürger- 
lichen Geiſt zu unterdrücken. Dem lauten Appell an Raffeninftintte und dem Sinn für natio- 
nale Solidarität zum Trotz gewinnt heute mehr und mehr der Gedanke Raum, daß die Ziele 
einer Nation nicht notwendig mit den Intereſſen der Menſchheit im allgemeinen in Streit 
geraten muͤſſen, daß unſere Vaterlandsliebe in Schranken gehalten werden follte durch das 
Recht auch anderer Länder, zu gedeihen und ihre eigene Individualität zu entwickeln, und daß 


Nulturopfer 197 


die Bedruckung ſchwacher Nationalitäten innerhalb des Staates ſowie die fortwährende An- 
griffsluſt gegen fremde Nationen, weil zumeiſt die Folge von Gier und Hochmut, mit den Be- 
ſtrebungen eines guten Patrioten ebenſowenig vereinbar find wie mit den Beſtrebungen eines 


guten Menſchen. Prof. Dr. Eduard Weſtermarck 
2 


Kulturopfer 


CR ohlgemerkt: nicht Opfer der Kultur, fondern an Kultur. Mit ſolchen — und 
zwar ſchweren — bezahlen wir nach Anſicht des Dr. Wilhelm von Medinger 
in der „Sſterreichiſchen Rundſchau“ (Wien, Carl Fromme) unſere freiheitliche 


a CVA; 
Entwidiung und unfere modernen Errungenſchaften. In einem Verſuch über die „Entwick- 


lung vom Herrn zum Unternehmer“ und vergleichend abſchätzender Gegenüberſtellung beider 
ſtellt er am Schluß feſt, daß in der letzten Zeit vielfach das Streben zutage trete, zwiſchen 
Ziviliſation und Kultur ſcharf zu unterſcheiden: 

„Dies war auch hoch an der Zeit. Die Vorkämpfer der ſogenannten Aufklärung und 
unter ihnen namentlich die Journaliſtik haben für ihr Wirken, das zweifellos ein vorwiegend 
ziviliſatoriſches war, den Ehrentitel der Kulturverbreitung uſurpiert und dadurch eine all- 
gemeine Begriffsverwirrung verurſacht. Unfere Weltanſchauung erkennt aber in der Zivili- 
ſation, wenn ſie eine gewiſſe Stufe erreicht hat, zwar eine Vorbedingung der Kultur, nicht 
aber dieſe ſelbſt. Zu Ländern und Epochen mit hoher Ziviliſation blicken wir noch nicht mit 
Neid und Sehnſucht auf. Selbſt im Tierreich gibt es ja auch Ziviliſationen mit ſcharfer ftaat- 
licher Difgiplin, komplizierter Arbeitsteilung und raffinierter Naturausnutzung. Der Menſch 
ift aber zu Höherem geboren als zum Erfaſſen praktiſcher Zweckmäßigkeit und zum Erſinnen 
lüdenlofer Geſetze. Das ihm allein eigene Gebiet iſt das Reich der Schönheit und der Kunſt, die 
Welt des philoſophiſchen Gedankens und des religidfen Gefühls. Die Vollendung des Menſchen 
und fein einziges Vorbild ift das in dieſen Sphären ſchöpferiſche Genie. Nur eine Zeit, die geniale 
Rinftler, Dichter und Philoſophen ihr eigen nannte, war eine Zeit echter Kultur. Und die höchſte 
Erſcheinung ſolcher Epochen war das Bezwingen niederer Triebe des Intellekts durch die Er- 
hebung der moraliſchen Perſönlichkeit zur Selbſtverleugnung. Gnade und Demut find der Kern 
aller Religionen und Mythen. Der Glaube an Begnadung und das Gefühl der Demut waren 
allen wahrhaft genialen Menſchen gemeinſam. Der darin wohnende enthuſiaſtiſche Zuſtand der 
Seele iſt die Vorbedingung für jede Schönheitsempfindung und für jedes Begreifen genialer 
Werke; und ebenſo ift er auch der erhabenſte Darftellungsgegenftand aller Kunſt und Poeſie. 

Die Entwicklung vom Herrn zum Unternehmer und der ganze Komplex damit ver- 
bundener Wandlungen, die ſich, unverſchuldet von einzelnen Ständen, mit Naturnotwendigkeit 
vollzogen haben, förderten wohl die Ziviliſation und brachten ſie zu einer nie erreichten Blüte. 
Die Herrſchaft der Menſchheit über die Natur, wie der Wohlſtand des einzelnen ſind gewachſen, 
und der ſcharfe Rontraft zwiſchen Aberfluß und Mangel wird durch die allgemeine Regelung 
und Verſicherung ausgeglichen. Rechts- und Beſitznivellierung zeitigen aber noch keine genialen 
Perſönlichkeiten. Solche find vielmehr aus dem Zuſtande materieller und rechtlicher Ungleid- 
heit am reichſten hervorgegangen. Armut und Unterdrückung haben ſie in ihrem Aufſchwung 
nicht gehemmt, ſondern eher beflügelt; fie brauchten kein vom Staate gewährleiſtetes Eriftenz- 
minimum, vielmehr erweckten gerade übergroße Widerſtände übermenſchliche Fähigkeiten. 

Durch die ftarre Geſetzmäßigkeit, der alles Leben unterworfen wird, geht feine Schön- 
heit verloren, ebenſo wie die Anmut einer Gegend durch ein geradliniges Straßennetz, durch 
intenfive Bodenbearbeitung und gleichmäßige Beſitzausteilung ſchwindet. Wie ein Kunſtwerk, 
um zu wirken, der Rontrajte bedarf, fo liegt der Reiz zu leben in der Ungleichheit der Schicksale; 
denn die Anſchauung der Gegenfage bringt den Verſtand zum Schweigen und läßt das Gefühl 


198 Kulturopfer 


zu Worte kommen. zſt es daher dem einzelnen benommen, fih himmelhoch über die Allgemein- 
heit zu erheben und fih zur Führerſchaft emporzuſchwingen, fo wird die ſchlummernde Energie 
einer zu hoher Vollendung befähigten Perſönlichkeit nicht geweckt und die höchſten Höhen 
menſchlicher Entwicklung bleiben unerreicht. Büßt der Herr ſeine übergeordnete Stellung und 
ſeine Freiheit ein, ſo erliſcht damit ein Ziel für das Aufwärtsſtreben und die Selbſterziehung 
der Menſchen. Mag dieſe Freiheit auch von vielen mißbraucht worden ſein, ſo bleibt ſie doch 
das Lebenselement für die Schönheit des Handelns unter der Vorherrſchaft des Gefühls. Die 
motoriſche Kraft für alle kulturellen Leiſtungen ſind einzig und allein moraliſche Gewalten. 
Dieſe ſterben aber in unſerer heutigen Zeit ab, und ſtatt ihrer erſtarkt der rechnende Verſtand. 
Die Ethik löſt ſich in juriſtiſche und mathematische Denkoperationen auf. Das Fluidum unſerer 
Zeit iſt der Scharfſinn. Dieſer verhöhnt den Glauben an Gnade und verlacht das Gefühl der 
Demut. Der Sinn für Metaphyſiſches und die Liebe des Volkes zum Genie, deren Frucht die 
wahre Kultur iſt, gedeiht in dieſer Atmoſphäre nicht. 

Das Geheimnis genialer Künſtler, Philoſophen und echter Gelehrten war, daß ihnen 
Kunſt, Weltanſchauung und Welterkenntnis als einziges Ziel vorſchwebten; und eine kulturell 
hochſtehende Zeit erfaßte und teilte dieſes Geheimnis mit ihnen. Geniale Männer und, ge- 
wiſſermaßen auch geniale Epochen waren vorwiegend unpraktiſch. Das Streben unferer Zeit 
aber ift faſt ganz auf Güter der Ziviliſation gerichtet. Nützlichkeit wird zum allgemeinen Mag- 
ſtab. Was wirtſchaftlich nicht wägbar iſt, hat kein Gewicht. Weder in der Politik, nod im Ge- 
ſchäftsleben, noch im Verkehr der Menſchen untereinander wird nach Hochherzigkeit und Nieder- 
tracht gefragt; überall handelt es ſich nur um Geſetzesmäßigkeit oder Ungeſetzlichkeit, um Ge- 
ſchicklichkeit oder Anklugheit. Moraliſche Werte kommen außer Geltung. Aus einer Kunſt 
wird das Leben zu einem Gewerbe. 

Darum weicht die einzige Begeiſterung für die Errungenſchaften des letzten Jahrhunderts 
immer mehr einer tiefen Niedergeſchlagenheit und Enttäuͤſchung. Man beginnt die kulturellen 
Opfer zu überſchauen, die der Aufſchwung der Ziviliſation gekoſtet hat: Die Freizügigkeit und 
die Verbeſſerung der Verkehrsmittel haben die Völker zu einem Chaos vermengt, nehmen einem 
jeden ſeine Eigenart und verbreiten die individualitätsloſe und daher kulturell unproduktive 
Type des Kosmopoliten. Die Erforſchung und die Beherrſchung der materiellen Welt laſſen 
die Begeiſterung für Ideale ſchwinden. Der lange Friede tötet die Anlage zum Heroismus, 
macht ſchwächlich und richtet den Willen vorwiegend auf wirtſchaftliche Güter. Der Ausbau der 
Wiſſenſchaften zeitigt keine allesüberfchauenden Philoſophen, ſondern in engen Grenzen ein- 
ſeitig arbeitende Spezialiſten. Die Populariſierung der Kenntniſſe iſt mit einer Abſtumpfung 
des moraliſchen Empfindens, die Bereicherung des Verſtandeslebens mit einer Verarmung 
des Gemiits verbunden. Ourch die Verbreitung der Preſſe verkümmert ſelbſtändiges, tiefes 
Denken. Überall triumphiert die Quantität über die Qualität. Der tolle Wechſel von äußeren 
Ereigniſſen und Senſationen macht unfähig zu innerem Erleben. Der wirtſchaftliche Rampf 
raubt Ruhe und Harmonie. Durch die Erhebung der Majorität zur Alleinherrſcherin zerreißt 
das beſeligende Band der Treue und werden die Menſchen in juriſtiſche Feſſeln geſchnürt. Die 
Abſchaffung des Herrentums endlich und fein Übergang in das Unternehmertum erftiden Hoch- 
hergigteit und Edelmut und lähmen das Streben nach Vollendung der moraliſchen Perſönlich⸗ 
keit, dem höchſten, einzigen Glück des Menſchen. 

Mit wachſender Sorge blicken wir in die Zukunft. Wird der unerſetzliche Wert des Genius 
für die Kultur von der Menſchheit endlich wiedererkannt werden, oder ſoll das Schauſpiel, 
deſſen ohnmächtige Zeugen wir find, mit einer Überflutung der Perſönlichkeit durch die Maffe 
enden? Wird der Schrei nach Kultur, der heute immer lauter ertönt, in letzter Stunde un- 
geahnte Kräfte erwecken, oder ift er nicht vielmehr der ſehnſüchtige Ruf des Kranken nach dem 
entſchwindenden Leben?“ 

Wie denken die Tüͤrmerleſer darüber? G. 


Æ 


Sie Seelentultur der modernen Frau 199 


Die Seelenkultur der modernen Frau 


> = ei A ygiene und Kosmetik“, ſchreibt Dr. Ella Menſch im ‚Reichsboten‘, „ſind die Götzen, 
D JB 52 denen das Volk opfert, nicht zuletzt die Frauenwelt. Der Sport, die Hautpflege, 
2 die Haarbehandlung, die Geſichtsmaſſage, das Freibad, die Zimmergymnaſtik, das 
rn — dies und noch viel mehr drängt ſich in das Leben moderner Frauen und Mädchen 
und wird von ihnen mit Andacht und peinlicher Gewiſſenhaftigkeit beobachtet — und das in 
einer Zeit, die fih nicht genug tun kann in Proklamationen über den Beruf der Frau als Welt- 
buͤrgerin, als Politikerin, als Volkserzieherin!. 

gn engem Zuſammenhang mit der übertriebenen Ehrfurcht vor dem äußeren Menſchen 
ſteht das Beſtreben, alles das auszuſtreichen, was geſagt und getan wurde im Hinblick auf 
die Erhöhung des inneren Menſchen, auf ſeine Seelenkultur. 

Jahraus, jahrein mehren ſich die Bücher, welche in glühenden Bildern und mit philo- 
ſophiſchem Aufputz den Menſchen die Lehre predigen: Es gibt nur ein Heil, nur eine Rück- 
ſicht, das iſt die Sorge für das liebe Fleiſch. 

In dieſem Sinne beſchert uns der Franzoſe Remy de Gourmont, der jetzt trotz ſeiner 
50 Sabre noch immer an den ‚Problemen‘ der Erotik herumbaſtelt, in feinen Romanen eine 
Philoſophie der Götter‘, welche ein deutſcher Autor natürlich brühwarm überſetzt und mit 
hochtönenden Einleitungen verſieht, die den Kern des Buches wiedergeben in der Wendung: 
„Trotz aller Veränderungen, die die Jahrhunderte mit ſich brachten, gibt es nur einen großen 
Zwieſpalt, auf den ſich alle Probleme zurückführen laſſen: den zwiſchen Heidniſch und Chriſtlich. 
Was die Alten nicht gekannt hatten, Sünde und ſchlechtes Gewiſſen, bezwang die Welt. 
Nur in wenigen rebelliſchen und unverdorbenen Köpfen lebt noch eine Erinnerung an die 
frühere Natürlichkeit, die Schönheit und Freude war. Daß die alten Götter nicht geſtorben 
find, wiſſen heute einige unter uns — zu ihnen gehört Remy de Gourmont, und wer den großen 
Zwieſpalt aus ſeiner eigenen Seele kennt, wird dies Buch mit Nutzen leſen.“ 

Die Früchte ſolcher ‚nußbringenden’ Lektüre erleben Eltern und Erzieher heute tag- 
täglich. Der Jüngling, das heranwachſende Mädchen glauben es ihrem höheren Fh ſchuldig 
zu fein, daß fie’s ſehr bald als hemmende Schranke und ‚Zwiefpalt’ empfinden, wenn die Pflicht 
fih zwiſchen fie und ihre törichten, unreifen Wünſche drängen will. Die Begriffe „Zucht“ und 
„‚Selbſtbeherrſchung“ werden in dem modiſchen Sittenlexikon überſetzt mit ,ungefunde, trübe 
Asteje. 

Za, die Griechen, die hatten's gut! Von denen wurde fo etwas nicht verlangt! Allen 
Ernſtes laſſen ſich die Zungen und teilweiſe auch die Alten dieſe ſeltſame Auffaſſung von der 
Welt der Griechen aufbinden und beweiſen dadurch nur, daß fie weder einen ‚Homer‘ noch 
„Sophokles“ je mit Geduld oder Verſtand geleſen haben. Sonſt könnte ihnen der furchtbare 
Ernſt, die laut mahnenden Stimmen des Gewiſſens und der Gewiſſensangſt in den Aefchy- 
leiſchen und Sophokleiſchen Chören doch kaum entgangen ſein. Es iſt wirklich mehr als albern, 
die Geſamtheit der Griechen ſich ſo vorzuſtellen, als wären ihre Tage in Roſengärten und in 
Geſellſchaft von Phrynen dahingefloſſen. In ihrer Literatur, die eine gewaltigere Sprache 
redet als der Heine Überreſt koketter Venusſtatuen, Eroten und lasziver Wandgemälde, haben 
wir den ſtärkſten Beleg dafür, daß auch die Heiden um das Heil ihrer Seele gerungen, daß 
Plato keinem tauben Geſchlecht predigte, als er den Ausſpruch tat: ‚Man muß die an der Seele 
haftende Schönheit für wertvoller halten als die des Körpers.“ 

Heute aber hat eine völlige Verſchiebung der Begriffe ſtattgefunden. Daß man die 
altbekannte Redensart: ‚Nur in einem gefunden Körper wohnt eine geſunde Seele“ auch um- 
kehren kann und muß, fällt den wenigſten ein. Die Pflege des mens sana wird grauſam ver- 
nachläſſigt. Aber dem Suchen nach dem Angenehmen, im beſten Fall nach dem „Nützlichen“, 


200 Die Seelentultue der modernen Frau 


wird das Suchen nach dem Ewigen, dem Unſichtbaren ganz aufgegeben. Wer gibt ſich noch 
Mühe, auf den Zlügelfchlag der Seele zu lauſchen und in feiner Bruſt das göttliche Heimweh 
wachſen und groß werden zu laffen, für das unter unſeren Dichtern Rückert, Eichendorff und 
Gerot fo wunderbar tiefen und ſchlichten Ausdruck gefunden haben: ‚Und meine Seele ſpannte 
weit ihre Flügel aus — flog durch die ſtillen Lande, als flöge ſie nach Haus!“ Das ſind freilich 
keine flüchtigen Impreſſionen, keine Rauſchbilder, die immer nur wieder in das Getriebe der 
Affekte hineinziehen. 

Viel, außerordentlich viel hören wir von der Freiheit, die uns losmachen ſoll von den 
Ketten der Tradition. Aber daß Freiheit ohne inneren Frieden undenkbar iſt, kommt wenigen 
zum Bewußtſein. In uns wohnt zu wenig Frieden, und deshalb auch zu wenig ſtarke und 
ſichere Freudigkeit, obſchon von Lebensfreude und der heißen Jagd nach ihr in allen Son- 
arten die Rede iſt. Nur können wir dieſer vielgeprieſenen Freude nie ſo recht froh werden, 
weil wir nie ſicher ſind, ob ſie uns nicht im nächſten Augenblick entflieht, denn ſie hängt ja von 
fo viel äußeren Umſtänden ab, ift nicht herausgeboren worden aus den tiefſten Quellen unferes 
Seelenlebens. So dürfen wir uns denn auch kaum wundern, wenn mehr als je Konflikte und 
Kataſtrophen innerhalb des Familienlebens darauf hinweiſen, daß in unſerer humanen Er- 
ziehung eins vergeſſen worden iſt: über der Pflege des Körpers und der Ausbildung des Geiſtes: 
die Kultur der Seele. Die Seele drängt dazu, ſich mit dem Göttlichen zu vereinigen. Aber 
wenn das Göttliche in unſeren Lehr- und Bildungsſyſtemen nur noch fo einen Platz aus „An- 
ſtandsrückſichten“ gewiſſermaßen behält, ſtatt das Fundament der ganzen Erziehung zu bilden, 
wird die Seele heimatlos. Wo ſoll ſie Anker werfen? Die Seele iſt das Beſte und Feinſte in 
uns, die Blüte unſeres Weſens, wofern wir dieſes Weſen überhaupt zur Blüte bringen wollen. 
Seele haben, heißt nichts anderes, als Sehnſucht nach dem Ewigen haben. 

Von der heiligen Sehnſucht iſt man abgeirrt zum blöden Genuß. „Ich will mein Leben 
genießen.“ Das ift fo ein Schlagwort unſerer Jugend. Wie arm, wie bettelarm fie bei ſolchem 
Programm wird, kommt ihr erſt im Schiffbruch zum Bewußtſein. Da ſie keine Gottheit mehr 
außer ſich erkennt, wird fie ſelbſt ſich Gottheit, d. h. leitendes Geſetz. Die ‚Moralgebote‘ find 
ihr ſchlaue Liſten, erdacht von einer feigen Maſſe, die ſich durch ſolche Gitter und Wälle die 
ſtolzen Siegernaturen und Eroberer vom Leibe halten wollte. 

Heute ift alles ‚Siegernatur‘, und es wird auch über alles ‚gefiegt‘ — nur nie ‚über 
fih ſelbſt“, das ift zu altmodiſch. 

Nörgelnde Spitzfindigkeit findet heraus, daß die zehn Gebote ja eigentlich nur „Ver- 
bote“ find, äußerliche Warnungstafeln, die der reifen Ethik des vorgeſchrittenen modernen Men- 
ſchen nicht genügen können. 

Aber leider erzählt uns jeder Tag, daß auch die ſogenannten ‚Reifen‘ und ,Borgefdritte- 
nen“ dieſen „Verboten“ nicht genügen, daß wir alle noch immer um die allerelementarſte Moral 
zu kämpfen haben und einen unverzeihlichen Fehler begehen, wenn wir uns als fo ‚verfeinert‘ 
und „kultiviert“ betrachten, die alten Grundlagen verlaſſen zu können. Nun beginnen die Ent- 
gleiſungen. Da ſieht der alternde Mann, den die ſchwindende Jugend mit Angſt erfüllt, denn 
von der Schillerſchen Jugend, die uns nie entflieht“, weiß fein von, Senſationen“ verbrauchtes 
Nervenſyſtem nichts, einen neuen Lebensfrühling. Er trennt fih von der bisherigen Lebens- 
gefährtin und ſucht ihr beizubringen, daß auch ſie eine Pflicht der Humanität erfülle, wenn ſie 
ihm feine Freiheit zurüdgäbe. 

Oder ein junges, kaum flügge gewordenes Mädchen, vorzeitig „aufgeklärt“ und entkräftet 
durch Lektüre erotiſcher Belletriſtik, fiebert nach dem ‚großen Lebensroman“. Das Verbotene, 
der Widerſtand reizt. Nur nicht im gewohnten Gleiſe fein Glück finden. Da ift eine, Berühmt 
beit‘, ſei's eine der Kunſt, eine der Wiſſenſchaft. Er gehört zwar ſchon feit Jahren einer anderen; 
et ift Gatte und Vater. Bagatelle! Schranke für die Philiſter. Eine moderne Natur muß dar- 
über hinwegſetzen können. 


Die Seheimniſſe des Harems 201 


Und fo fort, und fo fort raft der Hexenſabbat, entfeffelt vom ſchamloſen Ichkultus. Immer 
hat's dieſe Wege in die Irre gegeben. Auch der Drang, ſie in ein Syſtem zu bringen und als 
„Weltanſchauung“ zu verzapfen, ift nicht ganz neu. Aber immer werden wir ihn da auftreten 
ſehen, wo die Bewunderung der Materie einen übermäßigen Raum beanſprucht. Materie 
und Natur ſind nicht dasſelbe. So muß auch in der Kunſt von einer naturaliſtiſchen 
und einer materialiſtiſchen Ausführung unterſchieden werden. Freilich, die Begriffe und die 
Proben verſchieben ſich ſehr oft. Immer hapert's da, wo ſich der Körper den Geiſt bauen ſoll, 
ſtatt umgekehrt. Ein Beiſpiel: Die ‚Schönheitsabende‘ find unvernünftige Farcen, bei denen 
männliche Spekulationswut das kleine, ungebildete und durch keine religiöſen Impulſe intakt 
gehaltene Weibchenhirn mißbrauchte. Denn die ,fdhamlofe Tänzerin“ würde bei genügender 
Finanzierung auch als „Rokokodame“ oder ,Weftalin’ paradieren ... 

Sehr geſchäftig, febr betriebſam und erwerbsluſtig find die Menſchen geworden — aber 
der Ernſt, der die Ergänzung der echten Freude bietet, muß erſt wieder erworben werden, 
bevor ſich von wahrer Kultur reden läßt.“ 


Oy 
Die Geheimniſſe des Harems 


SH d ser in letzter Zeit oft gehörten Behauptung, der orientaliſche Harem berge nur ein 
Geheimnis, nämlich das der Langeweile, wird von einem guten Kenner des Orients 
5 entſchieden widerſprochen. Alexander Powell, ehemaliges Mitglied des amerita- 
keen Ronfulattorps im türkiſchen Reiche, erzählt in „Everybodys Magazine“: Hinter den 
Gittern des Harems der orientaliſchen Großen bergen ſich noch immer düſtere Geheimniſſe, 


blutige Tragödien, ſpannende Romane. Denn trotz der furchtbaren Strenge, mit der die tür- 


kiſchen Großen ihren Harem ſichern, gibt es genug ſchöne Türkinnen, die ſich durch nichts davon 
abhalten laſſen, ihre Liebesintrigen zu ſpinnen. Die eine, von der Powell weiß, nahm zum 
Beiſpiel eine Fruͤhſtückseinladung zum Vorwande, um fih in einer Moſchee mit einem jungen 
Ausländer zu treffen, der ſich als Türke verkleidet hatte. Noch kühner war der Verehrer einer 
verheirateten Türkin, der ſelbſt Frauenkleider und Schleier anlegte und unter dem Vorwande, 
das zum Verkaufe ausgebotene Haus zu beſichtigen, in den Harem ſeiner Angebeteten ein- 
drang. Welche Gefahr er damit lief, beweiſt die tragiſche Geſchichte eines jungen Mitglieds 
des diplomatiſchen Korps in Kairo. Es war ein lebensluſtiger Geſelle, der eine Leidenſchaft 
für das Poloſpiel hatte. Auf dem Wege zum Spielplatze begegnete er einmal einer eleganten 
ägyptiſchen Schönen, die in ihrem flotten Brougham ſpazieren fuhr. Am erſten Tage ein Blick 
herüber und hinüber, am nächſten ein Zettelchen, das unbemerkt aus dem Wagen geworfen, 
und am folgenden Tage ebenſo geſchickt beantwortet wurde, kurz, nach einiger Zeit war der 
junge Diplomat in die ägyptiſche Schöne hoffnungslos verliebt. In ſeiner Leidenſchaft ent- 
ſchloß er ſich dann zu einem kühnen Schritte. Er legte die Tracht des Landes an und verſchaffte 
ſich Eingang in den Harem, deſſen Herr in Kairo als ein beſonders ſtrenger und grauſamer 
Paſcha bekannt war. Er iſt nie wieder zum Vorſchein gekommen — und keine Geſandtſchaft 
hätte es wagen können, zu reklamieren, da das Eindringen in den Harem nach den orientaliſchen 
Vorſtellungen einen unſühnbaren Eingriff in das Hausrecht bildet. 

Andere Beiſpiele von der eiferſüchtigen Strenge, mit der der Harem abgeſchloſſen wird, 
haben eher einen humoriſtiſchen Zug. Als Sandow, der bekannte Vertreter und Prediger 
einer ſyſtematiſchen Körpergymnaſtik, die Türkei beſuchte, da verpflichtete ihn ein reicher Paſcha, 
den Frauen ſeines Harems Unterricht in Körperkultur zu erteilen. Aber wie geſchah das? Der 
Raum, wo der Unterricht ſtattfand, war durch eine hohe Wand in dem bekannten durdhbrode- 


202 Spielertypen in Monte Carlo 


nen Muſchrabiehwerk in zwei Hälften geteilt. Auf der einen Seite diefer Gitterwand ftand 
Sandow und machte feine Übungen vor; zwei rieſenhafte Eunuchen mit gezogenen Schwertern 
bewachten jede ſeiner Bewegungen, und jenſeits der Wand blickten einige Dutzend mehr oder 
weniger ſchöne Augen geſpannt den Demonſtrationen zu. Ein ſehr peinlicher Fall iſt nach 
türtifchen Begriffen auch der, wenn eine Schöne des Harems durchaus zahnärztliche Hilfe 
bedarf. Zwar dle Gattin des Rhedives von Agypten — der Khedive hat nur eine einzige recht- 
mäßige Frau, eine Cirkaſſierin von Geburt — ließ ſich in ſolchem Falle unbedenklich und ohne 
Schwierigkeiten von dem Zahnarzt behandeln. Ein amerikaniſcher Zahnarzt aber, der im 
kaiſerlichen Harem zu Zildis Kiosk eine der Hanums zu behandeln hatte, erzählte, daß der Ope- 
ration ſtändig zwei Eunuchen beiwohnten, die ihre geladenen Revolver unausgeſetzt auf den 
Zahnarzt gerichtet hielten. Zweifellos für dieſen eine höchſt wenig gemütliche Situation, da 
das geringſte Mißverſtändnis die Haremswächter veranlaſſen konnte, loszuſchießen. 

Es iſt um die Revolver kein Spaß, ſondern ſie ſchießen wirklich, wie eine andere Geſchichte 
beweiſen mag. Während der Sommermonate pflegen die Frauen der türkiſchen Großen mit 
ihrem Gebieter an die See überzuſiedeln, und dort genießen ſie dann in der Regel mehrere 
Stunden am Tage die Freuden des Seebades. Man kann ſich leicht vorſtellen, daß die ohnehin 
ſchon übliche Strenge der Bewachung während der Stunden der Geebdder bis zum Fanatis- 
mus ausartet. Der vielgenannte, jetzt als Flüchtling in England lebende frühere Sekretär und 
Günſtling des Sultans J 3 3 e t Paſcha ließ die Damen feines Harems in einem großen Holz- 
käfig baden, der halb in die See verſenkt war, fo daß es unter keinen Umftänden einem Manne 
möglich war, ſich ſeinen badenden Schönen zu nähern. Nun führte der Gartenweg von ſeinem 
Landhaus zum Strande an den Gärten eines im Sommer von Ausländern viel beſuchten Hotels 
entlang. Eines ſchönen Tages, als die Haremsfrauen fih unbeobachtet wähnend läſſig zur See 
hinabſchlenderten, entdeckten ſie auf einem Balkon des Hotels, der auf den Garten des Paſchas 
hinausgeht, einen jungen Ruffen, der fie fleißig „abknipſt“. Auf ihr Geſchrei eilt einer von den 
albaniſchen Kawaſſen des Paſchas herbei, der ſogleich feinen Revolver auf den Ruſſen richtet 
und ihn auffordert, die Kamera, Platten und allen Zubehör ſofort herabzuwerfen. Der Ruſſe 
verſuchte zu verhandeln, aber im Augenblick krachte der Revolver, und die Ramera ftürzte zer- 


ſchmettert von dem Balkon herab. 


Spielertypen in Monte Carlo 


© as einem am meiſten in der uns durch ihren „Monarchen“ befreundeten Spiel- 
LG; hölle auffällt, das ift nach einem Gewährsmanne der „B. Z. a. Mittag“ die große 
, Zahl von älteren Damen, die hier tagaus, tagein die Kaſinoräume be- 
treten, am Spieltiſche Platz nehmen und meiſt ſtundenlang verweilen. „Sie zeigen faſt alle 
den gleichen Typus, ſchwere, breite, grobknochige Weſen, die daſitzen, als murmelten fie Ge- 
bete. Sie alle ſetzen faſt nur Fünffrankſtücke, fie alle ſcheinen nach einem beſtimmten Syſtem 
zu arbeiten; aber man ſpürt es, daß hier weniger der Traum von hohen Gewinſten die 
Triebfeder ihres Spieles ift als der Durft nach den Erregungen, nach den aufzuckenden Hoff- 
nungen oder den dunklen Enttäuſchungen, die die Launen des Schickſals entſtehen laffen. 
Und wenn ſie vorſichtig ſind, ſind die Koſten dieſes Genuſſes nicht allzu hoch. Wenn ſie 
regelmäßig ſetzen, ſo haben ſie Chance, durch den ewigen Wechſel von Gewinn und Verluſt 
am Ende durchſchnittlich nur 25 Fres. pro Tag zu verlieren; aber im Grunde hoffen fie doch 
auf Gewinn. Ein franzöſiſcher Mathematiker, der einmal das Syſtem dieſer alten Damen 
beobachtete, hat ausgerechnet, daß ihre Gewinnchance bei ihrer Spielart ſich wie 1: 100 000 
verhält, aber die greiſen Spielerinnen glauben nicht an die Mathematik: warum ſollte ſonſt 


A * 
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Splelertypen in Monte Carlo ) 203 


Monte Carlo beſtehen? Eine dieſer Naiven fagte mir einmal im Hotel: „Mein Gatte ftarb 
vor einem Jabr; als der Nachlaß geregelt war, ftellte fidh heraus, daß er nicht fo viel hinter- 
laſſen hatte, als ich erwartet hatte. Nun komme ich nach Monte Carlo, um das Fehlende zu 
erſetzen. Ich werde nicht viel fpielen, nur jeden Tag genug, um, fagen wir, 75 — 100 Francs 
zu gewinnen. Was ich habe, genügt, um fo zu leben, wie ich es gewohnt bin.“ Am nächſten 
Morgen zog ſie ſich ſorgfältig an, ging ins Kaſino und gewann in der Tat in kurzer Zeit 
100 Francs. Sie ſtrahlte, verließ ſofort den Spielſaal, kam am nächſten Tage wieder, ſaß ſechs 
Stunden am Spieltiſch, ohne ihre 100 Francs voll zu bekommen, war enttäufcht, ſpielte am 
dritten Tage weiter, verlor, verlor immer wieder und ihr Vermögen ſchmilzt von Tag zu 
Tag mehr zuſammen. Ein typiſcher Fall. 

Die intereſſanteſten Spieler ſind die jungen Männer, meiſt Engländer und Amerikaner, 
die mit rieſigen Geldmitteln nach Monte Carlo kommen, um den Kampf mit der Bank auf- 
zunehmen. Sie ſetzen Rieſenſummen und ſo oft, daß ſie ſelbſt oft gar nicht wiſſen, worauf ſie 
geſetzt haben; ſchlaue Abenteurer beuten dann die Ungewißheit des Spielenden aus und ſtreichen 
Dellen Gewinn ein, ohne daß der Spieler in feiner Unficherheit einen energiſchen Proteſt zu 
erheben wagt. Aber die dreißig Millionen, die die Bank alljährlich verdient, ſtammen in der 
gauptſache weder von den alten Damen, noch von den jungen Amerikanern: die beiten Geld- 
quellen find jene Gewohnheitsſpieler, die alljährlich wiederkehren, mit Vorſicht 
und Beſonnenheit, regelmäßig kleinere Summen ſetzen und dies Ringen mit dem Glücke dann 
monatelang betreiben. Hiram Maxim erzählt von einem Bekannten, der ſeit ſechzehn Jahren 
alljährlich nach Monte Carlo kommt und in dieſer Zeit 2 100 000 Francs verloren hat. Ein 
anderer verlor im Laufe von zwanzig Jahren 25 Millionen, und ein Dritter, der achtzehn Mo- 
nate lang unausgeſetzt am Spieltiſch fag, 3 600 000 Francs. Wenn man dabei in Betracht zieht, 
daß im ſteten Wechſel Gewinne die Verluſte wieder ausgleichen und neue Verluſte die Gewinne 
wieder aufheben, fo kann man bei dieſem letzten Spieler annehmen, daß in den achtzehn Mo- 
naten 180 Millionen Francs durch ſeine Hände gefloſſen ſind. 

Daneben tauchen in Scharen jene naiven Spieler auf, die ſorgſam die herausfommen- 
den Farben zählen, und wenn Rot fic fechs- oder achtmal wiederholt hat, unweigerlich auf 
Schwarz ſetzen; fie treibt das Gefühl, daß Rot nun allmählich erſchöpft fein müſſe, und fie ver- 
Geffen völlig, daß das Voraufgegangene auf die Chancen eines jeden neuen Spiels ohne Ein- 
fluß ift. Aber neben bieten Unzähligen, die mit Lift und Geduld dem Glüd ein Lächeln zu ent- 
locken hoffen, gibt es andere, die ihre Einnahmequellen nicht gern vom Zufall abhängig machen, 
ſondern fic lieber auf ihre eigene Findigkeit und Geſchicklichkeit verlaſſen. Die eleganten Damen, 
die mit modernen Hüten und zartfarbigen Glacéhandſchuhen vor ihrem Platz die Goldmünzen 
häufen, können in dem Gedränge mit den behandſchuhten Fingern die Geldſtücke nicht ſicher 
dirigieren, und ſehr oft kommt es vor, daß bald hier, bald dort ein Goldſtück zur Erde rollt. 
Zwar halten die Angeſtellten des Kaſinos ſcharfe Wacht, aber dem Scharfſinn und der Gefdid- 
lichkeit ruinierter Spieler und internationaler Abenteurer find aud fie nicht völlig gewachſen. 
Die Summen, die im Kaſino täglich auf den Teppich fallen, ſind ſehr erheblich, und für jene 
Schlauen handelt es ſich nur darum, ſie geſchickt und unauffällig aufzuheben, um damit neues 
Spielkapital oder die Mittel zu einer halbwegs ſorgenloſen Exiſtenz zu finden. Und ſo iſt es 
nicht felten, daß ehemalige Spieler hier eine neue günjtige Gewinnchance entdecken und oft 
monatelang von den vier oder fünf Louis leben können, die fie täglich im Kaſino diskret von 


der Erde aufheben,“ 


204 | | Berlin W. 


Berlin W. 


ler zur Winterszeit durch die Prachtſtraßen des weſtlichen Berlins wandert, plau- 
dert „Zenenfis“ in der „Standarte“, der ſieht Haus an Haus hell erleuchtete 

Ps Wohnungen, aus denen zu ſpäter Stunde noch leiſe Walzerklänge in die Nacht 
hinausdringen. An ben Fenſtern gewahrt man zuweilen die Schatten vorberhuſchender 
Geſtalten; manchmal öffnet ſich die Haustür; eine ſchlanke Geſtalt erſcheint, in einen hellen 
Abendmantel gehüllt, man hat nur den unbeſtimmten Eindruck von etwas Bartem, Duftigem, 
Sylphidenhaftem; ein Wagenſchlag öffnet ſich, ein rofa Füßchen wird für einen kurzen Augen- 
blick ſichtbar, und der Wagen rollt davon. Wieder wird die Haustür geöffnet; lange Röcke, 
Zylinder, weiße Handſchuhe; der Rauch einer Zigarre oder Zigarette. Werlin W., wie es den 
Winter verbringt; das junge Berlin W., die Söhne und Töchter derer, die die prunkvollen Woh- 
nungen des Weſtens bewohnen, in denen kein Raffinement fehlen darf; das junge Berlin W., 
deſſen Leiſtung im Winter darin beſteht, ſiebenmal in der Woche Sekt zu trinken und fieben- 
mal in der Woche zu tanzen; nicht nur Freude an der Geſelligkeit, an der Unterhaltung, nein, 
zu einem einzigen, nicht offen eingeſtandenen, aber doch allgemein als ſelbſtverſtändlich gelten- 
den Zweck: fih zu verheiraten, möglihft gut zu verheiraten. Zn dieſer Abſicht 
beſucht man die endloſen Gaſtereien, ſchlägt ſich die Nächte um die Ohren, langweilt ſich mit 
gleichgültigen Menſchen, von denen man weiß, daß man ihnen ebenfalls gänzlich gleichgültig 
iſt; denn all das Außere bildet ja nur den Vorwand zur Erreichung des Zieles: der paſſenden 
Heirat. | 

In den fortſchrittlich geſinnten, überzeugungstreuen Kreiſen von Berlin W. findet man 
es natürlich höchſt unmoraliſch und verwerflich, wenn irgend eine Prinzeſſin aus politifden 
Motiven verheiratet wird. In unſerem Bürgertum gibt es fo etwas glüdlicherweife nicht. 
Aber es gibt nichts Illuſionsloſeres, nichts Berechnenderes und Kälteres als die Zugend unſerer 
Reichshauptſtadt, wenigſtens in gewiſſen Kreiſen, und daß manche der Ehen, die in dieſem 
Milieu geſchloſſen werden, ein tragiſches Ende nimmt, das kann nur den wundern, der 
nicht weiß, wie ſie zuſtande kommen. 

Alle Harmloſigkeit, jeder offene, ungezwungene Verkehr ift verbannt. Kommt ein Neu- 
ling in dieſe Kreiſe, der ihre Art nicht kennt, unterhält er ſich auch nur eine Viertelſtunde ein 
wenig angeregt mit einer jungen Dame, weil fie gerade ein Thema fanden, das ihrer beider 
Intereſſen berührte, fo muß er darauf gefaßt fein, daß Iden am Tage darauf von den Angehöri- 
gen alle Hebel in Bewegung geſetzt werden, um zu erfahren, wie viel Einkommen er beſitzt, 
welche Zukunftschancen er hat, in welchen Kreiſen er verkehrt, und hundert anderer Dinge; 
er könnte doch als Heiratskandidat in Betracht kommen. Und wenn man keine anderen Be- 
ziehungen hat, fo nimmt man eine Auskunftei zu Hilfe oder ein Oetektivinſtitut, und das ent- 
züdende, eifenhafte Kind mit dem naiven Anſchuldslächeln läßt fih drei Tage ſpäter genauen 
Bericht erſtatten und entſcheidet ſich danach, ob der Mann geangelt werden ſolle oder nicht. 
Daß es die Männer nicht anders machen, iſt bekannt; man kann wohl mit einem Mädchen flirten, 
dem ein paar tauſend Mark an dem Minimum der Mitgift, für die man ſich verkaufen will, 
fehlen; aber ſie heiraten, das iſt ausgeſchloſſen! Die Jagd nach der paſſenden Partie iſt es, 
der all das dient, was wir die „Saiſon“ nennen; um der paſſenden Partie, um der lukrativen 
Heirat willen wird diniert und getanzt, wird geflirtet und wird ſchließlich entführt, wenn alle 
anderen Mittel nicht zu dem Ziele führen 


S 


EEE — — 


Ehriofe- Vater 205 


Ehrloſe Väter 


Zb kenn ein roher Menſch ein Tier ausſetzt, daß es verkommt, ſchreibt die „B. V.-Ztg.“, 
LG { fo wird er mit Recht beſtraft. „Aber ein Vater darf fein hilfloſes Rind ausſetzen 
und dem größten Elend preisgeben, ohne daß ihm ſtrafrechtlich ein Haar ge- 
krümmt werden kann. Vorausſetzung ift, daß jenes Kind unehelich ift. Aber tatſächlich han- 
delt ein Vater, der ſein uneheliches Kind lediglich der Sorge der Mutter überläßt, vielfach kaum 
anders als ein Verkommener, der ein menſchliches Weſen hilflos ausſetzt. Das Kind geht nur 
langfamer zugrunde, als wenn es etwa im Winter an eine einſame Straße gelegt würde. 

Will man das beſtreiten? Woher ſtammt die ungeheure Sterblichkeit der 
unehelichen Kinder? Zit es etwa ein Naturgeſetz, daß diefe Sterblichkeit faſt doppelt 
ſo groß iſt wie jene der ehelichen? Allgemein iſt bekannt, daß die unglückliche Mutter meiſtens 
nicht einmal voll erwerbsfähig iſt. Sie beſitzt ſelten die Mittel, die Koſten einer guten Pflege 
des Kindes zu tragen, ſie iſt aber auch ſelten in der Lage, das Neugeborene bei ſich zu behalten. 
So wird es gegen geringes Entgelt zu Fremden gegeben, und wenn es hier nicht beſonders 
liebevolle Herzen findet, ſo geht es zugrunde, denn meiſtens richtet ſich die Pflege nach der Höhe 
des Roftgeldes. 

Die große Sterblichkeit der Unehelichen hat etwas Erſchuͤtterndes, aber wir werden durch 
dieſe Tragik nicht erſchüttert. Der Vorgang ift alltäglich. Die meiſten unſerer Kulturmenſchen 
ſtehen ſtumpf dabei, ſie leſen die grauſamen Ziffern, ſie wiſſen, daß die Mutter des unehelichen 
Weſens krampfhaft ſich müht, die Koſten einer beſſeren Pflege zu tragen, ſie vernehmen wohl 
auch hin und wieder, daß ſelbſt die arme Pflegefamilie ihr Brot mit dem Hungernden bricht; 
aber kein Schrei der Empörung wird laut nach dem pflichtvergeſſenen Vater des Kindes. 

In Oeutſchland (der „frommen Kinderſtube“! O. T.) werden jährlich etwa 
180 000 uneheliche Kinder geboren. Man rechnet ſicher nicht zu hoch, wenn man 
annimmt, daß 60 000 dieſer Kinder lediglich auf die Hilfe der Mutter oder öffentliche Hilfe an- 
gewiefen find, daß die unnatürlichen Väter ſich ihrer Unterſtützungspflicht entziehen. 

Die ungeheure Ehrloſig ke it folder Pflichtvergeſſenheit wird von uns viel zu wenig 
begriffen. Faſt mitleidslos und empfindungslos geht auch der heutige Bildungsmenſch noch 
immer an dieſer grauſamen Tatſache vorüber. Unſere Moral hat in dieſer Beziehung einen 
doppelten Boden. Wir verdammen das gefallene Weib, laſſen ihr Kind verelenden und taſten 
den Mann nicht an. Es macht ihn nicht ehrlos, ein Mädchen mit einem Kinde ſitzen zu laſſen 
und fih der Unterſtützungspflicht zu entziehen. Viel ehrloſer ift es nach mancher Leute Begriff, 
für ein harmloſes Wort nicht ſofort blutige Genugtuung zu fordern. Und wenn wir mit der 
Mutter kein Mitleid haben, ſo ſollten wir doch um des Kindes willen Erbarmen fühlen. 

Ein entwickelteres Rechtsgefühl ſollte den Mann aud ſtrafrechtlich zur Verant- 
wortung ziehen, wenn bewieſen werden kann, daß durch ſeine Pflichtverletzung die Mutter 
oder das Kind zugrunde gingen. Eine derartige Forderung macht auch der unſagbar trau- 
tige Fall rege, der fih kürzlich vor dem Dresdener Geſchworenengericht abfpielte ... Die 
Mutter eines unehelichen Kindes, ein ſonſt gut beleumundetes Dienſtmädchen, hatte ihre ge- 
ſamten Erſparniſſe für die Pflege des Kindes geopfert. Als ſie die Mittel nicht mehr erſchwingen 
konnte, tauchte in ihr der verbrecheriſche Gedanke auf, das Kind zu ermorden. Mit Hilfe einer 
Freundin führte ſie die Tat aus. Die Mutter wurde zum Tode, die Freundin zu acht Jahren 
Gefängnis verurteilt. Unwillkürlich ſucht man den Vater des Kindes auf der Anklagebank. 
Er hat die Mutter nicht unterſtüͤtzt, weil er ſchon ein anderes Mädchen unglücklich gemacht hat 
und ihm Alimente zahlen mußte. Dieſem gewiſſenloſen Menſchen, dem indirekt die grauſame 
Ermordung ſeines Kindes, ein Todesurteil und die langjährige Freiheitsſtrafe der Helferin am 
Verbrechen zur Laft fallen, wird geſetzlich nichts geſchehen können. Er ift fogar ein B o r g ef e$- 


2 


206 Ehrlofe Vater 


t e r; und er wird nicht aus dieſer Stellung entfernt. Die Derführte erleidet vielleicht den Ihmady- 
vollen Tod durch Henkershand, der Verführer behält alle Ehren feines Standes! Fit das nicht 


eine Moral, die zum Himmel ſchreit, ift es da zuviel geſagt, wenn von ſozialethiſcher Stumpf- 


heit geſprochen wird? 

Die geringſte Unehrlichkeit hat unverweigerlich die ſchimpfliche Entlaſſung aus einer 
amtlichen Stellung zur Folge, die größte Gewiſſenloſigkeit gegen ein unerfahrenes Weib und 
das eigene uneheliche Kind trägt in den meiſten Fällen weder geſellſchaftliche noch fühlbare recht; 
liche Folgen. Das ift ethiſche Unkultur, die durch keine Afthetiihe Bildung oder anderweite 
ſoziale Fürſorge zugedeckt werden kann. 

Im künftigen Strafrecht ſollte man es als Kriminalverbrechen betrachten, ein Mädchen 
zu verführen und mit dem Kinde ſitzen zu laſſen.“ 

In dem angeführten Falle war der Verführer nicht einmal geſetzlich verpflichtet, Alimente 
zu zahlen. Vom Golde der Gemeinen und Unteroffiziere darf näm- 
lich, wie das „B. T.“ feſtſtellt, für Alimente nichts abgezogen werden. 
„Spürt man dem Urſprunge dieſes Geſetzes nach, ſo wird man darin den Verſuch erblicken, 
die Manneszucht und Sittenſtrenge des Heeres zu wahren. Es iſt der gleiche Gedankengang, 
den wir in den meiſten Rechtsbüchern — auch im Bürgerlichen Geſetzbuche — immer wieder 
finden. Um den außerehelichen Geſchlechtsverkehr nach Kräften zu beſchränken, um die 
Sittlichkeit zu heben, gibt man der unehelichen Mutter eine möglichſt ungünſtige 
Stellung im Rechte. „Seht euch vor,“ ruft der Geſetzgeber den Mädchen zu, „wahrt 
eure Tugend; habt ihr ein Kind, ſo geht es euch ſchlecht, vom Vater habt ihr wenig oder nichts 
zu fordern!“ Daß dadurch, durch diefe Entlaſtung des Mannes, feine Angriffsluſt geſteigert 
wird, ſcheint man überſehen zu haben. Es iſt ſo, wie der treffliche Brüggemann in der Erſten 
preußiſchen Kammer fagte, als das alte preußiſche Landrecht vom Jahre 1794, das die unehe- 
liche Mutter im allgemeinen erheblich günſtiger geftellt hatte, im Jahre 1854 revidiert 
wurde: ‚Wir befreien die Männer von allen Feſſeln und ſteigern die Angriffsluſt des m å n n- 
lichen Geſchlechts — und zur Rechtfertigung ſagen wir, es geſchehe, damit der weibliche 
Teil um ſo vorſichtiger, um ſo ſittlicher werde.“ 

Sn ganz beſonderem Grade trifft dieſer Satz nun auf den Soldaten zu. Das bunte 
Tuch verleiht ihm bekanntlich einen febr verführeriſchen Reiz. Die Tradition der rauhen Gol- 
datesta führt ihn auf den Weg des Liebesabenteuers, die Unantaſtbarkeit feines Goldes macht 
ihn leichtſinnig. Die Manneszucht wird man durch ſolche Maßregeln nicht heben, ſondern man 
belaſtet damit einzig und allein das ohnehin ſchwere Los der unehelichen Mutter nur noch mehr. 

Das Liebesprivileg der Soldaten blickt auf eine lange Geſchichte zurück. 
Eine Order vom 23. Februar 1757 an die Regierung zu Weimar lautete: ‚Es follen die Dirnen, 
die fih unter Verſprechung der Ehe an Soldaten hängen und fih von ſelbigen ſchwängern laf- 
ſen, wenn ſie aus dem Lande gebürtig, künftighin mit der Strafe des Zuchthauſes belegt und 
der Ehe halber ſchlechterdings abgewieſen werden.“ Das Landrecht fiir die königlich preußiſchen 
Staaten beſagte im § 1015 Anh. § 83 : ‚Wegen der Alimente des Kindes foll von dem Tratta- 
ment eines Unteroffiziers oder gemeinen Soldaten kein Abzug ſtattfinden. Wenn alfo ein fol- 
cher Schwängerer außer feinem Golde weiter kein Vermögen oder Erwerb hat (das dürfte die 
Regel ſein), ſo muß inzwiſchen die Mutter für die Ernährung des Kindes ſorgen und bis zu 
verbeſſerten Bermögensumftänden des unehelichen Vaters fih gedulden.“ Dieſe Beſtimmung, 
die im § 850 Ziff. 5 Z. P. O. dem Sinne nach wiederkehrt, wonach der Sold nicht der Pfändung 
unterworfen iſt, wird von den Vormündern und Vormundſchaftsrichtern als ein ſehr ernſtes 
und kaum überwindbares Hindernis betrachtet, dem unehelichen Soldatenkinde zur Alimen- 
tation zu verhelfen. Einen nicht ganz erfolgloſen Vorſtoß, der hoffentlich recht viel Nachahmung 
findet, hat jüngft der Berufsvormund Coßmann in Straßburg i. E. ausgeführt. Er erreichte 
durch Verhandlungen mit dem 15. Armeekorps, daß wenigſtens die Nebenbezüge, fo- 


Goethe und der Frad 207 


weit fie verfügbar find; dem Generalvormund überwieſen werden, immerhin 8—12 M monet: 
lich, je nach Höhe des Goldes und der Nebenbezüge. 

Die erzieheriſche Abſicht dieſer für das ‚Soldatenlieb‘ fo harten, den geichtſinn der 
Soldaten fördernden Beſtimmung dürfte illuſoriſch ſein. Es iſt an der Zeit, ihn, wie manch 
anderes Vorrecht des Soldaten, in die Rumpelkammer zu werfen. Dem verurteilten Mädchen 
aber wünſchen wir von Herzen, daß das einſtimmig abgefaßte Gnadengeſuch der Geſchwore⸗ 


nen erfolgreich fein möchte.“ 


Goethe und der Frack 
N 


Zus den „Memoiren des Fracks“, dieſes feierlichſten (auch vornehmften??) aller Klei- 
QJbdungsſtücke plaudert ein Mitarbeiter des Wiener Fremdenblattes. Nach ihm hat 
der Frack ſeine Einführung Ludwig XIV. oder aud einem Reiter aus dem 
Heer Friedrichs des Großen zu verdanken, der die ihm beim Dahinſtürmen hinder- 
lichen Rockſchöße zurüdihlug und mit dieſer Augenblicks- „Erfindung“ bald Mode machte. 
Der aber dem Frack den erſten geſellſchaftlichen Triumph errang, war kein Geringerer als 
Goethe. Wie überhaupt in jeder Epoche ſich der Charakter der Zeit im Koſtüm widerſpiegelt, 
fo ift auch in der ſogenannten Sturm- und Orangperiode die Bewegung der Geiſter im Koſtüm 
zu erkennen. Die extravaganteſten Genies der Literatur, denen fih die große Menge der Schön- 
und Freigeiſter anſchloß, legten, als die vom Zeitgeiſt Emanzipierten, in einer der damaligen 
Geſellſchaft ſehr auffallenden Weiſe, im Gegenſatz zu dem damals üblichen reichgeſchmückten 
Staatsrock, den Frack an, womit, wie erwähnt, Goethe den Anfang machte. Er legte damals 
wenig Wert auf feine Kleidung, und nanıentlid fragte er nicht nach Sitte und Mode und er- 
regte dadurch in Frankfurt oft Anſtoß. Wo alle anderen in feierlichen Kleidern erſchienen, war 
er nadldffig gekleidet. Am liebſten ging er im grauen Biberfrack mit lofe geſchlungenem, braun- 
ſeidenem Halstuch. Damit war aber der Frack noch nicht in die Siegeslaufbahn gelenkt. Das 
geſchah erſt, als Goethe nach Weimar kam. Siegreich wie ein herrſchender Gott trug er 
die „Werther- Uniform“, das heißt: blauen Frack mit Meſſingknöpfen, gelbe Weſte, Leder- 
hoſe und Stulpenſtiefel. Alle jungen Damen in Weimar waren davon entzückt, und ſofort 
legten der Herzog Rarl Aug uſt und der ganze Hof diefe Tracht an. Es war die Kleidung, 
in der ſich Werther erſchoſſen hatte, aber zugleich war es eben die Tracht der emanzipierten 
Geiſter. Alle diejenigen nun, die mit Werther gefühlt, geliebt und geduldet hatten, kleideten 
fih auch in feiner Weiſe, und ſelbſt den ſentimentalen Damen ſchien diefe Tracht verehrungs- 
würdig, weil Werther jagt: „In dieſen Kleidern, Lotte, will ich begraben fein, denn du haft 
fie berührt, geheiligt.“ Insbeſondere war der Frack aber von nun an die Kleidung der Lite- 
raten. Dann wurde er zum politiſchen Parteizeichen, als bei der Verſammlung der franzöͤſiſchen 
Notabeln der dritte Stand durch den einfachen Frack fih auch äußerlich zum goldſtrotzenden 
Adel in Oppoſition ſetzte. Philipp Egalité, der Vater des Königs Louis Philippe, 
beſtieg fogar das Schafott in grünem Frack und gelben Hoſen. Erft ſpäter wurde der revolutio- 
näre Frack zum allgemein angenommenen Feſtkleid. Goethe, der in feinen vorgerückten Jahren 
viel auf gute Kleidung gab, verſäumte nie, bei Repräfentationsgelegenheiten den Frack anzu- 
legen. So ſchildert ihn beiſpielsweiſe Weltzien bei einer der berühmten Audienzen, die Goethe 
ſeinen Beſuchern zu gewähren pflegte: „Ganz in Gala, ſchwarzer, feiner Frack, worauf der 
große Stern des Falken-Ordens prangte, ſchwarze Pantalons, eine weiße Weſte und ſehr 
feine Manſchetten, ſo daß ich nicht begreifen konnte, wie ein Mann in ſolchem Alter zu Hauſe 
ſich ſolchen Zwang antat.“ 
% 


208 Branbwunden durch Suggeſtion — Gehirn und Seele 


Brandwunden durch Suggeſtion 
â [FA s ijt eine Tatſache, daß in der Hypnofe durch Suggeſtion, ohne irgendwelche dugere 
H D Einwirkungen, richtige Brandwunden erzeugt werden können. Der Genfer Pro- 
—lEbò⅛irFfeſſor Paul Farez macht darüber auf Grund langjähriger Verſuche Mitteilungen, 
die jeden Zweifel an dieſer Erſcheinung ausſchließen. So erzählt er den Fall eines achtzehn 
jährigen Mädchens aus dem Jahre 1904, das wegen hyſteriſchen Stummſeins, hervorgerufen 
durch Erſchrecken bei einem Brand, in das Hofpital kam. Sie wurde durch hypnotiſche Sug- 
geſtion geheilt. Dann wurde ihr ſuggeriert, daß ſie auf der Unterſeite des Unterarms eine 
Brandwunde mit Waſſerblaſen habe. Die Suggeſtion verwirklichte ſich am folgenden Morgen 
vollkommen. Ein Arzt, der von dem Experiment nichts wußte, konſtatierte eine Verbrennung. 
Einen anderen Verſuch machte der Stockholmer Arzt Vetterſtrand an einer Frau von 46 Jahren. 
Es iſt unzweifelhaft, daß dieſe Erſcheinungen wirklich vorhanden waren. Jedoch hat man nicht 
bei allen Verſuchen mit Yyſteriſchen den gleichen Erfolg. Farez gibt eine Erklärung dafür. 
„Van verlange“, meint er, „von einem Hypnotiſierten, daß er die oder die Oper finge; er wird 
dazu durchaus unfähig ſein, wenn er die Melodie, die man verlangt, nie gehört hat. Ebenſo 
wird die Suggeſtion erfolglos fein, wenn man von jemand verlangt, er foll eine Verbrennungs- 
erſcheinung hervorrufen, wenn er ſich noch niemals verbrannt hat.“ Den Beweis dafür erbringt 
ein intereſſantes Experiment des Dr. Podiapolsky, der einem hypnotiſierten Bauern ſuggerierte, 
er habe auf der Haut ein Senfpflaſter und ſeine Haut werde rot und brennend werden. Nach 
der Hypnoſe erſchien keine Rötung; der Bauer empfand nur ein leichtes Wärmegefühl. Er 
erklärte denn auch, daß ihm noch niemals ein Senfpflaſter aufgelegt worden ſei und daß er 
nicht wüßte, was das wäre. Nachdem er aber wirklich mit einem Senfpflaſter behandelt wor- 
den war, erfolgte bei einer erneuten Suggerierung eines immaginären Senfpflaſters in der 
Hypnoſe eine ſtarke Rötung der Haut. Dr. Voiſin ſuggerierte einem jungen Hyſteroepileptiker 
die Empfindung, daß jeder goldene Gegenſtand Brandwunden verurſache. Berührte der junge 
Mann nun ein Goldſtück, ſo ſah man an der Stelle der Berührung Röte und eine Brandnarbe 
erſcheinen. Wollte man ihm ein Goldſtück geben, ſo weigerte er ſich energiſch, es zu nehmen, 
und zuckte dngftlid mit den Fingern zurück; zwang man ihn, es zu berühren, fo zeigte er an 
den Fingern Brandblaſen. Darauf ſuggerierte ihm Voiſin in der Hypnoſe, daß man ſich nicht 
an Gold verbrenne, ſondern im Gegenteil an Silber. Nach dem Erwachen nahm er ein Gold- 
ſtück ohne Schwierigkeit und wollte kein Silberftüd berühren, weil er ſagte, daß er fih am Silber 
verbrenne. Voiſin zwang ihn, das Silberſtück in die Hand zu nehmen; ſogleich erſchien Rote, 
dann eine Brandblaſe. Auch die Heilung wirklicher Brandwunden kann durch Suggeſtion 
beſchleunigt werden. 

. 


Gehirn und Seele 


er Direktor der pſychiatriſchen Klinik an der Charité zu Berlin, Profeſſor Dr. Ziehen, 

LG ſprach kürzlich in der „Urania“ über „Die Tätigkeit des Gehirns“. Daß das Denken 
ey; im Gehirn ftattfindet, bemerkte er (nach der „Voſſiſchen Zeitung“) einleitend, hat 
man im Altertum nicht gewußt. Doch ſchon Hippokrates lehrte die richtige Auffaſſung, der 
ſich Plato anſchloß, aber bei Ariſtoteles fand ſich wieder die alte Lehre, daß das Herz der Sitz 
der Seele wäre, während das Gehirn nur als Abkühlungsorgan des durch feine ſeeliſche Tätig- 
keit erhitzten Herzens diene. Gegen diefe Lehre erhob aber bald ein griechiſcher Arzt Wider- 
ſpruch, der die Nerven als Leitungsorgane vom und zum Gehirn erkannte und die Nerven 
von den Sehnen unterſchied, aber die Abermacht der Autorität der Lehre des Ariftoteles unter- 


LS a, 
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(age Er E ENEE 


Gehirn und Seele 209 


druckte diefe Entdeckung, der auch die Stoiker entgegentraten, die die Seele aus der Luft in 
die Lunge und Herz übergehen und durch die fälſchlich für lufthaltig gehaltenen Schlagadern 
in den Körper gelangen ließen. Im zweiten Jahrhundert n. Chr. entdeckte Galenus, der an 
Affen und Hunden Anatomie ſtudiert hatte, als angeſtellter Arzt der Gladiatorenſchule in 
Pergamon, daß Kopfwunden mit Verletzung des Gehirns Störungen der Bewegung und 
der Seelentatigtcit zur Folge haben, er verlegte den Sitz der Seele in die Hirnhöhlen, eine 
Anſchauung, die noch im 18. Jahrhundert bei Sömmering wiederkehrte. Aber im ganzen Mittel- 
alter galt die Ariſtoteliſche Lehre als maßgebend, nur allmählich drang die Galeniſche durch, 
bis bie Reformation und Renaiffance der letzteren zum Siege verhalfen, man verlegte den Sitz 
der Seele aus theoretiſchen Gründen in die Zirbeldrüſe, da die einfache Seele nicht in den 
doppelten Gehirnhemiſphären fiken könne (Descartes). Die Weiterentwicklung diefer Lehre 
geſchah durch Gall, der als Schöpfer der Phrenologie viel geſündigt, aber als Pathologe und 
Anatom Beobachtungen machte, die ihn veranlaßten, den Sitz der Seele in die graue Hirn- 
rinde zu verlegen, und zwar nicht gleichmäßig, ſondern in die verſchiedenen Windungen, die 
ganz geſetzmäßig verlaufen und beim Menſchen beſonders ſtark entwickelt ſind. Die franzöſiſche 
Akademie prüfte in einer Rommiffion, der der berühmte Zoologe Cuvier und der Piychiater 
Pinel angehörten, die Gallſche Lehre und kam zu einer Verurteilung derſelben vermutlich unter 
dem Einfluß von Napoleon I., der durch fie eine Förderung des Materialismus und den Um- 
ſturz von Thron und Altar befürchtete, wie er in ſeinen Memoiren angibt. Aber ſchon 15 Jahre 
ſpäter ſtellten Pſychiater bei geiſtigen Defekten Zerſtörungen der Gehirnrinde feft. Jedoch erft 
die phyſiologiſchen Verſuche der letzten neunzig Jahre brachten gewaltige Fortſchritte, indem 
man z. B. Fröſchen, Tauben oder Hunden das Großbhirn exſtirpierte. Ein folder großhirn⸗ 
lofer Froſch macht keine ſpontanen Bewegungen mehr, Licht- und Schallreize beeinfluſſen 
ihn nicht, wohl aber mechaniſche, wie Stechen; er zieht die geſtochene Pfote weg, hüpft auch 
wohl fort und weicht Hinderniffen aus, ohne vorher gegen fie geſtoßen zu haben. Groß- 
hirnloſe Hunde (Goltz in Straßburg) reagieren auf Geſichtsreize nicht, nur bei grellem Licht 
entſteht Blinzeln der Augen, und ſtarke Gerdufde ſchrecken fie aus dem Schlafe auf. Auf mecha- 
niſche Reize, wie Stich, ſpringt der Hund auf und ſchnappt nach der geſtochenen Stelle, der 
Wechſel von Schlaf und Wachen ijt erhalten, aber verloren gegangen iſt alles, was auf Erinne- 
rung beruht, er kennt feinen Herrn nicht oder ein Stück Fleiſch, das man ihm vorhält; nur wenn 
man es an die Schnauze hält, frißt er. Das Sehen, Hören, Fühlen, das dem Hunde geblieben 
ift, ift eine reflektoriſche Handlung, wie fie auch beim bewußtloſen Menſchen eintritt. Um zu 
beweiſen, daß die ſeeliſchen Vorgänge an die Großhirnrinde gebunden find, dazu genügten 
nicht die Tierexperimente, da mußte noch die Pathologie, die Beobachtung am Krankenbett 
binzutreten. Es galt auch den Frrtum aufzuklären, dem auch Flourens noch anhing, daß die 
Seele gleichmäßig auf die Großhirnrinde verteilt ſei, und daß es ſomit eine Lokaliſation nicht 
gebe. Hier wirkten Experimente am Großhirn des Hundes durch den elektriſchen Strom bahn- 
brechend, die bewieſen, daß auf Reizungen gewiſſer Teile der Gehirnrinde beſtimmte Bewegun- 
gen auftreten, und zwar war es das Gebiet der Zentralfurche, wo man die bewußten Bewegungen 
hervorbringen konnte, und deſſen Defekt beim Menſchen einen Ausfall dieſer Bewegungen 
herbeiführte. Es gelang fo, eine große Reihe motoriſcher Zentren beim Menſchen feftzuftel- 
len, und bald darauf auch Empfindungszentren, für das Sehen im Hinterhauptslappen, weniger 
ſcharf lokaliſiert auch für Gehör, Geruch vim, Es war nun die Auffaſſung möglich, daß das 
Denken und Erinnern, alſo die höheren Seelentätigkeiten durch die Seele, die gleichſam über 
dem Gehirn ſchwebe, bewirkt würden, wofür Philoſophie und Kirche eintreten; aber Munk in 
Berlin ſtellte feft, daß auch dieſes mit dem Gehirn feft verbunden fei, indem er durch Exſtirpa⸗ 
tion eines Teiles der Sehſphäre beim Hunde feſtſtellte, daß er zwar ſieht, aber das Geſebene 
nicht erkennt. Es fehlt ihm alſo auf dem Gebiete des Sehens die Erinnerung, was ſich auch 
beim kranken Menſchen ganz ſicher feſtſtellen ließ, der den Gegenſtand wohl ſieht, aber erſt er- 
Der Tümer XI, 8 14 


210 Eine kurloſe Geſchichte 


kennt, wenn er ihn betaſtet; man nennt das Seelenblindheit. Es iſt alſo auch die Erinnerung, 
das Gedächtnis an die Gehirnſubſtanz gebunden, für die Erinnerung der Wortbilder und Klänge 
kennt man die Lokaliſation mathematiſch genau im oberſten Drittel der oberſten Schläfen 
windung. Nun baut fih nach den Geſetzen der Phyſiologie das Denken auf Sinneswahrneh- 
mungen auf, die Erinnerungsbilder kombinieren ſich zu komplizierten Vorſtellungen, die alſo 
auch zur Hirnrinde in Beziehung ſtehen, was auch aus den Feſtſtellungen der Pſychiatrie hervor- 
geht, die bei Kranken, denen ſolch komplizierte Begriffe mangeln, eine Zerſtörung des Gehirns 
feſtſtellen kann. Nachdem ſo die Bewegungen, Empfindungen, Erinnerungen und komplizierte 
Begriffe an das Gehirn gebunden waren, und für die Oberſeele kein Plätzchen auf der Gehirn- 
rinde mehr frei blieb, da ſollte wenigſtens das Denten, die Aſſoziation der Vorſtellungen, über 
dem Gehirn ſchweben. Auch hier hat die Pſpchiatrie feſtgeſtellt, daß bei Geiſteskranken, wo 
die Urteilsfähigkeit leidet oder ganz verſchwindet, die Aſſoziationsfaſern, die die verſchiedenen 
Ganglienzellen verbinden, zugrunde gehen. Afo dem Urteil entſpricht ein materieller Bor- 
gang im Gehirn. Es blieben nur noch die Gefühlsprozeſſe übrig, bei denen natürlich das Tier- 
experiment völlig verſagt, aber bei der Gehirnerweichung, die mit materiellen Defekten am 
Gehirn einhergeht, leiden auch diefe, fo daß es eine feſtſtehende Tatſache ift, daß jede pſychiſche 
Tätigkeit im Gehirn lokaliſiert iſt, wenn auch weitere Forſchungen zur genaueren Lokaliſation 
noch ausſtehen. Zum Schluſſe ſtreifte der Vortragende die Frage, wie man fih den Sufammen- 
hang zwiſchen Gehirn und Seele vorzuſtellen hat. Produziert das Gehirn die Seele, wie die 
Leber ihre Sekrete, und hat die Lehre von der Lokaliſation dem Materialismus in die Hände 
gearbeitet? Es geht hier gerade ſo, wie der katholiſchen Kirche mit dem kopernikaniſchen Syſtem, 
das ſie zuerſt verworfen, mit dem ſie ſich aber ſchließlich abgefunden hat. Die Lehre beweiſt 
nur ein abſolutes Parallelgehen (pſychophyſiſcher Parallelismus); daß das Pſychiſche dem 
Materiellen untergeordnet iſt, darüber iſt nichts feſtgeſtellt. Man muß ſich auch überlegen, 
daß uns nur Empfindungen zu Gebote ſtehen, die wir als materielles Objekt nach außen pro- 
jigieren. Die Materie ift eine Vorſtellung, die wir zu unſeren Empfindungen und pfychiſchen 
Prozeſſen hinzufügen. Die Tatſachen der Hirnphyſiologie können alſo vom Materialis- 
mus nicht in Anſpruch genommen werden. 


A 
Eine kurioſe Geſchichte 


Fürgerlich und — Fuggerlich“ überſchreibt die „Berl. Volksztg.“ einen Aufſatz über 
die berühmte Augsburgiſche Kaufmannsfamilie, deren Vorfahren am Webſtuhl 
ſaßen oder am Färberbottich ſtanden. Heute teilt fich die Familie in drei Linien: 
die eine ift fürſtlich, die beiden anderen gräflich. Nur Edle von Fugger gibt es nicht. Und doch 
konnte fih der „päpſtliche Geheimkämmerer“ und ehemalige Zentrumskandidat für einen Wies- 
badener Kreis einen „Edlen von Fugger“ nennen. Raymundus hieß er, wie ſein berühmter 
Vorfahre, nach dem die ältefte Linie des Hauſes die Raymunduslinie heißt. Auch dieſer jüngere 
Raymundus war einſt als Graf von Fugger hienieden umhergewandelt. „Sein Vater war 
der Graf Franz zu Fugger von Kirchberg, der Senior der ‚Raymunduslinie‘, der fih im Jahre 
1868 zu Chicago mit Emilie Roth verheiratet hatte und dann auf feinem Beſitztum, der ehe- 
maligen Lehensherrſchaft Kirchberg in Württemberg, ſeinen Aufenthalt nahm. 1870 wurde 
dem Paare ein Sohn, Raymundus, geboren. Faſt fünfundzwanzig Jahre lang nannte ſich die 
Mutter ungeſtört Gräfin, der Sohn aber Graf v. Fugger. Da ſtrengte Mitte der neunziger 
Sabre der Senior des Fuggerſchen Geſamthauſes, damals Fürſt Karl zu Fugger ⸗Babenhauſen, 
gegen Mutter und Sohn einen Prozeß auf Aberkennung des gräflichen Titels und des Erb- 
rechts an. Die „Familiengeſetze“ der Fugger beſagen nämlich, daß die Mitglieder dieſer Fa- 


Eine tuclofe Geſchichte 211 


milie nur ‚jtandesgemäße Ehen‘ ſchließen dürfen, wenn ihre Nachkommen als Grafen v. Fugger 
angeſehen werden follen. „Standesgemäß“ im fuggerlichen Sinne find aber nur Damen aus 
‚uraltem (die Fugger ſelbſt find durchaus nicht uralt) gräflichen, ritter- und ſtiftsmäßigen 
Geſchlecht' . Emilie Roth, verehelichte Gräfin zu Fugger v. Kirchberg konnte weder das eine, 
noch das andere, noch das dritte von ſich behaupten; fie war einfach bürgerlich. 

Daß eine derartige Klage im Oeutſchen Reiche überhaupt angeſtrengt werden konnte, 
kennzeichnet bereits den mittelalterlichen Charakter dieſer ſtaatlichen Schöpfung. Und daß der 
Mage nach Lage unſerer vortrefflichen Geſetzgebung, die ſolche morſchen und lächerlichen · Aber; 
bleibſel einer von anderen Nationen längſt überwundenen Zeit ſorgfältig erhält und bewahrt, 
in vollem Umfange ſtattgegeben werden mußte, das vollendet dieſe Kennzeichnung meiſterlich. 
Die Gattin des Grafen Franz zu Fugger v. Kirchberg durfte ſich fortan nur noch Frau v. Fugger 
nennen, und Raymundus, den Sohn, traf die Entſcheidung, daß er fortan als buͤrgerlicher Fugger 
fein Dajein zu friſten habe. Gleichzeitig wurde der Sohn für unfähig erklärt, 
die Güter feines Vaters zu erben! Gegen dieſe Beſtimmung vermochte der 
Vater des fo ſchwer Heimgeſuchten nichts weiter zu tun. Aber der Bürgerlichkeit des Sohnes 
wußte er bald ein Ende zu machen. Graf Franz zu Fugger war nicht nur bayeriſcher Major 
und erbliches Mitglied der bayeriſchen Erſten Kammer, er war auch Mitglied des ungariſchen 
Magnatenhauſes und „Geheimkämmerer des Papſtes“. So wußte er es durchzuſetzen, daß 
der Sohn aus Budapeſt den ungariſchen Adel und aus Rom den päpſtlichen 
Titel erhielt. Die bayeriſche und die württembergiſche Regierung waren ſo liebenswürdig, 
Raymunds ungariſchen Adel anzuerkennen, und Bayern tat noch ein Übriges, indem es das 
gewöhnliche ‚von‘ um eine Stufe ‚erhöhte‘ und Raymund die Erlaubnis erteilte, ſich „Edler 
von Fugger“ zu nennen. Alſo ein um zwei Grade degradierter und dann um einen Grad avan- 
cierter Fugger! Aber be erben konnte trotz alldem Raymund Edler von Fugger feinen Vater 
nicht. Aus der Familie der fuggerlichen Fugger blieb er ausgeſchloſſen. Dafür machte er ſich 
um die katholiſche Kirche verdient, indem er ein Buch über das Leben und die Werke der eng- 
liſchen Konvertitin und Romanſchriftſtellerin Lady Georgiana Fullerton ſchrieb. 

Mit den erwähnten Erfolgen gab fih aber der Senior des Fuggerſchen Geſamthauſes 
nicht zufrieden. Der gute Fürſt Karl zu Fugger liebte es zwar, die Bürgerkreiſe Augsburgs 
aufzuſuchen und fih dadurch volkstümlich zu machen, daß er bei jeder paſſenden und unpaffen- 
den Gelegenheit mit Nachdruck betonte, ebenfalls bürgerlicher Herkunft zu fein. Aber als Fa- 
milien- Senior verſtand der Fürſt keinen populären Spaß. Er ſtrengte alfo gegen den Grafen 
Franz zu Fugger von Kirchberg, weil dieſer es gewagt hatte, eine Bürgerliche zu ehelichen, 
einen zweiten Prozeß an, der dahin zielte, die Beſitztümer des Grafen mit Beſchlag 
zu belegen. In den „Familiengeſetzen“ der Fugger iſt nämlich auch die Beſtimmung enthalten, 
daß ein Fugger, der in nicht ſtandesgemäßer Ehe lebt, auch nicht befugt fein foll, die Familien“ 
güter zu beſitzen. So geſchehen im Oeutſchen Reich, zu Ende des neunzehnten Jahrhunderts! 
Zn Bayern gaben die Gerichte auch dieſem Antrage ſtatt; in Württemberg dagegen lehnten 
die Gerichte den Antrag ab, zum nicht geringen Leidweſen des Fürſten, der ſich auf den feu- 
dalen Standpunkt geſtellt hatte, daß die bürgerlichen Gerichte für diefe Angelegenheit gar nicht 
zuſtändig ſeien, weil es ſich um Mitglieder des ,hohen Adels“ handele, die dieſer Zuſtändigkeit 
entrückt wären! ... Die handelnden und leidenden Perſonen in dieſer Rechtstomöbie find 
in den nächſten Jahren geſtorben. Graf Franz zu Fugger von Kirchberg iſt tot, ſeine Gattin 
ijt tot, und Zürft Karl zu Fugger-Babenhauſen ift ebenfalls tot. Und nun ift auch der Erbe 
der Güter des Grafen Franz geſtorben. Dieſer Erbe war nicht ſein Sohn Raymundus, der, 
wie erwähnt, des Erbrechts verluſtig erklärt worden ift; der Erbe war auch nicht der nächſt⸗ 
ältefte Bruder des Grafen, Karl, denn dieſer war — entſetzlich! — ebenfalls mit einer Bürger- 
lichen verheiratet; der Erbe war vielmehr der jüngere Bruder, Georg, der eine Gräfin 
Montgelas zur Frau hatte, die der Beſtimmung des Fuggerſchen Familiengeſetzes entſprach. 


212 Irrende Zrrenärzte 


Aus dieſer Che find zwei Söhne vorhanden, denen nicht das Gefdid droht, von dem Raymundus 
betroffen worden. 

Aber nicht genug mit alledem! Der nach Volkstümlichkeit geizende Fuͤrſt Karl zu Fugger- 
Babenhauſen hatte noch einem anderen Zweige der Fugger, den Grafen Fugger-Glött, feine 
Strenge als Familienſenior fühlbar gemacht. Vor einigen Jahren ſtarb in Kamerun infolge 
einer Verwundung durch einen vergifteten Pfeil der Graf Joſeph zu Fugger von Glött. Der 
Großvater dieſes bayerifchen Offiziers hatte fic) im Jahre 1822 mit einer Bürgerlichen, Aloyfia 
Baugger, verheiratet. Wegen dieſer erſchrecklichen Tat — ſolche Taten verjähren in den Reihen 
des ‚hoben Adels“ nie! — fekte Fürſt Karl es durch, daß, 82 Jahre nach jener Eheſchließung, 
die aus dieſer Verbindung entſproſſenen Kinder und Enkel, das heißt die Eltern und die Ge- 
ſchwiſter des in Kamerun geftorbenen Grafen Joſeph zu Fugger, aus der Fuggerlichen Familie 
ausgeſtoßen wurden. Die baperiſche Regierung erteilte den fo Heimgeſuchten darauf 
unter Würdigung aller Umſtände das Recht, fih Grafen und Gräfinnen von Fugger - Blumen- 
thal zu nennen. Die Hauptſache dabei ift, daß die, Gemaßregelten“ nicht mehr im Gothaiſchen 
Almanach — in dieſem dürfen nur die fuggerlichen Fugger ſtehen —, fondern ‚nur‘ 
noch im Grafenkalender aufgeführt werden . 

Solch kurioſe Dinge geſchehen noch Beute im Deutfhen Reiche unter 
Mitwirtung von Geridtenund anderen Behörden! Und da fage nod 
einer, daß Deutſchland nicht in der Welt voran fei! Für derartige fuggerliche Geſchichten dürfte, 
wenn es den leitenden Männern im Oeutſchen Reiche mit Reformen ernſt wäre, nicht mehr 
dieſes Reich, ſondern nur noch die Operette oder Poſſe einen Schauplatz abgeben.“ 


2 


Irrende Irrenärzte 


Q er in ganz Deutſchland unter dem Spitznamen „Einbrecherkönig“ gefürchtete Franz 
Kirſch, welcher wegen angeblicher Geiſteskrankheit in zahlreichen Frrenanſtalten, 
DERK fo auch wiederholt in der Berliner ſtädtiſchen Anſtalt Herzberge, interniert war 
und von dort mit Hilfe ſeiner Freunde immer wieder ausbrach, ijt dann doch vom Gefdworenen- 
gericht in Deſſau wegen feines bekannten Einbruchs in die dortige Landeshauptkaſſe zu zehn 
Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Das Urteil, bemerkt der „Vorwärts“, erregt deshalb 
berechtigtes Aufſehen, weil es die Gutachten derjenigen Pſychiater, insbeſondere auch der Ber- 
liner Frrenärzte, die ſich jahrelang an Kirſchs Geiſteszuſtand die Finger wundgeſchrieben haben, 
völlig über den Haufen wirft und einen der bisher berühmten „wilden Männer“ zwar für geiſtig 
minderwertig, aber nicht für geiſteskrank im Sinne des Strafgeſetzbuches erklärt. Das Jnter- 
eſſanteſte an dem Urteil ift feine neueſte pſychiatriſche Unterlage. Das Deſſauer Gejhworenen- 
gericht, frei von dem Verdacht, etwa bloß ein Exempel ftatuieren zu wollen, iſt zu ſeiner Ent- 
ſcheidung ſicher zum großen Teil gelangt durch eigene Anſchauungen und durch das ſorgfältigſte 
Abwägen aller in Betracht kommenden Umſtände, nicht zum wenigſten auch wohl durch das 
Verhalten der jetzt hinzugezogenen hervorragenden Pſychiater. Es muß ein forenſiſches 
Satyrſpiel geweſen fein, als die gelehrten Herren mit ihren Anſichten ſcharf aufeinander- 
platzten. Die einen, die ſich ſchon durch frühere Gutachten ſo ziemlich gebunden hatten und 
ſelbſtverſtändlich nicht widerrufen wollten, reklamieren den gefährlichen Ein- und Ausbrecher 
nach wie vor für das Irrenhaus, — die anderen, wohl erheblich unbefangeneren, erklären 
den Verbrecher für das Zuchthaus reif. Solche Gegenſätze der Pſychiater vor Gericht find 
ja nun nichts Neues. Aber vorliegend iſt die Schlappe doch ſo in die Augen ſtechend, daß man 
fih ernſtlich die Frage vorlegen muß: Dürfen unſere Richter den Gutachten moderner Piychia- 
ter fernerhin die geradezu ausſchlaggebende Bedeutung beilegen, welche unbedingt in fo auber- 
ordentlich zahlreichen Strafſachen hervorgetreten iſt? 


Alter und Intelligenz N 213 


Die pſychiatriſche Wiſſenſchaft, von der Iden ein Mann wie Virchow ſagt, daß fie keine 
exakte fei, ift noch febr jung, aus den Kinderſchuhen knapp heraus. Nicht im richtigen Verhält⸗ 
nis zu dieſem jungen Alter wie zu dem wiſſenſchaftlich Erreichten ſtehen die Anſtrengungen 
eines gewiſſen Kreiſes von Pſychiatern, fic eine Macht anzumaßen, die ihrem wirklichen Wif- 
ſen einſtweilen noch nicht zukommt. Selbſt hervorragende, nicht durch die wiſſenſchaftliche 
Parteibrille ſehende Pſychiater erklären freimütig, daß auf dieſem heiklen Gebiete noch unend- 
lich vieles zu erforſchen ut. Um fo mehr follten die Gerichte die Pflicht fühlen, nicht jedem 
Pſychiater und auch nicht immer einem „weltberühmten Sachverſtändigen-Rollegium“ un- 
bedingt Heerfolge zu leiſten. Es würde viele glückliche Menſchen mehr geben, wenn die Richter 
den geltenden Einfluß des Pſychiaters um ein erhebliches herabſetzen und wenn die Freen- 
ärzte an der Erkenntnis ſaugen wollten, daß die wahre Wiſſenſchaft keine Reklame machen foll, 


. 
Alter und Intelligenz 


Gest chwinden mit der Abnahme der körperlichen Kräfte auch die geiftigen? Darüber ift 
\ Wo N zwiſchen engliſchen und italienischen Gelehrten ein Streit entbrannt, den man in 
ber „Polit. Anthropol. Revue“ verfolgen konnte. Prof. Osler (Oxford) ift der An- 
ſicht der Jugend, die ja fo gern glaubt, daß nur fie Intelligenz beſitze und die Zeit der Abnahme 
der geiſtigen Kräfte ſehr ſchnell komme. Er hat die Überzeugung, daß die Intelligenz vom 
40. Lebensjahre an weniger ſtark und ſcharf ſei, und behauptet, daß, „wenn alle Werke, die nach 
dieſem Alter geſchaffen worden find, verſchwinden würden, der Verluſt für die Menſchheit nur 
klein wäre“. Seine Gegner halten dem entgegen, daß die meiſten Gelehrten, Schriftſteller und 
Künſtler ihre Hauptwerke in einem vorgerückten Alter hervorgebracht hätten. Sie führen zum 
Beweiſe Galilei an, der feine bedeutendſten Entdeckungen im Alter von 70 Jahren machte; 
Zbſen, der feine ſchönſten Dramen als Sechzigjähriger ſchrieb; Tizian und Tintoretto, die in 
demſelben Alter wunderbare Bilder ſchufen. Zwiſchen dem 50. und 60. Lebensjahre tom- 
ponierte Verdi Aida, Othello und Fallſtaff, Wagner die Tetralogie und die Meiſterſinger; 
Kepler erfindet in dieſem Lebensalter die Logarithmentafel, Morſe ſein Alphabet; Hegel baut 
ſein philoſophiſches Syſtem auf. 

Prof. Lannelongue antwortete zu der Frage folgendes: „Ich glaube nicht, daß bei dem 
gefunden Menſchen, deffen Hirn nie pathologiſch gelitten hat, der Verſtand mit dem Alter ab- 
nimmt. Wenn der Körper auch ſchwächer zu werden beginnt, kann der Verſtand eines Greiſes 
doch ebenſo klar bleiben wie vorher. Ich vertrete durchaus nicht die von Flourens verfochtene 
Anſicht, daß der Verſtand ſich mit dem Alter ſtändig weiter entwickele, aber ich bin vollkommen 
überzeugt, daß bei einem normalen Menſchen die Intelligenz nicht abnimmt; fie kann bis ins 
Greiſenalter ihre Kraft bewahren, wenn ſie ſich auch in mancher Beziehung verändert. Das 
Gedächtnis z. B. wandelt ſich. Es kann noch heute Eindrücke aufnehmen, aber es vergißt oft 
jüngft Geſchehenes und erinnert fih dafür an längſt Vergangenes, das ihm bis dahin vollftän- 
dig verſchleiert war. Nach meiner Überzeugung kann die Intelligenz bis zum letzten Atemzuge 
fortdauern.“ Eine andere Anſicht vertritt Dr. P. Delbert. „Ich glaube“, führt er aus, „an eine 
Abnahme der Intelligenz, die wahrſcheinlich mit dem 45. Lebensjahr beginnt.. Man muß 
allerdings den Sinn der Worte: „Abnahme der Intelligenz‘ richtig zu erfaſſen ſuchen. Ein Mann 
von 40 Fahren kann nicht mehr fo viel geiſtiges Material aufſpeichern wie in feiner Jugend. 
Sein Gedächtnis hat fih gewiſſermaßen friftallifiert: es kann noch aufnehmen, fih entwickeln, 
aber doch nur in ſehr ſchwachem Maße. Ich glaube auch, daß von einem gewiſſen Alter an die 
neuen, die ſchöpferiſchen Ideen ſchwerer ‚geboren werden“. Die Intelligenz ift alfo zuruck 
gegangen. Betrachtet man die Sache aber von einem anderen Geſichtspunkt, hält man ſich den 


214 ; Wie man ſtirbt 


ſoziologiſchen Nutzen eines Mannes von mehr als 45 Jahren vor Augen, fo kann man mit Recht 
ſagen, daß ſeine Intelligenz nicht abgenommen, ſondern im Gegenteil zugenommen hat. 
Die nützlichen Materialien, die in ſeinem Gedächtnis aufgeſpeichert ſind, haben ſich geordnet; 
er kann ſie verwerten und ſo kombinieren, daß ſie Reſultate bringen, die er vorher nicht hätte 
erzielen können, da er noch nicht die nötige Erfahrung hatte.“ Prof. Huchard meinte, daß ſich 
die Frage überhaupt nicht beantworten laſſe, da die „Abnahme der Intelligenz“ durch die ver- 
ſchiedenſten Urfachen herbeigeführt werden könne. Und damit wird er wohl das Richtige ge- 


troffen haben. 
3 


Wie man ſtirbt 


N 

Kë, s ift häufig behauptet worden, daß der Tod äußerft ſchmerzhaft fei, dies wird 
BR aber von berufener Seite vielfach beſtritten. Nur in den feltenften Fällen, fo 
í äi 


todbringende Schüffe kaum gefpürt werden. Soldaten, denen ein Granatſplitter ein Bein 
fortgeriſſen, haben erklärt, daß ſie ſich deſſen, was ihnen paſſiert, gar nicht bewußt geworden 
waren. Im Ruſſiſch-Japaniſchen Kriege hat man tödlich getroffene Soldaten, namentlich 
auf japaniſcher Seite, noch unter lautem Siegesgeſchrei auf die Feinde zueilen ſehen, aller- 
dings um nach wenigen Sekunden tot zuſammenzubrechen. Ein franzöſiſcher Arzt, der den 
Krieg 1870/71 mitgemacht, erzählt, er hätte unter anderen Toten einen preußiſchen Soldaten 
gefunden, der halb auf ſeinem Torniſter lag und in der ſtarren Hand eine Photographie hielt, 
die er mit größter Aufmerkſamkeit zu betrachten ſchien. Dieſer Tote, den man für lebendig 
halten konnte, war in der nämlichen Stellung, in der man ihn vorgefunden, von einer Kugel 
getroffen worden. Ein anderer Arzt, der ebenfalls 1870/71 dabei geweſen, berichtet, daß eine 
Gruppe von feds franzöſiſchen Soldaten, die fih, um zu frühſtücken, in einem Graben nieder- 
geſetzt, von einer Granate getroffen waren. Einer dieſer Unglüdlichen führte gerade einen 
Zinnbecher zum Munde, als der ganze Schädel und das Geſicht mit Ausnahme des Unter- 
kiefers von dem Projektil fortgeriſſen wurde. Sein Leichnam konnte nicht fallen, weil die Rör- 
per ſeiner Gefährten eine Art Wall um ihn herum bildeten. Darum fand man den Leichnam 
auch noch am nächſten Tage, halb ſitzend, halb liegend, mit dem Becher in der Hand. In dieſem 
Falle hatte keinerlei Schmerz den Eindruck des Wohlbehagens verwiſcht, der das Geſicht des 
armen Teufels verklärte, als ihn der Tod fo jäh und unvermutet überraſchte. Aber nicht nur 
im Felde, ſondern auch im Bett iſt der Tod oft nichts weiter als ein Hinübergleiten vom Leben 
zum Tode. Man ſtirbt in einer halben Bewußtloſigkeit, in einem von nebelhaften Träumen 
durchſetzten Schlummer. Der Arzt Dr. Chirac wird vom Schlage getroffen, erwacht wieder 
zum Bewußtſein, verfällt in Fieberphantaſien, bildet ſich ein, man hätte ihn zu einem Patien- 
ten gerufen, ergreift ſeinen eigenen Arm, fühlt den Puls und erklärt dann: „Man hat mich zu 
ſpät gerufen, das iſt ein toter Mann.“ Mit dieſen Worten ſtarb er, nachdem er über ſich ſelbſt 
die Diagnoſe gefällt. Der große Schweizer Gelehrte Haller ſtarb ungefähr in derſelben Weiſe. 
Auch er befüblte fih den Puls und murmelte: „Oer Puls ſchlägt ..., der Puls ſchlägt noch.. ., 
der Puls ſchlägt nicht mehr.“ Das war fein letztes Wort. — Noch weiter trieb der General 
Lourmel dieſe Gleichgültigkeit vor dem Tode. Während der Belagerung von Sebaſtopol ließ 
dieſer General gegen die Ruſſen, die einen Ausfall machten, eine Salve abgeben, die jedoch 
niemand traf. Er rückte weiter gegen den Feind vor, doch kaum hatte er einige Schritte getan, 
als er von einem Kinde, das fih als Soldat verkleidet hatte, tödlich verwundet wurde. „Oonner⸗ 
wetter,“ ſagte Lourmel niederfallend, „der Zunge zielt gut!“ Wenige Sekunden ſpäter war 


er eine Leiche. 


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= Die Hier veröffentlichten, dem freien Meinungsaustauſch dienenden T: 
Einſenbungen find unabhängig vom Stanbpuntte des Herausgebers 


Wehrpflicht, Wehrſteuer und Wahlrecht 
VFO 


Am 9. Juli 1866 ſchreibt Fürſt Bismarck aus dem Hauptquartier in Böhmen an feine 
Gattin: „Anſere Leute find zum Küſſen, jeder, fo todesmutig, ruhig, folgſam, ge- 
d get, mit leerem Magen, naffen Kleidern, wenig Schlaf, abfallenden Stiefel- 
eg ee gegen alle, tein Plündern und Gengen, bezahlen, was fie können, und effen 
verſchimmeltes Brot.“ Und ähnliche Außerungen kehren befonders im franzöſiſchen Kriege 
oft wieder. Halt man dagegen den erbitterten Rampf zwiſchen der Regierung und dem preußi- 
ſchen Abgeordnetenhauſe, der ſich vor 1866 zum ernſten Konflikt zugeſpitzt hatte, ſo erſcheint die 
Abneigung des leitenden Staatsmannes gegen das preußiſche Wahlſyſtem nur zu begreiflich. 
War es doch dasſelbe Volk, das ihm eine widerhaarige Vertretung nach Berlin ſchickte, und das 
nun im Kriege ihn zu Bewunderung und Liebe hinriß. Die Vermutung, daß das plutokratiſche 
Wahlrecht an allem Hader ſchuld ſei, lag ſo nahe. Der Wunſch, den im Kriege bewährten Leuten 
der Tat auch im Rate eine gewichtigere Stimme zu geben, ift nach ſolchen Erfahrungen durch- 
aus verſtändlich. Dieſes Beſtreben des Kanzlers kommt in dem von ihm geſchaffenen Reichs- 
wahlrechte zum Ausdruck. Das allgemeine gleiche Stimmrecht, zu deſſen Begründung und Er- 
weiterung man ſich heute gern beruft auf die allgemeine Wehrpflicht, ſteht alſo mit dieſer auch 
geſchichtlich in innigem Zuſammenhange. 

Nun kommt aber tatſächlich nur etwas über die Hälfte aller Geſtellungspflichtigen zum 
Militärdienſt. Die andern find teils überzählig, teils wegen körperlicher oder geiſtiger, auch 
ſittlicher Mängel dienſtunfähig. Dieſen allen das Wahlrecht vorzuenthalten, wäre offenbar 
aus vielen Gründen unzuläſſig. Ebenſowenig aber entſpricht es der Billigkeit, wenn fie ohne 
eine pflichtmäßige Gegenleiſtung das Recht genießen, das geſchichtlich und ſachlich auf einer 
ganz beſtimmten Leiſtung beruht. Hier beſteht aljo offenbar eine Lücke. 

Diefe auszufüllen konnte man Bedenken tragen, ſolange von keiner Seite an dem be- 
ſtehenden Zuſtande gerüttelt wurde. Nachdem aber nicht nur die Sozialdemokraten, ſondern 
auch die liberalen Parteien die Wahlrechtsfrage auf die Tagesordnung geſetzt haben, iſt es 
unerläßlich, auf die Mängel hinzuweiſen, die dem Reichswahlrechte nach feinem Weſen wie 
nach der Geſchichte ſeiner Entſtehung anhaften. Vielleicht kann die Aufdeckung dieſer Fehler 
die Wege bahnen zu einer Verſtändigung über Neuerungen, die in den engeren Grenzen der 
einzelnen Staaten und der Gemeinden einzuführen find. 

Daß dem Militärdienft des einen Bevölkerungsteiles irgendeine Leiſtung des anderen, 
dienſtfreien Teiles gegenüberſtehen ſollte, wenn beide dieſelben Rechte genießen follen, dürfte 


216 | Wehrpflicht, Wehrſteuer und Wahlrecht 


kaum in Abrede geſtellt werden. Und zwar kann es ſich, da der Dienſt ſelbſt für die eine Seite 
ausgeſchloſſen iſt, nur um einen Ausgleich auf wirtſchaftlichem Gebiete handeln. 

Unſere Betrachtung führt alfo auf eine als Erſatz für den perſönlichen Militärdienſt 
zu zahlende Abgabe, die gewöhnlich als VWehrſteuer bezeichnet wird. Als Ergänzung der all- 
gemeinen Wehrpflicht iſt ſie eine Forderung der ausgleichenden Gerechtigkeit, und ſo iſt ſie denn 
eingeführt in der Schweiz, in Oſterreich- Ungarn, in Frankreich und Stalien, und fie beſtand 
vor 1871 auch in Württemberg und Bayern. Sie iſt zu zahlen während des militärpflichtigen 
Alters und ſetzt ſich zweckgemäß zuſammen aus einer von allen Verpflichteten zu erhebenden 
Kopfſteuer und einem nach den wirtſchaftlichen Verhältniſſen bemeſſenen Zuſchlage, oder 
in der Sprache des Invalidenverſicherungsgeſetzes, aus einem feſten Grundbetrage und einem 
auf die wohlhabenden Klaſſen beſchränkten Steigerungsſatze. Im Oeutſchen Reiche iſt der Plan 
einer ſolchen Abgabe im Jahre 1881 geſcheitert an gewiſſen nicht unbegründeten Bedenken des 
Reichstages. Dieſe Anſtöße laffen ſich nun beſeitigen durch Verknüpfung der Wehr- 
teuer mit dem Wahlrechte. 

Ein gewiſſer Zuſammenhang des Wahlrechtes mit der Erfüllung wirtſchaftlicher Ber- 
pflichtungen beſteht ſchon heute. Aber die Verbindung iſt bloß mittelbar. Erſt der gerichtliche 
Konkurs bringt den Verluſt des Wahlrechtes mit ſich. Zwiſchen Nichterfüllung der Pflicht 
und Verluſt des Rechtes ſchiebt ſich das gerichtliche Verfahren mit Zwangsverkauf, Offenbarungs- 
eid uſw. Dieſer umſtändliche und koſtſpielige Umweg iſt nur gangbar, wenn eine entſprechende 
Konkursmaſſe vorhanden iſt. In Steuerſachen fällt ohnehin das gerichtliche Verfahren weg, 
und es bleibt nur das Zwangsverfahren. Gerade in ihm aber liegt beim Wehrgelde das Ge- 
häſſige, weil es ſich um eine ſo große Zahl von beſitzloſen Leuten handelt. Es kommt alſo darauf 
an, den Exekutor entbehrlich zu machen. Und bieles Ziel wird erreicht durch un mittelbare 
Verknüpfung des Rechtes mit der Pflicht. Ich will daher die Ausübung des Wahlrechtes bis 
zu einem gewiſſen Lebensalter davon abhängig machen, daß der Wähler entweder 
gedient oder Wehrſteuer gezahlt hat. 

Unter dieſer Bedingung geftaltet ſich die Wehrſteuer zu einer freiwilligen Leiſtung, — 
freiwillig in ähnlichem Sinne, wie der Wilitärdienſt unter Umftänden freiwillig heißt. Wer 
wegen feiner Gebrechen die Abgabe nicht zahlen kann, zahlt fie eben nicht, kann aber felbit- 
verſtändlich auch nicht das entſprechende Recht ausüben. Und ebenſowenig ſteht das Recht dem 
zu, der nicht zahlen will. Von Zwangseintreibung könnte bei den unteren Steuerſtufen 
völlig Abſtand genommen werden. Daß hiermit die Härten fortfallen, die ſonſt der Wehrſteuer 
anhaften, ift ohne weiteres klar. Die Freiwilligkeit enthält aber noch beſondere Vorzüge. 

Daß der Ausgemufterte bei wirklicher Erwerbsunfähigkeit nicht noch zur Steuer beran- 
gezogen werden kann, ift ſelbſtverſtändlich. Wer aber foll entſcheiden, ob und inwieweit die Er- 
werbsfähigkeit beeinträchtigt ift? Man braucht nur an die langwierigen und koſtſpieligen Unter- 
ſuchungen zu denken, die in der Unfall- und in der Invalidenverſicherung zur Feſtſtellung 
der Erwerbsunfähigkeit nötig find, um einzuſehen, daß in unſerem Falle die Willkür einen auber- 
ordentlich weiten Spielraum haben würde. Bedauerliche Härten auf der einen Stelle, un- 
gerechtfertigte Befreiungen auf der andern wären unvermeidlich. 

Iſt jedoch nach unſerem Vorſchlage die Zahlung dem freien Willen anheimgeſtellt, ſo 
fallen nicht nur diefe Übelftände fort, ſondern es kommen Eigenſchaften zur Geltung, die kein 
Arzt, keine Sachverſtändigenkörperſchaft einzuſchätzen vermag, und die doch auf die Erwerbs- 
fähigkeit wie auf die Würdigkeit zur Ausübung des Wahlrechts entſcheidenden Einfluß haben. 
Sieht man nicht oft genug den tüchtigen Mann trotz körperlicher Mängel wirtſchaftlich vorwärts 
kommen, während der ſchlaffe Schwächling bei der geringſten körperlichen Behinderung an- 
deren zur Laſt fällt? Warum ſoll ſelbſt ein Krüppel, dem die peinlichſte Einſchätzung Steuer⸗ 
freiheit zuerkennen würde, wenn er die Tatkraft beſitzt, fic ſelbſtändig durch die Welt zu bringen, 
und eine Ehre darin findet, ſein volles Bürgerrecht zu wahren, warum ſoll er nicht die Steuer 


Wehrpflicht, Wehrſteuer und Wahlrecht 217 


zahlen? So liegt in der Freiwilligkeit ein ſittlicher Wert, der ſie gewiſſermaßen auf eine Stufe 
ſtellt mit dem Militärdienſte. Denn dieſer hat für das Volk im ganzen eine ähnliche Bedeutung 
wie die akademiſche Bildung für die wohlhabenden Klaſſen. Wer nicht gedient hat, dem fehlt 
in feiner allgemeinen Bildung ein wichtiges Glied, das ſelbſtverſtändlich durch keine Beſteue⸗ 
rung erſetzt werden kann. In einer Hinſicht aber leiſtet die freiwillige Wehrſteuer allerdings 
ähnliches wie der Militärdienſt, nämlich in der Erziehung zur Vaterlandsliebe. Es liegt nun ein- 
mal in unſerer Natur, daß wir erſt das recht zu würdigen wiſſen, wofür wir Opfer bringen, 
beſonders, wenn in dem Opfer ein Anklang von Freiwilligkeit enthalten ijt. Daher wird man- 
cher Wähler, der unter den heutigen Verhältniſſen von Vaterland nichts wiſſen will, es durch 
die Steuer ſchätzen, vielleicht ſogar lieben lernen. Die freiwillige Wehrſteuer verbürgt ſomit 
einen gewiſſen Grad von politiſcher und ſittlicher Reife, der hinſichtlich des Wahlrechtes wohl 
als Erſatz für die militäriſche Bildung zugelaſſen werden kann. 

Sementipredhend muß fie auch auf den Ausfall der Wahlen Einfluß haben und zwar 
in zweifacher Hinſicht. Zunächſt wird eine erhebliche Anzahl von Steuerpflichtigen nicht zahlen, 
fei es wegen Mittelloſigkeit oder aus politiſcher Gleichgültigkeit. Welche Partei durch den Weg- 
fall dieſer Elemente am meiſten Abbruch erleiden wird, darüber laſſen ſich nur Vermutungen 
anſtellen. Sicherlich aber kann die Ausſchaltung der minderwertigen und politiſch unreifen 
Wähler unabhängig von jedem Parteiſtandpunkte nur als Gewinn bezeichnet werden. Wid- 
tiger für das Ergebnis der Wahlen iſt es, daß diejenigen, die wirklich an die Wahlurne treten, 
durch die Freiwilligkeit der Steuer Selbſtzucht ausgeübt und eine höhere politiſche Reife er- 
langt haben. Mancher, der ſich heute von vaterlandsloſen Hetzern leiten läßt, wird ſich dann 
erinnern, daß er doch ein Vaterland hat, und wird ſeine gereiftere Erkenntnis in der Wahl zum 
Ausdruck bringen. So hebt unſere Steuer das Wahlrecht auf eine ſittlich höhere Stufe. Die 
freiwillige Beſteuerung bedeutet eine Veredelung des Wahlrechtes. 

Was die Höhe der Steuer betrifft, fo wäre, wenn fie als vollwertige wirtſchaftliche Gegen- 
leiſtung fiir den Militärdienſt gelten ſoll, der Grundbetrag vielleicht auf drei Mark monatlich 
zu bemeſſen. Daß eine ſolche Abgabe für die Mehrzahl der nicht dienenden Männer im Alter 
von 23 bis 35 Jahren unerſchwinglich fei, daß fie ihnen etwa härtere Entbehrungen auferlege, 
als der Militärdienſt den mittelloſen Soldaten, wird man nicht behaupten können. Sicher 
aber ift, daß fih zu einem fo hohen Opfer freiwillig wenige aufraffen würden. Daher würde 
der mehrfach hervorgehobene erzieheriſche Geſichtspunkt nur für einen ſehr beſchränkten Kreis 
zur Geltung kommen. Um dieſer ſittlich fördernden Seite willen empfiehlt fih ein moͤglichſt 
niedriger Grundbetrag. Macht man freilich die Laſt allzu leicht, ſo ſchwächt ſich ihr ſittigender 
Einfluß wieder ab. Ein fühlbares Opfer muß die Steuer jedenfalls bleiben. Welcher Satz am 
zweckmäßigſten ift, dafür könnte erft die Erfahrung einigen Anhalt geben. Doch meine ich, daß 
unter einen Grundbetrag von 50 Pfennig monatlich nicht herabgegangen werden ſollte. Da 
nun die Zahl der wehrſteuerpflichtigen Männer im Reiche auf etwas über A Millionen zu ſchätzen 
iſt, fo könnten dieſe — abgeſehen wieder von dem Steigerungsſatze — nahezu 20 Millionen 
Mark jährlich aufbringen. Ob jedoch in Wirklichkeit auch nur 10 Millionen einkommen werden, 
läßt fih in keiner Weiſe vorausſehen. Dafür aber fallen in unſerem Plane die Koſten frucht- 
loſer Zwangsbeitreibungen weg. Alles, was einkommt, ift Reinertrag. Und mag das Ergeb- 
nis hoch oder niedrig ſein, jedenfalls bietet es eine willkommene Ergänzung zu den ſicheren 
Erträgen des Steigerungsſatzes. 

Gegen letzteren dürften grundſätzliche Bedenken kaum vorliegen. Ein näheres Ein- 
gehen auf ihn wäre bei dem gegenwärtigen Stande der Angelegenheit verfrüht. 

Faſſen wir zuſammen! 

Die Wehrſteuer entſpricht einer Forderung der Gerechtigkeit. 

ghre Verknüpfung mit dem Wahlrechte bedeutet eine Rückkehr zu dem Grundgedanken, 
auf dem das Reichswahlrecht beruht. 


218 Modernismus in der proteſtantiſchen Theologie 


In der vorgeſchlagenen Form der Freiwilligkeit umgeht ſie die mißliche Abſchätzung 
der Erwerbsfähigkeit und die gehäſſige Zwangsbeitreibung, wirkt hinſichtlich der Erziehung 
zur Vaterlandsliebe ähnlich wie der Militärdienft ſelbſt und verſchiebt für die unreifſten Wähler 
die Wahlmündigkeit bis zu einem reiferen Lebensalter. 

Sollte nicht eine ähnliche Freiwilligkeit der Steuer auch in den einzelnen Staaten und 
in den Gemeinden zur Grundlage dienen können für eine Umgeftaltung des Wahlrechtes? 


E. Witte 
$2 
Modernismus in der proteſtantiſchen Theologie 


Inter dieſer Spitzmarke beſpricht Profeſſor Z. Reinke in Heft 7 des „Türmers“ das 
Buch des Wiener Theologen K. Beth, „Oer Entwicklungsgedanke und das Chriften- 
tum“. Manchem Leſer iſt gewiß aufgefallen, daß im erſten einleitenden Abſchnitt 
Chriftus als ein zu feiner Zeit moderner Menſch zwiſchen die zu ihrer Zeit modernen 
Männer Moſes und Luther eingereiht wurde. „Auch Chriſtus war ein Kind ſeiner Zeit und fei- 
ner Umgebung, alſo nicht weniger ein moderner Menſch als die heute lebenden. In bezug auf 
die Natur konnte er nichts anderes glauben und lehren, als was den Anſchauungen ſeiner Zeit 
entſprach.“ Reinke will im Türmer auf die im Bethſchen Buche vorgetragene Chriſtologie be- 
greiflicherweiſe nicht eingehen. Eine chriſtologiſche Kontroverſe möchte auch ich hier nicht her- 
vorrufen. Aber da mit einer nachgerade zum Dogma verhärteten Selbſtverſtändlichkeit Jefus 
als Kind ſeiner Zeit auf ſchlechthin menſchliches Niveau feſtzulegen verſucht wird, darf die alte, 
anders geartete Auffaſſung — zur Herſtellung des Gleichgewichtes im Leſerkreis — wenigſtens 
offen ausgeſprochen werden. (Gerne! D. T.) 

Das Beſtreben der neueren theologiſchen Wiſſenſchaft negativer wie poſitiver Richtung 
zielt dahin, die Autorität des Welterlöſers auf das rein religiöſe Gebiet zu beſchränken. Man 
glaubt reinlich ſcheiden zu können den religiöſen, ſeeliſchen, tranſzendenten Gehalt der Reli- 
gion und die naturhaften, mit der äußeren Erſcheinung der Dinge zuſammenhängenden, der 
Wiſſenſchaft zuzuweiſenden Fragen. Wie mißlich dieſe Scheidung iſt, beweiſt Profeſſor K. Beth 
in feinen zwei Vorträgen: Urmenſch, Welt und Gott (Edw. Runge, Großlichterfelde). Dort 
verweiſt der Referent auf das Gleichnis vom reichen Mann und armen Lazarus (Vorſtellung 
von der Hölle) und auf die Anſchauung über das Ende des Weltbeftandes, „die fih nicht leicht 
von der urchriſtlichen Hoffnung und von der Idee des Züngiten Tages löſt“, um die Unverein- 
barkeit von bibliſcher Vorſtellung und naturwiſſenſchaftlicher Betrachtung darzutun. Dem- 
zufolge hätte Jeſus in feiner unſtreitig doch religiös gedachten Verkündigung folgenſchwere 
Irrtümer zum Ausdruck gebracht. 

Dieſe früher nur von der kritiſchen Theologie behauptete Anſchauung ſcheint jetzt Gemein- 
gut der Theologie überhaupt werden zu wollen. Lic. M. Meyer (Jefu Giindivfigteit, Bibliſche 
Zeit- und Streitfragen II, 8) reicht in dieſem Punkte feinem Namensvetter Prof. D. A. Meyer 
in Zürich (Was uns Zefus heute ift, Religionsgeſchichtliche Volksbücher V, 4) die Hand. Die 
Frage: Konnte Zefus irren? (vgl. die Schrift von Prof. Schwartzkopff) wird in weiten theo- 
logiſchen Kreiſen der Gegenwart beantwortet mit der präziſen Antwort: Zeſus mußte irren, — 
wenn er ein entwickelungsfähiger Menſch war. Hierbei wird etwa zum Maßſtab genommen 
das Dichterwort: Es irrt der Menſch, ſolang er ſtrebt. Jene Antwort beſteht indeſſen nur 
dann und nur ſolange zurecht, als man von der unbibliſchen, wiſſenſchaftlich nicht zu erhärten⸗ 
den Vorausſetzung ausgeht, Fefus war ein Menſch wie wir. Anders liegt die Sache bei der Auf- 
faſſung, zu der die Offenbarung uns vollauf berechtigt, daß Jeſus eine inkommenſurable Größe 


Mobernismus in ber proteſtantiſchen Theologie 219 


darſtellt. Seine Perſönlichkeit verträgt dann nicht unſere unzulänglichen Maßſtäbe, unſere 
menſchlichen, oft nur allzumenſchlichen Analogien. 

Wer durch ſeine Erforſchung der evangeliſchen Berichte, ſpeziell der Reden und Aus- 
Sprüche Sefu, ſich gezwungen fühlt, Irrtümer anzunehmen, dem bleibt es natürlich unver- 
wehrt. Er mag ſich dann ein einheitliches, befriedigendes Bild Jeſu zurechtlegen, fo gut es 
eben geht. Es iſt hier, wie bemerkt, nicht der Ort, auf die umſtrittenen wenigen Stellen der 
Evangelien einzugehen. 

Nur dies bezweckt meine Darlegung. Es find nicht nur „Advokaten der Überlieferung“, 
am Hergebrachten um jeden Preis hängende Menſchen, die an der Irrtumsloſigkeit Jeſu feft- 
halten und in dieſer einzigartigen Perſönlichkeit eine Geſtalt erblicken, die ſeine Zeit und alle 
Zeiten himmelhoch überragt. Uns (fo darf ich mich ausdrücken als nicht „allein übriggeblieben“) 
leitet ein vitales religiöfes Intereſſe. Chriftus ift uns abfolute Autorität, letzte ausſchlaggebende 
Inſtanz. Wir halten ihn für modern zu feiner Zeit, inſofern er ihr weit vorauseilte, und für 
modern zu jeder Zeit, ſogar am Ende dieſer Weltzeit. 

Albert Lienhard 


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Geſellſchaftliche Verpflichtungen — Die blaue Internationale 
— Die „Herren“ unter ſich — Volksſtimme gegen Juriſtenrecht 
nne zeitgemäße Betrachtung nach dem Ofterfefte ftellt die „Rölniſche 
E 7A Volkszeitung“ an. Und zwar liefern ihr den Anlaß dazu die üblichen 
A Me Feſtartikel der liberalen Berliner Blätter an hohen chriſtlichen Feier- 
— tagen. ,,Rationaliftifdhe Waſſerſuppen“ nennt fie das Zentrumsblatt. 
Die „Voſſiſche Zeitung“ z. B. habe aus der Feder ihres Haustheologen einen 
Leitartikel über die Perſon Chriſti gebracht, der ungefähr in der Art des Frenffen- 
ſchen Romans „Hilligenlei“ gehalten fei. Mit Recht habe man einer ſolchen Auf- 
faſſung entgegengehalten, daß ſie von der Vorſtellung ausgehe, als ſeien die 
Fiſcher und Zöllner Paläſtinas ſchon ſolche „Nervenbündel“ geweſen, wie wir 
modernen Menſchen. „In Berlin“, ſo fährt das Blatt fort, „wo Unglaube, 
Aberglaube und Spiritismus ſich vermählen, kann man den ,auf der Höhe der 
Zeit“ ſtehenden Männern und Frauen ja alle möglichen Halluzinationen zutrauen. 
Sie find ftets bereit, alles Überfinnliche zu glauben, nur dann nicht, wenn 
es chriſtlich ift. Das Tiſchrücken erſcheint ihnen viel ſerieuſer, als das ganze 
Chriſtentum, und inſofern kann man Goethes Wort auf fie anwenden: ‚Das 
Wunder ijt des Glaubens liebſtes Kind.“ Aber auf die Entſtehung des Chriften- 
tums paßt dieſes Sprüchlein Goethes nicht.“ 

Es ließe ſich mit Händen greifen, daß die großen Feſte der Chriſtenheit auf 
die Leute von heute eine „wahrhaft niederſchmetternde Wirkung“ ausüben und 
mit Zentnerſchwere auf ihnen laſten: „Sie kommen ſich vor wie Franzoſen bei 
einer Sedanfeier und müſſen doch beſtrebt ſein, eine feſttägliche Phyſiognomie 
zur Schau zu tragen. Aber ihre Herzen find erfüllt von Peſſimismus und Glafiert- 
heit, und ihre Stimmung ähnelt der der Bewohner des alten Nom in der Ara 
feiner Dekadenz, welche Seneca in feiner 24. Epiſtel fo ſchildert: ‚Diele find es 
ſatt, immer dasſelbe zu ſehen und zu tun; ſie haſſen das Leben nicht gerade, 
aber ſie empfinden jenen Ekel daran, der unter dem Einfluß der Philoſophie immer 
mehr um fid greift. Sie jagen: Wie lange noch immer dasſelbe! Dieſe uner- 
trägliche Selbſtverſtändlichkeit des Aufſtehens und Zubettegehens, des Sattſeins 


Zürmere Tagebuch 221 


und Wiederhungrigwerdens, des Kalt- und Wiederwarmwerdens. Kein Ding 
nimmt ein Ende, ſondern alles dreht ſich unaufhörlich im Kreiſe herum — alles 
iſt Flüchtling und Verfolger zugleich. Den Tag verfolgt die Nacht, die Nacht 
der Tag, alles geht dahin, um wiederzukehren. Nichts Neues ſehe ich, nichts 
Neues tue ich, deſſen ich nicht demnächſt überdrüſſig werde. Gar viele empfinden 
fo das Leben wenn nicht als eine Laſt, fo doch als supervacuum, überleer.‘ 
Man wird finden, daß dieſe peſſimiſtiſchen Anſchauungen der alten Römer 
ſich zwar in gewiſſer Weiſe mit den chriſtlichen berühren, denn ſie atmen die 
Erkenntnis der Eitelkeit alles Irdiſchen, die den Chriften in der Freude 
auf die ſelige Ewigkeit unverzagt dem Tode entgegenblicken läßt. Der große 
Unterfchied beſteht nur darin, daß dieſe peſſimiſtiſche Auffaſſung des Diesfeits 
dem Chriſten Troſt gibt und den Ungläubigen troſtlos macht. Der Ungläubige 
denkt vielleicht: „Laſſet uns effen und trinken, denn morgen find wir tot,“ den- 
noch hat er an keinem von allen Gütern der Erde die rechte Freude, weil er 
mit Grauen an die Stunde denkt, wo er alles, was fein iſt, ‚in der Lethe ſtillen 
Strom verfenten‘ muß.“ Selbſt den Betrachtungen über die Größe Bülows und 
die Herrlichkeit des Blocks könne er ſich nicht mit Andacht hingeben, weil er wohl 
wiffe, wie vergänglich Parlamentsmehrheiten und leitende Minifter find. 
„Unluſt und Unraſt kennzeichnen den ‚modernen‘ Menſchen. Darum 
gleichen unſere Regierungen und Parlamente Laboratorien, in denen unaufhör- 
lich experimentiert wird und hin und wieder auch eine Exploſion erfolgt, bei der 
viele verunglücken. Alle kämpfen gegen alle, und jeder ſtößt fortwährend ſeine 
Ellenbogen in die Seiten des Nachbarn, weil er bewußt ift, nach dem Darwin- 
ſchen Ausdruck einen struggle for life, Kampf ums Oaſein, führen zu müſſen. 
Nackter als jemals zuvor wird der Ego is mus proklamiert. Mit dem Munde 
ift jedermann Patriot, und zwar in fo exaltierter Weiſe, daß man an die kriege 
riſche Sprache der ‚Steifleinenen‘ Falſtaffs erinnert wird, aber wenn es an den 
Erlaß von Steuergeſetzen geht, drücken ſich alle, und jeder möchte, ‚Daß der andre 
für ihn zahle. Zu keiner Zeit hat man fo ſchamlos dem Mammonismus 
gehuldigt, wie heute, und im Zuſammenhang damit werden auch die Außer- 
lichkeiten des Lebens, Luxus und Uppigteit, fo außerordentlich hoch eingeſchätzt. 
Gewiß läßt ſich auch in anderer Weiſe vielfach Kritik an der Gegenwart üben; 
man kann ſagen, daß die Begriffe von Sittlichkeit und Recht immer brüchiger 
werden, aber wer die Geſchichte kennt, muß einräumen, daß auch in der ‚guten 
alten Zeit“ in dieſer Beziehung durchaus nicht alles zum beſten ſtand. Sicher 
iſt dagegen, daß das „Leben über die Verhältniſſe“ ein ſpezifiſches Kennzeichen 
unſerer Zeit iſt. Man hat, um dieſe böſen Neigungen zu verhüllen, die Phraſe 
von den geſellſchaftlichen Verpflichtungen' erfunden. Jedes Jabr, 
wenn der Frühling ins Land kommt, ſtrömen Tauſende von Berlinern der höheren 
Klaſſen zur Riviera oder ſonſtwo hin, und zwar aus keinem anderen Grunde, 
als weil fie — wie man fidh in dieſen Kreiſen ausdrückt — vollſtändig ‚hallali‘ 
ſind, d. h. ihre Nervenkraft durch die vielen Wintervergnügungen ganz und gar 
ruiniert haben. Aber warum machen ſie ſo viele Feſtlichkeiten mit? Weil ſie, 
wie fie heuchleriſcherweiſe behaupten, fo viele geſellſchaftliche Verpflichtungen“ 


222 Zürmers Tagebuch 


hätten, und meiſt treiben fie die Vorſtellung fo weit, daß fie auch noch ihr herbes 
Schickſal bejammern und behaupten, es fei für fie eine ſchreckliche Tortur, fo viel 
‚mitzumaden‘. Das kann man aber doch nur dann gelten laffen, wenn es fidh 
um Männer und Frauen handelt, die im Hofdienſte ſtehen und zu den Spitzen 
der Geſellſchaft gehören. Aber die Phraſe von den geſellſchaftlichen Verpflich- 
tungen“ ſickert immer weiter nach unten. Reiche Kaufmannswitwen, Leutnants, 
Kommerzienräte und junge Gymnaſiallehrer ſprechen mit ſorgenvoller Miene von 
ihren geſellſchaftlichen Verpflichtungen und haben ſogar noch die Keckheit, einen 
„von Herzen zu beglückwünſchen“, daß man fe was nicht nötig habe. Als wenn 
ſie zu den Mandarinen der erſten Rangklaſſe gehörten und der Kaiſer wie die 
Kaiſerin ſich ſehr erregten, wenn ſie irgendwo fehlten! 

Natürlich gebraucht man dieſe Ausrede nur, um der eigenen Neigung zu 
Luxus, Amüſement und Leben über die Verhältniſſe ein Mäntelchen umzuhängen. 
Ein Beamter, der nicht hoch im Rang ſteht, hat nur ganz geringe „Nepräſenta- 
tionspflichten‘ und ein Nichtbeamter gar keine. Wie ſollte ein unabhängiger 
freier Mann, alſo etwa ein Kaufmann, Schriftſteller oder Landwirt, zu gefell- 
ſchaftlichen Verpflichtungen“ kommen? So etwas gibt's gar nicht; ſolche 
Begriffe konſtruiert der „Zeitgeiſt“, um ein Leben zu maskieren, das man gerade 
deshalb nur im ewigen Taumel totſchlagen zu können wähnt, weil es super- 
vacuum, überleer, geworden iſt. Was in den übergroßen Volksſchichten der 
Gewohnheitsſäufer iſt, das repräſentieren in den ſogenannten beſſeren Kreiſen 
der Mann und die Frau, welche vor lauter „geſellſchaftlichen Verpflichtungen“ 
niemals zu ernſthaftem Nachdenken kommen.“ 

„Vor fünf Jahren“, fo hieß es in einem (wohl etwas „nach oben ab- 
gerundeten“) Berliner Briefe der „Daily Mail“, „begann in Berlin ein auf- 
fallender Luxus um ſich zu greifen. Seitdem nahm er in den wohlhabenden 
Kreiſen ſtetig an Umfang zu. Aber noch niemals hat der Luxus ſich kecker 
gezeigt, als in der jetzigen Saiſon. Man nennt Frauen, die für eine Abend- 
robe 2500 bis 10000 Franken zahlen. Die großen Damenſchneider müͤſſen 
ihre Pariſer und Londoner Kollegen zu Hilfe rufen, um ihren Beſtellungen 
zu genügen. Pelzwerk zu 25 000 oder 75000 Franken findet leicht Abnehmer. 
Hüte werden in dieſem Winter zu 500, 750 oder gar 1000 Franken verkauft, 
Damenſchuhe bis zu 250 Franken. Die großen Zuweliere haben koſtbare 
Steine für Millionen am Lager, während früher einige hunderttauſend Franken 
genügten. Man erzählt, daß ein Geſchäft Unter den Linden feit Beginn 
der Saiſon für 2 Millionen Perlen verkauft hat. Ein reicher Kaufmann hat 
für ſeine Frau ein Kollier für 625000 Franken beſtellt. Die Summen, die für 
Tafelluxus ausgegeben werden, entſprechen dieſen Zahlen. Drei große Hotels 
ſind kürzlich in Berlin eröffnet worden und werden nicht leer. Und dabei machen 
alte und neue Cafés zwiſchen 8 Uhr abends und 5 Uhr morgens glänzende 
Geſchäfte. Leute, die früher für 6,25 Franken dinierten, zahlen jetzt für ein 
Diner von 6—10 Gängen mit feinen Weinen 30—50 Franken, dazu raucht 
man nicht ſelten nach der Mahlzeit eine Zigarre zu 10 Franken. Der Luxus, der 
mit Blumen und Automobilen getrieben wird, iſt unglaublich verbreitet. Man 


Zürmers Tagebuch 223 


erzählt, daß in den Klubs ganze Vermögen gewonnen oder verfpielt werden. End- 
lich gehören koſtſpielige Landhäuſer zum unentbehrlichen Luxus der Reichen..“ 

Aufſehen hat auch ein längerer Aufſatz des Neapeler „Mattino“ erregt. 
Er trägt die Überfchrift „Die Söhne der Sieger. Das Ende von 
Sparta“ und ſtammt von dem Berliner Korreſpondenten des Blattes, der 
unter dem Namen „Borgheſe“ ſchreibt. Auch dieſer „Borgheſe“ hat vorzugs- 
méie, aber nicht nur Berliner Verhältniſſe im Auge. Nach ihm ift das Sparta 
ſtrenger Zucht und Selbſtverleugnung, das in dem Deutſchland der Väter noch 
bis in die Glanzzeit der Gründung des Deutſchen Reiches alle Völker bewun- 
derten und fürchteten, für immer zerſtört. Seit das heldenhafte Geſchlecht, das 
jene große Zeit heraufgeführt und das neue Deutſche Reich ausgebaut hat, mehr 
oder minder vom Schauplatz abgetreten, ift nach ihm eine neue Zeit herauf 
gekommen, deren Ideale nicht mehr Selbſtzucht, Unterordnung, Arbeit und 
Reinheit, ſondern Selbſtſucht, Materialismus, Genußgier und ſchrankenloſes „Aus- 
leben“ heißen. Kein Stand des deutſchen Volkes iſt von dieſer Fäulnis ver- 
ſchont geblieben; zuerſt wurde das Bürgertum in den großen Städten von ihr 
ergriffen, von da drang das Gift in die Provinzen; die wirtſchaftliche Ent- 
wickelung hat eine zahlreiche, durch und durch irreligiöſe Arbeiterklaſſe geſchaffen, 
die dem Verderben ſchon aus dieſem Grunde keinen Widerſtand entgegenzuſetzen 
vermag, und ſelbſt der Adel, der in feinen Sitten und feiner Dentweife fih am 
längſten geſund erhalten hat, iſt, immer nach Herrn „Borgheſe“, heute von ſchwerer 
Gefahr der Fäulnis bedroht. Das Schlimmſte und der eigentlich beſchämende 
Gegenſatz zu den romaniſchen Völkern iſt dabei, daß das Laſter, das dort immer 
noch unter verhüllenden Schleiern einhergeht, in Oeutſchland ganz offen, 
ja neueſtens fogar unter dem Deckmantel der Wiſſenſchaftlichkeit 
und ernſter philoſophiſcher Lehren ſich entfalten darf, und in dieſer 
Form ſchlimmer als in jedem anderen Lande die alten Zdeale der 
Keuſchheit, der Jungfräulichkeit, der Mutterſchaft und ehelichen Treue vernichtet. 
Jedenfalls befinde fih Deutſchland zurzeit in einer sittlichen Kriſis, die 
eine in ihrem Ernſt kaum zu übertreibende Gefahr für ſeine völkiſche Zukunft 
darſtellt und die gebieteriſch nach einer Wandelung des ganzen Volkes ruft, 
wenn es nicht dem Schickſal des alten Rom anheimfallen ſoll. 

* 


„Seit dem Tode Kaiſer Wilhelms I. ift Deutjchland plutokratiſch geworden!“ 
will wiederum die „Daiy Mail“ feſtſtellen. „Es zählt heute die Millionäre nach 
Dutzenden, während es damals ihrer nur vereinzelte beſaß. Die moderne 
Geſellſchaft Deutſchlands, in der fic) die geadelten Führer der Finanz- und 
Induſtriewelt mit den blaublütigſten Funkern miſchen, hat die Traditionen alt- 
perußiſcher Einfachheit“ verlaſſen und an ihre Stelle den Luxus geſetzt. Jede 
neue Saiſon, deren Modepracht und Feſtesglanz alle Vorgängerinnen übertrifft, 
ſpiegelt den Get dieſes ‚reihen Neu-Deutſchland“ wieder. Luxushotels, mit 
marmorgetäfelten Speiſeſälen und five-o'clock-tea-Palmenhöfen nach Pariſer 
und Londoner Geſchmack, ſind von einer extravagant gekleideten Menge gefüllt, 
die das Bier ihrer Väter verachten und dem Champagner Frankreichs aufs 


224 Türmers Tagebuch 


freigebigſte huldigen. Die Prinzeſſinnen promenieren Unter den Linden nicht 
mehr in baumwollenen Handſchuhen, wie es nach dem Bericht eines alten 
Berliner Diplomaten früher der Fall war. Eins der bemerkenswerteſten An- 
zeichen von Oeutſchlands geſellſchaftlicher Umwandlung ift die auffällige Ber- 
beſſerung der weiblichen Kleidung. Die Berliner Geſellſchaftsdame von 1908 
iſt erſtaunlich reich equipiert. Sie entfaltet am Hof und in der Oper einen 
Hauch verfeinerten Reichtums, wie man ihn vielleicht ſonſt nur im Budingham- 
Palace oder auf New Yorks berühmter ,diamond horse show‘ findet. 

Die Berliner Geſellſchaft wird, abgeſehen vom Hof, faſt ausſchlie ß- 
lich von Nichtdeutſchen geleitet. Wit einer oder zwei Ausnahmen ſind 
die Damen, die ein großes Haus führen, Ausländerinnen von Geburt. Die 
erſte politiſche Gaſtgeberin des Reichs, die Fürſtin v. Bülow, ift eine geborene 
Italienerin, eine Prinzeſſin Camporeale, eine Frau von entzückender Liebens- 
würdigkeit, in deren Adern infolge ihrer Abſtammung von dem hiſtoriſchen anglo- 
italieniſchen Hauſe der Acton auch britiſches Blut fließt. 

Die Fürſtin Henckel v. Donnersmarck, die Gattin des bekannten Multi- 
millionärs und ſchleſiſchen Minenmagnaten, die wegen ihrer Zuwelen und ihrer 
prächtigen Hofroben einen beſonderen Ruf genießt, ift eine Ruffin. Die ſchöne 
und lebenſprühende Fürſtin Pleß iſt eine Engländerin, die Schweſter der 
Herzogin von Weſtminſter und gleich dieſer mit dem größten Grundbeſitzer ſeines 
Landes vermählt. Die Herzogin von Ratibor, eine bekannte Brünette und ein 
Liebling der Geſellſchaft, iſt ebenfalls eine Engländerin. Die Fürſtin zu 
Fürſtenberg, des Raifers Gaſtgeberin in Donaueſchingen, ift eine böhmiſche 
(tſchechiſche? D. T.) Gräfin... und Amerika hat eine ſcharmante Ber- 
treterin in der Gräfin Johannes Sierſtorpff, die in New Vork Miß Knowlton 
hieß...“ | 

Es ijt nicht überflüſſig, auch auf diefe „Internationale“, die Buntſcheckig⸗ 
keit dieſer „führenden“ Geſellſchaftskreiſe hinzuweiſen. Bismarck hatte darüber 
ſeine ganz aparten Anſichten; es war dem alten Menſchenkenner nichts weniger 
als gleichgültig, welcher Nationalität z. B. die Frauen feiner Diplomaten ent- 
ſtammten. Die vom Zentrum beliebte Aufſtellung des internationalen, ſonſt aber 
gut belgiſch-franzöſiſchen Herzogs von Arenberg als deutſchen Reichs- 
tagskandidaten veranlaßt die „Berl. Volksztg.“ zu recht beachtenswerten Er- 
innerungen und Betrachtungen: 

„Im Sabre des Heils 1900 geſchah es, daß auf einem Feſte in Petersburg 
ein Großfürſt eine Dame vergeblich zum Tanz einlud. Oer allerhöchſte Unmut, 
den der Großfürſt darüber zu empfinden gerubte, ſteigerte fih, als die Dame, 
gewiſſermaßen zu ihrer Rechtfertigung, bemerkte, daß ſie den Tanz bereits einem 
Herrn von der deutſchen Botſchaft zugeſagt habe. ‚Das hätten Sie nicht tun 
follen!" erwiderte der Großfürſt heftig. „Die Herren von der deutſchen Botſchaft 
ſind ja ſo langweilig!“ 

Dem damaligen deutſchen Botſchafter an der Newa, dem Fürſten Radolin, 
kam dieſe Außerung zu Ohren. Um den Urheber zu einer Entſchuldigung zu 
veranlaſſen, wandte er ſich an die Gattin des Großfürſten, eine mecklenburgiſche 


Zürmers Tagebuch 225 


Prinzeſſin, mit dem Erſuchen, in der Angelegenheit zu vermitteln. Der Bot- 
ſchafter war fo unſchuldsvoll, ſich davon Erfolg zu verſprechen, daß die Groß- 
fürſtin eine Deutſche war. Zn dieſer Beziehung wurde Fürſt Nadolin aber 
ſofort und aufs gründlichſte eines anderen belehrt. Die weiland mecklenburgiſche 
Prinzeſſin, die ſich von den Bewohnern Mecklenburgs hatte erhalten und ſich von 
ihnen die Ausſteuer hatte ſchenken laffen, lehnte rundweg jede Vermittelung ab, 
indem ſie hochmütig erklärte, daß ſie keine deutſche Prinzeſſin ſei, ſondern 
ſich nur noch als ruſſiſche Großfürſtin fühle. Der deutſche Botſchafter, 
der fo unüberlegt geweſen war, bei einer deutſchen Prinzeſſin deutſche Geſinnung 
vorauszuſetzen, ging darauf den ruſſiſchen Miniſter des Auswärtigen, den Grafen 
Murawiew, um die ihm erforderlich ſcheinende Genugtuung an. Mit welchem 
Erfolge, das iſt nicht bekannt geworden. Dagegen erfuhr alle Welt nach kurzer 
Zeit, daß Fürſt Radolin als Botſchafter nach Paris verſetzt war. 

Das iſt eine Geſchichte von zahlloſen. Die deutſche Prinzeſſin, die ſich an 
einen ruſſiſchen Großfürſten oder an irgendeinen anderen ausländiſchen Magnaten 
verheiratet und dann keine deutſche Prinzeſſin mehr iſt, ſondern ſich nur noch 
als Ausländerin fühlt, ift keine Ausnahme. Seltenſte Ausnahme ift viel- 
mehr die Prinzeſſin, die auch dann noch deutſch denkt und fühlt. Und in 
dieſen felben Kreiſen, in denen man um oft höchſt fragwürdiger äußerer Bor- 
teile willen Religion und Nationalität, vaterländiſche Geſinnung und Anhänglich- 
keit an die Heimat von ſich wirft, als ob es ſich um wertloſen Plunder handelt 
— in dieſer ſelben Geſellſchaft ſpricht man von Verrat an den heiligſten Gütern, 
wenn Bürgersleute, wenn Arbeiter oder Geſchäftstreibende fih be 
mühen, auf dem Wege internationaler Verſtändigung ihre Lage zu verbeſſern 
oder Einfluß auf politiſche Vorgänge zu gewinnen. 

Die ſoeben ein wenig gekennzeichneten Herrſchaften, die in der ganzen Welt 
zu Haufe und mit der halben Welt verwandt oder verſchwägert find, pflegen, 
wenn fie das Volk, die ‚Untertanen‘, zum Schutze von Thron und Altar auf- 
rufen, auf die „rote“ Internationale zu ſchelten. Weit internationaler aber als 
die ‚rote‘ iſt die ‚blaue‘ Internationale, die von dem hohen und höchſten Adel 
gebildet wird. Dieſe Internationale fühlt ſich eben dort am wohlſten, wo ſie 
die meiſten Privilegien genießt. 

Man denke, von verſchiedenen regierenden Häuſern zu ſchweigen, an die 
Hohenlohe. Der eine war deutſcher Reichskanzler. Von feinen drei Brüdern 
war der erſte ein preußiſcher Herzog, der zweite Oberſthofmeiſter des Kaiſers 
von Oſterreich und der dritte ein römiſcher Kardinal. Mehrere deutſche Standes- 
herren, die Fürſtenberg zum Beiſpiel, find dadurch, daß ihre weitläufigen Be- 
ſitzungen nicht nur in den verſchiedenſten Teilen des Deutſchen Reiches, ſondern 
auch in Sſterreich- Ungarn liegen, erbliche Geſetzgeber ſowohl in Preußen, Bayern, 
Württemberg, Baden, Heffen als auch in Ofterreich und früher auch in Ungarn. 
3m Lande der Arpaden hat man vor mehreren Jahren durch ein beſonderes 
Geſetz dem bisher von alters her beſtehenden Brauche ein Ende gemacht, daß 
Adelige, die fidh ſtändig in anderen Ländern aufhielten, gleichzeitig Mitglieder 
des ungariſchen Oberhauſes ſein konnten. In Sſterreich und in den deutſchen 

Der Tümer XI, 8 15 


226 Siirmers Tagebuch 


Ländern aber ift dieſer erhebende Brauch noch heute Geſetz. Der vor etwa 
einem Jahrzehnt in Berlin peu ene Herzog von Sagan und Valengay war 
als Herzog von Valengay Franzoſe und als Herzog von Sagan Preuße wit 
erblichem Sitze im preußiſchen Herrenhauſe. Ein gewiſſes Taktgefühl 
hat den Herzog davon abgehalten, dieſen Sitz einzunehmen. Aber befugt dazu 
war er! Er, der feinem ganzen Wefen und feiner ganzen Oenkungsweiſe nach 
Franzoſe war, hätte, wenn er dazu geneigt geweſen wäre, eifrig teilnehmen 
dürfen, um der preußiſchen Monarchie Geſetze zu geben. 

Ahnlich ift es um die Herzöge von Arenberg beſtellt ... Zu den Familien 
der internationalen Ariſtokratie gehörend, beſitzen die d' Arenberg immenſe 
Güterkomplexe in Belgien, Deutſchland, Frankreich, Luxemburg, Stalien und 
Oſterreich. Einige Mitglieder dieſer Familie find ganz Franzoſen geworden, 
jo Prinz Auguſte d' Arenberg, Präſident der Suezkanalgeſellſchaft und unter 
anderen der Schwiegervater des franzöſiſchen Militärbevollmächtigten in Berlin, 
Marquis de Laguiche, der franzöſiſcher Abgeordneter und Mitglied des Inſtitut 
de France ift, jo Prince Pierre d' Arenberg, franzöſiſcher Generalrat des Departe- 
ments Cher, und fein Bruder Prince Erneſt d' Arenberg, franzöſiſcher Referve- 
leutnant. Andere waren vollſtändig Oſterreicher geworden, wieder andere wurden 
ganz Deutſche, fo der unlängſt verſtorbene Parlamentarier Prinz Franz und fein 
gleich ihm mit dem Eiſernen Kreuz dekorierter Bruder Johann, der ſich bei 
Krefeld angekauft hat. 

Aber der Chef des Hauſes, der Herzog Engelbert von Aren- 
berg, kann weder als Belgier noch als Deutſcher angeſprochen werden. Trotz 
ſeiner preußiſchen Staatsangehörigkeit, trotz ſeiner erblichen Mitgliedſchaft als 
preußiſcher Herrenhäusler! Die krankhaften Bemühungen ſeiner Freunde, ihn 
anläßlich feiner Kandidatur als Urgermanen hinzuſtellen, bleiben vergeblich. Eine 
Familie Arenberg, die in alten Zeiten auf der Burg Arenberg an der Ahr 
hauſte, ſtarb ſchon im dreizehnten Jahrhundert aus. Nur ihr Name ging 
durch Heirat der Erbtochter des Hauſes an die Familie v. d. Mark über. Aber 
auch die v. d. Mark-Arenberg ſtarben 1547 aus, und nun kam der 
Name Arenberg zum zweiten Male an eine fremde, diesmal bel- 
giſche Familie de Ligne-Barbangon. Von Jean de Ligne Barbangon 
ſtammen die jetzigen d' Arenberg ab. Dieſe find alfo keineswegs Deutſche, 
ſondern Belgier, deren Wiege in der Provinz Hainaut ſtand. 

Ihr Chef, der Zentrumskandidat Herzog Engelbert v. Arenberg, foll in 
ſeinem ganzen Sein und Denken in erſter Linie Belgier ſein. Seine Er- 
ziehung war belgiſch. Seine Mutter war keine Oeutſche. Er iſt in Ofter- 
reich geboren. Seine Frau iſt eine Belgierin. Wenn möglich lebt er in 
feinem wunderbaren Brüſſeler Stadtſchloß, das jetzt wieder großartige Erwei- 
terungsbauten erhält, oder auf ſeinem nicht minder prachtvollen Landſchloß 
Heverlö bei Louvain. In Deutſchland hielt er fic feit Jahren bis vor 
kurzem faft nie auf. Vor mehreren Jahren erwarb er aber das Schloß Nord- 
kirchen im Bezirk Münſter. Dieſer Erwerb iſt indeſſen, wie es heißt, nicht ganz 
freiwillig geweſen. Man ſoll vielmehr von Berlin aus darauf hingewieſen haben, 


Zürmers Tagebuch 227 


daß ein Magnat, der eine enorme Einnahme jahrein, jahraus aus feinen preußiſchen 
Fideikommiſſen zöge, fie aber faſt ganz im Auslande verzehre, nicht gern ge- 
ſehen würde. Darauf ſoll dann Nordkirchen erworben worden ſein. Dies Schloß 
inmitten weiter Gründe, die durch Aufkaufen bäuerlicher Beſitzungen noch er- 
heblich vergrößert ſind, dient dem Herzog jetzt zeitweiſe als Wohnſitz.“ 

* * 


de 

Der belgiſch-franzöſiſche Herzog und deutſche Reichstagskandidat ift auch 
Beſitzer des größten Privatbergregals in Preußen. Seine jähr- 
lichen Einnahmen daraus ſollen ſich auf eine geradezu fabelhafte Summe be- 
ziffern. Wieviele deutſche Bodenwerte überhaupt in ausländiſchen Händen ſein 
mögen, läßt ſich auch nicht annähernd abſchätzen. Nachdem der Grund und 
Boden durch das herrſchende Beleihungsſyſtem mobilifiert worden iſt, find feine 
rechtmäßigen Beſitzer zum großen Teile zu bloßen Verwaltern eines Kapitals 
herabgeſunken, deſſen wahres „Nationale“ ſich kaum noch feſtſtellen ließe. Und 
die Schätze, die der vaterländiſche Boden in ſeinem Innern birgt, ſind vollends der 
ſouveränen Willkür des „vaterlandslofen“, internationalen Kapitals als Spekula- 
tionsobjekt ausgeliefert. Der Kapitalismus aber hat kein Intereſſe an den 
Menſchen, die ihm in nächtlichen Tiefen das Gold ſchürfen, ſondern nur an der 
Dividende, die für ihn herausgewirtſchaftet werden „muß“. 

Ein ſo unperſönliches Wirtſchaftsſyſtem erklärt manche Härte. Menſchen 
ſind Menſchen, und dünn ſind überall die „Glücklichen im Beſitz“ geſät, die 
freiwillig von ihren „Herrenrechten“ was abgeben. Der Staat aber iſt der 
größere, der wahre, der allein ſouveräne Herr, und er hat nicht den geringſten 
Grund, die angemaßten „Rechte“ jener kleinen „Herren“ auf Koſten feiner Rechte 
und Pflichten zu ſchonen. Eine wachſame und durchgreifende Staatsgewalt ift 
das einzige Korrektiv, das den gegenwärtigen Zuſtand noch einigermaßen er- 
träglich machen kann. Verſagt ſie, ſo wird der Zuſtand ein rechtloſer, anarchiſcher 
und darum unhaltbarer. Wenn die „Herren“ überhaupt noch belehrbar find, 
ſollten ſie ſich der Einſicht nicht verſchließen, daß der Staat im Grunde ja auch 
ihre wohlverſtandenen Intereſſen wahrnimmt, wenn er ihrer allzu ſouveränen 
„Oerrſchaft“ einen ſanften Zügel anlegt. 

Kann ſich aber eine Staatsgewalt, die überhaupt noch ernſt genommen 
werden will, Zuſtände länger gefallen laffen, wie fie der ſozialdemokratiſche Ab- 
geordnete David zuerſt im Reichstage zur Sprache gebracht hat? Im Berliner 
Palaſthötel tagte eine Konferenz der Vertreter des preußiſchen Bergbaus. U. a. 
nahmen an ihr teil: Geh. Bergrat Kleine (Dortmund), Vorſitzender des Ber- 
eins für die bergbaulichen Intereſſen für den Oberbergamtsbezirk Dortmund, 
Geh. Oberbergrat Dr. Weidtmann, Vorſitzender des Allgemeinen Knapp- 
ſchaftsvereins Bochum und Generaldirektor der Aachen- Stolberger Bergwerks- 
und Hüttengeſellſchaft, Geheimrat Uthemann, Generaldirektor der Giefde- 
Gruben in Oberſchleſien, Oberbergrat Dr. Wachtler, Bergrat Williger und 
der frühere Leiter der Königlichen Saargruben, der jetzige Chef der 
Laurahütte, Hr. Hilger. Vorſitzender war Bergrat Kleine. Sehr hübſch würdigt 
nun Naumann in der „Hilfe“ die denkwürdige Sitzung. „Schon vor Eintritt 


228 Türmers Tagebuch 


in die eigentliche Tagesordnung ſpielte fich eine kurze Szene ab, die febr be- 
zeichnend ift für die Wirkſamkeit ſolcher Staatsbeamten, die in den Oienſt der 
beffer zahlenden Privatinduſtrie übergehen. Geh. Bergrat Uthemann 
nämlich, derſelbe Uthemann, der vor kurzem die Techniker auf der Gieſchegrube in 
Oberſchleſien gemaßregelt hat, bat, daß man den Beamten des Handels- 
miniſters keine Mitteilungen vom Verlauf dieſer Vorbeſprechung machen 
ſolle, da er aus ſeiner eignen früheren Tätigkeit im Miniſterium 
wiſſe, wie ſehr das den Beamten ihre Taktik erleichtere. Da haben wir den 
reinſten Fall der ſogenannten unlauteren Konkurrenz: ein 
früherer Staatsbeamter verwendet ſeine amtlichen Erfahrungen, 
um Brivatverbände gegen die Regierung ſtark zu machen. Kurz, 
man beſchließt das von Herrn Uthemann gewünſchte Stillſchweigen. Und nun 
erfolgt die Mitteilung, daß der Handelsminiſter zu der Beſprechung auch zwei 
Arbeitervertreter eingeladen habe, einen Sozialdemokraten und einen Chriftlich- 
ſozialen. Der Vorſitzende ſagt: Wie der Miniſter dazu kommt, Ar- 
beiter vertreter hierher zu berufen, ift mir einigermaßen rätſelhaft.“ Und 
worum handelt es ſich? Um Arbeiterkontrolleure im Bergbetrieb! Darüber 
wollen die Herren mit dem Handelsminiſter allein ſprechen. Warum wohl? 
Im Grunde deshalb, weil ſie nicht wollen, daß die Geſetzgebungsmaſchine in 
Bewegung geſetzt wird. Auch nach dem Unglück von Radbod ſei das, 
wie Geheimer Rat Weidtmann ausführte, nicht nötig. Nicht nötig! 

Auch hier ift es der frühere Miniſterialbeamte Geheimer Bergrat Uthemann, 
der die Stimmung der Verſammelten am rückhaltloſeſten ausdrückt: „Aus vor- 
übergehender Gefühlsduſelei oder um irgendeine politiſche Unannehmlichkeit aus 
der Welt zu ſchaffen, foll man kein Geſetz machen!“ Afo die Erregung über 
die Toten von Radbod ift vorübergehende Gefühlsduſelei. Das ent- 
ſpricht ganz der Denkart des Mannes, für den das Koalitionsrecht und perfön- 
liche Freiheit Phraſen find. Aber damit nicht genug. Er fährt fort: „Ich meine, 
die Beſchwerung unſres Berggeſetzes mit ſozialen Dummheiten wäre jetzt 
ſo weit, daß endlich einmal ein Ende gemacht werden muß.“ 

Die einen wollen von vornherein dem Minifter erklären, daß fie gegen 
jede weitere geſetzliche Regelung ſind, und die andern wollen ihm Punkt für 
Punkt nachweiſen, daß die neuen Verordnungen nichts taugen. In der Sache 
kommt das auf eins heraus: ‚Die Einrichtung von Arbeiterkontrolleuren iſt der 
erſte gefährlichſte Schritt in den ſozialen Staat hinein.“ Wie oft ſchon hat man 
geſchrieben: Der erſte Schritt in den ſozialen Staat! Bei allen Arbeiterſchutz- 
geſetzen erhob fih dasſelbe kurzſichtige Gebrüll. Als ob die Anſtellung von Ar- 
beiterkontrolleuren in den Gruben eine Umänderung des Staates wäre! Und 
wieder iſt es Herr Uthemann, der den Einpauker macht: ‚Sagen Sie morgen 
ganz offen: wir find Herren im Haufe — brauchen Sie das Wort — und 
wollen im Snterejje der Erhaltung unfrer Gruben und des preußiſchen Staats 
Herren bleiben. Schlagen Sie dem Miniſter vor, er möge die Kontrolleure erſt 
einmal beim Militär verſuchsweiſe einführen!“ Oer Vorſitzende aber begleitet 
ihn: „Ihr ſtärkt die Sozialdemokratie, ihr bringt eine Gefahr hervor, die ſpäter 


Zürmers Tagebuch 229 


nur mit vielem Blutvergießen wieder befeitigt werden kann.“ Und das alles 
— wegen der Arbeiterkontrolleure! an es nicht merkwürdig, wie klein 
in menſchlichen Dingen diefe Herren fih zeigen, deren techniſche und kauf- 
männiſche Fähigkeiten über allem Zweifel erhaben find. Ihnen fehlt der ein- 
fache Menſchenverſtand für Volksbehandlung. Und gerade deshalb brauchen wir 
ein neues Berggeſetz. 

Auch der frühere nationalliberale Abgeordnete Or. Voltz gehört natürlich 
zu den Bekämpfern der Arbeiterkontrolleure. Auch er will den politiſchen Ge- 
ſichtspunkt in den Vordergrund ſtellen: „Stärkung der Sozialdemokratie!“ 
Das iſt der alte ſchlechte Gebrauch des Wortes Sozialdemokratie. Merkt man 
denn gar nicht, daß damit alle diejenigen, die eine weitere Sicherung des Berg- 
baues wünſchen, geradezu in die Hände der Sozialdemokraten getrieben werden? 

Nun aber kommt erſt das Schönſte. Und auch hier iſt Herr Uthemann 
der Wortführer: Er ſchlägt vor, deshalb, weil der Handelsminiſter auch einen 
ſozialdemokratiſchen Arbeitervertreter eingeladen hat, überhaupt nicht zu ihm zu 
gehen: ‚Damit ſchmeißen wir die ganze Geſchichte.“ Aber der Geh. 
Rat Hilger, den man ja auch längſt kennt, iſt klüger: „Meine Herren, damit 
ſchmeißen wir ſie leider nicht, denn der Handelsminiſter Delbrück hat einmal bei 
einem Diner des Zentralverbandes Deutſcher Induſtrieller geſagt: Das Wort 
vom gerrenſtandpunkt hat Ihnen mehr geſchadet als ſämtliche Dinge, die Sie 
jemals ſonſt gemacht haben, und wenn ein Handelsminiſter auf dem Stand- 
punkte ſteht, fo ift ihm mit Nichthingehen nicht zu imponieren.“ Damit aber 
öffnet ſich das Tor. Der Handelsminiſter, der ſich nicht einfach imponieren läßt, 
ſoll gehen müſſen! Es fei, fo ſagt Uthemann, eine Handhabe gegeben, ‚mit 
dem Geſetz zugleich den Miniſter, der Arm in Arm mit der Sozialdemokratie 
ein ſolches Geſetz präſentiert, zu beſeitigen.“ Und der Vorſitzende greift den 
Gedanken der Miniſterſtürzerei auf, gibt aber zu bedenken, ob nicht Oelbrück, 
der ein ſcharfer Gegner Bethmann-Hollwegs ſei, gehalten werden müſſe. Es 
wird abgemacht, den Miniſter nicht gerade ſtürzen zu wollen, aber ihm , die 
Wahrheit nach allen Kanten zu jagen‘. 

Das alſo ſind die Bergherren unter ſich. Man hat ſie ſich ſchon immer 
nicht viel anders vorgeſtellt, aber einen ſo urkundlichen Beweis hat man noch 
nicht in Händen gehabt. Es ſind die kleineren Nachfolger des verſtorbenen 
Freiherrn v. Stumm. Stumm war auch brutal, ein Herrenmenſch mit einem 
Stiernacken, aber er war dabei doch ſonſt ein ganzer Kerl mit patriarchaliſcher 
Kraft. Hier aber lebt der Geheimratsübermenſch, der bureaukratiſche 
Werksdirektor, der in ſeinem Reiche herrſchen will wie ein Feſtungskommandant. 
Er nimmt Menſchen an und wirft ſie weg, er läßt ſie in die Tiefe fahren und Kohle 
graben, und wenn ſie nicht gehorchen, ſo werden ſie ausgeſperrt. Mitzureden 
haben dieſe Untertanen nicht. Wozu auch? Die Werksleitung verſteht alles viel 
beſſer und will Herr im eignen Hauſe bleiben. Wie Ludwig XIV. ſagte: „Der 
Staat bin ich,“ fo ſagt dieſe Sorte von Geheimratsdirektoren: ‚Das Werk bin ich!“ 
Und mit dieſem durch nichts getrübten Selbſtgefühl fragen ſie ſich, wann wieder 
ein Miniſter reif fein wird, wegen ſozialpolitiſcher Untugenden verjagt zu werden.“ 


230 Zürmers Tagebuch 


Pour la bonne bouche noch einige Oelikateſſen in Originalpadung.. Der 
königlich preußiſche Geheimrat Uthemann erzählt aus feiner amtlichen Tätigkeit 
im preußiſchen Handelsminiſterium: 

„Meine Herren, als die vorige Sitzung der Vorſtände der bergbaulichen 
Vereine anläßlich einer der erſten ſchönen Novellen zum Berggeſetz abgehalten 
wurde, hatte ich noch den Vorzug, im Miniſterium zu ſitzen. Bevor 
am Morgen die Beſprechung im Miniſterium anfing, wußten wir 
bereits, was tags vorher von den Vereinen beſchloſſen war. Das hat dem 
Handelsminiſter natürlich ſeine Taktik außerordentlich erleichert. Wenn wir auch 
gar keine Veranlaſſung haben, nicht mit offenen Waffen zu kämpfen, ſo halte 
ich es doch aus taktiſchen Gründen für richtig, daß wenigſtens ſo lange, bis die 
Schlacht im Miniſterium geſchlagen iſt, von unſerer Seite gegenüber unſeren 
Freunden, die wir im Miniſterium ſitzen haben, nichts herauskommt.“ 

Weiter bemerkt dann Herr Uthemann noch: „Ich habe doch auch einmal 
bei der Firma (dem preußiſchen Handelsminiſterium !!) gearbeitet.“ Als 
Taktik für die Konferenz im Handels miniſterium empfiehlt er: 

„Ich möchte die Herren, die morgen ins Miniſterium gehen, bitten, immer 
ganz kraß nein zu fagen, ſich auf keine Erörterungen im Detail einzulaſſen, 
vor allem zu dieſem wichtigen Punkt (Arbeiterkontrolleure) offen zu erklären: 
Wir ſind Herr im Hauſe, und wir laſſen die Arbeiter nicht hineinreden. Drücken 
Sie dem Miniſter da den Herrenſtandpunkt ins Auge. Das iſt nach 
meiner Überzeugung die einzige Möglichkeit, das unheilvolle Geſetz zum Scheitern 
zu bringen, daß wir dem Herrenhaus ſagen können: Wir haben unſeren 
Herrenſtandpunkt vertreten, nun, Herrenhaus, zeige, daß du deinen 
Namen verdienſt, und hilf uns.“ 

Als dann der Vorſitzende, Bergrat Kleine, meint, man ſolle es doch ver- 
meiden, gegen den Handelsminiſter ſelbſt vorzugehen, er ſei „noch der beſte, den 
wir feit Bismarck gehabt haben“ (Zwiſchenruf: „Und Möller?), ſchließt fih 
Bergrat Williger dieſer Anſicht an, — aber mit welcher Begründung! „Man hat 
ihm (dem Miniſter) von oben her die Piſtole auf die Bruſt geſetzt. Ich bin 
nun der Anſicht, man muß dem Miniſter das Rückgrat ſtärken und ibm, 
wenn nicht anders, zu einem eleganten Abgang verhelfen. Wir wiſſen 
nicht, wie der nächſte Miniſter einmal fein wird, aber wenn wir den Herren 
immer wieder das Rückgrat ſtärken, indem wir treu auf unſerem Standpunkt 
beharren, und es geht vielleicht der zweite, dritte, vierte und 
fünfte, dann wird ſich das Blättchen ſchließlich doch zu unſeren Gunſten 
wenden. Ich glaube, wir find jetzt ſchon im Übergang begriffen.“ 

Alſo: der Staat Friedrichs des Großen iſt für die Herren, frühere Beamten 
dieſes Staates, eine Handelsfir ma. Und die Hauptſache bleibt, ſolange und 
ſo viele Prokuriſten herauszubeißen, bis einer kommt, dem ſie — wie Bülow 
fich den agrariſchen Leichenſtein — die ehrenvolle Inſchrift ſetzen können: „Ein 
treuer Knecht war Fridolin und in der Furcht der Herrn.“ 

„Das ſind ja nette Ränkeſchmiede!“ ruft die „Germania“ entſetzt. „Schöne 
Ausſichten eröffnen ſich da dem jetzigen und den zukünftigen Handelsminiſtern. Wer 


Zürmers Tagebuch 231 


aber weiß, daß die drei Vorgänger alle durch die ,portaindustriae 
hin ausgegangen find, der wundert fih höchſtens noch, daß von der Gefamt- 
regierung aus dieſer regierungsſtürzenden Geſellſchaft nicht ſchon längſt das Hand- 
werk gelegt worden iſt. Frühere Staatsbeamte entpuppen ſich als 
wütende Miniſterſtürzer, ein herrliches Bild für Preußen! Wie ift 
etwas derartiges möglich, wer legt dem Monarchen die Gründe dar, die es not- 
wendig machen ſollen, einen Winiſter zu entlaſſen? Oer einfache Staatsbürger 
glaubt, es ſei der Reichskanzler und preußiſche Miniſterpräſident. Dieſer beſtreitet 
ja auch ſtets das Dafein einer „Kamarilla“. Das preußiſche Volk, ja ganz Deutfch- 
land hat ein Recht, zu erfahren, durch wen dieſe egoiſtiſche Scharf- 
machergeſellſchaft das Ohr des Königs und Kaiſers hat. Er iſt es 
doch allein, der nach der Verfaſſung die Miniſter ernennt und entläßt. Wer 
ſuggeriert ihm die Pläne dieſer Ränkeſchmiede als notwendige Gründe zur Ent- 
laſſung eines Miniſters, der zudem, wie die Geſellſchaft ſagte, nur auf Wunſch 
des Königs ein Geſetz vorgelegt hat, das ſie jetzt bei demſelben Könige 
verwerten wollen, den Miniſter zu ſtürzen? Das Abgeordnetenhaus 
hat das Recht, den preußiſchen Minifterpräfidenten in eigener Perſon vor fein 
Forum zu fordern, damit er die Antwort gebe, an der er ſich am 30. März 
im Reichstage vorbeidrückte. Hoffentlich wird ſich die Volksvertretung nicht 
lange beſinnen und Antwort verlangen, wer der Handlanger dieſer 
Miniſterſtürzer ift, die ſchon im voraus betonen: wenn es in ihrem Zntereſſe 
läge, würden fie gleich noch ein halbes Dutzend Winiſter folgen laffen.“ 

Und was hatte der Herr Staatsſekretär v. Bethmann-Hollweg zu dieſen 
hagebüchenen Enthüllungen zu bemerken? „Sch habe gar keine Veranlaſſung,“ 
meinte er beſcheiden, „mich mit dem Stenogramm über eine vertrauliche Ber- 
handlung zu befaſſen, und die Herren (zu den Sozialdemokraten) werden doch 
im Ernſte nicht glauben, daß ſolche vertrauliche Verhandlungen den Gang der 
Geſetzgebung beeinfluſſen könnten.“ 

Nein doch, nein; niemand glaubt's. Übrigens: für ſolche Kraftäußerungen 
hat Geheimrat Uthemann ein ſchönes Wort geprägt — „weiße Salbe“. Sie 
ſieht nach was aus, iſt aber nichts. Ein programmatiſches Wort für den Bülowkurs. 


* * 
* 


Und da will man der Sozialdemokratie den Mund verbinden, wenn fie 
von „Klaſſenherrſchaft“ ſpricht? Selbſt unſeren volkstümlichſten Einrichtungen, 
wie den Schöffen und Geſchworenengerichten, wird durch die Art ihrer Fnftal- 
lierung der Klaſſencharakter aufgedrückt. Wenn's noch mit weniger Aufdring- 
lichkeit geſchähe! Aber man ſehe fih doch z. B. die ſoziale Schichtung der Ge- 
ſchworenen an, die über das ſchießluſtige Generals- und Exzellenzſöhnchen, den 
Referendar von Igel, urteilen ſollten: Orei Fabrikbeſitzer, zwei Verlagsbuch⸗ 
händler, ein königlicher Okonomierat, ein Geheimer Oberfinanzrat, ein Rentier, 
ein Betriebsinſpektor, ein Bankier, ein Ackerbürger und ein Rendant, ferner (als 
Erſatzgeſchworener) ein königlicher Maſchineninſpektor. „Gewiß,“ bemerkt das 
„Berl. Tagebl.“, „ſind das alles höchſt ehrenwerte Leute. Aber ein eigentliches 


232 Zürmers Tagebuch 


Volksgericht ift ein Geſchworenengericht, das fih ausſchließlich aus Männern 
der „beſitzenden Rlaffe‘ zuſammenſetzt, in dem der ‚Arbeiteritand‘ überhaupt nicht 
vertreten iſt, doch wohl nicht. In den Augen des Arbeiters wird ein derartiges 
Schwurgericht als das Gericht der privilegierten Klaſſen angeſehen werden, volles 
Vertrauen wird er in ein ſolches Gericht ſchwerlich ſetzen.“ 

Der Referendar v. Igel hat den Handwerksmeiſter und Vater unmündiger 
Kinder Marſchner, den er ſelbſt zuvor frivol gereizt und herausgefordert, auf offener 
Straße mit dem Revolver niedergeknallt, weil er das ſeiner — „Ehre“ ſchuldig 
zu fein glaubte. Er ſelbſt behauptet ja: „aus Notwehr“. Hier ſtehen ſich aber die 
Ausfagen der beiden an dem Rentontre beteiligten Kollegen des Angeklagten und 
die der beiden andern Zeugen, des Kutſchers Marwitz und des Nachtwächters 
Birkholz, diametral gegenüber. „Die beiden Referendare ſagen“, ſo wird 
der Fall in der „Welt am Montag“ dargelegt, „v. Igel fei durch wüſtes Schimpfen 
des getöteten Marſchner gereizt und der Steinſetzmeiſter wäre auf den Referendar 
drohend losgegangen, noch ehe v. Zgel mit feinem Stock auf den Gegner ein- 
geſchlagen hätte. Ganz anders, ja geradezu entgegengeſetzt äußern ſich die beiden 
Zeugen aus dem Volke. Marſchners Kutſcher, Marwitz, iſt zwar auf Vorhalt nicht 
abſolut beſtimmt in feinen Ausſagen ... Aber die Ausſage des Nachtwächters 
Birkholz iſt unumſtößlich! Birkholz iſt zweifellos der Kronzeuge in dieſem Prozeß, 
ſeine Bekundung mußte ausſchlaggebend für das Gericht fein! Und Birkholz be- 
kundet: Marſchner habe den v. Igel noch nicht angefaßt gehabt, als dieſer ihn 
mit dem Stock ſchlug. — Sch hätte die beiden Referendare als Zeugen nicht ver- 
eidigt. Nicht etwa aus dem Verdacht heraus, fie könnten wiſſentlich Unwabhres 
ausſagen, o nein! Aber dieſe Herren waren bei der Affäre beteiligt, die gefell- 
ſchaftlich und in ihrer ſtaatlichen Stellung natürlich wenig Angenehmes für fie 
haben konnte. Das Gefühl, dieſes nächtliche Renkontre würde man auch ihnen, 
die ja aktiv abſolut unbeteiligt blieben, ſehr verübeln, ließ ſie noch in derſelben 
Nacht zum Amtsrichter Dr. Henrici gehen, um mit dieſem den Vorfall zu be- 
ſprechen. Dr. Henrici hat einen nüchternen, ſoliden Eindruck von den beiden 
jungen Leuten gehabt. Aber der plötzlich in Studentenulk und Lebensfreude 
hereinbrechende Tod wird ſelbſt einen recht kräftigen Rauſch fortblaſen. Und 
daß fo abſolut nüchterne junge Männer, die ſchon am Richtertiſch amtieren 
helfen, in fremde Schlitten (den des getöteten Marſchner) ſteigen ſollten, um 
nächtliche Spazierfahrten zu machen, das iſt doch kaum anzunehmen. Man tut 
da gewiß keinem der Nächſtbeteiligten Unrecht, wenn man dem Alkohol ein 
gut Teil der Schuld beimißt — auf allen Seiten! ... Die üblen Außerungen 
des Referendars v. Zgel im Freundeskreiſe (bei Ehebruch ertappt, würde er 
„knipſen“ ! O. V.), feine kindiſche Luft, mit dem Revolver zu knallen, und fein 
ganzes Benehmen in jener verhängnisvollen Nacht ſtehen mit den brillanten 
Zeugniſſen ſeiner Vorgeſetzten in einem Widerſpruch, der ſich gleichfalls nur 
dadurch erklären läßt, daß v. gel einer jener alkoholintoleranten Menſchen 
ift, die nach dem Genuß von Spirituoſen alle Direktion verlieren und an- 
ſtelle ihrer ſonſt normalen Handlungsweiſe ein vernunftloſes, unter Umſtänden 
gemeingefährliches Gebaren zeigen ... Aber der Angeklagte hatte das Glück, 


pe ER e enn 


Zürmers Tagebuch | 233 


„v. Igel“ zu heißen und der Sohn eines Generals, nebenbei auch noch Zurift 
und ſomit künftiger Beurteiler menſchlicher Schwächen zu ſein. Es waren faſt 
ſämtlich engere Standesgenoſſen, die über ihn zu Gericht ſaßen. Der Vorſitzende 
des Schwurgerichts ‚bat den Herrn Angeklagten“, zeigte ſich auch fo wohlwollend 
wie möglich, als er v. Igel aufforderte, fidh zu ſetzen, da er die Verhandlung 
ſtehend nicht aushalten würde ... Sit das etwa ein Unrecht ſeitens des Vor- 
ſitzenden? Nein, keineswegs! Nur iſt es ſonſt bei uns nicht der Brauch, höflich 
oder gar freundlich zu ſein gegen Angeklagte. Das Schwurgericht ſetzte ſich 
zuſammen aus lauter Leuten, die den Vermögens- und Bildungskreiſen des 
Angeklagten zugehörten — wieder ein bene für den ſchießenden Referendar. 
Die meiſten dieſer Leute, die Richter eingeſchloſſen, waren auch einmal Studenten 
geweſen, hatten auch mal über'n Durſt getrunken und wußten, wie einem zu- 
mute ift, der im alkoholiſierten Zuſtande Dummheiten begeht. Das ift menſchlich. 
Sie ſprachen den v. Igel ſchuldig der Körperverletzung mit tödlichem Ausgange. 
Nun hätte es das Gericht noch immer in der Hand gehabt, eine dem Allgemein- 
empfinden entſprechende Strafe zu verhängen. Staatsanwalt Stachow beantragte 
ein Jahr Gefängnis. Bis zu drei Jahren hinauf geht in ſolchem Falle die 
geſetzliche Möglichkeit. Der ſtaatsanwaltliche Antrag mußte milde erſcheinen. Aber 
das Gericht, weit milder, verurteilte v. Sgel zu vier Monaten Gefängnis!!!“ 
Vier Monate für ein vernichtetes, um nichts vernichtetes Menſchenleben! 
— Eine Arbeiterfrau hatte in größter Notlage einem Kinde das Leben gegeben. 
Drei Tage nach ihrer Entbindung entwendete fie aus einem Nachbar- 
keller einen Arm voll Brennholz, um ihrem Kinde Milch zu kochen —: fie 
wurde zu einem Jahr Gefängnis verurteilt! Und das Reichsgericht 
hat das Urteil beſtätigt. Trotz der §§ 51 und 54 des Strafgeſetzbuchs. Und doch 
ſollte man meinen, daß eine Frau, die durch bitterſte Not viel zu früh aus dem 
N Krankenbett gehetzt wird, am dritten Tage nach ihrer Niederkunft als unzurech- 
nungsfähige Perſon angeſehen werden könnte und nach dem Urteile mancher 
ärztlichen Autoritäten auch wohl müßte! Aber — wenn man arm iſt, wenn einem 
| kein eifriger Rechtsanwalt, kein Sachverſtändiger zur Seite ſteht! „Wie lange“, 
fragt mit blutigem Recht die „Ethiſche Kultur“, „wird ſich eigentlich das ſittliche 
Bewußtſein des Volkes dieſe Art von Rechtspflege gefallen laſſen? Und wenn 
Juriſten das nicht merken, müſſen nicht die Steine zu ſchreien anfangen?!“ 
Dann wieder ein paar Monate — wenn's ſo hoch kommt! — für die 
infamſten Greuel an hilfloſen Kindern, an den Elendeſten der Elenden! Für 
Greuel, die weit ſchändlicher find als einfacher Mord! Strafen, wie fie für 
Ehrenmänner, die als Publiziſten ihre verdammte Pflicht und Schuldigkeit doch 
wenigſtens zu tun glauben, kaum als ausreichend erachtet werden! — Meine 
Herren Richter! So lange Sie ſolche Dinge nicht aus der Welt ſchaffen können, 
wird kein noch fo ſchöner „Richterverein“ imftande fein, das Volk von der tadel- 
loſen Güte feiner Juſtizgebahrung zu überzeugen. Wo aber Volkes Stimme fo 
einmütig urteilt wie hier — ſollte das nicht Gottes Stimme fein? 


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Die Bedeutung des hiſtoriſchen Romans 


Von 


Dr. Karl Storck 


Ger hiſtoriſche Roman iſt immer viel bekämpft, aber faſt immer noch 
mehr geliebt worden. Das Übergewicht der Liebe über die Gegner- 
ſchaft ijt leicht erklärlich; denn diefe wurzelt hier nur im verftandes- 


Hang zur Vergangenheit, der in uns naturgemäß lebt, da diefe. Vergangenheit 
die Wiege unſeres eigenen heutigen Seins ift. Wie der einzelne von Groß und 
Altervater nicht genug hören kann, wie er von ihrem Denten und Sehnen wiſſen 
möchte, um zur eigenen oder der Kinder Art einen Schlüſſel zu erhalten, fo empfin- 
den wir als Volksangehörige, als Menſchen die Sehnſucht von den vergangenen 
Tagen unſeres Volkes, der Menſchheit zu hören. . 

Dafür ift die Geſchichte da, wirft der Gegner ein. 

Gewiß! So wie für die Kunde von Groß; und Altervater das Kirchen oder 
Gemeindebuch da iſt, aus dem wir erfahren können, wann fie geboren und geftor- 
ben ſind, wann ſie geehlicht haben, wann ihnen Kinder geboren und geſtorben 
ſind, ferner auch, ob ſie irgendwie ins Leben der Gemeinde eingegriffen haben. 
So ift die Geſchichte die Erzählung der Tatſachen, wie fie ſich als geſchehen 
darbieten; der Bericht von den Taten und Leiden, der Größe und dem Niedergang 
von Völkern und von jenen einzelnen, in denen die Volkskräfte — gute wie ſchlechte 
— ſo ſtark waren, daß ſie wie Perſonifikationen derſelben wirkten und Tauſende 
hinter ſich herführten. 

Allerdings kann die Geſchichte mehr und tut auch mehr. Sie ſtrebt zu ergriin- 
den, wie und warum das ſo oder ſo gekommen. Der Geſchichtsforſcher wird 
zum Pſychologen. Damit aber wird er zwar nicht zum Dichter, indes doch 
dieſem in einer feiner wichtigſten Tätigkeiten eng verwandt. Pſychologie als Er- 
kundung des ſeeliſchen Lebens, des Empfindens und Fühlens einzelner oder einer 
Zeit beruht auf der Fähigkeit, ſich in eine fremde Natur ſo hineinfühlen zu können, 
daß man zu deren Miterleber wird. Das Material iſt für den Hiſtoriker und 


Stord: Die Bedeutung bes hiſtoriſchen Romans 235 


den Dichter dasselbe: Handlungen, Taten, Geſchehniſſe, Worte oder ſonſtige Be- 
kenntniſſe. Wie es zu dieſen kam, kommen mußte, ſucht der Pſychologe uns zu 
erklären, indem er uns die Empfindungswelt des Betreffenden vorlebt und ſo 
miterleben macht. 

Der Verſtand hilft dazu, daß einer das kann; der wirkliche Vollbringer 
aber iſt die Seele. Es iſt ganz ſicher, daß noch niemals die wirkliche Biographie 
eines großen Mannes, daß noch nie eine wahrhaft lebendige Zeitſchilderung ge- 
geben worden ift, ohne diefe ſeeliſche oder künſtleriſche Fähigkeit, ein nicht verftandes- 
mäßig Faß; und Nachweisbares zu erfühlen. Darum verfagt manches Werk eines 
Hiſtorikers, das alle Daten, jegliches Kleinmaterial zuſammenträgt, während ein 
anderer aus wenig Anweiſungen das Tiefſte erfaßte und für alle Zeiten kündete. 
Man denke, wie z. B. Herder aus dem damals doch recht kleinen Material, das 
er fih zumeiſt felber ſtückweiſe zuſammentrug, das Künſtleriſche der Volksſeele in 
einer Weiſe aufdeckte, wie es ſeither keinem mehr gelang, trotzdem wir über das 
hundertfache Material an Zeugniſſen dieſes künſtleriſchen Volksempfindens ver- 
fügen. 

Tritt hier der Dichter für die treue Darftellung der Vergangenheit mit glei- 
chen Mitteln ausgerüſtet neben den Hiſtoriker, ſo beſitzt er viel ſtärkere als dieſer, 
um die Stimmung einer Zeit darzuſtellen. Stimmungmachen ift künſt- 
leriſches Geftalten, ijt auf wiſſenſchaftlichem Wege nicht zu erreichen. Die Wiffen- 
ſchaft kann die Mittel dazu geben, ſie kann alles aufzählen, was zur Stimmung 
beiträgt, dieſe ſelber kann ſie nicht vermitteln. Einzelne, die Vergangenheit ſtärker 
fühlende Naturen, denen alles verſtandesmäßig Aufgenommene ſich zum Geſicht, 
zum Geſchau wandelt, werden dieſe Stimmung aus den trockenſten hiſtoriſchen 
Daten heraus empfinden. Das iſt eben die dichteriſche Kraft, die aus dem un- 
ſcheinbaren Rohmaterial den Goldgehalt des künſtleriſchen Stoffes inſtinktmäßig 
herausfühlt. Es iſt nur eine beſondere Art dieſer dichteriſchen Veranlagung, wenn 
fih diefe Fähigkeit, das Künſtleriſche in einem Stoffe zu fühlen, auf die Vergangen- 
heit erſtreckt, während andere gegenüber einem Zeitungsbericht, einem ſcheinbar 
alltäglichen Ereignis dieſe Kraft bekunden. Erſt dieſer Stimmungskünſtler aber 
vermag nun anderen die Stimmung der Vergangenheit zu vermitteln. 

Für dieſe Stimmung ift zweierlei wichtig, was dem Hiftoriter nicht zu Gebote 
ſteht: erſtens das Leben der Kleinen und zweitens das kleine Leben. 
Die Geſchichte berichtet von den Großen; alle übrigen ſind „Volk“. Die unendliche 
Vielgeſtaltigkeit dieſes Begriffes, die uns ſo recht aufgeht, wenn wir uns all dieſe 
Millionen von Ungenannten in ihrem Empfinden gegenüber irgend einem Gegen- 
wartsproblem vorſtellen, geht verloren. Wie die Tauſende von Individuen, die 
zahlloſen verſchiedenen Stände und Sntereffentengruppen in dieſen Zeiten lebten, 
gewiſſe Ideen aufnahmen und weitergaben, kann der Hiſtoriker nur andeuten und 
nur von dem Geſichtsfelde des Trägers der Idee aus, alfo aus der Vogelperſpektive 
ſchildern. , 

Die Geſchichte berichtet des weiteren von den großen Taten, den ſtarken 
Ereigniſſen. Das kleine Leben, das Leben des Alltags vermag ſie uns nicht zu geben. 
Gewiß, da ift nun wieder die Kulturgeſchichte, die mit unendlichem Fleiß 


236 Storck: Die Bedeutung des hiſtoriſchen Romans 


auch den kleinſten Gewohnheiten der Vergangenheit nachgeſpürt hat. Aber wenn 
ſolche Gewohnheiten an ſich aufgezählt werden, ohne jede Verbindung mit denen, 
die ihnen huldigen, ſo wirkt das wie die kultur- und völkergeſchichtlichen Muſeen, 
in denen Trachten und Werkzeuge fremder Völker als tote Gegenſtände aufgeſtellt 
ſind. Wie anders, wenn wir in das fremde Land ſelber hingelangen, und dort dieſe 
Menſchen in ihrem Leben beobachten können; wie anders ſchon, wenn, wie es ja 
neuerdings Sitte geworden, eine größere Zahl von Vertretern fremder Völker- 
ſchaften uns vorgeführt wird. Dieſe letztere Fähigkeit zum mindeſten beſitzt der 
hiſtoriſche Roman, ja, wenn der Oichter wirklich ein großer Stimmungskünſtler iſt, 
ſo mag es uns werden, als ſeien wir in das ferne Land der Vergangenheit ſelber 
eingedrungen und könnten nun mit eigenen Augen beobachten. 

Endlich wird die Geſchichte notgedrungen aus dem Geiſte der inzwiſchen 
vollzogenen Weiterentwicklung geſchrieben. Was nachher geſchehen ift, der 
Wert, den die Ereigniſſe für die Weiterentwicklung bekamen, beſtimmt Urteil und 
Einſchätzung der Perſönlichkeiten und der Geſchehniſſe. Der Dichter dagegen hat 
das Recht und das Vermögen, fidh als Zeitgenoſſe in die Vergangenheit hinein- 
zufühlen und die Ereigniſſe ſo aufzunehmen, wie ſie den Kleinen und Einfältigen der 
betreffenden Zeit erſcheinen mochten; er kann uns die verſchiedenſten Intelligenzen, 
die verſchiedenſten Stände und Altersſtufen in der Empfindung für ein großes 
Geſchehen vorführen. Gewiß, gerade diefe Fähigkeit ift bei den Dichtern felten ge- 
weſen, aber wo ſie wirklich vorhanden war, da wurde ſie faſt ebenſo oft von vielen 
Seiten ſchwer verkannt. 

Wir faſſen zuſammen: die Verurteilung des hiſtoriſchen 
Romans ift nicht ſtichhaltig, weder vom äſthetiſchen noch vom geſchichtlichen 
Standpunkte aus. Das ſchwerſte Bedenken, das die Aſthetik gegen ihn geltend 
macht, iſt, daß der Künſtler zu leicht zum Wiſſenſchaftler werde, daß er nicht frei 
geſtalte. Von dieſem Standpunt: müßte man alle Stoffe, die nicht Erfindung der 
Phantaſie find, verwerfen. Das hieße fo ziemlich /o der geſamten Weltliteratur. 
In Wirklichkeit geſtaltet ſich, und das vor allem beim modernen Epos, dem Roman, 
die Lage ſo, daß der Künſtler einen Stoff, der ihn feſſelt, aufgreift und ihn ſeiner 
Perſönlichkeit gemäß behandelt. Es iſt Sache der Perſönlichkeit, zu welcher Art 
von Stoffen ſie ſich hingezogen fühlt. Dann aber iſt es ganz gleichgültig, ob dieſer 
Stoff in irgend einem Lebenskreiſe der Gegenwart: Großſtadt, Bauerntum, In- 
duſtrie, Geſellſchaft oder dgl. ſpielt, oder ob in irgend einer Periode oder irgend- 
welchen Verhältniſſen der Vergangenheit. Ebenſo gleichgültig iſt es, entſprechend 
natürlich der betreffenden Perſönlichkeit, ob der Künſtler fein Material durch un- 
mittelbare Beobachtung, durch Sehen mit ſeinen körperlichen Augen oder durch 
Schauen mit den Augen ſeines Geiſtes gewinnt. In keinem Falle erhält er von der 
Umwelt, von dem, was außer ihm liegt, mehr als das Rohmaterial, aus dem es 
gilt, das Kunſtwerk zu ſchaffen. 

Gewichtiger ſind die Bedenken vom Standpunkt der Geſchichte aus. 
Es ift nicht zu leugnen, daß auf dem Gebiete des hiſtoriſchen Romans ſchwer ge- 
ſündigt worden iſt. Allerdings wider die Kunſt ebenſoſehr wie gegen die Geſchichte. 
Die erſteren Werke ſcheiden aus. Als mißlungene Kunſtwerke find fie an fich ver- 


Storck: Dic Bedeutung des hiſtoriſchen Romans 237 


werflich und kommen darum auch für die Beurteilung der Gattung nicht in Be- 
tracht, ſofern wir überhaupt zugeben müſſen, daß in ihr auch wahre Kunſtwerke 
möglich ſind. Vom Standpunkt der Geſchichte aus wird zunächſt geltend gemacht 
werden, daß ein ſchlimmer Subjektivismus ſich im hiſtoriſchen Roman leichter und 
ungeſcheuter breitmachen kann als in der wiſſenſchaftlichen Geſchichtsdarſtellung. 
Ich fage mit Abſicht ein ſchlimmer Subjektivismus. Denn an das, was manche Leute 
Objektivität nennen, glaube ich auch beim Wiſſenſchaftler nicht, ſofern dieſer ſich 
nicht begnügt, Statiſtiker zu ſein, ſofern er überhaupt zu denken wagt, ſobald er 
Geſchichtspſychologe wird. Wir können nur verlangen, daß einer wahrhaftig 
fei, daß er die Dinge fo darſtellt, wie er fie mit gutem Gewiſſen nach gründlicher 
Vorarbeit darſtellen muß. Hier ift nun der Punkt, wo am leichteſten auf ganz ebr- 
liche Weiſe in dem geſchichtlichen Roman Unechtheit und Unwahrheit im Sachlichen 
ſich einſchleicht. Oer geſchichtliche Roman wird zum Tendenzroman. Das Wort 
Tendenz ohne jeden üblen Beigeſchmack gebraucht, einfach in der Bedeutung, 
daß einer durch geſchichtliches oder philoſophiſches Denken gewonnene Überzeu- 
gungen durch Beiſpiele belegen will. Die großartigſte Tendenzdichtung aller Zeit 
ijt in der Hinſicht Goethes „Fauſt“, der einen überkommenen Stoff im Dienfte 
einer Idee, die nicht in der Zeit lag, in der der Stoff entſtand, benutzte. Veil es 
fich dabei nicht um Geſchichte handelt, erhebt fic in der Hinſicht kein Proteſt. Wenn 
dagegen Ebers altägyptiſche Verhältniſſe benutzte, um ſeine Anſchauungen über 
Prieſtertum und Kirchlichkeit darzulegen, ſo empfinden wir dabei eine doppelte 
Unwahrheit. Erſtens für die Behandlung der Kardinalfrage, wenn wir das Priefter- 
tum anders einſchätzen; zweitens aber in der Tatſache, daß das altägyptiſche Leben 
dieſes Problem in der Form, wie Ebers es hineinſtellt, nicht darbot. Der erſte 
Fehler, mag er auch für zahlloſe Menſchen der Gegenwart, für alle jene, die anderer 
Auffaſſung ſind, der ſchmerzlichere ſein, iſt vom künſtleriſchen Standpunkte aus 
verzeihlich, könnte fogar vom künſtleriſchen Standpunkte aus berechtigt fein, in- 
ſofern er die Weltanſchauung des betreffenden Künſtlers getreu und wahrhaftig 
wiedergibt. Man mag dann dieſe ganze künſtleriſche Perſönlichkeit in ihrer Welt- 
anſchauung ablehnen; als Künſtler würde man fie dennoch unter Umjtänden ebenfo- 
gut gelten zu laſſen haben, wie Goethes „Fauſt“ auch von jenen gewürdigt wird, 
die die darin vertretene Weltanſchauung ablehnen. 

Um wirklich große Werke zu nennen, fo werden ſich z. B. Katholiken in einem 
ähnlichen Falle febr oft gegenüber Novellen Konrad Ferd. Meyers be- 
finden. Unverzeihlich, weil künſtleriſch unwahr, ift dagegen der zweite Fehler. Er 
bedeutet den Mißbrauch einer Vergangenheit für einen Zweck, der beim wahr- 
haftigen Anſchauen jener Vergangenheit nicht in ihr lag. 

Höchſt gefährlich wird der hiſtoriſche Roman, wenn er ſich geſchichtlich feft 
umſchriebener Perſönlichkeiten bemächtigt. Selbſt wenn es gelingt, der Größe des 
Betreffenden beizukommen, liegt die Gefahr zu nahe, durch ein noch ſo leichtes 
Licht, das man dem Bildnis unwillkürlich aufſetzt, die Züge zu verzerren. Ich 
brauche nur an die bekannten Künſtlerromane Heribert Raus zu erinnern, um 
zu zeigen, daß auch eine genaue Kenntnis der Zeit und der betreffenden Perſön⸗ 
lichkeit nicht ausreicht, um die ungeheuren Schwierigkeiten des Widerſtreits zahl- 


238 Stord: Die Bedeutung des hiftorifchen Romans 


loſer kleiner Tatſachen mit phantaſtiſcher Hinguerfindung zu überwinden; und die 
ganz getreue Nachſchrift des hiſtoriſch Beglaubigten in einem ſolchen Falle würde, 
ſelbſt wenn auch das ganze Drumherum ebenſo genau den hiſtoriſchen Tatſachen 
entſprechend dargeſtellt würde, allenfalls eine künſtleriſche Biographie ergeben, 
niemals aber ein Kunſtwerk. Wenn einzelne Werke, z. B. Mereſchkowskis 
„Leonardo da Vinci“, bei aller Treue des Biographiſchen und Pſychologiſchen, 
in der Vorführung des Künſtlers auch als geſchloſſenes Kunſtwerk wirken, ſo liegt 
das darin, daß es dem Dichter gelang, das Ganze unter einen über der noch fo großen 
künſtleriſchen Perſönlichkeit liegenden Geſichtspunkt zu bringen. Im genannten 
Falle heißt er: das Weſen des künſtleriſchen Genies. | 

Ein anderes ift es, wenn bei hiſtoriſchen Perſönlichkeiten eine Charakter- 
eigenſchaft ſo ſtark herausgebildet war, wenn ſie mit irgendeinem für die Welt 
charakteriſtiſchen Ereignis ſo eng verbunden erſcheinen, daß mit ihrem Namen gerade 
dieſes Ereignis, dieſer Charakterzug vor unſeren Geiſt hintritt. Das iſt bei manchen 
geſchichtlichen Dramen der Weltliteratur der Fall, bei denen die Umgehung der 
geſchichtlichen Tatſachen im einzelnen auch vom geſchichtlichen Standpunkt dadurch 
aufgehoben wird, daß der große Gedanke der Geſchichte dadurch um ſo lebendiger 
hervortritt. Daß der wirkliche Egmont verheiratet war uſw., ſchädigt auch die ge- 
ſchichtliche Wahrheit von Goethes Drama nicht, weil Egmont hier zur Perſonifika- 
tion des Begriffs der Freiheit erhoben iſt und darüber hinaus als Verkörperung 
jener Menſchen feines Volkes erſcheint, die gleichzeitig deffen Größe und die Mög- 
lichkeit ſeines Niedergangs erklären. 

Freilich wird man auch in dieſem Falle vom Dichter ebenſogut wie von jedem 
Menſchen Taktgefühl verlangen müſſen, aus dem heraus er empfinden muß, ob 
er in ſolchen Fällen nicht beſſer tut, eine frei erfundene Geſtalt an die Stelle der 
geſchichtlichen zu ſchieben. Gerade für den hiſtoriſchen Roman kommt dieſe Frage 
ſehr in Betracht. Das Drama iſt durch die ganze Art der Sprache und die Umſetzung 
von Ereigniſſen in Spiel aus der Sphäre der kritiſch zu betrachtenden Wirklichkeit 
in die künſtleriſche hinausgehoben. Der hiſtoriſche Roman tritt uns dagegen mehr 
als Bericht eines einzelnen über die Vergangenheit gegenüber und erweckt durch 
ſeine ganze Art im Leſer in viel höherem Maße das Gefühl, geſchichtlich Wahres 
zu enthalten, als das Drama beim Beſchauer einen ſolchen Eindruck hervorrufen 
kann. Gerade große dichteriſche Vertreter des hiſtoriſchen Romans ſuchten dieſer 
Schwierigkeit dadurch zu entgehen, daß ſie die geſchichtliche Perſönlichkeit, die ihnen 
eigentlich als Leitbild vorſchwebte, überhaupt gar nicht ſelbſt vorführten, ſondern 
nur in ihrer Wirkung auf andere. Das großartigſte Beiſpiel für diefe 
Art iſt Tolſtois „Krieg und Frieden“, wo wir auf jedem Geſicht den Namen Napo- 
leon leſen, wo in jedes Ereignis ſein düſterer Schatten hineinfällt, ohne daß er 
ſelber auftritt. Wallace hat in ſeinem „Ben Hur“ auf dieſe Weiſe ſogar ein Mittel 
gefunden, die Perſon Chriſti zu verwerten, ohne daß ein Vertreter irgendeiner 
religiöfen bzw. ungläubigen Weltanſchauung daran Anſtoß nehmen könnte. Gleich- 
zeitig gibt gerade dieſe Form des hiſtoriſchen Romans eine Art der Schilderung 
der Vergangenheit, die dem Hiſtoriker verſchloſſen iſt, erſcheint ſomit als einer der 
fruchtbarſten Verſuche. Andere Dichter gingen wieder mehr darauf aus, das 


Etorck: Die Bedeutung des hiſtoriſchen Romans 239 


Milieu der Vergangenheit darzuſtellen und darin eine aus dem Geiſte der Ver- 
gangenheit erfundene freie Handlung ſich abſpielen zu laſſen. Auch das iſt ein Weg, 
der ſich vielfach fruchtbar erwieſen hat, wobei nur immer wieder zu betonen iſt, 
daß das Wichtigſte in dieſem Milieu natürlich immer der Geiſt der Zeit bleibt. — 

Entſcheidender als alle diefe äußeren Dinge bleibt, wie überall in der Kunſt, 
allerdings die Perſönlichkeit des Dichters. Die Frage ſpitzt fidh ſchließ⸗ 
lich dahin zu: Wie geartet muß die Perſönlichkeit ſein, welche Charaktereigenſchaften 
miiffen in ihr vorwiegen, damit wir einen hiſtoriſchen Roman erhalten können, der 
gleichzeitig im höchſten Sinne Kunſtwerk und Geſchichte ift, d. h. in dem die vor- 
geführten Menſchen aus ſich ſelber herauswachſen, wie bei Shakeſpeare, in dem 
dieſe Menſchen aber auch gleichzeitig ganz in der geſchilderten Zeit ſtehen. An ſich 
hochſchãtzbare Eigenſchaften eines Künſtlers können für ihn als hiſtoriſchen Roman- 
ſchriftſteller verhängnisvoll werden. Es iſt, um nur ein Beiſpiel herauszuwählen, 
zweifellos, daß Scheffel in hohem Maße die Fähigkeit beſaß, ſich in vergangene 
Zeiten hineinzufühlen; er hatte darüber hinaus gründliche Studien getrieben, be- 
wahrte fih aber trotzdem frei von archivaliſcher Kleinkrämerei und war Menfchen- 
bildner und Menſchenkenner genug, um Geſtalten ſchaffen zu können, die in ſich 
Leben trugen, die nicht wie Puppen mit einer Rede- und Handlungsweiſe behängt 
waren, die als Kopie der Vergangenheit wirkte. Trotzdem hat er in „Ekkehard“ 
ein geradezu ungerechtes Bild des Kloſterlebens gegeben. Sicher würde Scheffel 
ſelber, auf die Frage, ob er denn dieſes Kloſterbild als ſolches für ein treues und 
vollſtändiges halte, geſagt haben: Nein. 

Das kam dadurch, daß er die Zeit unter dem Geſichts winkel des 
Humoriſten anſah, daß er darum auch die künſtleriſche Auswahl aus der Fülle 
des Gebotenen aus dieſem Geiſte heraus traf. Es kann dabei ſein, daß jedes einzelne 
aus dieſem geſchilderten Kloſterleben belegbar wäre aus zeitgenöſſiſchen Berichten; 
dennoch iſt das Geſamtbild hiſtoriſch falſch, weil vieles Entſcheidende und Wichtige 
von dem, was tatſächlich war, fehlt. In Konrad Ferd. Meyer und noch mehr in 
manchen feiner Schüler — ich denke da z. B. an des hochbegabten Alfred Nieder- 
mann „Künſtlernovellen“ — ift der Proteſtant fo ſtark lebendig, daß alle Geſcheh- 
niſſe der Vergangenheit mit einem inneren Haß wider den gläubigen Katholiken 
geſehen ſind. Umgekehrt beſitzen die Katholiken eine große Literatur an hiſtoriſchen 
Romanen, deren ganzes Ziel Bekämpfung proteſtantiſcher oder „moderner“ Per- 
ſönlichkeiten und Ideen ift (Bolanden, Laicus u. a.). Wilhelm Fenſen, einer der 
größten Stimmungstünftler, der mit unwiderſtehlicher Kraft uns das Laſten düfte- 
rer, von Krieg und Seuche heimgeſuchter Zeiten empfinden läßt, wird perſönlich 
wild, ſobald nur das Wort Prieſter an fein Ohr tönt. Das alles wäre künſtleriſch 
noch nicht fo ſchlimm, wenn der Dichter als ſolcher da auf einmal aus der Ber- 
ſenkung emportauchte und ſagte: „Nach meiner aus geſchichtlichen Studien ge- 
wonnenen Anſchauung ift das fo und fo“, oder: „Ich habe die Weltanſchauung ge- 
wonnen, daß diefe Ereigniſſe und diefe Perſönlichkeiten nur durch die Verderbt⸗ 
heit der und der Perſönlichkeiten oder Einrichtungen gekommen ſind.“ Das würde 
gewiß die Stimmung zerreißen und damit die künſtleriſche Einheitlichkeit zerſtören, 
aber wir könnten wenigſtens eine Folge künſtleriſch geſchauter Bilder erhalten, 


240 Storck: Die Bedeutung des hiſtoriſchen Romans 


wie fie etwa Freytag in feinen „Bildern aus der deutſchen Vergangenheit“ ge- 
geben hat, und dieſe Bilder könnten in ſich echt fein. Unecht dagegen ift, wenn die 
Empfindungen und die Anſchauungen, die der Dichter, gleichviel woher, gewonnen 
hat, Perſonen in den Mund und ins Herz gelegt werden, die ſie in der betreffenden 
Zeit unter den geſchilderten Verhältniſſen überhaupt nicht bekommen konnten. 
Nun ſei nichts ferner von uns, als vom Künſtler nüchterne Sachlichkeit zu verlangen. 
Dann eben läge feine Aufgabe nicht in der Kunſt, ſondern in der Wiſſenſchaft. 
Gerade das Gegenteil verlangen wir von ihm: der hiſtoriſche Romanſchriftſteller 
muß die Eigenſchaft im höchſten Maße haben, die auch noch keinem Hiſtoriker ge- 
ſchadet hat, die aber ſeltſamerweiſe ſo oft verpönt wird: die Liebe. 

Dieſe Liebe erſcheint mir als die wichtigſte Eigenſchaft für die Kenntnis der 
Vergangenheit, genauer für das Nachfühlen der Seele der Ber- 
gangenheit. Der Menſchen Denken und Fühlen iſt in ſtetem Wandel begrif- 
fen, ſelbſt dort, wo die Endergebniſſe ſcheinbar gleich geblieben ſind; nur die Natur 
bewahrt eine gewiſſe Stetigkeit und darum jenes von Inſtinkten geleitete Fühlen, 


das mit Naturtrieben zuſammenhängt. Wie gering für die Beurteilung alles Geifti- 


gen das endgültige, tatſächliche Ergebnis iſt, geht aus der einen Tatſache hervor, 
daß heute jeder Schulknabe eine Menge von Dingen weiß, um die ſich die größten 
Denker der Vergangenheit umſonſt bemüht haben. Dieſer Schulknabe — wir 
treffen ihn ja immer wieder im Halbgebildeten — hat es leicht, ſpöttiſch über die 
größten Denker der Vergangenheit die Nafe zu rümpfen, fih für aufgeklärt zu 
halten gegenüber jenem dunklen Zeitalter. 

Aber wie armſelig bleibt es auch noch, wenn wir mit ſogenannter hiſtoriſcher 
Objektivität feſtſtellen, daß auf den Grundlagen der Vergangenheit mehr ſich nicht 
erreichen ließ, daß die und die Erkenntnis, die ja gewiß falſch oder nicht ausreichend 
ſei, hinſichtlich des Zuſtandes der damaligen Wiſſenſchaft ſchon eine bedeutende 
Leiſtung darſtelle! Wie anders, wenn uns die Liebe die Augen geſchärft hat. 
Da erkennen wir einen Wahrheitſucher, der fein ganzes Leben hingegeben hat, 
um vorwärts zu dringen; da ſpüren wir den leidenſchaftlichen Menſchen, der ſich 
verzehrte, um der Menſchheit nützen zu können; da ſehen wir einen Kämpfer, der 
unter Qualen den Ausgleich ſuchte zwiſchen einer Beobachtung, die ſeine Sinne ge- 
macht, und einer Anſchauung, die ſeine Seele glaubte. 

Man darf es ganz ruhig fagen, daß wir im großen und ganzen vomin neren 
Leben der Vergangenheit faſt nichts wiſſen, und das hat nur ſeinen Grund in 
der Liebloſigkeit, im geiſtigen Hochmut, mit der wir ſie betrachten. Aus dieſem 
heraus kommt es, daß wir als bedeutend, edel oder groß das betrachten, was An- 
ſchauungen und Überzeugungen vertritt, die wir heute perfönlich für wahr und groß 
halten. Wir verſetzen uns nicht in die Seele der betreffenden Zeit, oder wenn wir 
es tun, geſchieht es mit einer Überlegenheit, die etwas Phariſäerhaftes an ſich hat 
und unfruchtbar iſt, wie alles Phariſäertum. Es gibt nichts Schlimmeres als dieſen 
geiſtigen Hochmut, der fih gerade in ſeeliſchen Dingen mit einer offiziellen Demütig- 
keit febr gut verträgt. Inſonderheit auf religiöſem Gebiet machen wir täglich die 
Beobachtung, daß auch jene Menſchen, die in allen praktiſchen Fragen voll edler 
Nächſtenliebe find, in geiſtigen Dingen von dieſer Liebe nichts wiſſen; und auch da 


Rudolf von Gottſchalls , Sugenderinnecungen* 241 


ift es doch Hochmut des Bewußtſeins, im Rechte gu fein. Es wird dann ſchon zu 
einer bedeutenden Leiſtung, wenn man ſeinen Nächſten bloß für verblendet hält 
und nicht für ſchlecht. | 

Goethe hat einmal vom Biographen parteiiſche Leidenſchaft 
verlangt. Ein ſcharfes Wort, das aber im Grunde nichts anderes heißt als Liebe 
zu den dargeſtellten Menſchen, die ſo ſtark iſt, daß ſie für das Menſchliche Partei 
nimmt gegenüber allem jenen in den äußeren Geſchehniſſen, in den Meinungen 
und Beſtrebungen, das wir heute anders auffaſſen. 

Dieſe Art parteilſcher Leidenſchaft oder, wie wir nun lieber fagen wollen, 
der liebevollen Verſenkung iſt die Grundlage aller wahren Objektivität für den 
Hiſtoriker, der ſich vom Biographen dadurch unterſcheidet, daß er nicht einem ein- 
zelnen Menſchen gegenüber dieſe Liebe bewährt, ſondern einer ganzen Zeit und 
allen ihren Vertretern. Sie iſt vor allem die wichtigſte Eigenſchaft für den 
Dichter hiſtoriſcher Romane, der fo in den Stand geſetzt wird, jenes innere heim; 
liche Leben der Vergangenheit nachzufühlen und in feinen Werten zu erfaſſen, 
das dem kühlen Forſcherauge ſich niemals enthüllt. 

Das Gebot der Liebe iſt das höchſte Gebot für alle Lebenden, nicht nur der 
lebenden Gegenwart gegenüber, ſondern auch für die Vergangenheit. Der hiſto⸗- 
riſche Roman hat hier eine große Aufgabe zu erfüllen. 


Rudolf von Gottſchalls „Jugenderinnerungen“ 
S Wäi, Leute erzählen am liebſten aus ihrer Jugendzeit; fie erzählen da auch am beiten 
Sc und fruchtbarſten für andere. Denn am wertvollſten in der Geſchichte des einzel- 

nen Nenſchen bleibt immer feine Entwicklung bis zu jenen Jahren, in denen er 
der verantwortliche Haushalter feines Lebens geworden IL Danach ijt auch die Aufnahmo- 
fähigkeit gegenüber den verſchiedenen Lebenserſcheinungen nicht mehr fo wach. Wir treten allem 
kritiſch eingeſtimmt, man möchte ſagen eigenſinniger entgegen; man geſteht nicht mehr ſo willig 
ein, was und wieviel man vom Leben bekommt, möchte lieber als der Gebende daſtehen. Und 
ach! wie wenig haben wir in der Regel zu geben im Verhältnis zu dem Vielen, was wir be- 
kommen haben. In der Jugend ift das anders: da liegt im Aufnehmen das Große und Ve- 
ſeligende, und fo ift das Geſamtbild des Lebens dann meiſtens reicher als in ſpäteren Jahren, 
ſelbſt wenn uns biefe auf eine höher ragende Lebensſtellung geführt haben. 

Beſonders treffen dieſe Beobachtungen zu, wenn die Jugend eines Menſchen mit einer 
der immer wiederkehrenden Jugendperioden feines Volkes zuſammenfällt, wo auch dieſes 
neuen Entwicklungen entgegengeht und in hochgeſpanntem Zdealismus weniger realpolitiſche 
Möglichkeiten auszunutzen fudt, als feinen höchſten Wünſchen und Aufgaben nachjagt. 

Das trifft für den jüngft verſtorbenen Rudolf von Sottſchall zu, der als 
Jüngling die äußere Sturm- und innere Drangzeit der Mitte des 19. Jahrhunderts leiden- 
ſchaftlich miterlebte und dank feiner journaliſtiſchen Natur in frühen Jahren mit allen den 
Männern Verbindung fand, die diefe Zeit hatten mit vorbereiten helfen. So bieten denn auch 
die ZJugenderinnerungen, die Gottidall vor zehn Jahren als Fuͤnfundſiebziger veröffentlicht 
bat (Berlin, Gebr. Paetel) fo mannigfache Ausbeute, daß wir fie hier beſonders betrachten 

Der Türme XI, 8 16 


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242 Rudolf von Gottſchalls „Zugenderinnerungen“ 


wollen, während eine kurze Gefamtwiirdigung feines Schaffens in anderem Zuſammenhange 
(vgl. Abteilung Auf der Warte: „Vom Zug der Toten“) gegeben wird. 

Gottſchalls Geſchlecht ſtammt aus dem Salzburgiſchen, von wo ſeine Väter ihres pro- 
teſtantiſchen Glaubens wegen 1731 vertrieben wurden. Sein Vater aber, bei der Geburt des 
Knaben Oberleutnant der reitenden Artillerie in Breslau, war in der Geſinnung durch und 
durch Preuße. Den graufigen Zug nach Rußland 1812 hat er mitgemacht, die Vorkſche Rapitu- 
lation mit freudigem Herzen begrüßt, wie er in den Feldzügen 1813, 1814 und 1815 ein tapferer 
Mitkämpfer geweſen. Aber auch mit der Feder wußte der Offizier gut umzugehen, und ſein 
Sohn gibt reichliche Auszüge aus des Vaters Kriegstagebüchern. „Mein Vater beſaß das 
Talent zu ſolchen (Kriegs-) Schilderungen, und wenn auch mir basfelbe von mancher Seite zu- 
geſprochen wird, ſo iſt es ja wohl möglich, daß dieſes ein natürliches Erbſtück iſt.“ (S. 16.) 

Ganz anders als der tapfere Vater, der aus dem Feldzug von 1815 das Eiſerne Kreuz 
heimbrachte, war die Frau, mit der er ſich 1822 verheiratete. „Das Bild meiner Mutter, der 
zärtlichſten und beten Frau, die ganz in der Liebe zu ihrer Familie, zu ihren Kindern aufging, 
ſchwebt vor mir mit jenem Schmerzenszug, mit dem andauernde Kränklichkeit, ein allmählich 
ſich immer mehr entwickelndes Herzleiden, ihre lieben Züge leider gezeichnet hatte.“ Sie beſaß 
ein tiefes, poetiſches Gemüt, und ihre literariſchen Neigungen gingen über die Mode hinaus. 
Aus ſeiner erſten Kindheit weiß der Dichter nichts beſonderes zu berichten; nur die damals 
noch unendlich lange Reife von Schleſien nach Koblenz, wohin fein Vater als Seugtapitan 
verſetzt worden, hat lebhaftere Eindrücke hinterlaſſen. Im ſchönen Koblenz verblieb Gottſchall 
bis zu ſeinem zehnten Lebensjahre; 1855 wurde der Vater nach Mainz verſetzt. In Koblenz 
hatte der Beſuch des Gymnaſiums begonnen. Die erſten wiſſenſchaftlichen Neigungen zeigten 
ſich; hier war es die Kriegsgeſchichte. Der künftige Literarhiſtoriker führte ſich allerdings nicht 
beſonders glänzend ein. Ein Lehrer fragte, ob einer von den Knaben den großen Monolog 
aus der „Jungfrau von Orleans“ kenne, worauf ſich unſer Rudolf erhob und ſtolz begann: 

„Lebt wohl, ihr Berge, du gellebte Hammelherde, 
Die Henne ſagt euch jetzt adjes! l 
Ob ick nochmal zurüdelommen werde, 

Wer weeß, wer weeß!“ 


Der Lehrer ließ ihn natürlich die irgendwo aufgegabelte Parodie zu allgemeinem Er- 
götzen bis zu Ende aufſagen. 

3m goldenen Mainz, der Stadt des Gutenberg, der Perle der Rheinlande, an die ſich 
feine ſchönſten Jugenderinnerungen knüpfen, begann fih auch der Dichter in dem Knaben 
zu regen. Als Umdichter der Fabeln des Phädrus fand er fogar den Beifall feines Klaſſenlehrers. 
Wertvoller war für ihn, daß ein blutiges Drama, „Cajus Gracchus“, dem Gymnaſiaſten die 
fördernde Freundſchaft eines auch wiſſenſchaftlich febr gebildeten Offiziers verſchaffte. Ober- 
leutnant von Greiffenberg war ein recht ſeltſamer Mann. Unanſehnlich in ſeinem Außeren, 
febr ſchmächtig, meiſtens mit etwas geröteten Augen, war er nicht nur ſtets auf dem Platze 
als tüchtiger Soldat, ſondern war auch Dichter und ein fo ſprachkundiger Herr, daß hierin wohl 
niemand im alten Mainz mit ihm wetteifern konnte. Er ſtudierte und beherrſchte zum Teil 
neun neuere Sprachen . . . und hatte feine Zeit fo eingeteilt, daß er jeder dieſer Sprachen je 
eine Woche widmete. Eine löſte immer die andere ab. In dieſer Woche trieb er nicht nur bei 
Tag und Nacht das Studium der Sprache, die gerade an der Reihe war; auch feine ganze häus- 
liche Einrichtung mußte ihr Gepräge tragen. ... Er war auch ein Dichter, aber einer der ver- 
ſchwiegenſten, von dem niemand etwas wußte. Eine ganze Reihe in ſanftes braunes Papier 
eingebundener Quartbände ſtand auf feinem Repofitorium; das waren zum Teil Opernterte 
zum Seil phantaſtiſche Dramen. Lange Zeit vor Richard Wagner hatte er einen „Sänger- 
krieg auf der Wartburg“ gedichtet, als Text für einen Opernkomponiſten; ein phantaſtiſches 
Drama ſpielte auf dem Monde, ehe noch Jules Verne ſeine Helden dort hinauf ſpedierte. 


Rudolf von Sottſchalls „Zugenderinnerungen“ 243 


Gottſchall, der dem ſeltſamen Leutnant im penjionierten Hauptmann feiner Erzählung „Die 
zehnte Sprache“ ein Denkmal geſetzt hat, erhielt von ihm gediegenen Unterricht im Engliſchen. 

Unheimlich entwickelte fih die einmal entfeffelte Oichterwut des Gymnaſiaſten. Neben 
Übertragungen aus Ovid brachte er es in feiner Gymnaſialzeit auf ſieben fünfaktige Dramen 
und ein unendliches in Mexiko ſpielendes Epos, in dem ſelbſt ſo zungenbrecheriſche Namen, 
wie der Quetzecoatl, der Mixcoatl und der ſonſt ja ſo „poetiſch“ klingende Popokatepetl dem 
jambiſchen Versmaß ſich fügen mußten. Von all dieſen Sachen iſt nichts erhalten, als einige 
Szenen des Schauſpiels „Cerigo“, die 1859 in der „Mainzer Zeitung“ erſchienen ſind, und 
die in der Tat für das Können des damals Sechzehnjährigen ein febr günftiges Zeugnis ablegen. 

Sonſt wurde, wie das auch heute noch zu fein pflegt, für Freundſchaft und Natur ge- 
ſchwärmt; fremdartig aber mutet es an, daß dieſe Gymnaſiaſten in Jean Pauls Büchern die 
Stunden hehrſter Andacht fanden. Daneben wurde aber auch die zeitgenöſſiſche Literatur nicht 
vernachläſſigt, und es war für den ſechzehnjährigen Gottſchall ein feierlicher Augenblick, als 
er Gutzkow zum erſtenmal zu ſehen bekam. Der 28jährige Dichter beachtete allerdings feinen 
knabenhaften Bruder in Apoll erſt, als er erfuhr, daß dieſer auch bereits das kritiſche Meſſer 
ſchwang. Denn „den Kritiken pflegt ja kein Geburtsſchein beizuliegen.“ 

1839 nahm der alte Gottſchall ſeinen Abſchied und ſiedelte nach feiner oſtpreußiſchen 
Heimat über. Wieder eine Reife quer durch Deutfchland, die der Jüngling inſofern literariſch 
verwertete, als er einige Berühmtheiten aufſuchte. Da waren in Leipzig der feurige Karl Beck 
mit feinen berühmten „mildgroßen blauen Oichteraugen“, Guſtav Kühne, der Mann von der 
„Zeitung für die elegante Welt“, und die beſcheidenere Literaturexiſtenz Hermann Marggraff, 
der es trotz beſten Strebens und guten Könnens, wie fein „Fritz Beutel“, nie zu etwas Ordent- 
lichem gebracht hat. 

Die neue Heimat wurde zu Raftenburg in Oſtpreußen aufgeſchlagen. Aber jo unpoetiſch 
die Umgebung hier auch im Gegenſatz zur Stadt am Rhein und Main war, unſer Gymnaſiaſt 
dichtete mit gleichem Eifer weiter, und es war der Verleger des „Raſtenburger Kreisblattes“, 
der die Welt mit Rudolf von Gottſchalls „Heinrich Monte, der Preußen Heerfürjt“ beglücken 
wollte. Seinem guten Abgang vom Gpmnaſium hat die Dichterei aber jedenfalls nichts ge- 
ſchadet, wie ſein treffliches Zeugnis beweiſt. 

Als der junge Student im Oktober 1841 die Univerſität der alten Königsſtadt am Pregel 
bezog, wehte durch die herbſtlichen Blätter der Früͤhlingshauch der vormärzlichen Zeit. „Wie 
wenige der jetzt Lebenden kennen fie und vermögen nachzuempfinden, was damals die Ge- 
müter bewegte. Selbſt vorzügliche Geſchichtsſchreiber .. mögen ein getreues Geſchichtsbild 
geben, aber für das rechte Stimmungsbild fehlen ihnen doch die Farben. ... Fd habe wenig 
Altersgenoſſen, die jene Epoche miterlebt haben, und wenn fie darüber berichten, aus ihrem 
eigenen Leben ſchöpfen können: Meine Sturm- und Drangepoche fällt in diefe Zeit, deren 
Sturm und Orang fie widerſpiegelt. Nicht über große Haupt- und Staatsaktionen habe ich zu 
berichten, aber über manche Augenblicke ſchöner Begeiſterung und über viele Perſönlichkeiten, 
welche damals eine Rolle ſpielten und deren fih, um mit Hegel zu fprechen, die Lift der Ber- 
nunft bediente, um ihre Zwecke zu erreichen.“ Mit dieſen Worten kennzeichnet Gottſchall zu- 
treffend den eigenartigen Reiz und andererſeits den geſchichtlichen Wert ſeiner Erinnerungen 
aus der „Studentenzeit“, die er im Sinne von „Wanderjahren“ bis zum Sabre 1852 ausdehnt, 
wo er in den Stand der Ehe eintrat und ſeine „Odyſſee“ beendete. 

Die trotz des vielen Rleinen und Kleinlichen, was mit unterlief, große Zeit der vierziger 
Jahre ſpiegelt fih im Fühlen, Denken und Schaffen eines geiſtig hervorragenden jungen Man- 
nes. Und dann tritt eine kaum überſehbare Fülle bedeutender oder eigenartiger oder doch 
intereſſanter Menſchen auf. Für uns Jüngere hat es einen eigenartigen Reiz, von Leuten 
als Zünglingen ſprechen zu hören, die wir uns nur in greiſem Haar vorſtellen können, oder von 
Männern und Frauen zu vernehmen, deren Kinder uns in unferen Lebenskreiſen begegnen. 


244 Rudolf von Gottſchalls „Zugenderinnerungen“ 


Hier ſteigert ſich auch die Darſtellung bedeutend. Der Dramatiker Gottſchall verſteht es aus- 
gezeichnet, die Perſonen, die ihm begegneten, uns lebendig vorzuführen, der Romanſchrift- 
ſteller weiß Spannung zu erreichen; der Literaturgeſchichtler zeigt ſich allerdings mehr in der 
ausführlichen Schilderung der eigenen Werke, wirft aber doch zahlreiche Streiflichter auf das 
geſamte geiſtige Leben der Zeit. Den geiſtreichen, oft etwas ironiſch gefärbten Stil darf man 
vielleicht als Erbftid der vormärzlichen Zeit anſehen, während die liebevolle Behandlung der 
Sprache ungeteilte Freude weckt. Unangenehm haben mich eigentlich nur die häufigen Ber- 
teidigungsverſuche gegen die „Zungen“ und „Züngften“ berührt. Wer unfere Literatur kennt, 
weiß auch ohne fie, daß die Forderungen, welche das jüngſte Dichtergeſchlecht erhob, durchaus 
nicht ſo neu und unerfüllt ſind. Andererſeits iſt ſo mancher „Alte“, der noch künftige Geſchlechter 
erfreuen wird, zum alten Eiſen geworfen worden, daß man das nicht tragiſch aufzufaſſen braucht. 
Sonſt aber muß man es Gottſchall nachrühmen, daß er mit ſeinen dichteriſchen Leiſtungen 
nicht liebäugelt, ſondern mit dem gereiften Urteil des gewiegten Literaturkenners ſie beurteilt. 

Es kann hier auf den reichen Inhalt des Buches natürlich nicht in erſchöpfendem Maße 
eingegangen werden, und ich will neben den hauptſächlichen Erlebniſſen Gottſchalls ſelbſt nur 
ſeine Kennzeichnungen einiger hervorragender Zeitgenoſſen kurz erwähnen. 

Von den Profeſſoren hat ihm einer der jüngſten den nachhaltigſten Eindruck gemacht. 
„Würdige Nepräſentation, feltene Klarheit, die raſch den Kern der Dinge erfaßte, Seftimmt- 
beit und Schärfe des Geiſtes, eine Toleranz und Anparteilichkeit, welche die verſchiedenſten 
Anſchauungen gewähren ließ, fern von jeder Erbitterung, von jedem fanatiſchen Parteihaß“ 
find die Eigenſchaften, welche neben feiner vollendeten äußeren Eleganz, dem großen, leben- 
digen Wiſſen, dem trefflichen Vortrag Gottſchall veranlaffen, den damals dreißigjährigen Pro- 
feſſor als „geborenen Präſidenten“ zu bezeichnen. In der Tat hat dieſer ſich zweimal mit 
der deutſchen Kaiſerkrone auf den Weg zu einem Hohenzollern gemacht, denn er war kein anderer 
als Martin Eduard Simſon, ſpäter der Präſident des Frankfurter Parlaments und des deut- 
ſchen Reichstags. 3 

Die anderen Profeſſoren waren nicht von der auch äußerlich hervorragenden Art Gim- 
ſons, aber es waren tüchtige und anregende Lehrer darunter. Vor allen verſtand es Karl 
Roſenkranz auf den Studenten einzuwirken, den er dauernd der Philoſophie Hegels gewann. 

Reicher ift die Reihe der auch uns irgendwie berührenden Alters- und Studiengenoſſen. 
Zwei fpätere Exzellenzen befanden fih unter den letzteren, Robert von Keudell, der von Bis- 
mare hochgeſchͤtzte, der ſpäter im Palazzo Caffarelli in Rom der deutſchen Kunſt eine freund- 
liche Heimſtätte gewährte, und der Weſtpreuße Hobrecht, der ſeinen Scharfſinn als preußiſcher 
Finanzminiſter beweiſen konnte. Andere haben in der Gelehrtenwelt einen guten Namen: 
der gewiegte Shakeſpeareforſcher Kreyſſig, der Heros der Spektralanalyſe Kirchhoff, der Hifto- 
riker Walter Rogge, deſſen treffliche Schrift „Parlamentariſche Größen“ eine der ſchönſten 
Fruͤchte deutſcher Journaliſtik ift, endlich auch „der Auszug aller tödlich feinen Kräfte“, Zulian 
Schmidt, der Henkersknecht unſerer Literatur, befanden fih unter ihnen. Daneben auch der 
Gegenpol des letzteren, Albert Gutt, der durch fein Außeres, ebenſo wie durch fein feuriges 
Drama „Orla“, an die Krafthelden der Sturm- und Orangzeit erinnerte. Gern glauben wir, 
daß das Leben in dem literariſchen Kränzchen „Albertina“, dem alle diefe Jünglinge angehörten, 
ſehr anregend und fördernd geweſen. Der junge Gottſchall holte ſich hier ſeine erſten Lorbeeren 
als Redner. Bald aber ſollte er, wenigſtens in ſeiner engeren Heimat, „berühmt“ werden. 

In den erſten vierziger Jahren ſtand Oſtpreußen im Vordergrund des öffentlichen Zn- 
tereſſes. Das kühne Vorgehen der altpreußiſchen Stände unter dem Oberpräfidenten von Schön, 
der in einer kurzatmigen Schrift „Woher und Wohin?“ dieſen Schritt begründete, — die For- 
derung der Einführung der längft verſprochenen Reichsſtände, hatte im ganzen Volke mächtig 
gewirkt. „Hier in Oſtpreußen ſchien der Leuchtturm des neuen freien Geiſtes, der eine Wieder- 
geburt des Preußenlandes ins Werk zu ſetzen ſuchte, errichtet; hierher wandten ſich die Augen 


Rudolf von Gotifdalis „Zugenderinnerungen“ 245 


aller derjenigen, die eine Umgeftaltung des beſtehenden Staatsweſens erſehnten; jedes neue 
Lebenszeichen des politiſchen Geiſtes in Oſtpreußen wurde als ein Symptom von tiefgehender 
Bedeutung betrachtet.“ 

Zn Königsberg geſellte fih nun zu den Sprechern der „neuen Zeit“, Johann Jacobi, 
einem jüͤdiſchen Arzt, der ein packendes Schriftchen „Vier Fragen“ hinausgeſendet hatte, dem 
Privatdozenten der Theologie Dr. Jachmann, der in der „Hartungſchen Zeitung“ durch beredte 
Leitartikel wirkte, und dem Humoriſten Ludwig Walesrode, der neunzehnjährige Zurift Gott- 
ſchall mit „Liedern der Gegenwart“. Die Lieder zündeten, wenn fie auch vielfach unreif waren. 
Erfreulich wirkt noch heute der deutſche Geiſt, der in ihnen lebt, und der Leitton des Ganzen 
klingt in den Verſen wieder: 

„Gib uns zurück, was wir mit Schmerz vermiſſen, 
Das Reichs pallablum, das man uns entelffen!, 


Dein ein' ges, einz' ges Banner wehe wieder 
Zm Morgenrot von Oeutſchlands Höh'n hernleber.“ 


Die ſchärferen der Gedichte, bie der Gottſchall ſehr guͤnſtig geſinnte Zenſor, Schulrat 
Lucas, nicht hatte retten können, kamen als „Zenſurflüͤchtlinge“ aus der Schweiz zurück und 
halfen dazu mit, den jungen Dichter zu einer vielgenannten und wohlbekannten Perfon zu 
machen. Er ſtand nun ganz im Öffentlichen Leben. Vorträge und Dellamationen folgten fid. 
Dabei ſchloß er einen innigen Freundſchaftsbund, der fürs ganze Leben gehalten hat, mit Wit- 
helm Jordan, dem Nibelungenfänger. Beide zuſammen hatten Gelegenheit, Georg Herwegh 
zu beſingen, bei einem Feſtmahl, das dem Sänger der „Lieder eines Lebendigen“ zu Ehren 
in Königsberg veranſtaltet worden. Herwegh beantwortete die auf ihn ausgebrachten Toaſte 
mit dem Vortrag eines feiner beſten Gedichte: „Die Lerche war es, nicht die Nachtigall“. Als 
Rhapfode zeigte er fic in feinem ſchöͤnſten Lichte. Sonſt war er kein Redner und kein Sprecher; 
er ſchien immer über ſeinen Verſen und Reimen zu brüten; dafür waren feine „Lyriſchen Schwa- 
benſtreiche“ auch bekannt geworden im ganzen Reiche, wegen ihrer Wucht. Er hatte etwas 
träumerifh Verſunkenes in feinem Weſen, nichts geiſtig Bewegliches in feinen Zügen, trotz 
der feurigen Augen im Wort brünetten Geſicht. 

Aber trotz alledem, trotzdem in alle Welt der Oppoſitionsgeiſt gefahren zu ſein ſchien, 
war das politiſche Leben eigentlich unſchuldig und harmlos. Für den nötigen Spektakel ſorgten 
zumeiſt die Studenten, die ihren muſikaliſchen Sinn am liebſten in Katzenmuſiken betätigten. 
Es mußte auch dabei Giindenbsde geben, und da Gottſchall bei den Behörden genug auf dem 
Kerbholz hatte, bekam er bei einer derartigen Gelegenheit das Consilium abeundi, obwohl er 
nicht „muſikaliſcher“ geweſen war als alle anderen. Mit dem Abſchied von Königsberg war auch 
ſein erſter ſelbſterlebter Roman zu Ende: eine Doppelliebe zu zwei Schweſtern, deren eine 
in der Dichtung „Madonna und Magdalena“ das Urbild der erſteren iſt. 

Oer relegierte Student wandte ſich nach ſeiner Vaterſtadt Breslau. Doch gelang es 
ihm daſelbſt nicht, bei der Univerfität anzukommen, obwohl er ſich durch günſtige Verbindungen 
in Berlin beim Kultus miniſterium die Abſolution für die Königsberger Günden verſchafft hatte. 
Aber bevor er alle zur Immatrikulation nötigen Papiere beiſammen hatte, war er auch aus 
Breslau polizeilich ausgewieſen. Dieſes Mal geſtaltete ſich fein Auszug feierlich, denn Gott- 
ſchall hatte in der Buͤrgerſchaft raſch Sympathien gewonnen. Darum war der Breslauer Auf- 
enthalt nun doch nicht verloren. Zwar das Töchterchen unſeres alten Kroll, der damals noch 
in der ſchleſiſchen Hauptſtadt einen „Wintergarten“ hegte, ging dem armen Poeten verloren; 
aber geiſtige Förderung verſchaffte ihm der Verkehr mit dem großen Botaniker Nees, dem ein 
gedrucktes Lob Goethes einen gewiſſen Nimbus lieh. Bedeutender wurde für den jungen Did- 
ter ſeine Befreundung mit dem Grafen Eduard von Reichenbach, einem echten Edelmann an 
Geiſt und Körper. Auf dem Gute Waltdorf des ſchleſiſchen Grafen, das überhaupt ein Heim 
für allerlei Entgleiſte in vormärzlicher Zeit war, fand Gottſchall immer liebevolle Aufnahme. 


946 Nubolf von Gottſchalls „Zugenberinnerungen“ 


Das war für ihn um fo beffer, als nicht weit davon das Gut einer Tante fih befand, und er nun 
Muße genug hatte, in den prächtigen ſchleſiſchen Wäldern ſeiner Muſe zu leben. Denn gedichtet 
wurde noch immer. In Breslau war ein kraftvolles Drama „Robespierre“ vollendet worden, 
über das Hoffmann von Fallersleben, der auch zu den Gäften Reichenbachs gehörte, fo günjtig 
urteilte, daß er dem Verfaſſer riet, nur getroſt die lumpige Zurifterei an den Nagel zu hängen 
Von den Breslauer Bekannten fei noch erwähnt Ferdinand Laſſalle, der ebenfalls an der Ab- 
ſchiedsfeier für Gottſchall teilgenommen hatte und dafür acht Tage Rarzer aufgebrummt be- 
kam. „Ein blutjunger Student mit einer etwas ſpitzen, aber doch durchdringenden Stimme, 
von blaffer Geſichtsfarbe, von einem griechiſchen Profil, das mit den phyſiognomiſchen Merk- 
malen iſraelitiſcher Herkunft eigentümlich verſchmolzen war. Ganz nach den Geſetzen helleni- 
ſcher Plaſtik erſtreckte ſich die Naſe gradlinig ohne jeden Einſchnitt von der Stirn herab; aber 
um den Mund fpielte eine lebhafte Beweglichkeit mit allen jenen zerſetzenden geiſtigen Elemen- 
ten, welche dem jüdiſchen Stamme eigentümlich find. Die ganze Erſcheinung hatte etwas 
körperlich Durchſichtiges und geiſtig Feines — zählte doch der junge Student nicht mehr als 
ſiebzehn Jahre; doch kein Profeſſor der Philoſophie konnte mit größerer Beredſamkeit über 
Hegel ſprechen. ... Er kannte feinen Hegel auswendig bis auf die dunkelſten Stellen und wußte 
ſchon damals den Standort aller Gedanken in den verſchiedenſten Werken und Bänden 
Wer, wie ich, Laffalle von Jugend auf kennt, dem muß es als eine merkwürdige Sronie des 
Schickſals erſcheinen, wie gerade an feinen Namen fidh eine Agitation der Maſſen knũpfen konnte. 
Laſſalle war eine durchaus ariſtokratiſche Natur; er beſaß geiſtige Vornehmheit ... überdies 
ariſtokratiſche Lebensgewohnheiten und gehörte durchaus nicht zu den Männern, die ſich in der 
Atmoſphäre des Arbeiterpublikums wohl fühlen. ... Er hatte von Haufe aus wie wenige eine 
eiſerne Stirn und den Glauben an feine Unfehlbarkeit — und das ift ſchon die halbe Bürgſchaft 
des Erfolges.“ (S. 144 ff.) Brennender Ehrgeiz und nimmermüde Energie halfen ihm ſeine 
Ziele verwirklichen. — 

Unter „heimatloſer“ Student verſuchte es nun in Leipzig, das ihm gar nicht gefiel. Eine 
echte Literaturſtadt. „Wenn man“, ſchrieb er damals ſeinem Vater, „hier einem Menſchen 
mit einer Brille auf der Nafe begegnet, der febr weltſchmerzlich, arrogant und füffifant aus- 
ſieht, fo ift es ein Literat — Fabrikarbeiter, Schöngeiſter, im Cliquenweſen erſäuft, ohne Ge- 
ſinnung.“ Von den zahlreichen neuen Bekanntſchaften, die er hier ſchloß, ſind einige auch uns 
vertraut: Robert Blum als Vertreter der Nationalverſammlung und Opfer öſterreichiſcher 
Militärherrſchaft auf der Brigittenau und Heinrich Laube als gefeiertſter deutſcher Dramaturg. 
Aber auch in Leipzig durfte der dichtende Student nicht weilen; wieder ging er nach Schleſien, 
und er war froh, nach einer einjährigen Unterbrechung ſeiner Studien die Erlaubnis zu erhalten, 
dieſe in Berlin fortſetzen zu dürfen. 

Gottſchall benutzte den Berliner Aufenthalt, um bei den Gardeſchützen feiner einjähri- 
gen Dienjtpflicht zu genügen. Dieſe ſcheint ihm nicht ſehr ſchwer gefallen zu fein. Soldaten 
blut rollte ja auch in ſeinen Adern, überdies war der Dienſt nicht ſehr anſtrengend, zumal im 
Regiment recht viele gemütliche Offiziere aus Neuchatel danach trachteten, ſich und ihren Unter- 
gebenen das Leben nicht ſchwer zu machen. — Außerhalb des Dienſtes fand Gottſchall raſch per- 
ſönlichen Anſchluß an die Offiziere, da ſie für die Literatur ein reges Intereſſe bekundeten. 
Ein ſehr junger Leutnant, der fih hier beſonders hervortat, war Guſtav von Moſer. Weiteren 
Verkehr boten der vielfeitige Theodor Mundt, der rundlich und platt, wie er war, es verſtanden 
hatte, trotz der Achterklärung durch den Oeutſchen Bund mit der preußiſchen Regierung ſich 
recht gut zu vertragen. Seine Gattin Luiſe Mühlbach war damals noch nicht zu jener imponie- 
renden Körperfülle gelangt, die nur in vielbändigen Roman-Ungetümen ein geiftiges Ana- 
logon fand, ſondern machte noch in wilder Emanzipation. Auch Feodor Wehl, der geiſtreiche 
Verfaſſer der „Berliner Weſpen“, und der Oeutſch- Ungar Karl Beck waren in diefem Kreiſe 
zu Haufe. 


Rudolf von Gottſchalls „Zugenberinnerungen“ 247 


Seltener ſuchte Gottſchall die literariſche Gruppe der „Freien“ auf, eine Schar, die fich 
in zyniſcher Kritik nicht genug tun konnte. Das Haupt der Geſellſchaft war Bruno Bauer, dem 
ſeine theologiſche Lehrſtelle zu Bonn ſeiner ketzeriſchen Lehren wegen entzogen worden war. 
Noch toller gebdrdete fih damals fein jüngerer Bruder Edgar. Das „zahme“ Ende dieſer jung- 
hegelſchen Poltergeiſter als Mitarbeiter der „Kreuzzeitung“ uſw. iſt bekannt. Ein Stillerer im 
Kreiſe war Dr. Rafpar Schmidt, der unter dem Oednamen Max Stirner das Werk „Der Einzige 
und ſein Eigentum“ herausgegeben hatte, das in unſern Tagen wieder zu wirkſamer Geltung 
gekommen iſt. Er und ſeine Gattin, Marie Doenhart, waren äußerlich ja ſehr „emanzipiert“, 
in Wirklichkeit führten fie eine ſolide, faft ſpießbürgerliche Ehe. Der „Einzige“ hatte fein „Eigen“ 
tum“ gewiſſermaßen in Ziegenmilch angelegt, und um das Befinden der milchſpendenden 
Damen drehte ſich oft genug die Hauptunterhaltung. — 

Auch die Berliner Zeit hatte für den jungen Dichter ihren Roman. Dieſes Mal war feine 
Heldin Louiſe Afton, die fic) fpdter im Schleswig- holſteiniſchen Kriege als Krankenpflegerin 
bewährte, damals aber als eine andere Georges Sand die Frauenemanzipation nicht predigte, 
ſondern lebte. Man kann den Zauber, den die ſchöne Frau auf den Dichter ausbte, daran er- 
mellen, daß noch nach über fünfzig Jahren feine Darſtellung hier wärmer und leidenfchaft- 
licher wird. Damals widmete er ihr feine beiden Liebesdithyramben „Madonna“ und „Magda- 
lena“; aber auch ſonſt „iſt in jener Epoche ſeines Lebens für viele ſpätere leidenſchaftlichere 
Akkorde ſeiner Muſe der Grundton angeſchlagen worden“ (S. 181). 

Trotz alledem hatte Gottſchall auch noch Zeit für ſein Studium, und am 22. März 1846 
wurde er für feine Studie de poenis adulterii iure Romano constitutio von der Königsberger 
juriſtiſchen Fakultät mit dem Doktorhute geſchmückt. Als fünfzig Jahre ſpäter dem Doctor 
iuris ſein Diplom erneuert wurde, war darin von allerlei Verdienſten die Rede, nur nicht von 
ſolchen um die juriſtiſche Wiſſenſchaft. Daß das jo gekommen, hat er dem Berliner Kultus- 
miniſterium zu verdanken, das ihm die venia legendi erft dann gewähren wollte, „wenn er nach 
einem Sabre Beweiſe einer veränderten Geſinnung gegeben haben würde“. Da machte ihm 
der Direktor des Königsberger Stadttheaters, Artur Woltersdorff — auch ein Zurift —, den 
Vorſchlag, bei ihm Dramaturg zu werden. Gottſchall ſchlug ein. Der Univerfität ift er von da 
ab nicht mehr nahe getreten. 

Bis zum Beginn der Saiſon galt es, ſich noch etwas umzuſehen in deutſchen Landen, 
und fo machte er fih mit dem Grafen von Reichenbach auf zum Beſuch beim alten Fbftein, 
dem Senior der badiſchen Liberalen. In feiner Weinbergsvilla zu Hallſtatt im Rheingau trafen 
fih die liberalen Abgeordneten der deutſchen Hauptitaaten, um über ein gemeinſames Vor- 
gehen in den Kammern und den ſtändiſchen Vertretungen zu beraten. Die Ereigniſſe überholten 
allerdings bald die hier gefaßten Beſchlüuͤſſe. 

Zwei Jahre lang war Gottſchall Dramaturg am Königsberger Stadttheater; darunter 
das günftige Theaterjahr 1847, das unſerer Bühne drei noch heute wirkſame Stücke ſchenkte: 
Laubes „Rarlefhüler“, Freytags „Valentine“ und den „Uriel Acoſta“ Gutzkows. An eigenen 
Werken brachte er „Die Blinde von Alarca“ und „Lord Byron in Stalien“ mit febr günftigem 
Erfolge zur Aufführung. Das Jahr 1848, als auf den Straßen weltgeſchichtliche Ereigniſſe vor- 
gingen und das Volk ſelbſt in der Tragödie mitwirkte, war für das Theater nicht günſtig. Wollte 
man volle Häufer ſehen, fo mußte man von den Brettern aus politiſche Anſprachen halten. 
Gottſchall hat damals das geſamte politiſche Treiben mitgemacht. Er war fogar einer der Rom- 
mandanten ber Königsberger Buͤrgerwehr, und es ift natürlich, daß er gerade diefe Zeit febr 
gut zu ſchildern weiß. Da aber der Reiz des Bildes mehr in der Farbe als im dargeſtellten Bor- 
gang beruht, kann hier nur auf das Buch ſelbſt verwieſen werden. „Unbeſchreiblich war die Auf- 
regung jener Tage; man hatte das Gefühl einer vollſtändigen Wiedergeburt.. Wer an diefe 
Zeit nur gurfiddentt als an eine trübe Epoche des Umſturzes, der Anarchie, der Straßenkämpfe, 
der hat die Stimmung nicht begriffen, welche damals die Gemüter beherrſchte und mit Be- 


248 Syrit. 


geifterung und Rührung erfüllte, und auch die Hiftorifer, welche vom Standpunkte einer ver- 
fpäteten Reflexion die Chronik jener Tage ſchreiben, geben nur eine irrige und verfälſchte Dar- 
ſtellung derſelben, indem fie über den Kämpfen und Zuckungen dieſer Geburtswehen die ſchöp⸗ 
feriſche Lebenskraft, die in ihnen zutage trat, hervorzuheben verſäumen.“ (254) 

Der Rauſch war bekanntlich nur von kurzer Dauer. Es war kein freudiges Erwachen, 
und es wurde um fo trauriger, je offener die Augen ſehen mußten, daß die Reaktion auf der 
ganzen Linie ſiegte. Das war keine Zeit, die einen jungen Mann verlocken konnte, ſich ins 
politiſche Leben zu ſtürzen. Auch Gottſchall widmete fih jetzt ausſchließlich feinen dichteriſchen 
und gelehrten Arbeiten. Ein Wanderleben begann nun, wie es faſt keinem Literaten erſpart 
bleibt, ber ums Brot ſchreiben muß. Noch viele Perſönlichkeiten ſchildert uns der Dichter, die 
er in feinen Wanderjahren kennen gelernt hat, Schauſpieler, Rünftlee und manche Schrift 
ſteller. Aber die Bekanntſchaften wurzelten jetzt nicht mehr ſo tief ein. Der Oichter und der 
Menſch waren in einem Wandlungsprozeß begriffen. Oer letztere fand fih glücklich in den Hafen 
der Ehe. Das ſchleſiſche Gutsfräulein, das er im April 1852 heiratete, ijt ihm erft 1896 ent- 
riffen worden, nachdem fie ihm ein ganzes Menſchenalter hindurch das Leben verſchönt hatte. 
Der Dichter aber arbeitete ſich mit ſeinem „Carlo Zeno“, dem Hohen Lied vom Manne, zum 
tendenzlofen, rein dichteriſchen Schaffen hindurch, und fein nee: „Pitt und Fox“ leitete 
für ihn eine neue Zeit ein. K. St. 


E 
Lyrik 


GN j Ke Gottes und Rechts wegen follte eigentlich nur der Genießende Kritiker fein. 

denn nur der Genießende, wie der Lebende, hat recht. Er allein iſt dankbar, mit 
allen Sinnen empfänglich, bejahend. Nur der Genießende ijt unbefangen. Un- 
befangenheit aber iſt zweifellos eines der Grundelemente der Gerechtigkeit. Das fühlt auch 
der juriſtiſche Sprachgebrauch, wenn er vom Recht der Ablehnung „befangener“ Richter redet, 
womit doch wohl ausgedrückt fein foll, daß vom Richter Unbefangenheit zu fordern fei. Um 
auf das Aſthetiſche zurüͤckzugehen: man kann vom Kritiker zwar nicht verlangen, daß ihm jedes 
Kunſtprodukt Genuß bereite, aber aus der Stimmung des Genießenden, nicht mit der traus- 
gezogenen Stirne des mißmutigen Magiſters, ſondern aus einer gewiſſen ſpieleriſchen Un- 
befangenheit heraus ſollte er fein Urteil abgeben. In der unbefangenen Bejahung der Lebens- 
erſcheinungen, nicht unbedingt im einzelnen, wohl aber in der ganzen vorbedingenden Gemiits- 
lage, ruht das Geheimnis der Lebenskunſt und auch wohl das einer fruchtbaren Kritik. 
Umgekehrt kann aus der Geſamtſtimmung der Verneinung, die untrennbar iſt von einem 
feindſeligen Beſtreben, beim Tadelnswerten ſeiner ſelbſt wegen zu verweilen, von vornherein 
auf die Möglichkeit des eigenen Genießens zu verzichten, in jedem neuen Buche — um es gleich 
auf das Literariſche anzuwenden — einen Feind der eigenen Lebenskraft zu wittern, deſſen 
man ſich nicht ſchnell genug erwehren kann, kaum eine fruchtbringende Kritik erwachſen. Ein 
gut Teil der literariſchen Kritik unſerer Tage krankt offenbar am Mangel echter Lebens“ 
freudigkeit. 

Die Maſſenhaftigkeit beiſpielsweiſe gerade der lyriſchen Produktion macht es dem 
Kritiker allerdings nicht gerade leicht, ein Genießender zu ſein und zu bleiben. Nicht nur bleibt 
es dem einzelnen Erzeugnis gegenüber, gerade wie beim Buſchiſchen Klavier, „hin und wieder 
zweifelhaft“, ob es „Genuß verſchafft“, ſondern es iſt allein ſchon das ungeheure Quantum, 
das die Reizempfänglichkeit und damit die Genußfähigkeit herabmindert. Dieſes Überreich⸗ 
tums kann man ſich nicht anders als der Natur ſelbſt erwehren, indem man nämlich dant- 


—! 


Lyrik | 249 


bar mit allen Kräften genießt und den nicht verarbeitbaren Überſchuß gutgläubig lächelnd 
an ſich vorübergleiten läßt, immerhin beglüdt durch die überreichen Gaben, die einem durch 
die vielen. Lebensſtröme zugetragen werden, ohne baf man fih nach ihnen allen zu bücken 
vermag. 

Guſtav Faltes „Frohe Fracht“ (Hamburg, Alfred Janſſen) mag den keines- 
wegs dngftlid arrangierten Reigen von Lyrik, der hier nun regelmäßig vorzuführen fein wird, 
in guter Vorbedeutung eröffnen. Wenn das deutſche Volk die Anweiſung auf unbedingte 
nationale Unſterblichkeit, die in der Anpreiſung „Oeutſchland, dein Dichter!“ ausgedrückt zu 
ſein ſchien, auch nicht eingelöſt hat und ſchwerlich einlöſen wird, ſo kann man doch ſchon guten 
Mutes fagen, daß Guftav Falke zu den erklärten Lieblingen des deutſchen Hauſes gehört und 
ſich als ſolcher behaupten wird. Und das mit Fug und Recht: 


„Var ein fröhlich Reifen 
In durchſonntem Raum, 
War ein fröhlich Grelfen 
In den vollen Baum.“ 


Was Guſtav Falke von je her ausgezeichnet hat, die feine, anmutsvolle Linie, die jugend- 
zarte Bläffe, der einſchmeichelnde Goldklang, die Gemütswärme einerſeits; der volkstümliche 
Ton, der ſtarke Wirklichteitsſinn, der an die Nachbarſchaft Liliencrons gemahnt, Humor und 
epiſche Gedrungenheit andererſeits, das ift auch hier in dieſer „Frohen Fracht“ verfrachtet. 
Oieſe ſeltene Vielſeitigkeit, dieſe ſpielend leichte Formgebung, die doch niemals leichtſinnig 
iſt, bieſes anmutige Tändeln, das doch nirgends über Untiefen hinwegzutäuſchen nötig hat, 
und ein gewiſſer wähleriſcher Eigenſinn, der nichts Afthetifierendes hat, ſondern kindlich umn- 
befangen ift, geben Falke das ihm eigentümliche „Cachet“. Er ift eine lyriſche Natur, nicht nur 
ein lyriſches Talent. 

Die „Klänge aus Litauen“, die A. K. T. Die lo uns beſchert hat (München, 
Georg D. W. Callwey), haben einen guten und eigenen Ton. Nicht nur weil fle ſtofflich vom 
echten, fremdartigen Erdgeruch Litauens durchdrungen ſind, ſondern weil der Dichter von innen 
heraus was zu ſagen hat, weil er die Seele der Dinge mit Seelenaugen ſchaut, ohne daß ihm 
dabei nur die geringſte ſinnliche Einzelheit entginge. Das gibt ein ſehr merkwürdiges Gemiſch 
ſtofflicher Sinnlichkeit und Beſeeltheit. Zuweilen macht es ſogar beinahe den Eindruck, als 
ſtachle es den Dichter, uns zu zeigen, daß er das tiefe Anſichſein und Snfichfein der Dinge zwar 
unmittelbar erfaſſe, aber es doch für feine Pflicht halte, fih über alle Einzelheiten des Gub- 
ſtantiellen vor uns zu legitimieren. Er geht im Beſchreibenden bisweilen zu weit, wenn man 
auch überall den deutlichen Eindruck hat, daß „direkt nach der Natur“ geſchaffen worden iſt. 
Alles duftet nach Waſſer, Wind und Erde, mag nun der heimatliche Memelſtrom oder die Kuriſche 
Nehrung in Erſcheinung treten. Die Kunſt Tielos würde aber doch vielleicht noch gewinnen, 
wenn das Stoffliche reftlofer in rückſchauender Phantaſie aufgelöſt und dadurch konzentriert 
würde, Es ift wie ein leiſes Nachwirken einer äſthetiſchen Doktrin, wie ein ängſtliches Zurück- 
weichen vor den Gefahren einer allzu frei waltenden Phantaſie, was den Dichter bisweilen 
in beſchreibende Breite und damit gerade in Enge verſinken läßt. Der dichteriſche Ausdruck 
ift übrigens immer eigenartig, oft eigenwillig, nicht felten kühn und herriſch. Jm rein Lyrifden 
und den Liebesliedern finden ſich unmittelbar ergreifende Töne. Viel Schönes, Eigenartiges, 
Seltenes iſt uns hier erſchloſſen. Ein Geiſt, der aus der inneren und äußeren Heimat zu ſingen 
und zu ſagen weiß. 

„Hamburg“, ein Buch Balladen von Ewald Gerhard Seeliger, Volks- 
ausgabe (Hamburg, Alfred Janſſen), nennt fih die große bürgerliche Epopöe, die ihrem Autor 
fo viele und verdiente Ehren gebracht hat. Gerade für das Hamburger Epos in feiner natür- 
lichen Miſchung von rückſichtsloſer Kraft und nüchterner Beharrlichkeit hat Seeliger viel mit- 
gebracht: das markige, bildkräftige Wort, das den Nagel auf den Kopf trifft, die behäbige Be- 


250 Lyeit 


ſchreibung, die gern auch im einzelnen verweilt, ohne ſich in ihm uferlos zu verlieren. Die 
richtige Hamburger Ballade, angeſtimmt aus den Tiefen einer heimatlich ergriffenen Seele. 
Humor, groteske Komik und dunkle Tragik finden ihren adäquaten Ausdruck, den man von 
innen heraus als zwingend empfindet. 

Von Edward Samhabers angekündigten ,Gefammelten Werken“ 
(München und Leipzig, Georg Müller) iſt nun der erſte Band, enthaltend die „Gedichte“, 
erſchienen. Das iſt ein literariſches Ereignis; denn mit dieſem Buch tritt ganz unzweifelhaft 
der bedeutendſte Oichtergeiſt auf, den das Land Oberöſterreich feit Fr anz Stelzhamer 
hervorgebracht hat, neben dieſem die ſtärkſte Dictertraft des Landes. Samhaber wurzelt nicht 
im Dberlieferten und nicht im Modernen, er wurzelt im uralt- jungen Boden des Ewig Menſch⸗ 
lichen. Alſo vor allem einmal im Heimatboden. Die traute oberöſterreichiſche Landſchaft fin- 
det in ihm einen treuen und gemütvollen Interpreten. Dieſe Gedichte „Durch Feld und Wald“ 
find von einer geradezu entzückenden Eigenart, Unmittelbarkeit und Friſche. Nichts Erqual- 
tes, nichts Hergebrachtes, keine dumpfe Stubenkunſt, die nach ſchlechter Lüftung ſchmeckt. 
Alles Sonne, alles freie Luft, Freilicht. 

„Ruck. . kuck. .. kuck . kuck. Die kllmpert kein Geld, 
Aber was ſchlert dich der Reichtum ber Welt, 
Trãgſt du nicht Malenglüd heim? 

Wer dem Heimatboden fo treu ergeben ift, wie Samhaber, wie ſollte der nicht auch fei- 
nem Vaterlande und feinem Volke ein treuer Sohn fein? Zt doch die Heimat nur das Bater- 
land im kleinen, dieſes die Heimat im großen, im Reiche der Kämpfe, der Ideen, im Wider- 
ſpruch zur feindlichen Welt, der gegenüber es ſie verteidigen und ſich ſelbſt bewähren heißt. 
In feinen markigen „Vaterländiſchen Gedichten“ bewährt fih Samhaber in feiner Oeutſch⸗ 
geſinnung, bewährt er fih als Sohn der ewigen Heimat des Mannes. Der herrlichen, unver- 
lierbaren, aus der nur der Verräter, der Mietling ausgetrieben werden kann. Eine ſtreng 
ſichtende und doch zugleich eine feine, leichte Künſtlerhand iſt liebend über dieſe Blätter ge- 
glitten, die das Vermächtnis eines ſpät und köſtlich uns aufblühenden Lebens ſind. Späte 
Frucht, gute Frucht. Würzig, ſorgſam zur Sonne gewendet, ausgereift. Die Oden, Hymnen 
und Sonette von klaſſiſcher Reinheit und Formvollendung. Damit aber ja niemand das Schul- 
meiſter-Geſchmäcklein herauszufinden glauben darf, ſtrotzt es in den Landſchaftsliedern („Erika“), 
Frühlingsſtimmungen, „Leuchtenden Stunden“ und Liebesgedichten („Dora“) von jubelnden 
und ſchluchzenden Urlauten allerunmittelbarſter lyriſcher Empfindung. Und was fiir aus- 
erleſene Koſtbarkeiten finden ſich in den „Elegien“! Wem die Schönheit des deutſchen Di- 
ſtychons noch nicht aufgegangen iſt, der leſe ſie. Hier erwacht noch einmal nach Hölderlin, nach 
Hamerling die Seele der griechiſchen Klaſſizität und findet fic entzückt im deutſchen Sprach 
gewande, das ihr ſo edel zu Geſicht ſteht. Dieſer Band Gedichte von Edward Samhaber gehört 
in jede ernſthafte deuiſche Bibliothek und erweckt die ſchönſten Erwartungen in bezug auf die 
angekündigten ferneren Bände der „Geſammelten Werke“. 

„Deutſche Hobelfpäne“ Stoßſeufzer und Stammbuchblätter (Heidelberg, 
Karl Winter), nennt Heinrich Vierordt, der formvollendete und gemütvolle fränkiſche 
Dichter, das jüngſte Kind ſeiner Muſe. Stoßſeufzer ſind es wohl nun eigentlich gerade nicht, 
und wenn ſchon Hobelſpäne, dann ſolche von kernigem Eichenholz. Aber friſcher, fröhlicher, 
unerſchrockener Kampf iſt es, der uns hier ſeine glühenden Funken ins Geſicht ſpritzt. In tadel- 
los ſcharf und elegant geſchliffener Form ſchwirren dieſe kleinen Pfeile von der beſchwingten 
Sehne und treffen faſt immer mitten ins Schwarze hinein. Mögen fie nun gegen Schulborniert- 
beit und Schultyrannei, gegen papierenen Größenwahn, Literaturbanauſentum, Gefellichafts- 
heuchelei, kosmopolitiſche Verwaſchenheit, Philiſtertum oder was immer gerichtet fein. Bu- 
weilen ſchwirrt ſo ein Pfeil allerdings auch elegant daneben. Dann ärgert man ſich aber nicht, 
ſondern lacht, und es ift einem beinahe, als wenn man dann den Autor mitlachen hören würde. 


Lperie ` 251 


Selbſt wo er iret — und wer würde denn nicht irren! —, kann man ihm nicht zürnen, ſondern 
muß feiner Ehrlichkeit und gut ſüddeutſchen Mannhaftigkeit und Unbeſtechlichkeit Gerechtig- 
keit widerfahren laſſen. Das Buch wird ſich Freunde erwerben, und Feinde vielleicht auch. 
Um fo beſſer! „Ohne Pfeffer kein Treffer.“ — 


Falter 


Sit es ein Blatt, bas bort im Wind ſich hebt? 
Es lebt! Es ſteigt: ber erſte Falter ſchwebt. 


Ein zweiter eilt baher, und alſogleich 
Sich werbend ſchießen fle ins Luͤftereich — 


Noch war kein Rela, der Duft und Nahrung lieh; 
Von Liebe lebten unb bann ftarben fie! 


Dieſe anmutige kleine kosmiſche Tragödie iſt in den „Neuen Gedichten“ von 
Leo Sternberg (Stuttgart und Berlin, Cotta) zu leſen, die manch feine Gedanken und 
Empfindungen in zarten Linien und gedämpften Tönen enthalten. Aber wo bleibt das bei 
aller Formſchönheit Kraftvolle, das uns Leo Sternberg noch ſchuldig iſt? 

Im Versbuch „Auf den Zinnen der Zeit“ des Freiherrn Ferdt 
nand von Paungarten (Leipzig, G. Müller-Mann) finden fih neben nichtsſagenden 
und farbloſen Paraphraſen echte Herztöne wie „Herbitmorgen“, „Kommender Herbſt“, 
„Am Grenzpfahl“, „Heimatsahnen“, „Das Lindenzweiglein“. Ein paar gemütvolle, dem 
Prinzen Emil zu Schönaich-Carolath gewidmete Gedichte rufen die Erinnerung an den Un- 
vergeßlichen wach. 

Tiefinnerlich und ſehr perſönlich ſind die Gedichte und Szenen „Alltag und Feier“ 
von Manfred Berger (Berlin, Stuttgart, Leipzig, Axel Juncker), zu denen Graf E. Rey- 
ſerling ein Geleitwort geſchrieben hat, dem man zuſtimmen kann. Den verfonnenen und trüb- 
umflorten Dichtern ſcheint der Verfaſſer aber immer noch näher zu ſtehen als den „machtvoll 
ſchreitenden“, um bei ſeinem eigenen Bilde zu bleiben. Gedichte wie „Ruf“, „Verlaſſen“ 
ſind lyriſches Vollblut. Manches iſt allzu verträumt, anderes allzu bewußt gedanklich. Alles 
echt und innerlich. Wie weit die „Szenen“ eine dramatiſche Verheißung ſind, wird ſich nach 
ihnen allein ſchwer beurteilen laffen, Der Dichter wird aus den Dämmertiefen feiner Innen 
welt zum Leben des Tages auftauchen miiffen, um feiner Kraft bewußt und Meiſter zu werden. 

Als ein in ſich Abgeſchloſſener, Gereifter, Ganzer erſcheint uns Martin Boelitz 
in feinen „Aus gewählten Gedichten“ (Leipzig, Fritz Eckardt). Da kann der Be- 
urteiler mit dem Genießenden völlig eins werden. Heiliger Lebensernſt, verbunden mit einer 
gewiſſen weltverlorenen Leichtherzigkeit, wie ſie dem Volksliede eigen iſt; ſchmelzende Süße 
der Melodie, gemiſcht mit einer eigentümlichen Herbigkeit und Eigenwilligkeit des Ausdrucks; 
kühne, ganz innerliche Phantaſtik, gepaart mit ſtrotzendem Wirklichkeitsſinn: das kennzeichnet 
den Dichter, Es wird einem fo leicht und frei und doch wieder fo weh ums Herz, wenn man 
Martin Boelitz lieft. Wo man feine Bücher auch aufſchlagen mag. Lebenswonne und Todes 
ſehnſucht innig durcheinandergewoben, recht eigentlich, wie das Leben in der Tiefe ſelber iſt. 
Ich blättere und ſchlage ganz abſichtslos das Gedicht „Verfärbtes Laub“ auf. Und ich lefe: 


Verfärbtes Laub, Altweiberſommerſeibe, Ourch nledre Stoppeln tiefe Wagenſpuren, — 
Ripptlapp, Hippłlapp — ift das ſchon Oreſcherſchlag? Soldaten ziehn auf ſtaubiger Chauſſee, 

Ein Hühnervolt fällt ſurrend ins Getreide, She Singen übertönt die gelben Fluren, 

Und kühl und golden traͤumt ber frühe Tag. Noch weiter klingt's: Abe, mein Schatz, abe. 


Gewiß, die Stimmung ift voll herbſtlicher Wehmut, aber fie ift nicht kränklich. Und das 
iſt charakteriſtiſch für Boelitz. Er kennt die Tragik des Lebens von Grund aus, aber er ſingt 
ein Soldatenlieb ins herbſtliche Land hinein und bejaht das Leben, wie es ift. Martin Boelitz 
ift fo recht der Dichter des neuen Deutſchlands, das fih feinen Platz an der Sonne erkämpft 


252 1 2prit 


und nicht jammert. — Die Auswahl ift ſtreng und glidlid. So wird das ſchöne Buch feinen 
Weg machen. 

Erdgeruch, kosmiſchen Duft atmen in ihrer kapriziöſen Eigenart die „Lieder der langen 
Nächte“ von Max Dauthendey, „Der weiße Schlaf“ betitelt (Berlin, Stutt- 
gart, Leipzig, Axel Junker). Wer fih über die bekannten artiſtiſchen Züge hinwegſetzt, der 
wird in dieſem Buche ein merkwürdig inniges Sicheinfühlen in die geheimſten und flüchtig- 
ften Reize des winterlichen und vorlenzlichen Naturlebens finden. Nirgends ein nichtsfagender 
Singſang, überall faſt der herbe Orang nach innerer Wahrheit und Abereinſtimmung mit der 
beſeelten Natur. Das Kapriziöſe wollen wir dem Dichter zugute halten, deffen Blut mit den 
blauen Frühlingswaſſern um die Wette ſpringt. 

Sehr erfreulich ift die Auswahl von Hölderlins Sichtungen von Will 
Veſper, nicht minder die Auswahl Vorgoetheſcher Lyriker von Hans Bran- 
denburg (Statuen deutſcher Kultur, Band 5 und 6. München, C. H. Bed). Beide Aus- 
gaben genügen einem längſt gefühlten Bedürfnis. — 

„Barum in unferm Wanderbuche 

Steht eines hier. Oles lernt erfahren. 

Eins ſchirmt uns vor dem letzten Fluche, 
Gap dankbar wir und ehrlich waren.“ 

Mit dieſen vielſagenden Zeilen ſchließen die Memoiren des Zufalls“ von 
Georg von Oertzen (Freiburg i. B., 3. Bielefeld). Gottfried Keller ſagt Ahnliches 
in feinem ſchönen, lebenbejahenden Gedicht „Die Zeit geht nicht“ 

„Froh bin ich, daß ich aufgeblüht 
Zn deinem runden Kranz; 


Sum Dane trüb! ich die Quelle nicht 
Und lobe deinen Glanz.“ 


Dankbarkeit, Ehrlichkeit, Bejahung, das alles iſt den Dichtungen Georg von Oertzens 
eigen und erleidet auch keine Beſchränkung dadurch, daß es mit manch ungelöfter Bitterkeit 
untermiſcht ift. Der Natur vor allem, die er ſehnſüchtig liebt und in deren tiefſte Geheimniſſe 
er begnadet iſt zu blicken, aber auch ſonſt allem Guten und Edlen ſteht der Dichter bejahend 
gegenüber. Ein grauſamer Haß aber beſeelt ihn gegen alles Niedrige, Dumpfe und Philiſtröſe. 
Er leidet unter dem Alltage, und dieſes Leiden wirft auch Schatten auf das Sonnenland 
ſeiner Seele. Mitten unter die Lobgeſänge zum Ruhme von Gottes ſchöner Welt miſchen 
fich wehe Anklagen, die Teilnahme erwecken, aber auch Zeugen der Begrenzung find. Fronie 
und Sarkasmus befiegen das Leben nicht, aber dem Humor und der Liebe ift es gegeben. Bei- 
des iſt dem Dichter eigen. Aber die heiße Liebe zu den Menſchen, fie wurde im Widerſtreit des 
Lebens nur zu oft enttäuſcht und zog ſich in ſich ſelbſt zurück und ihre ſeligen Erinnerungen. 
Der Humor aber, der bisweilen wie ein zarter Sonnenſtreifen durch die Räume der Dichtung 
gleitet, ſchlägt oft in Fronie um. So gewinnen wir den Eindruck eines edlen, ehrlichen, in der 
Ausprägung des perſönlichen künſtleriſchen Stils hochentwickelten Dichtergeiſtes, der das 
Leben in ſeiner Dichtung noch nicht reſtlos bezwungen hat. 

Manch feine kleine Sachen und Sächelchen, darunter Originale von hohem Werte, 
wie das letzte Gedicht unſeres unvergeßlichen Wildenbruch („Wo ihr mich ſuchen ſollt“, finden 
ſich im Muſenalmanach des Vereins „Berliner Preſſe“ 1909. Ebenſo 
im Jahrbuch der Deutſchöſterreichiſchen Schriftſtellergenoſſen⸗ 
ſchaft 1909 (Wien). Maurice von Stern 


W 


Die Trägheit des Herzens Jä 255 


Die Trägheit des Herzens 


AEA 
| Nate Waſſermann: Kaſpar Hauſer oder die Trägheit des 


„ 

ZO Herzens. (Stuttgart, Deutfche Verlagsanſtalt, geh. © M, geb. 7 M.) 
Kee Waſſermanns Stärke liegt in feiner bewußten Stilkunſt. Mit ihr hat er fih die 
innere Kalte feines Weſens geradezu zu einem literariſchen Vorteil auszugeſtalten vermocht. 

Für die Pſychologie des jüdiſchen Schriftſtellers in der neuen deutſchen Erzählungs- 
literatur iſt eine genaue Betrachtung des Schaffens dieſes Mannes ſehr lehrreich. Die ver- 
ſchiedenen Stationen über die „Juden von Zirndorf“, „Renate Fuchs“, „Moloch“, „Alexander 
in Babylon“, zu den „Drei Schweſtern“, und nun zu dem vorliegendem Buche find auch für den 
pſychologiſchen Forſcher Ausgangspunkte zur Erkenntnis einer ganz bewußt arbeitenden Kunſt, 
die nirgends Natur iſt. Aber ſicher vermag ſie uns Deutſchen am meiſten auf dieſer letzten 
Stufe zu geben, denn hier kann ſich auf dieſe Weiſe die bei uns ſeltene Gabe des ſachlichen 
Erzählens, wie es die alten italieniſchen Novellen ſo muſterhaft zeigen, in moderner Wendung 
entwickeln. Das Moderne liegt darin, daß das Einzelſchickſal weniger der pſychologiſchen Dar- 
legung des einzelnen, als der der Maſſe dient. In dieſer Tatſache liegt vielfach die Schwäche 
unſerer ſogenannten Entwicklungsromane. Denn hier ift es Schwäche, geſchieht auch gewöhn- 
lich wider Abſicht, daß der heldiſche Zug fehlt, der im Weſen des Helden die Grundurſachen 
ſeiner Entwicklung ſucht und ſtatt deſſen die Umwelt und die äußeren Lebenserfahrungen 
verantwortlich gemacht werden. 

Zur ganz hervorſtechenden Tugend wird dagegen dieſe Eigenſchaft, wenn ſie bewußt 
geübt wird, wie hier von Waſſermann. Das hat ſich bereits bei ſeinen „Orei Schweſtern“ 
gezeigt; in weit höherem Maße aber im vorliegenden Buche, wo der Verfaſſer den Schwer- 
punkt der Entwicklung offen in die Maſſe verlegt, wie der Titel ganz deutlich ſagt. Denn dieſe 
Wahl des Untertitels ift nicht Wiederauffriſchen einer alten Mode, ſondern Verdeutlichung. 
Der ſeltſame „Fall“ Kaſ par Hauſer wird hier mit der leidenſchaftsloſen Treue des Chro- 
niſten berichtet; des wundergläubigen Chroniſten freilich. Und das ift gut. Das merkwürdige 
Sefhehen kann auf keinen Fall ſtärker wirken, als wenn eine ſcheinbar alle Subjektivität aus- 
ſchließende Erzählung es ruhig berichtet. Die künſtleriſche Tätigkeit Waſſermanns beginnt dort, 
wo er dem Leſer die ſich ihm immer wieder bei den Geſchehniſſen aufdrängende Frage: Wie 
konnte das alles geſchehen? beantwortet. Die Antwort lautet: Durch die Trägheit des Herzens, 
die eine hervorſtechende Eigenſchaft der meiſten Menſchen ift. Waſſermann hat ſelber den Aus- 
druck näher erklärt: „Da iſt ein Erkennen, das Gefühl trotzt dem Erkennen, beharrt auf dem 
falſchen Wege; oder da ift ein Gefühl, ein großes, ein wahres; und doch, es läßt fidh betrügen, 
es läßt fic) verwirren durch Reden und durch Denken. So entſteht Trägheit des Herzens. Bor- 
übergehen, wenn die Stimme des Gemüts zum Bleiben mahnt, bleiben, wenn fie verlangt, 
daß ich weitergehe; die Augen ſchließen, wenn es gilt, zu ſehen, und ſchweigen, wenn es gilt, 
Partei zu nehmen; urteilen und verdammen, wenn vieles davon abhängt, zu ſchweigen und 
Milde zu üben; Liebe beanſpruchen, ohne ſie zu geben; von Gott reden und den Teufel im 
Innern füttern; in Mufit und Dichtung ſchwelgen und vor kleinen Menſchenpflichten die Flucht 
ergreifen; Freundſchaft preiſen und den Freund verleugnen, den Genius herbeiwuͤnſchen und 
wenn er ſich zeigt, ihn ſchmähen und in den Kot zerren, alles dies, all dieſes Vergeſſen, all 
dies Wiſſen und Nichttun iſt Trägheit des Herzens.“ 

So wird alſo der Fall Kaſpar Hauſer benutzt, um daran die „Trägheit des Herzens“ 
der Maſſe vorzuführen. Wenn man den Begriff ganz ſcharf wörtlich nimmt, dann darf man 
das Buch „meifterhaft“ nennen. Es ift durch die volle Beherrſchung der Mittel darin vollkommen 
erreicht, was der Verfaſſer wollte. Daß es dem Leſer trotzdem nicht zu einem nachhaltigen Er- 
lebnis wird, liegt daran, daß wir von der Perſönlichkeit des Verfaſſers nicht genug bekommen. 
Was uns in der Erinnerung haften bleibt, iſt eben die Geſchichte Kaſpar Hauſers, alſo ein 


254 Neue Bücher 


weſentlich Stoffliches. Für dieſes Stoffliche ſelbſt kann der Verfaſſer natürlich keine Löſung 
geben. Ob Haufer wirklich ein Fürſtenſohn war oder nicht, wird dadurch keinen Schritt geför- 
dert. Und ſo findet ſich die Erlöſung dieſer rein ſtofflichen Spannung nicht, ſondern eben nur 
eine Erklärung. Dieſe Erklärung könnte für den Leſer das Dauererlebnis dieſes Buches werden, 
wenn fie in großzügiger Form, fei es als Anklage oder als perſönliches leidenſchaftliches Be- 
kenntnis, uns im Tiefſten packen und erſchüttern würde. Jetzt aber hat ein ſorgfältiger Arbeiter 
Steinchen zu Steinchen gelegt, gleich dem Moſaikkünſtler. Man wirft ein, daß die tauſend Stein 
chen im Mofait ſich zum Bilde einen; aber hier iſt das Bild Kaſpar Hauſer, die Steinchen da- 
gegen, jene Pſychologie der Maffe, find nur der Hintergrund, auf dem jenes ſteht. Und dieſen 
Hintergrund vergißt man. So lange man freilich das Buch lieſt, iſt man ſtark gepackt, gefeſſelt, 
am liebſten möchte ich das Fremdwort brauchen: intereſſiert. Es iſt eine eigentümliche Er- 
lcheinung, aber ſobald man ein Fremdwort als den zutreffendſten Ausdruck empfindet, pflegt 
die Sache nicht rein deutſch zu ſein. Dem iſt eigentlich auch natürlich ſo. St. 


Ger 
Neue Bücher 


Karl Borromäus Heinrich: Karl Aſenkofer. (München, Albert Langen. 
& 3.50, geb. M 5.—.) 

Die Generalbeichte einer abgeſchloſſenen Jugend, geleiſtet in Stunden nach einem ftar- 
ken Erleben, wodurch man ſich ſelber, nachdem man es wieder glücklich überwunden, fo gefördert 
fühlt, daß man mit Beſtimmtheit ſagen kann: Von heute ab bin ich ein anderer, von heute ab 
bin ich ein Mann! Die Stärke des Buches liegt in feiner Ehrlichkeit. Menſchlich und künftle- 
riſch ehrlich. Es wird hier nichts aufgebauſcht, nichts zurechtgeſtutzt. Der es geſchrieben hat, 
will nicht beſſer, aber auch nicht ſchlechter erſcheinen, als er iſt. Er empfindet keine Reue über 
die Vergangenheit, ſondern fühlt fie als Notwendigkeit. So fehlt in dem Buche jegliche Pofe. 
Darin unterſcheidet es fih zu feinem großen Vorteil von der Mehrzahl aller Bekenntnisbüͤcher. 

Die Jugend eines aus ärmſten Verhältniſſen ſtammenden Knaben, der um feiner Be- 
gabung willen auf die höhere Schule kommt, erſteht klar vor uns: die engen Verhältniſſe daheim, 
die Schwierigkeit, ſich in die höhere Lebensſchicht einzugewöhnen, in die er nun doch einmal 
verſetzt ijt, die geiſtigen und ſeeliſchen und körperlichen Kämpfe, die jeder begabte Menſch durch- 
machen muß. Aber das liegt nun dahinten. Wenn man noch fo gerade am Untergang vorbei- 
gekommen iſt, dann empfindet eine geſunde Natur alles Geweſene als einen Segen. Solchen 
Büchern fehlt die Bitterkeit; eher durchbricht die Glut dankbarer Herzenswärme die von der 
Tatſache, daß alles überſtanden iſt, aufgemauerte Schicht der Gelaſſenheit. So hier, wenn 
der Erzähler an ſeine Mutter denkt. „O Frau Mutter! Gold ſah ich blinken in Eurem Auge. 
Nur an Euch brauche ich zu denken, taufend Stimmen erheben ſich dann zugleich; adelig und 
hell, hell wird die Welt! Wie dankbar muß ich Euch ſein, Frau Mutter, daß Ihr mich geboren 
habt. Was wäre ich ohne Euch, ich armer Narr und Menſch der Worte?“ — Goethe führt im 
„Wilhelm Meiſter“ aus, daß eigentlich alle Menſchen einmal die Geſchichte ihres Lebens fchrei- 
ben ſollten. Wenigſtens die Geſchichte feiner Jugend müßte jeder ſchreiben, und das könnte 
ein jeder. Nur dichteriſche Begabung vermag es in dieſer reich und rein klingenden Sprache. 
Darum iſt das Buch nicht nur an ſich eine wertvolle Gabe, ſondern auch ein Verſprechen für 
die Zukunft ſeines Verfaſſers. 


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Raumkunſt 


Aber die Stellung des Hans von Marées 
Von 


Dr. Karl Storck 


Nu gehſt über eine weite Ebene, ganz flaches Ackerland; dein Blick ver- 
liert ſich in der Weite. Das ſtärkſte Gefühl iſt das des Lichtmeers, 
in dem alles ſchwimmt, verſchwimmt. Da, bei einer Wendung viel- 

` O leicht, wandelt ſich plötzlich dein ganzes Sehempfinden mit einer 
ſelbſt beim raſchen Wechſel romantiſcher Gebirgsſzenerien kaum gefühlten Heftig- 
keit. Die Urfache ift geringfügig. In beträchtlichem Abſtand vor dir ſteht ein Baum, 
etliche zwanzig Meter ſeitwärts davon noch einer. Mit einer ſonſt kaum geahnten 
Deutlichkeit fühlſt du in ſolchen Augenblicken den Raum. 

Es ſteht mir da ein Bild ganz deutlich vor Augen, das ich in jenen Zünglings- 
jahren, in denen einem das Land der Kunſt gleichſam in Traumgeſichten fih offen- 
bart, bei einer Wanderung im oberen Elſaß (zwiſchen Mülhauſen und Baſeh er- 
blickte. Die Landſchaft iſt dort ja nicht ſo baumarm; aber es war doch weite Ebene, 
die Mittagsſonne brannte, ungern nur trottete ich die wenigen Kilometer, die es 
bis zum nächſten Dorfe (d. h. Wirtshauſe) noch waren. Vor mir im Süden ver- 
ſchwamm im Tagesdunſt der Schweizer Jura zu dünnblauen Flecken, links gen 
Oſten durchſchnitt den Horizont die niedrige Linie des Hardtwaldes. Die müden 
Augen verlangten nach Erfriſchung und fanden ſie nicht. Da — es wirkte bei einem 
erneuten Aufblicken wie plötzlich neu entſtanden — zeigte ſich folgendes Bild. Der 
Hardt um etliche hundert Meter vorgeſchoben, fo daß fie als grüner Hintergrund 
wirkte, ſtand eine große Eiche; zwanzig Meter ſeitwärts wuchs aus allerlei Stein 
geröll Gebüßh von Hafel und anderem Strauchwerk. Zwiſchen beiden ſtand ein 
mit zwei Ochſen beſpannter Wagen ſo, daß die Tiere bereits von den Aſten der 
Eiche beſchattet wurden, während der Wagen fih ganz frei vom Hintergrund ab- 
hob. Alles war ruhig und bewegungslos; ein Mann, der zum Fuhrwerk gehörte, 
wollte wohl gerade im Geſträuch fih ein ſchattiges Plätzchen zur Ruhe ſuchen; 
der einſame Wanderer auf der Landſtraße hatte aber ſeine Aufmerkſamkeit ge- 


256 £ Stora: Naumeunft 


weckt. So ftand er jetzt im grünen Blätterrahmen, von dem er fi, hemdärmelig 
wie er war, hell abhob. Ein Bild, wie es jeder ſchon hundertmal, wie ich ſelbſt es 
ſchon zuvor ſicher oft geſehen, — ohne es zu beachten. In dieſem Augenblicke ward 
es mir zur Offenbarung, verſchaffte es mir eine berauſchende Glüdsftunde, in der 
Geiſt und Seele für Gefühl und Erkenntnis plötzlich einen Beſitz gewannen, den auch 
eindringlichſtes Studium in dieſer Sicherheit kaum zu erſchließen vermag. Mir 
war der Begriff „Raum“ zur lebendigen Anſchauung geworden. Der ganze weite 
Raum, in dem ich zuvor mich hilflos verlor, war jetzt geftaltet, gegliedert. Und 
mehr noch: dieſer ganze weite Raum ſchien bloß des kleinen, eigentlich doch belang- 
loſen Fleckes wegen da, an dem meine Augen ſich feſtſaugten. Die dunkelgrüne 
Hardt links, der blaugraue Jura weit dahinten, die mattgrünen Rebenhügel zur 
Rechten — alles ſchob fih zuſammen wie ungeheure Rahmenleiſten und zwang 
meinen Blick auf den farbenreichen Sehpunkt in der Mitte. Der blaue Himmel 
darüber, der Boden darunter von mir aus bis zur Stelle hin — alles gehörte zu- 
ſammen, bildete eine große Einheit, die beherrſcht war von dem einen Punkt in 
ihr. — Ich muß wohl lange dageſtanden haben, bevor mich ein Zuruf des Mannes 
drüben aufſchreckte. Es wird ein kräftiges Schimpfwort geweſen ſein, denn die 
Sundgäuer ſind nicht eben höflich. Er ſtreckte ſich drüben unter den Strauch, ich 
ſchritt meine Straße weiter, fo im Nachdenken verſunken, daß ich mir faſt zu früh 
im Dorfe anlangte. 

Solche perſönlichen Erlebniſſe darf man der Allgemeinheit erzählen, weil ſie 
uns und andern (ie mögen fih dabei an Ähnliches erinnern) manche Fragen tlar- 
machen, auf die mit äſthetiſchen Auseinanderſetzungen allein nur ſchwer zu ant- 
worten iſt. Mir wurde jedenfalls damals klar, daß ich dieſes Bild anders geſehen 
hatte, als andere Naturbilder oder auch Kunſtwerke. Und feither habe ich es immer 
beglüdend empfunden, wenn ich vor Natur oder Kunſt ein Gleiches wiedererlebte. 
Um eins noch zu erwähnen, ſo war der Eindruck derſelbe, als mir aus Fugen 
3. S. Bachs zum erſten Male bewußt wurde, was Hanslick darunter verſtanden 
haben mag, als er die Muſik „als tönend bewegte Form“ bezeichnete. 

Unfer deutſches Empfinden ift zumeiſt lyriſch-epiſch eingeſtimmt. Wir ſuchen 
in Landſchaftsbildern, wie gegenüber der Landſchaft in der Natur eine Stimmung 
zu gewinnen, die ſich am eheſten in ein lyriſches Gedicht auslöſen könnte. Stehen 
Menſchen darin, ſo ſtellen wir ſie irgendwie zum Leben ein; wir träumen uns 
Schickſale und Situationen. Es liegt mir nichts ferner, als diefe Art der Natur- 
und Bildbetrachtung irgendwie verkleinern zu wollen; ſie iſt ſo alt, wie unſer Volk, 
und hat bei ſeiner Mythengeſtaltung ſich herrlich betätigt. So gewiß ſie einen oft 
recht unkuͤnſtleriſchen Stoffhunger begünſtigt, den Geſchmack an oberflächlichem 
Anekdotenkram und billigem Genre zu einer für die bildende Kunſt verhangnis- 
vollen Macht entwickelt hat, — ſo iſt ſie es doch auch, der wir die hehren Geſichte 
inneren Schauens danken, die zu einer wunderbaren Naturbelebung geführt haben. 

Aber, wir follen darüber nicht vergeſſen, daß es noch andere Seh- und Be- 
trachtungsweiſen der Welt gibt. 

Aber eine derſelben iſt an dieſer Stelle ſchon oft geſprochen worden, weil 
ſie in der neueren Malerei zu beſonderer Macht gelangt iſt und von vielen Leuten 


Storck: Raumtunjt 257 


uns immer als Die Sehweiſe eingeredet wird. Es ift das rein ſinnliche Sehen von 
Farbe und Licht, wie es zumal für die neuere franzöſiſche Malerei maßgebend 
geworden iſt. 

Was mir bei dem oben geſchilderten Erlebniſſe zu teil geworden, hatte mit 
beiden nichts zu tun gehabt. Was der Mann mit ſeinem Geſpann bei den Bäumen 
gewollt hatte, war mir gar nicht in den Sinn gekommen; aber auch nicht mein eige- 
nes Erleben dabei — die Erfriſchung im müden Wandern uſw. Andererſeits waren 
es auch nicht die Farben, noch die Linien der Erſcheinung als ſolcher, die mich ge- 
feſſelt hatten. Nein — es war das Bewußtwerden des Raumes. 
Alles andere hatte dieſem gedient: Farbe, Form und Stellung der Bäume, der 
Tiere und Menſchen — das alles diente dazu, mir den Raum fühlbar zu machen, 
die Fähigkeit zu wecken, dieſen Raum ſo zu geſtalten, daß er faßbar wurde. 

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ak 

Die Anfänge der Kunſtäſthetik bringen die Trennung der Künſte in zeitliche 
und räumliche. Bei den Griechen gewahren wir diefe ebenſogut als Einheit 
wie im Muſenkunſtwerk (Orama) Dichtung, Muſik und Mimik. Man denke, daß 
die Tempel (Architektur) bemalt (Malerei) waren und als Heimftätte der plaſtiſchen 
Götterbilder dienten. Aber dieſe Einheit iſt nur möglich, wenn eine Kunſt vor- 
herrſcht. Im griechiſchen Drama ift die Dichtung die Grundkraft; Mimik und Muſik 
ſind eigentlich nur Ausdrucksmittel der Deklamation. Für die Mimik ergibt ſich das 
aus der Tatſache des Maskentragens. Sobald die einzelnen Künſte alle ihnen inner 
wohnenden Kräfte entwickeln ſollten, mußten ſie ſich trennen. Die Mimik fand 
reiche Betätigung in Tanz und Turnen; die Muſik hat ſich bei den Griechen nicht 
entwickelt. 

Bei den bildenden Künſten der Griechen iſt urſprünglich die Architektur 
maßgebend. Hier ift die raumgeſtaltende Kraft am erſichtlichſten: denn der Archi- 
tekt ſtellt nicht nur die größte künſtleriſche Maſſe in den Raum, ſondern ſchneidet 
ſich auch noch ein Stück dieſes Raumes heraus, das er mit Mauern umkleidet, 
mit dem er nun nach Belieben ſchalten kann. Soweit Plaſtik und Malerei von 
der Architektur zur Mithilfe herangezogen wurden, haben auch diefe Rünfte in allen 
günftigen Kunſtperioden niemals dieſe Aufgabe der Raumgeſtaltung außer acht 
gelaffen; umgekehrt zeigt fih der Tiefſtand dieſes Raumempfindens in der Tat- 
ſache, daß es Plaſtik und Malerei nicht bewußt bleibt, daß ſie in Verbindung mit der 
Architektur andere Aufgaben zu erfüllen haben, alſo auch andersartig ſein müſſen, 
als wenn fie für fih ſtehen. Wir haben gerade in Oeutſchland in den letzten Jahr- 
zehnten ſchwer unter dieſem Tiefſtand gelitten, dem erſt ſeit wenigen Jahren be- 
wußt — oft allzu verſtandesmäßig — entgegengearbeitet wird. 

Aber nur Einſeitigkeit kann es tadeln, daß die Entwicklung der einzelnen Künſte 
ihre eigenen Wege gegangen iſt. Bei den Griechen behält wenigſtens in der klaſſiſchen 
Zeit die Plaſtik das ſtarke Gefühl für Raumwirkung; das Streben nach Charatte- 
tiftit, nach ſeeliſchem Ausdruck gerät ſchon in die Verfallzeit. Der Malerei ift es 
ahnlich ergangen, wie der Muſik: Sie gedieh nur, inſoweit ſie der Grundkunſt 
diente. Aber fo wenig ein Einſichtiger die Herrlichkeit der Inſtrumentalmuſik ver- 
kennen kann, ſo wenig ſollte er daran Anſtoß nehmen, daß die Malerei zeitweilig 

Der Türmer XI, 8 17 


258 Storck: Naumtunft 


ganz anderen Zielen nachging, wenngleich fie darob die Fähigkeit großer Monu- 
mentalität einbigte. 

| Der Neuzeit ift für die redenden Künſte wieder eine einigende Kraft ent- 
ftanden in Richard Wagner. Den bildenden Künſten ift dieſer Allkünſtler noch nicht 
geworden. Vielleicht wäre unter günſtigeren Verhältniſſen Arnold Böcklin 
dazu berufen geweſen. 

In jenen kunſtſchriftſtelleriſchen Kreiſen, denen es darauf ankommt, ſtets 
neue Moden zu machen (oder mitzumachen), ijt es heute arg verpönt, fih zu Böcklin 
zu bekennen. Gerade die großen Marses-Ausſtellungen haben wieder zu den 
ſeltſamſten Bockſprüngen einer immer durch „Neuheit“ verblüffen wollenden Runit- 
kritit Anlaß gegeben. Das ſoll uns in der Bewunderung und Liebe für die ungeheure 
Kraft und die überreiche Perſönlichkeit des Schweizers nicht beirren. Böcklin hatte 
zunächſt die vielſeitige Begabung als Architekt, Plaſtiker und Maler (auch als Tech- 
niter); er beſaß praktiſchen Sinn und unerſchöpfliche Phantaſie. Daß er ein ganz 
großartiges Raumgefühl beſaß, kann nur Blindheit feinen Werken gegenüber ver- 
kennen; daß er die geiſtige Einſicht in die Probleme der Raumbehandlung hatte, 
bezeugen die Ausſprüche, die Floerke, Schick und Laſius überliefert haben. 
| Aber die Umftände liegen Bödlin nicht zur Löfung monumentaler Aufgaben 
gelangen. Es gibt Leute, die ihm einen Vorwurf daraus machen, daß er ſich nicht 
auf dem Wege nach dieſer Monumentalkunſt verrannt hat, auf die Gefahr hin, 
ebenſowenig jemals ein Endgültiges fertig zu bringen wie Maré es. Derartige 
theoretiſche Anmaßungen würden als Läſterung wirken, wenn ſie nicht angeſichts 
des Herrlichen, was wir von Böcklin haben, an ihrer Dummheit erſtickten. Kaum 
einer der verſchrienſten Wagnerianer war ſo beſchränkt, Bach und Beethoven 
Vorwürfe daraus zu machen, daß ſie keine Muſikdramen geſchaffen haben. Gerade 
weil Böcklin eine fo wunderbar ſchöpferiſch ee Natur war, mußte er einen 
anderen Weg zu deren Betätigung finden. um, wie Marses, zwei Zahrzehnte 
lang bloß zu experimentieren, dazu gehört eine ganz andere Natur. Nichts liegt 
mir ferner, als eine ſolche Natur herabzuſetzen; ſie kann ſogar für die Entwicklung 
als Wegweiſer bedeutſamer werden. Über die Erfüllung geht eben keine weitere 
Entwicklung, wie wir ja auch beim Muſikdrama Wagners erfahren. Da müſſen 
wieder andere Wege eingeſchlagen werden. Aber wird die Erfüllung dadurch 
minder wertvoll, weniger ſchön? Fit nicht auch Michelangelo ein Ende, und was 
ihn fortzuſetzen ſuchte, unerquicklich? ! Auch er war ein Univerfalgente, war Raum- 
künſtler im höchſten Sinne. 

Aber wenn den bildenden Künſten noch nicht der Allkünſtler erſtanden iſt, 
ſo doch jeder einzelnen von ihnen Männer, die innerhalb der einzelnen Kunſt für 
ſie allein ihren urſprünglichen Charakter als Raumkunſt herausarbeiteten. Am 
uͤberzeugendſten und in den Ergebniſſen erfreulichſten hat es Adolf Hildebrand 
für die Plaſtik vollbracht. In der Architektur erſtanden ganze Richtungen, die ledig- 
lich mit den Mitteln der Architektur (allenfalls unter Ausnutzung der Natur farben 
ihres Materials) die Aufgaben zu bewältigen ſtrebten. Hier liegt die Bedeutung 
mancher Werke Olbrichs, aber au: die u Kraft geringerer Talente wie 
van de Veldes. 


Stor RNaumkunſt 259 


Der Malerei aber wies den Weg zurück zu ihrer Urkraft gans von Ma- 
r E es. Entwicklungsgang und Geſamtſchaffen des Künſtlers werden hier in be- 
ſonderem Zuſammenhange geſchildert werden. Heute kam es mir darauf an, die 
Stellung ſeiner Runft im Geſamtgebiete zu erkennen. So mögen hier nur noch 
die Ausführungen folgen, die A. Hildebrand „zum Verſtändnis der Maröesſchen 
Kunſt“ gegeben hat. Sie werden dem einzelnen den Weg zu dieſen zunächſt felt- 
ſam berührenden Werken leichter finden helfen. 

„Die Farbenprobleme der Malerei haben mehr und mehr zu einer einfeiti- 
gen Entwicklung des Bildes geführt. Die Farbenerſcheinung wird, losgelöſt vom 
Gegenſtändlichen, zum Ausgangspunkt für das Bild, und die fo gegebenen Farben- 
flecken der Geſamterſcheinung werden dann erft in gegenſtändliche Form um- 
gewandelt. Die Natur ift dabei nur als Farbenexiſtenz aufgefaßt und ihre Form- 
exiſtenz nur inſoweit in Betracht gezogen, als man ihrer überhaupt nicht entraten 
kann, da nun einmal Raum und Form von der Natur gegeben ſind. Farbenleben 
und Tonwerte ſind die beherrſchenden Mächte, alles andere tritt in den Hintergrund, 
aller bindende Zuſammenhang wird in der Farbe allein geſucht, hier allein liegen 
die künſtleriſchen Probleme gegenüber der Natur, ihr Studium. 

So ausgeſprochen Marées’ koloriſtiſcher Sinn war, fab er doch die Einfeitig- 
keit dieſer Auffaſſung der Malerei ein und empfand die große Lücke, die ſie der 
Natur gegenüber läßt. Die Natur ſtand ihm in ihrem direkten räumlichen und 
Formendaſein ſo ſtark vor Augen, daß er hier ein Problem ſah, welches ſich durch 
feine bisherigen Malerfahrungen allein nicht löſen ließ. Der unmittelbare ein- 
dringliche Eindruck des gegenſtändlichen Vorhandenſeins der Natur mußte noch 
auf etwas anderem beruhen als nur auf den ſubtilen Unterſchieden der Tonwerte. 
Wenn vielfach die Formenwelt eine einſeitige Entwicklung erlebt hatte, wobei 
die Farbe das Stiefkind blieb, fo mußte es fidh jetzt darum handeln, das Geheim- 
nis des räumlichen und Formenzuſammenhanges in der Natur wieder zu ent- 
decken, das von der Farbenwelt mit produziert wird und den direkten Natureindruck 
in ſeinem Geſamtwert hervorruft. Es handelte ſich alſo nicht um eine mehr oder 
minder glückliche Verbindung von Form und Farbe, um eine ſogenannte Boll- 
endung des Getrennten nach beiden Seiten hin, ſondern um das beiden Gemein- 
ſame, um einen Bildaufbau, der beides als eines gibt, wie in der Natur. Dieſes 
Gemeinſame erkannte Marses in der Bildkonſtellation. Die Gegenſtände der 
Natur mußten ſo zuſammen ſtehen, daß in ihrer Anordnung ſchon alle Bedingungen 
für die eindringlichſte Wirkung als Form- und Farbenexiſtenz gegeben find. Die 
Konſtellation der Naturgegenſtände iſt der Kern, der Ausgangspunkt der letzten 
Geſamtwirkung. Wir ſehen, wie Marées dabei auf die primitivften Naturgegen- 
ſtände zurückgreift: der menſchliche Körper, das Pferd, der Baum, der Boden, 
das Waſſer, der Himmel ſind faſt durchgängig die einzige Gegenſtandswelt, mit 
der er ſeine Bilder aufbaut, das einzige Was; wie er fie aber gegenüberſtellt, an- 
ordnet — darin liegt ſeine große Kunſt — das Wie. 

Sleine Bilder find immer neue Konſtellationen, immer neue Refultate fei- 
ner Einſicht in die Geheimniſſe der künſtleriſchen Anordnung. Je größer die Trag- 
weite der Konſtellation für die Wirkung, deſto entbehrlicher werden alle Details. 


D 


260 Alfred Meffel 


Die Vollendung des Bildes ift ſchon in der Anordnung gegeben, die fogenannte 
Ausführung würde nichts Weſentliches dazu beitragen. Es iſt dies derſelbe Fall 
wie bei den angehauenen Figuren Michelangelos. In Marées’ Bildern ſtehen die 
Gegenſtände immer plaſtiſch im Raum, das Auge fühlt ſtets die kubiſche Tiefe, 
mehr als bei den meiſten anderen Malern — aber es bleibt eine Tiefe der Zllufion, 
des inneren Auges — das Bild macht kein Loch in der Wand, täuſcht nicht das 
wirkliche Auge. 

Die Überſchneidungen, die Größenkontraſte, die Zuſammenfügungen der 
Pläne und Richtungen uſw. ſind mit ſolcher Weisheit und mit ſolcher Einſicht für 
die Tragweite ihrer Illuſionskraft benutzt, daß nichts im Bilde gegeben iſt, was 
bedeutungslos bliebe und nicht von ſchlagender Mitwirkung für das Ganze wäre. 
Nirgends iſt ein bloßes Füllſel, alles iſt notwendig. Die Okonomie der Mittel wächſt 
mehr und mehr mit der Prägnanz ihrer Verwertung. Hier iſt eine Fundgrube der 
künſtleriſchen Erfahrung, aus der jeder unendlich viel lernen kann, und die für die 
Weiterentwicklung der Malerei von unermeßlichem Wert iſt.“ 


r 


Alfred Meſſel 


it ofred Meffel ift der volkstümlichſte Architekt Berlins geſtorben; vielleicht der 
N einzige volkstümliche, denn der Stadtbaumeiſter Ludwig Hoffmann, Meſſels 
X beſter Freund, ift erft auf dem Wege dazu, es gu werden. Es ijt aber überhaupt 
Jahrzehnte her, daß in Oeutſchland ein Architekt volkstümlich wurde und dies hat feinen Grund 
darin, daß Meſſel als erſter wieder einen Bau erſtellte, der dem Volke als eine „Erfüllung“ 
eines ihm eigenen Bedürfens erſchien, der zu ihm eine eigene, ſofort verſtändliche Sprache 
redete. Dieſer Bau war das Warenhaus Wertheim in der Leipziger Straße. 

Daß mit der Zuſammenklitterung „ſtilechter“ Faſſaden nach berühmten Muſtern für 
die heutigen Handelsbedürfniffe nichts zu machen fei, hatte man foon länger gefühlt. Oft 
war die Meinung laut geworden, daß hier der Ingenieur mit ſeinem Glas- und Eiſenbau zur 
Ablöſung des Architekten berufen fei. Zegt ſtand mit einem Male die architektoniſche Löſung 
des Problems vor den erſtaunten Augen. Dieſe Faſſade war von einer neuen Monumentalitat 
mit ihren aufwärts ſtrebenden Pfeilern, der völligen Vermeidung horizontaler Schwergewichts⸗ 
linien. Diefe Faſſade aber war obendrein — das fühlte jeder ſofort — außerordentlich praktiſch. 
Wie frei flutete das Licht durch die Rieſenſcheiben in die dahinter liegenden Warenräume! 
Dieſe Faſſade war auch ſchön. Schön in ihrer ſtolzen Einfachheit. Wie ſtach diefe ab von dem 
Abermaß des billigen Schmuckes der Putzarchitettur. Dafür aber ſah man auf einmal die Schön- 
heit des verarbeiteten Materials, erkannte, daß, was an Schmuck verwertet worden, nicht land- 
läufige Maſſenware, fondem echte Küͤnſtlerarbeit war. 

Das freudige Erſtaunen wuchs noch, als man das Innere betrat und gewahr wurde, 
daß die herrliche Faſſade nur die natürliche Umkleidung eines ebenſo großzügig geftalteten 
Innenraumes war. Man hatte endlich wieder einmal das Gefühl eines Bauens von innen 
nach außen. Faſt von ſelbſt ſtellte ſich das Wort von der Zweckarchitektur ein, das dann bei 
Meſſels zahlreichen weiteren Bauten (Landesverſicherungsanſtalt, Lettehaus, Clettrizitats- 
gebäude, Berliner Handelsgeſellſchaft, Schultes Kunſthandlung, zahlreiche Privathäuſer) immer 


Neue Bücher 261 


wiederholt wurde. Gewiß Zweckarchitektur, inſofern der leitende Baugedanke nicht mehr ver- 
ſteckt, vielmehr für die Raumgliederung maßgebend wurde. Aber doch niemals im Sinne von 
Nüchternheit. Es lebte in Meſſel ein ſtarker Schönheitsſinn und eine tiefe Sehnſucht nach freiem 
küͤnſtleriſchen Schaffen. Der Architekt wird nur felten Aufgaben finden, wo er ohne Rüdficht 
auf praktiſche Bedürfniffe bauen kann; denn wo diefe verletzt werden, ift ein inneres Grundgeſetz 
kuͤnſtleriſcher Architektur verletzt. Aber Meſſel fand einen Weg, feinem Schönheitsbedürfnis 
Genüge zu tun, indem er Farbe und Stoff des Materials zur Erhöhung der Raumgliederung, 
ja oft als deren entſcheidende Kraft ausnutzte. Wer die rieſigen Fortſchritte ermeſſen will, die 
der immer ſtrebende Rünftler auf dieſem Gebiete gemacht hat, vergleiche den Erweiterungsbau 
des Warenhauſes Wertheim mit dem urſprünglichen Teile. Wie hier in dem rieſigen, 700 Ge- 
viertmeter ohne alle Säulenunterbrechung überſpannenden Lichthof die beiden Bronzebruͤcken 
den Raum gliedern; wie hier überhaupt die Naturfarbe des Materials raumbildend verwendet 
wurde, das war neu und iſt dauernd ſchön. 

Meſſel ift nur 55 Jahre alt geworden und hat feine große Aufgabe, die Berliner Muſeums- 
inſel auszubauen, nicht mehr erfüllen können. Aber feine große kunſtgeſchichtliche Bedeutung 
ſteht trotzdem feft, als Bahnbrecher einer neuzeitlichen monumentalen Architektur. St. 


Sar 
Nene Bücher 


Die Schutzhütten und Anterkunftshäuſer in den Oftalpen. Heraus- 
gegeben von der Sektion Wien des Oeutſchen und Sſterreichiſchen 
Alpenvereins. (Kunſtanſtalt Staengl & Ko., Dresden.) 

Die genannte Sektion des Alpenvereins hat fidh die Aufgabe geftellt, in prachtvoller Aus- 
ſtattung dieſes hervorragende alpiniſtiſche Werk herauszugeben, das allen Freunden der Ge- 
birgswelt willkommen ſein wird. Die Hütten und Unterkunftshäuſer ſind in den Alpen zumeiſt 
an Stellen untergebracht, die man mit einem etwas fernliegenden Vergleiche den Peripetie- 
punkten des Dramas vergleichen könnte. Bis zu ihnen gelangt in der Regel auch der nicht ein- 
geübte Wanderer, wenn er geſund iſt und über eine gewiſſe Ausdauer verfügt. Aber auch in 
rein landſchaftlicher Hinſicht ſtehen ſie zumeiſt an jenen Stellen, von denen aus der ſchroffſte 
und unzugänglichſte Teil der Hochgebirgswelt als Geſamtbild ſichtbar wird. Ich betone das, 
weil der Titel ſonſt leicht die Meinung erwecken kann, als ſei die Wiedergabe dieſer ja in der 
Regel an ſich recht wenig feſſelnden Bauten die Hauptſache. Wir haben es aber hier mit ganz 
meiſterhaften Hochgebirgsphotographien zu tun, von denen einige geradezu Bildwirkung er- 
reichen, um ſo mehr, als die Wiedergabe im Lichtdruckverfahren ſehr ſorgfältig iſt. Das Werk 
wird 420 Abbildungen in einem febr großen Quartformat umfaſſen und erſcheint in 42 vierzehn- 
tägigen Lieferungen zu A 1.50, jo daß das einzelne Blatt auf den ſehr billigen Preis von 15 A 
zu ſtehen kommt. Nach Abſchluß der Subſkription wird der Preis allerdings weſentlich erhöht. 
Wenn es noch möglich wäre, daß dem Werke ein Textband beigegeben würde, ſo würde ſich der 
Reiz des Ganzen vor allem für jenen, der nicht gerade viele dieſer Hütten aus eigener Anfchau- 
ung kennt, ganz weſentlich erhöhen. Wenigſtens ſollte man eine jeweils in zehn bis fünfzehn 
Zeilen zu gebende Charakteriſtit der Eigenart des betreffenden Panoramas noch folgen laffen. 
Dieſer Wunſch entſpringt nur dem Verlangen, die prachtvolle Bilderſammlung möͤglichſt ver- 


breitet zu ſehen. 


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Gaſſenhauer und Tanzlied | 


Rudolph Vogel 


in Aufſatz über den Gaſſenhauer, den ich vor einiger Zeit im Türmer 
las, weckt mir die Erinnerung an einen der liebenswürdigſten Zweige 
vaterländiſcher Volkskunſt, deffen verwilderter Schößling der Gajfen- 


Die drei Künſte, deren gemeinſames Lebenselement der Rhythmus, d. h. 
die wohlgefällige (äſthetiſche), in allen ihren Teilen geordnete und zufammen- 
ſtimmende Bewegung ift, nämlich der Tanz, die Muſik und die Oichtkunſt, bildeten 
von allem Anbeginn eine unlösliche Oreieinigkeit. So ift es noch bei allen Natur- 
völkern, fo war es in höchſter Ausbildung bei dem kunſtſinnigſten Volke der Welt- 
geſchichte, bei den Griechen. Ich nenne den Tanz, unter dem urſprünglich jede 
von Empfindung geleitete, wohlgeordnete Bewegung verſtanden wird, an erſter 
Stelle, weil er dieſer Dreieinigkeit Schöpfer und Meiſter ift. Er übertrug den 
Rhythmus auf das Reich der Töne und der Worte, machte fie ſich untertänig und 
ſchlang das einigende Band um die drei Grazien: zum Reigen gekettet zeigt ſie 
uns der Meißel Canovas. Die meiſten und wichtigſten Kunſtausdrücke der Muſik 
und Metrik ſind dem Tanze entlehnt. | 

Wie jo manchem großen Schöpfer und Meifter, fo hat auch dem Tanze die 
Kulturmenſchheit mit ſchnödem Undank gelohnt. Daß der Römer den Satz auf- 
ſtellte, nur ein Unfinniger tanze, wenn er nicht etwa betrunken fei (nemo saltat 
sobrius nisi qui insanit), wäre ſchließlich zu begreifen; denn an der Wiege der Römer 
ſind die Muſen und Grazien mit Achſelzucken vorübergegangen. Daß aber der 
Deutſche, der unbeſtrittene Nebenbuhler der Hellenen im Reiche der Töne und 
des beſchwingten Wortes, feines älteſten und größten Kapellmeiſters und Bed- 
meſſers vergaß und den Tanz aus dem Gebiete der ſchönen Künſte kurzerhand 
auswies — das iſt eine Meintat, die ſich, wie jede Meintat, empfindlich gerächt hat. 
Anſer rhythmiſches Empfinden ift in geradezu kläglichem Rückgang: es verkünſtelt, 


Vogel: Gaſſenhauer und Tanzlied 263 


es entartet, und ſchließlich ſchwindet's. Am frühſten fant der herrliche Bau unfe- 
rer völkiſchen Verskunſt in Trümmer. Wo ift der wuchtige Tritt der Nibelungen- 
ſtrophe, wo der zierliche Schwung der Waltherſchen Lieder geblieben? Der deutſche 
Banauſe Opitz verſcharrte den Reſt und er erwarb ſich noch ein Verdienſt, daß er 
im Schutte ungedeihliches griechiſch- römiſches Gleichmaß aufrichtete. Das klaſſiſche 
Versmaß gab dem deutſchen den el, Heute lieft der gebildete Deutſche das 


Volksliedchen ; , 
Ach, wie wärs möglich dann, 


DAB ich dich laſſen kann! 


als hätte er vier ſchlechte Oaktylen vor fih; erft wenn er es ſingt, beginnt er zu mer- 
ken, daß er ein altes deutſches Reimpaar von je vier Hebungen vı vor ſich hat; denn 
die Weiſe taktiert ganz richtig und ſinngemäß: 


Ach, wie wär's möglich dänn, 
Däß ich dich läſſen tánn! 


Von der ſogenannten „modernen“ Lyrit will ich lieber nicht reden: vor 
dieſem wüſten Getrampel unmöglicher Versfüße verhüllt Terpſichore, die Tanz- 
freudige, weinend ihr Haupt. 

Die Muſik hat fih Terpſichores mächtigen Schutz länger zu wahren gewußt. 
Zwar ſchwindet auch ihr bald der anmutige, rhythmiſche Wechſeltakt des alten deut- 
ſchen Sanges, der, zwiſchen zwei und drei ſchwankend, ſich heute mit den üblichen 
muſikaliſchen Zeichen ſchlechterdings nicht wiedergeben läßt (vgl. Franz M. Böhme, 
Deutſches Liederbuch, Leipzig, in der Einleitung); aber was fie an Gefdmeidig- 
keit vielleicht verlor, gewann fie an Feſtigkeit, indem fie ſich, ihrer Würde unbe- 
ſchadet, an eine Reihe wohlgebildeter alter Tanzformen anſchloß. Die großen 
Meiſter der Kontrapunktik komponierten Tänze, wenn es auch keine Volkstänze 
waren und wurden, und ſicherten ſich damit eine Geſchloſſenheit des rhythmiſchen 
Aufbaus, welche die „moderne“ Muſik leider nur zu ſehr vermiſſen läßt, ſeit durch 
Vagner das dramatiſche Element auch für die Form ausſchlaggebend wurde. Mag 
man das nun bewundern oder beklagen: ſicher iſt, daß die Reinheit und Schärfe 
unſeres rhythmiſchen Empfindens dadurch erheblich getrübt iſt. 

Das Volk — und darunter ſind hier reichlich neun Zehntel der geſamten 
Nation zu verſtehen — hat dieſen Entwicklungsgang, deſſen Bedeutung für die 
Freiheit der künſtleriſchen Ausdrucksweiſe ich natürlich keineswegs unterſchätze, 
nicht mitgemacht; es hat fih fein rhythmiſches Gefühl im ganzen und großen be- 
wahrt. Aber auch hier hat fidh die künſtleriſch-äſthetiſche Unterfchägung des Tanzes 
ſchwer gerächt. Der Tanz als die Kunſt vollendet anmutiger Bewegung iſt uns 
abhanden gekommen und feiert nur noch in der Geſtalt exotiſcher Tanzvirtuoſin- 
nen und in der Operette oft recht fragwürdige Triumphe. Er ift zum Tanz- 
vergnügen, zu einem minderwertigen Beſtandteil der geſelligen Unterhaltung 
herabgeſunken. Der Geſang des Volkes hat ſich vom Tanze losgeſagt; und die 
Muſik, welche in Treuen bei ihm ausharrte, ward zur „Tanzmuſik“, der Muſiker 
zum „Muſikanten“. Man hat aufgehört, tanzend zu ſingen, ſingend zu tanzen, 
wie es unſere Kinder noch als etwas Selbſtverſtändliches auf der Straße tun. 


264 Vogel: Gaſſenhauer und Tanzlied 


Darüber gingen uns unſere alten Tanzlieder verloren, die Chorgeſänge (von 
choros = Reigen), Einzel-, Vechſel- und Wettgefänge der früheren Tanzſpiele 
verhallten, und nur wenige Trutz und Kinderliedchen haben fih in das lebendige 
Volksbewußtſein der Gegenwart herübergerettet, als letzte, kränkelnde Zweige 
eines einſt üppig grünenden Baumes. 

Und doch ſchreit die Seele unſeres tanzfreudigen Volkes nach dem verlorenen 
Schatze ſeines Tanzliedes. Es iſt ein rührendes Schauſpiel zu ſehen, wie ſich Webers 
Tanzliedchen „Wir winden dir den Jungfernkranz“ das Herz des ganzen Volkes 
im Sturme eroberte, fo daß Onkel Bräſig ganz entrüſtet ift, es im Berliner Opern- 
haufe zu hören. Aber mit verſchwindenden, durchaus nicht immer glücklichen Aus- 
nahmen find die Berufenen der Kunſt dieſem lebhaften Bedürfniſſe der Volks- 
ſeele nicht nachgekommen. 

Trotzdem will nun einmal das Volk ſangbare Tänze haben, und in der Not 
frißt der Teufel Fliegen. So bekam die roheſte, blödſinnigſte und unflätigſte Form 
des Tanzliedes, der Gaſſenhauer, die Oberhand, und man fang und tanzte Schuntel- 
und Pflaumenwalzer e tutti quanti, von denen der Aufſatz des „Türmers“ zu be- 
richten weiß. Ihr prickelnder Reiz, dem fih auch Verſtändige nicht entziehen tön- 
nen, beruht auf dem in jeder, auch der ſinnloſeſten Weiſe hergeſtellten Zufammen- 
klappen des lyriſchen und muſikaliſchen Rhythmus mit dem Tanzrhythmus, iſt alſo 
ausſchließlich rhythmiſcher Natur. Wer Lieder zum Tanze ſingen gehört hat, wie 


„Auf dem Baume, da hängt 'ne Pflaume“, 
oder: 

„Iſt denn kein Stuhl da für meine H ül da 

ant denn kein Herr da für meine Bertha?“ 


kann darüber gar nicht im Zweifel ſein. Dieſer weſentlichen Aufgabe dienen alle 
formalen Mittel: Versmaß, Stabreim, Binnen- und Endreim, Kehrreim, Gleich- 
klang, Wiederholung bedeutſamer Worte. Das berüchtigte Lied von der „Male“ 
verdankt feinen durchſchlagenden Erfolg ausſchließlich der Wiederholung des Wor- 
tes „Male“ an rhythmiſch ſcharf betonter Stelle. 

Das zeigt würdigerer Kunſt den Weg. Noch ift uns außer den Neigenliedchen 
unferer Rinder eine einfache, aber kräftig wirkende Form des Tanzliedes geblie- 
ben, das iſt das Marſchlied; denn der Marſch iſt als lebhafte, rhythmiſch geordnete 
Bewegung ein Tanz, und noch dazu ein altehrwürdiger, der für alle kriegeriſchen 
Nationen von größter Bedeutung geweſen iſt. Die Spartaner holten ſich einen 
Dichter aus Athen, daß er ihre Jugend Marſchlieder lehre: fo möchte ich den Deut- 
Iden einen Tanzdichter wünſchen, welcher Dichtkunſt, Tonkunſt und Tanzkunſt 
wieder zu einem harmoniſchen Ganzen verbände und damit dem Gaſſenhauer 
Trotz böte. Freilich, nicht alles, was ſich dichten läßt, läßt ſich ſingen, nicht alles, 
was fich fingen läßt, tanzen und umgekehrt; aber was fic) an alten, längſt verjcholle- 
nen Tanzliedern in unſern gedruckten Sammlungen findet, zeigt uns, wie reich un- 
ſerm Volke auch hier der dichteriſche Brunnquell ſprudelt. Ich greife die erſte 
Zeile eines Tanzliedchens heraus, nach dem ich ſelbſt noch als Rind Rhein län- 
der tanzen gelernt habe, und will verſuchen, fie zu einem jener anmutigen Ned- 


Vom Knaben Mozart 25 


liedchen auszubauen, die früher allerorten beim Tanz beliebt waren. Der Leſer 
mag eine paſſende Tanzweiſe dazu mitſummen. Einige geſetzte Akzente mögen 
nachhelfen. 

Chor: 


Mädel wifd dich, ëmm dich, pith dich fein, 
Der Freier ſteht vorm Fenſterlein. , 
Zieh den Vorhang für — ſchließ db die Tür, 

Sonſt fhdut der Schelm herein! 

Traue nicht der Buben Trug und Liſt! 
Laß keinen ſehn, wie ſchön du biſt: 
Wer zu früh ohne Müh' fein Mägdlein küßt, 
Vergißt zuletzt das Frei'n. 


Sie: 


Der Freier ſchleicht den ganzen Tag 
Wie das Füͤchslein um den Taubenſchlag: 
Bald lauſcht er vor dem Gartentor, 

Bald hockt er hinterm Hag. 

Liebes Füchslein, biſt ein arger Wicht! 
Ich ſag' dir's in dein falſch Geſicht: 
Das Füchslein fängt ſein Täublein nicht, 

Weil es kein Füͤchslein mag. 


Er: 
Wenn fie mich nicht mag, fo laff’ ſie's fein; 
Sch kann wohl manche andre frein. 
Mit der Zeit kommt Leid und bittre Rew’; 
Bald giebt es neuen Wein: 
Wenn das Träublein blinkt, wenn der Zauchzer klingt, 
Wenn der Spund vom vollen Faſſe ſpringt, 
Wenn der Burſch im Tanz ſein Mägdlein ſchwingt, 
Dann wird's dich ſchon gereun! 


Ka 


Vom Knaben Mozart 
D dm 3. Zuli 1763 begaben fid der erzbiſchöflich ſalzburgiſche Hofkapellmeiſter Leopold 


Ly N Mozart nebſt Frau mit ihren beiden Rindern, der zwölfjährigen Marianne und dem 

iiebeneinhalbjährigen Wolfgang, auf eine für reichlich drei Jahre berechnete Runit- 
reiſe. Die großen Erfolge, die den Kindern zuvor in München und Wien zuteil geworden, gaben 
dem Vater den Gedanken ein, daß es ihm vielleicht gelingen könnte, jetzt, wo die „Naturwunder“ 
als Senſation wirkten, für fie fo viel zu erwerben, daß ihnen die Zukunft leicht fein würde. 
Konnten auch bei den damaligen Verhältniſſen für andere als Sangesvirtuoſen keine ſolchen 
Gelderfolge erzielt werden wie heute, fo hat Vater Mozart doch nach dreieinhalbjähriger Reife 
trotz vieler Unfälle und Krankheiten ein erkleckliches Sümmchen mit heimgebracht, das freilich 
fpäter vorzeitig aufgezehrt wurde. 


266 Vom Rnaben Mozart 


Die beiden Hauptſtationen der Reiſe waren Paris und London. Der Aufenthalt in der 
letzteren Stadt vom 22. April 1764 bis zum 24. Juli 1765 ſteht in Mozarts Lebensgeſchichte um 
ſo bedeutſamer, als ſich ſeine Kompoſitionstätigkeit hier ganz hervorragend entfaltete. Durch die 
Veröffentlichung eines Notenbuches des kleinen Wolfgang ſind wir das zu beurteilen jetzt beſſer 
inſtand geſetzt als früher. 

Das erſte Auftreten in London war denkbar erfolgreich. Der König Georg III., ein 
leidenſchaftlicher Verehrer Händels, und die Königin Sophie Charlotte waren im beſten Sinne 
muſikaliſch und vor allem deutſchen Künſtlern zugetan. Schon fünf Tage nach ihrer Ankunft 
konnten Mozarts bei Hofe erſcheinen, und der Vater berichtet frohlockend an ſeinen Salzburger 
Freund Hagenauer: „Die uns von beiden hohen Perſonen bezeugte Gnade ift unbeſchreiblich; 
ihr freundſchaftliches Weſen ließ uns gar nicht denken, daß es der König und die Königin von 
England wären. Man hat uns an allen Höfen noch außerordentlich höflich begegnet, allein 
was wir hier erfahren haben, übertrifft alles andere.“ Der König war muſikaliſch genug, um 
vor allem des Knaben einzigartige Anlagen beurteilen zu können: „Oer König hat ihm nicht nur 
Stucke von Wagenſeil, ſondern auch von Bach, Abel und Händel vorgelegt: alles hat er prima 
vista weggeſpielt. Er hat auf des Königs Orgel ſo geſpielt, daß alle ſein Orgelſpiel weit höher 
als fein Klavierſpiel ſchätzten. Dann hat er der Königin eine Arie, die fie fang, und einem Flau- 
traverſiſten ein Solo akkompagniert. Endlich hat er die Violinſtimmen der Händelſchen Arien, 
die von ungefähr dalagen, hergenommen und über den glatten Baß die ſchönſte Melodie ge- 
ſpielt, fo daß alles in das höchſte Erſtaunen geriet.“ 

Oer Erfolg bei Hofe verfehlte ſeine Wirkung nicht. Das erſte Auftreten des „Wunders 
der Natur“ vor der breiten Öffentlichkeit — am 5. Juni 1764 — wirkte als Genfation und er- 
brachte einen Reinertrag von über 100 Guineen. Freilich blieb auch hier der Erfolg nur fo lange 
treu, wie die Kinder als Senſation wirkten. Nachher mußte der Vater, um überhaupt noch Be- 
ſucher anguloden, zu einer Ankündigungsweiſe greifen, die auf uns heute faſt „barnummäßig“ 
wirkt, damals allerdings nicht ungewöhnlich war. So heißt es unterm 11. Zuli 1765 im „Publ. 
Advertiser“: „Oer Vater des Wunders! (Wolfgangs), auf den Wunſch mehrerer Damen und 
Herren veranlaßt, feine Abreiſe von England auf febr kurze Zeit zu verſchieben, wird hiermit 
Gelegenheit geben, dieſen kleinen Romponiften und feine Schweſter, deren beider muſikaliſche 
Kenntniſſe keiner Verteidigung bedürfen, zu hören. Sie ſpielen jeden Tag der Woche von 
12 bis 3 Uhr im großen Saal zum Schwan und Reifen, Cornhill. Eintritt jede Perſon 
2 Sch. 6 p. Die zwei Kinder werden auch zu vier Händen zugleich auf ein und demſelben 
Aavier ſpielen und dasſelbe mit einem Handtuch bedecken, fo daß fie die Gallen nicht ſehen 
können.“ 

Es iſt leicht begreiflich, daß das breite Publikum nicht einſah, daß es in Wolfgang Mozart 
nicht einem beliebigen Wunderkinde, ſondern dem größten Wunder, von dem je die Geſchichte 
der Rünfte zu berichten hatte, gegenüberſtand. Denn dieſes Wunderbare lag nicht in den erftaun- 
lichen techniſchen Fähigkeiten, ſondern in der beiſpiellos frühen Entfaltung der tonſchöpferiſchen 
Kraft. Oder zuallermeiſt fogar darin, daß das alles nicht durch eine künftliche Treibhauskultur 
großgezogen, ſondern nur das ſorgſam behütete Sichausleben einer einzigartigen Natur war. 
Dak dieſe in ihren wertvollſten Kräften durch die Reifen, das öffentliche Auftreten, die viel- 
fachen geſelligen Verpflichtungen nicht geſtört und gehemmt wurde, erſcheint ganz unbegreif- 
lich. Der Knabe wuchs und wuchs, und jegliches Erleben ſchlug ihm kuͤnſtleriſch zum Wohle 
aus. Das konnte freilich nur ſein großartiger Erzieher, der Vater, beurteilen: „Es überſteigt 
alle Einbildungskraft“, ſchreibt er in ehrfuͤrchtigem Staunen vor dem ihm nach ſeiner Auffaſſung 
von Gott anvertrauten Wunder. „Das, was er gewußt hat, als wir Salzburg verließen, ift 
ein purer Schatten gegen das, was er jetzt weiß.“ Und dann wieder: „Mit kurzem, wer es nicht 
ſieht und hört, kann es nicht glauben. Sie ſelbſt, alle in Salzburg wiſſen nichts davon, denn die 
Sache iſt nun etwas ganz anderes.“ 


Bom Knaben Mozart i 267 


Man hat oft auf die häufigen Krankheiten Mozarts im Rnabenalter und feinen frühen 
Tod hingewieſen und darin eine Folge der Überanſtrengungen geſehen, denen er in der Rind- 
heit ausgeſetzt worden. Selbſt wenn ein Zuſammenhang zwiſchen dieſen Tatſachen beſtehen 
ſollte, beſteht die Anklage in dieſer Form nicht zu Recht. Die Erziehung ſeines Vaters hat nur 
dafuͤr geſorgt, daß die Betätigung nicht in falſche Bahnen geriet; irgendwie angetrieben iſt Mozart 
nicht worden. Die geiſtigen und ſeeliſchen Gaben, die in ihn geſenkt waren, verlangten mit ſolcher 
Gewalt nach Betätigung, daß auch ſchwere Krankheit den Knaben, wie fpdter den Mann, nicht 
am Komponieren hindern konnte. So kann man höchſtens ſagen, daß das Gefäß, in dem dieſer 
Geiſt eingeſchloſſen worden, nicht ſtark genug war, um ihn auszuhalten. Deshalb macht auch 
Mozarts Fruͤhreife nirgendwo den Eindruck des Krankhaften oder Überhitten; durch fein ganzes 
Leben wirkt er als Urbild einfacher und geſunder Natürlichkeit. 

Auch der Londoner Aufenthalt bietet für dieſe eigenartige Anlage ein Zeugnis. Bald 
nach dem erſten öffentlichen Konzerte erkrankte der Vater an einer bösartigen Halsentzündung 
fo heftig, daß die Familie nach dem Landorte Chelſea an der Themſe überfiedeln mußte. Mit 
Rüuͤckſicht auf den Zuſtand des Vaters war alles Muſizieren verboten. So waren alfo die Kinder 
„frei“. Wie aber nutzte Wolfgang diefe Freiheit? Mit aller Gewalt warf er fic) aufs Rom- 
ponieren. Zetzt ſchrieb er feine erſte Sinfonie, der während des Londoner Aufenthalts noch 
vier weitere folgten, fo daß in den folgenden Konzerten die Inſtrumentalmuſik von ihm þer- 
rührte; auch ſechs Sonaten fiir Klavier und Violine kamen heraus, und das muſikgeſchichtlich 
merkwürdige Geſchehnis ift zu verzeichnen, daß ein Achtjähriger aus der „Gelegenheit“ heraus 
— dem Spiel mit feiner Schweſter — eine neue Gattung begründet: das vierhändige Klavier 
ſpiel von der gleichen Klaviatur. 

Während aber der Knabe an dieſen großen Formen naturgemäß inſofern ſcheitern mußte, 
als er guͤnſtigſtenfalls eben „Formen“ zuſtande brachte, beſitzen wir von ihm aus der gleichen 
Zeit ein beſcheidenes Notenbuch, in dem er nach innerem Orang ſeine Einfälle niederſchrieb. 
Von dem Büchlein hat man lange nichts gewußt, bis es fih 1898 unter den Manufkriptſchätzen 
Ernſt von Mendelsfohn-VGartholbys fand. Mit deffen großherziger Schenkung feiner Manu- 
ſtriptenſammlung kam es durch Weitergabe des Raifers an die Berliner Bibliothek. Aus dieſer 
hat es Dr. Georg Schünemann in forgfaltigem Orude herausgegeben unter dem Titel: 
„Mozart als achtjähriger Komponiſt. Ein Notenbuch Wolfgangs“ (Leipzig 
1908, Breitkopf & Härtel). 

Über das Büchlein berichtet der Herausgeber: „Es ift ein mäßig ſtarkes, in feſtem Leder- 
einband gebundenes Heftchen in Queroktav und trägt auf dem Vorſatzblatt den vom Vater 
eigenhändig geſchriebenen Vermerk: di Wolfgango Mozart à Londra 1764. 

Mit ungelenker Hand ſind die erſten Seiten mit Bleiſtift beſchrieben, und erſt nach und 
nach tauchen charakteriſtiſche Züge auf. Von der ſechzigſten Seite ab ſchreibt Wolfgang dann 
mit Tinte, ohne aber viel au ‚Hedjen‘ und ohne viel Verbeſſerungen zu machen. Man hat den 
Eindruck, als wären die Skizzen mit leichter Hand in ſchneller Folge entworfen. 

Das Heft enthält eine Reihe kleiner, zuſammenhängender Stücke, denen man nur mits 
unter an dem Fehlen der Verſetzungszeichen, der akkordiſchen Füllungen, der Tempoangaben 
und Überſchriften das Skizzenhafte anmerkt. Vergleicht man aber diefe Stücke mit Mozarts 
vorangehenden Werken, fo uͤberraſchen der muſikaliſche Gehalt, die Gedantenfiille und der 
Melodienreichtum, den Mozart gerade in dieſem kleinen Rahmen entfaltet. Er ſchreibt hier 
zierliche Menuetten, Allegros, Preſtos, Adagios, ja fogar ein Präludium (Nr. 7 für Orgel?) 
und eine richtige leibhaftige Fuge. Die letztere wird allerdings nicht ganz zu Ende gebracht. 
Immerhin ift es die erſte Fuge, die wir von Mozarts Hand beſitzen. Auch Sinfonien und tano- 
niſche Führungen entwirft er, kurz: Mozart verſucht ſich in dieſem Buch an allen möglichen, 
ihm bekannten Znftrumentalformen. Nur drei Stücke bricht er ab, alle anderen aber N 
er zu wohlgefügten kleinen Sätzen zuſammen.“ 


268 Hiſtoriſche württembergiſche Armeemärfhe 


Wie man auch aus den wenigen in unſerer Notenbeilage mitgeteilten Proben erſieht, 
offenbart ſich in dieſen kleinen Werken ganz der ſpätere große Mozart: ſinnig, von vornehmem 
Schwung in der Melodie, rhythmiſch klar und geſangreich. Man braucht nicht an ihre Schöp- 
fung durch einen Knaben zu denken, um an dieſen Stückchen ſein helles Entzücken zu haben. 
Die ſchöne Ausſtattung der Neuausgabe wird dieſe zu einer willkommenen Gabe für alte und 
junge Klavierſpieler machen. K. St. 


why 
Hiſtoriſche württembergiſche Armeemärſche 


ole 


ie Großherzogliche Hofbibliothek zu Darmſtadt beſitzt eine Marſchſammlung aus 
dem XVIII. Zahrhundert, die ein Unikum in ihrer Art und ein ſchier unerſchöpf⸗ 
licher Schatz ift für den, der den Schlüſſel zu ihr beſitzt. Dieſen Schlüffel aber ver- 
mochten dem Schreiber dieſer Zeilen zielbewußte Studien auf dem Gebiete der politiſchen wie 
der Wilitärgeſchichte jener Zeit in die Hand zu geben. In deren Mittelpunkt trat von ſelbſt die 
Geſtalt des Landgrafen Ludwig IX. von Heſſen-Oarmſtadt, der fo recht Repräſentant eines 
Zeitalters war, das man, faßt man die in ihm fic abſpielenden Kriege ins Auge, im befon- 
deren Maße das friderizianiſche nennen kann. In einem der beiden Kompendien der ge- 
dachten Sammlung liegen die „Regl. Streiche vor das Hochfürftl. Leibregiment vor die Pfeiffer“ 
(Sunt 1784) vor, alfo die Streiche für die Pfeifer f eines Leibregiments. Oer andre ift ein 
Sammelband, in dem neben Aufzeichnungen, die in dieſer „Ordonnanz“ Aufnahme fanden, 
zahlreiche andere Märſche, darunter ſolche von Sereniſſimus ſelbſt komponierte, wie auch ſolche 
von und aus der Zeit feiner Vorgänger ſtammende eingeheftet find. Auf letzteren Umftand, 
alfo darauf, daß die Märſche keineswegs nur aus der Regierungszeit Ludwigs IX. (1763—1790) 
ſtammen, ſei bereits hier nachdrücklich hingewieſen, ehe von dem eigentlichen Urheber der 
Sammlung die Rede ift. Dieſer, der eben genannte Landgraf von Heffen-Darmitadt, war 
offenbar im Zeichen des Mars geboren. Zn franzöſiſchen Dienſten, beim Regiment Royal 
Allemand, hatte er an der Belagerung von Prag (1741—1742) teilgenommen. Alsdann war 
er in die Armee Friedrichs des Großen getreten und hatte ſich als Rommandeur des in Prenzlau 
in der Uckermark garniſonierenden Regiments von Selchow in Krieg und Frieden bewährt. 
Zum Teil aus Geſundheitsrückſichten, zum Teil wohl auch aus politiſchen, auf Wunſch ſeines 
Vaters (Ludwigs VIII.), hatte er beim Beginn des Siebenjährigen Kriegs ſeinen Abſchied ge- 
nommen. Aber der Generalleutnant des „Alten Fritz“ konnte das Waffenhandwerk nicht laſſen. 
Zur Regierung gelangt, machte er aus feiner Reſidenz Pirmaſens einen veritablen Truppen- 
übungsplatz mit Kaſernen, Exerzierhäuſern uſw., wie er ja auch ſofort die Mitglieder der da- 
mals beſtehenden Hof- und Kammermuſik teils penfionierte, teils verabſchiedete und ſich ein 
Hobviftentorps und Trompeter, Pauker, Pfeifer und Tambours anwarb. Von der Art feiner 
Mufitpflege entwirft G. Seb. Thomas (Die großherzogliche Hofkapelle ujw. Darmſtadt 1859) 
ein überaus ergötzliches Bild. Damit die Oboen und Fagotts recht grell und ſchreiend würden, 
heißt es da, wurden fie mit meſſingnen Bechern und Stürzen verſehen. Aber ſchrecllich, fährt 
Thomas fort, waren die 40—50 Pfeifer und Tamboure, von welchen letzteren derjenige das 
größte Lob einerntete, der die meiſten Felle zerſchlug, weil dieſes dem Landgrafen den Beweis 
gab, daß er recht herausſchlage. 

Dieſer Fürſt komponierte nun ſelber fleißig Militärmärſche — man ſchrieb ihm die un- 
glaubliche Zahl von mehr als 40000, ja fogar 100000 (1) zu, und Thomas erzählt, daß er ſtets 
einen Kapellmeiſter neben fih gehabt habe, der die Melodien aufſchrieb und nachher in Par- 
titur ſetzte. Da die Märſche, die übrigens recht melodienreich und in einem ganz langſamen 
Tempo gehalten waren, nur zweiteilig und ohne Trio waren, konnte er ſchon eine erhebliche 


\ 


Olſtoriſche württembergifhe Armeemärfche 269 


Zahl zuſammenbringen. Aber der hohe Herr war notorifd auch eifriger Sammler folder, 
wobei er unter Umſtänden keine Koſten ſcheute. Ein niedliches Geſchichtchen berichtet, daß er 
einſt in Aachen einen Marſch gehört habe, den er gern beſitzen, aber nicht fordern wollte; zu 
dem Zwecke habe er fic fo lange daſelbſt einquartiert, bis er nach dem Gehör die Melodie pfeil- 
fen und die Trommelſchläge ſchlagen konnte. Der Marſch habe den Namen „Sechstaufend- 
Gulden-Marſch“ bekommen, weil der Wirt dem Landgrafen bei feinem Abſchied eine Rechnung 
von 6000 fl. präfentierte. Die in Rede ſtehende Marſchſammlung dürfte alſo jedenfalls „sub 
auspiciis Serenissimi“ angelegt fein, und ihr Inhalt liefert gleichſam einen muſikaliſchen Kom- 
mentar zu einer Kriegs- und Wilitärgeſchichte jener Zeiten. Die Namen der öſterreichiſchen, 
preußiſchen, franzöſiſchen, holländiſchen Regimenter, die ſardiniſchen, korſikaniſchen Truppen 
märſche und -fignale rufen ins Gedächtnis zurück, daß damals Europa in Waffen ſtarrte, daß 
in Böhmen, Schleſien uſw., aber auch in Stalien, in den Niederlanden blutige Schlachten ge- 
ſchlagen wurden. Die innere Zerriſſenheit des Heiligen Römiſchen Reiches Deutſcher Nation 
wird illuſtriert durch die Benennungen aller der Kontingente der kleinſtaatlichen Gebilde, 
die dort zu finden ſind, und es taucht dabei der unſelige Tag von Roßbach (5. Nov. 1757) vor 
dem geiſtigen Auge auf, an dem die „Reichsarmee“, an der Seite der Franzoſen fechtend, vor 
den Reiterſcharen eines Seydlitz auseinanderſtob. Man wird erinnert an die alte „Rreistruppen“- 
Einteilung, und nicht völlig zu überwindende Schwierigkeiten ergeben ſich dabei für den Benützer 
der Sammlung daraus, daß neben den Kontingentstruppen vielfach auch noch Haustruppen 
beſtanden, wie daß damals auch Regintenter aus dem Dienjte ihrer Kontingentsherren oft in 
den des Reiches übernommen und wieder zurückgegeben wurden. Es ergibt ſich oft die Un- 
möglichkeit, mit abſoluter Sicherheit die Zugehörigkeit feſtzuſtellen, und damit die Notwendig- 
keit, fich ftritte an die allgemeinen Bezeichnungen zu halten, z. B. Alt-Baden, Durlach uſw. 
Im vorliegenden Falle, in dem es ſich umhiſtoriſche württembergiſche Märſche 
handelt, liegen die Verhältniſſe einfacher und klarer. 

Das im Fahre 1716 vom Herzog Eberhard Ludwig (1677—1733) errichtete 
Infanterieregiment, damals Iden „Alt-⸗Württemberg“ genannt, war als Haustruppe anzu- 
ſehen, wenn es auch alsbald auf fünf Jahre in kaiſerliche Dienſte übernommen wurde. Sein 
Oberſtinhaber war der Herzog ſelbſt. Im Jahre 1744, bei feinem Regierungsantritt, hatte 
es der Herzog Karl Eugen zu feiner „Garde zu Fuß“ beſtimmt, nachdem es zuvor 
vom 3. Dezember 1720 an immer als „Leibregiment“ bezeichnet worden war. Im übrigen iſt 
auf die bei W. Kohlhammer-Stuttgart erſchienene „Geſchichte des 3. Württ. Infanterie-Regi- 
ments Nr. 121“ zu verweiſen. Die Bezeichnung „Grenadier-Marſch von alt-Creiß Württem⸗ 
berg“ uſw. weiſt auf das „Herzogliche Kreisregiment zu Fuß“ (1673 vom 
Herzog Eberhard II. errichtet) hin, deſſen Inhaber gleichfalls Herzog Eberhard Ludwig war, 
und da es zum Truppenkörper des „Schwäbiſchen Kreiſes“ gehörte, durfte auch der „Sch w ä⸗ 
biſche Zapfenſtreich“ nicht fehlen. Seine Überlieferungen leben in der Geſchichte des 
„Grenadierregiments Königin Olga“ (vgl. G. v. Niethammers Regimentsgeſchichte, Stutt- 
gart 1886) fort. Es bliebe alſo nur noch der Eberhard Ludwigs Namen tragende Marſch übrig, 
auf den ſchließlich, wie aus obigem erſichtlich, heute beide Regimenter Anſpruch erheben tönn- 
ten. Es muß genügen, daß in ihm das Gedächtnis eines Herrſchers auflebt, unter deffen Regie- 
rung die Söhne Altwürttembergs ſich ſchon im Spaniſchen Erbfolgekrieg, dann in blutigen 
Rämpfen gegen die Türken (1716—1718) und ſchließlich bei der Wiedereroberung von Sizilien 


(1719—1720) kriegeriſche Lorbeeren gewannen. 
Prof. Otto Schmid-Dresden 


R 


Vom Zug der Toten 


enn der Frühjahrsſaft in den Bäumen zu neuen Knoſpen treibt, werden die letzten 

alten Blätter abgeſtoßen. Den Winterſtürmen vermochten ſie zu trotzen, den 

milden Lenzwinden erliegen ſie. Alljährlich in den Frühjahrsmonden häufen 
Dep at ven Zeitungen die Todesnachrichten. Zumal Männern in jenen Jahren, die man als 
„die beſten“ bezeichnet, vermutlich weil es keine guten mehr ſind, iſt dieſe Zeit gefährlich. 
So hat der Tod auch heuer auf dem Felde der Kunſt ſeine Frühernte gehalten und manch einen 
heimgeholt, dem nach menſchlichem Ermeſſen noch eine längere Reihe von Schaffensjahren 
zu gönnen geweſen. 

Nur wenige Monate über fünfzig ift Guftav af Geijerſtam am 6. März ge- 
ſtorben. Kaum ein anderer ſchwediſcher Schriftſteller vermochte in den letzten Jahren ſich 
ſo ganz die deutſche Leſerſchaft zu gewinnen, wie er, deſſen Art uns gelegentlich wohl eigen- 
tümlich, aber nie fremd berührte. Das macht die große Güte in feinem Weſen, die diefen feinen 
Zergliederer ſtillſten Seelenlebens nicht wie ſo manche ſeiner Lansdleute dem Peſſimismus 
verfallen ließ. Er hat die düfterften Probleme der Ehe und der Kindesſeele nicht geſcheut. 
In den „gefährlichen Mächten“ und den „Brüdern Mörk“ ſehen wir eine Frau dem Wahn- 
ſinn verfallen, in „Nils Tufveſſon“ leiden wir mit unter der Blutſchande zwiſchen Mutter 
und Sohn. Aber auch hier wirken der tiefe Ernſt der Auffaſſung, die abgeklärte Ruhe der Dar- 
ſtellung, die künſtleriſche Vollendung der Entwicklung verſöhnend und beruhigend. Aber am 
tiefſten packt er uns dort, und da gibt er auch das ihm Eigenſte, wenn er in ganz einfachem Ge- 
ſchehen langſam — zuweilen wohl allzu langſam — das Leben der Seele in all feinem Reich- 
tum unter dem Schutt alltäglicher Gleichgültigkeit herausgräbt. Das war fo im „Buch vom 
Brüderchen“; wo ift jemals die völlige Veränderung, die das Erlöfchen eines ſonnigen Kindes 
in ein Haus bringt ergreifender und, bei allem Weh, troſtvoller geſchildert worden? Dann 
„Karin Brandts Traum“ mit dem ſtillen Entſagungskampf einer Frau und ihrem faſt frohen 
Aufwärtsſtreben in tatender Liebe. Vor wenigen Tagen erhielt ich fein neueſtes Buch „Thora“ 
— wie alle ſeine Werke bei S. Fiſcher in Berlin erſchienen —, eine ganz ſtille Ehegeſchichte 
von guten Menſchen, die auseinandergehen müſſen, weil fie fih nicht verſtehen können. Gewiß 
gehörte Geijerſtam nicht zu den Großen; aber er hat für wichtiges Zeitempfinden einen ſo 
echten und künſtleriſchen Ausdruck geſchaffen, daß feine Werke dauernd nicht nur als Zeugniſſe 
einer vornehmen Perſönlichkeit, ſondern auch als Zeitdokumente ihren Wert behaupten werden. 

In ähnliche Worte kann man das Urteil über Frida von Bülow (geb. 12. Ok- 
tober 1857, gett, 12. März 1909) zuſammenfaſſen, obwohl ihre Werke in der Form weniger 
künſtleriſch, mehr als Zeitungsromane geſchaffen find, als die des Nordländers. Aber auch fie 
hat durch kluge Beobachtung und warmherziges Miterleben der Erſcheinungen in den tropiſchen 


Auf ber Warte | 271 


Ländern die Gattung bereichert. Mit ihren „deutſch-oſtafrikaniſchen Novellen“ (1891), den 
Romanen „Tropenkoller“ (1896), „Im Lande der Verheißung“ (1899) u. a. hat fie den deut- 
ſchen Kolonialroman begründet. Sie gehörte nach ihrer ganzen Art zu den erfreulichſten Cha- 
rakteren unter den ſchriftſtellernden Frauen und hegte durchaus geſunde Anſchauungen auch 
über die Aufgaben der weiblichen Schriftſtellerei, deren Wert nach ihrem Bekenntnis „keines- 
wegs darin liegt, daß fie der männlichen Gleiches gibt, ſondern darin, daß fie an deres gibt, 
anderes geben m u ß, wenn das ſchaffende Weib keine Nachahmerin ift, ſondern wenn fie das 
beſitzt, was Goethe als Erſtes und Letztes vom Genie fordert: Wahrheitsliebe. Wir Frauen 
leben auf der anderen Seite des Lebens, daher muß ſich das Bild des Lebens in unſerem Geiſte 
mit Notwendigkeit anders ſpiegeln als in dem der Männer. Wir ſehen die Welt in anderer 
Perſpektive und bewerten ihre Werte naturgemäß etwas anders. Erft beide Anſichten ver- 
eint und einander ergänzend, können etwas Vollſtändiges geben.“ — 

Allzufrüh und auch den Naheſtehenden unerwartet ijt dann am Oſterſonntag der Schrift- 
ſteller geſtorben, der ſicher berufen war, dem exotiſchen Roman beſonders wertvolle Seiten 
abzugewinnen: Stephan von Kotze (geb. 1870). Denn er beſaß einen ganz eigenartigen 
Humor, der aus einem tiefen, durchaus männlichen Empfinden herauswuchs, das vor der 
eigenen Stärke und wohl auch Weichheit Scheu empfand. Dieſen Zwieſpalt in der eigenen 
Art nützte er als echter Humoriſt, indem er nach F. Th. Viſchers Mahnung „das Lämpchen 
feines Frohſinns mit dem Ole feiner Schmerzen und Enttäuſchungen tränkte.“ Den Gewinn 
hatte der Lefer, dem in dieſer Beleuchtung alles einen neuartigen Glanz bekam, ob er „auftta- 
liſche Skizzen“ ſchrieb, von feinem „afrikaniſchen Küſtenbummel“ erzählte oder „aus dem 
europäifchen Hinterhaus“ feine Stoffe holte. — 

Ein langes Leben — über fünfundachtzig Jahre — und dabei ſchier pauſenloſe Schaf- 
fensluſt und kraft waren Rudolf von Gottſchall vergönnt, den der Tod mitten aus 
der Arbeit an einem großen Roman „Oer Privatdozent“ abrief, wobei man fic zumeiſt wun- 
dert, daß der Greis noch einen vierbändigen Roman in Angriff zu nehmen den Mut beſaß. 
Über Gottſchalls Jugendzeit ift an anderer Stelle nach feinen Erinnerungen berichtet; ſein 
ſpäteres Leben ift ein äußerlich ruhiges, innerlich ſtets bewegtes, weil an allen Lebenserſchei- 
nungen ſtarken Anteil nehmendes Schriftſtellerdaſein. Durch fünfundvierzig Jahre war Leipzig 
der Schauplatz ſeiner Tätigkeit. Hier redigierte er die „Blätter für literariſche Unterhaltung“ 
und die Zeitſchrift „Unjere Zeit“ und wirkte als Theaterkritiker und Literarhiſtoriker. Er ift 
als unentwegter Gegner des Naturalismus und der ſeitherigen modernen Moden von deren 
Anhängern viel befehdet und verſpottet worden. Aber reiches, gründliches Wiſſen und die 
Fähigkeit guter Analyſe von Perſonen und Werken, endlich eine ungemein geſchmeidige, dem 
Stoff fih vorzüglich anpaſſende Profa kann ihm ein gerechter Beurteiler nicht abſprechen. 
Schwieriger fällt es uns, zu dem Dichter Gottſchall in ein näheres Verhältnis zu kommen. 
Der Vorwurf der Rhetorik trifft für ſeine Verswerke zu, aber nicht in dem Maße, daß ſie ſein 
kräftiges Empfinden ertötet hätte. Unter feinen epiſchen Dichtungen findet fich ſehr viel Schönes 
(,Die Göttin“, „Carlo Zeno“). Eigentümlich berührt bei ihm, der eine gute „Poetik“ ſchrieb, 
ein innerer Zwieſpalt zwiſchen Inhalt und Form. Dieſe Form nämlich iſt alt, durchaus an 
den Vorbildern der Vergangenheit feſthaltend; der Inhalt aber iſt gefüllt mit Zeitempfinden. 
Seine Romane bringen durchweg moderne Probleme, die aber in einer oft ſchwer erträglichen 
veralteten Umſtändlichkeit und Breite vorgetragen werden. Von feinen zahlreichen Dramen 
dürfte ſich das Luſtſpiel „Pitt und Fox“ noch lange auf dem Spielplan behaupten; Gottſchall 
etweift fih darin als eine Art deutſcher Seribe. Das Trauerſpiel „Katharina Howard“ ift bei 
aller Schönheit der Sprache und Sicherheit im Aufbau doch Epigonenarbeit. — Dagegen 
mag man feine wiederholt aufgelegte „Oeutſche Nationalliteratur im 19. Jahrhundert“ immer 
wieder neben den neueren Werken als Nachſchlagebuch benutzen. Das umfangreiche Werk 
ift ein deutlicher Spiegel der Empfindungen, die das ältere Geſchlecht gegenüber den taleido- 


272 N Auf der Warte 


ſkopartigen Erſcheinungen unferer jüngjten Vergangenheit hegen mußte: fo ift es nicht nur 
wertvoll durch feine auf gründlicher Kenntnis fußenden Urteile, ſondern ſelber ein bedeut- 
ſames Zeitdokument. — 

Amerika iſt in dieſem Totenzuge mit einem ſeiner beſten Erzähler vertreten Marion 
Crawford (geb. 1854), der in Italien, wo er faft fein ganzes Leben zugebracht hat, ge- 
ſtorben iſt. Eine merkwürdige, von okkulten Stimmungen befruchtete Phantaſie und ein ge- 
winnend vornehmer Vortrag entſchädigten für den Mangel an ſtichhaltiger Lebens beobachtung. 
Seine Erzählungen und Romane, „Dr. Zjaacs“, „Marzios Kruzifix“, „Oer Roman eines Bi- 
garettenmachers“, „Via crucis“, „Marietta“ find wohl alle ins ODeutſche überſetzt; fo weit ich 
ſehe, aber nicht ſein weitaus beſtes Buch, die geiſtvollen Unterhaltungen mit Abgeſtorbenen: 
With the immortals (1888). — 

Über ſiebzig Jahre alt, ift des heutigen England größter Lyriker geftorben: Algernon 
Charles Swinburne (geb. 1857). Vom Standpunkt der vergleichenden Weltliteratur 
würde man ihn am beten in eine Verbindungslinie zu Viktor Hugo ſtellen, den er freilich an 
Vielſeitigkeit des Könnens nicht erreicht. Swinburne ift Rhetoriker von glänzender Wort- 
fülle, blendender Wortpracht, hinreißendem rhythmiſchen Schwung und überjtürgender Leiden- 
ſchaftlichkeit. Aber er hat in ſtarkem Maße die Fehler ſeiner Vorzüge. Er findet des Redens 
kein Ende; er berauſcht ſich am Klang der Berfe fo, daß der Inhalt darüber zu kurz kommt; fein 
Schwung läßt ihn nicht in die Tiefe der Dinge dringen; die Leidenſchaft wirkt mehr als Theater, 
denn als Wirklichkeit. Trotzdem war es ein Glück, daß Swinburnes Gedichte die engliſche Lyrik 
aus den Feſſeln einer falſchen Moralität befreiten und ihr Themen gewannen, die nicht beſonders 
für Kinderſtube und Mädchenpenſionat zurecht gemacht ſind. „Poems and Ballads“ (1866) 
und „Songs before sunrise“ (1871) find ſeine beſten lyriſchen Sammlungen; in den Tragödien 
überwiegt die Schilderung fo, daß alle Geſtaltung verloren geht. Stefan George, A. Strodt- 
mann, S. Mehring haben Swinburnes befte Gedichte ins Deutfche übertragen. Da dabei 
dann natürlich der Glanz dieſer Verskunſt verloren geht, iſt es für den deutſchen Leſer nicht 
leicht, die Ausnahmeſtellung zu begreifen, die Swinburne in England eingeräumt wurde. — 

Neben den zahlreichen Männern der Feder ſteht ein großer Vermittler des Schrift; 
tums: ger mann Julius Meyer (geb. 1826, gejt. 12. März 1909), der frühere Leiter 
des Bibliographiſchen Inſtituts in Leipzig, unter dem das Haus zu feiner überragenden Gtel- 
lung gelangt iſt. Ein Sohn des genialen Begründers des Bibliographiſchen Inſtituts, hat er 
vom Vater den kühnen Unternehmungsgeiſt, die hohe Auffaſſung des verlegeriſchen Berufes, 
den ſtraffen Bürgerſinn, die demokratiſche und ſoziale Geſinnung geerbt. Aber ein langer 
Aufenthalt in Amerika (1849—56) hatte ihn zu einem kühleren Rechner erzogen, als es der 
immer ſtürmiſch losgehende Vater geweſen, einem ſorgſamen Erwäger der Geſamtverhält⸗ 
niſſe. So entwirrte er die Hinterlaſſenſchaft des Vaters, gab deſſen mannigfache induſtrielle 
Unternehmungen auf und nahm alle feine Kräfte zur Hebung des Bibliographiſchen Inſtituts 
zuſammen. Zunächſt gewann das vom Vater in 52 Bänden angelegte Konverſationslexikon 
feine heutige Geſtalt. Von dem Umfang von 15 Bänden wurde von vornherein ein großer 
Teil für die naturwiſſenſchaftlichen und techniſchen Fächer feſtgelegt und dem Werke jo ein 
ganz neuartiger Inhalt gewonnen. Die Gründung der geographiſchen Zeitſchrift „Der Globus“, 
der „Meyerſchen Reiſebücher“ und der „Bibliothek deutſcher und ausländifcher Klaſſiker“ folgten. 
Dann erſtanden ihm die Pläne zu jenen großen populär-naturwiſſenſchaftlichen Werken, für 
die „Brehms Tierleben“ als unübertroffener Typus daſteht. Die Art, wie er fih einen großen 
Stab beſter Mitarbeiter zu ſichern verſtand, wie er ſein 1874 nach Leipzig verlegtes Haus zu 
einer der großartigſten graphiſchen Anſtalten ſteigerte, zeigen ihn als Organiſator erſten Ranges. 

Ein raſtloſer Arbeiter, der immer einen ganzen Mann zu ſtellen gewohnt war, trat 
er 1885, als ihn die Arzte zur Schonung ſeiner Kräfte mahnten, lieber ganz vom Geſchäfte 
zuruck, das er bei feinen Söhnen ja auch in guten Händen wußte. 


Auf ber Warte 273 


Aber auch im fogialen Leben machte der Mann, der perſönlich nicht in die Öffentlichkeit 
trat und von äußeren Ehren nichts wiſſen wollte, gründliche Arbeit. Zeugnis deffen feine Grün- 
dung des „Vereins zur Erbauung billiger Wohnungen“, die er durch die Schenkung eines 
Kapitals von 2 Millionen ermöglichte. Da die Mietserträge zur Erſtellung neuer Baukomplexe 
verwendet werden müſſen, gibt es jetzt ſchon vier ſolcher Gruppen von „Meyerhäuſern“, in 
denen in 1300 Wohnungen fünfeinhalb Tauſend Menſchen ein geſundes und billiges Heim 
haben, — So ift in H. J. Meyer einer jener Großkaufleute hinübergegangen, auf die die deutſche 
Geſchichte des 19. Jahrhunderts mit beſonderem Stolze hinweiſen darf. 

* d 


Auch zwei der hervorſtechendſten deutſchen Schauſpieler ſchreiten in dieſem langen 
Totenzuge, beide über ihre Individualität hinaus bedeutſam als Typen. „Sonnenthal 
ift das eigenſte Erzeugnis des Burgtheaters, er ift der lebendige Träger der Burgtheatertra- 
dition“, ſchrieb ſchon vor Jahren Ludwig Speidel, der Großmeiſter der Wiener Theaterkritik. 
Darin liegen Sonnenthals Größe und Grenzen. Er ſteht nicht da als für fic) ragende Per- 
ſönlichkeit, aus ſich geworden und in ſich fertig; ſondern er iſt der Vertreter einer Schule, einer 
Richtung. Nur daß diefe jetzt abgeſtorben ift, ließ ihn in den letzten Jahren als von beſonderer 
Eigenart erſcheinen. Gewiß, er war ein großer Stilkünftler, aber nicht der Schöpfer eines 
neuen, ſondern der meiſterliche Beherrſcher eines überkommenen Stiles. Das Gute in dieſem 
Stile ift die Vornehmheit, das edle Maß, die prieſterliche Hoheit der Auffaſſung der fhau- 
ſpieleriſchen Aufgabe, die bewußte Größe in Gebärde und Ton. Dieſe Linie der Schaufpiel- 
kunſt müpft an Goethes Weimarer Stilverſuche an und ift im vollen Sinne des Wortes fhau- 
ſpieleriſche Kultur. Wir ſehen bei den Franzoſen Verwandtes, und das Ganze ſetzt voraus 
ein bewußtes Theaterſpielen, nicht ein Sich-Ausleben in Geſtalten. Deshalb gab Sonnenthal 
fein Beſtes in der Oarſtellung von „beherrſchten“ Charakteren, und fein König Lear hat mir 
einen ſchwachen Eindruck gemacht: ein hoheitsvoller Vater, deffen Gram erſchütterte, aber 
nichts von der vulkaniſchen Gewaltnatur, die urwelthaft iſt in Liebe und Haß. Wohl aber war 
fein Nathan der Weiſe eine vollgültige Geſtalt; in ihr lebte er felber fein edles Menſchentum 
aus, feine verſöhnlichen Anſchauungen von den Gegenſãtzen der Welt, die mit etwas gutem 
Willen und edler Liebe unſchwer auszugleichen wären. Frühere Generationen hat er vor 
allem durch feine Salonhelden entzückt, durch die Liebenswiirdigteit und Eleganz feines ganzen 
Wejens. Da ihm daneben vor allem das Regiſter einer tiefen Rührung zu Gebote ſtand, war 
er vor der Rolle des oberflächlichen Charmeurs bewahrt. 

Sein Name wirkt für die Art und das Erleben des Mannes vorbedeutend. Sonnig 
wie feine Kunſt, war des Künſtlers Lebensgang. Das Kind armer Rrämersleute, am 31. De- 
zember 1834 zu Peſt geboren, wurde er kurze Zeit Schneider. 1851 ging er zur Bühne. Dreißig 
Jahre ſpäter hatte der jüdiſche Schneiderlehrling den erblichen Adel — für die Kulturgeſchichte 
des Schauſpielerſtandes eine merkenswerte Tatſache. Schon 1856 iſt er am Burgtheater, 
dem er über fünfzig Jahre als erklärter Liebling der Wiener angehörte. Und ſonnig war fein 
Ende am 4. April. Zwiſchen Probe und Auftreten ift er in Prag ohne Krankſein plötzlich hinüber- 
geſchlummert. — 

Ganz anders in allem war Adalbert Matkowsky, der drei Wochen früher 
(am 16. März) geftorben ift, nur wenig über fünfzig Jahre alt (geb. zu Königsberg am 6. De- 
zember 1858). Soll ein Eichbaum entwurzelt werden, fo müffen auch dann noch Stürme 
toben, wenn ein tuͤckiſcher Wurm am Marke genagt hat. Monatelang haben wir um die Be- 
richte, die von Matkowskys Krankenlager kamen, gebangt wie um einen Freund. Und ich 
habe den Verſtorbenen wie einen Freund geliebt, ohne daß perſönliche Beziehungen dazu 
mitgewirkt hätten. Aber er war der einzige Schauſpieler, um deſſentwillen ich ins Theater 
ging und das Theater mied. Zn einer Rolle, in der ich ihn geſehen, mochte ich keinen andern 
mehr. O, ich kenne feine Unvollkommenheiten. Zuweilen ärgerte auch ich mich Aber Maß 

Der Türme XI, 8 18 


274 Auf ber Warte 


lofigteiten, und das Reflektieren war nicht feine Sache. Aber, wer ſchilt den Frühling, daß 
er fo verſchwenderiſch iſt mit den Blüten; wer jauchzt dem Gebirgsbach nicht zu, weil er über 
die Ufer fdhaumt? Von dieſem Manne ging ein Feuerſtrom aus; bei ihm allein von allen Schau 
ſpielern hatte ich die Empfindung der Genialität und erfuhr ich ſo jene höchſten Wonnen, die 
die reproduzierende Kunſt verleihen kann: daß man dem Schöpfungsprozeß ſelber beiwohnen 
zu dürfen meint. Und wenn Matkowsky früher ganz dionyſiſch-orgiaſtiſch war, berauſcht und 
berauſchend — ſo wirkte er in den letzten Jahren, ſeitdem ihn der Tod ſeines Sohnes im innerſten 
Herzen verwundet, immer häufiger als apolliniſch über dem Ganzen thronender Geſtalter. 

Die Natur hatte dieſen Mann verſchwenderiſch ausgeſtattet. Auf einem echt helden 
haften Körper fak der edel geformte große Kopf, den das reiche Haar dunkel umflatterte. Mäch⸗ 
tige dunkelblaue Augen leuchteten wie glühende Feuer. Unter der edlen Naſe ein kleiner Mund, 
der all die Süße ahnen ließ, die dem Donnerer zu Gebote ſtand. Seinen Körper hatte er voll- 
kommen in der Gewalt; ein begeiſterter Kunſtfreund und eifriger Sammler hatte er die Plaſtik 
genau ſtudiert und bot in jeder Bewegung monumentale Schönheit ohne alle Poſe. Dazu 
nun eine Stimme, die mir immer muſikaliſche Genüſſe bereitete, wie die kaum eines Sängers. 
Voll wie Orgelklang, auch beim gewaltigſten Ruf nie ſchreiend, dann weich wie ein Cello beim 
Adagioſpiel, innerhalb einer Oktave die Rede meiſternd. Er war nicht eben ein großer Sprech 
meiſter, aber ein herrlicher Sprachkünſtler. Wie er Perioden baute, wie er eine lange Folge 
Schillerſcher Verſe in einem Atemzug gliederte, wirkte ſo verdeutlichend, daß der Sinn kriſtallen 
hervorleuchtete, ſelbſt wenn die Worte von den Sturzwellen der Rede verſchlungen wurden. 

Sh habe Matkowsky an hundert und mehr Abenden gefehen; oft bedauerte man, daß 
er mit ſeiner herrlichen Kraft wertloſen Geſtalten eine Lebenszähigkeit verlieh, die ihnen ſonſt 
nicht zuteil geworden wäre. Aber es iſt doch kein einziger Abend dabei, von dem mir nicht 
wenigſtens ein Zug, eine Szene im Gedächtnis geblieben wäre. Wenn er aber Shakeſpeare 
ſpielte, waren es unvergleichliche Feſttage. Auch er nahm eine einzigartige Stellung am Ber- 
liner Schauſpielhaus ein, aber nur kraft ſeiner eigenen Perſönlichkeit. Mit ihr riß er auch die 
andern hin; ſtand Matkowsky auf der Bühne, ſo herrſchte auf ihr Leben. 

An ſeinem Beruf hing er mit ſeinem ganzen Weſen; am liebſten hätte er jeden Abend 
geſpielt, und noch als ſchwerkranker Mann wollte er wenigſtens allwöchentlich einmal in der 
kleinen Rolle des alten Rabenſteiners auf der Bühne ſtehen. An ſein nahes Ende hat er nie 
geglaubt und von großen Zukunftsleiſtungen geträumt: den alten Fauſt, König Lear, Falſtaff 
hätte er uns nicht ſchuldig bleiben dürfen, wenn die Intendanz wirklich von hohen Gefidte- 
punkten die Rollenbefegung vorgenommen hätte. Und ein Segen für die Dichtung hätte diefe 
großzügige Heldennatur werden können, wenn unſere königliche Bühne zur Einſicht gekommen 
wäre, daß fie am eheſten eine eigene Bedeutung gewinnen wird, wenn fie in dieſer Zeit Hein- 
licher Didterei auch beim heutigen Geſchlecht des Dramas großen Stiles ſich annimmt. Mat- 
kowsky hat ſich nach ſolchen neuen Aufgaben geſehnt; auch dieſer Wunſch iſt ihm nicht erfüllt 
worden. 

Nun iſt er dahin, und es iſt keiner zu ſehen, der ihn erſetzen könnte. 


Karl Storck 
Si 


Schundliteratur 


PY ounbdliteratur! Blutigrot ſteigt's auf — gezüdte Oolde, entblößte Leiber Ringen- 
der, Totengebein und fletſchende Schädel, Mord und Raub, Feuer und Folter, 
mers Revolver und Blendlaterne, Strick und Axt, Schlägerei, Würgerei, Überfall 
Wie gebannt hängen die Blicke der halbwüchſigen Burſchen an den ſchreienden Bildern auf 
den dünnen Heften, die Nummer an Nummer das Schaufenfter des „Buchhändlers“ ſchmücken. 


Auf der Warte 275 


Proletarierkinder natürlich. Verbrechernachwuchs ebenſo ſelbſtverſtändlich. Den einen ſchicken 
fie hinein. Die letzten Groſchen klappern auf dem alten hölzernen Ladentiſch wie in der De- 
ſtille. Oeſtille — Hintertreppe, Elendsbild leiblicher und geiſtiger Unterernährung. Hier wie 
dort betäubender Fuſelduft. Man wendet fih ab. 

Aber die Groſchen wachſen und werden zu Hunderten, zu Tauſenden, zu Millionen und 
Milliarden und reden eine gewaltige Sprache. An dem ſozialen Gewiſſen rüttelt's mächtig. 
Uns drückt ein Joch, ein erbärmliches Joch. Schund und Schand'! 

Der Mann hinter dem Ladentiſch weiß: Proletarier? Sicher, eine Menge. Aber das 
„Volk“ kann ſolche Summen nicht aufbringen. „Ich müßte verhungern..“ Im Bücher- 
tanzen des höheren Schülers, der höheren Tochter leben fie mit andern Oedeln, in die Truhen 
und Käſten und Schränke der „beifern Familie“ verſteckt fie ein letztes Schamgefühl, denn 
das Königreich der Verirrungen ift groß. Die Indianer- und Oetektivgeſchichten ſpreizen ſich 
frech vor der Öffentlichkeit, ein mächtiger Feind. Schlimmer, viel ſchlimmer, was im Ounkeln 
tappt. Schund auf allen Gebieten! Ein Rieſenfloß gemeinſter Gemeinheiten, vorn die Flagge 
der „Kunſt“. Paſſiert ohne Behelligung. Höchſtens ein paar Moralfatzken, lächerlich! Die 
gewiſſenhafte Preſſe der Ereigniſſe des Tages: Dort lag das Meſſer, ſo ſtand der Spucknapf, 
da die Blutlache. Das Vachſen der Leſerzahl iſt chroniſch geworden. Lieder, die nie gedruckt 
wurden und fo ſchön find! Preiswerte Romane, die jede Hintertreppenverwandtfchaft ver- 
leugnen, pikant, feinſte Herrenlektüre — nichts für Damen. Das zieht! Und nicht zuletzt die 
hygieniſche Literatur, die Nervenliteratur, Körperpflege, Liebe und Ehe. Wo wären fie nicht? 
Sie hauſen in den Winkeln der Hütten und in den Bürgerhäuſern. Nur? Oder etwa gar in 
Fürſtenſchlöſſern ...? So flutet's auf allen Gebieten, in allen Schichten, auf allen Bildungs- 
ſtufen! Wahrlich, eine erſchütternde Revue ſittlicher Unreife, krankhafter Scheinbildung, feeli- 
ſcher Kraftloſigkeit! 

Das machen die Großſtädte, die Zentralen der Irrungen! Sie müſſen ja immer ber 
halten. Zugegeben, daß an Menge natürlich diefe Städte das meiſte leiſten müſſen und können. 
Aber bleibt alles am Orte? Wer geht am leichteſten auf den Leim zweifelhafter Reklamen? 
Man erkundige fih einmal bei den Händlern. Solange eben hierüber keine zuverläſſigen Gta- 
tiſtiken beſtehen, muß die perſönliche Erfahrung Maßſtab ſein, leider. Das ergibt oft ein falſches 
Bild. Was an Menge auf dem Lande fehlen ſollte, das erſetzt die Gründlichkeit. Die Schwar⸗ 
ten haben bei ſchonendſter Behandlung ein zähes Leben. Sie wandern von einem Bauernhaus 
in das andere; ſie vererben ſich. Die Geweckteren reagieren am lebhafteſten auf den Leſeſtoff; 
bei der Schuljugend der großen Städte trifft dasſelbe zu im allgemeinen. Die Händler, meiſt 
im gut bemäntelten Nebenamt, werden ſehnſüchtig erwartet. Oder man fährt ſelber in die 
Stadt oder beauftragt gute Freunde. Wo geſchieht derartiges am meiſten? In welchem Ber- 
hältnis ſtehen Landwirtſchaftskreiſe und Schundliteratur zueinander? In welchem Snduftrie- 
kreiſe? Wie die evangeliſche, die katholiſche Bevölkerung? Wie der Often? ... Die Beant- 
wortung dieſer und ähnlicher Fragen, die zur vollen Bewertung der kulturellen Bedeutung 
dieſes literariſchen Unweſens unbedingt nötig ift, könnte nur von einer Organiſation geſchehen. 
Sie müßte wenigſtens dieſelbe Bedeutung haben wie das Reichagefundheitsamt; oder ift der 
Leib mehr denn die Seele? Schon aus ortlichen Gründen tame hierzu in erſter Linie die Lehrer- 
ſchaft in Betracht. Ihr gebührt das Lob, der fleißigſte und beſte Kämpfer zu ſein auf dieſem 
Felde. An allen Orten regt es ſich jetzt, um Berlin wie in den Großſtädten am Meeresſaum; 
ein Rieſenheer, Wächter und Helfer an jedem Ort! 

Es ijt erfreulich, daß auf dem Erſten Internationalen Kongreß für Moralpädagogik 
zu London, September 1908, auch der Kampf gegen die Schundliteratur zur Verhandlung 
ſtand, und es iſt ſehr bemerkenswert, daß dort deutſche Männer dieſes Problem behandelten. 
Nach dem Bericht der Preuß. Lehrerzeitung zog Rektor Wolgaſi-Hamburg gegen die ſogenannte 
moraliſche Jugendſchrift zu Felde, die der Lektüre der großen Dichtung Abbruch tut, ebenſo 


276 Auf ber Warte 


gegen die Schundliteratur, die in einer gewiſſen Periode der Kindheit mit ihren ataviſtiſchen 
Neigungen — Grauſamkeit, Abenteuerluſt — ihren Nährboden findet. Die Erziehung muß 
dem Kinde über dieſe gefährliche Periode ſo ſchnell und unbemerkt wie möglich hinweghelfen. 
Die Schule muß verſuchen, es der Jugend zu einer Ehrenſache zu machen, daß fie keine ſchlech⸗ 
ten Schriften lieft. Durch Geſetz wird ein aus allen politiſchen und religiöfen Parteien gufammen- 
geſetztes literariſches Sachverſtändigenkollegium gebildet mit dem Rechte, anerkannt fchäd- 
liche Jugendſchriften vom öffentlichen Verkauf auszuſchließen. In ähnlichem Sinne äußerte 
fih Direktor Johannesſon-Berlin, der aber im Gegenſatz zu Wolgaſts letztem Vorſchlag dafür 
eintrat, daß die Schule die Fürſorge für die Hauslektüre ihrer Zöglinge übernehmen folle. — 
Aberall beginnt ein reges Beraten und Taten. In Hamburg wurden zur Weihnachtszeit 120 000 
Exemplare einer Flugſchrift im verſchloſſenen Umſchlag an die Eltern der Schüler verſandt, 
ein großes Unternehmen des Zugendſchriften-Ausſchuſſes. In Pankow geht man dem Handler 
zu Leibe und klärt die Eltern auf. In Berlin und Vororten tragen unzählige Kinderhände 
gute Schriftenverzeichniſſe heim. Hoffentlich heißt's bald: Kampf auf der ganzen Linie! 

Sft der Feind fo ſtark? Iſt er es wert? Auf einem Oeckel eines neuen Serienheftes 
ein Preisrätjel: die genaue Zahl der Auflage foll geraten werden. Man rate aber nicht unter 
250 000, ſonſt gewinnt man nicht die wertvollen Sachen. Bis 500 000 erhebt ſich die Auflage. 
Da werden wir nachdenklicher, als wenn wir mal einem Zungen ſo ein ſchmutziges Heft aus der 
Mappe ziehen. Wie ſchon die grellen Bilder wirken! Was muß da alles auf den Blättern ſtehen! 
Gewiß, ein gutes Zugmittel, der „kunſtvolle Dreifarbendruck“ aus der „Hand unſerer beiten 
Kräfte“, aber er zieht noch nicht genug. Auf der letzten Umfchlagjeite befinden ſich Figuren 
zum Ausſchneiden und Aufkleben auf Pappe, zwei Reiter ſind's in Kampfſtellung. Es werden 
eine ganze Menge folgen, nicht nur Reiter. Daraus wird dann eine große Schlacht gufammen- 
gebaut. Da habt ihr ein herrliches Spielzeug gratis. Nun kommt der Haken: nicht auf jedem 
Heft dieſe Gabe, man muß abwechſeln. So wandern ungezählte Groſchen hinweg, der Schlacht 
wegen. Aber nur ſtill, ihr könnt die Hefte nach dem Leſen wiederbringen. Wer 10 Hefte bringt, 
erhält dafür 25, in einer andern Serie ſogar 50 Pfennig — ausbezahlt, nein, ſondern angerechnet. 
Ein Nattentinig. In andern Heften finden fic Marken, ein geiſtiger Rabatt. Als fleißiger 
Abnehmer kann man damit bald eine ganze Bibliothek dieſer edlen Lektüre fein eigen nennen. 
Wahrlich, ein Anreißerweſen, von dem man lernen ſollte. Daß es bei jeder andern Jugend- 
lettüre verſagen würde, ift nicht wahr. In einem Heft war unter anderm Titel ein mächtiges 
Stück Gerſtäcker untergeſchoben; nur der Kenner merkt die Huge Verkoppelung. Alfo es geht. 
Viktor Laverrenz nutzt es ja aus. Dasſelbe Format der Oetektivgeſchichten, ein leuchtendes 
Titelblatt! „Hurra!“ heißt die Sammlung. Wenn ſie nur auf einem höhern Niveau ſtände! 

Iſt der Feind den Rampf wert? Za aber genügen denn nicht mehrere jugendliche Selbſt⸗ 
mörder? Das heißt ſolche, die in Heldenſtimmung noch die Urſache ihres Schrittes hinterließen. 
Genügen nicht die ausgehobenen Diebs- und Hehlerneſter junger Burſchen, genügen nicht die 
paar europamũden Landſtraßenwanderer? Sie bekennen fih doch freimütig zu ihren „Lehr⸗ 
büchern“ !? Die Kinder „müſſen“ verdorben werden durch ſolche Lektüre? Das kann man 
nicht behaupten, es ware geradezu widerſinnig. Mit derſelben Berechtigung wird kein Cin- 
ſichtiger von der edeln Lektüre alles Heil erwarten, ſie wird nimmermehr jeden adeln. So 
einfach, jo handwerksmäßig ijt die Erziehung nicht; dann wäre fie wirklich keine Kunſt. In fol- 
chem Schematismus bildet ſich kein Geiſt, atmet keine Seele. Aber wo ein Zunder glimmt, 
und wäre es ein winzig Stidlein, da wird ein Feuer werden, wenn ſolche Ole fließen. Be- 
darf es noch des Beweiſes? Ein Beiſpiel aus der Erfahrung: In der erſten Klaſſe ein mit guter 
Phantaſie begabter Schüler. Er ift im Verdacht. Unter vier Augen geſteht er mir's; die Ge- 
ſchichten wären zu ſchön. Afo war das Aufleuchten in feinen Augen echt, als ich vor der Kaſſe 
die Hefte erwähnte. Zd tadele den Zungen nicht, warne fanft, ohne Erregung. Die Beob- 
achtung läßt wochenlang nicht nach. Er hat Hefte in der Mappe. Die Verſuchung iſt zu groß, 


Auf der Warte 277 


er muß während ſchriftlicher Beſchäftigung unter dem Tiſch heimlich lefen; er kann nicht anders. 
Sch laſſe ihn ruhig und ſtaune über bie Weltvergeſſenheit. Seine Gier wächſt. Er tauſcht mit 
Heften. Er nimmt andern Jungen Hefte fort. Er überfällt auf dem Heimwege einen Mit- 
ſchüler, weil er nicht gutwillig den Schund fahren laffen will. Und fo würde es fortgehen, 
immer weiter, bis hinter die kalten Mauern. Die Aufmerkſamkeit in der Schule flaute ab, aber 
— und es beſteht fuͤr mich trotz der Schwierigkeit derartiger Beurteilungen kein Zweifel — die 
Fähigkeit, logiſche Schlüͤſſe zu ziehen, wird für den Zungen größer! Die Denkfähigkeit reger 
und kühner! Es liegt infolge des geradezu ſtaunenswerten Fortſchreitens geiſtiger Tätigkeit 
während der Leſezeit die unbedingte Berechtigung vor, der Lektüre die „Schuld“ zuzuſchreiben. 
Wenn die Gefahr nicht zu groß wäre, wenn man es vor feinem Gewiſſen als Erzieher verant- 
worten könnte, müßte man die Gegenprobe machen mit einer ſorgfältigen Auswahl bei geifti- 
ger Trägheit. Aber wer will einen Teufel austreiben durch Beelzebub? 

Ein Vorſchlag: Man frage einmal, ſich ſehr neugierig ſtellend, nach dem Inhalt der 
Hefte. Hei! das gibt Leben! Können die Zungen erzählen! Die Worte folgen mit Mühe dem 
Denten, es ſprudelt nur fo. Danach frage man nach dem Inhalt des letzten Buches aus der 
Schulbücherei oder der letztgekauften Jugendſchrift. Dann habt ihr aus Kindermund den Be- 
weis, was unferer Jugendlektüre im allgemeinen fehlt: geſunde Realiſtik! Phantaſie! Schwung! 
Fort mit den ſeitenlangen Schilderungen einer Frühlingswieſe, fort mit dem endloſen Planen 
und Überlegen zu einer Reife! Her die Reife ſelbſt! Hinein ins friſche Leben! Tatſachen, Sat- 
ſachen, Tatſachen! Das iſt's, hier liegt ein Hauptübel. Kinder find keine Erwachſenen, fie haben 
unglaubliche Phantaſie, fie find hungrig auf „Vorgänge“. Ob da auch die Schule als ſolche fün- 
digt? Sündigen muß? Mit unverſtandenen Begriffen zu operieren, ift das eine Schuld?. 

Doch gemach, die Reformer find fleißig am Werk; auf großen Gebieten der Schulunter- 
weiſung erblüht ein herrliches Morgenrot, und Tauſende blicken hinein, hoffnungsfreudig. 

Wie nun der Kampf? Den ſtärkſten Stoß gegen die ſtärkſte Stelle: das Geheimnis- 
volle! Oer Hang zum Wunderbaren liegt im Kinde tief gewurzelt; er kann durch gute Lektüre 
befriedigt werden. Aus den Heften — man erſchrecke nicht — leſe man vor, gerade das Un- 
ſinnigſte, mit kaltbluͤtigſter Ruhe. Das find die Hefte! Dann andere ebenſo billige Bücher zur 
Hand nehmen, die beffer find. Naſſenlektüre guter Werke. Verzeichniſſe von Schriften. Re- 
form der Büchereien. Noch mehr unentgeltliches Leſen in Stadt und Land. 1908 hat die 
Geſellſchaft für Verbreitung von Volksbildung 7059 Volksbibliotheken mit 141417 Bänden 
begründet und unterſtützt. 97085 Bände wurden völlig unentgeltlich abgegeben; in gut 
10 gahren Aber 810000 Bücher! Anheimelnde Lejeräume. Vorträge über Schund; und andere 
Literatur, nein, aus der Schundliteratur! Wie in den Schulen! Ein geſetzliches Verbot? Ze 
mehr man es bedrückt, deſto mehr breitet es fih aus. Eine Beſteuerung? Zoll? 12 000 M 
foll der amerikaniſche Verleger an Überſetzungs- und Verlagsrecht für eine Serie beziehen! 
Eines darf man in dieſem Kampf nicht vergeſſen: ſich ſelbſt nach Möglichkeit zu informieren 
fiber die Ausbreitung der Schundliteratur und über ihr Weſen. Die Eltern kennen die 
Hefte wenig oder gar nicht. Sie wijfen nicht, was ihren Kindern da geboten wird. Wenn fie 
es wüßten, die Bewegung wäre längſt weiter! Hier helfen nicht wiſſenſchaftliche Abhandlungen, 
hier hilft unbedenkliches, freimütiges Hineinführen in die Materie ſelbſt. Hinauf mit dem 
Unrat ans Tageslicht! Selbſt gekoſtet von dem, was deine Kinder nährt! 

Es gehört Überwindung dazu, man muß den Ekel niederzwingen; aber gerade daraus 
kann auf dieſem Gebiete nur Heilung entſtehen. Vielleicht werden dann mehr Hände da ſein, 
die Moräfte zu verſchuͤtten. 

Tauſchen wir uns aber nicht über den Erfolg! Ganz wird es nimmermehr gelingen, 
etwas wird fortbrodeln. Es wollen nicht alle an reinen Geſtaden ſitzen! Und fie können's 
auch nicht. 

Und nun hier gleich ein kühnes Hervorzerren ans Sonnenlicht der Offentlichkeit. 


278 Auf ber Warte 


Unter Beachtung des Bibelwortes „Seid Hug wie die Schlangen“ ergeht an drei Ober- 
klaſſen einer vierzehnklaſſigen Gemeindeſchule (in jeder ca. 35 Schüler) die Aufforderung, 
„solche Hefte“ mitzubringen. Nur morgen und übermorgen! Nur die Hefte, die nicht mehr 
gebraucht werden und die man nicht wiederhaben will! Sie ſollen ſtill in den Schrank gelegt 
werden. Alſo keine gewaltſame Razzia, ein freiwilliges, geheimes Sammeln an zwei Tagen. 
Ich hatte etwas erhofft, aber fo etwas nicht. Am dritten Tage ift eine Bibliothek da, die einen 
Wert von ca. 15 M hat! Folgende Serien find vertreten: Der Luftpirat und fein lent- 
bares Luftſchiff. Texas Jack. Nat Pinkerton, der König der Oetektivs. Ethel King, ein weib- 
licher Sherlock Holmes. Unter ſchwarzer Flagge, Abenteuer des berühmten Piratentapitans 
Morgan. Pat Conner, der Meiſterdetektiv. Rund um die Welt, Erlebniſſe und Schickſale mert- 
würdiger Menſchen. Nick Carter, Amerikas größter Deteltiv. Gar Dubnotal, der große Geifter- 
banner. Minna von Braunburg, Deutſchlands Meiſterdetektivin. Aus den Geheimakten des 
Weltdetektivs. Berühmte Räuber der Welt. Sitting Bull. Erlebniſſe berühmter Geheim- 
poliziſten. Dick Turpin, des Fürſten der Landſtraße Abenteuer — neue Folge. Klaus Störte- 
becker, der gefürchtete Herrſcher der Meere. Wild-Weſt⸗-Bibliothek. Jungensſtreiche, Rüpe- 
leien, Geheimniſſe und Abenteuer unferer Jugend. Kapitän Stürmers Fahrten und Aben- 
teuer zu Waſſer und zu Lande. Buffalo Bill, der Held des wilden Weſtens. Außerdem 8 Hinter- 
treppenromane, je 1. Heft, und 2 alte Indianerſchmöker. 

Um einen Begriff zu geben von den Nummern dieſer Bücherei, ſeien einige Titel 
genannt: Das Herz in der Flaſchenpoſt. Das ſchwarze Geſpenſt von Panama. Unter der 
Erde. Das Verbrecherſchiff. Von tauſendfachem Tode umdroht. Der Herenbräutigam. Das 
Gefpenft auf der Zeugenbank. Der Altar des Blutes. Der Mädchenhändler von Boſton. 
Ein Erxpreſſerklub. Das Automobil des Teufels. Der Blutpavillon. Die verſchwundene Leiche. 
Der Doppelgänger aus Wachs. Der Mann mit den ſieben Frauen. Die Menſchenfalle. Ein 
anarchiſtiſches Komplott. Die Abenteuer eines Gehenkten. Der Dienſtmädchenwürger. Der 
grauſige Schrank. Das Skelett im Piano 

Worte über den Inhalt miiffen verblaſſen, wenn man die Werke ſelbſt reden läßt. Aus 
der nach beſtimmten Geſichtspunkten vorgenommenen Zuſammenſtellung einige Proben: 
Er beſchloß, fih weniger auf den lieben Gott zu verlaſſen, als auf feine eigenen fürftlihen Mittel. 
— Niiding hatte der Dogge das Meſſer mit feſtem Stoß in den Hals hineingetrieben. — Ganze 
Hefatomben von Tieren wurden hingeopfert. — Daß du mir nicht meinen Salon mit deinem 
Hundeblute beſudelſt! Gelbhäutiger Hallunte. — Der blutbeſpritzte Henker, der höhniſch grin- 
fend das Haupt emporhielt. — „Sieh her, Lindo, der Schädel ift geſpalten, er trägt die Spur 
des Hiebes, dieſer Mann iſt von Menſchenhand getötet, ehe die Tiger ihm das Fleiſch von den 
Knochen riſſen.“ — Sämtliche Behältniſſe waren fir ihn innerhalb fünf Minuten zugänglich. 
— Er befeitigt die Unglüdliche. Und das iſt ja ſehr leicht. Ein Stoß von der Seite bei einem 
Spaziergange am Ufer, die Armſte verſchwindet lautlos. Oder er lockt ſie in ein verſchwiegenes 
Zimmer und tötet fie, nachdem er fie mit Küſſen und Zärtlichkeiten betäubt hatte. — Da plötzlich 
warf ich mich mit voller Kraft auf ſie, zog ſie zu Boden und erwürgte ſie. Das war mein erſter 
Mord. Er gelang mir ſo ausgezeichnet, daß ich dann ſpäter, ſo oft ich in Geldverlegenheit war, 
gang genau nach demſelben Syſtem meine Verbrechen ausführte. — Unter der Kapuze, die 
febr künſtlich geſchlitzt war, grinſte der Kopf als weißer Totenſchädel, und die Hände, die das 
Schwert hielten, waren Knochenfinger. Das alles fab der Gemarterte noch, als ihn die Unholde 
raſch an den Richtklotz feſtbanden. Eine Maſchinerie bewegte die Arme der Figur, das Schwert 
zuckte und der Kopf rollte über die hölzernen Dielen. — Sie verſtand ihn und ſchlang ihre runden 
Arme feſt um ſeinen Nacken. Vermutlich hatte er von dem unſittlichen Lebenswandel ſeiner 
Geliebten Kenntnis erhalten.... Daß ihm feine Gattin ſchon feit langer Zeit in ſchamloſeſter 
Weiſe die Treue gebrochen. Daß meine Braut mit mir nach den Geſetzen der Sitte und Moral 
verkehrt hat. Du Schänder meines jungen Frauenlebens. ... Warum haft du dich mir þin- 


Auf ber Warte 279 


gegeben vor der Hochzeit. ... Das dunkelhaarige, junge, bleiche Weib lag halb auf der Bank 
ausgeſtreckt, aus feiner Bruſt ragte der Griff eines Meſſers hervor, Blut floß über feine arm- 
ſeligen Aeider herab, feine Augen waren gebrochen, fein Mund weit geöffnet, als wollte es 
eine furchtbare Anklage hervorſtoßen, aber kein Wort entrang ſich ihm — es war tot. Und 
das Orcheſtrion ſpielte dabei in vollklingenden Tönen: Mein Herz, das ijt ein Bienenhaus 

Es ſei hier ausdrücklich betont, daß die angeführten Stellen nicht etwa die ſchlimmſten 
find. Steigt einem da nicht die Schamröte ins Antlitz! Oeutſchland in der Welt voran? Es 
wäre eine Schande für ein Kulturvolk, wie wir es fein wollen, wenn das noch länger fo weiter- 
gehen darf. So werden die heiligſten Gefühle unſerer Nachkommen mit teufliſcher Gemein- 


heit verhöhnt und vernichtet. 


In Band 10 von Pat Conner heißt es: „Das Verbrechen ſchleicht hier umher wie ein 
Vampir, den man nicht ſieht, nicht faſſen kann, und deſſen Nähe man doch fühlt, wo immer 
man hinſieht.“ Pat Conner nickte. „Du haft recht, Feodor, Wenn du erft den ganzen Um- 
fang deſſen, was hier vorgeht, ahnen würdeſt, ſo würdeſt du ſchaudern!“ 

K. Neye 


E 
Von der japaniſchen geg 


wurden in einem Rahmen aufgebaut, der ihr Stimmungsklima voll zum Ausdruck brachte. 

Snterieur-Motive der Heimat dieſer Objets d'art benutzte man mit Glück und Geſchmack, 
um ihr Weſen in echte Beleuchtung zu ſetzen. 

Die Räume ſind durch niedriger gezogene helle, quadratiſch gefelderte Decken intimer 
gemacht, graugrüne Matten ziehen ſich, mit naturfarbigen lichten Leiſten geſpannt, als Paneel. 
Die Wände gliedern fih abwechſlungsreich mit Niſchenbildungen und Schrankeinbauten mit 
ſchwarz eingefaßtem weißen Fächerwerk. An ſolchen betonten Plätzen ſtehen beſonders erleſene 
Stücke zur Schau. Zum Beiſpiel hängt auf dem Hintergrund einer Niſche ein Rollbild mit einer 
Landſchaft in ſilbrigem Duft, vorn ſteigt mit Blütenzweigen ein edles Bronzegefäß auf oder ein 
Koro, eine Räuchervaſe. Daneben über lila Krepp ein Schwertſtänder aus Lack mit koſtbaren 
Zeremonialwaffen oder eine jener köſtlichen Kaſſetten, dunkeltonig, goldüberſtäubt, mit Perl- 
muttereinlagen. 

Eine wirkſame, eigentlich ſchon bühnengerechte Regie waltete hier und ging darauf aus, 
die Dinge lebenszuſammenhangsvoll zu ſinnfälliger Anſchauung zu bringen. Das merkt man 
beſonders in dem Raum des Rüftzeugs. Hier find auf einem Podium vor einem violetten, 
weißgemuſterten Zelthintergrund die Panzer mit ihren Geſichtsmasken figurinenhaft ſitzend 
angeordnet, groteske Kriegsdämonen in den ſchuppigen, an Hummern- und Languſtenſchalen 
erinnernden Klappenharniſchen. 

Man wurde an Bilder aus dem in den Kammerſpielen aufgeführten altjapaniſchen 
Königsdrama Terakopa erinnert, von dem hier neulich die Rede war. 

Die Panzer find aus Erz, aber gegen die Roſtgefahr mit einem bräunlichen Lack über- 
zogen; dieſer Ton verſtärkt noch die Ahnlichkeit mit den Kruſtentieren. Und es ift bekannt, daß 
die Ruͤſtungsſchmiede, als nach der großen Waffenreformation in Japan für fie nichts mehr 
zu tun war, ihre Kunſt, aus beweglichen Plättchen organiſche Gebilde zu machen, für die Her- 
ſtellung tünftlicher, in elaſtiſcher Bewegung ſchnellender Tiere verwerteten, für Fiſche, Krebſe, 
gummern aus Silber und auch aus Elfenbein. 


280 Auf ber Warte 


Ungemeine Farbenreize haben die Dekore der Rüftungen. Sie find mit Schnur und 
Bandwerk verſehen, blau und hellgrün, wirkſam abgehoben von dem Lackhintergrund. 

Die Zierate der Waffen, vor allem der Schwerter, laſſen ſich dann anregend in Vitrinen 
und Käſtchen ſtudieren. 

Dod vor dem Eintritt in dlefe phantaſievolle, bilderreiche Welt ein paar Worte zur 
Orientierung. Die Hauptzierate am Schwert ſind: das Stichblatt (Tſuba) am Ende des Grif⸗ 
fes; Rozula, das Schwertmeſſer, das neben der Scheide ſteckt; die Zwinge und das Ropfftüd 
des Griffes (Fuchi-Kaſhira), und ſchließlich die Menuli, kleine Metallvignetten, die auf der 
Bandverſchnürung des Griffes befeſtigend aufliegen. 

Die Stichblätter aus Eiſen und Stahl, auch mit Lack überzogen, bieten ein unerſchöpf⸗ 
liches Kapitel der Schmuckkunſt dar. 

Die Mosleſche Sammlung beſitzt einen hervorragenden Beſtand von Ljuba und legt 
ihn inſtruktiv nach Stilen und Meiſterſchulen geordnet vor. 

Es gibt da frühe Arbeiten von wuchtig konſtruktivem Charakter, von richtigem Schmiede 
ausdruck. Unſerer Neigung zu konſtruktiver Sachlichkeit, zu einer aus dem Weſen des Materials 
und der Behandlung abgeleiteten Schönheit kommen gerade dieſe Arten, die unter dem Namen 
der Miochinfamilie gehen, ſehr nach. Gehämmert, gebogen, geſchnitten ſind die Rundplatten 
und die Belebung der Fläche geſchieht durch ſparſame Ourchbruchsmuſterung, durch gitter- 
förmige, radſpeichenartige Ausſchnitte. l 

Dazu kommt werkmäßiger Beſchlag mit Plättchen und Nietköpfen. Die Ourchbruch⸗ 
motive ſteigern fidh ſpäter künſtlicher und raffinierter, beliebt werden dafür dann die Konturen 
von Vogelſilhouetten, von Kranichen und Reihern. 

Die verbreitetſte und im einzelnen am mannigfaltigften variierte Zierweiſe ift aber die 
Reliefdekoration. Der Grund der Platte ift dabei dunkelkörnig, in weichem Amriß wächſt dar- 
aus das zierliche Ornament. Und mit leichter Anmut und ſicherem Takt wird es dem Raum, 
der ja durch den mittleren dreieckigen Ausſchnitt für den Griff unterbrochen iſt, eingeſchrieben. 

Um dieſen Schlitz herum ranken ſich Bliitendfte, Blumengezweig und Schlinggewächs; 


es ſtrecken ſich z. B. goldplattierte Schwertbohnen mit Schoten durch ein Gewirr von Blättern 


mit filbernen Tautropfen, auch Tiermotive erweiſen ſich für ſolche dem Rand parallele Rrüm- 
mungs- und Schlängelungslinien dankbar, fo der Tauſendfuß, der ſich golden auf dunklem Grunde 
daherſchiebt. 

Doch viel kompliziertere Aufgaben ſtellt fih diefe Rompofition. Kleine minutiöfe Land- 
ſchaftsreliefs tauchen auf: Segel hinter Kiefern ſchimmernd; die untergehende Sonne hinter 
Nebelſtreifen und vorbeihuſchenden Kranichen; Uferſtimmung am Fluß mit einer Hütte in 
Bambusſtauden; ein Waldweg, der aufwärts — paralleliſierend zur Randlinie — leitet zu 
einem goldenen Tempeltor, aus Riefernwipfeln leuchtend. 

Dieſe Oarſtellungen werden in den verſchiedenartigſten Techniken ausgeführt. 

Häufig iſt Tauſchieren, Einhämmern von Ornamenten aus Silber und Gold in Eifen- 
und Stahlgrund, eine im ganzen Orient geübte Fertigkeit. 

Appige Einlegekünſte, juwelierhafter Natur, breiten fih in Luxuszeiten aus, und dazu 
toloriftifche Vielfarbigkeit durch raffinierte Legierungen und Patinierungen der Metalle: 

Die Tieraugen aus Perlmutter ſchwimmend mit goldener Pupille, dazu die Flügel 
aus zartadrigem Silber; Fruchtdolden bildet man aus Korallen, auch werden Tierumriſſe zum 
Einlegen in den Metallgrund aus Halbedelſteinen geſchnitten. 

Die Polychromie erreicht ihre höchſte Steigerung in der Hirataſchule, die das Email 
als Farbenſpiel hinzunimmt. Da entſtehen dann Luxusdichtungen wie jenes Schwertmeſſer, 
das auf dem Griff den Fuji-Gerg aus blauweiß ſchimmerndem Schmelz eingelaffen zeigt, 
Nebelſtreifen in Goldeinlage durchziehen ihn, und ſilbrig ſchwimmt die Mondſcheibe. Nicht 
weniger kunſtreich iſt jenes Stichblatt mit zwei Haſen, der eine aus Silber mit Goldaugen, 


Auf der Warte 281 


der andere aus weißem, in Silberdraht gegoſſenem Zellenſchmelz, beide zwiſchen Halmen aus 
grünem Email oloisonné in Goldrand und goldenem Bambusgras, überſchienen von einem 
aus Kriſtall eingelegten Mond. 

Man denkt bei dieſen Schmuckkünſten unwillkürlich an die maleriſch-phantaſtiſchen 
Juwelierkompoſitionen moderner Franzoſen, an Réné Lalique vor allem. Sie find gewiß, 
wie es ja auch die modernen Zeichner taten, in dieſe Schule des Oſtens gegangen. 

Eine hervorragende Eigenſchaft japaniſcher Oarſtellung ift das Geſchick für die Raum- 
proportion und die Eingliederung. 

Bei den Zfubas beobachtete man das, und gleichermaßen ift es auch bei den anderen Re- 
quifiten, bei denen fih im übrigen dieſelben Techniken verwendet finden. Intereſſant als Raum- 
aufgabe ijt der Schwertmeſſergriff. Es gilt dabei, Darſtellungsmotive zu finden, die dieſem 
ſchmalen geſtreckten Viereck gemäß find. Da findet ſich als Füllung z. B. das Relief eines langen 
Fährbootes, golden auf gravierten Wellen liegend, oder die Fläche wird zur Bühne für einen 
Feſtzug, für eine Fruͤhlingsprozeſſion zu Fuß, zu Pferde unter dem Schnee der Blütenbäume. 

Andere Situationsmöglichkeit ergibt der Griff in ſenkrechter Haltung. Dann iſt er der 
Hintergrund für ein Pfeilerrelief, und ſtehende Figuren, Pilger, Prieſter, auch Tiere, wie 
Reiher, meiſt mit hochgezogenem Bein, heben ſich davon ab. 

Freier und unabhängig von einem umrahmenden Rand ſind die kleinen Zierate der 
Menuki. Dieſe Auflageornamente erſcheinen als Flachmuſter und bilden gern Tiercharakte⸗ 
riſtiken. Sehr lebendig und in bewegter Vor- und Hintereinanderſtellung find die Zeie 
modellierungen von Stieren, Pferden SE Faſanen, Wildgänſen. 

** 


Hervorragend wie die Metallkunſtwerke ſind auch die Lackarbeiten der Mosleſchen Samm- 
lung. Die weichſamtigen Flächen voll dunkler Tiefe werden gern mit Goldpulver glitzernd 
überftäubt, in ihr Schwarz betten fih Plättchen, Ronfettis von Gold, Silber und mattgleißen- 
dem Perlmutter. Auch werden farbige Lackſchichten übereinandergelegt und dann Ornamente 
eingeſchnitten, die dieſe farbig abgeſtufte Schichtung durchleuchten laſſen. 

Die Lackkunſt wird vor allem für die zierlichen Kabinettſchränkchen mit ihren Flügel- 
altartüren und ihrer reichgegliederten Käſtchenarchitektur angewendet, dann für die Schreib; 
und Reiſekaſſetten. Die breiten Flächen erlauben dankbare Darſtellungs möglichkeiten. Mit 
Vorliebe ſtellt man, in Einlegearbeiten, Landſchaften dar: Tempel und Pagoden auf Felſen; 
Uferftreden mit Fiſcherbooten, vom Mond beſchienen und überftrichen vom ſchwirrenden Wild- 
gänfeflug. Es fehlt auch nicht der Fuji-Verg in Silberlackrelief, über dem Meeresſtrand auffteigend. 

Lack ſpielt weiter eine große Rolle für Kleingerät, für den Neceſſaire-Behang, den der 
Japaner am Gürtel trägt in Dreiteilung. Hauptftüd ift die mehrteilige Dofe, Inro, für Medi- 
zin und Tabak, ſie iſt an einer ſeidenen Schnur befeſtigt, dieſe hält ein Schieber zuſammen 
(Ojime), und das Ganze wird am Gürtel mittelſt eines knopfartigen Schnitzwerkes getragen, 
dem Netſuku (ſprich: Netzke). 

Die Inros erhalten auf ihrem Lackgrund reizvolle vignettenartige Verzierung, leicht hin- 
geſtreut, Blütenbäume, Blumen, Tiere, häufig goldſchuppige Fabelweſen, zuckende cen 
in vehementer Bewegung. 

Ein geeignetes Feld für die der Caprice ſo gern geneigten Kunſt liefern die Netfutus, 
diefe Schnitzköpfe aus getöntem oder aud in Lackmalerei behandeltem Holz, Horn, Elfenbein. 

Mit Vorliebe find fie figural, drollige Alraungeſtalten, ringende, fih überkletternde 
Zwerge mit Spinnenbeinen und Affenarmen; viel Tiergrotesken, ein Knäuel von Ratten, 
ein wahrer kleiner RNattenkönig. 

Die Sammlung weiſt weiter ungemein koſtbare Brokatgewänder von ſtarrender Pracht 
der Seide und von beſtrickender Harmonie der Farben auf. Uppige Blumenflora breitet ſich ge- 
wirkt und geſtickt darũber. 


282 Auf ber Warte 


Und ſolche Gewänder, die mit den Frühlingsbäumen an koloriſtiſchem Flor wetteifern, 
begegnen dann in der feinen Ausleſe der Holzſchnitte, die den Abſchluß der Ausſtellung bildet. 

Die japaniſchen Farbendrucke mit ihren Landſchafts- und Brückenſtimmungen, mit 
ihren Szenerien der Feſte zur Zeit der Kirſchblüte, mit ihren lichten Interieurs, ihren taprigis- 
fen ſchlanken Frauen, grotesken Ringern, dämoniſchen Schauſpielertypen, hatten immer für 
europäifhe Sammler viel Lockung. 

Und gleichermaßen bewunderte man in ihnen den Sinn für ſuggeſtive Raumwirkung, 
die Kompoſition, den pikanten Ausſchnitt, durch witzige Aberſchneidungen noch geſteigert, wie 
die tonigen Harmonien aus Orange, Mattblau, Myrtengrün, Sandgrau, Gelbrofa, die fidh fv 
ſymphoniſch miſchen. 

N Nach ſolchen Vorbildern wurden die indiſchen Seiden, die unter dem Namen Liberty 
gehen und die ſo künſtleriſch und delikat wirken, eingefärbt. 

Die graziöſe Hand des Arrangierens, die die Dinge im Raum verteilt, fie immer an die 
Stelle ſetzt, wo ſie die fruchtbarſte Wirkung haben, erkennt man auf den Blättern, ſo wie man 
es auf den Zieraten vorher ſah. 

Libellen, Falter, Rafer werden als Impreſſion gegeben, ein Karpfen, ſchwarzgelb in 
grünblauem Waſſer, iſt geſchlängelt und geſchnellt wie ein Flatterband. Das Gefieder der Vögel 
wird auf die ornamentale Wirkung hin behandelt wie eine Cloifonné-Mufterung. 

Spiegelungen und Künſtlichkeiten im Wirklichen reizen zu formalen Raffinements: 

Silhouetten von Menſchen und Baumgeäſt auf den weißen Papierfenſtern am Abend als 
Schatten-Amriß, dann Spiegelungen, die eine gewiſſe Stiliſierung oder Akzentuierung des 
Realen geben. Ein berühmtes Beiſpiel dafür ift das Atamaro- Blatt, das eine ſtillende Mutter 
mit einem Säugling vor einem ſchwarzgerahmten Ovalſpiegel darſtellt, ſo daß im Spiegel 
ſich gerade der kahle Rundſchädel des Kindes fängt, der nun ſo eine Paralleliſierung zu dem 
Buſen der Mutter gibt. Zu Stilornamenten werden auch die Naturerſcheinungen. Schnee 
und Regen wird als zickzackig gegitterter oder getupfter Schleier verwendet, der Windſtoß wird 
durch die Windung kurvig dahingewirbelter Kleidervolants geſchildert; die aufgebäumte Welle, 
wie fie Sotufai feſthält, wirkt als kapriziös-zackige Naturarabeske. Wellenringe um den Fuß 
einer ins Bad ſteigenden Frau dienen zu einer pikanten Ziſelierung der Haut, ähnlich wie die 
haarfeine Sprungmuſterung des Craquelés auf dem zarten Teint des Porzellans. Als detora- 
tives Motiv beliebt iſt die Mondſcheibe, ſie bildet die weiße Hintergrundkuliſſe für Zweiggewirr 
der Baumäſte, für dunkel ſchwirrenden Vogelflug. 
N Auch die Interieure werden nie als rein ſtoffliche Darſtellung geboten, fie dienen immer 
dekorativen Abſichten und geben Gliederungs- und Überſchneidungsmotive mit den Gitter- 
wänden in ihrer quadratiſchen Fächerung, den Türen aus Bambusſtäben, dem Leiſtenwerk 
der ſchräg in den Raum geſtellten Paravents. Und ein ſehr Verwandtes beobachtet man bei 
dem Motiv der hochgeſchwungenen Brücken, die mit dem Rahmenwerk ihres Pfoſtengeſpinſtes, 
ihrer verkreuzten Baluſtradenſproſſen die Staffage der Brückenwanderer als pikanten Durch- 
blick faſſen. 

Ganz als Objets d' art werden die Frauen dieſer Blätter hingeſtellt. Ihr ſchmeichleriſcher 
Künſtler ift Utamaro. Schlanke Figuren in rhythmiſchem Linienfluß, umſchlängelt von den 
wehenden Voluten der Schleier und der Kleidervolants. 

Zu dämoniſcher Stiliſierung aber wird das Schaufpielerporträt gewandt. Oankbar ift 
hierfür, daß der japaniſche Oarſteller durch die feft angeſchminkte Maske, durch die ſteile Haltung 
des Körpers, durch die gleichſam im Affekt erſtarrte Leidenſchaftsgebärde ſchon an ſich etwas 
Stiliſiertes hat. Schunſcho und Scharaku laffen ſolche kreidigen Masken mit Haffend blutrotem 
Mund und züngelnden ſchwarzen Brauen aus nachtdunklem Hintergrund infernaliſch aufleuchten. 

Und zu der Oämonie kommt die Groteske der Ringer und Akrobaten, die mit den ver- 
wegenen Verrenkungen ihrer Glieder zu bizarren karikaturiſtiſchen Menſchen-Arabesken werden. 

$ 


Auf ber Warte 283 


Bei der Betrachtung ber Mosleſchen Sammlung konnte man ſich übrigens intereffant 
darũber unterrichten, wie die dekorative Kunſt der Japaner abhängig von China iſt. Bei vielen 
Blättern wurde man an Pendants aus der chineſiſchen Gemäldeſammlung der Frau Wegener, 
die neulich in der Akademie ausgeſtellt war, erinnert, vor allem bei den Tierdarſtellungen: 

Utamaros Wachteln in der Hirſe mit der Paralleliſierung der ſtrichig gezeichneten Hirſe 
zu der Gefiedermuſterung der Vögel und Hiroſhiges Reihern, ausgeſpart als weißflimmernder 
Flächenumriß zwiſchen hohem Binſengras. 

Und in dieſer Handſchrift bewundert man immer wieder die Gabe, mit ſparſamſten an- 
deutenden Mitteln eine phantaſiebeflügelte Impreſſion voll Fülle und Ganzheit zu zaubern. 
Und dieſe Gabe drückt ſchön ein Wort Peter Altenbergs aus: 

Wenn die Japaner einen Blütenzweig malen, dann iſt es der ganze Frühling. 


Felix Poppenberg 
Zi 


Walter Braunfels „Prinzeſſin Brambilla” 


O Un Stuttgart hat fih wieder einmal eines jener kleinen künſtleriſchen Ereigniffe voll- 
S zogen, die im dortigen Mufit- und Theaterleben keineswegs zu den Seltenheiten 
RE, gehören. Am 25. März brachte das Hoftheater Walter Braunfels’ heitere Oper 
„Prinzeſſin Brambilla“. Urſprünglich ſollte dieſe Uraufführung gemeinſam in Stuttgart und 
Münden ſtattfinden; doch ift die ſchwäbiſche Reſidenz der bayriſchen ſchließlich um einige Wochen 
zu vorgekommen. Oer 1882 in Frankfurt a. M. geborene Komponiſt, der als Lehrer für Klavier 
und Kompoſition in München lebt, iſt ein Schüler von Thuille und Schillings; bei dem letzteren 
darf er ſich denn auch für die glanzvolle ſzeniſche Auferſtehung ſeines Werks in erſter Linie 
bedanken. Denn — um dies vorauszuſchicken — die mit unendlicher Mühe und Sorgfalt vor- 
bereitete Darftellung der nach jeder Richtung anſpruchsvollen Oper war muſtergültig. Die 
Dekorationen waren ſtimmungsvoll, die KNoſtüme farbenprächtig, die Maſſen bewegten fid 
(unter E. Gerhdufers Regie) mit außerordentlicher Lebhaftigkeit, die Chöre ſangen mit felte- 
ner Friſche und Präziſion, und die Vertreter der Solorollen ſtanden alle am richtigen Platz, 
ohne daß ſich ein einzelner in den Vordergrund drängte oder drängen konnte. Der Löwen- 
anteil des Erfolgs gebührte jedoch dem von Generaldirektor Max Schillings geleiteten Orcheſter. 
Aber war es denn überhaupt ein Erfolg? Für die Stuttgarter Hofoper gewiß. Und für den 
vom Publikum mit den Hauptdarſtellern immer wieder hervorgerufenen Komponiſten? So- 
fern er ſich an der lebhaften Anerkennung ſeines ſtarken Talents, ſeines ernſten künſtleriſchen 
Strebens und feiner überaus fleißigen Arbeitsleiſtung genügen läßt, auch für ihn. Aber an die 
Lebensfähigkeit feiner erſten Oper darf er nicht glauben. Dazu ift das Mißverhältnis zwiſchen 
Stoff und Form, zwiſchen dem ſpieleriſchen Inhalt und dem dafür in Bewegung geſetzten 
muſikaliſchen Rieſenapparat zu auffällig. Braunfels hat in die phantaſtiſche Wunderwelt 
E. T. A. Hoffmanns hineingegriffen und deſſen kapriziöſe Geſchichte von der Prinzeſſin Sram- 
billa ſelber zu einem Libretto verarbeitet, das uns in fünf Bildern den römiſchen Karneval 
zu Ende bes 18. Jahrhunderts vorführt. Ein Principe, der fic als Scharlatan unter das Volk 
miſcht, verwirrt und entwirrt die Fäden der abenteuerlichen Intrige. Ein exzentriſcher Schau- 
ſpieler hält ſich für einen aſſyriſchen Prinzen und ſucht nach einer vermeintlichen Pringeffin 
Brambilla. Dieſe entpuppt ſich ſchließlich als ſeine verlaſſene Braut, in deren Arme er, von 
feiner Narrheit geheilt, reuig zurückkehrt. Ein Einzelvorgang, der nicht gerade dazu angetan ift, 
uns wärmere dramatiſche Teilnahme abzugewinnen. Aber er iſt auch gar nicht die Hauptſache. 
Der eigentliche Held der Oper ift vielmehr der röͤmiſche Karneval ſelbſt mit feinem übermütig; 
tollen Treiben. Darum ſpielen auch die Maſſenſzenen und Chöre in dem Werke eine fo be- 
deutſame Rolle. Aber doch ſtehen auch ſie nur in zweiter Linie. Durch Vermittlung des Orcheſters 


284 Auf der Warte 


hat der Komponiſt hauptſächlich die Löſung feiner Aufgabe, die Schilderung der Rarnevals- 
romantik, angeſtrebt. So trägt die „Prinzeſſin Brambilla“ vorwiegend einen ſinfoniſchen Cha- 
rakter, und das rein muſikaliſche Element triumphiert über das muſikdramatiſche. Das iſt natür- 
lich bei einer Oper nicht das richtige Verhältnis. Und nun gar bei einer heitern! Dieſe Bezeich- 
nung, die ganz andre Erwartungen rege macht, iſt nichts weniger als pafjend gewählt. Schon 
das Textbuch ift zwar romantiſch, aber nicht heiter, und ſelbſt noch für die phantaſtiſche Hand- 
lung iſt die Muſik zu ernſt und ſchwer. Ihr gehen Anmut und Sinnlichkeit und damit zugleich 
Leichtigkeit und Gemeinverſtändlichkeit ab. „Kühn, gärend und ab und zu etwas ‚toll‘ wie die 
Handlung gibt ſich die Muſik, aber auch reich an innerer Kraft iſt ſie an vielen Stellen. Ganz 
Kind feiner Zeit, ſcheut Braunfels vor keiner Kühnheit zurück, greift hinein in den vollen Farben- 
topf, und wenn ihm ab und zu auch einmal ein ‚guter Meifter‘ über die Schulter ſchaut, fo hat 
er doch in Erfindung und Ausdruck manch Eigenes, Neues zu ſagen.“ So hat Schillings ſelbſt 
die Schöpfung ſeines Schülers ganz unbefangen zu würdigen geſucht. Jedenfalls beherrſcht 
Braunfels alle muſitktechniſchen Mittel in einer für feine Jugend erſtaunlichen Weiſe. Und er 
weiß damit überaus effektvolle Klangwirkungen, Klangmiſchungen, Klangſteigerungen hervor- 
zubringen. Die ganze Bedeutung der ungemein komplizierten Partitur kann ſich indeſſen nur 
dem Berufsmuſiker erſchließen, der muſikaliſch gebildete Laie kann ſie höchſtens ahnen. Der 
Ourchſchnittshörer muß an den ungewohnt hohen Anforderungen, die an ihn vom Komponiſten 
geſtellt werden, raſch erlahmen. Schließlich gehört die „Prinzeſſin Brambilla“ zu den Mufit- 
dramen, die jedermann fiir intereſſant erklärt, ohne das Bedürfnis nochmaligen Genießens zu 
empfinden. R. Kr. 


*. 


Brettlelend 


&) An vorigen Hefte gaben wir der Stimme eines Schauſpielers über die Nöte ſeiner 
29 Berufsgenoſſen Gehör. Soviel aber auch die Lage dieſes Standes zu wünſchen 

übrig läßt, — geradezu wie eine Verhöhnung aller Begriffe von Recht und An- 
ſtand wirken „Verträge“, die bei Variétés und ähnlichen Unternehmungen üblich find. Der 
Direktor Balló z. B., der u. a. auch das Frankfurter „Intime Theater“ leitet, läßt feine Mitglieder 
einen „Vertrag“ unterſchreiben, deſſen § 6 nach der „Frankf. Ztg.“ wörtlich lautet: 

„Bei Brand, Krieg, Verkauf, Verpachtung des Theaters, unanſtändigem oder wider- 
ſetzlichem Verhalten gegen die Direktion, refpettive gegen ihre Vertreter, oder bei lärmenden 
Streitigkeiten während der Proben oder Vorſtellungen, bei Landestrauer, polizeilichem Ber- 
bot, auch wenn ſich dasſelbe nur auf eine einzelne Nummer oder Teile derſelben erſtrecken follte, 
oder ſonſtigen Kalamitäten iſt die Direktion berechtigt, dieſen Kontrakt ſofort ohne Kündigung 
zu löſen oder während der Dauer der entſtandenen Schließung des Theaters zu unterbrechen. 
Bei Erkrankung eines engagierten Mitglieds iſt die Direktion berechtigt, dieſen Kontrakt 
ohne weitere Entſchädigung ſofort zu löſen, oder, wenn fie ihn fort- 
beſtehen läßt, für die Tage der Krankheit den entſprechenden Gageteil in Abzug zu bringen. 
Die Direktion iſt berechtigt, dieſen Kontrakt nach vorangegangener vierzehntägiger Kündigung 
zu löſen. Wenn Kontrahent ſich für etwas engagieren läßt, wozu er nicht die gehörige Fabig- 
keit beſitzt oder die Leiſtung nicht im Verhältnis zur verlangten und bewilligten Gage ſteht, ſo 
hat die Direktion das Recht, dieſen Kontrakt ſofort zu löſen und begibt ſich Kontrahent 
jedes Ein wandes. Desgleichen bei überwiegendem Mißfallen des Künſtlers refp. der 
Künitlerin. Dasſelbe Recht, dieſen Kontrakt zu löſen, ſteht der Direktion zu, wenn die engagier- 
ten Mitglieder inner- oder außerhalb des Theaters öffentliches Argernis erregen, oder wenn 
weibliche ſich im Zuſtande der Schwangerſchaft befinden. Wird dieſer Kontrakt vor Ablauf ge- 
löſt, fo muß das erhaltene Reifegeld zurüdgezahlt werden.“ 


K 


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PR r ep 179 LF 


Auf der Warte 285 


Sollte ein ſolcher „Vertrag“ wirklich Rechtskraft haben oder nicht vielmehr als „gegen 
die guten Sitten“ verſtoßend ungültig fein? | | 

„Die Uberbrettlbewegung“, leſen wir im „Vorwärts“, „bat zwar eine künſtleriſche Hebung 
des Varistés verſucht und mag hier und da auch Spuren hinterlaſſen haben — in Geſtalt von 
neuen Künſtlerkabaretts. Aber in den mittleren und unteren Regionen iſt alles beim alten 
geblieben. Hier bericht nach wie vor die Bote in holdem Einvernehmen mit dem Rada u- 
patriotis mus. Hier müſſen die Künſtlerinnen, wenn ſie es mit ihren Stlavenhaltern 
nicht verderben wollen, noch immer nach der Aufführung den Setttonfum ſteigern helfen und 
dem zahlungs fähigen Gaſte freundliche und moͤglichſt koſtſpielige Geſellſchaft leiten. - - - Wehe 
ihnen, wenn ſie gar den Mut haben, ſtatt verhüllter Laszivitäten ernſte Kunſt 
zu bieten. Direktion und Pol iz ei mühen fid um die Mette, ihnen den Einbruch ins heilige 
Reich der Zote zu vergällen. 

Eine Künſtlerin, die an einer Reihe mittlerer Varietés in verſchiedenen Städten auf- 
trat, hat uns aus ihren Erlebniſſen geſchildert. Sie ſind charakteriſtiſch genug, um das Inter- 
eſſe der Offentlichteit zu verdienen. Die Künſtlerin, die über ein großes Repertoire verfügt, 
hatte den Ehrgeiz und den Wut, ſoziale Sichtungen ernſter Art vorzutragen. 
Und was erlebte ſie? Einer der Direktoren erklärte ihr: „Wenn Sie auf der Bühne ſtehen, 
dann legt's fih wie ein ſchwerer Bann auf den Zuhörer. Laſſen Sie Ihre ernſten Sachen, 
es wird nicht genug geſchickert. (Dabei hatte ſich das Publikum gern in den Bann der ernſten 
Darbietungen zwingen laſjen.) 

In einer anderen großen Stadt wurde die Künftlerin entlaffen, weil fie Dichtungen 

ſozialen Inhalts vortrug. Gedichte wie Klara Müllers ‚Dem Kampf entgegen‘ und andere 
zu rezitieren hatte die Direktion ausdrücklich verboten, obwohl ſie von der Polizei freigegeben 
waren. 
Sn einer bedeutenden Seeſtadt ſtrich die Polizei der Künſtlerin ihr Repertoire gründlich 
zuſammen; ernſte, ſoziale Sachen wurden nicht geduldet. Oer ſtellvertretende Direktor, ein 
früherer Pferdebahnkutſcher, benutzte dann die Gelegenheit, um die Künſtlerin,, die Sozial 
demokratin“, loszuwerden. Ihre Verſuche, in anderen Städten Engagement zu finden, miß- 
langen. Die Direktoren waren offenbar gehörig benachrichtigt worden. 

Einer dieſer patriotiſch wertvollen Männer ſchrieb der Künftlerin: 

„Ich habe Ihre Texte geleſen und kann Ihnen nur verſichern, daß hier das meiſte ge 
ſtrichen werden wird, auch iſt dies abſolut kein Repertoire für mein Theater. Bei mir ver- 
kehrt ein ſtreng tonſervatives Publikum (Offiziere jeden Grades in Uniform, 
Arzte, Rechtsanwälte, hohe Gerichts und givilbeamte und überhaupt Herrſchaften aus den 
beſten Kreiſen). Mir beiden erlitten einen großen Mißerfolg, der für mich nicht zu überfehen 
ijt. Qumorijten müffen Politit — foweit es das Beſtehende nicht verherr⸗ 
licht — unbedingt weglaſſen, auch nichts Sozialdemokratiſches bringen. B. hat über 50 Proz. 
Beamte A.L.. (Name einer KRünftlerin) hat ſich ſogar bei den Juden unmöglich ge- 
macht, obwohl ſie erklärte, daß ſie Gürtler nur kopiert. ö Ä 

Ich habe Ihnen oben die Verhältniſſe geſchildert. Wenn Sie nichts dementſprechendes 
haben (denn bei dem eingeſandten Text verlaſſen die Herrſchaften unbedingt das Theater, 
was ich vermeiden muß, ſelbſtverſtändlich 1), fo ift es doch wohl beſſer, wir heben den Ver - 

trag auf.‘ | | 

Der Vertrag wurde richtig aufgehoben. 

And ſeitdem hat die Künftlerin alle Tore verſchloſſen gefunden. 

Von den Settgewohnheiten der Kabaretts weiß die KRünftlerin zu berichten: 

Wer von den engagierten Damen nicht mitfäuft, wird unſchädlich gemacht. Sie werden 
indirekt und direkt — je nach der Schlauheit des Budikers — gezwungen, Einladungen ſelbſt 
der zweifelhafteſten Elemente anzunehmen. | 


286 Auf der Warte 


Sch habe von ferne mit angeſehen, wie einem Gaſt von dem Direktor hidjft eigenhändig 
leere Sektflaſchen unter die von ihm ausgetrunkenen geſtellt und angerechnet wurden 
Einem betrunkenen Gaſt wurden einmal 15 Flaſchen aufgeſchrieben, die man abſichtlich ver- 
ſpritzt hatte.“ 

So geht's an der Stätte zu, wo die guten Bürger ihre ſeeliſchen Anregungen beziehen.“ 

Den Schlußſatz hätte ſich der „Vorwärts“ billig ſparen können. Nicht nur die „guten 
Bürger“, auch die „guten Genoſſen“ pflegen ſolche Stätten ganz gerne aufzuſuchen. Wir 
wollen ihnen das auch keineswegs verwehren oder verdenken, nur follten fie den guten Ge- 
ſchmack haben und das pharifäerhafte Getue beiſeite laſſen. Es glaubt ja doch keine Seele daran. 

Auch hier wird übrigens beftätigt, daß die Kultur der Rote mehr Lohn und Dank ein- 
bringt als die Pflege ernfter Runft. Und zwar nicht nur feitens des Publikums, fondern auch 
einer hochwohllöblichen Polizei. Und erſt recht, wenn dieſe ernſte Kunſt ſo ſchamlos iſt, nicht 
alles „Beſtehende“ unbeſehen zu „verherrlichen“. Wenn eben die Dinge doch einmal ſo bei 
uns liegen, fo wolle man uns auch mit den Rlageliedern über ſittliche Verderbnis durch die 
Kunſt uſw. gütigft verſchonen. Eine hohe Obrigkeit und ein „ſtreng konſervatives Publikum“ 
fühlen ſich ja nach alledem ganz wohl dabei. Was will man alſo noch mehr? G. 


** 
Affenkultur 


i Sen begeifterten Verehrern der unbedingten Affenabſtammungslehre müffen die Augen 
vor Freude und Rührung übergehen, wenn ſie Sitte und Kultur mancher werten 
Zeitgenoſſen alfo im „Daheim“ geſchildert finden: 

„Gibt es etwas Alberneres, als wenn Beamte, die um A Uhr Mittag effen, von der die 
Zeit verſtehenden Gattin gezwungen werden, auf ihre Schale Schwarzen zu verzichten, damit 
man einen five a' clock tea hat, weil er vornehm und allgemein ift! In England, wo man um 
1 Uhr luncht und um 8 Uhr fein Dinner einnimmt, füllt der Tee um 5 Uhr eine Lücke aus, ift 
alſo vernünftig. Nächſtens wird man, wenn man auf der Höhe ſein will, für Erbſenſuppe, 
Schweinebraten mit Sauerkraut und Apfelcharlotte in den Frack, zumindeſt den Smoking fah- 
ren follen. Schon wundern fih auserwählte Rüchenfeen, daß man ordinärerweiſe feinen Grün- 
kohl zum Haſenbraten ißt, ſtatt Gemüſe und Braten geſchieden, denn ‚bei Levyjons war es 
immer fo’. Man ſchämt ſich dann inſtändig, daß man nicht die hohe Kultur Levyſons beſitzt, 
die auch jeden Morgen ihr Bad nahmen und ſtets Fingernäpfchen hatten, auch wenn es durch- 
aus nichts zu fpülen gab. Reichgewordenes Par venut um ift der Hauptträger des a ft h e- 
tiſchen Duſels. Erſtens haben fie das Geld und zweitens keine Voreingenommenheiten. 
Dazu kommen fie ‚fürs Geſchäft“ überall herum. Das find die Leute, die ihre Manieren in 
Hotels, Theatern und Ozeandampfern abgucken müfjen und jede outrierte Sache peinlich nad- 
machen. Irgendeine american lady, deren verehrter Großpapa noch mit dem Lumpenkarren 
von Farm zu Farm gezogen iſt, hält es für shocking, einen Apfel mit den Fingern anzufaſſen, 
obwohl fie nicht mehr nötig hat, Lumpen zu ſortieren, und ſchon hütet man ſich ängſtlich, ohne 
Obſtbeſteck zu effen; eine äſthetiſch ſchmachtende Miß riskiert den Botticelliſcheitel, und ſchon 
rennen Hunderte von künſtleriſch angehauchten mit Ohrenbandeaux herum, oder eine Pariſer 
Kokotte gefällt Herrn Snob mit Angoraziegenlocken; ſchon will kein Hut ſitzen, unter dem ſie 
nicht hervorwellen ... Alles wird , äſthetiſch“, ‚ſchmuckvoll“, ‚angewandte Kunſt“. Die berühm- 
tefte Tragödin Iſraels veranſtaltet Vorleſungen aus der Bibel, und die aufgeklärteſten“ Leute 
laufen hin, um Gottes Wort zu ‚genießen‘, obwohl fie gewiß nicht zehn Pferde in eine Kirche 
bradten. Ein ſchamloſes Frauenzimmer ftellt fic nackt zur Schau, und ſchon heult eine Meute 
hinter den Blättern her, die das Ding beim richtigen Namen nennen ... Nichts foll mehr fein, 


Auf der Warte 287 


wie wir es gewöhnt find. Schmach der Frau, die für ihre Kinder Strümpfe auswäſcht: keine 
Manikure, die auf ſich hält, wird fie mehr bedienen. So etwas gibt man an die Anſtalt, damit 
die Farben recht auslaufen. Man zeigt uns, wie man die Tiſche decken muß, damit fie grand- 
ſeigneurial und erlaucht wirken, als wenn unſere Großmütter keine hüͤbſchen Tiſche gehabt 
hätten. Man ſchreibt uns vor, daß wir rote Blumen in möwengraues Steinzeug ſetzen müſſen, 
und daß weiße in hellgrünen Gefäßen ‚gnadenvoll‘ ausſehen. Es ift unanſtändig, ſelbſtgeſtrickte 
Strümpfe zu tragen, ſittenlos, auf ausgebeſſerten Bettlaken zu ſchlafen. Es ift überhaupt un- 
moraliſch, unter 50 000 Mark Einnahme zu haben. Wenigſtens tut man fo! Hinter die Kuliſſen 
guckt ja keiner.“ 
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Was iſt modern? 


Vodern, fo wird in der „Chriſtlichen Welt“ ausgeführt, — modern ift, was die Herzen 
deines Geſchlechtes höher ſchlagen läßt und was auch dein Herz bewegen ſollte, 
| die Aufgabe, die dieſer unſerer Zeit wie keiner anderen gejtedt iſt und an der du 
mitarbeiten follft aus allen Kräften! Und modern iſt der ganze Hexenſabbat von Narrheiten 
einer Zeit, da das Individuum losgelaſſen iſt und ſich jeder Subjektivität hingibt. Modern iſt 
die ungebundenſte, jeder Scham bare, vor Erregung zitternde Sinnlichkeit, verrücktes Ver- 
kennen des ewigen Unterſchieds, den die Natur ſelbſt zwiſchen Mann und Weib geſetzt hat, 
tolles Verwerfen jeder Form, ohne die es doch kein Kunſtwerk geben kann, Losziehen gegen 
jede vernünftige Ordnung, Hinwegſtürzen über jede gegebene Schranke, ſchließlich Feindſchaft 
gegen die Logit ſelbſt, — das alles ift modern! Und modern ift auch der gewaltige und ſchon längſt 
unuͤberſehbare Schatz von Wiſſen und Können, den unſere Forſchung aufgehäuft hat, die be- 
wunderungswürdigen Erfolge der Technik, eindringendes Verſenken in die Zeiten der Ber- 
gangenheit mit großer Kraft gegenſtändlichen Anſchauens und lebendigen Mitempfindens, 
heißes Bemühen um gerechte Ordnungen in Staat und Geſellſchaft, — auch das iſt modern. 
Modern ift die Pflege des Persönlichen, Intimen, was du haft und but und werden ſollſt und 
du allein, wobei alle Quellen in der Tiefe zu rauſchen beginnen, und modern ift das ruͤckſichts⸗ 
loſe Niedertreten der Perſon, wo ſie dem brutalen Egoismus des Herrenmenſchen und dem 
noch ſchlimmeren der Klaſſe und Clique in den Weg tritt. Modern iſt die raſtloſe, ſelbſtvergeſſene 
Arbeit auf allen Gebieten und die zügellofefte Genußſucht. Modern ift dies aberwitzige Haſten 
und Treiben, und ihre Folgen, die Uberreigung, die Nervoſität und Perverſität; aber modern 
ift auch eine wunderbare Feinfühligkeit, die Farben ſieht und Töne hört, die dem einfachen, 
natürlichen, gefunden Menſchen verſchloſſen find. Es folgt, daß febr Verſchiedenes modern 
iſt, und daß das Schlagwort „modern“ für den jungen Mann kein Leitwort ſein kann. Wer 
vernünftig urteilt, fragt überhaupt nicht, ob eine Sache modern ſei; er unterwirft ſich nicht 
jeder Torheit, weil ſie dieſen glängenden Namen trägt. Er bedenkt, wie das Moderne ſteht 
zur Vergangenheit und zur Zukunft. 

Zur Vergangenheit. Als Friedrich Wilhelm IV. einmal Alexander v. Humboldt fragte, 
was es Neues in der Aſtronomie gebe, foll ihm der geantwortet haben: Kennen Ew. Majeſtät 
ſchon das Alte? Za, kennt unſere moderne Obrigkeit, kennt Se. Majeſtät, das Publikum, ſchon 
das Alte? Und doch iſt das Alte, das von den Modernen verachtet wird, nicht immer ſo ganz 
wertlos. Im Ernſt geſprochen: das Beſte von dem, was wir in der Gegenwart beſitzen, iſt na- 
türlich nicht modern. Natürlich! Penn fo gewaltig find die Leiſtungen gerade unſeres Ge- 
ſchlechtes auf allen Gebieten doch eben nicht, als daß fie alles je Dageweſene überall in Schatten 
ſtellten. Wir beſitzen dermalen, ſo weit ich weiß, keinen Bismarck, Goethe, Shakeſpeare, Raphael, 
Plato oder Phidias. Und auch, was unſere Zeit wirklich hat und hervorbringt, iſt nicht fo un- 


288 Auf ber Warte 


glaublich originell, wie es ihr zu fein ſcheint. Auch die größten Errungenſchaften dieſer Stunde | 
würden nicht fein, wenn nicht die Vergangenheit den Unterbau geliefert hätte. In der Ge- 
ſchichte des geiſtigen Lebens aber vor allem heißt es: 

Das Wahre war ſchon längit gefunden. 

Hat edle Geiſterſchaft verbunben, 

Das alte Wahre, (op es an! 


Oder etwas unhöflicher: 


Wer kann was Kluges, wer was Oummes denken, 
Das nicht die Vorwelt ſchon gedacht? 


Nicht einmal in deinen Dummheiten biſt du fo hoch originell, hochverehrtes, modernes Ge- 
ſchlecht! 

Euch aber, die ihr Theologen ſeid, brauche ich nicht erſt zu ſagen, daß die klaſſiſche Zeit 
der Religion in der Vergangenheit liegt. Ein alter, andächtiger Choral hat euch mehr zu fagen 
und führt euch in größere Tiefen als Wagners Pilgerchor. 

Und nun das Moderne und die Zukunft. Das Moderne vergeht ſo raſch wie die Mode. 
Heute funkelnd in glitzerndem Licht, morgen Grau in Grau; heute geiſtreich, morgen lang⸗ 
weilig; heute blutig-ernſthaft, morgen lächerlich, — unglaublich, daß dergleichen je da war, 
Witz von geftern, Mode des vorigen Jahres. Nichts bezeichnender für die Kraft der Schlag- 
worte, als daß es ſogar theologiſche Schulen gibt, die ſich „modern“ nennen, nicht etwa von 
Gegnern zum Spott fo bezeichnet werden. Spotten ihrer ſelber und wiſſen nicht wie! „Mo- 
derne Schule“, d. h. eine Schule, die heute blühet und morgen in den Ofen geworfen wird. 
Denn auch in der Wiſſenſchaft gibt es Moden. Es kommt vor, daß ganze Geſchlechter wie durch 
einen Zauber gebannt find, die einfache Wahrheit nicht zu ſehen, den ſelbſtverſtändlichen Schluß 
nicht zu ziehen, den gegebenen Weg nicht einzuſchlagen. Und der Humor der Weltgeſchichte 
will, daß jedes Geſchlecht auf ſolche Irrtümer beſonders ſtolz ift. Dergleichen nennt der epr- 
würdige Herr Philiſter mit Vorliebe „Ergebniſſe der neueſten Wiſſenſchaft“ und noch fdlim- 
mer „Stand der Forſchung“. Huno tu, Romane, caveto! („Bor dieſem hüte dich, Römer!“ 
. Lebe mit Bewußtſein in deiner Zeit, entziehe dich nicht den Aufgaben deines Gefchlechtes. 
Laß dich nicht durch alte Vorurteile verführen, das Tuͤchtige und Treffliche der Gegenwart zu 
verkennen; und wo man ernſthaft arbeitet und deine Kräfte es vermögen, da ſei mit ganzer Seele 
dabei. Nur ein moderner Menſch kann ein wirkungsvoller Prediger ſein. Drum, du junger 
Theologe, fei modern! Aber unterwirf dich nicht blind dem Modernen! Mache nicht jede Laune 
deiner Zeit getreulich mit! Handle nicht wie die, die im glühenden Eifer, der Gegenwart zu 
dienen, fih auf alles jeweils Moderne mit Wut ſtürzen und glauben, daß fie dann leichter Cin- 
gang finden, die Nietzſche im Wortſpiel überbieten und den nunmehr ſchon wieder verfloſſenen 
Jugendſtil im Buchſchmuck. Pflege die edlen Schätze der Vorfahren, über die ſich die Moderne 
leichten Herzens hinwegſetzt. Trägt dich dann einſt die Welle der Moderne empor, ſo freue dich 
nicht zu ſehr; denn es kommt der Tag, wo der Wind gegen dich weht. Fließt aber der Strom 
einen andern Weg, als du wünfcheft, fo verzage nicht: wie bald kann er ſich wenden. Und übri- 
gens, was liegt daran? Strebe du nach dem, was du ſelber als gut und wahr erkannt haſt, und 
kuͤmmere dich nicht um den Beifall. Wenn alle Welt der Torheit fic) unterwirft, bleibe du ſtill 
beiſeite, oder, wenn es ſein muß und du deiner Sache ſicher biſt, erhebe deine Stimme und 
rede, aber dann, wie unſere wackeren Vorfahren ſagen, mit „Kraft und Nachdruck“. Natürlich 
wirſt du als Einſpänner und Quertreiber gelten. Schadet nichts; du haſt deine Pflicht getan. 
Zum Schluß aber wird das ganze Brillantfeuerwerk einer falſchberüͤhmten Moderne Finfter- 
nis und Qualm, und die ewigen Sterne erſcheinen am Himmel. Schaue du nach den Sternen! 


Verantwortlicher und Chefredakteur: Jeannot Emil Freiherr von Grotthuß, Bab Oeynhauſen in Weſtfalen. 
Literatur, Bildende Kunſt, Muſik und Auf der Warte: Dr. Rari Storck, Berlin W., Landshuterſteaße A 
Orud und Verlag: Greiner & Pfeiffer, Stuttgart. 


Die Netztrager Hans v. Marees 


Die Ruderer Hans v. Marees 
Entwürfe zu den Fresken in Neapel (1873) 


Gefechtsszene aus den Freiheitskriegen (1862) 


Mit Genehmigung des Herrn G. v. Marées, Halle a. S. 


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iD poetiſcher Einbildungskraft Hatt lauterſter Wirklichkeit, wenn ſchon ein- 
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onatsſchrift für Gemüt und Geif = 
usgeber :Jrannot Emil FreihertonGrothuss 


Pfingſten 


K. A. Buſch 


Wenn aber ber Geiſt der Wahrheit kommen wird, 
ber with euch in alle Wahrheit leiten. Ev. Joh. 16, 13, 


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2 , Ya A innigften Familiengeiſtes, lieblicher Sitten und Gebräuche, voll 
S Tannenduft und Lichterglanz, leiſe hier und da noch umglänzt von 
dem Himmelsglanz aus Bethlehem und der Engelsbotſchaft, — iſt nicht viel mehr 
als ein liebliches geduldetes Märchen, ein zartes Gedankenſpiel kindlicher Phan- 
taſie und poetiſcher Einbildungskraft ſtatt lauterſter Wirklichkeit, wenn ſchon ein- 
gekleidet in duftige Schleier; Oſtern und Pfingſten nicht minder ſind uns meiſt nur 
Frühlingsfeſte, mit allem Zauber, den das ſilberne, feine Grün der Wälder, der 
Birken und Buchen, die Blütenpracht der Obſtgärten vom ſchneeigen Weiß bis zum 
zartduftigen Roſa zu verleihen vermag, verbunden mit alten lieben Kinderſitten, — 
Poeſie, Zauber, Naturſchönheit, aber die Wirklichkeiten ſittlicher und religiöfer Ge- 
danken find verduftet und verflogen; wie fo oft hat die Aſthetit, die fittlich indifferente, 
die ſchöne, leichtgeſchürzte Göttin, die ernſte, heilige Religion verdrängt. 
Pfingſten, das Zeit des Heiligen Geiſtes! jt es wirklich uns nur noch eine 


Summe von Gefühlen des Entzückens an der neuerwachten Natur und höchſtens 
Her Tümer XI, 9 : 19 


290 Buſch: Pfingſten 


noch vager Kindererinnerungen an ſeltſame Geſchichten von Windbrauſen, feuri- 
gen Zungen und einem unausdenklichen Sprachenwunder, das kein Menſch glau- 
ben mag, das keine Seele erlöſt und erhebt? Was iſt der Heilige Geiſt? Die dritte 
Perſon der dreifachen Gottheit? Welch unvollziehbarer Gedanke! Wo ſind die 
Wirklichkeiten des Heiligen Geiſtes, wo ijt feine Wahrheit? Phantaſien, Fllujio- 
nen, Hirngeſpinſte, unfruchtbare Spekulationen gelehrter und myſtiſcher Köpfe 
aus alten Zeiten! Sft die Natur in all ihrer jungen Pracht und Schönheit nicht 
viel wirklicher? Erlöſt uns nicht die Schöne von allem Elend und Gemeinen eher 
denn die alten wunderlichen Geſchichten? 

Nein, wahrhaftig, wir wollen nicht verächtlich von der Pracht reden, die in 
dieſen Wochen wieder uns erſchienen! Ein Barbar, dem fie nicht zu Herzen ſpräche! 
Ein Bejammernswerter, der nicht aus ihr Gottes Majeſtät und Schöne erführe, 
der nicht geläutert und gereinigt heimkehrte in ſein Haus, dem nicht Sonnenſchein 
und Himmelsblau, Käferſummen und Vogelſang die düſtern Grillen verſcheucht 
und eine Helle in fein Herz geworfen wie nie zuvor. Und doch — wer tiefer zu- 
ſieht in eben diefe ſchöne Natur mit all ihrem herzberückenden Zauber, ſieht dunkle 
Punkte genug wie Flecken auf einem ſchönen Bild. Grauſamkeit und Zerſtörung, 
brutaler Rampf ums Oaſein, Krieg bis aufs Meſſer allerorten. Die Pflanze frißt 
das Tier, ein Tier das andere, alle zuſammen macht der Menſch ſeinen Zwecken 
dienſtbar und ſchaltet in ihren Reichen als vollkommen fouverdner Herr. Und er 
ſelbſt iſt das mächtigſte und klügſte Raubtier, ſein Intellekt gibt ihm unbeſiegbare 
Waffen an die Hand, jeden Tag erſinnt er neue, ſicherere, wirkungsvollere. Auch ſo 
läßt ſich die Natur anſehen: ein wilder Kampf auf Leben und Tod, ein ewig Ringen 
des Stärkeren gegen den Schwächeren, eine ewige Flucht vor dem Tod. Keinen 
Augenblick ift das Reh ficher vor der Kugel des Jägers, keinen Augenblick die Mücke 
vor dem Schnabel ihres Würgers. Und ſelbſt der Menſch unterſteht den allmadti- 
gen Naturgewalten. Iſt auch der Ozean überwunden, das Land von Beſtien ge- 
ſäubert, vom Eiſenſtrang durchquert, erheben ſich Städte und Paläſte überall, 
trägt auch der Funken das Wort ſchneller als alle Winde in alle Erdteile — ein 
Zucken der alternden Erde wirft noch heute Städte und Oörfer über den Haufen, 
Kirchen ſtürzen und Paläſte berſten, und unter den Trümmern wimmern hundert- 
tauſend Menſchenkörper, und noch ijt kein Kräutlein gegen den Tod gewachſen. 
Die Natur iſt furchtbar, entſetzlich — ein allmächtiger, grauſamer Gott ſcheint 
hinter ihr zu ſtehen, ein Oeſpot ohnegleichen. Natur läßt fic) mit Natur nicht über- 
winden, auch vom Menſchen nicht; als Natur bleibt er ein ohnmächtiger Wurm, 
keinen Augenblick vor dem Tode ſicher, den ihm, der Natur, die Natur bereiten 
kann. Auch fein Leben ift Kampf ums Oaſein, Sicherung der Exiſtenz nicht nur 
inmitten der unbelebten und tieriſchen Natur, ſondern auch inmitten der Natur 
der menſchlichen Geſellſchaft. Das Jagen nach Brot und Erwerb, Konkurrenz 
und Geſchäft, Handel, Technik — ſie alle ſind Natur, bearbeitete, geformte Natur, 
den menſchlichen Bedürfniſſen unterworfene Natur, zwar „Kultur“ genannt, Rul- 
tur aber der Natur. 

Das iſt die „Wirklichkeit“ des Lebens. Gibt es neben ihr noch eine andere? 
Kann es neben ihr noch eine andere geben? Sft nicht alles andere höchſtens nur 


Buſch: Pfingſten 291 


poetiſcher Hang, phantaſtiſche Verbrämung, Blumen auf dem Sarg, der die ver- 
fallene Leiche enthält? Wir mögen dieſen Flitter, der das Aas und den Kot gnädig 
verhüllt, lieben, aber wäre es nicht beffer um der Wahrheit willen, ihn vor der Zeit 
zum Kehricht zu werfen, dem doch alles unrettbar verfallen ift? — „Um der Wahr- 
heit willen!“ Wahrheit? Welcher Klang? „Wahrheit!“ Etwas, was unvergleid- 
bar iſt all unſerem leiblichen Sein, aller Natur draußen, etwas Unbedingtes, wie 
aus einer andern Welt, ſo hehr, ſo ernſt, ſo majeſtätiſch, ſo unbedingt fordernd! 
Nichts hilft uns, ihr zu entfliehen. Wir mögen behaupten, daß alles Vergängliche 
dem Tod verfallene Natur iſt, daß es keine Wahrheit, die ſich außer und über ihr 
als un vergänglich behaupten will, geben kann, — eben diefe Behauptung bean- 
ſprucht, „wahr“ zu ſein, eben dieſe Leugnung der Wahrheit hat die Anerkennung 
von „Wahrheit“, eines Wertes jenſeits aller Natur zur Vorausſetzung. Die Wahr- 
heit iſt nicht zu ſtürzen. Unbeweglich behauptet ſie das Feld. 

So gibt es alſo doch noch ein anderes als Natur. Es gibt Werte, unbedingt 
und unabhängig von allem natürlichen Sein und Vergehen; es gibt außer der Welt 
der Natur eine andere Welt, unvergleichbar mit ihr, völlig weſensverſchieden von 
ihr. Und dennoch ſind beide verankert in uns ſelber. Wir ſind ein natürliches Ding, 
ein Raumding, vergängliche Natur und zugleich ein Etwas, das wertet, ein S el b ft 
oder eine Perſönlichkeit, die nicht nur fragt nach dem Sein, ſondern nach 
dem Sollen. Gibt es aber ein Sollen, gibt es dieſe von uns anzuerkennende 
unabhängige Wahrheit, — dann geht zugleich ein unheilbarer Riß durch unſre Seele, 
der Riß von Sollen und Sein. Wir ſehen rings um uns herum Bosheit und Nieder- 
tracht, Gemeinheit und Selbſtſucht, u m uns herum nicht nur, nein, i n uns felber: 
Ungerechtigkeit, Untreue, Liebloſigkeit. Und doch tragen wir in uns die Wahr- 
heit, der wir nicht entfliehen können, das Sollen, das unentrinnbare, ewig erhabene 
Ideal, majeſtätiſch wie nichts und doch zugleich beſeeligend, niederſchmetternd und 
erhebend, das uns unſere Mangelhaftigkeit offenbart und doch zugleich uns das 
Ideal immer aufs neue vorhält und damit unſre Perſon aufrichtet und adelt; find 
wir freilich ehrlich, ſo überwiegt die Niedergeſchlagenheit in uns; je mehr wir uns 
von der Aufgabe des Sollens erhoben fühlen, deſto mehr ſehen wir uns im Swie- 
ſpalt von Sollen und Sein verworfen. 

Aber eins ift uns ſicher. Dieſe Wirklichkeit des Sollens ijt Wahrheit obne- 
gleichen. Oder die Wahrheit des Sollens iſt die Wirklichkeit ſchlechthin. Sollen wir 
eine Wertung vollziehen zwiſchen Natur und Sollen, fo können wir der Natur nur 
die Rolle des Knechts, des Dieners zuſchreiben. Die Wahrheit herrſcht, die Natur 
muß dienen und gehorchen. Die Natur iſt Mittel und Material, das Sollen will 
und formt. Wir ſind, um zu ſollen und um zu wollen. Als ſollende 
Weſen find wir übernatürlich, unvergänglich, dem Tod überhoben, auch wenn wir 
ſterben. Za der Tod unſeres leiblichen Lebens kann die Geburt unſeres ſittlichen 
Lebens bedeuten. Indem „wir unſer Leben verlieren, können wir es gewinnen“. 
Aber was hilft uns aus dem Zwieſpalt von Sollen und Sein? Wir brauchen eine 
Erlöſung mehr noch als von den Nöten des natürlichen Lebens von den Nöten unſres 
ſittlichen Lebens. Und wie könnte ſie allein beſchaffen ſein? Es müßte uns 
eine heilige Güte erſcheinen, die nicht das Sollen vernachläſſigt, die nicht die fitt- 


292 Buſch: Pfingſten 


liche Forderung abſchwächt und die uns doch hinaushebt über die Schuld, — denn 
fo empfinden wir den Riß in unſerer Seele —, ja mehr noch, die uns die Kraft ver- 
liehe, dem Sollen nahezukommen, immer näher von Tag zu Tag, bis hin zu der 
unausdenkbaren Hoffnung, daß das Sollen zum Sein würde. 

Der furchtbare Gott, der hinter der Natur zu ſtehen ſcheint, ift noch furdt- 
barer geworden als einer, der hinter dem ſittlichen Geſetz ſteht, der uns unaustilg- 
barer Strafe in der Schuld anheimgibt. Kein ſchrecklicheres Ubel als das der Schuld 
für das Selbſt, das der Wahrheit und dem Sollen nicht zu entfliehen vermag. Gott 
kann freilich nun nicht der willkürliche grauſige Deſpot mehr ſein. Er, der in dem 
Sollen unſer Selbſt über die Natur erhoben und zur Perſönlichkeit geadelt, er 
ſelbſt muß zwar ein allmächtiger, furchtbarer, aber doch ehrfürchtig heiliger Gott 
ſein, ein allmächtiger, gerechter Gott, der am eheſten einem König zu vergleichen iſt, 
der auf ſeinem Thron ſitzt, das Zepter in den Händen, ernſt und ehern, oder einem 
Richter, der unrettbar wägt nach Recht und Unrecht. 

Und doch kennen wir ſelbſt noch Höheres, noch Heiligeres und Edleres. Wir 
beugen uns vor dem Menſchen, dem Gerechtigkeit und Treue über alles gehen, 
aber noch höher als er ſteht uns der Vater in jenem unausredbaren Gleichnis vom 
„verlorenen Sohn“, der in heiliger Vaterliebe die Hände dem heimkehrenden reuigen 
Sohne entgegenſtreckt und ihn in die Arme ſchließt, noch ehe der Sohn ſein „Vater, 
ich habe geſündigt ...“ ausgeſprochen hat, der Vater, der keine Sünde und Schuld 
vertuſcht und verwiſcht, ſondern ſie ernſt und heilig ſieht und anerkennt, und der 
dennoch dem ſchuldigen Kind die Hand aufs Haupt legt: „Das Alte iſt vergangen, 
ſiehe, es iſt alles neu geworden.“ 

„Könnt nun ihr, die ihr doch arg ſeid, den Menſchen gute Gaben geben, wie- 
viel mehr wird der himmliſche Vater ſeinen Heiligen Geiſt geben denen, die ihn 
darum bitten.“ Gott iſt nicht mehr der grauſame Willkürdeſpot, auch nicht mehr 
der allmächtige eherne Richter und majeſtätiſche König, er muß — wollten wir 
ihn uns kindlich vorſtellen — wie ein ehrfürchtiger, ernſter und doch über alles güti- 
ger Vater ausſehen, dem wir wie ein Kind unſer ganzes Vertrauen ſchenken dürfen. 
Iſt Gott ſo unſer Vater, dann ſind wir ſeine Kinder; ſind wir Gottes Kinder, ſo 
haben wir die Geſinnung des Vaters, unſres Gottes, Gottes Geſinnung, Gottes 
heiligen Liebesgeiſt. Es gibt keine größere Offenbarung für unſer Selbſt als fitt- 
liche Perſönlichkeit denn lautere ernſte Güte und Liebe. Die Natur iſt alſo nicht die 
letzte Wirklichkeit, das Sollen iſt die höhere Wirklichkeit, und es vollendet ſich erſt 
in heiliger Liebe und Güte, die die ſittliche Forderung nicht aufhebt, aber über- 
bietet. So ift die Liebe die Wahrheit des Menſchen, denn „Gott ift Liebe“. Wol- 
len wir die Wahrheit des Lebens, unſres perſönlichen Seins beſitzen, ſo müſſen wir 
Liebe beſitzen, Liebe erfahren haben, ewiger Liebe gewiß ſein. Erfahrene Liebe 
hebt uns über die Schuld hinaus und über die Grauſamkeit der Natur, weil ſie uns 
eine höhere Wirklichkeit offenbart. So offenbart uns die Liebe die Wahrheit, ſie 
„leitet uns in alle Wahrheit“, denn Gott ſelber, der die Wahrheit iſt, iſt Liebe. 

Enthält Pfingſten keine „Wirklichkeit“ für uns? Wer den Weg über die Natur 
hinweg gefunden hat zum Sollen und zu ewiger Wahrheit, wer den alles über- 
ragenden Wert der Liebe, von der Kräfte der Verſöhnung und Erlöſung ausftrömen, 


Maſſs: Zn glühenden Schuhen 293 


erfahren hat, der allein kann Pfingſten verſtehen, der allein begreift feine „Wirk- 
lichkeit“ und feine „Wahrheit“. Pfingſten redet nicht von der ſchönen Natur. Es 
redet von dem heiligen Gottesgeiſt der Liebe, der in Zefus von Nazareth und fei- 
ner Jüngergemeinde und allen denen, die mit ihnen eines Geiſtes und einer Seele 
ſind, wirklich geworden iſt, von dem Gottesgeiſt, der damals im Kreis jener ſchlichten 
Fiſcherſeelen ſo gewaltig hervorgebrochen iſt und ſie zu Reden und Taten befähigt 
hat, die angefangen haben, mit den Jahrhunderten die Welt umzugeſtalten und in 
gahrtauſenden noch umgeſtalten werden. Es ift eine lange Kette von Bekannten 
und Unbekannten, Frauen und Männern, Großen und Kleinen, die jenen heili- 
gen Gottesgeiſt der Liebe geſpürt und von ihm erlöſt worden ſind, ſeit den Tagen, 
da die Jünger Jefu verzückt der Gegenwart und Kraft des Geiſtes ihres Herrn, 
den fie als Gottes Geiſt erkannten, gewiß wurden, jenen Stunden, von denen Spä- 
tere, die das Gewaltig-Innerliche nicht anders als als äußere Erlebniſſe darzuſtellen 
vermochten, erzählten, der Get fei gekommen mit Feuerzungen und Windes- 
brauſen und mit jenem Sprachenwunder, daß alle jüdiſchen Feſtpilger aus aller 
Herren Länder in Zerufalem den Petrus jeder in feiner eigenen Sprache predigen 
hörten. 

O verſtänden unſre Zeit, unſer Volk, alle Stände und Berufe Pfingſten 
wieder! Erführen ſie wieder etwas von dem weltumgeſtaltenden Geiſt heiliger 


Liebe, der erlöſt und beſeligt! 


In glühenden Schuhen 


Von 

Grete Mafle 
In glühenden Schuhen ſollſt du gehn Ooch kommſt du einft ans Himmelstor 
Und niemals Ruhe finden. Alt, müde und vertrieben, 
Qual ſei dir das ſüße Himmelslicht Wie werde dein bleiches Antlitz ich 
Und Gift der Ouft der Linden. Mit der Kummerfalte lieben. 
Oes Fluſſes klares Spiegelblau Um deinen armen Mund die Spur 
Zerbrichſt du zornig mit Steinen, Des Schmerzes kann ich nicht ſehen, 
Oein eigenes Antlitz will dir darin Daß mir die ſtrahlenden Augen nicht 
Wie das eines Toten erſcheinen. Von Tränen übergehen. 
Sid wird kein Kind mit reinem Blick Was iſt mir noch die Seligkeit, 
Von deinem Fluch erlöfen. Wenn ich dich leiden ſehe? 
Dich rettet der Mutter Seele nicht So ſchwer und dunkel iſt kein Weg, 
Aus der finſteren Macht des Böſen. Den ich mit dir nicht gehe! 
Bei jedem Schritte klagen dich an Sollen wir beide nicht vereint 
Meine jungen, durchweinten Fabre. Die ewigen Himmel grüßen, 
Aus deinen Augen ſchwindet nicht So löſt mein ſchimmerndes Flügelpaar 
Das Bild meiner Totenbahre. Und laßt mich mit ihm büßen. 


2 


(Sas 
N 
A Wiis 


Die Briefe des alten Joſias Köppen 


Von 
Marie Diers 
(Zortfegung) 


Greeſchenbock, Sonntag den 11. Auguſt 1889, 

a, meine liebe Elſe, nun iſt das alſo wieder mal vorbei. Es war doch 
eine ſchöne Zeit, wir wollen nun auch nicht murren. Wie Du vom 
Hof runtergefahren biſt im Regen, bin ich überall herumgegangen, 
O um zu ſehen, ob auch alles ordentlich im Gange ift. Die Dierns waren 
beim Flachsausziehen, und weil es ſo regnete und wir nicht einfahren konnten, 
haben die Knechte geſeſſen und Bände gemacht von altem Stroh zum Gerſtebinden. 
Es war alles fo trübjelig und leer. So ein ganzer Tag, wenn morgens früh ein 
Abſchiednehmen geweſen iſt, iſt ſchwer durchzuhalten. Dann habe ich den Hermann 
und die beiden Neumanns, die Du als Kind immer „die Schneeglöckchen“ nannteſt, 
zum Kluten geſchickt mit den Pferden, weil der Schafſchwengeldreeſch geriſſen 
werden muß. Dann bin ich in die Stube gegangen, und da hat Mamſell eben 
den Tiſch abgeräumt, hat mir Deine blaue Taſſe vorgezeigt und geſagt: „Na, Herr 
Köppen, die kriegt nun wieder mal lange Ruhepauſe.“ 

Nee, Diern, fold) ein Tag ift nicht ſchön. 

Das wird aber doch wohl nicht gehn, daß ich Dir alles aus der Wirtſchaft 
ſchreibe, was vorgeht, Elſing. Das iſt ja zu unwichtig zum Schreiben. Was haſt 
Du davon, wenn ich Dir erzähle, daß Siegfried in der Scheunendiele hinter der 
großen Eiche den Zement glatt gemacht hat, wo die Mäuſe ſich ein Loch gemacht 
haben, oder daß Hermann Kleie für die Schweine holt uſw.? 

Das laß man, da quäle mich man nicht darum. Da komme ich mir ja lacder- 
lich vor, wenn ich ſo was alles ſchreibe. 

Eben kommt Mamſell und läßt Dir fagen, daß Dein kleines Kalb ſchon heute 
Gras gekriegt hat und anfängt zu freſſen. Siehſt Du, da hörſt Du doch noch was. 
Ja, ja, ſo geht das eine rein ins Leben, das andere raus. Manchmal denkt man 
doch: Wozu eigentlich das ewige Rundum? Aber man ſoll's nicht denken, hat auch 
keinen Zweck. 

Dierning, nun noch etwas Ernſtes. Du wirſt ſchon wiſſen, was nun kommt, 
und wirſt denken: Ja, warum ſchreibt er mir das und hätte es doch bequemer ge- 


Oilers: Die Briefe des alten Zoflas Röppen 295 


habt, mündlich davon zu reden! Haft Dich auch wohl gewundert, daß ich damals 
bloß ſo darüber hingelacht habe, als nähme ich's nicht ernſt. 

Es iſt aber ſo: ich nehme es ernſt und nehme es wieder nicht ernſt. Das habe 
ich mir erſt ſo recht überlegen können, wie Du weg warſt. Überhaupt bin ich jetzt 
ſo ans Schreiben gewöhnt, daß mir dieſe Sache beinah leichter wird zu ſchreiben, 
als zu ſprechen. 

Alſo: ich nehme es ernſt inſofern, als ich es in feiner Wirkung auf Dich anſehe. 
Darum fange ich auch noch einmal davon an. Ein Gefühl kann ſo dumm und ſo 
ſchlecht ſein, wie es will, wenn Du Oich ihm hingibſt, kann es Dich feſthalten und 
Dein Leben zerſtören. 

Wie ich Dich gefragt habe, ob Du den Menſchen noch liebſt, haft Ou gefagt: 
„Nein, Vater“, aber Deine Augen haben fo groß und ängſtlich geftanden, daß da- 
hinter wohl noch eine dunkle Angſt ſteckte, es könnte wiederkommen, wenn Du 
ihn ſäheſt, oder es wäre doch noch nicht ganz weg. 

Jawohl, da habe ich damals laut gelacht und habe auch bei mir gedacht: 
Dummer Mädels-Schnickſchnack! Verliebt fih in irgend fo eine flatternde Künſtler⸗ 
mähne und denkt nun, man habe Himmel und Hölle im Buſen. Wird ſchneller ver- 
gehn, als man ein Vaterunſer betet. Aber mir iſt jetzt doch ein bißchen unruhig 
darum. 

Das ift wohl wahr, daß der ganze Menſch Dir mit in die ſchwarze Zeit ge- 
hört, wo Du deinen Vater betrogen und verraten haft. Fd denke auch, er wird 
mit ihr verſinken. Denn ernſt nehme ich die Sache doch wieder nicht, d. h. wie ſie 
an ſich ijt. Ein Klavierſpieler, mein’ Docter, fo ein richtiger Schnurrant, der keine 
ehrliche Arbeit kennt, der iſt nichts für unſereinen, und wenn er die ſchönſten Augen 
unter der Sonne hat. 

Aber das Ernſte, was ich Dir ſchreiben wollte, iſt das: Sei auf Deiner Hut. 
Gib Dich nicht ſehnſüchtigen Schwärmereien hin, das iſt ungeſund und geht ins 
Blut. Und iſt es da erſt drin, ſo biſt Du erhitzt und verlierſt die Herrſchaft über 
Deine Sinne. Das iſt das Schändlichſte, was einer jungen Diern paſſieren kann. 

Liebe Tochter, Du but jetzt in den Jahren, daß Dein Vater mit Dir mal 
ſo was reden kann und ſogar ſoll. Mein guter Kolling hat's zwar in der Mode, 
über ſolche Dinge kein Wort zu äußern, ausgenommen wenn er mal abends einen 
Kleinen zuviel hat und ins Spaßen kommt. Das iſt aber gerade verkehrt. Was 
ift die Folge? Daß die Anna den Didnäfigen mit den Heringspoten Hals über 
Kopf heiraten muß, und der Olle kann zuſehn, wie er die Mitgift groß genug kriegt, 
damit der Kerl ſeine Braut man überhaupt noch nimmt und nicht in Schanden 
ſitzen läßt. Das hat mir doch neulich nach Deiner Abfahrt, wie der Pferdekäufer 
aus Heiteremühle mir das erzählt hat, wie ein Schreck in die Beine gefchlagen. 
Da habe ich mir gleich geſagt: Nun aber ſperr den Mund auf und rede dein Teil! 

Alſo, Dierning, ſei auf Deiner Hut. Es iſt für Dich die Zeit gekommen, wo 
die Liebe reift. Das iſt eine wunderherrliche Zeit. O laſſe fie Dir nicht entweihen! 
Trage Dein Kleinod ſicher durch Feuer und Waſſer, bis daß der Rechte kommt. 

Sieh mal, die Liebe ift febr ſchnell entweiht. Ich denke noch nicht einmal 
an ſolche ehrenrührige Dinge wie mit der Anna Möhrs. Aber ſchon zuͤgelloſe und 


296 Diers: Die Briefe des alten Zoſias Köppen 


ſehnſüchtige Gedanken können ſie entweihen. Was hilft Dir Deine Zugend, wenn 
Du Beine befte Kraft verpuffen läßt? Wie willſt Du mal vor Deinem wirklichen 
Verlobten ſtehn, wenn Ou vorher ſchon ſolche Spielereien durchgekoſtet haſt? 

Elſe, meine Tochter, halte Dir Herz und Gedanken rein, blitzend rein von 
jedem Hauch! Verbanne das Bild dieſes Menſchen aus Deinen geheimſten Träu- 
mereien. Dann wirft Du Deines Vaters Stolz und Freude werden. 


Dich grüßt Oein getreuer Vater Sofias Röppen. 
NB. Du brauchſt hierauf nicht zu antworten. Mach's nur mit Dir ſelber ab. 
2 å & 


(Die Anſichtskarte von Greeſchenbock.) 
Freitag den 30. Auguſt 1889. 
Elſing, Du darfſt Dich nicht beklagen. Es ift jetzt zuviel zu tun. Siehſt es 
wohl auch an meiner Schrift, wie ſchlecht ich jetzt ſchreibe. Hier ift alles geſund. 
Grüße Tante Calla. Dein Vater. 


* * 
* 


Greeſchenbock bei Pöpplitz, Sonntag den 8. September 1889, 
Meine liebe Tochter Elſe! 

Ou haſt Dich wieder angeſtrengt zu meinem Geburtstag und haſt mir eine 
Weſte geſtickt. Wenn ich man bloß wüßte, wo Ou immer die Zeit dazu hernimmſt. 
Ein „büſchen zu fein“, wie mein Kolling Möhrs ſagen würde, iſt ſie ja auch für 
mich. Zum Abendmahl kann ich fie nicht anziehn, weil fie bunt iſt, und in Gefell- 
ſchaften gehe ich nicht. Na, ich werde fie mir aufheben bis zu Deiner Hochzeit. 
Wenn fie auch aus der Mode kommt, das ſchadet für den ollen Joſias nichts. Nicht 
daß ich wüßte, daß der jemals die Mode mitgemacht hätte. 

Bei Tante Calla laſſe ich mich auch bedanken für ihren Brief. Elſing, jetzt 
kommt wieder die Zeit, wo die Klubs und andere Geſelligkeiten bei euch anfangen. 
Laß Dich nicht betrügen und verführen, mein Kind, denn das Leben iſt ernſt, und 
jede Schuld rächt ſich auf Erden. 

Ich freue mich, daß Ihr geſund feid. Wir ſind's auch alle. Madame Ride 
hat mir ein Paar wollene Kniewärmer geſtrickt für den Winter, das tut mir auch 
ganz gut, wenn ich bei der Kälte, wenn es oft noch finſter ijt, in den Hof muß. Mam- 
ſell hat mir einen Butterkuchen gebacken und meine Tür und den Tiſch bekränzt, 
als wenn ich ein junger Bräutigam wäre. Paftor Friedrichs kam am Nachmittag 
gefahren mit ſeiner Frau und traf hier mit Kolling Möhrs zuſammen wie ſchon 
voriges Jahr und vor drei Jahren, und immer egal peinlich, weil mein Rolling heut’ 
ſo wenig zur Kirche und zum heiligen Abendmahl geht wie damals. Na, ich bin 
jetzt bald dran gewöhnt und nehm' es lächerlich. 

Dich grüßt Dein getreuer Vater Sofias Köppen. 


% * 


* 
Greeſchenbock, Sonntag den 15. September 1889. 
Liebes Dierning! | 
Es ift noch heilige Herrgottsfrühe, eben hat's auf der Fluruhr fünf gefchlagen. 
Es iſt noch eine halbe Stunde vor Sonnenaufgang und iſt man eben ſo, daß ich ohne 


Piers: Die Briefe des alten Joſias Röppen 297 


Lampe ſchreiben kann. In Haus und Hof wird's eben erft ſachte lebendig, weil 
doch auch am Sonntag das liebe Vieh ſeine Nahrung haben will. Ich bin ſchon 
durch alle Ställe gegangen und habe die Knechte aufgeweckt. Es weht einem eine 
friſche, kühle Luft um den Kopf, das tut wohl. Elſing, Ou ſchläfſt wohl noch an die 
drei Stunden, weil's Sonntag iſt. Na, ſchlaf Du man, meine Sache iſt's nicht, 
ich kann auch Sonntags nicht lange das Bett wärmen. Weil ich nun grade nichts 
zu tun habe und die Mamſell den Kaffee doch noch nicht fertig hat, ſchreibe ich Dir 
noch dieſe Zeilen. Nachher fahre ich zur Kirche nach Friedenſee und am Nach- 
mittag will ich mal zu Dauls rüber. Dann ift der Sonntag auch mal wieder rum. 
Der Oberförſter hat mir geſtern abend einen Brief durch Boten geſchickt. 

In dem Brief ſtand, Elſing, daß der Hellmut Aſſeſſor geworden iſt, und 
zwar aufs beſte. Das will der Alte ein bißchen feiern. Na, da feire ich gern mit. 
Handelt es ſich doch um einen wahren Prachtkerl. Es heißt, der Graf will ihm die 
Pomplower Stelle geben, bis er in Staatsdienſt geht. Da hat er ein ordentliches 
Gehalt (ich will mal heute fragen, wieviel), ein feines Haus und Garten. — Von 
hier liegt Pomplow bloß drei knappe Stunden, wenn man gut fährt. 

Behüte Dich Gott, mein’ Tochter. 

Dein getreuer Vater Fofias Köppen. 


* * 


* 
(Ohne Ortsangabe und Datum.) 
Liebe Elfe! 

Sd) ſchreibe Dir ſtehenden Fußes, Lepel muß fo lange warten. Eben habe 
ich Deinen Brief erhalten, und alles war darin ſchön und gut, bis auf den letzten 
Satz. Kinding, was heißt das, was meinſt Du mit der duſeligen Redensart, Künſt⸗ 
ler könnten doch auch gute Menſchen ſein, und wenn ich ſie näher kennte, würde 
ich auch anders urteilen!! 

Elſe, da ſteckt etwas dahinter. Da iſt etwas nicht klar. Du haſt den Kerl 
wiedergeſehen! Oiern, Du weißt nicht, in welcher Sorge ich bin. Haft Du alle 
meine ernſten, dringenden Worte, die ich über dieſen Gegenſtand geſchrieben habe, 
vergeſſen, in den Wind geſchlagen? 

Was ſoll es ſonſt heißen, was iſt es für ein Gedröhn! 

Elſe, ich befehle Dir, mir umgehend alles zu ſchreiben. Kann man Euch 
Dierns denn keinen Augenblick ruhig von Haufe weglaſſen? Soll mein alter Rol- 
ling Möhrs noch am Ende recht behalten? Aber der iſt ja auch reingefallen. Ja, 
weil er ſelber ein Dröhnbattel iſt und die Hälfte Welt überhaupt nicht ſieht. 

Ach, ich rede ſchon lauter Zeug, bin ganz dumm im Kopf vor Aufregung. 

Elſe, wenn Du den Kerl, den Schnurranten, etwa mit Deiner dröhnigen Be- 
merkung gemeint haſt und fo ſachte einen Feldzug auf mich eröffnen willſt, dann 
it’s aus mit Berlin. Dann kommſt Du nod diefe Woche zurück. Da 
ift nichts daran zu rütteln. Was nutzt mir die ganze hohe Lernerei, wenn's am Ende 
auf ſolche Choſen hinausläuft! Nein, dazu iſt mir mein Kind zu teuer. 

Tante Line hätte auch wohl ein bißchen beffer auf anvertrautes Gut auf- 
paſſen können! 


298 Oiers: Die Briefe des alten Fofias Röppen 


Na, ich will mich nicht vor der Zeit ereifern. Vielleicht iſt's nicht anders als 
ein dummes Gedröhn von Dir ohne tieferen Sinn. Schreib mir fof ort! Lepel 
rückt ſchon mit den Stühlen im Flur, daß ich raſch machen ſoll. 

Na adjüs. Schreib ſof ort! Dein Vater. 


* * 
x 


Greeſchenbock bei Pöpplitz, Sonntag den 29. September. 
Meine liebe Tochter Elſe! 

Na ja, das war ja ein tüchtiger Schreckſchuß. Dann iſt man gut. Dann mache 
aber ſolche gottserbärmlich dummen Redensarten nicht wieder. „Im allgemeinen 
gejagt“, was das wohl ſoll! Fange bloß nicht mit der allgemeinen Menfchheits- 
Gleichmacherei an, dann but Du ja nicht beffer als die roten Jakobiner von Anno 
1793, die ihren König köpften und die Köpfe auf Piken rumtrugen, im Namen 
der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. 

Nee, Elſing, aufrichtig geſagt: für ſo dumm hätte ich Dich nicht mehr gehalten. 
Dazu gehört doch ſchon eine große Portion Unverftand, und wie ich immer von 
Deinem Lernen und den guten Ausſprüchen Deiner Lehrer lefe, habe ich mir ordent- 
lich Wunders was von Dir gedacht und im geheimen beinah ſo was wie Reſpekt 
gekriegt. Na, damit iſt's noch vorläufig gründlich vorbei. Aber laß man, Du biſt 
ja auch noch jung und kannſt Dich noch ganz anders auswachſen. Auf den Kern 
kommt's ſchließlich doch immer an. 

Afo Diern, was ich fagen wollte: mit der Gleichmacherei ift nichts. Ich 
habe nichts mit dem Künſtlervolk zu tun, und ſie haben nichts mit mir zu tun. 
Daß ihre freie pompöſe Art mal ſolchem dummen Ding wie Dir imponiert, kann 
ja vorkommen, ich will auch nichts mehr darüber ſagen. Aber ſo viel ſollteſt Du 
doch (hon am Ende wiſſen, daß Art und Art verſchieden ift und im Leben nicht zu- 
einander paßt. Ich verachte fie ja auch nicht, aber ich habe nichts mit ihnen abzu- 
machen. Du bindeſt doch auch nicht die Gans an die Pferdekrippe und brateſt das 
Pferd in der Pfanne, was? Na ſiehſt Du, ſo iſt's mit den Menſchen auch. Die 
einen ſind gut zum Schnattern, auch wenn mal unſereiner Luſt zum Lachen hat 
und ins Theater geht und ſich was vormimen oder vordudeln laſſen will. Die andern 
ſind gut zum Pflügen und Ackern und ehrlicher Arbeit. Gemeinſchaft iſt da nicht 
zwiſchen einzurichten. Dabei iſt von Verachtung keine Rede, es iſt nur mal ſo 
und iſt ganz weiſe vom Herrgott geſchaffen, denn er wollte keinen einförmigen Brei 
aus feiner ſchönen Welt machen, ſondern verſchiedenartiges Leben und Weſen. 

Aber fo dumme Gedanken liegen da wohl in der Luft bei Tante Calla. Fd 
habe febr nachgedacht, Diern, was ich mache. Dich ganz fort und nach Haus neh- 
men, wäre mit allem, was dabei ijt, hier vor allen Leuten doch ein bißchen genier- 
lich geweſen, und ich bin froh, daß ich's nicht brauche. Wenn's nötig wäre, fragte 
ich natürlich nicht nach dem Genieren, aber ſo iſt's beſſer. Wenn man nicht jeden 
Tag zu hören kriegt: „Na ja, das ließ ſich ja denken, ich hab's ja gleich geſagt“, 
und man keine reelle Antwort drauf weiß. Aber ob ich Dich nicht doch noch für den 
Winter in eine andre Penſion gebe, vielleicht eine ſtreng chriſtliche, die doch immer- 
hin, mag auch mancher Klimbim, der nicht nötig iſt, dabei ſein, feſte Grundſätze 


Oilers: Die Briefe des alten Zofias Röppen 299 


hat und auf ſtrengen Lebenswandel ſieht, das iſt noch nicht gewiß. Aber ſage 
Tante Calla noch nichts. 

Sa, nun kommt der Winter wieder, liebe Diern, und es ift grade ein volles 
Jahr her, daß Du fortzogſt. Das Schlimmſte iſt nun vorbei, und dieſen Winter 
kriegen wir auch wohl noch glücklich über. Es iſt ſchon recht ſchlecht geworden und 
regneriſch, und der Weg bis zum Tannenſchlag ift der reine Moraſt, daß kaum die 
Pferde durchkommen. Ich werde in dieſem Winter doch mal die Wege ausbeſſern 
laſſen. Natürlich, von Friedenſee aus geſchieht nichts, aber es iſt ja auch nicht 
mein Ehrgeiz, mit den dortigen Bauern an Troddligkeit zu wetteifern. 

Diesmal, liebe Elſe, haſt Du Dich aber in der Berechnung geirrt. Das iſt 
lange nicht vorgekommen, nun aber gleich dick. Was haſt Du denn bloß gemacht? 
Du haſt ſo liederlich die Zahlen aufgeſchrieben, daß einmal dreißig Pfennig für 
Schuhbänder in die Rubrik für Mark überlaufen und ausſehn wie drei Mark. Was 
haft Du Dir denn nachher beim Zuſammenziehn gedacht? Dadurch iſt ja alles 
Unfinn, und Du kommſt auch nicht mit zurecht. 

Elſing, ich glaube Dir ja, daß Du viel Arbeit haſt, aber bei rechtzeitigem 
Anſchreiben koſtet dies nicht fünf Minuten. Nimm Dich alfo mehr zuſammen. 

Madame Ride läßt Dich fragen, ob Du lieber Mett- oder Leberwurſt von 
ihr haben möchteſt oder beides. Antworte ihr man direkt, ſie tut's doch nicht anders 
als Dir ſchicken. Du wärſt doch ihr Herzblatt, ſagte fie. 

Dein getreuer Vater Joſias Köppen. 
K ** 
Greeſchenbock, den 15. Oktober. 
Meine liebe Tochter Elſe! 

Dein letzter Brief ließ ein bißchen lange auf ſich warten, und dann iſt er mir 
gar zu aufgeregt. Du kannſt das gar nicht beurteilen, ob es bei Tante Calla gut 
für Dich iſt oder nicht. Das überlaß mir nur. Wenn Du dich gut hältſt und mir 
keinen Anlaß zum Tadel gibſt, kannſt Du vielleicht bleiben. 

Hier geht alles ſo weit gut bis auf das miſerablige Hundewetter. Der Ober- 
förſter klagt auch über Reißen, und Mamſell bellt wie ein Fuchs, ſchon ſeit acht 
Tagen. 

Weißt Du, was Freitag los ift? Hochzeit in Oreefow. Rolling hat nun alfo 
doch noch ſeine Anna unter Dach gebracht, ehe ihm das Heu verregnete. Ich ſoll 
mitmachen. Na ja, was tut man nicht für einen alten Freund. Ein bißchen be- 
klommen wird's ja werden. Na, Rolling, fo wie ich ihn kenne, wird fidh einen an- 
trinken, und dann iſt er über alles weg. Nun habe ich doch auch noch vor Oeiner 
Hochzeit Gelegenheit, Deine Weſte anzuziehen. Werden die gucken! 

Aber laß man, Elſing, das ift bloß Spaß mit Deiner Hochzeit. Was braucht 
fon dummes Ding Iden an Heiraten denken. Ich habe unter der Hand ſchon vor- 
geſtern in der Glocke mit dem Bürgermeiſter Handke von Pöpplitz geredet. Er 
meinte, es würden Oſtern an der Töchterſchule zwei Stellen frei, dann könnteſt 
Du ankommen. 

Elfing, das wird dann doch ein anderes Leben. Zebt kann ich's Dir ja auch 
man ſagen: Abends iſt's manchmal bannig einſam. Das viele Leſen halte ich auch 


\ 


300 Diers: Die Briefe des alten Zoſias Röppen 


gar nicht fo aus. Aber dann biſt Ou alle Woche hier und in den Ferien immer — 
wenn es nicht noch mal ganz anders kommt. Aber da finde ich mich dann auch 
drein. Das iſt die Beſtimmung des Weibes. 

Das Forſthaus in Pomplow foll pompös fein, ſechzehn Zimmer und elet- 
triſches Licht. Aber was geht Dich das an, Du biſt ja Lehrerin in Pöpplitz! 

Meine alte Diern, ich bin heut' ganz vergnügt. Ich pfeife immer, ohne daß 
ich es weiß. Es wird ſchon alles gut werden. 
Dein getreuer Vater Fofias Köppen. 

. 


* 


* 


Greeſchenbock, den 31. Oktober. 
Reine liebe Tochter Elſe! 

In Eile. Das Paket ſoll fort. Wir haben die erſte Schlachterei gehabt, und 
Mamſell ſagt, die friſche Wurſt müſſe ſchnell abgehen, des weichen Wetters wegen. 
Eßt ſie nur in Geſundheit. 

Elſing, ich kann mir nicht helfen, aber Deine Briefe gefallen mir nicht. Sie 
find fo aufgeregt und fahrig. Mir ſchlägt dann immer gleich die Hitze ins Blut, 
und ich denke alles mögliche. Ich habe das einmal erlebt, daß etwas dahinter 
ſteckte, nun bin ich gleich in Unruhe. 

Elfe, gib mir die feſte und heilige Zuſicherung, daß Du nicht an den Klavier- 
kerl mehr denkſt, ihn wiederſiehſt oder ſprichſt. Schreibe mir in großen, klaren 
Buchſtaben dies Zeugnis hin, Gott ſoll dabei Zeuge ſein, und dann 
ſchicke mir das und nichts weiter. Mehr brauche ich nicht, dann bin ich ruhig. 

Dein getreuer Vater 
Sofias Köppen. 
% ~ * 
(Obne Ortsangabe und Datum.) 
Liebe Giel 

Ich warte noch immer auf Antwort. Mein Patet haft Du doch gekriegt und 
den Brief erhalten? Ich bin jeden Tag vor dem Hof, ehe Lepel kommt, weil ich 
ſolche unruhe habe. Dieſe ganze Nacht habe ich nicht geſchlafen. Zetzt ſchreibe 
ich Dir. Ich denke das Schlimmſte. Antworte f o f ort, ich halte dies Leben tei- 
nen Tag länger aus. 

Dein Vater. 


** * 
* 


Greeſchenbock, Montag den 11. November 1889. 
Meine liebe Tochter Elſe! 

Deinen Brief habe ich nach ſchrecklichen Tagen heute erhalten. Aber ich bin 
ganz ſteif und ſtarr und ruhig darüber. Du ſiehſt auch, daß meine Hand nicht ein- 
mal zittert, und das müßte ſie doch wohl, wenn ich Dir glaubte. Aber das iſt ja 
alles Unfinn und nicht wahr, was Du da hinſchreibſt. So kenne ich meine Elfe denn 
doch noch. Ich habe ja immer geſagt, daß ſie ein dummes junges Ding iſt trotz der 
hohen Lernerei und manchmal ein bißchen ũberſpöhnig, wie fo Dierns find. Und 
das fage ich heute noch. Du ſchreibſt in einer Art Phantaſie, meine Tod- 
ter. Mag ſein, daß Dich die fremde Welt da draußen ein bißchen benebelt hat 


Diers: Ole Briefe des alten Fofias Röppen 301 


und Du über Dich ſelbſt nicht mehr klar bijt. Vernunft ift da nicht drin, was Ou 
ſchreibſt. 

Aber ein Ende muß das haben. Dalaſſen kann ich Dich nun nicht mehr. Es 
ijt ja ſchlecht mitten im Quartal, und das Schulgeld werde ich wohl bis zu Ende aus- 
bezahlen müſſen. Aber das hilft denn ja nicht. Du haft fo gewollt. Jedenfalls 
nach Empfang dieſes Briefes, mein Kind, packſt Du Deine Sachen, ſagſt Tante 
Line Adieu und bedankſt Dich für das Gute, das fie Dir getan hat. Über das andere 
wird ſchon ein Höherer mit ihr abrechnen. Ich ſtreiche ſie hiermit aus 
meinem Leben. 

Wenn es nötig iſt, kannſt Du auch Deinen Lehrern noch Adieu ſagen. Aber 
da das Schulgeld doch bezahlt werden muß, und das mündliche Ausfragen Dir 
vielleicht peinlich iſt, kann es auch unterbleiben. Ich kann es ja ſchriftlich abmachen. 
Übermorgen, den 13. November, Mittwoch früh um 8 Uhr 35 fährſt Du von Ber- 
lin ab, und Heinrich wird zu derſelben Zeit wie im Sommer auf dem Bahnhof ſein. 

Vergiß nur nichts einzupacken. Du kehrſt dahin nicht mehr 
zurück. 

Sein Vater. 
* = ée 

Depeſche an Fräulein Karoline Köppen. Aufgegeben Friedenſee, 13, No- 
vember, vormittags 11 Uhr 15. 

Schicke ſofort Elſe. Ihr Brief iſt nicht maßgebend. Am 14. früh abreiſen. 

Köppen. 


k 1 
* 


Greeſchenbock, 14. November. 

Geſtern abend Deine Depeſche, heute früh der Brief. Ja, mein Kind, denkſt 
Du wirklich, daß, wenn Ou nod fo verzweifelſt weinſt und flehſt, daß das meinen 
Willen auch nur um ein Haar breit ändern wird? Du wiederholſt nur immer die 
Worte aus dem erſten Brief: „Ich habe ihn lieb, ich habe ihn lieb, Vater, erbarme 
Dich!“ Ja, Kind, was foll ich dazu fagen? Du kommſt mir wie eine Kranke vor 
und biſt's auch. So recht ernſt nehmen und mich aufregen kann ich nicht darüber. 
3m habe mich aufgeregt und bitte Gott, daß er Dir das nicht anrechne, was ich 
durchgemacht habe, bevor der Brief kam. Dann wurde es mit einemmal alles 
ſtill und kalt in mir, Elſe. Nein, ich kann's nicht ernſt nehmen, Elſe. 

Ich kann mich nicht einmal darüber aufregen, daß Du meinen direkten Be- 
fehl mit Bitten und Flehen aufzuſchieben hoffſt. Es iſt natürlich ein Entſetzen für 
Dich, ſo Hals über Kopf abreiſen und vor Deinen Vater treten zu ſollen. Ich habe 
Nachſicht dafür. Aber — Elfe, geſchehen muß es ja doch. Go laffe da nicht locker. 
Ich laſſe Dich auch nicht wieder fort. Mit der Lehrerei hat's nun ein raſches Ende 
genommen, ich kann dem Bürgermeiſter nur gleich abſchreiben. 

Die Leute werden ſich ja noch ganz was anderes denken. Aber laß ſie denken, 
ſie werden bald ſehn, daß nicht alles, was durch giftige Mäuler läuft, auch gleich 
wahr fein muß. Du lebſt dann ein paar gahre ſtill und friedlich und arbeitſam hier, 
oder ſo lange, wie es eben ſein ſoll. Und wenn Gott will, kann Dir auch noch ein 
liebliches Los beſchert werden. | 


302 Diers: Die Briefe des alten Zofias Röppen 


Siehſt Du, Elſing, ich bin kaum mal böſe. Zch rede ganz ruhig über diefe 
Sache. Brauchſt Dich nicht zu ſehr zu ängſtigen, wenn Du heimkommſt. Meines 
Vertrauens haſt Du Dich ja nicht würdig gezeigt, aber eine ſtrenge Erziehung kann 
da noch viel wieder gut machen. Weil Du mein einzigſtes Kind biſt, das mir noch 
übriggeblieben ift, habe ich Dir wohl zuviel Freiheit gelaſſen. Ich bin alfo auch 
nicht ohne Schuld. Darum ängſtige Dich nicht fo febr. 

Den Brief von Tante Line ſchicke ich ungeleſen wieder mit. Mit ihr 
habe ich nichts mehr zu ſchaffen. Ohne ſie und ohne ihre verfluchte Grundſatzloſigkeit 
und Leichtfertigkeit wärſt Du nie in diefe Verſuchung geführt worden. — Aber ich 
will mich nicht unnütz erhitzen. Es ijt ja nichts. Es ift ja alles Unfinn. Du ſchreibſt 
und denkſt im Fieber. Unſere gute Landluft wird das alles wieder ausheilen. 

Nun reiſe alſo meinetwegen erſt den 16. früh. 

Dein Vater Joſias Köppen. 
* * 
* 

Depeſche. Aufgegeben Friedenſee, den 16. November 1889, vormittags 
11 Uhr 21.. 

Ich bin heute abend dort. Elſes Koffer bereit halten. Wir übernachten 
im Hotel. Köppen. 


Gut Greeſchenbock bei Pöpplitz, Donnerstag den 12. Zuni 1890. 
Herrn Kurt Harring, Erfurt. 

Sie können am nächſten Sonntag auf einen Nachmittag herkommen, um 
ſich mir vorzuſtellen, falls Sie nach Ihren uneröffnet zurückgeſchickten Briefen 
noch dazu den Mut haben ſollten. Meine Tochter werden Sie hier nicht antreffen, 
fie geht für eine Woche auf ein Nachbargut. Übrigens möchte ich Ihnen bei dieſer 
Gelegenheit gleich mitteilen, daß fie nicht mehr fo hübſch ijt, als wie Sie fie ge- 
kannt haben. Sie iſt in der Zwiſchenzeit ſehr abgefallen, ſieht mager und abgeblüht 
aus. Was vielleicht eine gewiſſe Art von Appetit etwas herabmindert. 

Wollen Sie trotzdem kommen, ſo fahren Sie Sonntag früh 8 Uhr 35 von 
Berlin ab, ſteigen in Grünebuſch um und benutzen in Pöpplitz meinen Wagen. 
Irgendeine Garantie für den Erfolg Ihrer Fahrt kann ich natürlich nicht verheißen. 
Sie haben auf nichts anderes hier zu rechnen als auf einen müden und verbitter- 
ten alten Mann, der ohne Bildung iſt und eine ſchwere Zeit (durch Sie, mein 
Herr) hinter ſich hat. Ergebenſt 

Joſias Köppen, Pächter. 
ES * 
* 
An Fräulein Elfe Köppen, 
p. Adr. Herrn Karl Möhrs 
auf Dreefow. 
Greeſchenbock, den 16. Juni 1898. 
Liebe Elſe! 

Der junge Mann ift hier geweſen, und ich habe mit ihm geredet. Iſt mir 

erft ſchwer geworden, überhaupt den Mund aufzutun oder ihn auch nur angufebn, 


Piers: Die Briefe bes alten Zofias Röppen 303 


der mir meinen Lebensreſt zerſtört und mir das Letzte und Liebſte, was ich noch 
auf Erden habe, genommen hat. 

Du haft ja recht behalten, daß er keine Flattermähne trägt, auch eher zart und 
ſchüchtern ausſieht als frech und toll. Aber das macht es doch alles nicht. Er hat 
mir ſelbſt geſtanden, daß er nie etwas anderes ſo richtig getan und gekonnt hat 
als die Muſik. Was ijt das aber bloß! Ein Mann, der nichts kann als Klavierſpielen. 
Und der will meine Tochter haben! 

Aber Du weißt ja, ich ſage jetzt ja nichts mehr dazu. Mir gehörſt Ou ja doch 
nicht mehr, und ob Du hier im Haufe herumwankſt und von Tag zu Tag mehr ab- 
fällſt, da kannſt Du auch ebenſogut Frau Klavierſpieler werden und dem bleichen 
Züngling feine Suppen kochen. Zt ja doch nun alles eins. J d habe ja doch nichts 
mehr von Dir. 

Er hat eine Klavierlehrerſtelle in einem Inſtitut in Erfurt, ſagt er. Vier- 
hundert Taler hat er, ſagt er. Na, das iſt ja übermenſchlich viel! Dabei könnt Ihr 
ja von Silber eſſen. 

Ach ja, ach ja, das iſt alles anders gekommen, als mein alter dummer Kopf 
ſich das gedacht hat. 

Dein Erbteil gebe ich Dir noch nicht mit. Das hat Zeit bis nach meinem Tode, 
der ja hoffentlich nicht mehr gar zu lange auf ſich warten laſſen wird. Dann werdet 
Ihr es auch wohl noch nötiger haben, wenn in jeder Stubenecke ein Kind ſteckt. 

Elſe, Elſe, Gott rechne es Dir und Deinen armen Kindern nicht nach, wie 
Du mein und Oein Leben verpfuſcht haſt durch dieſe jammervolle Liebelei. 

Bitte man meinen alten Kolling, daß er Dich noch bis Sonnabend behält. 
Mir iſt lieber, ich bleibe noch ein Weilchen allein. 

Dein Vater Fofias Köppen. 


* ** 
sk 


Frau Elfe Harring, geb. Röppen, 
Erfurt. 
Greeſchenbock, Mittwoch den 31. Dezember 1890, 
Liebe Elſe! 

3h wünſche Dir ein geſegnetes neues Jahr. Deine Briefe habe ich erhalten 
und möchte Oich bitten, daß Du lieber nicht ſo oft ſchreibſt. Wenn wir uns zu Neu- 
jahr und zum Geburtstag ſchreiben und voneinander wiſſen, daß wir leben und 
geſund find, fo ift das ja genug. Was foll ich denn von Deiner Häuslichkeit wiſſen? 
3m kann mich ja doch nicht mehr hineindenken. Und was Du mir ſonſt ſchreibſt, 
das bleibt auch wohl beſſer ungeſchrieben. Je weniger man daran rührt, um ſo 
beſſer. 

Ich lebe hier meinen Tag und tu' meine Pflicht. Das ift, was ich Gott und 
Menſchen ſchuldig bin. Oa ift nicht viel von zu ſchreiben. Ich wünſche Dir alfo 
ein fröhliches neues Jahr. 

Dein Vater 
Joſias Köppen. 


304 Diers: Die Briefe des alten Zofias Röppen 


Greeſchenbock, Donnerstag den 21. Mai 1891. 
Liebe Elfe! 

Zu Deinem Geburtstag gratuliere ich Dir. Mamſell wollte Oir gern einen 
Kuchen ſchicken, alſo gib ihr keine Schuld, wenn nun keiner eintrifft. Das habe 
ich Dir ja beim Abſchiednehmen geſagt: Mit ſolchen Dingen iſt es nun vorbei. Ich 
bin ja Dein Vater und werde Dich nicht vergeſſen, aber ſo tun, als ſei nichts anders 
geworden, und Geburtstagsgeſchenke ſchicken und erzählen, das kann und will ich 
nicht mehr. Haſt ja jetzt auch Deinen Mann, der Dich betut, was brauchſt Du denn 
da noch Seinen alten eigenſinnigen Vater. Ich habe Dir nichts in den Weg ge- 
legt, als Du mit dem Kopf durch die Wand Deinen Liebſten haft heiraten wollen. 
Was ſollte ich Dich da auch noch zur Treue zwingen? Erzwungene Treue iſt keine 
mehr. Aber damit iſt's nun auch gut. 

Du wirſt nun einundzwanzig Fabre. Es iſt nur gut, daß Mutter dies nicht 
auch erleben mußte. An einem, der es trägt, iſt's genug. Dein Vater 

Sofias Köppen. 


* * 
Se 


Greeſchenbock, Donnerstag den 31. Dezember 1891. 
Liebe Elſe! 

Ich wünſche Dir ein geſegnetes neues Fahr. Daß Du am 4. Auguſt ein Kind 
bekommen haſt, habe ich zur rechten Zeit erfahren. Was ſollte ich denn darauf 
antworten? Fd) habe da nichts zu jagen. Es ift ja gut, wenn alles geſund und 
wohlauf iſt. 

Du meinſt wohl damit, ich hätte Dir gratulieren ſollen. Wozu ſollte ich denn 
gratulieren? Das weiß ich nicht. Ich habe nichts dazwiſchen zu tun. Sch kenne 
das Kind des Muſikanten nicht und will es auch nicht kennen. Ich habe Dir gleich 
geſagt: Von Verfluchen und fo was ijt keine Rede. Dazu bin ich nicht poetiſch 
genug. Ich bleibe immer Dein Vater und ſchreibe Dir zweimal im Jahr. Aber 
weiter haſt Du nichts von mir zu verlangen außer dem bißchen Geld, was Du 
nach meinem Tode kriegſt. Zärtlichkeiten habe ich nicht für Dich und will keine von 
Dir. Ich tu hier meine Pflicht, ob ſie mir lieb oder leid iſt, oder ob Du Oeine tuſt 
oder nicht, darüber habe ich nichts mehr zu beſtimmen, geht mich auch nicht mehr an. 

Dein Vater Fofias Köppen. 
* 


* 
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Greeſchenbock, Sonnabend den 21. Mai 1892. 
Liebe Elſe! 

Zu Oeinem Geburtstage gratuliere ich Dir. Teile Dir hierdurch auch mit, 
daß heute vor fünf Wochen Madame Ricke ſanft und ſelig entſchlafen iſt. Sie hat 
nicht viel gelitten und läßt Dich noch vom Sterbebette grüßen. Sie hat's nicht 
überwinden können, daß Du fort biſt, und ich ſage: Sie iſt daran geſtorben. 
Es hat an ihr genagt wie ein inwendiger Wurm, denn ſonſt war ſie kerngeſund 
und hätte wohl neunzig Jahr alt werden können. 

Das hatte ich Dir noch mitzuteilen. Dein Vater 

Joſias Köppen. 


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Diets: Die Briefe desf alten Zoflas Röppen 505 


Greeſchenbock, Sonnabend den 31. Dezember 1892, 
Liebe Elfe! 

Sch wünſche Dir ein gefegnetes neues Jahr. 

Daß es Dir nicht gut geht und Dir das viele Arbeiten ſauer wird, habe ich 
ſchon an dem Brief gemerkt, den Du mir zu meinem Geburtstag geſchrieben haſt. 
Sm habe mir das ſchon lange denken können. Was wollt Ihr auch mit vierhundert 
Talern, da kann man nicht von leben und nicht von ſterben. Aber da kann ich ja 
auch nichts dabei machen. Du hätteſt es ja beſſer haben können. Nun kommt der 
Zammer zu ſpät. 

Übrigens jammerſt Du ja auch nicht, ich will Dir das nicht vorwerfen, was 
nicht ijt. Fd ſehe das nur fo zwiſchen den Zeilen. Wäre alles anders, wie es ift, 
und Du wärſt mal in Not und Mühſal, fo ſchriebe ich Dir: Komm mal auf vier 
Wochen her mit dem Kind und ruhe Didh aus. Aber fo ift das ja nichts. Dem 
verbummelten Muſikanten feine Familie füttern, davon verſteht der Zoſias Köppen 
nichts. So muß eben alles bleiben wie es ift. 

Dein Vater. 


* * 
* 


Ein leeres Kuvert. 
An Herrn Joſias Köppen 
Greeſchenbock bei Pöpplitz. 
Anmerkung des Briefträgers: Annahme verweigert. 
Poſtſtempel Friebenfee 1. 2. 1893. Zurück an Frau Elfe Harring, Erfurt. 
* m * 
Greeſchenbock, 1. Februar 1893. 

Es iſt jetzt genug mit Deinen Briefen. Zwei habe ich geleſen ſeit Neujahr 
und mir gefallen laſſen, aber den dritten habe ich heute nicht mehr angenommen. 
Wenn ich Deinen Mann verbummelt nenne, fo ift er auch in meinen Augen ver- 
bummelt. Was er treibt, iſt keine ehrliche harte Arbeit, ſondern Bummelei unter 
einen feinen Namen verſteckt. Mögen ſich andere davon verblenden laſſen, ich habe 
nichts damit zu tun. Ob er bleich und elend iſt und den ganzen Tag nach Stunden 
herumläuft und Dich und das Kind liebt, geht mich alles nichts an. Macht mir 
keinen Eindruck, wenn Du mir das vordeklamierſt. Daß Du dieſen wütigen Ton 
gegen Deinen Vater auch noch anſchlägſt, konnte ich ja kommen ſeh'n. Das iſt 
auch eine Folge dieſer Ehe. Warum auch nicht? Geht immer weiter auseinander 
und immer weiter, bis daß wir beide vergeſſen haben, daß wir einmal Vater und 
Kind zu einander geſagt haben. Und wäre auch wohl noch das Beſte. Dann hätte 
man doch wenigſtens Ruhe. Dein Vater Zoſias Köppen. 

x au 
* 
Greeſchenbock, Sonntag den 21. Mai 1898. 
Liebe Elſe! 

Su bat meine Weiſung gut verſtanden und haft mir ſeitdem keinen Brief 
wieder geſchickt. Ich will Dir das nicht als Trotz auslegen, ſondern Dir zu Deinem 
Geburtstag gratulieren wie jedes Jahr. Du wirft nun 23 Jahre alt, und es werden 


im September 3 Jahre, daß Ou für immer von hier fortgegangen SE 
Der Eürmer XI, 9 


306 Krauß: Per Mor 


Am 4. März haben wir unferen guten alten Paftor Friedrichs nun auch 
begraben. Ihm iſt wohl. Es war ein großes Gefolge, allein an Kindern, Enkeln 
und Urenkeln an zwanzig Mann. Wie ich da hinten in der Ede geſtanden habe 
und habe die reiche blühende Nachkommenſchaft geſeh'n, alle in Trauer und Liebe 
mit dem alten toten Herrn verbunden, da iſt es mir doch ſo bitter angekommen, 
daß ich mich ſtill rausgeſchlichen habe, mitten in der Rede von dem Superinten- 
denten. Manches iſt doch ſo, daß man es nicht aushalten kann. 

Nachher aber bin ich doch mit zum Grabe geweſen und habe gedacht: Fahre 
wohl, alter Freund. So geht einer nach dem anderen hin, und am Ende iſt es ja 
auch gleich, wer in der Grube liegt, ob das ein Glücklicher oder ein Ungliidlider 


geweſen iſt. 


Nun find ſchon wieder zwei Monate darüber hin. Zetzt ift ein neuer hier, 
ein Forſcher, der fo ſchnell predigt, wie ein Mühlenrad, wenn das Waffer durchläuft. 
Aber wo zu ſchreibe ich Dir das. 


Adieu Elſe. 


Lieblich entſteiget 

Des Oſtens Tiefe 

Eos die zarte 

Und färbt golden 

Die Floden und Wolken. 


Helios ſchirret 

Klirrend die Roſſe, 
Schwingt ſich auf ſeines 
Glutwagens Sitz 


Und treibt mit dem Speer 


Die feurigen Tiere. 


Heil Eos dir! 
Heil Helios! 


Gda erwacht, 
Öffnet die Poren 


(Fortſetzung folgt) 


Der Morgen 
Von 
Otto Krauß 


Und ſchenkt Aeolos — 


Zum Genuß den Menſchen — 


Aus Wald und Feld 
Den taufriſchen Duft. 


Schon eilt Hephaftos 
Zum Ambos, zur Arbeit; 
Der Ruhe genas 

Der Kunſtreiche kurz. 
Und Ares ſpäht eifrig 
Nach Männerſtreite, 
Nach Waffengellirr 
Lauſcht der Tapfere aus. 


Hypnos entſteiget 
Zur Höhe und harret, 
Bis Artemis 

Ihn wieder ruft. 


. 


Dein Vater Fofias Köppen. 


Müde vom Schwelgen 

Wankt Dionyfius 

Zum Ruhelager, 

Kärglich geſtüͤtzet 

Von trunkenen Satyrn; 

Ins Ounkel der Klüfte 
Fliehet die Nymphe, 

Scheu ſich verbergend; 

Auf heimlichen Pfaden 
Schwebt ins Duͤſtre des Walde 
Vom Wieſenreigen 

Der Oreaden zierlich Geſchlecht. 


Nur Zeus der gewaltige 
Sitzet und ſpiegelt 

Aus Helios Golde 

Den Menſchen hinab 
Sein ewiges Sein. 


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Das Recht der freien Meinungsäußerung 
beim Beamten 


Bon 


K. Hbr. 


m Septemberheft des „Türmers“ ſteht ein Aufſatz über den Beamten 
als Staatsbürger, über das Verhältnis des Staates zu feinen Aarbei- 
tern und umgekehrt. Der Staat ſtellt den Mann, der in ſeinem Dienſte 
ſein Leben verbringt, wirtſchaftlich ſicher. Darum wird der Beamte 

von vielen Staatsbürgern, deren Einkommen unregelmäßig und oft gar nicht 

ſicher iſt, beneidet. Dieſer Neid hat ziemlich unrecht. Erſtens iſt die wirtſchaftliche 

Exiſtenz des Beamten nicht einmal fo ſehr glänzend. Zweitens beſitzt der Be- 

amte ein ſehr wichtiges Recht nicht. Ein Grundrecht des konſtitutionellen und 

kulturellen Staates exiſtiert für den Beamten faſt nicht: das Recht freier Meinungs- 
äußerung, das Recht, eine Perſönlichkeit zu fein, das Recht, im Rahmen des gefell- 
ſchaftlichen, wirtſchaftlichen und bürgerlichen Lebens der perſönlichen Überzeugung 

Ausdruck und Geltung zu verſchaffen, das Recht, das beim gewöhnlichen Staats- 

burger feine Grenze findet in den allgemeingültigen Strafgeſetzen. Dieſes wich- 

tige Recht hat der Beamte keineswegs, und was das bedeutet, 
das fühlt der gebildete, geiſtig regſame Mann natürlich viel mehr als der einfache 

Staatsbürger, deffen Wünſche fih nicht hoch über die Sorge ums leibliche Aus- 

kommen erheben, und der es gar nicht verſtehen kann, daß man ſich einer ſolchen 

Sache wegen viel aufregt. 

Es ift ein febr hartes Wort, daß es für den einigermaßen vom Staate Ab- 
hängigen das Recht freier Meinungsäußerung und Überzeugungsbetätigung nicht 
gibt. Aber es fagt die Wahrheit. Zwar ſteht in jeder Verfaſſung etwas von der 
„Freiheit des Wortes“. Und die Verfaſſung gilt in gewiſſer Beziehung auch für 
den Beamten. Aber — wenn das Recht freier Meinungsäußerung fuͤr den Beamten 
eine Bedeutung haben ſollte, dann müßte es ausdrücklich garantiert ſein. Das iſt 
es nicht. Vielmehr find alle Beſtimmungen, die fid) auf bieles ſtaatsbürgerliche 
Recht beziehen, ſo gefaßt, daß der Staatsdiener, und ſei auch ſein Zuſammenhang 


308 Hbr.: Das Recht ber feeien Meinungsäußerung deim Beamten 


mit dem SGtaatsmedhanismus noch fo lofe, einfach nicht weiß, woran er ift, und es 
daher als kluger Mann vorzieht, in — leider — fo vielen Angelegenheiten zu ſchwei⸗ 
gen, um ſich die Finger nicht zu verbrennen. 

Im allgemeinen findet die Freiheit des Wortes ihre Grenzen in den Straf- 
geſetzen. Beim Beamten find diefe Grenzen enger gezogen. 
Sooft irgendein Miniſterium über die Meinungsfreiheit des Beamten gefragt wird, 
ſchlägt das hochweiſe Miniſterium mit einem lächerlichen Stolz auf die Bruſt und 
ſagt: „In unſerm Staate hat der Angeſtellte das Recht ſchon — nur gibt es 
na, wie foll man fagen — hm — gewiffe... Grenzen.“ Hier liegt der ent- 
ſcheidende Punkt. Wenn doch die Miniſterien ehrlicher wären! Wenn ſie doch ſagen 
wollten: Nein, der Beamte ſoll ruhig ſein; denn in unſerem Staate iſt es ſo, daß 
wir ihn wegen jedes Wortes zur Rechenſchaft ziehen können, fo daß wir den Herren 
ſagen können: Für ſie iſt der verfluchte Paragraph von der Freiheit des Wortes 
nicht gemacht. 

Ja ja! die Grenzen, die Grenzen! Gewig kann dem Staatsdiener nicht die- 
ſelbe Freiheit zugeſprochen werden wie dem Privatmanne, dem Unabhängigen. 
Er ijt vom Staate mit einer gewiſſen Autorität ausgeſtattet. Das Recht unein- 
geſchränkter Kritik würde zur Anarchie führen. Aber wo find die Gren- 
zen zu ziehen und wo beginnen fie? Das iſt eine äußerſt ſchwierige 
und für die ganze Angelegenheit entſcheidende Frage. Und wenn man, von dieſem 
Punkte ausgehend, die Sache überdenkt, dann möchte man zornentbrannt das 
harte Wort ausrufen: Wir haben trotz aller offiziellen Beſchwichtigungen im Innern 
noch wahrhaft ruſſiſche Zuſtände! 

; Jedermann weiß das von den Grenzen. Und fooft ein Beamter wegen eines 
freien Wortes gemaßregelt wird, ſagen die Miniſter: „Er hat halt die Grenzen 
überſchritten“, und damit iſt's getan. Niemand aber weiß, wie diefe berühmten 
Grenzen ausſehen! Der Beamte auch nicht! Es ift ein Zu ſt and abſoluter 
Anſicherheit! Zn den Difziplinargeſetzen ijt noch nicht einmal der Verſuch 
gemacht, dieſe Grenzen näher zu bezeichnen. Vielmehr iſt die Sachlage ſo, daß 
es in jedem Pilziplinarfalle der Verwaltung, d. h. einzelnen Beamten, 
einzelnen Perſonen überlaſſen bleibt, darüber zu entſcheiden, ob Gren- 
zen, die nirgends feſtgelegt ſind, von denen alſo niemand weiß, wie ſie ausſehen, 
wo fie beginnen, darüber zu entſcheiden, ob diefe irgendwo in der Luft hängenden, 
verſchwommenen Schranken überſchritten find. Es bleibt alfo dem Verwaltungs- 
beamten überlaſſen, im einzelnen Falle Grenzen zu ziehen und dieſe verletzt zu 
ſehen. Das iſt ein Zuſtand der Willkür, wie er in einem konſtitutionellen Staate 
ſchon längſt beſeitigt ſein ſollte. Aber nein! Bis heute iſt das Schickſal des Beamten, 
der ſozuſagen doch auch ein Menſch ift, in diskretionärer Weile in die Hand des 
Vorgeſetzten gelegt. Er kann nicht auf ein geſchrieben Geſetz deuten und ſagen: 
Dort find meine Rechte niedergelegt, und fo weit darf ich als Staatsbürger gehen! 
Nein! Das geht ihn gar nichts an. Er muß abwarten, wie ſeine Ankläger, die ge- 
wöhnlich auch die Richter find, darüber denken. Nicht einmal die Parlamente tön- 
nen ihn wirkſam in Schutz nehmen. Denn mit temperamentvollen und auch noch 
jo gut begründeten Klagen imponiert das Parlament in unſerem Lande den Be- 


Hór.: Das Recht der freien Meinungsäußerung beim Beamten 309 


hörden nicht ſo ſehr. Wirkſam kann ein Beamter bloß verteidigt werden, wenn 
Rechtsnormen vorhanden ſind, an denen ſich Volk und Parlament 
orientieren können; wenn Normen, rechtliche Beſtimmungen niedergeſchrieben ſind, 
auf die der Abgeordnete deuten und fagen kann: Ja, hier ſteht doch ganz genau, 
daß der Beamte der und der Art ſo und ſo weit gehen darf, wie kommt es, daß 
man ihn wegen liberaler Agitation maßregelt! ... 

Aber von ſolchen Normen weiß man in Preußen-Deutſchland nichts! Denn — 
fie wären unbequem !! Dod) — es gibt ja eine Beſtimmung, die ſich mit dem Ver- 
halten der Beamten beſchäftigt. Sie kehrt, wenn auch nicht dem Vortlaut, ſo doch 
dem Sinne nach, in den meiſten Dijgiplinargefegen wieder, die Beſtimmung, in 
der dem Beamten zur Pflicht gemacht wird, das ihm übertragene Amt der Ver- 
faſſung und den Geſetzen entſprechend gewiſſenhaft wahrzunehmen und durch ſein 
Verhalten in und außer dem Amte der Achtung, die fein Beruf erfordert, fih wür- 
dig zu zeigen, — eine Beſtimmung, deren Verletzung als Dienſtvergehen jelbft- 
verſtändlich beſtraft wird. 

Der hitzigſte Individualiſt wird nicht fagen können, daß eine ſolche Beſtim- 
mung keine Berechtigung hätte. Betrachten wir fie einmal ganz objektiv! Ver- 
nachläſſigt der Beamte feine offenbaren Oienſtpflichten, läßt er fic) direkten Un- 
gehorſam zuſchulden kommen, gibt er ein Dienſtgeheimnis preis uſw., ſo muß 
ohne Zweifel eine Beſtrafung eintreten. 

Der Beamte hat aber auch außerdienſtliche Pflichten, wie die bayeriſche 
Kultusexzellenz gejagt hat, und in der angeführten Beſtimmung ift deutlich aus- 
gedrückt, daß der dem Staate Dienende ſich auch außer dem Amte der Achtung, 
die ſein Beruf erfordert, würdig zu zeigen hat. Jawohl! Auch das darf der Staat 
verlangen. Muß es verlangen, denn unwürdige Elemente in Ämtern können leicht 
das Vertrauen der Bevölkerung zu dieſen Amtern und damit zur Regierung ſelbſt 
erſchüttern. Aber nun kommt die äußerſt ſchwierige Frage: Was ift un wür- 
dig? Wodurch macht ſich der Beamte der Achtung, die 
fein Beruf erfordert, unwürdig? wodurch alſo kann er mit der 
Forderung, die die angezogene Beſtimmung an ſein außeramtliches Verhalten 
ſtellt, in Konflikt kommen? Der gefunde Menſchenverſtand antwortet ganz natür- 
lich: Dieſe Frage muß beurteilt werden von dem Standpunkt der allgemein gilti- 
gen Moral aus, von dem Sittlichkeitsempfinden der Bevölkerung aus. Das iſt 
immer im Auge zu behalten. Ein Beamter, der nebenher eine Sparkaſſe verwaltet 
und eine Unterſchlagung begeht, hat damit einen moraliſchen Defekt gezeigt, der 
ihn des erforderlichen Vertrauens unwürdig macht. 

Gut! So ſagt der Mann, der die Beſtimmung ganz unbefangen würdigt. 
Was aber tft dieſer Paragraph in den Händen der Ber- 
waltung, beſſer geſagt, der Bureaukratie geworden! 
Eine fluchbeladene Waffe, ein allmächtiger, allrächender Hammer, der ſtrafend auf 
das Haupt des im Sinne der Bureaukratie Schuldigen niederſauſt ... Moraliſche 
Verfehlungen ſtechen der Bureaukratie gar nicht einmal fo ſehr in die Augen. Um 
fo mehr aber iſt fie geneigt, an das politif de Verhalten des Untergebenen 
mit dem beriidtigten „Unwürdig“ heranzukommen. Ein Beamter, der es wagt, 


310 Hbr.: Das Recht ber freien Meinungsäußerung beim Beamten 


in einer liberalen Verſammlung ein entſchiedenes Wort der Kritik zu ſprechen, gegen 
irgendeine Regierungsvorlage, wird gezüchtigt, denn er hat feine „außerdienſtlichen 
Pflichten verletzt“. Ein Bedienſteter, der ein ſcharfes Urteil fällt über eine Ver- 
fügung von oben, und fei dies noch fo berechtigt, kriegt feinen Denkzettel. In Baden, 
dem „liberalen Muſterländle“, ift es ja fo weit gekommen, daß eine Verfügung er- 
laſſen worden iſt, wonach „dienſtliche Einrichtungen und Vorgänge von Beamten 
ohne Genehmigung der Generaldirektion weder in öffentlichen Blättern beſprochen 
noch in anderer Weiſe zum Gegenſtand einer öffentlichen Kundgebung gemacht 
werden dürfen“. Und bei all den Maßregelungen wegen eines freien Wortes kehrt 
ganz uhrwerksmäßig die Formel wieder: Sie haben Ihre außerdienſtlichen Pflich- 
ten verletzt, ... haben fich des Vertrauens ufw. unwürdig gemacht und werden 
infolgedeſſen entlaſſen. Wenn man all die Fälle durchdenkt, in denen Staatsdiener 
(im engeren und weiteren Sinne) wegen irgendeiner Kritik oder eines politiſchen 
Verhaltens brotlos gemacht oder doch zu harter Ordnungsſtrafe verurteilt wurden 
mit der Begründung der Pflichtverletzung, dann ballen ſich unwillkürlich die Fäuſte, 
nicht fo febr wegen der Maßregelung an fic, als wegen der Leichtfertigkeit der Be- 
gründung mit dieſer ſtereotypen Formel.. 

Der Lehrer Gläsmer hat im Kriegerverein eine mächtige Hymne geſungen 
auf Wilhelm den Zweiten. Hat Töne angeſchlagen, die jetzt der dickſte Konſervative 
nicht ſänge, vielleicht nicht hören könnte. Hat auch vom Militarismus geſprochen 
und dabei die ſehr richtige Bemerkung gemacht, daß unſer vielgeprieſenes Heer 
nicht ſehr geeignet ſei, freie Perſönlichkeiten zu erziehen. Ihm wurde geſchrieben: 
Sie haben Ihre außerdienſtlichen Pflichten verletzt und... Achtung ... unwürdig, 
und mit dieſer billigen „Begründung“ hat man ihn vom Amt gejagt. Man über- 
lege fih auch einmal den Fall „Hanſen“ und bedenke, daß ein Lehrer aus dem Amt 
entlaſſen worden iſt, weil er für den Freiſinn agitatoriſch tätig war... 

Und nun muß man doch unwillkürlich fragen: Sind denn ſolche Handlungen 
Dinge, die den Lehrer zur Führung feines Amtes unwürdig machen? Zm Gegen- 
teil: ſollte man nicht glauben müſſen, daß ein ſolcher Mann, der, trotzdem er im 
voraus nichts Gutes zu gewärtigen hat, einzutreten wagt für feine Überzeugung, 
daß ein ſolcher Mann Charakter hat und mehr Achtung verdient als der heimliche, 
ſtille Duckmäuſer, der alles gut und recht findet, was von oben kommt, der „brav“ 
ijt, um fih nicht zu ſchaden! 

Noch graſſer iſt ja der Fall „Temme“. Der Lehrer Temme in Nordhauſen 
hat ein Büchlein geſchrieben über Säuglingsſterblichkeit u. ä. und auch auf Ein- 
ladung eines Arbeiterbildungsvereins in Eisleben über dieſe Materie und einige 
mit ibr zuſammenhängende Fragen in dem Verein geſprochen . .. Hätte er nicht 
glänzende Zeugniſſe gehabt über die bisherige Führung ſeines Amtes, er wäre 
gejagt worden. 0 

Aus all dieſen Vorkommniſſen geht deutlich hervor, was die Bureaukratie 
aus der Beſtimmung gemacht hat. Die Bureaukratie will, daß der Beamten- 
organismus ein Beamten mechanismus werde, der ganz maſchinell 
funktioniert. Elemente, die etwas rauhbeinig ſind, müſſen ausgemerzt werden, 
ſo will es die militariſtiſche Tendenz, die das Beamtenheer durchdringen ſoll. So 


Wolframsdorff⸗Baars: Aphorismen | 311 


will es das bureaukratiſche Intereſſe. And unwürdig ift, was dieſem 
Intereſſe widerſpricht. So weit find wir in Oeutſchland gekommen. 
Wir. Das Volk der Dichter und Denker. Lachen muß man. Ein bitteres Zorn- 
lachen! Und doch: man ſoll eigentlich nicht klagen. Die Bureaukratie könnte noch 
viel ſchärfer vorgehen, wenn ſie wollte. Es könnten noch viel ſchlimmere Dinge 
paſſieren. Wenn ſie nicht paſſieren, dann iſt das aber noch lange nicht deshalb der 
Fall, weil ſie nicht vorkommen können. Ein Beiſpiel. Es erſcheint ein neuer 
Lehrplan. Irgendein pädagogiſcher Kopf fekt ſich hin und ſchreibt von pädagogi- 
ſchem Standpunkt aus eine Kritik, die noch gar nicht einmal ſo ſcharf zu ſein braucht. 
Aber der Regierung iſt das unangenehm und ſie verurteilt den Herrn kurzerhand 
zu einer empfindlichen Ordnungsſtrafe mit jener ſtereotypen Begründung. 

Ja ich kann mir ſogar noch viel draſtiſchere Fälle denken. Und wenn das 
Vorgehen einem einigermaßen liberal denkenden Menſchen noch ſo unvernünftig 
und haarſträubend erſcheint — wer kann denn die Verwaltung daran hindern?! 
Niemand. 

gn Süddeutſchland erſcheinen uns ſolche Fälle, wie die oben erzählten, 
ſchlechthin unmöglich. Aber fie find nicht unmöglich. Daß ſolche Fälle 
nicht ſo häufig vorkommen (in Bayern iſt es in der Beziehung ja auch nicht ſo 
ſauber), hängt einzig und allein davon ab, daß man in Süddeutſchland demokrati- 
ſcher denkt. Auch in den Verwaltungen. Wären die Leute in den Verwaltungen 
autokratiſcher und hätten ſie weniger Furcht vor dem Volk, ſie hätten bald dafür 
geſorgt, daß Preußen mit ſeinen Abhalfterungen nicht mehr ſo einſam wäre. Es 
ſind auch da keine geſetzlichen Beſtimmungen getroffen, die ſolche Vorkommniſſe 
unmöglich machen. Es iſt keine geſetzliche Garantie geſchaffen. 
Das iſt der Angelpunkt. 

In Oeutſchland hängt das Recht der freien Meinungsäußerung für den Be- 
amten ab von den Verwaltungs perſonen. Von der Willkür. Und der Be- 
amte kann fo lange einen gewiſſen Gebrauch machen vom freien Wort, ſolange 
ihm die Verwaltungsperſonen das nicht verbieten. 

Das heißt ins Deutſche überſetzt: 

Der deutſche Beamte hat das Recht freier Meinungs- 
dußerung nicht! 

| Æ 


Aphorismen 


Von 
Melanie von Wolframsdorff-Baars 


Es gibt Menſchen, die uns in ihrer Perſönlichkeit ſo viel geben, daß uns nach ihrem 
Scheiden die ganze Welt verarmt erſcheint. 
* 


Es gibt Recken des Geiſtes, deren Kraft fo elementar, fo ungebdndigt ift, daß fie nicht auf- 
bauen, ſondern zerftören. 


2 


Das Kind 


Von 


Helene Voigt⸗Diederichs 


I. 
eut’ foll die braune Kuh mit der eingebrannten Nummer 47 geſchlachtet 
werden. 
Es iſt nicht ſchön, wenn ein Tier geſchlachtet wird. Bei Schwei- 
nen ſchadet es zwar nicht ſoviel. Je fetter fie find, deſto ähnlicher 
werden ſie einander, da iſt kaum eins, das ein Geſicht für ſich allein gehabt hätte. 
Aber bei Rüben ift es anders. Eine Kuh ift ein Tier für ſich, ganz anders als die, 
die rechts und links neben ihr ſteht. Von einer Kuh kann man viel erzählen, was 
man nur von ihr allein ſagen kann. 

Das Kind iſt vom Hof weg zum gefrorenen Teich gegangen, weil es nicht dabei 
ſein will, wenn die Kuh aus dem Stall geholt wird. Es trippelt auf die Eisblumen 
hinaus, noch gar keine Spuren und Schrammen ſind drauf, man ſieht, die 
ſchlimmen Konfirmandenjungs ſind noch nicht dageweſen. 

Alſo die Kuh. Sie hat ſchneeweiße Hörner, die ganz nach der Stirn zu 
gewachſen ſind, ſo nah, daß von einem die Spitze abgeſägt werden mußte, weil 
ſie fürs Auge gefährlich ward. Sie iſt rotbraun und hat einen ſchwarzbraunen Kopf 
und kann böſe brüllen wie ein Bull. Aber das ift nur das Brüllen, eigentlich böſe 
iſt ſie nicht. Sie hat gern, wenn man ſich mit ihr abgibt. Sie kann ſich freuen, ſie 
kann traurig ſein, ſie kann ſich ſogar ſchämen. Wenn man vor ihr kniet und ſieht 
ihr ſteif in die Augen, da wendet ſie den Kopf und hört zu wiederkäuen auf, und 
ſieht man fie immer noch weiter an, tritt fie ganz zurück, und in ihren Augen fpie- 
gelt ſich der Stall, und man ſieht, wie gern ſie weinen möchte, und zuletzt ſchämt 
man ſich ſelber, weil man das arme Tier, das nicht weinen kann, fo traurig ge- 
macht hat. 

Warum muß denn gerade die ſchöne Nr. 47 in dieſem Jahr die Fehrkuh 
ſein? Der Schlachter hat zwar geſtern zum Vater geſagt, er glaubte, das wäre gar 
keine. Aber das hat ſie nicht mehr gerettet. Nun iſt ſie doch geſchlachtet. 

Ein Knattern und Zuchzen im jungen Eis. Das Kind erſchrickt und wendet 
um. Über ſeinen Gedanken hat's vergeſſen, daß die Mitte noch nicht trägt. Was 


Voigt · Diederichs: Das Rind 313 


bedeutet eigentlich das: eine Fehrkuh? Ja, ganz richtig, eine Kuh, die den Winter 
durch gemäſtet und dann geſchlachtet wird. 

Aber es muß noch etwas anderes dabei ſein. Das Kind ſtampft mit kalten 
Füßen auf den Hof zurück und verſteckt ſich hinter der offenen Pferdeſtalltür. Es 
mag ſo recht niemand fragen, aber einerlei, nun ſoll der's ihm ſagen, der zuerſt 
vorbeikommt. 

Der Vater — das Kind möchte vor ſich ſelber ausweichen. Kann man den 
Vater fo was fragen? Dann faßt es ſich ein Herz und tritt vor. 

„Vater, was iſt eine Fehrkuh?“ 

Der Vater wendet verwundert den ernſten Blick. „Wie kommſt du drauf? 
Nun, das iſt eine Kuh, die keine Milch mehr gibt und darum zuviel iſt im Stall.“ 

Das Kind ſchweigt, dann wagt es ſich noch einmal vor. 

„Warum hat denn der Schlachter geſagt, er wäre bange, es wär gar keine 
Fehrkuh?“ 

Der Vater ſieht auf das Kind herunter. „Was weiß der Schlachter davon!“ 
ſagt er ärgerlich, und das Kind wagt nicht mehr zu fragen, obgleich nun etwas da 
ift, um das man erft recht fragen müßte. 

Alſo muß man's anderswo verſuchen. Das Kind läßt die große Hand los, 
in die es ſchüͤchtern feine kleine hineingeſchmeichelt hat, läuft ins Rubbaus und 
macht ſich an den alten Kuhhirten heran, der in ſeiner Kammer ſitzt und ſich vom 
braunen Köter Judas das magere haarige Bein lecken läßt. Da fragt es noch ein- 
mal, was eine Fehrkuh iſt. 

Der alte Mann wundert ſich, daß es jemand gibt, der das nicht weiß. „Dat's 
'n Koh, wo ken Kalw in is“, muffelt er dann zwiſchen den Zähnen durch, die die 
Pfeife nicht loslaſſen mögen. 

Alſo das iſt die Sache. Das Kind ſchlendert zwiſchen den Krippen auf und 
nieder. Es hat's ja natürlich nie anders gewußt, als daß die kleinen Tiere von den 
großen Tieren kommen. Das iſt fo ſelbſtverſtändlich, daß es niemals darüber nad- 
gedacht hat. Aber es hat noch nie jemand mit ihm davon geſprochen. Es war etwas, 
das ganz leiſe in der Luft hing. Nun iſt es etwas, das man feſt anfaſſen kann und 
feſt anfaſſen muß. 

Ja war das alte Naturgeſchichtsbuch, fleckig von all den Blumen, die ſchon der 
Großvater drin getrocknet hat. Leider iſt „der Menſch“ vorne drin herausgeriſſen. 
Die Schweſter ſagte, die Mutter hätte es getan. Warum? Wäre es denn nicht 
gut, alles vom Menſchen zu wiſſen? Man hätte dann vielleicht auch das eine er- 
fahren, wonach man nie im Leben jemand wird fragen können. Nämlich, ob es 
bei den Menſchen auch nur ſo einfach iſt — mit den kleinen Kindern nämlich und 
ihrer Mutter. Schade, das wird man nun niemals ſo richtig zu wiſſen kriegen. 
Und wüßte es doch fo gern. Nun muß man's immer fo ſchwer mit ſich herum- 
tragen. 

Das Kind wandert noch immer auf der Lehmdiele auf und ab. Die großen, 
warmen, rauhen Kühe wenden ihm den Kopf nach, einige Augen und Ohren, 
einige bloß die Augen. Da ift der leere ſchwarze Stand, wo ſonſt die Maſtkuh an- 
gebunden war. Weil ſie kein Kalb haben ſollte, wurde ſie ſo grauſam beſtraft. 


314 Voigt⸗Olederichs: Das Rind 


And wenn's mit den Menſchen auch fo ijt — dem Kind fällt etwas ein, ſchön ift 
es nicht, aber es muß doch lachen: dann könnte ja ebenſogut die alte, dicke Raten- 
frau geſchlachtet werden, die nie ein Kind gehabt hat! 

Nein, das war dumm. Und vielleicht iſt's mit den Menſchen ja gar nicht fo. 
Mutter — die hat zwar gerade das kleine Brüderchen, aber was iſt es nur, daß 
man ſie nicht fragen kann! Man muß ſich ſchon genug ſein laſſen an dieſem hier. 
Das Kind ſtreckt die Hand nach den Kühen aus — ſo ganz einfach kann man all 
das große Geheimnis anfaſſen? 

Mitten in dieſes wunderlich Neue kommt plötzlich ein großer Schrecken: 
was hat doch der Schlachter geſtern von der Fehrkuh geſagt — wenn ſie nun un- 
ſchuldig geſchlachtet iſt? 

Das Kind bleibt ſtehen, legt die Finger an den Mund, fühlt eine Gänſehaut 
auf den bloßen Armen und Wärme im Geſicht. 

Es dauert eine Weile, bevor es ſich entſchließt, auf den Hof hinauszugehen. 
Langſam nur traut es ſich an der offenen Scheune vorbei — mit einem ſcheuen 
Blick auf das abgezogene Tier, das blau von Fleiſch und weiß von Talg an dem 
Querbalken der Diele hängt. 

Der Schlachter fährt mit einem Schiebkarren vorbei. Darauf liegt etwas 
Sonderbares, das in der kalten Luft zu dampfen ſcheint, rund und weich in Haut 
eingehüllt. Das Kind ſteht und zaudert, fürchtet ſich, faßt ſich ein Herz und ſpringt 
ihm nach. 

„Was iſt das?“ fragt es angſtvoll. 

„Ach Kind, was biſt du neugierig! Ich ſagte es dem Herrn ja ſchon, daß 
ein Kalb in der Kuh wäre. Aber er wollte es nicht wahr haben. Ärgerlich war's 
ja auch zu denken, daß man das Vieh follte umſonſt gemäſtet haben“ 

Das Kind erſchrickt. Es wirft noch einen Blick auf die formloſe Maſſe, die im 
Fahren hin und her ſchaukelt, und dann rennt es davon — rennt ins Haus und in 
die Kinderſtube, wo die Mutter ſitzt mit dem jüngſten Brüderchen an der Bruſt. 

„Ach Mutter, die Kuh iſt geſchlachtet!“ 

„Ja, Kind, das weißt du doch. Das muß ja ſo ſein. Und es tut den Tieren 
wohl auch nicht ſo weh, wie du denkſt!“ 

„Ach Mutter, das ift es ja auch nicht. Aber, Mutter, die Kuh hat ja do ch 
ein Kalb gehabt!“ 

Da ſteht die Mutter auf und wird blaß, und fie legt das Brüderchen mit fei- 
nen Decken auf den Tiſch und fragt: „Kind, woher weißt du das?“ 

„Der Schlachter hat mir's erzählt, und ich hab's auch ſelber geſehen.“ 

Da nimmt die Mutter das Kind bei der Hand und weint — es iſt das erfte- 
mal, daß das Kind die Mutter weinen ſieht — und ihr Geſicht wird noch weißer, 
und ſie ſagt: „Vater hat's ja nicht gewußt, der liebe Gott wird Vater die Sünde 
vergeben!“ 

Das Kind wird ſtill und möchte die Mutter tröſten, bis es plötzlich erſchrickt 
und ihm aufs neue die Tränen kommen um ein großes, allergrößtes Wunder, 
viel größer und wunderbarer noch als bei Tieren, das ihm mit Glück und Wehtun 
heimlich offenbar wird, da es noch immer die Mutter weinen ſieht. 


Voigt ⸗Siederichs: Das. Rind 315 


| II. i 

Die Geſchwiſter haßten Fräulein Federling. 

Es war ſchlecht zu fagen warum. Aber es ärgerte einen foon, fie nur zu ſehen. 
Sie hatte einen dünnen Mund, den ſie ableckte nach jedem Wort. Sie hatte eine 
große, tote Nafe — ob ſie's merken würde, wenn man mit einer Stecknadel hinein- 
piekte? Sie hatte Augen, denen man immer etwas getan zu haben ſchien. Ihre 
Haare trug fie nachmittags hoch aufgetürmt über der Stirn, kunſtvoll mit Papp- 
wülſten unterlegt. Aber das Schlimmſte an ihr war doch das Riffen, das fie fid) 
unters Kleid ſtopfte, da wo der Rücken aufhört. 

Wegen dieſes Kiſſens kam ja wohl ſogar urſprünglich die ganze Feindſchaft 
her. Aber war es nicht verlockend, Papierſchnitzel darauf zu ſtreuen oder zu ſehen, 
wie lange ein heimlich hingeſetzter Apfel ſich mit närriſchem Wackeln darauf hielt? 
Auch war's beliebt, mit Kletten zu werfen und zu wetten, wer traf. Aber Fräulein 
Federling ſelbſt hatte nicht ſo viel Freude dran wie die Kinder, ſaß mit roten Augen 
bei Tiſch und wollte nicht eſſen, bis endlich der Vater aufmerkſam ward und ſich die 
beiden Hauptfünder zum Nachtiſch auf fein Zimmer beſtellte. 

Er fragte nicht lange hin und her, er war's gewohnt, daß die Kinder etwas 
auf dem Kerbholz hatten. So wurde das Rohrſtöcklein vom Schrank geholt, und 
dann gab's wohl im ſchnellen Zorn etwas auf die Beine, was recht weh getan hätte, 
wären nicht vorher die Strümpfe ſorglich mit Klettenblättern ausgepolſtert ge- 
weſen. Man quiekte ein bißchen, weil's nun einmal dazu gehörte, war aber dem 
Vater durchaus nicht bös, denn man hatte es ſozuſagen ja reichlich verdient, und kam 
noch mit Rug und ehrlichem „Verzeih !“, bevor man das Zimmer wieder verließ. 

Aber gegen Fräulein Federling wuchs der Groll. Man ließ die Quälereien 
nicht, betrieb ſie nur noch ein bißchen heimlicher und richtete es gern ſo ein, daß 
man's ſo tat, daß immer der andere es getan hatte und alſo der eigentliche Sünder 
in dieſem liſtigen Kreislauf ſchwer zu faſſen war. 

Ferner gewöhnte man ſich an, den Mund zu lecken, wie ſie es machte. Das war 
doch nichts, was jemand einem verbieten konnte? Man erzählte, recht laut zu hören 
für jedermann, die Meierin hätte einen Zopf, den könne ſie am Gürtel tragen, 
und das Kindermädchen — nein ſo was! es ſei nicht zu glauben und doch ſei's 
wahr — bände ſich ein Häckſelkiſſen unters Kleid. Man wußte auch von Leuten, 
die drei Stücke Zucker zum Kaffee nahmen 

Das letztere war eigentlich faſt das Allerſchlimmſte. Denn die Mutter, die 
ſicher auch gerne welchen genommen hätte, nahm keinen, weil ſie fand, daß es 
Verſchwendung fei. 

Was die Mutter nicht tat, das brauchte das fremde Fräulein, das bloß da 
war, um rote Baden zu kriegen — denn wirklich, ihre waren reichlich käsviolett —, 
auch nicht zu tun. 

Überhaupt, lecker war fie. Raute, wenn fie nichts anderes hatte, Kaffee- 
bohnen. Auch Reiskörner: es waren einmal welche eingeklemmt geweſen in den 
Schlüuͤſſel, den fie in der Taſche trug. Und fie ging nicht ins Dorf, ohne vom Bäcker 
etwas mitzunehmen und heimlich unterwegs aufzueſſen und nachher bei der 
Buttermildsgriige dann fatt zu fein. 


316 Voigt Diederichs: Das Rind 


Daß ſie ſich zu Weihnachten von irgendwoher eine große Marzipantorte 
ſchicken ließ, mochte ihr noch hingehen. Aber das Unglaubliche war dies: ſie nahm 
Mutters ſchönes Großmutterteebrett, wo die fremde grüne Frau darauf gemalt 
war, ſtülpte ihren Marzipan darauf und trug ihn hinunter ins Wohnzimmer, wo 
alles um die winterliche Hängelampe verſammelt war. 

Sie zeigte ihren Schatz im Kreiſe herum. Man wurde ſchon nachſichtig, ſtieß 
ſich mit den Ellbogen an. Gott, am Ende war ſie doch nicht ſo ſchlimm, wie man 
dachte. Statt aber nun, wie wohl zu erwarten geweſen, ein Meſſer zu holen und 
jedem Kind ein Stüdlein abzuſchneiden, leckte fie ſich die Rrumen vom Finger- 
nagel, drehte ſich um und verſchwand mit ihren albernen Vogelſchritten die Treppe 
hinauf, bis ſie nach einer Viertelſtunde, ſicherlich recht ſatt gegeſſen, zurückkam. 

Die Kinder hatten ein wenig länger aufbleiben dürfen, weil Altjahrsabend 
war, aber nun fing die Mutter an, mit den Augen zu winken, und dann ſagte auch 
der Vater, daß es ſchon viel zu fpät fei: da ſtand man auf, fagte gute Nacht und ver- 
längerte kunſtgerecht das Dableiben noch, indem man das Häuflein von Nußſchalen, 
das ſich auf dem runden Tiſch vor jedem Platz türmte, in die hohle Hand ſchob und 
in den Torfkaſten warf. 

Darauf dann ſagte man noch einmal gute Nacht und lachte, denn an Fräu- 
lein Federlings Platz lagen die meiſten Nußſchalen, und eben nahm ſie ein Stück 
von den beſcheidenen Süßigkeiten der Mutter, machte einen greulichen Fiſchmund 
und ſagte: „Viel zu viel Roſenwaſſer!“ 

Draußen auf der Diele brach dann die Entrüſtung los. Ein ausverſchämter 
Geizknüppel war fie. Und was fiel ihr ein, Mutters kleinen Marzipan mit den ge- 
preßten Blumen, den ſie vom Vater hatte, ſchlecht zu machen! Schließlich zog 
man die Schuhe aus und ſchlich die Treppe hinauf, um zu ſehen, wieviel von dem 
ſchmierigen Fraß noch nach war. 

Die Kinder tappen lange in der dunklen Stube herum und finden nichts. 
Dann ſagt eins: „Seid mal ſtill, ich will riechen.“ Alle find ſtill, ſchnüffeln und riechen 
mit, unter den Schrank, hinters Bett, überall, wo man Süßes, das andere nicht 
wiſſen ſollen, verſtecken könnte. 

Nach einer Weile kommt plötzlich erneutes Schnüffeln vom Fenſter her, 
dem eine frohe Flüſterſtimme folgt: „Hier — hier, ich hab's!“ 

Hinter den Vorhang auf die Fenſterbank fällt ein ſchwaches Sternenlicht. 
Eine Maus raſchelt an der Tapete herab. Richtig, da ſteht, immer noch auf Mutters 
grünem Teebrett, der Marzipan, aus dem ein ſtattliches Viertel herausgegeſſen iſt. 

Das Kind, das den Fund gemacht hat, denkt nach. Aus dem Fenſter werfen, 
das geht nicht. Aber irgend etwas muß man tun, um den alten Geizknuͤppel zu 
ſtrafen. l 

„Weißt du was?“ 

„Nein, ich weiß nichts.“ 

„Oraufſpucken?“ ſchlägt eine Stimme vor. 

Aber da wird das Kind ungeduldig und ſagt: „Ach was!“ und es nimmt 
das große weiße Schwanenmeſſer aus der Kleidertaſche und ſchneidet wild in die 
Torte hinein. 


Voigt · Siederichs: Das Rind 317 


Lauter dicke Scheiben fallen herunter, die nimmt es und teilt ſie aus, und 
ſchneidet noch mehr und ißt auch ſelber, mit Wut und ohne ſich Zeit zum Schmecken 
zu nehmen. So entſteht eine frohe, rachſüchtige Freſſerei, immer wieder ſtreckt 
ſich eine begehrliche Hand durch das Dunkel, das zum Dämmern geworden iſt, 
nachdem der Blick ſich dran gewöhnt hat. Und das Meſſer ſchneidet weiter, von 
Kauen und eiligem Schmatzen begleitet, bis eine Tür unten im Hauſe geht und das 
Kind ein wenig erſchrickt: ſo, jetzt iſt er wohl klein genug. 

Leiſe ſchleicht man davon, jedes denkt zufrieden an den Arger, den Fräulein 
Federling gerechterweiſe haben wird, aber verraten, nein, verraten darf nie- 
mand was. 

Das Kind, das die Räuberei geleitet, ſchläft allein bei den großen Schweſtern, 
die noch auf ſind. Der Marzipan hat ihm nicht beſonders geſchmeckt, mag ja auch 
fein, daß irgend etwas dabei tft, das nicht ganz in Ordnung ift. Aber darüber ver- 
liert's den guten Mut nicht, ſchläft befriedigt ein und wacht dann plötzlich wieder 
auf, als ein rotes Licht auf ſein Geſicht fällt. 

Noch halb im Traum fährt es im Bett auf — lauter Ratten waren auf Frdu- 
lein Federlings Marzipan — ei, die haben ſchönen Schmutz darauf getragen — aber 
dann wacht es ganz auf und ſieht den Vater neben ſich auf ſeinem Bettrand ſitzen. 

Der Vater hebt die Hand mit der Lampe hoch und ſieht dem Kinde gerade 
ins Geſicht, und ſeine Stirn iſt ernſt, und er fragt mit trauriger Stimme: „Seid 
ihr bei Fräulein Federlings Marzipan geweſen?“ 

Das Kind ſitzt aufrecht im Bett. „Ja“ will's halbfroh ſagen, aber etwas iſt 
in des Vaters Augen, daß es erſchrickt und ſich beſinnt und dann wieder aufblickt 
und kein Wort herausbringt. 

Der Vater ftellt die Lampe auf den Waſchtiſch. Das Kind ſieht feinen Schat- 
ten rieſengroß bis zur Decke hinaufreichen, und es wundert ſich — was denn nun, 
wird der Vater es ſchlagen? 

Aber daran denkt der Vater nicht. Er legt beide Hände zuſammen und jagt 
langſam: „Kinder, wißt ihr, was ihr ſeid? Muß ich nun glauben, daß meine 
Kinder Diebe find .. .“ 

Da erſchrickt das Kind und beugt fid auf des Vaters Hände. Daran, nein 
daran hat es nicht gedacht. Ganz ſicher nicht, aber wie ſoll es das dem Vater ſagen, 
ſo daß er's verſtehen kann? 

Und von ſich aus hat Vater ja vielleicht recht. 

Und es weint die kühlen traurigen Hände voll und bittet: „Verzeih!“ und 
der Vater läßt es weinen und ſagt: „Ja, das hätte ich nicht von dir gedacht“, und 
nach einer Weile geht er bekümmert hinaus und läßt das Kind allein — Fräulein 
Federling um Verzeihung bitten, das iſt das einzige, was es tun kann, aber gut 
iſt die Sache damit noch nicht. 

Und als er ganz draußen ift, kriecht das Kind unter feine Dede zurück, rollt 
ſich in ein Häuflein zuſammen und hört mit Weinen auf. 

Gegen Vater war es ſchlimm. O ja, es ſieht gar wohl, daß es gegen Vater 
ſchlimm und böſe war. Und es iſt ihm bitter leid drum, und ſeinetwegen wünſcht 
es mit reuevollem Herzen, daß nichts geſchehen wäre. 


318 Stern: WMorgenfeier 


Aber wegen Fräulein Federling ift es grimmig froh, es kann's nicht helfen, 
daß es das iſt. Es liegt noch eine Weile wach: einmal iſt's traurig, und ſieht's nach 
der andern Seite, iſt alles Unrecht weg, fo ſehr es auch danach ſucht, faſt voll Hoff- 
nung, es zu finden. 

And darüber wird es müde und ſchläft ein und nimmt in ſeinen unruhigen 
Traum hinüber das, was keiner raten kann — das Rätfel von der Sünde, die dann 
doch wieder keine Sünde iſt. 

St, 


Morgenfeier 
Bon 
Maurice v. Stern 


Still, ſtill und horcht! — Des Windes erftes Wehen! — 
Gott geht im Tau jetzt durch die Morgenwelt. 

Sein Lockenhaar weht weit in Wald und Feld 

Und kräuſelt ſich im Wellenſpiel der Seen. 

Sein Atem haucht die ſtillen Blätter an, 

Daß ſie, erſchauernd, freudig ihn begrüßen. 

Und wellenleiſe ſchwankt zu feinen Füßen 

Das reife Kornfeld und der dunkle Tann. 


Die Bäche plaudern wie die frohen Kinder, 
Wenn fie erwachen mit dem Morgenlicht. 

Sie fürchten ihn, den Herrn der Welten, nicht 
Und rauſchen nur noch lauter und geſchwinder. 
Die Wieſenblumen auf der lachenden Au 
Erglänzen in noch farbenhellrer Seide: 

Denn von dem faltenreichen Gotteskleide 
Beiprüht fie perlenheller Himmelstau. 


Das Reh im Kleefeld dugt fo fromm vertrauend 
Und wittert wonnig in den Morgenwind, 

Daß heil’ge Liebe ſtrömend überrinnt, 

Mit Himmelsſegen alles überblauend. 

Die Bäche rauſchen. Vogelliederlaut 

Erklingt im Wald in hellem Zubelchore. 

Und in der Blumenwildnis duft' gem Flore 
Erwachen Schmetterlinge goldbetaut. 


Und alles blüht der Schöpferkraft entgegen 

Und öffnet ſich dem tauigen Gotteslicht. 

Der Kindermund, der aus dem Herzen ſpricht, 
Beginnt nun auch mit ſeinem Morgenſegen. 

Gott hört und lächelt. — Trunken noch von Traum, 
Dringt an ſein Vaterohr das fromme Lallen. 

Und weiter aufwärts zu den ew' gen Hallen, 

Ein Erdengruß weit über Zeit und Raum. 


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Reichswertzuwachsſteuer 


Von 


Johannes Lubahn 


Zn dem in der Nähe Berlins befindlichen Teltowkanal koſtete der Grund 
und Boden 500 m rechts und links vom Kanal vor deffen Er 
A bauung im Sabre 1898 100 Millionen Mark. 

N Nah dem Bau betrug der Wert desfelben Ge 
ländes 500 Millionen Mark! 

Sebt wuchert am Teltowkanal die wüſteſte Bodenſpekulation. Verſchiedene 
größere Geſellſchaften haben ſich eigens zu dem Zwecke des Handels mit dem 
Grund und Boden gebildet. Ohne einen Pfennig für den Bau des Kanals ver- 
ausgabt und ohne einen Spatenſtich Arbeit geleiſtet zu haben, werden hier Millio- 
nen über Millionen von den Eigentümern des Landes gewonnen. Hier erntet 
man, ohne geſäet zu haben. l 

Dieſes rapide Steigen der Grundrente zeigt fih überall, wo irgend menſch⸗ 
licher Fortſchritt ſich betätigt. 

Sit es da nicht eine elementare Forderung der Gerechtigkeit, wenn ein Teil 
der hohen Bodengewinne durch die Zuwachsſteuer an die Geſamtheit zurückgegeben 
werden foll? Die Steuer trifft ja nur den tatſächlich un ver dienten Gewinn. 
Alle nachgewieſenen Ausgaben für dauernde Verbeſſerung der Grundſtücke, ein- 
ſchließlich der Beiträge zu Straßenbaukoſten ufw., werden natürlich von der Gewinn- 
berechnung abgezogen. 

Man wende nicht ein, daß bei Einführung der Zuwachsſteuer in gleicher Weiſe 
auch die Gewinne beim Gewerbe beſteuert werden müßten. Hier liegt in der Regel 
nutzbringende Arbeit vor. Die Bodenſpekulation kann ſich folder jedoch nicht 
rühmen. Ferner können alle Gegenſtände, die von Menſchenhand gefertigt ſind, 
vervielfältigt werden. Wenn jemand Ware vom Verkauf zurückhält, dann kann 
ſie ein anderer fertigen und auf den Markt bringen. Durch die Konkurrenz wird 
auch ein Durchſchnittspreis erzielt, den der einzelne Verkäufer nicht viel höher an- 
ſetzen darf, wenn er ſeine Vare abſetzen will. 

Anders ſteht es mit dem Grund und Boden. Er kann nicht beliebig vermehrt 
werden. Er ift dort, wo ihn die Menſchen zu Wohn- und Werkſtätten gebrauchen, 


520 Lubahn: Nelchswerizuwacheſteuer 


nur einmal vorhanden, und wenn er künſtlich der Bebauung entzogen wird, kann 
ſein Wert zur wucheriſchen Höhe getrieben werden. Grund und Boden iſt eben keine 
Handelsware und foll auch zu einer ſolchen nicht herabgedrückt werden. Wir Men- 
ſchen haben die Erde von Gott zum Gebrauch und nicht zum Mißbrauch erhalten! 

Wenn nun Konjunkturgewinne außer beim Grund und Boden hier und dort 
vorkommen, ſo treten ſie doch niemals in gleich ungeheurer Weiſe auf. Wo ſie 
aber vorkommen, iſt man auch jetzt überall beſtrebt, wie beiſpielsweiſe bei der 
Börſe, fie zur Beſteuerung heranzuziehen. In Deutſchland wurde zum erſtenmal 
die Wertzuwachsſteuer 1904 in Frankfurt a. M. eingeführt. Zetzt beſteht ſie 
nahezu in 200 Gemeinden! 

Trotz der bisher gering eingeführten Sätze hat die Zuwachsſteuer in den 
Städten ganz beträchtliche Summen eingebracht. In Köln hatten die Stadtverord- 
neten die Magiſtratsvorlage auf Einführung der Steuer fo abgeſchwächt, daß 
ſchließlich der Oberbürgermeiſter erklärte, nun habe die Steuer überhaupt keine 
finanzielle Bedeutung mehr. Man veranſchlagte ihren Ertrag für 1906 mit 20 000 4 
Gn Wirklichkeit brachte fie aber 541000 Mt 

Die ſoziale Bedeutung der Steuer iſt neben der finanziellen Wirkung nicht 
hoch genug anzuſchlagen. Jeder, der Grund und Boden in der Nähe der Städte 
kauft, tut das in der Erwartung eines recht hohen Gewinnes. Die rapide Wert- 
erhöhung des Bodens hat die Spekulationswut ins Ungemeffene geſteigert. Das 
Großkapital verband ſich. Um Berlin herum haben wir allein 75 Terraingeſellſchaf⸗ 
ten, die, von den Banken unterſtützt, mit den größten Geldmitteln arbeiten. 

Nimmt man nun den Spekulanten durch die Zuwachsſteuer einen Teil ihres 
Gewinnes ab, fo werden fie ſich mehr und mehr von dieſem nun nicht mehr fo aus- 
ſichtsreichen „Geſchäft“ zurückziehen. Sie werden es bleiben laſſen, ſich gegenſeitig 
zu überbieten, um in den Beſitz des Terrains zu kommen. Der Handel mit dem Boden 
wird nachlaſſen, und ſein Wert nicht mehr ſo wie früher in die Höhe getrieben 
werden können. 

Eine genügend kräftige Zuwachsſteuer drängt nach dem Maße ihrer Hobe 
die Bodenſpekulation zurück und gibt in gleicher Weiſe das Terrain der Bebauung 
frei. Häuſer auf billigem Grund und Boden haben wieder 
um billige Mietwohnungen. Es wird mehr Raum den Menjfden 
gegeben, um zu wohnen und zu arbeiten. 

Wer hat die Wertzuwachsſteuer zu erheben? Unzweifelhaft erzeugt das 
Zuſammenwirken aller Kulturarbeit in Gemein de und Staat und Reich 
den unverdienten Wertzuwachs. Gemeinde, Staat und Reich haben daher gleiches 
Recht auf einen Anteil der Wertzuwachsſteuer. Welche große Kulturarbeit hat der 
Staat im Bau der Eiſenbahnen geleiſtet! Nicht hoch genug iſt die Sicherheit, die 
das Reich durch Heer und Marine jedem einzelnen gibt, zu veranſchlagen! 

In dem kleinen Ort Heppens bei Wilhelmshaven wurde vor 14 Jahren 
eine große Landſtelle für 53 000 M gekauft. Ein Teil wurde vor einiger Zeit für 
200 000 , der Reit jetzt an den Marinefiskus für 600 000 & verkauft; ein un- 
verdienter Wertzuwachs von rund 750000 M, der ohne die 
Aufwendungen für unſere Flotte gewiß nicht eingetreten wäre. 


Lubahn: Reichewertzumachefteuer 321 


Wenn wir für eine Reichswertzuwachsſteuer eintreten, fo 
geſchieht es vor allem darum, weil das Reich jetzt am meiſten in Not iſt. 

Prof. Adolf Wagner aus Berlin hielt dieſe Reichsſteuer in ſeinem 
Vortrag auf dem vorjährigen Bodenreformertage für das einzige Mittel, 
das Reich aus ſeiner kläglichen Finanzlage zu befreien. 

Welches erhebende Gefühl liegt auch darin, daß Heer und Marine, die den 
deutſchen Boden beſchützen, von dem Wertüberſchuß gerade dieſes Bodens er- 
halten werden! 

Das Reich erhielt bisher einen weſentlichen Teil ſeiner Einnahmen aus den 
indirekten Steuern. Steuern auf Verbrauchsgegenſtände belaſten aber das ganze 
Volk und wirken namentlich nach unten. Die Reichszuwachsſteuer würde allein 
von den Reichen getragen werden müſſen. Wer mit Grund und Boden ſpekuliert, 
alſo nicht einmal durch ſeine Arbeit reich wird, ſoll deshalb ſcharf zur Beſteuerung 
herangezogen werden. 

Eine glückliche Faſſung hat der Entwurf eines Geſetzes über eine Reichs- 
wertzuwachsſteuer, wie er im Jahrbuch der Bodenreform im Heft 2 dieſes Jahres 
veröffentlicht wird. Der Entwurf ſtammt von Reichstagsabgeordneten verfchiede- 
ner Parteien. 

Der Wertzuwachs wird danach beſteuert mit 15 % bei einer Wertſteigerung 
von mehr als 10 bis einſchließlich 40 , mit 50 % bei einer Wertſteigerung 
von mehr als 40 %. Eine Wertſteigerung bis zu 10 % bleibt ſteuerfrei. Mit jedem 
Jahr, das zwiſchen dem Erwerbs- und Veräußerungsgeſchäfte über die Dauer von 
5 Jahren hinaus verſtrichen ift, ermäßigt fih die Steuer um 1 % der erwähnten 
Steuerſumme, bis der Steuerſatz auf die Hälfte herabgeſetzt iſt. 

Wird in einem Bundesſtaat oder in einer dentſchen Gemeinde die Wert- 
zuwachsſteuer eingeführt, fo ermäßigt ſich dort für den Bezirk 
die Reichsſteuer um je ein Orittel. 

Gerade durch die letzte Maßregel wird den Gemeinden für ihren Bezirk die 
Einführung der Steuer bedeutend erleichtert. Wie der Oberbürgermeifter von Poſen 
in einem Vortrage vor dem Bunde deutſcher Bodenreformer kürzlich hervorhob, 
liegt die Urſache der Ablehnung der Wertzuwachsſteuer in den Gemeinden häufig 
in der ſtarken Vertretung des Haus- und Grundbeſitzes in den Stadtverordneten- 
verſammlungen. Dieſe mächtigen Intereſſengruppen werden aber gern die Einfüh- 
rung der Gemeindeſteuer begünftigen, wenn der Anteil des Reichs an dem Ertrag 
der Steuer dadurch verringert wird. Oie fo geplante Reichs- Wert- 
zuwachsſteuer wird alſo geradezu erzieheriſch auf die Gemeinden wirken. 

Bismarck hatte zuerſt bei der Verſtaatlichung der Bahnen viele Gegner. 
Heute erkennt jeder die ſegensreiche Wirkung dieſes Staatsaktes an. Der letzte 
gahresüberſchuß der preußiſchen Staatseiſenbahnen betrug nach Verzinſung der 
Eiſenbahnſchuld weit Ober 500 Millionen Mark! 

Durch Einführung der Reichs- Wertzuwachsſteuer 
würde der Reichsſchatzſekretär eine Steuerquelle er 

ſchließen, die dem neuen Deutſchen Reiche, gleich Preußen 
durch die Staatsbahnen, eine geſicherte Zukunft . 
Der Tümer XI, 9 


322 Schldzer: Der gute alte Mann 


Der Oeutſche Reichstag, in dem bisher ſtets jede größere neue Steuer eine 
Majorität von Gegnern fand, würde aller Wahrſcheinlichkeit nach die Reichswert⸗ 
zuwachsſteuer annehmen. Es würde hier wohl ebenſo gehen, wie in der heſſiſchen 
Kammer bei der Beratung des Geſetzes, das den Gemeinden das Recht gab, den 
Wertzuwachs zu beſteuern. Der Berichterſtatter des Steuerausſchuſſes erklärte 
dort: „Man wird mit Recht auf diejenigen mit Fingern weiſen, die den ſozialen 
und finanziellen Fortſchritt nicht anerkennen, der in dieſer Geſetzgebung liegt.“ 

Das deutſche Volk würde aber die Reichs wertz uwachsſteuer als 
eine ſoziale Tat anerkennen, die vom bodenreformeriſchen Standpunkt 
und dem einer gefunden Reichsfinanzreform nicht warm genug zu begrüßen ift. 


Wy ON = ee 


Der gute alte Mann 


Von 


V. Schlözer 


<a er gute, alte Mann hatte ſeine Frau verloren. 
Lë N Nun ſtand er ganz allein in der Welt. Da nahm eine entfernte 
5 4 D, Verwandte fidh feiner an und ſprach: Fd) werde zu dir ziehen und 
dich pflegen. 

Ja, das war hübſch gejagt! 

Und die Verwandte hielt ihren Einzug. Tagelang wurde gekramt und ge- 
rückt und geklopft, bis ſchließlich alles wieder zur Ruhe kam. 

Nur der gute, alte Mann kam nicht zur Ruhe. Denn ſeine liebe Verwandte 
war der feſten Überzeugung, daß er falſch, ja in vielen Dingen geradezu ungeſund 
lebe. Da hieß es: „Du mußt jetzt ſpazieren gehen.“ — „Du mußt dich wärmer 
anziehen. Nein, das dulde ich nicht, daß du in dem dünnen Röckchen ausgehſt. 
Nein! Nein!“ — „Du ſollſt nicht immer ſo einſam ſpazieren gehen.“ — „Du mußt 
überhaupt mehr den Umgang mit Menſchen ſuchen.“ — „Mach doch bei X. und B. 
Beſuch! A propos, ich vergaß, daß heute mehrere Damen zum Kaffee zu mir 
kommen. Da erwarte ich dich beſtimmt.“ — „Und im Sommer mußt du ins Hoch- 
gebirge!“ 

Und das alles kam aus wirklich gutem Herzen. 

Und der alte Mann wußte das. Er wurde aus Dankbarkeit immer ſtiller. 
Bis er eines Tages überhaupt nichts mehr ſagte. Denn er war tot. 

And jetzt begannen die Begräbnisfeierlichkeiten. 


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Ferdinand von Schill 
(Gefallen am 31. Mai 1809) 


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Dr. Chr. Waas 


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SC A ie ſeltſam hat das Urteil über dieſen Mann gewechſelt in diefen 

SL I * bundert Jahren! Von feinem König verleugnet, von den Fein- 

AG den geächtet und wie ein wildes Tier in den Tod gehetzt, feine 
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Leiche felbft geſchändet — fo war fein Andenken zunächſt beim 
Feinde ein Schimpf, beim Freunde eine Scham. Selbſt nach den Vefreiungs- 
kriegen noch wurde der Name Schills nur mit gemiſchten Gefühlen im preußiſchen 
Heere genannt. Als 1815 die Freimaurerloge in Weſel den dort erſchoſſenen Schill- 
ſchen Offizieren ein einfaches Denkmal errichten wollte, wurde es „höheren Orts“ 
nicht geſtattet. Ja auch feine Mitkämpfer, die, dem Blutbade von Stralſund und 
dem Blutgericht von Wefel entronnen, inzwiſchen wieder zu Rang und Ehren 
gekommen waren, wagten ſich nur mit Scheu zu ihm zu bekennen. Generalleutnant 
von Reyher hat in den vierziger Jahren Schills Zug beſchrieben, die Handſchrift 
liegt heute noch unveröffentlicht im preußiſchen Kriegsarchiv. Übrigens iſt Reyher 
nicht nur als Kamerad Schills eine intereſſante Perſönlichkeit, ſondern auch um 
deswillen, weil er, von bürgerlicher Herkunft, von der Pike auf gedient und ſich 
vom Gemeinen zum General, Kriegsminiſter und Chef des Generalſtabs aufge- 
ſchwungen hat, was heutzutage entidieden nicht mehr möglich wäre. 

Ganz allmählich wandelten ſich die Anſichten über Schill. Zwar das Volk 
hatte ſeinen Helden nie vergeſſen. Wie der Bürgersmann in Schills Ehrentagen 
Schill-Kanaſter geraucht und kolorierte Jahrmarktsbilder von feinen Taten vor 
Kolberg in die Stube gehängt hatte, ſo kam ihm auch der Tote nicht mehr aus dem 
Sinn. Sm geheimen verbreitete fih unter den pommerſchen und brandenburgi- 
ſchen Bauern die Mär, Schill ſei gar nicht gefallen, er halte ſich verſteckt und werde, 
hoch zu Roß, wieder hervorbrechen, dermaleinſt, wenn die Stunde Deutſchlands 
gekommen. Oer ſchlafende Kaiſer im Kyffhäuſer und der Huſar von 1809! Wie 
wechſelt die Legende ihre Helden, und wie bleibt ſie ſich gleich! Dann wand die 


324 Waas: Ferdinand von Schul 


vaterländiſche Poeſie um Schills abgeſchnittenes Haupt einen Kranz von Liedern. 
Tragödien und Feſtſpiele entſtanden die Menge, und patriotiſche Erbauungsbüͤcher 
erzählten der aufhorchenden Jugend von Schills abenteuerlichem Reiten und Ster- 
ben. So ſtellte das Volk und die Dichtung dieſen Mann in den Kanon der Märtyrer 
und Helden der Befreiungskriege: Schill und Hofer, das gab ein Paar wie Blücher 
und Gneiſenau. Die bürgerlich-liberale Geſchichtsſchreibung, die fih trotz aller 
Reaktion durchſetzte, gab ihren Segen dazu und rühmte Schills Tat als erſte Regung 
des erwachenden nationalen und freiheitlichen Empfindens; ſie pries den Mann, 
ohne viel an den Soldaten zu denken. 

Auch das preußiſche Heer beſann ſich auf ſeine Dankespflicht, und als der 
Widerſtand „höheren Orts“ geſchwunden war, da erhoben ſich die Denkmäler: 
Schills Grab in Stralſund, das Schlachtfeld von Dodendorf bei Magdeburg, die 
Stätten von Weſel und Braunſchweig, wo die Schillſchen erſchoſſen worden, ſind 
heute mit Ehrenzeichen geſchmückt. Überall veranftaltete man dort 1859 Erinnerungs- 
feiern, und auch dieſes Jahr wird es daran nicht fehlen. Und, was den Umſchlag 
der Stimmungen am deutlichſten bezeichnet: feit 1889 trägt wieder ein preußiſches 
Huſarenregiment den lange verpönten Namen des großen Deferteurs: es iſt das 
1. Schleſiſche Huſarenregiment Nr. 4 v. Schill. 

Am längſten hat es gedauert, bis ſich die kritiſche Geſchichtsforſchung mit dem 
erſt vielgeſchmähten und ſchließlich über Gebühr geprieſenen Manne beſchäftigte. 
Das 1860 erſchienene ehrliche und tüchtige Buch von Bärſch — auch er hatte 1809 
mitgekämpft — war bis vor kurzem die würdigſte Darftellung von Schills Unter- 
nehmen. Die erſte und bisher einzige Lebensbeſchreibung auf wiſſenſchaftlicher 
Grundlage iſt das Werk eines öſterreichiſchen Offiziers, der vor einigen Jahren in 
die preußiſche Armee übergetreten iſt, des Freiherrn Binder von Krieglſtein. Es 
iſt 1902 veröffentlicht worden und ſoeben in e wieder erſchienen (Berlin, 
Voßſche Buchhandlung). 

Ferdinand Baptiſta von Schill wurde am 6. Januar 1776 auf dem Gute 
Wilmsdorf, zwiſchen Dresden und Dippoldiswalde, geboren und evangeliſch ge- 
tauft. Seine Familie war dagegen katholiſcher Herkunft und ſtammte aus Deutſch⸗ 
Böhmen, fie ſcheint nicht adlig geweſen gu fein. Der Vater war nach allem, was 
wir von ihm hören, ein etwas dunkler Ehrenmann. Er hatte als Hufarenoffigier 
zuerſt in kaiſerlichen Dienſten geſtanden, war dann im Verlaufe des Siebenjährigen 
Krieges zur Krone Polen -Sachſen übergegangen und ein renommierter Freikorps 
führer geworden. Sein Ruf war aber anderer Art als der von Minna von Barn- 
helms waderem Bräutigam. Er hatte brav Beute gemacht, um etwas für den 
Frieden hinter ſich zu bringen, wovon er ſich dann den polniſchen Adel und ein 
Rittergut kaufte. Im Bayriſchen Erbfolgekrieg, dem faulen „Kartoffelkrieg“ von 
Anno 1778, trat er in gleicher Eigenſchaft wieder hervor, diesmal unter königlich 
preußiſcher Flagge. Dann kaufte er ſich in Oberſchleſien an, wo auch Ferdinand 
feine Jugend verlebte. 

Dieſer war der jüngſte von vier Söhnen, die alle Huſarenoffiziere wurden. 
Der dritte von ihnen, Heinrich, führte 1813 gleichfalls eine Freiſchar, die neben der 
Luͤtzows viel genannt wurde. Keiner von Schills Brüdern hat Söhne hinterlaſſen, 


a” 
Waas: Ferdinand von Schul 325 


fo daß der Name heute ausgeftorben ift. Der Alte überlebte noch lange den Ruhm 
und den Fall ſeines Ferdinand. Auch 1809 war er auf dem Plan und führte auf 
öſterreichiſche Rechnung ein Freikorps nach Galizien. Er zog dann wieder nach 
Böhmen, von wo aus er der preußiſchen Regierung durch ewige Prozeſſe um Pen- 
ſion und um den Nachlaß ſeines Sohnes viele Scherereien machte, wie er denn 
in Friedenszeiten nicht ohne gerichtliche Händel ſein konnte. Ja er heiratete noch 
einmal — eine Tochter aus dieſer Ehe lebte vor einigen Jahren noch in Ober- 
Oſterreich — und ſtarb uralt im Jahre 1822. 

Das tolle Huſarenweſen, das unſtete Parteigängertum und die Vorliebe für 
den friſchen, fröhlichen Kleinkrieg lagen alſo im Blute, daneben aber auch die Luſt 
an Händeln, die Ruhmredigkeit und der Mangel an ſittlicher Zucht. 

Kein Wunder auch, daß der Alte auf eine gute Erziehung ſeines Nachwuchſes 
nicht viel gab, ſondern dafür forgte, daß auch fein Züngfter möglichſt raſch aus dem 
Hauſe und zu den Reitern kam. Als Vierzehnjähriger trat Ferdinand bei den 
Ansbach Bayreuth Dragonern ein, von Hohenfriedberg her rühmlichſten An- 
gedenkens. Er durfte als Fähnrich gleich in die Kampagne nach Frankreich 1792 
mitreiten; nach der Belagerung von Mainz im nächſten Jahre wurde er Sekonde- 
leutnant. Vielleicht daß hier oder dort den ſchlanken Burſchen das Auge des Herrn 
Geheimerats von Goethe geſtreift hat, der ſehr wider Willen den Aſcherslebener 
Küraſſieren, Regiment Herzog von Weimar, aggregiert war. Beſonders hervor- 
getan hat ſich Schill in allen dieſen Bataillen und Kampagnen bis 1795 indeſſen nicht. 

Nach dem Bafler Frieden folgten elf Fabre ödeſten Garniſonslebens in klei— 
nen pommerſchen Neſtern, wo die einzelnen Schwadronen verteilt lagen. Die 
einzige Abwechſelung kam, wenn Naugard mit Paſewalk, Maſſow mit Gollnow 
oder Bahn mit Garz vertauſcht wurde. So war Schill dreißig Jahre alt geworden, 
ohne daß auch nur einer ſeiner Kameraden oder Vorgeſetzten etwas in ihm geahnt 
hätte; ſoll doch ſpäter einer von ihnen geäußert haben: „Ei, wer hätte das gedacht! 
Wie hat doch aus dem Schill noch etwas werden können, der nicht einmal verſtand, 
einen Zug gehörig anzuführen!“ Seine Qualifikation von 1805 lautete: „Guter, 
williger Offizier“, für einen Kavalleriſten nichts gerade Hervorragendes. 

Da brach Jena über das im Frieden dahinvegetierende alte Preußen herein. 
Bei Auerſtädt, am 14. Oktober 1806, wurde der Leutnant Schill von den Rönigin- 
Dragonern, wie fie jetzt hießen, durch einen Hieb über den Kopf [hwer verwundet. 
Zwei Unteroffiziere feines Regiments retteten ihn aus dem Getümniel nach Weißen 
ſee, von wo er ſich nach Magdeburg weiterſchleppte. 

Hier löſte ſich der wahre Schill mit einem Male in ihm heraus. Der völlige 
und ſchmachvolle Zuſammenbruch der preußiſchen Waffenmacht und WVaffenehre 
wiiblte das Innerſte des bisher gänzlich unbedeutenden Leutnants auf, und das 
Heldenhafte in ihm kam in Zornesfunken ans Licht. Als er hörte, daß die ſtärkſte 
Feſtung des Landes ohne Widerſtand übergeben werden ſollte, ging er, ohne ſeine 
Geneſung abzuwarten, auf und davon und ſchlug ſich nach Stettin durch. Aber auch 
hier fab er nur Schwäche und Feigheit. Der 81jährige Invalide, der in der Feſtung 
kommandierte, kapitulierte in der Tat vor 800 Reitern Murats. Schill aber war 
mit ſeiner Kopfwunde ſchon wieder unterwegs; es ging dem kleinen Kolberg zu. 


326 Waas: Ferdinand von Gëtt 


Kolberg war im Herbft 1806 keineswegs in der Verfaſſung, eine ernſthafte 
Belagerung auszuhalten. Daß es ſie doch aushielt, dazu trug Schill ſein redlich 
Teil bei. Kaum war fein Kopf wieder leidlich heil, fo ſtellte er ſich dem Romman- 
danten zur Verfügung, d. h. er brachte ſchon einen Plan mit. Der Kommandant 
Lucadou gab ihm zunächſt nur ſechs Küraſſiere. Mit denen jagte Schill den Fran- 
zoſen ſo fort einen Proviantzug von etwa hundert Wagen ab. Einige Tage ſpãter 
holte er mehrere franzöſiſche Offiziere aus ihren Betten heraus und brachte ſie 
im Triumph nach Kolberg. Einen noch größeren Fang machte er am 7. Dezember 
in Gülzow, wo er in Nacht und Nebel ein feindliches Kommando von etwa 70 Mann 
überfiel und eine Kaſſe von 1000 Talern und reiches Kriegsmaterial erbeutete; 
das alles mit einer Streitmacht von 10 Infanteriſten und 10 Reitern. 

Nun war ſein Name in aller Munde, und Lucadou konnte nicht länger die 
Erlaubnis zur Errichtung einer Streifſchar verſagen. Bald traf auch die königliche 
Genehmigung und der Orden pour le mérite für den tapferen Leutnant ein. Von 
allen Seiten ſtrömten ihm nun verſprengte preußiſche Offiziere und Soldaten zu, 
auch viele Kriegsgefangene, die auf dem Transport entlaufen waren und ſich im 
Lande umhertrieben. Auch Adolf von Lützow, der Führer der „wilden, verwegenen 
Zagi“ von 1813, und manch anderer prächtiger Offizier von Schneid und Taten- 
luſt eilte unter Schills Fähnlein. Im Februar 1807 hatte er eine Truppe von 
1300 Mann zuſammen: 5 Kompanien Infanterie, 1 Kompanie Jäger, 5 Schwa- 
dronen Kavallerie und ſogar eine Abteilung Artillerie. Mit dieſer Schar ſetzte er 
ſich in Greifenberg feſt, auf dem Wege nach Stettin, da er ſich in Kolberg durch den 
alten Vorſichtsrat Lucadou behindert fühlte. 

Und nun begann ein regelrechter Kleinkrieg durch die Wälder und Moräſte 
Pommerns, daß es eine Luft war. Hier wurde eine königliche Kaſſe den Fran- 
zoſen vor der Naſe weg aufgehoben, dort ein Fouragezug erbeutet, hier wurde ein 
Trupp Gefangener befreit, dort ein feindliches Kommando überrumpelt. Als gar 
der franzöſiſche Diviſionsgeneral Victor, der ſpätere Marſchall und Herzog von 
Belluno, in Arnswalde aufgegriffen wurde — allerdings nicht von den Schill- 
ſchen —, da war Schill nicht mehr zu halten. Wenn er auch in den beiden größeren 
Gefechten bei Stargard und Naugard am 15. und 17. Februar Mißerfolg hatte, 
ſo ging's doch immer wieder zur Attacke friſch drauf los, nach echter Huſarenart. 
Am 17. Februar wurde Schill zum Rittmeiſter befördert. 

Als die Franzoſen feit Mitte März mit Übermacht von allen Seiten auf Rol- 
berg zu herandrängten, um die Belagerung ernſthaft in Angriff zu nehmen, mußte 
fih auch Schills Freikorps hinter die Mauern der Feſtung zurückziehen. Alsbald 
ſtellten ſich die Reibereien mit Lucadou wieder ein, Schill wanderte ſogar ein- 
mal auf drei Tage in Arreſt. Er wandte ſich beſchwerdeführend an den König, 
der auch ein Einſehen hatte und den unfähigen Alten durch den damals noch wenig 
bekannten Major von Gneiſenau erſetzte. Am 30. April traf der neue Romman- 
dant ein. Wie für Schill, ſo wurde auch für ihn Kolberg die Wiege ſeines Ruhmes. 
Ihm ift die Rettung der Feſtung in erſter Linie zu verdanken. Indeſſen blieben die 
Schillſchen nicht untätig, ſie verteidigten die Maikuhle, ein Schanzenwerk, das die 
Einfahrt in die Perſante und damit die Verbindung mit der See beherrſchte. Da 


Waas: Ferdinand von Schill 327 


Schill hinter Gneiſenaus Genialität ſtark zurücktrat, ſuchte er neues Feld für feine 
Tätigkeit. Er fuhr nach Schweden, um diefe Macht, die feit 1805 mit Napoleon im 
Kriege lag, zur Truppenentſendung nach Vorpommern zu bewegen. Zweimal 
ging er zur See nach Stralſund. Von hier aus gedachte er ſogar eine Volkserhebung 
im Rücken der Franzoſen zu entfachen. Da machte die Schlacht bei Friedland, 
am 14. Zuni 1807, und der Waffenſtillſtand vom 25. Juni allen weiteren Feind- 
ſeligkeiten ein Ende. 

Aberblickt man dieſen erſten Teil von Schills Auftreten, ſo begreift man, 
wie es kam, daß fic) von nun an gerade an dieſen Mann die Hoffnungen aller preußi- 
ſchen Patrioten klammerten. Wenn auch ſeine Taten in Hinterpommern für die 
große Entſcheidung in Oſtpreußen eine recht unwichtige Sache waren, ſo nahmen 
ſie doch, nach den ſchimpflichen Ereigniſſen des letzten Herbſtes, eine hervorragende 
moraliſche Bedeutung an. Während die hohen Herren gänzlich verſagt, ja geradezu 
Feigheit gezeigt hatten, hob ein kleiner Leutnant, der verwundet vom Schlachtfeld 
gekommen war, die preußiſche Fahne in einer entlegenen Ecke des Landes wieder 
empor. Als kecker Draufgänger, voll ungeſtümem Mut und Tatendrang, rief er 
die Kräfte des Widerſtandes wach. Perſönlich von hinreißendem und bezaubern- 
dem Weſen, gewann er raſch die Zuneigung des gemeinen Mannes, wobei ihm der 
Zorn gegen die „Federbüſche“, wie die Generäle genannt wurden, wohl zuſtatten 
kam. Innerhalb fünf Monaten avancierte er vom Leutnant zum Stabsoffizier. 
Der Stolz ſeiner Leute, der Liebling ſeines Volkes, die Hoffnung ſeiner Nation, 
hatte er auch das Vertrauen und die Anerkennung ſeines Königs. 

Und doch hat damals kein Geringerer als Gneiſenau in einem jetzt erſt bekannt 
gewordenen Bericht an den Gencraladjutanten des Königs geſchrieben: „Übrigens 
ift Schill dugerft brav; nur glaube ich nimmermehr, daß er die Talente des Anfüh- 
ters eines großen Korps habe. Sein Zdeengang ift ſpringend, ohne irgend etwas 
zu ergründen. Bei der Lebhaftigkeit ſeines Charakters wirken andere auf ihn ein, 
benutzen ihn als ihr Werkzeug und haben die zeitherigen Spannungen herbei- 
geführt. So iſt es gekommen, daß ein anfänglich beſcheidener junger Mann durch 
Lobſprůche und Ruhm ift ſchwindlicht geworden und die Rückſichten eines Feftungs- 
kommandanten denen eines Parteigängers hat unterordnen wollen.“ 

Während nun im Frieden die preußiſche Armee ſtark verringert werden mußte 
und mancher den Abſchied bekam, der auch brav geweſen, blieb Schills Freikorps 
zuſammen in Ortsunterkunft in Pommern. Schill ſelber, der inzwiſchen zum 
Major ernannt worden war, lebte zumeiſt in Treptow im Kreiſe Blüchers, der 
allzeit rauchte und fluchte und an dem ſchneidigen Reiter offenſichtlich großes Ge- 
fallen hatte. Auch auf den Schlöſſern des Adels war er ein gern geſehener Gaſt. 
Er verlobte ſich mit der ſiebzehnjährigen Eliſe von Rüchel, der Tochter des be- 
kannten Generals, der bei Jena mit feinem Armeekorps zu ſpät gekommen, nun 
verabſchiedet auf feinem Gute Hafelei lebte. Eine hohe Ehre war Schill noch vor- 
behalten. Er wurde im Frühjahr 1808 in Königsberg von dem Königspaar 
empfangen, wobei der Überglüdliche aus der Hand der Königin Luiſe eine von 
ihr ſelbſt geſtickte Brieftaſche erhielt, mit der Widmung: „Für den braven Herrn 
von Schill.“ 


328 Waas: Ferdinand von Schill 


Durch Kabinettsorder vom 7. September 1808 wurde Schills Freikorps der 
Armee eingegliedert. Aus ſeiner buntſcheckigen Reiterei wurde ein Regiment 
Huſaren zu vier Schwadronen gebildet, mit dem Namen: „2. Brandenburgiſches 
Huſarenregiment v. Schill“. Die Uniform war dunkelblauer Pelz und Dolman, 
gelbe Schnüre, rote Kragen und Aufſchläge, graue Hoſen. Die Infanterie wurde 
zu einem leichten Infanteriebataillon „v. Schill“ verſchmolzen und dem Leib- 
Infanterieregiment zugeteilt. Chef des Bataillons blieb aber Schill. Mit Eifer 
widmete er ſich der Friedensausbildung ſeiner Tapferen, bei denen es allerdings 
mit der Mannszucht oft haperte. Auch die Offiziere fuhren fort, ihren neugebade- 
nen Kommandeur zu duzen und brieflich als „Lieber Major!“ anzureden. Es 
waltete ein ganz eigenartiger Geiſt unter dieſen Truppen, der ſie ſcharf von der 
übrigen Armee abhob und auch das Kommende mit erklären hilft. Es war der Geiſt 
der Freiheit und Selbſtändigkeit des Einzelnen. Der Anſpruch des Gemeinen auf 
Ehrgefühl wurde von den Vorgeſetzten anerkannt. Während bis dahin noch der 
preußiſche Soldat in alt-friderizianiſcher Art mit „Er“ angedonnert wurde, hörten 
die Schillſchen fih mit „Sie“ anreden. Dem brüderlihen „Du“ unter den Offigie- 
ren, bis zum Regimentskommandeur hinauf, entſprach das ehrenvolle „Sie“ für 
die Untergebenen. Auch der rein parademäßige Drill und manch überflüffiger 
Griff war bei Schills Infanterie abgeſchafft, um dafür das Schützengefecht kräftiger 
einüben zu können. Schill zeigte, daß er in allem dem von den Franzoſen ge- 
lernt hatte; bald folgte ihm das preußiſche Heer darin nach. 

Schill war von gedrungener, kräftiger Geſtalt, ſeine Bewegungen lebhaft, 
wie er auch am liebſten, wenn er zu Pferde ſaß, galoppierte. Sein Geſicht war voll 
und friſch. Feurig und dreiſt blickten ſeine dunklen Augen. Beim Nachdenken ſchlug 
er die ſonſt unſteten Blicke zu Boden und zupfte an ſeinem Schnurrbart. Wenn er 
zu feinen Soldaten redete, wußte er fie durch Enthuſiasmus in Stimme und Ge- 
bärde hinzureißen; er war ein geborener Volksredner. Sein Freund Adolf von 
Lützow berichtet von ihm: „Er war aus Grundſatz gegen jedermann artig und freund- 
lich, beſonders aber gegen die niedere Volksklaſſe, bei der er denn auch ſeinen End- 
zweck völlig erreichte, und ich behaupte daher mit Gewißheit, daß es in Deutſchland 
keinen Menſchen gab, der das Talent, auf den großen Haufen zu wirken, in dem 
Grad beſaß als er, der ſtundenlang dem fadeſten Geſpräch eines Bauern zuhören 
und es immer durch neue Fragen im Gang erhalten konnte; der nie einen Bauer 
von ſich weggehen ließ, ohne ihn zum wenigſten durch Verſprechungen oder freund- 
ſchaftliches Zureden getröſtet und für ſich eingenommen zu haben. War es daher 
möglich, Deutſchlands Volk unter die Waffen zu bringen, ſo war es durch Schills 
Namen und durch Schills perſönliche Eigenſchaften.“ 

Im Zenit ſeines Ruhmes ſtand Schill, als ihm auf ausdrücklichen Befehl 
des Königs die außerordentliche Auszeichnung wurde, an der Spitze ſeiner Leute 
in Berlin, das endlich von den Franzoſen geräumt worden war, einzuziehen, 
um hier in Garniſon zu bleiben. Ende November 1808 rückte Schill aus Pommern 
ab. Unterwegs nahm er Abſchied von der Braut; er ſollte ſie nie wiederſehen! 
Der Marſch der Schillſchen durch Pommern und Brandenburg glich einem Sri- 
umphe. Beim Einzug in Berlin, wo man ſeit 1806 keine preußiſchen Regimenter 


Waas: Ferdinand von Schill 329 


geſehen hatte, erſchien Schill, umjubelt von den Volksmaſſen, die an ihn glaubten, 
als der Meſſias einer glorreichen Zukunft Preußens. So war noch kein Soldat vor 
ihm von den nüchternen Berlinern empfangen worden. Die Stadtväter über- 
reichten ihm einen goldenen Ehrenſäbel mit der Inſchrift: „Dem Retter Kolbergs.“ 
Es war eine Unwahrheit, aber die allgemeine Meinung. Nur manchmal, wenn 
dem alſo von der Volksbegeiſterung Berauſchten die Beſinnung wiederkam, rief 
er aus: „Man macht zu viel aus mir!“ 

Die Stimmung weiteſter Kreiſe in Preußen drängte immer ſtärker zu einer 
gewaltſamen Entladung. Mit verhaltener Wut zahlte man die Kriegsſteuern an 
Napoleon, und noch war kein Ende abzuſehen. Das ganze Land war umſtellt von 
franzöſiſchen Truppen, die Hauptfeſtungen noch von ihnen beſetzt; überall franzö⸗ 
ſiſche Spione. Ein bleierner Oruck lag über dem Lande. Ahnlich war es in ganz 
Norddeutſchland. Der berühmte Zurift Anſelm von Feuerbach hat das allgemeine 
Empfinden fo dargeſtellt: „Die allermeiſten Staaten waren geräumige Zucht- 
häufer geworden, von franzöſiſchen Gendarmen bewacht und von verzweifelten 
Bettlern bewohnt.“ Unter den preußiſchen Patrioten bildeten fic) Geheimbünde 
zur Vorbereitung der Volkserhebung, ſo der „Sittlich-wiſſenſchaftliche Verein“ in 
Königsberg, den man unter dem Namen „Tugendbund“ kennt, und die in Pommern 
weitverbreitete „Geſellſchaft der Vaterlandsfreunde“. 

Immer wieder ergingen von dieſen Verbindungen geheime Aufforderungen 
an den Helden des Tages, ſich an ihre Spitze zu ſtellen. Auch Blücher und Gneiſenau, 
der gar nichts dagegen hatte, daß das Volk Schill als den Retter von Kolberg pries, 
gedachten, ſich der Zugkraft feines Namens für den künftigen Volkskrieg zu be- 
dienen. Briefe von Gneiſenau an und über Schill ſind noch vorhanden und laſſen 
darüber keinen Zweifel. An Schills letztem Entſchluſſe hat er übrigens keinen Teil. 
Auch auf Schills Schwiegervater wurde ſtark gerechnet. In Berlin förderte ein 
Geheimkomitee durch Geld und ſonſtige Beihilfen Schills Pläne. Kein Geringerer 
als der Stadtkommandant, Major Friedrich Adolf von Chaſot, ſtand an der Spitze. 

Da brachte eine überraſchende Wendung der Weltereigniſſe die Entſcheidung. 
Der gewaltig emporflammende Volkskrieg in Spanien hatte Napoleon Ende 1808 
genötigt, den beſten Teil ſeines Heeres aus Deutſchland dorthin zu werfen; er 
ſelbſt war nachgeeilt. Mit einigen ſeiner Gewaltſchläge glaubte er der Spanier 
Herr werden zu können. Allein er verrechnete ſich arg. Der leidenſchaftliche, ja 
geradezu wahnſinnige Widerſtand Saragoſſas, ſowie die allenthalben und immer 
von neuem auftauchenden Guerilla Banden zeigten der ganzen Welt, zu welchen 
Taten eine ſolche Nation fähig war. Der Name „Saragoſſa“ ſchwebte nunmehr 
allen preußiſchen Patrioten auf den Lippen. Der Tirols ſollte ſich bald anſchließen. 

Zum erſtenmal wurde Napoleon von einer Offenſive überraſcht. Es war 
die Öfterreichs 1809. Am 6. April erließ Erzherzog Karl die Proklamation an fein 
Heer: „Die Freiheit Europas hat fic) unter eure Fahne geflüchtet; eure Siege 
werden ihre Feſſeln löſen, und eure deutſchen Brüder, jetzt noch in feindlichen 
Reihen, harren auf ihre Erlöſung.“ Es war die Stimme Stadions, der zum all- 
gemeinen europäͤiſchen Völkerkrieg gegen den Tyrannen aufrief. Am 9. erfolgte 
die Kriegserklärung, und am nächſten Tage war ganz Tirol im Aufſtand gegen die 


330 Waas: Ferdinand von Schul 


bayriſch-franzöſiſche Herrſchaft. Am 16. war Bayern von den Sſterreichern über- 
ſchwemmt. Währenddeſſen errang Erzherzog Johann Sieg auf Sieg in Ober- 
italien, am 20. zog Erzherzog Ferdinand in Warfdau ein. 

Mit klopfendem Herzen vernahm Preußen dieſe Nachrichten, in fieberhafter 
Spannung wartete es auf ein Wort ſeines Königs, der immer noch in Oſtpreußen 
weilte. Es kam und kam nicht! Sollte die Stunde denn wirklich verpaßt werden? 

Durch ganz Norddeutſchland vom Pregel bis zur Ems liefen die Spione und 
Agenten Schills und brachten ihm Kundſchaften über die Bewegungen und Stel- 
lungen der wenigen franzöſiſchen Truppen, die noch im Lande waren. In Weft- 
falen, in Oſtfriesland, in allen ehemals preußiſchen Landesteilen war ſein baldiges 
Erſcheinen angekündigt. 

Der Hauptſchlag ſollte ſich gegen den gebrechlichſten und verhaßteſten aller 
napoleoniſchen Vaſallenſtaaten richten, gegen das Weſtfalen des Königs „Luſchtick“. 
Schon feit Anfang April ſammelten der Hauptmann Katte und einige andere in- 
aktive preußiſche Offiziere eine Schar altgedienter Soldaten in der Altmark, um 
die ſchwache Garniſon von Magdeburg zu überrumpeln. Sie wurden indeſſen der 
weſtfäliſchen Polizei auffällig; mit einigen Verhaftungen war das Geheimnis 
heraus. Die Herren entkamen, die Soldaten wurden zerſprengt. Da gedachte es 
ein anderer ehemals preußiſcher Offizier, der jetzt Oberſt der Gardejäger bei Jérôme 
war, anders anzupacken. Es war Wilhelm Kaſpar von Dörnberg. Er wollte Raffel 
ſelbſt überfallen und ſich der Perſon des gekrönten Fremdlings bemächtigen. Bis in 
das Miniſterium hatte er feine Verbindungen; das Landvolk hing dem Freiherrn 
aus altheſſiſcher Familie mit Bauerntreue an. Die Gemahlin des entthronten 
Kurfürſten, Auguſte, eine geborene Prinzeſſin von Preußen, die eigens nach Ber- 
lin gekommen war, unterſtützte ihn wie auch Schill durch reichliche Geldmittel. 
Etwa am 18. April hatte ſie eine perſönliche Zuſammenkunft mit Schill. Eine 
weitere war verabredet. In der Nacht vom 21. zum 22. ſollte Dörnberg mit feinen 
heſſiſchen Bauern gegen Raffel losmarſchieren. Schill war über alles genau unter- 
richtet. Einer feiner Vertrauten ſchrieb ihm: „Kommen Sie ſelbſt und dringen 
mit vor, ſo ſind wir des Sieges gewiß. Ihr Name gilt für eine Gottheit, an die 
jeder mit feſter Zuverſicht glaubt.“ Ein anderer: „Brute, dormis? Immer mehr 
wuchs die Unruhe des alſo zum Tyrannenmord Aufgerufenen. Er konnte fie nicht 
mehr bändigen. „Ich muß etwas unternehmen, ich muß!“ brach es aus feinem 
Herzen hervor. 

Schill wurde mehrfach von ſeinen Vorgeſetzten dringend verwarnt, ſo vor 
allem von dem Gouverneur von Berlin, General von Leſtocq, und von feinem 
Brigadekommandeur, General von Tauentzien, denen er fogar fein Ehrenwort ver- 
pfändete, „fich ruhig zu verhalten und nicht dem Intereſſe und der Intention 
Seiner Königlichen Majeſtät entgegen etwas zu unternehmen“. Er habe jetzt nur 
den Ehrgeiz, ſein Regiment in einen guten Zuſtand zu bringen. Er bat daher, 
ihm zum Exerzieren und Manövrieren freie Hand zu laffen. Leſtocq und Tauentzien 
waren die beſonderen Vertrauten des Königs. 

Schills letztes Schwanken wurde gebrochen durch die Verhaftung eines fei- 
ner Agenten, des Bauers Romberg, der mit Briefen und einem Aufruf Schills 


Waas: Ferdinand von Schill 331 


in Magdeburg der weſtfäliſchen Polizei in die Hände fiel. Sofort wurde der preußi- 
ſche König davon auf diplomatiſchem Wege in Kenntnis geſetzt. Gleichzeitig hatte 
auch Leſtocq ſo beſtimmte Angaben über die Umtriebe Schills und Chaſots nach 
Königsberg gemeldet, daß der König die beiden am 25. April zu ſich berief. Dieſer 
Befehl kam für Schill ſchon zu ſpät. Er hatte bereits auf direktem Wege aus dem 
weſtfäliſchen Miniſterium die Verhaftung Rombergs erfahren. Nun gab es kein 
Zurck mehr! 

Dazu trafen nun gerade am 27. vom Kriegsſchauplatz in Bayern die erſten 
Nachrichten von einer großen Schlacht ein; ſie meldeten, Erzherzog Karl habe einen 
entſcheidenden Sieg über Napoleon bei Hof (gegenüber von Regensburg) er- 
fochten. Alsbald gab Chaſot für die Garniſon die Parole aus: „Karl und Hof“. 
Da erhielt Schill zu allem andern an demſelben Tage noch durch Stafette einen 
Brief von einem Vertrauten aus Königsberg, wahrſcheinlich von dem Geheimen 
Rat und Kriegskommiſſär Ribbentrop, der Mitglied des Tugendbundes war. 
Darin ſtand: „Der König ſchwankt; Schill, ziehen Sie mit Gott!“ 

Nun war Schill überzeugt, nicht nur ganz Deutfchland, fondern auch feinen 
König mit fidh fortreißen zu können. Sn einer letzten Beratung mit Adolf von 
Lützow und Leutnant Bärſch, ſeinen beiden Vertrauten, faßte Schill noch am 
27. den Entſchluß, morgen mit dem Huſarenregiment Berlin zu verlaſſen, um in 
Weſtfalen einzubrechen, wo der Aufſtand Dörnbergs, wie eben bekannt geworden 
war, tatſächlich ausgebrochen fei. Ganz Weſtfalen ſtehe bereits in Rebellion. Keiner 
der übrigen Offiziere wußte um das Geheimnis. 

Und die Frage nach dem Völkerrecht? Mitten im Frieden, an der Spitze 
ſeines Regimentes, das er zur Fahnenflucht verführen wollte, über die benachbarten 
Staaten herzufallen, die mit ſeinem König in freundſchaftlichen Beziehungen ftan- 
den? Was lag Schill daran! Galt der Kampf doch nur Napoleon, der Fleiſch- 
werdung alles Böſen, dem leibhaftigen Satan, wie er den preußiſchen Patrioten 
erſchien. Einem ſolchen Feinde gegenüber und ſeinen Helfershelfern war alles 
erlaubt. Ließ nicht in dieſen Tagen Heinrich von Kleiſt „Germania an ihre Kinder“ 


ausrufen: 
„Alle Triften, alle Stätten 


Farbt mit ihren Knochen weiß!“ 


Es wußte auch ein jeder, wer in dieſem von wildeſtem Haſſe ſchäumenden 
Kriegsgeſange gemeint war, wenn der Chor antwortete: 


„Eine Luſtjagd, wie wenn Schützen 
Auf der Spur dem Wolfe ſitzen! 
Schlagt ihn tot! Das Weltgericht 
Fragt euch nach den Gründen nicht! 


Eine Luſtjagd! Ja, fo war auch Schills Ritt gedacht; nur daß allzubald aus 
dem Jäger ein Gejagter werden ſollte, da der Wölfe noch zu viele waren! 

Schon öfters waren die 2. Brandenburger Huſaren, wie es Schill ja ſeinen 
Vorgeſetzten mitgeteilt, zu ausgedehntem Exerzieren mit allem Gepäck ausgerückt; 
auch war der Gouverneur benachrichtigt worden, daß ſie diesmal länger draußen 


332 Waas: Ferdinand von Schin 


bleiben werden. So rückten fie, 450 Mann ſtark, Schill an der Spitze, am 28. April 
mittags vier Uhr zum Halleſchen Tore hinaus. Unter allerlei Bewegungen ritten 
ſie auf der Straße nach Potsdam zu. Allmählich hatten ſich die Ziviliſten, die das 
geliebte Regiment wie gewöhnlich begleiteten, verloren. Es fing ſchon an zu dun- 
keln, und leichter Regen fiel. 

Da ließ Schill halten. Er rief die Offiziere vor die Front und hielt folgende 
Anſprache: „Der Augenblick iſt gekommen, die Schmach des Vaterlands zu rächen. 
Die Öfterreicher haben bereits einen Sieg über Napoleon erfochten. In Weſtfalen 
iſt der Aufſtand ausgebrochen, man wartet auf die Befreier. Spanien und Tirol 
haben das Vorbild gegeben. Wie Napoleon das ſpaniſche Herrſcherhaus vom Throne 
geſtoßen, ſo ſinnt der tückiſche Thronräuber auch darauf, Preußens König ganz zu 
ſtürzen. Dies ſoll dem Böſewicht aber nicht gelingen! Ich bin bereit, für König 
und Vaterland zu ſterben. Ich bin überzeugt, daß jeder von euch, Kameraden, 
das gleiche denkt!“ Dabei zog er die Brieftaſche hervor, die ihm die Königin ge- 
ſchenkt, und beteuerte, er werde ſich der königlichen Gnade würdig zeigen. Zum 
Schluſſe forderte er diejenigen Offiziere und Mannſchaften, die ihm aus irgend- 
einem Grunde nicht folgen wollten, auf, nach Berlin zurückzukehren. Einſtimmiger 
Subelruf erſcholl auf diefe Rede. Keiner wollte zurückbleiben. Alle, ohne Aus- 
nahme — auch die, die Weib und Kind zu Hauſe hatten —, folgten ihrem Führer. 
Es war, wie wenn nach banger Gewitterſchwüle der zündende Blitz fällt. 

In der Nacht wurde bei Potsdam biwakiert und am anderen Morgen die 
Havel überſchritten. Bei Großenkreuz holte der dem Schillſchen Korps nachgeſandte 
Major von Zeppelin das Regiment ein und überbrachte den ſtrengſten Befehl 
des Gouverneurs, unverzüglich umzukehren. Natürlich weigerte ſich Schill, und 
Zeppelin ritt unverrichteterdinge nach Berlin zurück, ohne auch nur den Verſuch 
gemacht zu haben, mit den Offizieren zu ſprechen, wie ihm doch befohlen worden war. 

Bei Brück wurde am 30. die ſächſiſche Grenze überſchritten. Da Schill wußte, 
daß der franzöſiſche Gouverneur von Magdeburg, General Michaud, gewarnt 
war, beſchloß er, das ſächſiſche Wittenberg zu überfallen, um hier die Elbe zu über- 
ſchreiten. Am 1. Mai ſtand er vor der Stadt, in die ſich die ſächſiſchen Bauern vor 
dem Anrücken der „Befreier“ geflüchtet hatten; ein übles Vorzeichen für den ge- 
planten Volkskrieg! Der Kommandeur, der nur Invaliden und Rekruten unter 
feinem Befehl hatte, ließ fih gern auf ein Abereinkommen ein, wonach die Schill- 
ſchen mit klingendem Spiel über die Elbbrücke, unter den Kanonen der Feſtung, 
ziehen durften. Der ſächſiſche Staatsſchatz, der vor den Öfterreichern auf Kähnen 
hierher geflüchtet worden war, blieb unberührt. 

Am nächſten Tag rückten fie ſchon in Deffau ein. Von hier erging Schills 
Kriegsproklamation „An die Deutſchen, meine in den Ketten eines fremden Volkes 
ſchmachtenden Brüder“. Der Buchdrucker, der durch Palms Schickſal geängitigt 
war, bat, ihn durch die Piſtole zum Druck zu zwingen, was gerne gewährt wurde. 
Köthen dagegen, deffen Herzog ein begeiſterter Napoleon Verehrer war, mußte 
überrumpelt werden. Es ging aber ohne Blutvergießen ab, da Sereniſſimus vor 
dem Korps der Rache Reißaus genommen hatte. Fünfzig Mann der herzoglichen 
Garde und einige Offiziere traten ſogar bei Schill ein. 


Waas: Ferdinand von Schul 353 


Bei Bernburg ging es über die Saale, in König ZJerömes Reich, und nun 
nordwärts Magdeburg zu. Eine Abteilung wurde nach Halle abgezweigt, um die 
Stadt wieder für den König von Preußen in Beſitz zu nehmen. Mit Jubel wur- 
den die Huſaren empfangen; es war aber eine arge Enttäuſchung, als fih Pro- 
feſſor Steffens, der bekannte Naturforſcher und Patriot, weigerte, die ſtudentiſche 
Jugend zum Anſchluß an Schills Schar aufzurufen. Auch aus den Berichten ſeiner 
anderen auf Streifen ausgeſandten Leutnants entnahm der Führer, daß an eine 
Volkserhebung in dieſen Gegenden — es waren altpreußiſche Lande! — nicht zu 
denken ſei. 

Und nun kamen die Hiobspoſten Schlag auf Schlag. Jetzt erft erfuhr Schill, 
daß Dörnbergs Aufſtand bereits am 23. April zuſammengebrochen fei. Er ſelber 
war entkommen, die armen Bauern mußten die Zeche zahlen. Der große Sieg 
des Erzherzogs Karl ſtellte ſich als eine Kette von Niederlagen heraus. In einer 
Reihe von Gefechten vom 19. bis 23. April hatte Napoleon die Sſterreicher aus 
Bayern hinausgeworfen, ſo daß der Erzherzog froh war, ſeine übel mitgenommenen 
Korps über Regensburg nach Böhmen retten zu können. Napoleon marſchierte 
ſtrackwegs auf Wien. Der erſte Teil des Feldzugs war alfo ſchmählich verloren, 
Süddeutſchland von neuem an den Heerwagen des Imperators gekettet! Ein 
Schreiben des Gouverneurs von Berlin traf zugleich mit dieſen Nachrichten ein und 
drohte die ſchwerſten Strafen an. Auf nachträgliche Genehmigung des verwegenen 
Unternehmens oder gar auf den Beitritt des Königs zu der ſchon halb verſpielten 
Sache Sſterreichs konnte alfo nicht im entfernteften mehr gerechnet werden. 

Nun mußte er ſich ſeinen Offizieren offenbaren und mit ihnen über das 
„Was nun?“ beraten. Am 4. Mai hielt Schill mit ſeinen Getreuen zu Bernburg 
Kriegsrat. Er ſetzte ihnen ſeine Lage unumwunden auseinander. Er wies auch 
darauf hin, daß ihnen bald überlegene Streitkräfte entgegentreten würden. Darauf 
machte er ihnen den Vorſchlag, zurückzuziehen. Er für ſeine Perſon würde dann 
zu den Öfterreichern oder Engländern gehen. 

Ein Teil der Offiziere ſtimmte dem bei, aber auch manche andere Projekte 
wurden vorgebracht und erörtert, bis Schill ſchließlich mit ſeiner wahren Abſicht 
herauskam. Er ſchlug vor, ſich längs der Elbe nach Norden zu wenden, den Fluß 
wieder zu überſchreiten, um es in Mecklenburg und Pommern, der Stätte ſeiner 
erſten Erfolge, mit dem Volkskrieg noch einmal zu verſuchen. Wie damals Kolberg, 
ſo ſollte jetzt Stralſund, das ihm ja auch ſeit 1807 wohlbekannt war, der Stützpunkt 
werden. (Er wußte wohl nicht, daß dieſe Stadt inzwiſchen entfeſtigt worden war.) 
Hier könne man im Notfalle von der engliſchen Flotte aufgenommen werden. 
Schlage alles fehl, dann werde er aus Stralſund ein zweites Saragoſſa machen. 

Mitten in dieſer Beratung wurde gemeldet, daß eine Abteilung der Garni- 
ſon von Magdeburg ſich ſüdlich der Feſtung bei Dodendorf aufgeſtellt habe, um 
den Schillſchen den Weg auf Magdeburg zu verlegen. Es waren Franzoſen und 
Weſtfalen unter dem Befehl des franzöſiſchen Oberſten Vautier. Nun mußte es 
Ernſt werden! Schill nahm ohne Beſinnen den Kampf an. Am 5, trafen die Geg- 
ner aufeinander. Den Verſuch, die Weſtfalen zum Übertritt zu bewegen, bezahlte 
ein Leutnant Schills mit dem Leben; er war wohl ungliidlidermeife an franzöſiſche 


334 Waas: Ferdinand von Schul 


Kompanien geraten. Zum erſtenmal ſeit 1807 kreuzten wieder Franzoſen und 
Preußen die Klingen. Es war ein ſeltſamer Kampf: auf dieſer Seite nur Ravalle- 
rie, auf jener nur Infanterie! Mit wilder Wut ſtürzten ſich Schills Huſaren auf die 
Feinde. Zwei weſtfäliſche Kompanien wurden von ihnen niedergehauen; dagegen 
gelang es nicht, die Franzoſen aus dem Dorfe zu vertreiben. Die Nacht brach ein, 
und Schill hatte nichts erreicht, als 160 Gefangene zu machen, die ihm bei ſeinem 
weiteren Zuge nur zur Laft fielen. Dafür hatte er von feiner Heinen Schar 12 Offi- 
ziere und 70 Mann verloren, unter ihnen auch Adolf von Lützow. Er war ſchwer 
verwundet worden, konnte aber nach Schönhauſen zu Ferdinand von Bismarck, 
dem Vater des Reichskanzlers, gerettet werden, der ihn treulich pflegte. Schill 
ſah ſich genötigt, im Bogen um die Feſtung herumzuſchwenken. 

War Schills Unternehmen auch jetzt ſchon als gänzlich verunglückt zu betrach- 
ten, fo erregte es doch außerordentliches Aufſehen. Hieronymus Napoleon, von 
Gottes Gnaden ufw., erließ einen Befehl, auf Schills Leute wie auf eine Räuber- 
bande Jagd zu machen und ſich ihrer, tot oder lebendig, zu bemächtigen. Auf den 
Kopf des Rädelsführers fekte er einen Preis von 10 000 Franken aus, was Schill 
damit beantwortet haben ſoll, daß er auf den Seiner Majeſtät von Weſtfalen 
5 Taler ausſchrieb. Ein Gegen-Aufruf „An die Einwohner Weſtfalens“, den er 
alsbald verbreitete, verhallte ohne Wirkung, zumal als nunmehr auch der Armee- 
befehl des preußiſchen Königs vom 8. Mai bekannt wurde, der Schills Entweichen 
als eine unglaubliche Tat mit den ſchärfſten Ausdrücken verurteilte. 

An demſelben Tage wurden auch der Gouverneur und der Stadtkommandant 
von Berlin, Leſtocq und Chaſot, ihrer Poſten enthoben. Schills Deſertion hatte 
nämlich inzwiſchen Nachfolge gefunden, und es war wiederum nicht verhindert 
worden. Wir erinnern uns, daß auch ein Bataillon Infanterie vom Leibregiment 
den Namen Schills führte. Nach dem Ausmarſch der Huſaren hatte ſich auch die- 
ſer Truppen eine große Aufregung bemächtigt; glaubte man doch auch in Berlin 
damals noch ganz allgemein, Schill handele im geheimen Auftrag des Königs. 
Auch ſie wollten, wie bei Kolberg, wieder mit dabei ſein. Dieſe Stimmung hatte 
der Leutnant Auguſt von Quiſtorp benutzt, um die Leibkompanie des Bataillons 
den Hufaren nachzuführen. Einige Offiziere und Mannſchaften der anderen Rom- 
panien hatten fih angeſchloſſen, als er in der Nacht vom 3. zum 4. Mai aus Ber- 
lin entwich. Am 12. Mai langten ſie nach allerlei Irrfahrten in Arneburg an, 
von Schill und ſeinen Reitern als willkommene Verſtärkung mit Jubel begrüßt. 
„Lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende!“ rief er ihnen zu. 
Es war fein Lieblingswort. 

Noch allerlei ſonſtiger Zuwachs ſammelte ſich allmählich um Schills Fahne: 
neben kampferprobten, fiir die Freiheit begeiſterten Offizieren und früheren preugi- 
ſchen Soldaten auch viel beſchäftigungsloſes Volk aus aller Herren Ländern, das 
hier ein Untertommen ſuchte, aus Not oder auch in Hoffnung auf Beute und ein 
freies Leben. Nicht nur Vaterlandsſchwärmerei, auch Räuberromantik hat dies 
Korps der Rache vermehrt, wie es bei der ſchwarzen Schar des Herzogs von Braun- 
ſchweig-Ols und bei Lügows Freikorps ja auch der Fall geweſen. So hatte Schill 
ſchließlich zuſammen: fein Huſarenregiment und eine Schwadron reitende Zager, 


Waas: Ferdinand von Schill 335 


drei neugebildete Schwadronen Ulanen und Infanterie in der Stärke von etwa 
zwei Bataillonen, wovon die Leibkompanie Schills der Kern war. Auch eine 
Felbbatterie aus einigen unterwegs erbeuteten „Bullerbüchſen“ wurde zufammen- 
geſtellt. Die ſeltſamſte Truppe dieſer ſeltſamſten Armee des 19. Jahrhunderts 
waren aber 200 mit Piken bewaffnete und ganz undiſziplinierte junge Leute, 
halbe Knaben noch. Sie waren der Führung eines achtzehnjährigen Zünglings 
namens Mundt anvertraut, von Profeſſion Taſchenſpieler, der ein ganz verwegener 
Gefelle gewefen fein muß. Schill hatte ihn bei Oodendorf wegen feiner Tapfer- 
keit zum Unteroffizier befördert, worauf er im Korps nur noch der „Herzog von 
Dodendorf“ genannt wurde, zum Hohn auf die Herzöge von Napoleons Gnaden. 

Zum nächſten Stützpunkt war die kleine mecklenburgiſche Feſtung Dömitz 
an der unteren Elbe auserſehen, die als feucht- fröhliches Staatsgefängnis aus 
Fritz Reuters „Feſtungstid“ bekannt ift. Auch Anno 9 war es dasſelbe friedlich 
ſchlafende Neſt, in deſſen Zitadelle ein alter Major mit 60 Soldaten und mit einigen 
Hundert Gefangenen hauſte. Dieſe Stätte gemuͤtlichen Stillebens wurde nun am 
15. von dem vorausgeſandten Leutnant von Quiſtorp und zwei Kompanien über- 
rumpelt, ohne jegliches Blutvergießen. Am nächſten Tage langte auch Schill mit 
feiner Hauptmacht dort an. Er befahl, die Feſtungswerke, fo raſch es ging, in beffe- 
ren Stand zu ſetzen, und ließ eine kleine Beſatzung unter dem Leutnant von Fran- 
çois zuruck, dem wildeſten aller Abenteurer in Schills Freiſchar. Er ift der Vater 
des Generalmajors von François, der als erſter deutſcher General 1870 bei Spichern 
gefallen ift, und der Oheim der bekannten Dichterin Luiſe von François. Ein Leben 
voller Liebesaffären und Duelle lag hinter ihm, er hatte ſchon eine Verurteilung 
zum Tode überſtanden und war vor kurzem aus lebenslänglichem Kerker entwichen. 

Da ſich Schill nunmehr der See näherte, ſuchte er mit den Engländern in 
Verbindung zu treten. Zu dieſem Zwecke ſchickte er zwei Offiziere ab, einen nach 
London, den anderen zu der engliſchen Oſtſeeflotte unter Admiral Saumarez. 
Keiner von ihnen erreichte ſein Ziel. Sie wurden beide in Hamburg angehalten. 
Von den Engländern hat Schill nichts zu ſehen und zu hören bekommen. 

Auch der Herzog von Medlenburg-Schwerin, deffen Gebiet nun auf dem 
Wege nach Stralſund durchquert werden mußte, gehörte zum Rheinbund. Das 
Land wurde aber glimpflich behandelt, da der Fürſt um Schonung feiner Unter- 
tanen gebeten hatte. 

Doch ſchon zog ſich das Gewitter über die kühnen Freiſchärler zuſammen. 
Von Lüneburg her rückte der franzöſiſche General Gratien, der in Dienſten von 
Napoleons Bruder Ludwig ſtand, mit etwa 2500 Holländern an. Am 24. fiel ihnen 
Dömitz in die Hände, wobei das arme Städtchen in Brand geſchoſſen wurde. 
François konnte ſich durchſchlagen, aber 30 Pikeniere gerieten in Gefangenſchaft. 
Der feindliche General wollte ihnen fuͤnfzig überzählen laſſen. Die braven Jungen 
verlangten aber, als Soldaten lieber erſchoſſen zu werden, worauf er ſie ohne jede 
Strafe laufen ließ. General d' Albignac heißt der wackere Mann. Von Nordweſten 
her zogen Dänen unter General Ewald, ebenfalls in der Stärke von 2500 Mann, 
heran, um den Parteigängern den Garaus zu machen. Dänemark war ja mit 
Frankreich verbündet. 


336 Maas: Ferdinand von Schul 


Schill mußte fich alſo beeilen, fein Ziel noch vor den Feinden zu erreichen. 
Am 25. zog er in Noſtock ein. Rein militäriſch betrachtet, beging er nun einen ſchwe⸗ 
ren Fehler. Anſtatt alle feine Truppen für die Verteidigung von Stralſund zu- 
ſammenzuhalten, ſchickte er einen Teil ſeiner Infanterie unter Leutnant Bärſch, 
dem ſich dann auch Frangois mit feinem aus Dömitz entronnenen Häuflein an- 
ſchloß, zur See von Warnemünde nach Rügen. Es ſollte ihr Glück werden! 

Das politiſch zu Schweden gehörige Stralſund war ſeit 1807 von Franzoſen 
beſetzt. Der halbverrückte König Guftav IV. Adolf dachte an keinen Frieden mit 
Napoleon, ſondern hatte ſich zum Aberfluß auch mit Rußland und Dänemark in 
Kriege verwickelt. Die Verteidigungswerke der einſt ſo ſtarken und ganz von Waſſer 
umgebenen Feſtung hatte Napoleon im letzten Winter ſchleifen laſſen. Die Beſatzung 
beſtand aus einem mecklenburgiſchen Infanteriebataillon, 100 polniſchen Ulanen 
und einer franzöſiſchen Abteilung Artillerie. Der Gouverneur, General Candras, 
ging den heranrückenden Freiſchärlern bis an die Recknitz, die auf ihrem Unterlauf 
Vorpommern von Mecklenburg trennt, entgegen. Er ſtellte fidh ſelber vorfidts- 
halber mit den Polen ſüdwärts bei Triebſees auf, während er den 600 Mecklen- 
burgern unter Major von Preſſenthin die Verteidigung des graden Weges nach 
Stralſund, den Ubergang bei Damgarten zuwies. 

Viel mehr Truppen hatte Schill augenblicklich auch nicht bei ſich, als er am 
24. Mai auf die Mecklenburger ſtieß. Das Gefecht bei Damgarten wurde ganz 
anderer Art als das bei Dodendorf. Wenn die Mecklenburger Offiziere fih auch 
durch Ehre und Fahneneid für verpflichtet hielten, den Kampf gegen die deutſchen 
Brüder aufzunehmen, ſo waren doch die guten Schweriner Rheinbundsſoldaten 
durchaus nicht geſonnen, ſich von den rabiaten Schillſchen für den franzöſiſchen 
Musjöh totſchießen zu laffen, der währenddeſſen fern vom Schuß in aller Geelen- 
ruhe dejeunierte. In kurzem waren fie umringt, und beim Rückzug ließ fih eine 
Kompanie nach der anderen gefangennehmen. „Hurra, kommt zu uns, brave 
Deutſche!“ riefen die Schillſchen und ſchwenkten ihnen die vollen Branntwein- 
flaſchen zu. „Das Gefecht endigte, wie wohl wenige endigen“, erzählt ein medlen- 
burgiſcher Offizier. Es löſte ſich in allgemeiner Verbrüderung auf, wobei man bald 
den Herzog von Mecklenburg, bald den König von Preußen hochleben ließ. Was 
nicht gefangen war oder zu Schill übertrat, war zerſprengt. Die Straße nach 
Stralſund war frei. 

Die franzöſiſchen Artilleriſten, die in der Stadt geblieben waren, waren am 
Morgen des 25. Mai gerade damit beſchäftigt, den Einzug Napoleons in Wien 
(15. Mai) durch Kanonenſalven zu feiern, — die Nachricht von Aſpern (21. und 
22. Mai) hatte die ferne Oſtſeeküſte noch nicht erreicht. Da galoppierten die preußi- 
ſchen Huſaren mit verhängten Zügeln in Stralſund ein. Faſt ohne Ausnahme 
wurden die Franzoſen, die ſich in dem Zeughaus und in ihrer Kaſerne mannhaft 
zur Wehr ſetzten, niedergehauen. Für fie gab es keinen Pardon. Eine Menge Ge- 
ſchütze, Pulver und ſonſtiges Kriegsmaterial wurde erbeutet. 

Am 26. langte auch die Schillſche Infanterie an. Sofort wurden auch die 
Rügenſchen Landwehren und tauſend Bauern aufgeboten, um in Eile die Feſtungs- 
werke wieder etwas herzuſtellen. Schill wußte, daß es jetzt auf Tod und Leben 


Waas: Ferdinand von Schul 337 


ging. Er war nun in feinem Saragoſſa! In Eilmärſchen rückten die Holländer und 
Dänen, die ſich am 27. vereinigt hatten, unter dem Oberbefehl von Gratien heran. 
Kein engliſches Segel zeigte ſich in dieſen Gewäſſern. 

Schill lebte in den folgenden Tagen in fieberhafter Tätigkeit und Aufregung 
dahin. Leo von Lützow, der Bruder Adolfs, ſprach ihm dringend zu, ſich nicht in 
Stralſund einſchließen zu laffen, ſondern nach Rügen überzuſetzen, das nur durch 
einen ſchmalen Meeresarm von der Stadt getrennt ijt. Umſonſt! Starrſinnig be- 
ſtand Schill darauf, Stralſund müſſe ein zweites Saragoſſa werden; und der letzte 
Warner verließ ihn, um fih zu den Ofterreichern zu ſchlagen. Die Stralſunder 
waren indeſſen keineswegs mit der ihnen zugedachten Rolle einverſtanden. Auch 
die Erinnerung an ihre Vorfahren, die ſich ſo heldenhaft gegen Wallenſtein verteidigt 
hatten, erſchien ihnen nicht zeitgemäß. Das waren Geſchichten von vor zweihundert 
Jahren; inzwiſchen waren die deutſchen Bürger friedliebender geworden. 

Schon ſeit dem 29. ſtreiften feindliche Kavalleriepatrouillen vor der Stadt. 
In der Nacht vom 30. auf 31. Mai — es war ſeine letzte Nacht — wird Schill nicht 
viel Schlaf gefunden haben. Er ſchrieb einen langen Bericht über feine Unterneh- 
mungen an den Erzherzog Karl, als deſſen Untergebenen er ſich gewiſſermaßen 
betrachtete. Der Brief iſt in der Tat in ſeine Hände gelangt. Schill ſprach darin 
die Hoffnung aus, „daß fih das demolierte Stralſund, gleich einem anderen Gara- 
goffa, nicht allein gegen die anrückenden 6000 Mann, ſondern auch gegen ein größe 
res Rorps zeigen wird“. Er bat dringend, dahin zu wirken, daß ihm „bald, ſehr 
bald eine folide Unterſtützung von den Engländern werden möge“. 

Am Morgen des 31. Mai in aller Frühe ſtanden die Feinde vor der Stadt. 
Stralſund hatte drei Tore nach der Landſeite: das Kniepertor nach Norden, das 
Frankentor nach Süden, das Triebſeeſer Tor nach Weſten. Alles in allem hatte 
Schill etwa 2000 Mann von ſehr verſchiedenem Werte, nur die Hälfte wird man 
als wirkliche Soldaten rechnen können; die Feinde, lauter reguläre Truppen, 
5000 bis 6000 Mann ſtark, waren ihm alſo mehrfach überlegen. 

Der erſte Angriff — es war ein Scheinangriff — galt dem Triebſeeſer Tor. 
Bei dem Gefecht, das ſich hier entwickelte, war auch Schill zugegen. Bald aber 
wandte der Feind feine Hauptmacht dem Kniepertor zu, deffen vorgelagerte Wälle 
zuerſt von der Artillerie unter Feuer genommen und dann von den Holländern 
erftirmt wurden. Dann wurden die Kanonen von hier aus auf das Tor ſelbſt ge- 
richtet. Etwa um ein Uhr befahl Gratien den holländiſchen Grenadieren den 
Sturm. Er gelang beim zweiten Anlauf, und hinter den Schillſchen ſtürmten die 
Holländer mit in die Stadt ein, wobei der Generalleutnant Carteret durch einen 
Schuß aus einem Keller tödlich getroffen wurde. Auf die Kunde, daß das Rnieper- 
tor geſtürmt werde, jagte Schill durch die Stadt nach dieſer Seite. Als er vorbei- 
galoppierte, rief ihm fein alter Waffengefährte von Kolberg, Hans von Brünnow, 
der mit den Huſaren zwecklos auf dem Neumarkt hielt, zu, es ſei höchſte Zeit, die 
Reiterei durch das Triebſeeſer Tor ausfallen zu laſſen. Schill lehnte es ab, konnte 
aber das Rniepertor nicht mehr retten. Die Feinde waren ſchon in der Stadt. In 
kurzem waren auch die beiden anderen Tore, und zwar von innen her, von den Gegnern 


genommen. Ein finnlofes Würgen hatte begonnen und war nicht mehr einzuhalten. 
Der Türmer XI, 9 22 


338 Waas: Ferdinand von Schill 


Schill ſuchte den Tod. Nur ein paar Huſaren vermochten, dem wilden Jager 
zu folgen. Einem feiner Offiziere, der ihn fragte, wohin der Rückzug zu gehen habe, 
rief er zu: „Wollt und könnt ihr euch retten, ſo tut es! Wollt ihr aber ſterben, ſo 
ſterbt mit mir!“ Er blutete ſchon aus einem Schuß in den linken Arm. Nur ſein 
Trompeter war noch hinter ihm. 

Da traf er auf feinem tollen Hin und Hergaloppieren auf das 9. holländiſche 
Infanterieregiment, das mit klingendem Spiel einzog. „Hund, beſtell mir Quar- 
tier!“ ſchreit er den Oberſten an, fpaltet ihm den Schädel, und wie der Blitz ift er 
davon. Schüſſe krachen ihm nach, einer trifft ihn im Hinterkopf. Er ſchwankt im 
Sattel. Da fallen ihn zwei däniſche Hufaren von vorn an. Ein Säbelhieb über die 
Stirn ſtreckt ihn zu Boden. Es war in der Fährſtraße, hinter dem St. Johanniskloſter. 
Ein Medaillon mit Bildnis und Inſchrift am nächſten Haufe bezeichnet heute die 
Stelle. Die Leiche wurde auf das Rathaus getragen und auf eine Fleiſcherbank gelegt. 

Allmählich hatte fich der Straßenkampf ausgetobt. Es mochte etwa zwei Uhr 
fein. 500 Mann, halb Huſaren, halb Infanterie, hatten ſich, von Brünnow ge- 
führt, durch das Frankentor einen Weg ins Freie gebahnt. General Gratien ließ 
fie, nachdem er ein Abkommen mit ihnen getroffen, unbehelligt nach der preußi- 
ſchen Grenze abziehen. Blücher nahm die verſprengte Schar auf und empfahl ſie 
der Gnade des Königs. Auch die Abteilung des Leutnants Bärſch konnte zu Schiff 
das Vaterland wieder erreichen, ſie landete am 1. Juni in Swinemünde. So 
ſammelten ſich nach und nach alle dem Tod oder der Gefangenſchaft entgangenen 
Reſte von Schills Schar in Blüchers Gewahrſam. Wie der Alte über fie und ihren 
gefallenen Führer dachte, ergibt ſich aus einem Briefe an einen Freund, aus dem 
eine Stelle in Blüchers urwüchſiger Orthographie wiedergegeben fei: „Schill ift 
als ein braver Mann Geſtorben, ſeine Collegen haben gleichfalls braff gethan, und 
haben ſich ohne weitteren in meinen Schutz begeben, ich habe ſie trotz allem waß 
da wider wahr angenommen. 900 man Infanterie und 240 Man Kavallerie ſin 
in meine verwahrung. um ihre begnadung habe ich am König geſchrieben, ſie ſind 
fo wohl Offizier als Anterofficir und gemeine ſchuldloß.“ 

Trotz Blüchers Fürbitte ſprach das Kriegsgericht über ſie und verurteilte 
eine Reihe von Offizieren zu Feſtungshaft. Neun frühere Schillſche Offiziere 
konnten fih zum Herzog von Braunfhweig-Öls durchſchlagen und machten dann 
im Juli und Auguft mit der ſchwarzen Schar noch einen ähnlichen Ritt quer durch 
Deutfchland mit, der aber glücklicher endigte. An der Weſermündung wurden die 
ſchwarzen Reiter von den Engländern aufgenommen, um nunmehr in Spanien 
den Kampf gegen Napoleon fortzuſetzen. Andere wieder finden wir 1813 in Lützows 
„wilder, verwegener Jagd“ als Theodor Körners Kameraden wieder. 14 von Schills 
Getreuen wurden in der Folgezeit Generäle, einer ſogar Chef des preußiſchen 
Generalſtabs. Es waren alſo die Schlechteſten nicht, die ihm gefolgt waren. 

Ein letzter Blick auf das blut- und greuelerfüllte Stralſund! 

Die Zahl der auf beiden Seiten Gefallenen ift nicht zu ermitteln. Am näch- 
ſten Tag beſtatteten die Holländer und Dänen ihre Toten mit militäriſchen Ehren, 
die gefallenen Preußen wurden ohne Sang und Klang verſcharrt. Die Leiche 
Schills aber wurde geſchändet. Ein holländiſcher Oberſtabsarzt trennte das Haupt 


Waas: Ferdinand von Schill 339 


kunſtgerecht ab und ftedte es in ein Glas mit Spiritus. So wurde es, nach Barbaren- 
art, als Siegeszeichen mitgenommen und dem König Zeröme in Raffel über- 
reicht, der nun ſeine 10 000 Franken den Holländern zahlen mußte. Die blutige 
Trophäe kam in die anatomiſche Sammlung eines Profeſſors der Univerfitat Ley- 
den. (Erſt im Jahre 1837 konnte das unglückliche Haupt in deutſcher Erde ſeine 
Ruhe finden.) Der Rumpf wurde am Abend des 1. Zuni auf einem mit Stroh be- 
deckten Wagen zu demſelben Kniepertor hinausgefahren, durch das am Tage zuvor 
die Feinde hereingeſtürmt waren. Draußen, auf dem Vorſtadtkirchhof, wurde er 
ohne Sarg in die Erde geworfen. „II doit ötre enterré comme un chien“, äußerte 
der holländiſche Platzkommandant bei dieſer Szene. Erft 1838, am 25. Jahrestag 
der Schlacht bei Leipzig, wurde das Grab durch eine eiſerne gegoſſene Platte be- 
deckt, mit der Inſchrift: Magna voluisse, magnum. Heute ſteht außerdem ein madd)- 
tiger Grabſtein mit einem Medaillonbildnis Schills über dieſer Stätte. 

Wohl denen, die gefallen waren! Das Schickſal der Gefangenen war er- 
barmungslos und grauenhaft. An ihnen ſollte ein Exempel napoleoniſcher Rache 
ſtatuiert werden. Es waren 12 Offiziere und 557 Mann. Bereits am 4. Zuni 
wurde einer von ihnen, der frühere ſchwediſche Leutnant Peterſon, der erſt in 
Stralſund in Schills Dienſte getreten war, erſchoſſen. 

Am 9. und 10. zogen die Truppen des Generals Gratien aus der Stadt ab 
und nahmen die Gefangenen mit ſich. Am 16. kam der Zug in Braunſchweig an. 
Manchem wurde von den wackeren Bürgern zur Flucht verholfen, bis der Gouver- 
neur drohte, die Stadt plündern zu laſſen. Von denjenigen Unteroffizieren und 
Soldaten, die weſtfäliſche Untertanen geweſen, wurden 14 an der Zahl ausgeloſt 
und am 17. Juli zum Tod verurteilt, weil fie „die Waffen gegen ihr Vaterland (1) 
getragen“. Damit die Hinrichtung mehr Eindruck mache, wurde ſie auf drei Tage 
verteilt. Am 18., 20. und 22. Zuli wurden fie zu 7, 4 und 3 Mann nach dem Leon- 
hardsplatz hinausgeführt und erſchoſſen. „Wir fochten als brave Soldaten. Gleich 
iſt es, ob wir in der Schlacht oder hier fallen. Ehrenvoll ſterben wir immer!“ So 
ſprach einer von ihnen, der Wachtmeiſter Friedrich Bandau. So find fie auch ge- 
ſtorben. Auch ihrer hat das Vaterland nicht vergeſſen. 1857 wurden ihre Gebeine 
feierlich in Särge gebettet und das wiedererlangte Haupt ihres Führers in ihrer 
Mitte beſtattet. Aus Beiträgen der geſamten preußiſchen Armee wurde 1840 eine 
Kapelle errichtet. König Ludwig I. von Bayern ſtiftete eine Bronzebüſte Schills, 
die auf vier aufgerichteten Kanonenrohren ruht. Erzherzog Karl ſchenkte fein Bild- 
nis, die Stadt Braunſchweig das des „ſchwarzen“ Herzogs, der bei Quatrebras 
1815 gefallen, Innsbruck das Hofers. Mancherlei Schill Reliquien kamen hinzu, 
ſo daß die Kapelle nunmehr eine Ruhmeshalle der Helden von 1809 iſt. Die Glocke 
wird nur an den Erinnerungstagen geläutet. 

Das halbe Tauſend gefangener Mannſchaften wurde auf Befehl Napoleons 
nach Frankreich gebracht. Manch einer ließ ſich in die franzöſiſchen Fremdenregi⸗ 
menter — fibelften Rufes — einſtecken, die Vorläufer der heutigen Fremden- 
legion. Die große Maſſe aber wurde auf die Galeeren von Breſt, Cherbourg, 
Toulon und Varſeille geſchleppt, wo fie elend verſchmachteten. Was noch lebte, 
wurde erſt beim Sturze Napoleons 1814 befreit. 


340 Maas: Ferdinand von GHH 


Am erſchütterndſten ijt das Schickſal der elf Schillſchen Offiziere. Sie wur- 
den zunächſt von Gefängnis zu Gefängnis geſchleppt. In Mainz kamen ſie in die 
Zellen, in denen Schinderhannes und ſeine Geſellen geſeſſen hatten; als gemeine 
Straßenräuber wurden auch ſie behandelt. In Geldern ließ der Gefängniswärter, 
der von vaterländiſch geſinnten Einwohnern beſtochen worden war, den Schlüſſel 
in ihrer Zelle liegen, — um ihn am andern Morgen aus ihren Händen zurüdzu- 
empfangen. „In der Zitadelle von Weſel wird man keine Schlüſſel mehr ver- 
lieren!“ ſagte er, wehmütig lächelnd. 

Dorthin kamen ſie Mitte Auguſt. Vergeblich hatte ſie ihr König als preußiſche 
Untertanen zur Verurteilung ins Vaterland zurückgefordert. Um fo feſter Hammer- 
ten fih die unglücklichen an eine andere Hoffnung. Einer von ihnen, der Leutnant 
Leopold Jahn, war mit einer Reichsgräfin von Pappenheim verheiratet, deren 
Familie mit dem bayrifhen Hofe in engſter Beziehung ſtand. Er hoffte be- 
ſtimmt, daß die Verwandten ſeiner Frau alles in Bewegung ſetzen würden, um 
ihnen allen durch bayriſche Vermittelung die Freiheit wieder zu verſchaffen. Sie 
gaben ſich das Verſprechen, nicht durch Fluchtverſuche das Befreiungswerk zu ge- 
fährden, ſondern zuſammenzubleiben. Das war der Grund, warum ſie die ihnen 
mehrfach gebotene Gelegenheit zu entfliehen nicht benutzten. Sie ſollten eine 
fürchterliche Enttäuſchung erleben! 

In den Kaſematten von Weſel erwarteten ſie die Entſcheidung. Sie kam 
mit dem Befehle Napoleons, „de les fusiller avec éclat“, Es war alfo nur ein 
Scheinwerk und eine reine Formalität, daß ein Kriegsgericht über fie verhandelte. 
Das Urteil war genau ſo im voraus geſprochen wie bei dem Herzog von Enghien 
auch. Was half es, daß ihr Verteidiger, Rechtsanwalt Perwez aus Lüttich, voll- 
kommen einwandfrei nachwies, daß bei ihnen von Straßenräuberei, deren ſie von 
der Anklage bezichtigt wurden, gar keine Rede ſein könne! Am 16. September, 
früh neun Uhr, hatte die Sitzung begonnen, um zehn war das Urteil ſchon geſprochen. 
Es lautete auf Tod „wegen Diebſtahls mit offener Gewalt“. Faſt in demſelben 
Augenblick war es in franzöſiſcher und deutſcher Sprache an allen Straßenecken 
angeſchlagen. 

Mit leuchtenden Augen und erhobenem Antlitz verließen die Elf den Sitzungs- 
faal. Um halb zwölf wurde ihnen das Urteil in ihrem Gefängnis verleſen. Noch 
eine Stunde hatten fie Zeit, um an ihre Lieben zu ſchreiben. Um ein Uhr wurden 
jie, zu zwei und zwei aneinandergefeſſelt, auf den Richtplatz hinausgeführt, eine 
Wiefe an der Lippe. Der älteſte von ihnen, Jahn, war 31, der jüngſte, Leutnant 
Karl von Keffenbrink, 17 Jahre alt. 

Ein Kommando von 66 franzöſiſchen Artilleriſten trat ihnen gegenüber, 
ſechs Schüffe waren alfo für jeden der Verurteilten beſtimmt. Die letzte Bitte der 
Helden war, das Urteil nicht noch einmal zu verleſen und ihnen die Augen nicht zu 
verbinden. Zum letztenmal umarmten ſie ſich mit den ungefeſſelten Armen, dann 
entblößten ſie ſich Hals und Bruſt und riefen den Franzoſen zu, gut zu zielen. 
„N’ayez pas peur! Les canonniers francais tirent bien!“ war die Antwort. — 
„Es lebe unfer König, Preußen hoch!“ — Dann warf Ernſt von Flemming als 
Kommando ſeine Mütze hoch. In dieſem Augenblick krachte die Salve. Als der 


Waas: Ferdinand von Schill 341 


Pulverrauch ſich verzogen, ſtand einer noch aufrecht. Es war Albert von Wedell; 
der eine Arm zerſchmettert, mit dem andern an ſeinen neben ihm erſchoſſenen 
Bruder Karl gebunden. Eine neue Sektion mußte vortreten. „Zielt beſſer!“ und 
von elf Schüſſen durchbohrt ſtürzte er über die Leiche des Bruders hin. (Es iſt die 
Szene, die auf Adolf Herings bekanntem Gemälde ergreifend ſchön dargeſtellt iſt.) 

In den Zeiten der Fremdherrſchaft wurden die Gräber der Elf häufig von 
unbekannten Händen mit Blumen geſchmückt. Seit 1834 aber erhebt ſich dort 
ein feierlich ſchönes Denkmal, von Schinkels Meiſterhand entworfen und von Spen- 
den der ganzen preußiſchen Armee geſtiftet. „Sie ſtarben als Preußen und Helden 
am 16. September 1809.“ So lautet die Inſchrift. 

Faſt täglich, wenn es die Witterung erlaubte, kam eine Dame in Trauer an 
die Schill- Kapelle in Braunſchweig, um ihren Erinnerungen nachzuhängen. Es 
war die alte Kammerherrin Philippine von Cramm, geb. von Griesheim, die 
einſt die Braut Alberts von Wedell geweſen. Als die „Veteranin aus großer Zeit“, 
wie ſie die Braunſchweiger nannten, 1881 ſtarb, wurde ſie mit militäriſchen Ehren 
zu Grabe getragen. Ihre Briefe aber, aus kurzem Brautglück und langer Trauer, 
die uns vor einigen Jahren geſchenkt worden ſind, ergreifen durch ihre kunſtloſe 
Wahrhaftigkeit wie ſelbſterlebte Freuden und Leiden. 

Nur zwei von den Schillſchen Offizieren, die den Franzoſen in die Hände 
gefallen waren, entgingen dem Tode. Es war der Leutnant Zaremba und ein 
dritter von den Wedellſchen Brüdern, Heinrich von Wedell. Beide waren bereits 
bei Dodendorf verwundet und gefangengenommen worden. Jn Montmedy wur- 
den fie den Elfen vorgeführt, die fie aber, um fie zu retten, nicht zu kennen be- 
haupteten. Heinrich von Wedell kam auf die Galeeren von Cherbourg, wo er auf 
den Schultern mit dem ſchändenden T F (Travaux forcés, Zwangsarbeiter) ge- 
brandmarkt wurde. 1812 gelang es, feine Entlaſſung zu erwirken. In den Be- 
freiungskriegen zeichnete er ſich mehrfach aus. 1852 wurde er Generaladjutant 
Friedrich Wilhelms IV., der ihn während des Krimkrieges in diplomatiſcher Gen- 
dung zu Napoleon III. nach Paris ſandte. Hier erhielt der ehemalige Galeeren 
ſträfling das Großkreuz der Ehrenlegion; ein Fall, der wohl einzig ſein wird. 

Leutnant Zaremba, der erklärt hatte, von Schill zum Dienſt bei ihm ge- 
zwungen worden zu fein, wurde den Elfen in Weſel, kurz vor ihrem Tode, nod- 
mals gegeniibergeftellt. Sie konnten wahrheitsgemäß verneinen, daß er in Giral- 
ſund mitgekämpft. Zwei Jahre lang ſaß er noch auf der Zitadelle, bis er bei der 
Anweſenheit Napoleons in Weſel, am 31. Oktober 1811, begnadigt wurde, auf ein- 
dringliche Fürſprache des holländiſchen Generals van Hogendorp, der früher im 
preußiſchen Heere geſtanden und nun des Kaiſers beſonderes Vertrauen genoß. 

Das war das Schickſal Schills und ſeiner Getreuen. 

Auch fiir fie, die für das Vaterland in den Tod gegangen find, bittet der 
Sänger und der geld von 1813: 

„Vergiß die treuen Toten nicht und ſchmücke 
Auch unſre Urne mit dem Eichenkranz!“ 


R 


Chriſtentum und Kirche 


Zuf Wanderungen habe ich mitunter die aus dem Gelände aufragenden Kirchtürme 

2 3 gezählt; in meiner norddeutſchen Heimat kenne ich einen Hügel, von wo aus man 
EOS, mehr als zwanzig ſieht. Von einer Anhöhe der Brianza zählte ich in dem überfeh- 
baren Stück der lombardiſchen Ebene deren etwa fünfzig. Dieſe Kirchtürme find Wahrzeichen 
für das metaphyſiſche Bedürfnis des Volkes. Sie zeigen zugleich, wie dies Bedürfnis für die 
Mehrzahl der Menſchen, wenigſtens der Bewohner des platten Landes, befriedigt wird. Daran 
haben Tagespreſſe, Volksverſammlungen und Fortſchritte der Wiſſenſchaft, in bezug auf die 
Gebildeten eine gewaltige Literatur, nicht viel geändert. Auch wer in der Kirche nicht die Be- 
friedigung feiner geiſtigen Bedürfniſſe ſucht, wohnt doch in ihrem Schatten und nimmt unwill- 
kuͤrlich feinen Anteil an den Segnungen der Religion und des Chriſtentums. Der greife Apoſtel 
Johannes hat diefe Segnungen zuſammengefaßt in dem Gebote: Kindlein, liebet euch unter- 
einander! Hie chriſtliche Kirche ift die großartigſte geiſtige Organiſation, in die wir feit unferer 
Geburt hineingeſtellt ſind. Daher braucht man nicht gerade theologiſche Neigungen zu haben, 
um für die Kirche Intereſſe zu fühlen und Verſtändnis zu ſuchen. Daß man, um dies Verftänd- 
nis zu erlangen, die Kirche hiſtoriſch begreifen muß, liegt klar auf der Hand. Nicht nur eine 
Analyſe des inneren Weſens der Kirche, nicht nur ihr Werdegang von den erſten Anfängen 
bis in die Gegenwart hinein, ſondern die tauſenderlei Fäden, durch welche ſie mit allen Seiten 
menſchlichen Lebens und menſchlicher Arbeit verknüpft iſt, fordern unſer Intereſſe heraus. 
Darum find wir Laien auch durch die Lektüre eines rein kirchengeſchichtlichen Werkes ſchwer zu be- 
friedigen; wir fordern mindeſtens eine Ergänzung des Bildes vom Standpunkte des profanen 
Hiftoriters, der den Zuſammenhang der Kirchengeſchichte mit dem allgemeinen hiſtoriſchen 
Prozeſſe darlegt und die Rolle ſchildert, welche die Kirche darin ſpielt. 

Es iſt mir intereſſant, daß ich mich in dieſem Wunſche mit einem andern Naturforſcher be- 
gegne, mit Außerungen, die der ausgezeichnete Phyſiologe Adolf Fick in ſeinen leſenswerten 
„Betrachtungen über das Chriſtentum“ (Geſammelte Schriften von A. Fick, Bd. IV, S. 305 ff.; 
Würzburg 1906, Stahel) getan hat. Fick beklagt fid darin über zwei unſerer bedeutendſten 
Hiſtoriker, über Mommſen und fiber Ranke; vom erſteren fagt er, er habe eine Geſchichte der 
rdmifden Provinzen in den erſten drei Jahrhunderten geſchrieben, und das heiße, vom univerfal- 
hiſtoriſchen Standpunkte betrachtet, eigentlich doch nichts anderes, als eine Geſchichte der Aus- 
breitung des Chriſtentums ſchreiben, denn das fei die Geſchichte der römiſchen Provinzen in 
dieſer Zeit, fie ſeien doch die Keime der chriſtlichen Staaten der Gegenwart. Sn dieſer ganzen 
Geſchichte fei aber vom Chriftentum faſt mit keinem Worte die Rede, und aus dem Schweigen 
Mommſens gehe deutlich hervor, daß er die Ausbreitung des Chriſtentums für eine hiſtoriſche 


* 


Cheiftentum und Kirche 343 


Tatſache von untergeordneter Wichtigkeit halte. Von Rankes Weltgeſchichte ift Fick nicht minder 
enttäuſcht. Von der Ausbreitung des Chriſtentums fei neben den Staatsaktionen kaum die Rede, 
und von einem Einfluß des Chriſtentums auf den Gang der Kultur fei vollends nichts zu fpüren, 
während die Ausbreitung des Zilam durch Stammesfüͤrſten und Kriegsleute mit wirklicher 
Meiſterſchaft und Liebe ausgeführt fei. 

Dem von A. Fick beklagten Mangel wird abgeholfen durch ein eg erfchienenes 
höchſt intereſſantes Buch von Karl Jentſch: Chriſtentum und Kirche in Der 
gangenheit, Gegenwart und Zukunft (Leipzig 1909, Haberland; 736 S., 
Preis 10 M), ein Werk, das in der Bibliothek keines Gebildeten fehlen ſollte. 

K. Jentſch, urſprünglich katholiſcher Theologe, doch feit 35 Jahren, wie er ſelbſt erzählt, 
aus der Kirche ausgeſchieden, gehört durch ſein ausgebreitetes Wiſſen auf den verſchiedenſten 
Gebieten menſchlicher Kultur und durch feine Gabe ebenſo feſſelnder wie kraftvoller Oarftellung 
zu den hervorragenden Schriftſtellern der Gegenwart. Er nennt im Vorwort feinen Gegen- 
ſtand den würdigſten, den es gibt, und ſich ſelbſt keinen Gelehrten, ſondern nur einen Denker, 
der viel geleſen habe, und der nicht für Gelehrte ſchreibe, ſondern für denkende Gebildete, 
denen gleich ihm die Zukunft unſeres Volkes am Herzen liegt. Sein Standpunkt iſt im wefent- 
lichen ein kulturgeſchichtlicher. Er ragt über den des Kirchenhiſtorikers und den des Hiſtorikers 
hinaus, er zieht vielfach anſcheinend entlegene Geſichtspunkte heran, wie den des Volkswirts 
und den des Biologen. Trotz rückhaltloſer Geißelung ihrer Fehler und Irrtümer zeigt fih Jentſch 
doch von Achtung, ja von Liebe zu ſeiner Kirche erfüllt. Daß es in ſeinen Darlegungen nicht 
ohne eine gewiſſe Bevorzugung der katholiſchen Konfeſſion vor der evangeliſchen abgeht, iſt 
bei der Erziehung des Verfaſſers nicht zu verwundern. Wenn es einerſeits für uns Proteſtanten 
lehrreich iſt, die Zuſtände unſerer Konfeſſion durch einen freiſinnigen Katholiken beleuchtet zu 
ſehen, fo werden vermutlich alle proteſtantiſchen Lefer mir zuſtimmen, daß Jentſch dem Pro- 
teſtantismus nicht ganz gerecht wird; dies ſei gleich zum voraus bemerkt. Damit ſoll aber der 
größten Anerkennung für das verdienſtvolle Buch kein Abbruch geſchehen, und gerade proteftan- 
tiſchen Leſern ſei es warm empfohlen. 

Das Buch gliedert ſich in die drei durch den Titel angedeuteten Abſchnitte und weiter 
in 25 Kapitel. Im erſten Abſchnitte findet man, der Hauptſache nach, in glänzender Darſtellung, 
was A. Fick bei Mommſen und Ranke vergebens ſuchte. Das Weſen des Chriſtentums bezeich- 
net Zentſch u. a. mit folgenden Worten: „Die Lehre des Chriſtentums ift nicht Mythologie, 
nicht ein Syſtem von Zeremonien, ſondern eine ebenſo einfache als erhabene Metaphyſik in 
Verbindung mit der vollkommenſten Sittenlehre und den Anfangsgründen der Geſchichte.“ — 
„Chriſtus verpflichtet uns, alle Menſchen als wirkliche Menſchen anzuſehen und zu behandeln. 
Er ſetzt den einzelnen Menſchen in das richtige Verhältnis zu Gott, zur Natur, zu allen andern 
Menſchen, insbeſondere zu Weib und Kind. Damit iſt der volle Begriff, das klare Bewußtſein 
der Menſchheit, des Menſchentums, der Humanität gegeben und damit auch die Möglichkeit, 
dieſen Begriff zu verwirklichen. Er wurde in den altchriſtlichen Gemeinden verwirklicht.“ (S. 75. 
71.78.) Demgegenüber fteht dann der Satz: „Die Form der Herrſchafts- und der Abhängigkeits⸗ 
verhältniffe wird nicht durch Ideen, Theorien und Religionen, ſondern durch die Wirtfchafts- 
verfaſſung und den Kulturzuſtand beſtimmt. Ideen und Religionen können einwirken, aber 
nicht entſcheiden“ (S. 79). Dies wird in vortrefflicher Weiſe an der Hand der Wirtſchaftsgeſchichte 
der erſten Jahrhunderte näher ausgeführt, beſonders im Hinblick auf die allmähliche Abſchaffung 
der Sklaverei, wobei er die Bewirtſchaftung der Großgüter durch gefeſſelte Sklaven für die 
elendeſte aller Wirtſchaftsarten erklärt. „So weit iſt das chriſtliche Bewußtſein, das chriſtlich 
bleibt, mag es fi) auch als atheiſtiſche Humanität gebärden, zur Herrſchaft gelangt in der Kultur; 
welt, daß wir vor der Wiedereinführung der Sklaverei in der ſtarren und empörenden Form 
des römiſchen Rechts ſicher find“ (S. 91). Mit beſonderer Wärme ſchildert Jentſch das Wirken 
und die Perſönlichkeit Auguſtins in ihrer gewaltigen, alle überragenden Größe. Auguſtin er- 


344 Gogols „Tote Seelen“ unb bie euſſiſche Senfur 


hob die Theologie zur Univerſalwiſſenſchaft, in deren Rahmen er zugleich Pſychologe, Pad- 
agoge, Aſthetiker, Geſchichtsphiloſoph, Erkenntnistheoretiker und Metaphyſiker war; daneben 
gilt er ihm allerdings auch als Vater der Unduldſamkeit und der Ketzerverfolgungen. Aus der 
Zeit der Völkerwanderung hebt Jentſch drei Männer: Severin, Benedikt und Gregor, hervor 
und ſagt: „In ihnen offenbart ſich eine der neuen Kräfte, die das Chriſtentum der Menſchheit 
eingepflanzt hat: die Kraft des gläubigen Chriſten, ohne Anſpruch auf irdiſchen Lohn, ohne 
Hoffnung auf Ruhm, ja ohne Ausſicht auf Erfolg unter den widerwärtigſten Umſtänden einfach 
jeden Tag feine Pflicht zu tun, wie fie ihm die Umftände auferlegen“ (S. 119). Und von Karl 
dem Großen heißt es: „Sollen geiſtige Beſtrebungen einen dauerhaften Erfolg für das Ganze 
haben, fo müſſen fie organifiert, miteinander in Zuſammenhang gebracht werden. Der Ge- 
waltige, der die zerſtreuten und in der Sfolierung faſt hoffnungslos ringenden Kräfte ſammelte, 
auf feſten Grund ſtellte und ihnen einen Stoß nach vorwärts gab, war Karl der Große.“ (S. 124.) 
„Die Rapitularien find einem chriſtlich fühlenden Herzen, einem alle Verhältniſſe überſchauen⸗ 
den großen Geiſte entſprungen, bekunden tiefe Lebensweisheit und dienen keinem Nebenzweck, 
ſondern lediglich den Bedürfniſſen des Volkes. Die Erziehung des Volkes zur Ordnung, Züͤchtig⸗ 
keit, Gerechtigkeit, Barmherzigkeit — das wird man doch wohl Volksbildung nennen dürfen?“ — 
„Das Große iſt, daß er wirklich auch an die Volksſchule gedacht hat, an allgemeine Schulung 
der Kinder des Volkes mittelſt Schulzwang!“ (S. 128. 131.) 

Ich denke, diefe Ausführungen werden genügen, um die Schreibweiſe des Verfaſſers 
zu kennzeichnen. Im zweiten Abſchnitt behandelt Kapitel 12 Rationalismus und Aufklärung; 
13. Die Romantik, die Reftauration und die katholiſche Renaiſſance; 14. Der Ultramontanis- 
mus beſiegt den Romantizismus; 15. Proteſtantiſche Theologie und evangeliſche Kirche in 
Deutſchland; 16. Der gegenwärtige Kampf der Konfeſſionen in Oeutſchland; 17. Religids- 
kirchliche Zuſtände in den übrigen Ländern. Der dritte Abſchnitt enthält folgende Kapitel: 
18. Kann der wiſſenſchaftlich Gebildete heute noch an Gott glauben? 19. Der Offenbarungs- 
charakter des Chriſtentums; 20. Es gibt keine unfehlbare Lehrautorität, der Dogmatismus und 
Orthodoxismus find Verirrungen; 21. Kritik der wichtigen Dogmen; 22. In welchem Sinne 
die katholiſche Kirche zu reformieren ift; 23. Katholiſche Ethik; 24. Askeſe und Myſtik; 25. Aus- 
blick in die Zukunft. 

Alle dieſe Ausfuhrungen des Verfaſſers ſind intereſſant und lehrreich; die zweite Hälfte 
von Kapitel 23 hätte ich allerdings lieber anders geſtaltet oder ganz weggelaſſen geſehen. 


3. Reinke 
KA 


= \ X ę er 100. Geburtstag Nikolai Gogols hat einen Mitarbeiter der „Frankf. Ztg.“ an eine 
der köſtlichſten Epiſoden in der Geſchichte der ruſſiſchen Zenſur erinnert: an das 
Verbot, mit dem fie feinerzeit das große Werk Gogols, die „Toten Seelen“, belegt 
hat. In einem Briefe (vom 7. Januar 1842), den Gogol an ſeinen Freund Pletnew richtete, 
beſchreibt er die Sitzung des Zenſurkomitees, in der die „Toten Seelen“ verboten wurden: 
.. Her Schlag, der mich trifft, kommt nicht unerwartet. Das ganze Manuſkript wird 
verboten. Pie Angelegenheit verlief folgendermaßen. Sch überreichte mein Manuſkript 
dem Zenſor S., der ein bißchen klüger iſt als die andern, unter der Bedingung, daß, falls er 
im Scriftftüd auf irgendwelche bedenklichen Stellen ſtoßen follte, er mich auf diefe aufmerk- 
fam mache, damit ich die nötigen Korrekturen anbringe, bevor das Ding nach Petersburg ab- 
gehe. Nach zwei Tagen verkuͤndete mir S. mit feierlicher Miene, daß das Manuſkript einen 
günftigen Eindruck mache, ſowohl in bezug auf feine Tendenz als auch auf die Wirkung, die die 


Gogolis „Tote Seelen“ und die ruſſiſche Zenſur 345 


Erzählung hervorbringe, und daß außer einer Seite und ein paar Namen, die abzuändern wären, 
nichts darin den Einſpruch auch des ſtrengſten Zenſors herausfordern könne. Genau dasſelbe 
ſagte er auch den andern. Plötzlich hat aber jemand den Herrn S. aus dem Konzepte gebracht, 
und ich erfahre, daß er mein Manuſkript dem (Moskauer) Zenſurkomitee vorgelegt. Nun be- 
reiteten die Herren vom Komitee meiner Arbeit einen derartigen Empfang, als ob ſie ſchon 
im voraus gegen dieſe aufgewiegelt worden waren, und ſpielten Komödie; denn alle Einwände, 
die erhoben wurden, waren die reinſte Komödie. Kaum hat G., der den Präſidentenſeſſel 
einnimmt, den Titel die ,Soten Seelen“ gehört, fo ruft er mit dem Tone eines alten 
Römers: „Nein, das werde ich nie geſtatten, die Seele iſt unſterblich, es gibt 
keine toten Seelen, der Autor greift die Unſterblichkeit der Seele an.“ Nur mit Mühe begreift 
endlich der kluge Präſident, daß es ſich um einen techniſchen Ausdruck handelt, um die R e- 
viſionsſeelen, die in den Steuerliſten geführt werden. Kaum aber hat er es begriffen 
und mit ihm ſeine Kollegen, ſo wird der Radau noch ärger. „Nein,“ ruft der Präſident und mit 
ihm die Hälfte der Zenſoren, „nein, das iſt noch viel ärger. Das kann man nicht geſtatten. 
Venn im ganzen Buch nur das eine Wort ‚Revifionsfeele‘ ſtände, müßte man es verbieten. 
An dem Inſtitute der Leibeigenſchaft darf nicht gerüttelt werden.“ 
Sekt endlich wurde es Herrn S. Har, daß man doch zu weit gehe. Er begann die Zenſoren zu 
verſichern, daß er das Manufkript geleſen habe und daß es auch nicht die geringſte Anſpielung 
gegen das Syſtem der Leibeigenſchaft enthalte; nicht einmal die ublichen Ohrfeigen, wie fie 
in anderen Erzählungen den Leibeigenen ausgeteilt werden, kämen darin vor. Hier handle 
es fih um eine ganz andere Sache, um ein komiſches Mißverſtändnis der Verkäufer und um 
die ſubtile Schlauheit des Käufers und ſchließlich um den allgemeinen Wirrwarr, der durch den 
ſeltſamen Kauf hervorgerufen wird. Man habe es mit einer Reihe von Charakteren, mit dem 
inneren Leben Rußlands und einiger ſeiner Bewohner, mit einer Anzahl von ganz harmloſen 
Sittengemälden zu tun. Alle diefe Einwände halfen aber gar nichts. „Das Unternehmen 
Ochitſchikows ift ein Kriminal verbrechen“, begannen alle gu ſchreien. „Der Autor 
beſchönigt es übrigens nicht,“ bemerkte ein Zenſor. „Ja, beſchönigen tut er es nicht,“ riefen die 
anderen, „aber er macht Reklame dafür. Andere werden ſich daran ein Beiſpiel 
nehmen und ebenfalls „tote Seelen“ einkaufen. Sie ſehen alſo, zu 
welchem Gerede meine Arbeit Anlaß gegeben hat! Das find aber die Ideen aſiatiſcher Ben- 
ſoren, alter Leute, die am Ende ihrer dienſtlichen Laufbahn angelangt ſind und aus ihren vier 
Wänden nicht herauskommen. Zetzt will ich Ihnen aber ein Muſter von dem Geſchwätze der 
Zenſoren geben, die Anſpruch darauf erheben, Europäer genannt zu werden. Das ſind junge 
Leute, die im Auslande geweſen find. „Was fie auch fagen mögen — der Preis, den Sigi- 
tſchikow für die ‚toten Seelen“ zahlt, — zwei Rubel fünfzig Kopeken pro 

Stück — empört jedes rechtliche Gemüt,“ bemerkte einer dieſer Herren. 
„Das menſchliche Gemüt ſträubt fih gegen etwas derartiges. Wenngleich diefe Summe nur 
für einen Namen bezahlt wird, der auf dem Papier ſteht, fo bedeutet doch immerhin dieſer Na- 
men eine Seele, eine menſchliche Seele; fie hat einmal gelebt, fie hat exiſtiert. .. Nein, 
jo was hätte man ſogar in England oder in Frankreich nicht erlaubt. Kein Ausländer wird mehr 
nach Rußland kommen wollen, wenn wir derartiges geſtatten ...“ Das find die Hauptpunkte, 
auf die man ſich geftüßt hat, um mein Manuftript zu verbieten. Ich will Ihre Zeit nicht in An- 
ſpruch nehmen mit der Aufzählung verſchiedener anderer Einwände, die gegen meine Arbeit 
erhoben wurden. An einer Stelle des Manuftripts heißt es z. B., daß ein Gutsbeſitzer fid 
ruiniert hat, indem er ſich ein Haus in Moskau nach der neueſten Mode eingerichtet hat. „Sehn 
Sie,“ bemerkte bei dieſer Gelegenheit ein Zenſor, „auch der Kaiſer baut ſich in Moskau ein 
Schloß ... Und daran tnipfte ſich ein Geſpräch, wie man es wohl nirgends in der Welt ge- 
bört hat und das ich mich ſchäme zu wiederholen. Die Angelegenheit endigte damit, daß das 
Manuftript verboten wurde, obgleich das Komitee nur drei oder vier Stellen geleſen hatte. — 


346 Sitel ohne Mittel 


Echt ruſſiſch ift auch, was ruſſiſche Blätter aus Anlaß des Gedenktages zur Entftehungs- 
geſchichte der „Toten Seelen“ beigebracht haben. 

Sn der Nähe des kleinen Gutes Janowtſchina, wo Gogol feine Kindheit verbracht hat, 
foll ein kleiner Gutsbeſitzer Pivinſki gelebt haben, deffen ganzer Reichtum in 7 Kindern, 30 Leib- 
eigenen und 200 Oeſchjätinen Land beſtand. Der reichte nicht aus, um ihn zu ernähren, und 
fo verdiente er ſich fein Brot mit dem Betriebe einer Heinen Branntweinbrennerei. In den 
zwanziger Jahren nun verbreitete fih unter den Landbewohnern das Gerüuͤcht, daß in Zukunft 
nur diejenigen eine Brennerei beſitzen dürften, die über 200 „Seelen“ ihr eigen nennten. Herr 
Pivinſki fah ſich im Geiſte ſchon völlig ruiniert, denn es drohte ihm das Unglück, feine einzige 
Erwerbsquelle zu verlieren. Da verfiel er auf einen genialen Gedanken: Er lud ſeinen Wagen 
mit den ſchönſten Branntweinfäſſern, fuhr von Gut zu Gut und handelte „Tote Seelen“ für 
den Branntwein ein, für die er dann, wie es fih gehörte, dem Staate die entſprechenden Ab- 
gaben zahlte. Gogol hat natürlich dieſe Geſchichte gekannt und ſie einmal Puſchkin erzählt, 
und der iſt es dann geweſen, der ihm den Rat gab, ſie zu einer Geſchichte zu verwenden. Aus 
ihr iſt dann der Roman „Tote Seelen“ entſtanden. 


wy 
Vitel ohne Mittel 
er 


C Cr Lin römiſcher Gelehrter hat die Entdeckung gemacht, daß dem Pap fte auf Grund 
0 aS IS irgendeines vergilbten Dokumentes das Recht zuſteht, ſich „König von Bosnien“ 
—T u rennen und ſich als den Herrn jenes Landſtriches anzuſehen, deffen Schickſal 
a kürzlich fo viel von fih reden machte. Aber diefe Entdeckung, meint die „Berliner Bolts- 
zeitung“, wird ſchwerlich zur Vermehrung der Balkanwirren beitragen. Denn es ift ein 
ſehr alter und ſehr harmloſer Brauch, daß die Souveräne ſich Titel beilegen, die ſie zu ewigen 
Unrubeftiftern ſtempeln würden — wenn ihnen ernſthafte Prätentionen zugrunde lägen. 
Die Monarchen des zivilifierten Europa ähneln in dieſer Hinſicht ein wenig jenen des Morgen- 
landes, die ſich die Herrſchaft über die ganze Welt anmaßen, wie der Schah von Perſien, der 
ſich als dem „König der Könige“ huldigen läßt. Wobei gleich bemerkt fein mag, daß der 
jeweilige König von Portugal offiziell „durch Eroberung, Schiffahrt und Handel Herr von 
Athiopien, Arabien, Perſien und Indien“ zu ſein vorgibt. 

Stolze Worte, aber auch nichts als Worte! Sie erinnern an verſchwundenen Glanz, 
genau wie einige der Würden, die dem Könige Alfons XIII. von Spanien zukommen: „König 
beider Sizilien, von Zerufalem und Gibraltar, von Oft- und Weſtindien, Herzog von Burgund, 
Brabant und Mailand.“ 

König von Zeruſalem iſt auch, um noch einige dieſer fürſtlichen Späße zu erwähnen, 
jeder Raifer von Oſterreich, als Nachfolger der deutſchen Raifer, ſintemalen Friedrich II. von 
Hohenftaufen, als Schwiegerſohn des letzten Königs, Johann von Brienne, die Krone des von 
Gottfried von Bouillon gegründeten Reiches fiir ſich in Anſpruch genommen hatte. Mit dem 
wirklichen Ausſehen der Weltkarte läßt es ſich ebenſowenig in Einklang bringen, daß Kaiſer 
Franz Zoſeph als „Großherzog von Toskana, Herzog von Parma, Piacenza, Guaſtalla“ und gar 
als — Großwojwod von Serbien“ gilt, zum Andenken daran, daß der größte Teil Serbiens 
im 18. Jahrhundert, nämlich von 1718—1729, tatſächlich zu Oſterreich gehörte. 

Länderverluſt hat die Zürften überhaupt nicht immer veranlaßt, ihre Titel einer ent- 
ſprechenden Reviſion zu unterziehen: der Großherzog von Luxemburg nennt ſich immer noch 
nicht nur „Herzog zu Naſſau“, ſondern auch „Herrn zu Wiesbaden, Idſtein“ uſw., obwohl fein 
Vater, der letzte naſſauiſche Herzog Adolf, die Ereigniſſe des Jahres 1866 in einem Vertrage 
mit Preußen nachträglich anerkannte. „Erbe von Norwegen“ behaupten die Chefs von drei 


Polgelprafidbent von Berlin 347 


Linien des Hauſes Holftein zu fein: Herzog Ernft Günther zu Schleswig-Holftein, Zar Nito- 
laus II. von Rußland, als ein Holftein-Gottorp, und Großherzog Auguft von Oldenburg. 
Das ſchlechteſte hiſtoriſche Gedächtnis beſaß indeſſen offenbar Abdul Hamid, der tür- 
kiſche Exſultan. Er fchmüdte ſich immer noch mit den Würden eines „Padiſchah von Griechen- 
land, von dem ganzen Bosnien und Zubehör, des Wilajets Serbien, der feſten Stadt Belgrad 
und aller übrigen dazu gehörigen Schlöffer, Feſtungen und Städte“. 
Da paßt der alte, ſchöne Opernvers: „Es ift ſchon lange her, das freut uns um fo mehr!“ 


S 
Polizeipräſident von Berlin 
a 


am 25. März waren es hundert Jahre, daß über der Ruhe und Sicherheit der gegen- 
3 wärtigen Reichshauptſtadt ein „Polizeipräſident“ wacht. Aus der Geſchichte diefer 
N Institution friſcht die „Berliner Volkszeitung“, die ſelbſt mit einem der Präſidenten, 
n 3 Hindeldey, manchen Strauß ausgefodten hat, einige aparte Erinnerungen auf. U. a.: 

Sm Februar 1809 fand bei dem Stadtpräſidenten und Polizeidirektor Büſching ein 
geſelliger Abend ſtatt, zu dem auch die Prinzeſſin Louiſe erſchien. Bei dieſer Gelegenheit er- 
zählte die Prinzeſſin eine heitere, die Anweſenden höchlichſt ergötzende Geſchichte, die für die 
damaligen Sitten zu bezeichnend ift, um nicht, wenn auch in etwas gemilderter Form, wieder- 
gegeben zu werden. Im Jahre 1806 war die ganze königliche Familie in Stralau zum Fiſch⸗ 
zuge. Fürſt Radziwill, der Gatte der erwähnten Prinzeſſin Louiſe, hatte zu dem Ausfluge einen 
Hund mitgenommen, der „Präfident“ hieß. Der Hund war nicht — ſtubenrein und weil er 
dies inmitten der hohen und höchſten Herrſchaften aufs deutlichſte bewies, ließ ihn der Zürft 
in einen nahegelegenen Schweineſtall ſperren. Gegen abend wollte der König nach Rummels- 
burg fahren und der Stadtprdfident und Polizeidirektor Büͤſching ſollte dazu die nötigen An- 
ordnungen treffen. Buͤſching war aber nicht zur Stelle, und einige Polizeidiener wurden ab- 
geſchickt, ihn zu ſuchen. Der eine der Poliziſten kam dabei an das Haus, in dem die königliche 
Familie ſich aufhielt, und zwiſchen ihm und einem Diener des Fürſten Radziwill kam es zu 
einem Zwiegeſpräch. Der Poliziſt fragte, ob der Präſident hier fei, und der Diener bejahte. 
Auf die weitere Frage, wo der Präſident ſich aufhalte, erfolgte die Antwort, daß er im Schweine- 
ſtall ſtecke. Der Poliziſt glaubte, daß man ſeinen hochverehrten Herrn und Meiſter in den Stall 
geſperrt habe, und fragte ängſtlich nach dem Grunde. Schließlich löfte fih das Mißverſtändnis, 
als der Diener mitteilte, daß der „Präſident“ die Stube, in der ſich die königliche Familie be- 
fand, verunreinigt habe. 

Eine Prinzeſſin trug dieſe Geſchichte vor und zwar im Hauſe desſelben Mannes, deſſen 
Titel die koſtbare Verwechſlung ermöglicht hatte. Welches Anſehen der Titel genoß, erhellt 
daraus, daß der Zürft Radziwill kein Bedenken trug, ihn als Namen für feinen Hund zu ver- 
wenden, und welcher Achtung der Träger des Titels nach oben hin ſich erfreute, folgt aus 
der Annahme des Poliziſten, daß ſein oberſter Vorgeſetzter in der Tat in den Schweineſtall 
geſperrt worden ſein könne. Es waren doch ſchöne Zeiten, die lieben, guten, alten Zeiten! 
Bald nachdem die Prinzeſſin Louiſe auf Koſten des Stadtpräſidenten deſſen Gäſte durch die 
joeben vorgetragene reizende Geſchichte in unbändige Heiterkeit verſetzt hatte, hörte die Ber- 
bindung von Stadtpräſident und Polizeidirektor auf. Durch die Einführung der Städteord⸗ 
nung wurde die Polizei vom Magiſtrat getrennt, und am 25. März 1809 wurde der Rammer- 
direktor Gruner zum Polizeipräſidenten von Berlin ernannt. Nach ihm ift die gleichnamige 
Straße benannt, die an der Nordſeite des jetzigen, am Alexanderplatz fih erhebenden Polizei- 
präfldialgebäudes entlang führt. . 


348 | Sprachenduntel 


Von allen früheren Stadtpräſidenten und Polizeidirektoren reicht, was geſchichtlichen 
„Ruhm“ anlangt, keiner auch nur entfernt an Hinckeldey, den „Dey von Berlin“, wie man ihn 
ſpöttiſch nannte, heran. Auch Madal genoß zwar eine gewiſſe Berühmtheit, aber Hinckeldey 
war weit mehr. Unter ihm wurde die ſchon vorher betriebene Errichtung der Schutzmannſchaft 
durchgeführt und er legte auch den Grund zu der heutigen Feuerwehr. Hinckeldey ... war ein 
Gewaltmenſch. Der häßlichſte Flecken auf feiner Amtsführung ift der Prozeß Waldeck. Hingel- 
den, der als Zeuge in dieſem Prozeß vernommen wurde, trat vor Gericht in einer fo larmen- 
den, ungehörigen Weiſe auf, daß der Vorſitzende ihn mit dem Bemerken, das ſchicke ſich nicht, 
zur Ordnung verwies. Der tragiſche Tod Hinckeldeys hat mit manchem ſeiner früheren Streiche 
verſöhnt. Friedrich Wilhelm IV. hat dieſen Tod verſchuldet. In einem Briefe vom 2. April 
1856 an den Minifter von Weſtfalen ſchrieb der König: „Der Vorwurf, der mich ſelbſt trifft, 
ift immer größer, denn ich wußte feit mehreren Tagen, daß es auf die Tötung Hinckeldeys ab- 
geſehen war.“ Der König hätte, wenn er dazu willens geweſen wäre, den Zweikampf, der zu 
einem für Hinckeldey ſchlimmen Ausgang führen mußte (außer Rochow ſtanden noch andere 
Funker bereit, um den Polizeipräſidenten niederzuknallen), verhindern können. 

Die ältefte Tochter Hinckeldeys, „die Konſtabler-Göhre“, wie fie von den Gardeoffi- 
zieren genannt wurde, die ſich verabredet hatten, nicht mit ihr zu tanzen, war über die Hal- 
tung des Königs ſo empört, daß ſie beim Begräbnis ihres Vaters, an dem der König teilnahm, 
zurückgehalten und bewacht werden mußte, damit fie nicht auf den König losſtürzte, um ihn 
mit Vorwüuͤrfen zu überhäufen. Hinckeldey führte feit 1853 den Titel , Generalpolizeidirettor” ... 
Der Miniſter des Innern hatte von dieſer Ernennung abgeraten, Friedrich Wilhelm IV. aber 
hatte ſie dennoch vollzogen. Der vorher in Preußen niemals verliehene Titel iſt auch ſeitdem 
nicht wieder verliehen worden. Als „Generalpolizeidirektor“ war Hinckeldey dem Miniſter 
des Innern nicht unter- ſondern beigeordnet. 


E 
Sprachendünkel 


en das lächerliche Vorurteil, als gewähre die Kenntnis fremder Sprachen ihrem 
glücklichen Inhaber unendliche Überlegenheit über feine minder begünftigten Beit- 
x] genoffen, wendet fih Arthur Schultz in den „Blättern für deutſche Erziehung“. 
Sie es Sele feten für das deutſche Volk ein wahrer Fluch geworden: „Sie haben auch 
die tiefe Kluft geſchaffen, die zwiſchen der großen Maſſe des Volkes und der fremdſprachlichen 
gebildeten, namentlich der lateiniſchen Oberſchicht herrſcht. Nicht das etwa iſt ein Abel, daß es 
eine Oberſchicht gibt. Die wird es immer geben, und mit Recht, nur muß ſie ſich aus den beſten 
Kräften des Volkes zuſammenſetzen. Aber der Wert dieſer Kräfte dürfte nicht danach bemeſſen 
werden, ob einer Fremdſprachen beherrſcht oder nicht. Fremdſprachliche Bildung, noch dazu, 
wie ſie heute betrieben wird, hat ſehr leicht die Wirkung, daß ſie dem eigenen Volke entfremdet. 
And tatſächlich finden ſich deshalb in der heutigen Oberſchicht verhältnismäßig wenig Männer, 
die das Zeug haben, Führer des Volkes zu fein, weil fie eben die Bedürfniſſe des eigenen Volkes 
nicht kennen und ſeine Not nicht verſtehen, gleich wie ſie vom Volke nicht verſtanden werden. 
Das alles wird ſich erſt ändern, wenn erſt einmal begriffen iſt, daß der wahrhaft Gebildete 
vor allem das eigene Volk gründlich kennen muß. Um aber das zu beherrſchen, was unfer Volk 
geſchaffen hat, dazu gehört ſoviel Zeit und Kraft, daß der einzelne Menſch es kaum bewältigen 
kann. Ich glaube wirklich, daß ein ungewöhnlich begabter Menſch dieſer Aufgabe gewachſen iſt. 
Man denke nur an das, was auf dem Gebiete der Oichtkunſt, der Malerei, der Muſik, der Bild- 
hauerei und der Baukunſt vom deutſchen Volke geleiſtet iſt. Wenn man dazu nimmt, was auf 


Spradenbüntel 349 


dem Gebiete der Naturwiſſenſchaft, der Philoſophie, Geſchichte, Volkswirtſchaft ufw. zu lernen 
iſt, dann wird man ſich hüten, von der deutſchen Zugend zu verlangen, daß fie den größten Teil 
ihrer koſtbaren Zeit auf die Erlernung von Fremdſprachen verwende. 

Selbſtverſtändlich ift damit nicht geſagt, daß überhaupt keine Sprachen erlernt werden 
ſollen. Man kann es tun, aber erſt dann, wenn man fiir eine gute deutſche Bildung geſorgt hat, 
und dann muß man auch noch zuſehen, daß man die Sprachen gleichſam im Fluge erlerne, 
jedenfalls in ſehr viel kürzerer Zeit, als es heute geſchieht. Niemals aber foll der Wert des Men- 
ſchen danach bemeſſen werden, ob er fremde Sprachen kennt oder nicht. Auch dürfte inner- 
halb Deutſchlands keine Berechtigung davon abhängig gemacht werden. Man muß nur ſtets 
Dellen eingedenk fein, daß einer 6 Sprachen beherrſchen und dennoch ein vollendeter Dumm- 
kopf fein kann. Bismarck ift es nicht eingefallen, einen Diplomaten nach feinen Sprachkennt⸗ 
niſſen einzuſchätzen, er hat fih im Gegenteil oft darüber beklagt, daß bei der Beſetzung der Ge- 
ſandtenſtellen vor allem auf ein elegantes Franzöſiſch Wert gelegt werde. Alſo nicht einmal 
da, wo man es am erſten erwarten ſollte, nämlich für die Betätigung im Auslande, legte Bis- 
marg beſonderen Wert auf die Sprache. Der Dünkel, den viele auf Grund ihrer fremdſprach⸗ 
lichen Kenntniſſe zur Schau tragen, iſt völlig unberechtigt. Geradezu verwerflich aber iſt es, 
wenn er ſich gegen die eigenen Volksgenoſſen wendet und fie hindern will, eine höhere Lebens- 
ſtufe zu erreichen, wie wir es in dem Verhältnis der akademiſchen Lehrer zu den Volksſchul⸗ 
lehrern ſehen. 

Verſtünde man aber unter wahrer Bildung das, was oben bezeichnet wurde, dann würde 
unfer Vaterland ſelbſt den größten Nutzen haben. Es ift verhältnismäßig leichter, ſich in Ge- 
ſchichte, Naturwiſſenſchaft, Philoſophie uſw. fortzubilden als gerade in den Sprachen. Wenn 
nun mit jenen Wiſſenſchaften, nicht aber mit den Sprachen, die hauptſächlichen Berechtigungen 
verknüpft wären, dann würden viel mehr unferer Volksgenoſſen ſich darum mühen, im fpäteren 
Leben das nachzuholen, was fie durch eigene Schuld oder durch unglückliche Amſtände in der 
Schule nicht haben erlernen können. Aber die Fremdſprachen mit ihrer unverdienten Berech- 
tigung halten ungeheuer viel Kräfte darnieder. 

Noch ein anderer wichtiger Umſtand ſpricht hier mit. Im allgemeinen find diejenigen 
Leute, die ſchon ins Leben getreten waren und dann erft den Entſchluß gefaßt haben, ſich fort- 
zubilden, wertvoller als die, die unter ſtetem Zwang ihre Schule durchgemacht haben. Ihnen 
müßte es möglich fein, zur Univerſität zu gehen und zu fagen: ich habe mir diefe und jene Rennt- 
niſſe erworben und wünfche daraufhin zu ſtudieren. Solche Leute als Autodidakten lächerlich 
an machen, das gerade ift febr lächerlich. Kenntniſſe, die durch eigene Kraft und auf eigenen 
Wegen erworben ſind, pflegen wertvoller zu ſein und tiefer und feſter zu ſitzen als ſolche, die 
unter Zwang auf der Schule häufig nur mühſam und widerwillig erlangt find. Erfahrungs- 
mäßig find gerade jene Leute ſehr oft Bahnbrecher geweſen. Hebbel, der doch wahrlich eine 
trübfelige Jugend durchgemacht hat, ſagte in reifem Alter folgendes: ‚Eine ſolche Abgeſchloſſen⸗ 
heit von der ganzen Welt hat, ſo ſchwer ſie auch zu ertragen iſt, nichtsdeſtoweniger auch ihre 
Vorteile, und wahrlich, ich möchte jetzt, wo ich die Oreſſieranſtalten des Staates aus eigener 
Anſchauung kenne, meinen einſamen und allerdings etwas mühſeligen Entwicklungsgang nicht 
mit dem gewöhnlichen vertauſchen. Es ſchadet an und für ſich gar nichts, wenn die Säfte in der 
Wurzel ziemlich lange zurüdgehalten werden; das gibt hinterher nur einen um fo kräftigeren 
Schuß. Und dann iſt's unglaublich, was der Menſch, der gezwungen ift, ſich der Welt unmittel- 
bar gegenfiberguftellen, ihr mit eigenen Rträften abzugewinnen vermag.‘ 

Grade den Autodidatten, den freiwilligen und begabten Arbeitern, ſollte man freie 
Bahn ſchaffen. Warum gibt es nur am Ausgange der Hochſchulen Priifungstommiffionen 
und nicht auch am Eingange? Ourch dieſe verfehlte Einrichtung ſind viele wertvolle Kräfte 
unſeres Volkes brach gelegt worden. 

Betrachten wir doch einmal, und damit kommen wir auf unſern Ausgangspunkt zurück, 


350 Sollen wir vegetariſch leden? 


die landwirtſchaftlichen Verhältniſſe. Nehmen wir z. B. einen Knaben an, der die Volksſchule 
beſucht hat und nun in einen landwirtſchaftlichen Betrieb hineinkommt. Er hat einen guten 
Kopf, offenen Blick, die Sache macht ihm Vergnügen, alles geht ihm gut von der Hand. Er 
arbeitet mit großem Fleiß. Er beſchaͤftigt ſich aber nicht bloß praktiſch, ſondern auch theoretiſch. 
Er lieft landwirtſchaftliche Bücher, findet fih leicht darein und beſchäftigt ſich mit ihnen, je älter 
er wird, immer mehr. Das Wiſſen, das er da erlangt hat, ift aller Wahrſcheinlichkeit nach wert- 
voll. Da er ſich befähigt fühlt, faßt er ſchließlich den Plan, ſich auf der landwirtſchaftlichen 
Hochſchule fortzubilden, um ſelbſt einmal zu unterrichten. Er geht zur Hochſchule. Die aber 
ſagt zu ihm, wenn du nicht das Zeugnis einer Vollanſtalt beſitzeſt, d. h. wenn du nicht Griechiſch 
und Latein oder Franzöſiſch und Engliſch gelernt haft, dann ſteht dir nur die niedere Lauf- 
bahn offen. 

Sit das nicht gerade das Verkehrteſte, was geſchehen kann? Was hat die Kenntnis von 
Griechiſch und Latein mit der Landwirtſchaft zu ſchaffen? Wenn irgendwo, dann kommt es 
gerade in der Landwirtſchaft auf gute Augen, auf ſcharfe Beobachtung, umſichtige Prufung 
und geſunde Beurteilung an. Mir ſcheint, als ob der Gymnaſiaſt, der bis zum 19. oder 20. 
Sabre hinter Büchern hocken mußte, die allerſchlechteſte Vorbereitung dazu erhalten hat. Die 
naturwiſſenſchaftlichen Kenntniſſe find ungenügend, die lateiniſchen Vokabeln und Regeln 
helfen gar nichts, und die Augen find verdorben. Und um fih auf dem Lande tüchtig umzu- 
ſehen, dazu hat die Zeit gefehlt. Das tut aber alles nichts. Der Berechtigungsſchein iſt da. 
Das ſchönſte iſt, daß der Inhaber des Berechtigungsſcheines verächtlich auf den herabblickt, 
der das notwendige und gute Wiffen hat. Selbſt wenn die Behörden fo vernünftig find, beide 
zur gleichen Laufbahn zuzulaſſen, fo ſucht der eine im Amte noch, fih von dem andern zu foei- 
den. Bildungsſchwindel, nichts als Bildungsſchwindel! 

Der wahrhaft Tüchtige ſchätzt jederzeit das Tüͤchtige in dem andern, gleichviel auf wel- 
cher Schule dieſer einftmals geweſen iſt. Wer aber nicht tüchtig iſt, der wird immer das freie 
Spiel der Kräfte fürchten in dem Bewußtſein, er könnte da zurückgedrängt werden. Da iſt es 
denn bequem und angenehm, ſich auf ſein Reifezeugnis zu berufen, auch wenn dieſes nur mit 
Ach und Krach erworben fein ſollte. Und dieſer Vorteil wird denn auch weidlich ausgenutzt, 
zum Schaden des Volkes. Auf dem Gebiete der Landwirtſchaft iſt das ja leicht einzuſehen, 
aber hoffentlich iſt die Zeit nicht mehr fern, wo man erkennen wird, daß auch auf anderen Ge- 
bieten der gefunden Kraft und dem ehrlichen Streben des Volkes möglichſt freie Bahn ge- 
ſchaffen werden muß, damit nicht etwa das Wort Bismarcks in Erfüllung gehe, daß die Examina 
uns zugrunde richten.“ 


Sollen wir vegetariſch leben? 


Get K ie Frage ließe fid) mit einem glatten „Nein“ beantworten, wenn dabei nicht dod 
32 noch manches zu bemerken wäre. Wer unter „vegetariſcher“ Diät auch die Gewäh- 
GNI I rung von Eiern, Milch und ihren Präparaten miteinbegreift, mag, 

wenn's ihm gefällt, ruhig „vegetariſch“ leben. Vom ernährungstechniſchen Standpunkte aus 

läßt ſich gegen eine ſolche Diät nicht das Geringſte einwenden, da fie ja die vor allem notwen- 
dige ausreichende Zufuhr von Eiweißſubſtanzen ſichert. 

Viel weniger Günftiges aber läßt ſich, wie Prof. Dr. Karl van Noorden in der „Oeutſchen 
Revue“ (Stuttgart, Deutſche Verlagsanſtalt) des Näheren darlegt, über den „Vegetarismus 
ſtrenger Obſervanz“ fagen, der auch die Produkte des lebenden Tieres 
ausſchließt. „Rein theoretiſch betrachtet, finden wir freilich im Pflanzenreiche nicht nur die 
Kohlenhydrate, alfo Mehl- und Zuderftoffe, und die Fette, ſondern auch die Eiweißkörper reid- 
lich genug vertreten, um eine durchaus geniigende und auch febr ſchmackhafte Ernährung zu 


Rot 361 


ermöglichen. In Wirklichkeit ift aber die Gefahr, daß dies nicht geſchieht, recht groß. Die vege- 
tabiliſchen Nahrungsſtoffe enthalten im Ourchſchnitt nicht mehr als zehn Prozent reforbier- 
bares Eiweiß in der Trockenſubſtanz. Um auch nur auf die beſcheidene Höhe von 70 Gramm 
Eiweiß am Tage hinaufzugelangen, ſind alſo 700 Gramm vegetabiliſche Trockenſubſtanz nötig. 
Dies würde in marktfähiger Ware, d. h. in dem Zuſtande, wie das Material in die Küche 
geliefert wird, ein Durchſchnittsgewicht von mindeſtens 1600 Gramm repräfentieren und im 
genußfertigen Zuſtand ein Gewicht von etwa drei Kilogramm. Man ſieht alſo, daß 
die rein vegetabiliſche Koſt, wenn fie auch nur das beſcheidenſte Maß der erforderlichen Çi- 
weißzufuhr gewährleiſten ſoll, ein ungeheures Volumen beanſprucht. Dieſe Menge ſchiebt 
natürlich der Aufnahmefähigkeit des Magens und der Reforptionstraft des Darms enorme Auf- 
gaben zu. Völlig geſunde Organe können dieſen Anforderungen freilich gerecht werden; aber 
häufig wird die Leiſtungsfähigkeit der Organe überlaſtet, und Erkrankung iſt die Folge. In 
vielen anderen Fallen werden die erforderlichen Nahrungsvolumen nicht bewältigt, und dann 
leidet ſowohl die Geſamtnahrungszufuhr wie auch insbeſondere die Eiweißaufnahme not. 
Dieſe naturliche Konſequenz hat der rein vegetariſchen Diät den Ruf verſchafft, eine vortreff- 
liche Entfettungs methode zu fein. Die Tatſache, daß fie trotz großen Volumens, 
wegen ungenügenden Inhalts, zu wirkſamen Entfettungskuren dienen kann, ift unbeſtreitbar; 
fie teilt mit allen Entfettungskuren die charakteriſtiſche Eigenſchaft, daß die Summe der zu- 
geführten Nährwerteinheiten geringer ift als der tatſächliche Bedarf. Mit dem Prädikat einer 
vortrefflichen“ Entfettungskur kann ich die Methode aber nicht belegen; denn erſtens werden die 
Patienten durch das ſtarke Volumen der inhaltsarmen Koſt geradezu zu Bieleſſern künft- 
lich erzogen, und wenn fie dann die vegetabiliſche Koſt müde find, fo behalten fie auch der neuen 
gemiſchten Koſt gegenüber die Vieleſſerei häufig bei, und ſchnelle Gewichtsſteigerungen find 
dann die Folge; zweitens — und dies iſt das Wichtigere — iſt die rein vegetabiliſche Koſt viel 
zu eiweißarm fir Entfettungskuren. Bei Entfettungskuren ſoll die Koſt eher weit über den 
Durchſchnitt hinaus Eiweiß enthalten als zu wenig. Wenn man an dieſer Erfahrungstatſache 
feſthält, wird man am eheſten vermeiden, daß die in den Stoffumſatz ja tiefeinſchneidenden 
Entfettungskuren von Schwäͤchezuſtänden begleitet find. Solche üblen Folgen erlebt man 
im Anſchluß an die rein vegetariſchen Entfettungskuren, wie ſie jetzt in manchen Sanatorien 


beliebt ſind, nur gar zu oft.“ 


Not 


7 

n Kandidat der Medizin ſchreibt an den „Vorwärts“: 

Ich aſſiſtierte in einer Frauenklinik von Berlin; da kam eines Tages ein 
ſiebzehnjähriges Mädchen hin — ein kleines, zartes Weſen mit hübſchem Geſichtchen; 

es war blaß und fab überarbeitet aus. Die Unterſuchung ergab, daß eine Operation notwendig 

war. Das Mädchen war der Verzweiflung nahe und man mußte es ſtets ermutigen und tröſten, 

daß die Sache nicht gefährlich fei und bald erledigt ware. 

Nach ein paar Tagen mußte ich die Klinik verlaſſen. Nach Verlauf einer Woche bekam 
ich die Nachricht von der Patientin, daß die Operation unterdeſſen gut verlaufen wäre und 
ſie ſich wohl fühlte. Sie dankte mir um ihretwegen gehabter Sorgen und Mühen. 

Nach einigen Wochen erhielt ich von ihr wiederum einen Brief, worin ſie von ihrer 
Krankheit ſprach und den Wunſch ausdrückte, mit mir zu ſprechen. Seit zwei Wochen war fie 
ſchon aus der Minit entlaſſen worden, aber fie fühlte ſich noch immer nicht wohl. Ich habe 
ihr gleich geantwortet und eine Sprechſtunde abgehalten. Schon den nächften Tag kam Fräu- 
lein Rofe mit ihrem Bräutigam zu mir. 


352 Not 


„Sie müffen ſich gut erholen, liebes Fräulein; es wird mit der Zeit ſchon gut geben, 
bloß müffen Sie eine zeitlang Ruhe haben — alfo nicht arbeiten, viel Gemüſe und nahrhafte 
Sachen eſſen und öfter in die friſche Luft kommen.“ 

„Sie meinen es fehe gut, Herr Doktor,“ meinte das Fräulein. „Alle Arzte ſprechen 
ſo leicht, ich ſoll nicht arbeiten! Wie ſoll ich denn leben? Und mein Bräutigam hat auch ſeit 
ſechs Wochen keine Arbeit.“ 

„Sei ruhig, Rofel,“ meinte der Bräutigam, „ich finde ſchon Arbeit; betteln tue ich doch 
nicht.“ 

Sch habe ihr den Rat gegeben, wieder in die Klinik zu gehen und wenn es notwendig 
ſei, ſich eine zeitlang wiederum aufnehmen laſſen. 

Da ich längere Zeit von Fräulein Roſe und von ihrem Bräutigam nichts mehr hörte, 
nahm ich an, es gehe ihr und dem Bräutigam jetzt wahrſcheinlich gut, bis ich eines Tages wieder 
einen Brief von ihr erhielt. Der Inhalt des Briefes war diesmal aber eigentümlich. Von ihrer 
Krankheit ſprach ſie nichts mehr. Sie bat dringlich, ich ſoll ſo gut ſein, ihr bald zu ſchreiben, 
wann wir uns ſehen können, und fügte hinzu, daß ihr Bräutigam nach dem Auslande ab- 
gereiſt ſei. 

Ich habe den Brief nicht gleich beantwortet, ich überlegte es mir noch, weshalb das 
junge Mädchen mich ſprechen wollte, nachdem ich ihr den Rat gegeben hatte, wieder in die 
Klinik zu gehen. Weshalb ſchreibt fie mir, daß ihr Bräutigam abgereiſt fei? War das für mich 
nicht egal? 

Bald wurde aber die Sache aufgeklärt. Schon am nadften Tage ſagte mir mein Haus- 
mädchen, daß ein Herr mit mir ſprechen wollte; er ſähe wie ein Arbeitsloſer aus, ſagte ſie, 
die jetzt ſo oft heraufkommen. 

Laſſen Sie, bitte, ihn herein, ſagte ich. 

Es war wirklich ein Arbeitsloſer, aber der war nicht zum Betteln gekommen. 

„Guten Abend, Herr Doktor!“ 

„Guten Abend! Bitte, treten Sie näher.“ 

„Bitte tauſendmal um Entſchuldigung, Herr Doktor, wenn ich Sie ſtöre.“ 

„Das macht nichts, bitte, nehmen Sie Platz. Wie geht's jetzt Fräulein Roſe?“ 

„Danke ſehr, es geht ihr einigermaßen gut,“ antwortete der junge Bräutigam, und 
gleich darauf fragte er haſtig: „Hat meine Braut an Herrn Dottor geſchrieben?“ 

„da, geſtern früh, glaube ich, bekam ich von ihr einen Brief, fie ſchrieb aber, daß Sie 
ſchon verreiſt ſeien.“ 

„Das ift wahr, Herr Doktor; fie weiß nicht, daß ich noch in Berlin bin; ich habe ſchon 
vorgeſtern von ihr Abſchied genommen. Ich bin aber abſichtlich nicht gefahren, um zu wiſſen, 
ob ſie an Sie ſchreiben wird.“ 

„So! Vas iſt denn los?“ fragte ich erſtaunt. 

„Herr Doktor, wiſſen Sie, warum Rofe mit Ihnen ſprechen will? 

„Nein, warum? Wahrſcheinlich wegen ihrer Krankheit, was denn ſonſt?“ 

„Herr Doktor, meine Braut will Sie verſuchen.“ 

„Verſuchen? Was meinen Sie damit?“ 

„Entſchuldigen Sie, bitte, Herr Doktor, wenn ich ganz offen ſpreche, Rofe ift (hőn und 
jung 

„Und wenn?“ 

„Herr Doktor, ich hätte es Ihnen gar nicht Abel genommen — wir find alle Menſchen .“ 

„Aber wie kommt fie überhaupt auf die Idee?“ 

„Sie wiſſen ſchon, daß fie nicht viel arbeiten kann und ich feit zwei Monaten keine Ur- 
beit finde.“ 

„Weiter.“ 


Valimitter | 355 


„Weiter ſagt fie mir neulich, ich werde zu Herrn Doktor gehen — er ſcheint mir reich zu 
fein — und ſuche ihn auf die Probe zu ſtellen; wenn es mir gelingt, dann ſammle ich auf dieſe 
Weife eine Zeitlang etwas Geld, bis du auch eine Arbeit findeſt, und im Herbſt machen wir 
Hochzeit.“ 

„And was haben Sie gejagt?“ 

„Natürlich habe ich ihr entſchieden widerraten, ſie wollte aber mich nicht hören und 
ſagte immer, daß ſie ſich wider Willen hingeben wird. Glauben Sie, Herr Doktor, drei Nächte 
habe ich nicht geſchlafen; ich weiß, daß das Mädchen mich ſehr lieb hat, und meinetwegen will 
ſie ſo etwas tun, aber ſo was darf nicht geſchehen, denn wenn ſie es einmal gemacht hat, wird 
ſie es immer tun, nicht wahr?“ 

Ich habe den Armſten beruhigt und ihm verſichert, daß von meiner Seite ſo was ganz 
ausgeſchloſſen ſei, und ſogar mein Wort gegeben, daß ich auf ihren Brief nicht antworten werde. 

„Beſten Dank, Herr Doktor,“ erklärte aufatmend der junge Mann, „jetzt kann ich wieder 
beruhigt nach Haufe fahren. Ich fuhr eine Stunde weit von Haufe hierher, um Sie zu bitten, 
mich nicht ungluͤcklich zu machen. Ich habe das Mädchen ſehr lieb und bin bereit, alles für ihre 
wie für meine Ehre zu tun. Gott fei Dant, ich bin noch jung und geſund und kann arbeiten. 
Wenn in meiner Heimat für mich keine Arbeit ift, da fahre ich ſchon morgen beſtimmt nach 
der Schweiz, ich habe da ſchon was gefunden. Betteln werde ich nie, lieber verhungern.“ 

Als der junge Arbeiter fort war, dachte ich mir: Wie viele Tauſende ſind noch in Berlin, 
die um das Stück Brot den Weg der Verſuchung einzuſchlagen genötigt find... 


Ar 
Ballmütter 


IX mmer noch, plaudert Carry Brachvogel im „Neuen Wiener Tageblatt“, verlangt 
AS in weiten und guten Rreifen die Sitte, richtiger die Unfitte, daß die oft noch jugend- 
lichen Mütter nächtelang an der Wand figen müſſen, bloß weil die junge Tochter 
rege foll. Ich habe mich ſchon oft gefragt: „Zu welchem Zweck ift eigentlich diefe Korona 
von Ballmamas da? Zum eigenen Amüjement? Es glaubt doch kein Menſch, daß es amüfant 
ift, ſieben Stunden lang an der Wand zu ſitzen. Zur Repräſentation? Ich kann es auch nicht 
eigentlich repräfentativ finden, wenn man ſieben Stunden lang an der Wand ſitzt. Suchen 
fie den Schwiegerſohn? Möglich, aber nicht allzu wahrſcheinlich. Denn der feriöfe Mann geht 
immer weniger auf harmloſe Mädchenbälle, und wer ſich den Luxus eines nicht feriöfen 
Schwiegerſohnes leiſten kann, findet ihn immer und überall, braucht ihn nicht nächtelang an 
der Wand ſitzend zu erwarten. Wozu alſo ſind ſie da?“ Die Antwort lautet: „Die Mädchen 
konnen doch nicht allein zum Ball gehen!“ Wie? Zn unferen Tagen, da die Grenzen für das 
weibliche Geſchlecht ſich unaufhaltſam weiten, da ſelbſt Minifters- und Generalstöchter zur 
gochſchule oder zur Bühne gehen, in dieſen Tagen foll es noch Mädchen geben, die aus Mangel 
an innerer und äußerer Selbſtändigkeit nicht ohne Gardedame ein Feſt beſuchen können? Oder 
könnten fie etwa und dürfen nicht? Das iſt's, fie dürfen nicht! und der Grund, warum fie nicht 
dürfen, ift jo lächerlich und zugleich häßlich, daß man fih eigentlich ſchämt, ihn zu fagen. Sie 
dürfen nicht, weil man ihnen nicht traut ... Ja, Ballmütter und mamas, das ift es, ihr traut 
euren Töchtern nicht! Darum ſitzt ihr nächtelang an der Wand und paßt auf, „daß nichts paf- 
fiert!“ Und wenn ihr gleich wißt, daß alle Wachſamkeit überflüffig ift, weil ein braves Mädel ihrer 
nicht bedarf und ein böfes fie täuſcht — ihr tut wenigſtens fo, als ob ihr aufpaßtet. Ballmuͤtter 
aller Zeiten und Kreiſe! Bedenkt doch einmal, welch Hägliches Zeugnis ihr ſelbſt eurer ganzen 
Erziehungskunſt mit dieſer fatalen „Wachſamkeit“ ausſtellt! Wenn ihr eure Tochter ſo ſchlecht, 
ſo ohne inneres Sittengeſetz erzogen habt, daß ihr ſie nicht unbeſorgt mit Männern ihres Kreiſes 
Mer TArmer XI, 9 25 


354 Helben des Geſchaſto 


allein laſſen könnt, dann bleibt mit ihr zu Haufe und ſchämt euch oder ſchickt ihr eine handfeſte 
Scheuerfrau mit, die ihr auf Schritt und Tritt nachläuft und ſie im „Notfall“ dem jungen Mann 
gleich aus den Armen reißt... Noch beffer aber: Achtet euch und euer Kind zu hoch, um 
zu glauben oder glauben zu laffen, daß die Tugend, die ihr es gelehrt habt, nur eine nebenfad- 
liche Affäre fei, die man beim Tanzen einfach vergißt. Schließt euch endlich zu einem General- 
ftreit zuſammen und verkündet allen Ballvätern, Gatten, Brüdern und Tänzern: „Meine 
Herren! Künftighin werden wir nicht mehr an der Wand fiken, ſondern unſere Töchter allein 
zum Ball fahren laſſen. Denn unſer haremsmäßiges Wächterinnenamt paßte vielleicht zu den 
prüden Zipfelmützenſitten alter deutſcher Kleinſtaater- und ⸗ſtädterei. Vielleicht! Anwürdig 
aber erſcheint es uns für die verheirateten wie für die unverheirateten Frauen eines großen, 
hochentwickelten Reiches, daß ſie Aufpaſſerinnen abgeben oder nötig haben ſollen. Wir trauen 
unſern Töchtern zu, daß fie auch in Freiheit, auch unter eigener Verantwortung die Wurde 
ihrer Perſon, ihres Namens und ihrer Familie zu wahren wiſſen. Wir trauen es ihnen zu 
und hören darum auf, Ballmütter zu ſein!“ 


2 
Helden des Geſchäfts 


olgen wir den Ausführungen H. von Stettens in der „Neuen Revue“, ſo leidet die 
Ke Arbeitswelt in den gemäßigten Zonen an einer Schwäche, von der bie Menſchen 
O zweier extrem verſchiedenen Sphären, die wirtſchaftlichen Arbeiter des angelfad- 
ſiſchen Nordamerika und des islamitiſchen Tüͤrkentums frei feien: an allzu geringer Wider- 
ſtandskraft gegenüber plötzlichen Schickſalsſchlägen. „Aus meinen Erinnerungen an nordameri- 
kaniſches Arbeitsleben iſt mir noch eine fürchterliche Brandkataſtrophe gegenwärtig, 
die u. a. das ganze, rieſige Lager einer Buchhandlung zerſtörte. Noch während der Feuers- 
brunſt wurden Bedienſtete der Firma in aller Eile an verſchiedene Bahnhöfe dirigiert, um aus 
allen entfernten Zweiggeſchäften des Haufes in anderen Städten größere Warenſendungen 
herbeizuſchaffen, fo daß die Buchhandlung im Laufe des nächſten Tages - ohne Geſchäͤäfts⸗ 
unterbrechung — wieder reich aſſortiert war. Der gleiche Brand ergriff auch die Re- 
daktions- und Setzerräume eines Lokalblattes. Da es gelang, die Setzkaſten auf die Straße 
zu retten, diktierten Redakteur und Reporter auf offener Straße — im Gewühl von Menfchen, 
Spritzen und Wagen — den Setzern die Bericht e über den großen Brand im eigenen Haufe, 
ſo daß — da die Maſchinenräume unverſehrt blieben — die Ausgabe des Blattes aus dem noch 
lichterloh brennenden Gebäude ohne Berfpätung erfolgen konnte. Zndeſſen entwickelte 
ſich auf dem Square, wo ein ganzer Häuſerblock eingeſtürzt war, ein ganz ernſtes und auch 
erfolgreiches Geſchäft zur Ber mietung der Plakate auf den um die Brandftätte herum 
jpäter herzuſtellenden Bretterwänden. Bei ſolcher Fixigkeit, ſolcher Arbeitselaſtizität gibt es 
keine nachhaltigen geſchäftlichen Zuſammenbrüche. Und ebenſo hatte ich Gelegenheit, den 
tirtifhen Silberarbeiter im Stambuler Bazar zu beobachten, der mit größter Seelenruhe 
neben feinem gleichfalls durch Brand zerſtörten Warenlager, der Arbeit vieler Jahre, dem Um 
und Auf ſeines Beſitzes ſich niederließ und mit einigen Silberdrähten und Fäden die Arbeit 
wieder aufnahm. An ſolchen Beiſpielen kann der europälfhe Kaufmann und Arbeiter 
immer noch lernen. Vor allem nicht ſofort nach der Regierung, nach öffentlicher Hilfe, nach 
Unterftigungen zu ſchreien, wie das bei uns üblich ift. Oer reelle Geſchäftsmann oder Ar- 
beiter hat ja doch nur einen Freund, der ihm im Unglück wieder auf den Damm hilft. Das 


ift er ſelbſt.“ 
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= Oie hier veröffentlichten, dem freien Meinungsaustauſch dienenden — m 
Einſendungen ſind unabhängig vom Standpunkte des Herausgebers 


Modernismus im Religionsunterrichte 
der Volksſchule 


(Vgl. Jahrg. XI, Heft 7, Seite 42, und Heft 8, Seite 218.) 


| 7 Kirche gegenüber religiöſen und kirchlichen Zuſtänden auf Konto der 
Z Schule fegt, wenn man fogar ſagt, die Zukunft des Chriſtentums in unſerem 
Voll binge nicht direkt davon ab, was man von den Kanzeln verkünde, ſondern von dem 
Religionsunterrichte in der Schule, und wenn die vor einigen Jahren in Göttingen tagende 
Konferenz von Religionslehrerinnen die Schuld an den obigen Zuſtänden den Volksſchullehrern 
zuſchob, „welche ſich vermeſſen, die Anſchauung der modernen Theologie in die Schule zu 
tragen“, dann dürfte es angebracht erſcheinen, dazu einmal Stellung zu nehmen und zu er- 
wägen: Iſt es ratſam, die moderne Theologie in die Schule zu tragen oder nicht? 

Obwohl ſich unendlich viel zur Rechtfertigung der Schule gegenüber den Behauptungen 
ſagen ließe, ſoll uns doch nur die geſtellte Frage beſchäftigen. 

gm Maihefte des Türmers ſchrieb Albert Lienhard zu dem Punkte: Jefus mußte 
irren, „jene Antwort beſteht nur dann und nur ſolange zu Recht, als man von der unbib- 
liſchen, wiſſenſchaftlich nicht zu erhärtenden Vorausſetzung ausgeht, Zejus war ein Menſch 
wie wir.“ — Zwar halte ich es nicht mit der Behauptung: Jefus mußte irren! wohl aber 
mit der: Zeſus hätte irren können, weil er ein Menſch war wie wir! Weshalb 
man mir aber demzufolge ſagen könnte, ich ginge von einer unbibliſchen Vorausſetzung aus, 
würde ich nicht einſehen. Gegen dieſen Vorwurf müßte ich mich entſchieden wehren. 

Faßt man das Ziel des Religionsunterridtes, die Kinder zu fittlicd-religidfen Perfön- 
lichkeiten zu erziehen, ins Auge, fo wird die Beantwortung der Frage: Konnte Jefus irren? 
von unabſehbarer Tragweite. 

Zeſus ſagt: „Ein Vorbild habe ich euch gelaſſen, daß ihr ſollt nachfolgen meinen Fub- 
ſtapfen.“ Afo ein Vorbild will und foll er den Menſchen fein, ein Vorbild, dem wir nach- 
eifern, an dem wir uns emporrichten ſollen. 

Wie könnten wir das aber, wenn Chriſtus auf Erden nur allmächtiger Gott geweſen 
wäre, wenn er von Geburt an mit göttlicher Kraft ausgerüſtet geweſen wäre, die uns 
andern Menſchen fehlt? Woher ſollten wir den Mut nehmen, ihm nachzueifern, wenn wir 
uns fagen müßten: Zeſus konnte, da er „heilig“ war, überhaupt nie ſtraucheln. Könnte 
man da nicht vor Gott hintreten und fragen: „Weshalb verlangſt du von uns die Nachfolge 
deines Sohnes und haft uns doch mit ungleich weniger Kräften ausgerüftet denn ihn?“ 


356 Modernismus im Religionsunterrichte der Volksſchule 


Bei dem Standpunkte „Jeſus ift eine inkommenſurable Größe“, kann er uns nicht als Bor- 
bild dienen; wir richten unſern Kindern vielmehr eine Geftalt auf, die weder kindliche Ber- 
ehrung noch begeiſterte Liebe zu erwecken vermag. 

Denten wir an die Verſuchungsgeſchichte. Wurden wir in dieſer Geſchichte Zeſus als 
inkommenſurable Größe betrachten, ſeine Perſönlichkeit — beſſer Handlungen — nicht mit 
unfern „unzulänglichen Maßſtäben“ mellen, dann würde Zeſu Aufgabe nach dieſer Geſchichte 
nicht zu der Rieſengröße wachſen, uns nicht mit der innigen Verehrung und Bewunderung 
erfüllen, mit der fie uns und die Rinder erfüllen ſoll. Denn wo bliebe die ſittliche oder religiöfe 
Bedeutung der Geſchichte, wenn Chriftus Gott geweſen wäre und als folder — unverwund- 
bar — einen Kampf mit dem Verſucher zu beſtehen gehabt hätte, aus welchem er infolge ſeiner 
göttlichen Kraft unbedingt als Sieger hervorgehen mußte, einen Kampf, deſſen Entſcheidung 
im voraus bei Sefu Willen ſtand?! Wäre dann nicht dieſer große Kampf ein Scheinkampf 
geweſen? 

Ich behandelte einſt die Verſuchungsgeſchichte in der Schule und richtete an die Kinder 
die Frage: „Wäre es auch möglich geweſen, daß Zefus in dem Kampfe mit dem Verſucher unter- 
lag, oder war ſich unſer Heiland von vornherein des unbedingten Sieges gewiß?“ 

Natürlich erhielt ich nur die eine Antwort: „Jefus konnte in dem Kampfe nicht unter- 
liegen.“ Darauf ging ich ein und fragte: „Weshalb meinſt du das?“ Und nun kam die Ant- 
wort, die wie jene davon zeugte, daß die Kinder unſern Heiland faſt ausſchließlich als Gott, 
nicht aber als Menſch kannten, nämlich: „Weil er allmächtig, heilig uſw. war.“ Erft durch Aus- 
ſpinnen der ſchon gegebenen Gedanken über die Verſuchung brachte ich die Kinder zu der Über- 
zeugung: „Jeſus hätte auch in dem Kampfe unterliegen können.“ Nun erhielt die Geſchichte 
für die Kinder erft Wert. Sie ſahen Jefus, der kämpfen und ringen mußte gegen das Böfe 
gleichwie wir und der infolge feiner felbftverleugnenden Liebe und feines felſenfeſten Gott- 
vertrauens ſiegreich aus dem Kampfe hervorging. | 

Wie wir alfo in der Verſuchungsgeſchichte uns klar fein müffen, Jefus hatte in allen fittlich- 
religidfen Anforderungen nichts vor uns voraus, fo müßte auch dieſer Gedanke während der 
ganzen Behandlung des Lebens Jefu leitend fein, denn die Verſuchung ift das „innere Voraus 
leben des ganzen Lebens Jeju“. 

Sh will mit dem Geſagten nur feſtlegen, daß wir viel zu wenig Gewicht darauf legen, 
Zeſu Handeln rein menſchlich zu betrachten und — zu erklären. Viele neuteſtamentliche Ge- 
ſchichten find eben erft dann von ſittlich-religiöſem Werte, wenn den Kindern aus ihnen der 
rein menſchliche Zeſus herausleuchtet. 

Treffend ſagt hierüber Farrar: „Manche haben mit ebenſo unmäßigem wie unwiſſendem 
Eifer für Jeſum nicht nur tatſächliche Sündenloſigkeit, ſondern auch eine Natur beanſprucht, 
welcher, als göttlich und wunderbar, Sünde unmöglich war.“ 

3h komme zu dem Schluſſe: Ein Stück Modernismus im Religionsunterrichte — weis- 
lich abgewogen — raubt unſern Kindern den Heiland nicht, ſondern gibt ihnen einen lebendigen 
Heiland, mit dem fie beſonders im gereifteren Alter mehr anzufangen wiſſen als mit jenem. 


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Der Große und der kleine Gernegroß — Ein Danaergeſchenk — 
Hardens Glücksrad — Schutz der gequälten Kreatur! 


ie's bei Erſcheinen dieſes Heftes mit der Reichsfinanzreform aus- 
ſehen wird, mag der Himmel wiſſen. Viel Hoffnung, daß ſie dann 
unter Dach und Fach gebracht fein wird, ijt nicht vorhanden, noch 
weniger, daß fie den Anſprüchen einer gefunden Finangwirt- 
ſchaft und gerechten Laſten verteilung genügen wird. 

Die bei uns herrſchende Intereſſenwirtſchaft braucht fic wirklich nicht mehr 
vor der anderer Staaten zu verſtecken. Und ihr gegenüber ſtehen auf der einen 
Seite kaum noch ernſthaft zu nehmende parteipolitiſche Kuppelungen, auf der 
anderen eine Regierung, die es mit keiner der bürgerlichen Parteien und Inter- 
eſſengruppen verderben will. 

Sogar in der „Kreuzzeitung“ wurde darüber geklagt, daß die Reichstags 
verhandlungen durch das Auftreten der Verbandsſekretäre und Funktionäre von 
Berufs- und Intereſſen verbindungen überaus in die Länge gezogen werden. 
Die Zahl der Intereſſenverbände wird immer größer, und ihre Direktoren und 
Sekretäre haben dann immer das Beſtreben, ein parlamentariſches Mandat zu 
erhalten. „Die Verbandsſekretäre treten in der Regel mit einem imperativen 
Mandat in den Reichstag ein; ſie müſſen das Mandat ausüben, wenn ihnen ihre 
Stellung im Verbande lieb iſt.“ 

„In gewiſſem Sinne“, bemerkt der „Vorwärts“, „trifft das zweifellos zu: 
die bürgerlichen Parteien entſenden in der Regel Intereſſenten in die 
Kommiſſion; fo hatten die Ronfervativen zur Beratung des Branntweinmonopols 
in die Steuerkommiſſion ſolche Abgeordnete entſendet, die ſel ber Brannt- 
wein brenner oder ſtark an den Brennereien beteiligt find. Die Direk- 
toren des Bundes der Landwirte, Dr. Hahn und Dr. Röſicke, entfalten eine fieber- 
hafte Tätigkeit im Intereſſe des von ihnen vertretenen Bundes. Namentlich der 
Dr. Röfide eilt vormittags von einer Kommiſſion in die andere — denn jeder 
Kommiſſion, in der agrariſche Intereſſen in Frage kommen, gehört er an —, hält 


358 Zürmers Tagebuch 


ſchnell da und dort eine kurze Rede, um ſich dann ſchleunigſt zu entfernen und in 
einer anderen Kommiſſion wieder aufzutauchen. Einer der bekannteſten Inter- 
eſſenvertreter iſt ferner der nationalliberale Abgeordnete Dr. Streſemann, der 
fein parlamentariſches Mandat fo ziemlich ausſchließlich dazu benutzt, die einfeiti- 
gen Intereſſen der Großinduſtriellen zu vertreten. Es fei nur an fein Auftreten er- 
innert bei der Beratung der Abänderung der Gewerbenovelle, wo er mit aller 
Entſchiedenheit gegen eine weitere Erleichterung des Loſes arbeitender Frauen 
ſich wendete.“ 

Man könnte diefe Mitteilungen noch durch manche intereſſante und bezeich- 
nende Einzelheiten ergänzen. Indeſſen handelt es fih zurzeit gerade um den Wider- 
ſtand der Agrarkonſervativen, die denn auch kein Hehl daraus machen, daß es für 
fie bei der Nachlaßſteuer nicht nur um materielle Intereſſen geht, ſondern ganz vor- 
wiegend auch um eine Machtfrage. 

„Der Wille zur Macht“ — der „Vorwärts“ iſt hier auf der richtigen Fährte — 
„ift in keiner der bürgerlichen Parteien ſchärfer ausgeprägt als bei den Agrarkonſer- 
vativen; und die H a u p t ft ù b e ihrer Macht erblicken fie, nicht nur ſoweit Preußen 
in Betracht kommt, ſondern auch was das ganze Deutſche Reich anbelangt, in dem 
preußiſchen Landtag, in dem der Liberalismus zu völliger Ohnmacht ver- 
urteilt iſt. Von dieſem Trieb beherrſcht, ihre Machtſtellung um jeden Preis aufredt- 
zuerhalten, haben fie fih von vornherein nur widerwillig in das 
Blockkonkubinat gefügt, entſchloſſen, dem liberalen Blockpartner keinerlei beträcht- 
liche Zugeſtändniſſe zu machen und ihn bei erſter paſſender Gelegenheit beiſeite 
zu ſchieben. | 

Dennoch haben die Konſervativen dem Freiſinn, gezwungen durch die poli- 
tiſche Konſtellation, beim Reichsvereinsgeſetz und dem Börſengeſetz verſchiedene 
kleine Konzeſſionen machen müſſen; vor allem aber haben ſie es erleben müſſen, 
wie die Liberalen es durchſetzten, daß in der Thronrede bei der Eröffnung des 
preußiſchen Landtags eine gewiſſe Reform des preußiſchen 
Dreiklaſſenwahlrechts verheißen wurde. Soll zunächſt auch eine 
gründliche, mehrere Zahre er fordernde Vorbereitung () 
dieſer Reform ſtattfinden, ſo begreifen die Konſervativen doch, daß eine derartige 
verpflichtende Reformverheißung eine beſtimmte Erfüllung heiſcht, und daß dieſe 
um ſo mehr den liberalen Anſchauungen Rechnung tragen wird, je ſtärker ſich der 
Einfluß und die Stellung der Liberalen im Block geſtaltet. Irgend etwas von ihrer 
Machtſtellung aufzugeben, find aber die Konſervativen durchaus nicht bereit; und 
ſo ergab ſich für ſie die Aufgabe, die Poſition der Liberalen im Block mit allen 
Mitteln zu ſchwächen und zugleich der Regierung zu beweiſen, daß ſie ſich als den 
Herrn der Situation betrachte und nicht gewillt ſei, zugunſten des Blocks ſich ihre 
Herrſchaftsſtellung im preußiſchen Staat irgendwie einſchränken zu laſſen. 

Die Gelegenheit, der Regierung diefe Abſicht nachdrücklichſt zu de- 
monſtrieren, bot der Sydowſche Finanzreformplan. Die Agrarkonſervativen leg- 
ten ſofort Proteſt gegen den Verſuch ein, den ländlichen Grundbeſitz zur Erbichafte- 
ſteuer heranzuziehen, und als trotzdem die Regierung ihr Nachlaßſteuerprojekt nicht 
fallen ließ, begann eine wüſte demagogiſche Agitation des Junkertums und feiner 


æurmers Tagebuch * 359 


im Bund der Landwirte organiſierten bäuerlichen Gefolgſchaft gegen das ‚un- 
fehlbar zum Ruin führende Witwen- und Waifenbefteue- 
rungsgeſetz'. Der Regierung follte gezeigt werden, daß noch der Wille des 
Suntertums in Preußen-Deutfchland entſcheidet, und daß es nicht im geringſten 
gewillt fei, ſich Geſetze aufzwingen zu laffen, die feinem Machtintereſſe wider- 
ſprechen.“ 

Warum dann erft die verlogene Phraſe von der ruinöſen „Witwen und 
Waiſenbeſteuerung“, warum die triefend heuchleriſche von dem bedrohten „deut- 
ſchen Gemüt“ und „deutſchen Familienleben“? Das Organ des Bundes der Land- 
wirte erklärt jetzt klipp und klar: „Ehe der Block zuſammengeſchmiedet wurde, 
hat der Vertreter der preußiſchen Regierung im Abgeordnetenhauſe erklärt, daß 
eine Anderung des Landtagswahlrechtes nicht erfolgen ſolle. Dieſe Erklärung war 
auch ſo ſelbſtverſtändlich wie nur möglich, weil erſt vor kurzer Zeit eine Novelle 
zum Landtagswahlgeſetze eingebracht und angenommen worden war. Nachdem 
der Block ſeine Tätigkeit begonnen hatte, wandelte ſich das Bild. Es wurden in 
verſchiedenen Tonarten zeitgemäße Reformen des Wahlrechtes zum Abgeordneten 
hauſe in Ausſicht geſtellt. Die Verſprechungen wurden immer greifbarer und ftär- 
ker, bis ſie ſchließlich ihren feierlichen Niederſchlag in der Thronrede fanden. Das 
geſchah, obwohl die rechtsſtehenden Politiker in Ubereinſtimmung mit der Regie- 
rung mehrfach bekundet hatten, daß eine grundſätzliche Anderung des Vahlrechtes 
weder nötig noch zweckmäßig (1) fei. Nun ſucht man uns ja damit zu tröſten, daß erft 
gründliche Vorarbeiten gemacht werden ſollen, und daß man niemals Anderungen 
vorſchlagen werde, durch die der Beſtand des Staates gefährdet werden könnte. 
Aber die Regierung kann fih und uns nicht darüber täuſchen, daß fie eine be dauer- 
liche und bedenkliche Wandlung in den Grundſätzen vor- 
genommen hat. Die Wahlrechtsänderung, mag ſie geſtaltet werden wie ſie will, 
wird doch einen Schritt zur Demokratiſierung des preußiſchen 
Staates bedeuten; und dieſen Schritt den Konſervativen dem Blocke zuliebe 
zuzumuten, war und iſt ein ſtarkes Stück.“ 

So kann nur einer ſprechen, der ſich in der Macht fühlt, dem die Miniſter — 
„ſonſt was können“. Armer Bülow! Das ift der Dank für den agrariſchen Leichen- 
ſtein! 

„Bülow“, ſchrieb ſchon vor einiger Zeit die „B. Z. a. Mittag“, „trat mit ſeinem 
Amte mitten in die Anarchie hinein, die durch die Kanalvorlage geſchaffen war. 
Der allmächtige Mann war Miquel, Tagesheiliger der Agrarier und Hinterfront- 
marſchall der Ranalfreunde. — ‚Die Agrarier wären Efel, wenn fie den Kanal be- 
willigten.‘ — Es war bekannt, daß Bülow und Miquel von jeher einander nicht 
ausſtehen konnten, aber während Bülow vergebens mehrfach um gut Wetter an- 
klopfte, machte ſich Miquel ein Vergnügen daraus, dem neuen Premierminiſter 
die ganze höhere Bureaukratie aufſäſſig zu machen. Als im Frühjahr 1901 Bülow 
dem Oberprdfidenten v. Bethmann-Hollweg das Miniſterium des Innern anbot, 
ſtellte dieſer hohe politiſche Beamte die Bedingung, daß der Landtag wegen der 
neuen Kanalvorlage nicht etwa aufgelöſt werden dürfe. Die Geſchichte wurde 
dann obenein noch durch Miquel in die Preſſe lanciert, als Beweisſtück, wie wenig 


360 Zürmers Tagebuch 


man ſich um die Autorität des Miniſterpräſidenten kümmere. — Inzwiſchen, noch 
ehe die neue, arg verſtümmelte Kanalvorlage angenommen war, wurde P o d- 
bielski Landwirtſchaftsminiſter, febr gegen den Willen 
Bülo ws. „Ich werde mir doch nicht mit dem Lauſekanal vor den Bauch ſtoßen 
laſſen. Schließlich mußte Bülow nod obenein die demütigen de Aufgabe 
übernehmen, die von Hohenlohe gemaßregelten politiſchen Ve- 
amten, die an der erſten Kanalniederlage mitgewirkt hatten, in neue und zwar 
höhere Stellen zu placieren. Das war das Debüt. 

Kein Wunder, daß man in der ganzen Beamtenhierarchie erkannte, was die 
Glocke geſchlagen hatte. Man hielt fih nich t mehr an die Regierung, ſondern 
an die regierende Parte i, und das war die konſervative mit dem ftar- 
ken Rückhalt, den der Bund der Landwirte ihr bot. Selbſt Herr Möller, der 
Nationalliberale, begann, kaum Handelsminiſter geworden, den Spuren Miquels 
zu folgen, hielt fih an die Kanalfrondeure und flirtete mit den FJunkern. Als dann 
ſpäter Herrn v. Podbielski das Meſſer feines Induſtrialismus an der Kehle fah, 
da war es die wohlerprobte Hand feiner agrariſchen Freunde, die ihn vor dem 
Schickſal rettete, für das er reif war. 

Auf dieſem Untergrunde kann der Bülowſche Plan einer tonfervativ-liberalen 
Paarung als ein Verſuch angeſehen werden, ſich aus einer Situation zu retten, 
die ihn zum Spielball der Bureaukratie und des Agrarfeudalismus machte. Aber 
auch dieſer Verſuch mißlang; nicht einmal das von den Liberalen ſtürmiſch begehrte 
Sühneopfer des Minijters Studt konnte er aus voller Hand darbringen, noch weni- 
ger iſt es ihm geglückt, ſeinen Beamtenapparat bis zu den Landräten hinab für die 
neue politiſche Konſtellation zu gewinnen. Man darf eher annehmen, daß der 
Zwang, ſich einer Rolle zu fügen, die ihnen innerlich durchaus nicht behagt, ſie 
gegen die liberalen Intentionen des ‚Chefs‘ noch animoſer gemacht hat, als fie 
ohnehin gegen den Liberalismus geſtimmt waren.“ 

Man wird ſich über die ganze Situation ſofort klar, wenn man nur vergleicht, 
daß die Konſervativen Bülow als von ihren Gnaden anſehen, während 
die Liberalen ſich ſelbſt als vb o n Bülows Gnaden betrachten. „Dem deut- 
ſchen Bürgertum“, ſchrieb das „Wiesbadener Tageblatt“, „fehlt es am Mark, an 
dem Gefühl, daß gerade das Bürgertum eigentlich den Staat repräſentieren und 
daß deshalb das ganze Staatsweſen ſich um ſeine Wünſche drehen muß, wie die 
Tür um die Angel. ... Was im Reichstag auf den Bänken der Freiſinnigen fist, 
ijt ſich viel zu ſehr feiner Geringfügigkeit und Bedeu 
tungsloſigkeit bewußt. Das erſtirbt in Ehrfurcht vor einem 
bunten Winiſterfrack, vergeht in Wonne vor einem Ordensbändchen und ift felig, 
wenn das Wörtchen ‚von‘ ihm auch einen Schein von dem Abglanze der Adels- 
Haffe zuwirft. ... Die Freiſinnigen hat Bülow ſtets vor den Kopf geſtoßen. 
Er hat ſtets gegen ſie Politik gemacht, oft in ſehr ſchroffer Form. Wenn er aber 
in Not iſt und ruft, da können ſie der Sirenenſtimme nicht widerſtehen. Alle ihre 
Grundſätze, all ihre Reputation ſinken ihnen in die Hoſen, wenn ihnen Bülow die 
Wangen ſtreichelt. Als im vorigen Sabre Dr. Müller Meiningen in 
der Fraktionsſitzung die Freiſinnigen zur Nachgiebigkeit beim Sprachenpara- 


Zürmers Tagebuch 361 


graphen überredete, da hat er faft Tränen vergoſſen, fo rührend hat er 
Bülows Werben um die Freiſinnigen geſchildert, fo wehmutsvoll wußte er di e 
flehenden Blicke Bülo ws wiederzugeben, die Bülow unter dem 
Bilde Wilhelms II. auf ihn gerichtet hatte. Die Herren Freiſinnigen 
find eben den Verkehr mit Miniſtern nicht gewöhnt. Sie ſehen in ihnen wer weiß 
was für obrigkeitliche Organe, die fie nicht im Stich laffen dürfen. Bebienten- 
haftigkeit, Lakaienhaftigkeit! nennt man ſolches Verhalten. Ehe das nicht gründ- 
lich aus allen Herzenskammern des freiſinnigen Bürgertums ausgefegt worden 
ift, eher erhalten wir in Deutſchland kein modernes Staatsweſen.“ 

Und wenn das liberale Bürgertum mal was errungen hat, wem kommt's 
zunächft zugute? „Wem gehört die Volksſchule?“ fragt Naumann in der „Hilfe“. 
„Wer beſetzt die öffentlichen Stellen? Wer verteilt die Wahlkreiſe? Wer benutzt 
den Parlamentarismus zur Steigerung ſeiner Renten? Kurz, wer ſpielt auf dem 
Klavier des liberalen Staates? Es ſpielen die unliberalen Gewalten! Das iſt, 
wenn man die Sache grob darſtellen will, die bisherige Erfahrung. Von da aus 
machen ſich nun alfo mancherlei Freunde die Sorge, daß bei Erweiterung der par- 
lamentariſchen Befugniſſe, die durch die Kaiſerkriſis von ſelbſt kommen wird, nur 
die alten Mächte deſto trotziger und feſter werden. Dem widerſpricht auch nicht, 
daß heute die Konſervativen fih als Gegner der parlamentariſchen Rechtserweite- 
rung aufſpielen, denn ſo haben ſie es immer gemacht: erſt waren ſie gegen den 
Rechtsfortſchritt, ſobald er aber einmal vorhanden war, haben fie ihn benutzt. Got 
waren fie gegen das Deutſche Reich, als es aber dann doch entſtanden war, benutz⸗ 
ten fie es als ihr Jagdgebiet. Erft waren fie gegen Bauernbefreiung, nachdem aber 
einmal der Bauer frei geworden iſt, tun ſie ſo, als ſeien ſie ſeit Ewigkeit ſeine Freunde 
geweſen. Heute ſind die Konſervativen gegen die Geſchäftsordnungsverbeſſerung 
des Reichstages und gegen Winiſterverantwortlichkeitsgeſetz, [pater — werden fie 
auch auf dieſen Inſtrumenten zu blaſen verſuchen. 

Das alles iſt in der Tat fot Wenn wir heute in Deutfd- 
land parlamentariſches Regiment hätten, würde es 
fonfervativ-tlerital fein. Nur foll man deshalb nicht verzweifeln 
und die Hände in den Schoß legen. Die Welt iſt rund und will ſich drehen, das 
heißt: die Zeit, wo die konſervativen Gedanken ſteigend waren, iſt entweder ſchon 
an ihrem Ende oder wird fidh ibm bald nähern. Das eben ift der Unterſchied zwiſchen 
monarchiſchen Gewalten und Parteigewalten, daß die letzteren einem ſtärkeren 
Wechſel unterworfen find. Auch konſervative Parteien haben Flut und Ebbe. 
Die tonfervativ-tlerifale Flut ſetzte etwa im Fahre 1876 ein und ſtieg bis zu den 
Handelsvertrdgen von 1903. Von da an ſcheint fie zu ſtehen. Es iſt denkbar, daß 
jie ziemlich lange hoch ſteht, aber irgendeinmal fintt das Waſſer, und zwar im An- 
fang ganz unmerklich, und erft ſpäter ſchneller, wenn das Sinken erft bis ins all- 
gemeine Bewußtſein gekommen iſt. So hat es der Liberalismus zwiſchen 1873 
und 1884 erlebt, ſo werden es vorausſichtlich nun die rechtsſtehenden Parteien 
durchmachen. Von einem gewiſſen Zeitpunkt an läßt ſich nämlich keine Partei- 
agitation mehr ſteigern, ohne in Abſonderlichkeiten und Übertreibungen hinein- 
zugeraten. Schon der heftige Kampf gegen die Erbſchaftsſteuer ift vom konſerva⸗ 


362 Tismers Tagebuch 


tiven Standpunkt aus nicht ebenfo ſelbſtverſtändlich, wie es vorher der Kampf für 
die Zölle war. Und trotz aller feierlichen Proteſte ijt noch lange nicht geſagt, daß 
nicht viele Ronjervative für diefe Steuer ſtimmen werden. So beginnen die Ab- 
flutungen: der eine Teil übertreibt, und der andere Teil macht das nicht mit. Und 
auch im Zentrum ift nicht für alle Zeiten eine Garantie gegen Abflutung vorhan- 
den. Alles geht dort langſamer, ſtiller und vorſichtiger, aber den allgemeinen menich- 
lichen Geſetzen des Wachſens und Sinkens ift auch dieſer feſteſte deutſche Partei- 
körper nicht entzogen. 

Wenn alſo auch zunächſt noch alle parlamentariſchen Fortſchritte der rechten 
Seite dienen mögen, fo foll man nicht fo tun, als fei das unabänderlich. Die Volks- 
ſtimmung kann febr bald einmal der deutſchen Linken günſtig fein. Dann erft wird 
es ſich fragen, ob dieſe Linke als Ganzes etwa ebenſoviel Kraft beſitzt, wie heute 
die Rechte. Hier liegt, wie wir ſchon im Anfang ſagten, der ſpringende Punkt. 
Die Zeiten werden ſchon von ſelber wieder günjtig, aber zu den Zeiten gehören 
die Menſchen. Heute bietet die deutſche Linke ein Bild grenzenloſer Serfabren- 
heit: Sozialdemokratie, Demokratie, Freiſinn, Nationalliberalismus, alle denken 
an ſich und ſtoßen ſich untereinander. Was die Sozialdemokratie an Beſchimpfung 
der Liberalen leiſtet, iſt gerade jetzt in Berlin ſehr ſtark, aber man muß zugeben, 
daß auch ihr gegenüber nicht immer korrekt verfahren wird. Ein Teil ſteigert den 
andern in ſeiner Verbitterung. Das mag als notwendige Begleiterſcheinung des 
parteipolitiſchen Kampfes ums Oaſein gelten, ſolange doch nichts Größeres zu ge- 
winnen iſt. Von da an aber, wo Ausſichten auf gemeinſame politiſche Macht ſich 
öffnen, müſſen dieſe Querelen vergeſſen und abgeworfen werden können. Ob 
aber das möglich fein wird, ob es bei ſteigender liberaler Flut eine ſteigende Organi- 
ſationskraft der deutſchen Linken geben wird, das iſt die eigentliche Zukunftsſorge. 
Es finden ſich in allen Teilen dieſer Linken zu viele, allzu viele, die an wirkliche 
Machtgewinnung nicht glauben und nur räſonnieren wollen. Das iſt ja auch etwas 
menſchlich Verſtändliches, nur iſt es, politiſch betrachtet, ein zweckloſes Vorgehen. 
Gewiß hat jeder Menſch einmal das Bedürfnis, fein volles Herz auch der nächſt⸗ 
ſtehenden Gruppe gegenüber tüchtig auszuſchütten, aber was hilft es — arbeiten 
muß er dann doch mit denſelben Leuten, alfo ijt es beffer, wenn er fih von vorn- 
herein etwas mäßigt, damit ein Zuſammenwirken möglich bleibt. Das gilt für alle 
Teile vom radikalen Sozialdemokraten bis zum Nationalliberalen. Solange zwiſchen 
Bebel und Baſſermann ſich nichts ausdehnt als eine Arena des Unfriedens, ſo lange 
werden allerdings alle Fortſchritte des Parlamentarismus der rechten Seite zu- 
gute kommen, aber eben nur — ſo lange.“ 

Jedenfalls ſteuern die Konſervativen zurzeit einen Kurs, bei dem ſelbſt 
überzeugten Mitgliedern der Partei angſt und bange wird. Ein ſolches ſchreibt 
an die „Tägliche Rundſchau“: 

„Die konſervative Partei wurzelt im preußiſchen Oſten — das iſt 
ihre Stärke, aber auch ihre Schwäche. Aus Preußen wurde Deutſchland, und man 
kann und darf nicht deutſche Parteipolitik aus provinziellen Geſichtswinkeln machen. 
Innerhalb der konſervativen Partei gibt es gewiß weitblickende und kluge Poli- 
tiker, aber leider ſcheint es, daß ihnen die Zügel der Parteileitung 


Zürmers Tagebuch 363 


entglitten find. Dadurch drängt die konſervative Partei in eine viel ge- 
fährlichere Kriſis hinein, als es die Finanzkriſis an ſich iſt. 

Nicht in dem Streit um die Erbſchaftsſteuer, ſondern in dem Streit um das 
preußiſche Landtagswahlrecht liegt in letzter Linie die Schwierig- 
keit unſerer inneren Politik. Der Ausfall der Landtagswahlen war für die Ron- 
ſervativen z u günſti g. Sie haben daraus ein geſteigertes Machtbewußtſein ge- 
zogen und halten es jetzt für ihre wichtigſte Aufgabe, die Reform 
des Landtagswahlrechts zu hintertreiben. 

Die Thronrede hat bei der Landtagseröffnung die Reform des Landtags- 
wahlrechts in ſichere Ausſicht geſtellt. Seitdem hat Fürſt Bülow die Gunſt der 
äußerſten Rechten verloren. Sie ijt kurzſichtig genug, zu glauben, daß nach dem 
Sturze Bülows die Reform des Wahlrechts hintertrieben werden kann, während 
fie dann wahrſcheinlich nur um fo radikaler erfolgen wird. ... In dieſem Sinne ift 
der Kampf gegen die Nachlaßſteuer nicht Selbſtzweck, 
ſondern Mittel zum Zweck. Tatſächlich kommt es dieſen Kreiſen — mit 
denen aber die konſervative Partei als ſolche nicht identifiziert werden darf — vor 
allem darauf an, die Reichsfinanzreform nicht mit dem Block zu machen. 
Denn, fo rechnet man, erſtrebt der Block fih das Verdienſt der Reichsfinanzreform, 
jo präfentiert die Linke die Rechnung dem preußiſchen Landtag. Deshalb der Wunſch, 
das Zentrum heranzuziehen! Im preußiſchen Oſten fühlt ſich das Agrariertum aus 
eigener Kraft ſtark genug, in Schleſien iſt das Zentrum konſervativ und eine Stütze 
der Konſervativen. Im Bunde mit dem Zentrum iſt in Preußen eine kon- 
ſervative Regierungspolitik denkbar — im Reich aber 
nicht. Das zu überſehen, iſt der ſchwere und verhängnisvolle Fehler dieſer im 
preußiſchen Abgeordnetenhauſe wurzelnden konſervativen Politik. 

Das Reichstags-Zentrum ift andersartig als das Landtags-Zentrum. Mit 
Porſch kann man konſervative Politik machen, doch nicht mit Schädler und Erz- 
berger. Die preußiſche Politik aber wird im Reichstag entſchieden. Hier war es 
der Block, der den Konſervativen einen maßgebenden Einfluß, eine ausichlag- 
gebende Stellung zurückgewann. Mit dem Ende des Blocks findet das fein Ende. 
Nur wenn die Blockparteien zuſammenhalten, können ſie die Sozialdemokratie 
niederhalten. Würde jetzt der Reichstag aufgelöſt, fo würde der Haß zwiſchen Agra- 
riern und Liberalen ſo groß ſein, daß bei den Stichwahlen die Genoſſen durch- 
dringen. So gibt die tonfervative Partei um des preußiſchen Land- 
tags willen den Deutſchen Reichstag preis. Die Wieder- 
erſtarkung der Sozialdemokratie, die Rückkehr des Zentrums in die ausſchlag⸗ 
gebende, alles beherrſchende Stellung, das iſt die Schuld der Konſervativen. 

Die Wirkung im Lande aber wird diefe Schuld ſchwer rächen. Die tonjerva- 
tive Partei wird und muß zu einer bedeutungsloſen Gruppe 
öſtlicher Agrarier herabſinke n, bis auch die Landbevölkerung merkt, 
wohin der Weg führt — dann geht es mit den preußiſchen Altkonſervativen voll- 
ends zu Ende. | 

Zunächſt wird das Fallenlaſſen der Erbſchaftsſteuer eine ſchwere Belaſtung 
des kleinen Beſitzes zur Folge haben, fei es nun, daß irgendeine Wertzuwachs und 


364 | Zürmers Tagebuch 


Umſatzſteuer für Immobilien zuſtande kommt, oder daß nach Erhöhung der Matri- 
kularbeiträge die Ergänzungsſteuer in Preußen verdoppelt wird. Damit lebt der 
Gegenſatz zwiſchen Klein- und Großgrundbeſitz wieder auf. Sodann wird die 
öffentliche Meinung es den Konſervativen niemals vergeſſen, daß durch ihre Schuld 
Zentrum und Sozialdemokratie wieder in die Höhe kamen und der nationale Auf- 
ſchwung von 1907 begraben wurde, — eine Erſtarkung der Liberalen ift die not- 
wendige Konſequenz. Würden heute in Preußen Landtagswahlen vorgenommen, 
jie würden zu einem anderen Ergebnis führen als 1908. Heute würden die Ron- 
ſervativen das Feld nicht ſo leicht behaupten und ſchwere Verluſte erleiden. 

Handelt es ſich aber um einen Kampf nicht um die Finanzreform, ſondern 
um das Wahlrecht, ſo könnte die konſervative Fronde leicht das Gegenteil von dem 
erzielen, was ſie im Auge hat. 

Der Reichstag kann nicht aufgelöſt werden, weil ſonſt die Sozialdemokratie 
einen Sieg ſondergleichen und mit den unheilvollſten Wirkungen davontrüge. 
Aber der Auflöſung des Abgeordnetenhauſes ſteht nichts 
im Wege. Bei einer gründlichen Änderung der Verwaltung würden die 
konſervativen Hochburgen im Often unſchwer zu nehmen fein. Wenn die Regie- 
rung ernſtlich will, läßt ſich alſo der Widerſtand der Konſervativen des Reichstags 
im preußiſchen Landtag brechen. Das geheime Wahlrecht iftim Land- 
tag durchzuſetzen, im Abgeordnetenhauſe mit Hilfe des Zentrums, im Herren- 
hauſe mit Hilfe eines Pairsſchubs — und dann wird die konſervative Partei den 
Blockverrat und die Vereitelung der Reichsfinanzreform zu ſpät bereuen. Dann 
würden fidh die Vorgänge der ‚neuen Ara“ wiederholen, nur mit dem Unterſchied, 
daß der Liberalismus vielleicht nicht die Fehler der ſechziger Fabre nachmacht, 
und daß dann entſprechend der Geſamtentwicklung des Deutſchen Reiches der heut 
übermäßig ftarte agrariſch- feudale Einfluß dauernd zurück- 
gedrängt wird. 

Die konſervative Partei ſpielt ein gewagtes Spiel. Zm eigenen Lager 
wächſt der Unwille über die Haltung der Partei. Die Beamtenſchaft, der 
ſtädtiſche Mittelſtand, die Intelligenzen auf dem Lande, alfo die feſteſten Stützen 
der konſervativen Partei fallen ab. Kann der ‚Bund der Landwirte“ dafür einen 
Erſatz bieten?“ 

Agitationserfolge ſeien Augenblickserfolge, in den Verſammlungen ſtimme 
man leicht Reſolutionen zu, aber wenn es hart auf hart kommt, wenn die Regierung 
an den Patriotismus appelliert, wenn alle die einflußreichen Stellen, die bis- 
her für den Bund der Landwirte wirkten oder ihn gewähren ließen, umgekehrt 
feindliche Stellung nehmen, dann werde diefe Organiſation durch die Schuld ihrer 
Führer zugrunde gehen. Doch auch geſtützt durch den Bund der Landwirte könne 
eine von einer ſtarken Regierung bekämpfte konſervative Partei ſich nicht behaupten, 
ſie werde aus ihren eigenen Reihen heraus zur Umkehr gezwungen werden. aber 
dann könne es zu ſpät ſein. 

„Die Parteiverblendung“, ſchließt der konſervative Verfaſſer, „iſt ſo groß 
geworden, daß die konſervative Partei den Maßſtab ruhiger Erwägung verloren 
zu haben ſcheint und lieber eine Kriſis von unberechenbaren Folgen heraufbeſchwört, 


Zürmers Tagebuch 365 


als daß fie rechtzeitig im vaterländiſchen Intereſſe nachgibt. Damit hat die ton- 
fervative Partei den Boden ihrer beſten Überlieferungen ver- 
Laffen. Von der Reichsfinanzreform von 1909 wird der Niedergang der ton- 
ſervativ-agrariſchen, heut' ſo mächtigen Partei den Ausgang nehmen.“ 

Das alſo iſt die Meinung eines „angeſehenen konſervativen Politikers“. 
Mir ſcheint, daß fie die Lage fo ſcharf beleuchtet, wie das bei einem ausgefproche- 
nen Part e i ſtandpunkte nur immer möglich ift. 

* 


Bedeutſam iſt das Zugeſtändnis des konſervativen Politikers, daß der „agra- 
riſch-feudale Einfluß“ heute „übermäßig ſtark“ bei uns iſt. Kann man darin auch 
ganz gewiß keine neue Entdeckung finden, fo doch ein dankenswertes, weil un- 
anfechtbares Zeugnis. Auf dieſen Einfluß iſt es zum größten Teil zurückzuführen, 
daß auch bei ſonſt ſehr dankenswerten Reformen ſtets ein ataviſtiſches Appendix 
mit eingeſchmuggelt werden ſoll. Man könnte es die reaktionäre Appendizitis 
nennen. Die aus dem großen Reformwerke der Regierung abgelöſte Teilvorlage 
zum Strafgeſetzbuch des Deutſchen Reiches kann nun niemand freudiger und dant- 
barer begrüßen als der Türmer, da er ſelbſt angeregt hat (X. Jahrg., Heft 7, 
S. 96—98), mit den ſchlimmſten, von allen Parteien gleichmäßig preisgegebenen 
Notſtänden nicht erſt bis zum „großen Reinemachen“ zu warten, ſondern ſie aus 
der Geſamtreform vorwegzunehmen und auf dieſe Weiſe früher zu beſeitigen. Es 
handelte ſich hauptſächlich um die teils unzulänglichen, teils unmenſchlich harten 
Beſtimmungen über Kinder- und Tierſchutz auf der einen und über Eigentums- 
vergehen aus Not und im Rückfall auf der anderen Seite. Dieſen unerträglich 
gewordenen Rückſtänden will nun die Regierungsporlage Rechnung tragen, fie hat 
aber noch einige andere Beſtimmungen damit verkuppelt, von denen die über B e- 
ſchränkung des Wahrheitsbeweiſes und Erhöhung der Geldſtrafen und 
Bußen bei Beleidigungsklagen die allerſtärkſten Bedenken hervorrufen. 

„Für die öffentliche, namentlich die in der Preſſe vorgebrachte Behauptung 
ehrenrühriger Tatſachen“, fo fegt fih Wolfgang Heine im „März“ mit der Vorlage 
auseinander, „ſollen künftig die Geldſtrafen bis auf zehntauſend, die Bußen bis 
auf zwanzigtauſend Mark für jeden Fall normiert werden können, während jetzt 
die Maximalbeträge fünfzehnhundert und ſechstauſend Mark ſind. Die höchſte 
Gefängnisſtrafe von zwei Jahren ſoll beſtehen bleiben; es wäre auch lächerlich, ſie 
noch zu verſchärfen, denn ſie kommt ſchon in dieſer Höhe nie zur Anwendung. 

Man ſieht, worauf der Vorſchlag hinausläuft: Zeitungen follen durch un- 
geheure Geldſtrafen und Bußen ruiniert werden. Natürlich würde das nur 
politiſche Oppoſitionsblätter treffen. Die Revolverpreſſe 
weiß ſchon durch Schiebungen dafür zu ſorgen, daß der Gerichtsvollzieher nichts 
vorfindet. Die ‚gutgeſinnte“ Preſſe braucht fih auch nicht zu fürchten; fie könnte 
noch fo dreiſte Verleumdungen über ihre politiſchen Gegner verbreiten, ohne emp- 
findliche Strafen zu erhalten. Ein konſervatives Schmähblatt, das einen fogtal- 
demokratiſchen Reichstagsabgeordneten frivol bezichtigt hatte, Sch mier gelder 
zu nehmen, kam in Berlin mit der Bagatelle von zweihundert Mark 
davon, während ſozialdemokratiſche Redakteure, wenn ſie einen Nachtwächter, 


366 Zürmers Tagebuch 


einen Soldaten oder gar die Richter beleidigt haben, manchmal auf viele Monate 
ins Gefängnis wandern. 

Schon heut' ift die Anklage wegen ‚Beleidigung‘ das Mittel, womit Bureau- 
kratie, Militarismus und die herrſchenden Klaſſen jede furchtloſe Kritik öffentlicher 
Übelftände zu unterdrücken ſuchen, und leider oft nicht ohne Erfolg. Bom freien 
deutſchen Wort iſt bei uns nicht mehr viel zu ſpüren. 

Das Recht der Preſſe, Mißſtände in Staat und Geſellſchaft zu rügen, wird 
immer mehr beſchnitten; eine Reichsgerichts entſcheidung ſtellt kurz- 
weg die Bureaukratie außerhalb der öffentlichen Kritik 
mit der Begründung, daß für die Bekämpfung von Übelftänden in der Verwaltung 
der Inſtanzenzug (h gegeben fei. (Bravo, löbliches Reichsgericht! Aller- 
hand Hochachtung! D. C.) 

Was not täte, wäre doch eine Befreiung von dieſen unwürdigen Feſſeln, 
nicht neue Knebelgeſetze. Der Regierungsentwurf begnügt fih aber nicht damit, 
die Strafen für unbequeme Kritiker maßlos zu erhöhen, ſondern will dem Ange- 
klagten auch noch den Wahrheits beweis abſchneiden, um den zu 
ſchützen, der eine Kritik zu fürchten hat. Die Novelle will bei einer öffentlich oder 
durch Verbreitung von Schriften, Abbildungen oder Darftellungen begangenen 
Beleidigung die Beſtrafung ohne Rüdfiht auf die Erweislichkeit der Tatſache ein- 
treten laſſen, wenn dieſe lediglich Verhältniſſe des Privatlebens betrifft, die das 
öffentliche Intereſſe nicht berühren. Eine Beweisaufnahme foll nur mit Suftim- 
mung des Beleidigten zuläſſig ſein, die Erbringung des Beweiſes ſoll aber nicht 
vor Strafe ſchützen. 

Der Urſprung ijt natürlich der Streit Hardens gegen Moltke und 
Eulenburg. Empfindſame Seelen fließen über von Mitleid für die bloßgeſtellten 
Höflinge. Maliziöſe Leute denken bei dem ſtaatsretteriſchen Pathos an die Worte 
des Wurſthändlers in Ariftophanes’ Rittern otxovy oe Ara Tatra dewdy gore 
moaxtotnoely ; die Preſſe doziert moraliſierend: ‚La vie privée doit être murée.‘ 

Sofort benutzt die Bureaukratie diefe Stimmung, um ein Ausnahm e- 
geſetz gegen die öffentliche Kritik überhaupt herauszu- 
ſchlagen, das ſie ſchlau in einige populäre Gaben einwickelt. 

Der verlangte Schutz des Privatlebens läuft auf einen Schutz begünſtigter 
Kreiſe vor unangenehmen Erörterungen, die angebliche geſetzliche Regelung auf 
neue Willkür hinaus, woran unſer Recht doch wahrlich ſchon reich genug iſt. 

Das Gericht hat es völlig in ſeinem Belieben, ob es annehmen 
will, daß eine Behauptung lediglich Verhältniſſe des Privatlebens betreffe 
und das öffentliche Intereſſe nicht berühre, oder ob es fih auf den entgegengejek- 
ten Standpunkt ſtellen will. Wir wiſſen, wie widerſpruchsvoll der Begriff des 
„öffentlichen Snterejjes‘ gehandhabt wird. 

Sit es eine Frage ‚lediglich des Privatlebens“, ob ein Mann, der öffentliche 
Amter einnimmt und das Vertrauen ſeiner Mitbürger beanſprucht, unſaubere 
Geſchäfte macht oder ſchlechten Leidenſchaften frönt? — Nach meiner Anſicht be- 
rührt dies das öffentliche Intereſſe ſehr ſtark; aber die preußiſchen Staatsanwälte 
und der Suftigminifter verneinten bei der ſchon erwähnten Verleumdung eines 


Zürmers Tagebuch | 367 


ſozialdemokratiſchen Reichstagsabgeordneten das öffentliche Intereſſe. Das gibt 
einen deutlichen Fingerzeig, wie man auch das neue Geſetz anwenden kann. Da- 
mals freilich galt es, zu motivieren, weshalb der ſtaatserhaltende Verleumder von 
der Anklage von Amts wegen verſchont blieb, Dem Abgeordneten aber 
der Rechtsſchutz verſagt wurde, den jedes Mitglied eines 
Kriegervereins in Kuhſchnabbel genießt. Mit derſelben Begründung aber 
wird man künftig der Preſſe die Möglichkeit abſchneiden, die Integrität von Beamten 
oder Politikern zu prüfen und ſcheinheilige Geſinnungspfaffen zu entlarven. 

Luſtig wird das in Prozeſſen wegen Beleidigung von Beamten und andern 
Begünftigten des herrſchenden Regiments werden. Iſt einem Nachtwächter nach- 
gejagt worden, daß er gern eins tränke, oder einem Moralzeloten, daß er auf Liebes- 
pfaden betroffen worden ſei, ſo wird dies nach Meinung der Staatsanwaltſchaft 
das öffentliche Intereſſe hinreichend berühren, um Offizialanklage zu erheben; 
dieſelbe Staatsanwaltſchaft wird dann aber der Zulaſſung des Wahrheitsbeweifes 
des Angeklagten widerſprechen, weil die Behauptung „lediglich das Privatleben“ 
betreffe und das öffentliche Intereſſe nicht berühre. 

Auch das Umgekehrte kann ſich ereignen. Iſt ein oppoſitioneller Politiker 
beleidigt, fo wird man ihn wie bisher auf die Privatklage verweiſen, weil das öffent- 
liche Intereſſe fehle; wenn dann aber der Verleumder mit Beweisanträgen kommt, 
vielleicht nur um den Prozeß zu verfchleppen, wird es wieder heißen, die Behaup- 
tung berühre das öffentliche Intereſſe und erfordere eingehende Beweisaufnahme. 

Jedenfalls gibt das Geſetz die Möglichkeit zu ſolchen Ungleichmäßigkeiten, 
es reizt direkt zu einer willkürlichen, parteiiſchen An- 
wendung an und muß deshalb korrumpierend wirken, 
wenn ich auch nicht ſagen will, daß es überall und immer ungerecht angewendet 
werden würde. 

Daß die Revolverpreffe mit ihren Orohungen viel Übles ſtiftet, und daß es 
gut wäre, ihr das Handwerk zu legen, verkenne ich nicht. Aber ich glaube nicht, 
daß das Geſetz viel dagegen helfen würde. Wer die Erpreſſer zu fürchten hat, der 
ſcheut fih vor ihrer Beröffentlichung, nicht vor dem nachfolgenden Pro- 
zeß, der erft ſtattfände, wenn das Unheil ſchon vollendet wäre. Wer im Beleidi- 
gungsprozeß den Wahrheitsbeweis verbietet, wird immer neuem Verdacht und 
neuen Angriffen der Revolverjournaliſten ausgeſetzt fein. Kann man diefe Halun- 
ken aber einmal packen, ſo reichen die Strafen des heutigen Geſetzes ſchon aus, 
dem einzelnen das Geſchäft zu verleiden. | 

Soweit alfo ein wirklicher Mißſtand vorliegt, würde das Geſetz wirkungslos 
und unnötig ſein. 

Für die ernſthafte Kritik jedoch bedeutet es eine große Gefahr. 

Achtung vor dem Privatleben! — Gut! — Ich wäre der letzte, der einer 
Verquickung des politiſchen Kampfes mit niedrigen Angriffen auf das Privat- 
leben der Gegner das Wort reden möchte. . .. Indeffen auch die loyalſte politiſche 
Agitation kann nicht unbedingt vor dem Privatleben haltmachen. Zn einer Zeit, 
wo das Staatsweſen in alle privaten Verhältniſſe eingreift, wo umgekehrt der Pri- 
vatmann Träger der öffentlichen Rechte und Pflichten wird, laffen fih viele Bor- 


368 | Zürmers Tagebuch 


gänge, die an fidh privaten Charakter tragen, nicht mehr völlig von den Intereſſen 
der Öffentlichkeit trennen. 

Es muß dem Takt der Preſſe überlaſſen bleiben, hier die richtigen Grenzen 
zu ziehen und ſich von jeder kleinlichen, unſauberen Schnüffelei fernzuhalten. 
Geſetze können darüber nicht entſcheiden, die ungeſchickten Finger der Bureau- 
kratie können nur Unheil anrichten, wenn ſie dieſe feinen Fäden ſchlichten wollen. 

gde ernſthafter das Intereſſe für wirkliche politiſche 
Aufgaben der Nation würde, je mehr das byzantiniſche Ge 
klatſch über Perſonen verſchwände, je klarer ſich das politiſche 
Leben vor der Öffentlichkeit abſpielte, um fo ſicherer würde das Gefühl dafür wer- 
den, daß öffentliche Erörterungen über das Privatleben allerdings nur ſchicklich 
ſind, ſoweit ſie im Intereſſe des öffentlichen Wohls nicht entbehrt werden können, 
daß dann aber auch keine weichliche Rückſicht auf Perſonen erlaubt ift.“ 

Kaum hatte das Kind das Licht der Welt erblickt, da hatte es auch ſchon fei- 
nen Namen weg: Lex Eulenburg. Verhängnisvoll, nicht für den Lieben- 
berger, der ſicher in ſeinem Schloſſe ſitzt, meint die Berliner Wochenſchrift „Das 
Blaubuch“, — verhängnisvoll für das Volk ſcheine feine Affäre werden zu ſollen. 
Da er nicht beſtraft werden könne, fo hole man — Gerechtigkeit muß fein — wenig- 
ſtens die Preſſe heran. „So kann man, wenn auch die damals ſchon hergerichteten 
Fürſtenzimmer in Moabit Gott fei Dant nicht erft dem Hochgeborenen zur Ber- 
fügung geſtellt zu werden brauchen, doch, vom regierungsfrommen Standpunkt 
aus geſehen, gerne zugeben, daß die preußiſche Juſtiz mit bekannter Regſamkeit 
einen Weg gefunden hat, wie die äußerſt peinliche Sache doch noch zum 
Segen des Vaterlandes ausgebeutet werden kann. Das heißt, wenn 
ich in dem Folgenden vom Fürſten Eulenburg ſpreche, muß ich nun, um über die 
letzten Verhandlungen zur Strafgeſetznovelle im Reichstage reden zu können, 
meiſtenteils „Fräulein Olga Molitor’ fagen. Aber das ift nicht böswillig. 
Auch nicht Revolver, um das gleich vorwegzunehmen. ... Für mich ift der Lieben- 
berger eine abſolut aparte Nummer. Und Fräulein Molitor iſt in meinen Augen 
ein Fräulein, die es nicht verdient hat, bei der Leſung einer Lex Eulenburg über- 
haupt genannt zu werden. ... Aber bei der Debatte der Strafgeſetznovelle ijt es 
nun von maßgebender Stelle eingeführt, nicht mehr Eulenburg, ſondern immer 
Molitor zu ſagen. Und da muß ich ſchon aud... 

Wie fih die geduldigen, lieben deutſchen Reichstagsabgeordneten die Ge- 
ſchichte vom Fürſten Eulenburg jetzt erzählen laſſen: Herr Staatsſekretär Nieber- 
ding: „Ich erinnere an einen Fall, der ſeinerzeit das größte Aufſehen erregt hat. 
Eine ſchutzloſe junge Dame wurde in ihrem ganzen Innen- und Außenleben mit- 
leidslos der Öffentlichkeit preisgegeben. Allerlei böswilliges Gerede wurde vor- 
gebracht. Solche Mißſtände müſſen beſeitigt werden.“ Es ift alfo gleichgültig, 
ob das neue Geſetz, mit dem wir, um einem dringenden Bedürfnis exkluſiwer 
Kreiſe abzuhelfen, beglückt werden ſollen, nun Lex Molitor oder Lex Eulenburg 
heißt. ... 

‚Man hat behauptet, dieſer Geſetzentwurf wäre nur erfunden worden, um 
für künftige Fälle Deckung zu geben, falls wieder Beleidigungsprozeſſe ſchweben 


Farmers Tagebuch 369 


follten, und die gegen hohe und vornehme Perſonen gerichtet find. Nichts hat den 
verbündeten Regierungen bei der Ausarbeitung der Vorlage ferner gelegen als 
dieſer Gedanke.“ Der Trick des neuen Geſetzes iſt der, daß man bei angeblichen Be- 
leidigungen durch die Preſſe es künftighin ganz ins Belieben des Beleidigten ſtellt, 
ob er den Wahrheitsbeweis zulaſſen will oder nicht. Etwa ſo: Harden hält es für 
gefährlich, wenn ausgeſucht ein Rindde vor allen anderen das Vertrauen des 
Kaiſers hat. Er ſchildert die Durchlaucht, die uns gerade nebenregiert, wie fie ift. 
Durchlaucht geruhen den Wahrheitsbeweis nicht zuzulaſſen. Durchlaucht find ge- 
ſund. Durchlaucht regieren weiter, und Herr Harden fliegt ins Gefängnis 
Nur wenn ein öffentliches Intereſſe in Frage kommt, kann das Gericht ſeinerſeits 
in den Wahrheitsbeweis eintreten. Der Staatsſekretär meint darüber: ‚Nach mei- 
ner Meinung wird niemand weniger Vorteil von den Vorſchriften des Entwurfs 
haben als gerade diejenigen, die ſich in vornehmen und hohen Stellungen befinden. 
Denn bei Beleidigungsprozeſſen, die fie betreffen, wird meiſt das öffentliche Inter- 
eſſe in Frage kommen.“ Wer glaubt's? Vorläufig gilt folgendes: Was iſt 
„öffentliches Intereſſe“? Offentlides Intereſſe ift immer, wenn's 
den Regierenden nicht ſchadet. Niemand wird das, was heute ſchon 
in den Gerichten als „öffentliches Snterefje‘ umgeht, irgendwie mit Volksintereſſe 
überſetzen. Alſo Molitor hin, Molitor her. Gerade die Verurteilungen im Falle 
Molitor zeigen, wie heute gerade der anſtändige Journaliſt, der ſich im Eifer des 
Gefechts zu Unüberlegtheiten hinreißen läßt, einem Dieb und Straßenräuber gleich 
für lange Zeit ins Gefängnis geſchickt werden kann. Nicht Fräulein Molitor, die 
fich nur über einen taktloſen Vorſitzenden beſchweren konnte, ſondern Fürſt Eulen- 
burg ſteht hinter dieſem Geſetzentwurf. Nichts iſt der preußiſchen Regierung bei 
dieſem Geſetz gleichgültiger als Fräulein Molitor. Man will für alle Ewigkeit 
gegen einen zweiten Fall Eulenburg geſchützt fein. Alles andere ift Phrafe. ... 

„Aber was wollen Sie, meine Herren? Der ganze Geſetzentwurf geht doch 
nur gegen die Revolverpreſſe.“ Auch das ift Phraſe ... Keine Regierung fürchtet 
die Schmutzblättchen, die der Herr Eiſenbahnminiſter im Unterſchied zu angejehe- 
nen und anſtändigen oppoſitionellen Blättern gern auf ſeinen Bahnhöfen duldet. 
Nein, wenn fie Revolverpreſſe fagen, ift es ganz wie mit Fräulein Molitor, für das 
ſie ſich plötzlich, nachdem ein paar Adelsleute verdientermaßen an den Pranger 
geſtellt ſind, ſo unbändig intereſſieren. Sie ſagen Revolverpreſſe und meinen die 
anſtändige Preſſe, die demokratiſche Prinzipien vertritt. Staatsanwalt und Berufs- 
richter, die unſere Beamten ſind, ſollen fürderhin die Möglichkeit haben, Fürſt 
Eulenburg und feine Nachfolger noch ganz anders zu ſchützen ... Das ift der Sinn 
der Lex Eulenburg, die ſie jetzt mildlächelnd Lex Molitor taufen, und das der 
Grund, warum ſie nicht Wirklichkeit werden darf.“ 

Es iſt in der Tat nicht einzuſehen, wieſo ausgerechnet Fälle wie der des 
Fräulein Molitor ein ſolches Geſetz erheiſchen könnten. Iſt doch die Beleidigung der 
allerdings moraliſch ſträflich mißhandelten Dame ſchon nach dem beſtehenden Ge- 
feke mit einem Jahre Gefängnis geſühnt worden! Und das Gericht 
hatte es nach eben dieſem beſte henden Geſetze in der Hand gehabt, bis zur 
Höchſtſtrafe von zwei Jahren Gefängnis hinaufzugehen. Es ift alfo 

Der Türmer XI, 9 24 


370 Zürmers Tagebud 


völlig unerfindlich, inwiefern ſich der fo tapfer vorgerittene Fall Molitor anders 
geftaltet hätte, wenn auf Grund des neuen Geſetzes geurteilt worden wäre. Die 
nüchterne Erwägung dieſer unumſtößlichen Tatſache bricht doch den pathetiſchen 
Erklärungen des Regierungsvertreters einfach die Spitze ab, und man kann denen 
nicht unrecht geben, die auf ſolches Glatteis, wie dieſe Vorlage, nicht treten wollen. 

Vielleicht gelingt es, den guten Kern zu retten und das Privatleben vor 
böswilliger Beſudelung beſſer zu ſchützen. Das allerdings wäre ein Ziel, aufs 
innigſte zu wünſchen. Eine ſolche Rettung ift aber auch nur dann wiinfdens- 
wert, wenn allen Interpretationskünſten von vornherein ein eiſerner Riegel vor- 
geſchoben wird, und, falls einer nicht genügt, fo viele eiſerne Riegel, daß jeder Mib- 
brauch ausgeſchloſſen ift. Ohne ſolche niet- und nagelfeſte Verſicherung würde der 
Schaden unendlich viel größer fein als der Nutzen, würde ſich das Geſetz als verhang- 
nisvolles Danaergeſchenk erweiſen und nur eine weitere Vergiftung unſeres öffent- 
lichen Lebens zur Folge haben. Alſo aufgepaßt! Dreimal aufgepaßt! 

d. * 


* 

Gerade die Harden-Moltke-Eulenburg-Affäre follte uns doch endlich die Augen 
darüber geöffnet haben, was alles in unſerer Zuftiggebarung möglich ift. Näher 
läge angeſichts dieſes Falles die Frage: Was iſt bei uns auf dem Gebiete eigentlich 
nicht möglich? Denn fo ziemlich alle denkbaren Möglichkeiten und noch einige 
darüber find in ihm erſchöpft worden. Das eine Mal hat kein „öffentliches Inter- 
effe“ vorgelegen, das andere Mal ein ganz außerordentliches. In zweiter Inſtanz 
ist verhandelt worden, obwohl die erſte als nicht vorhanden betrachtet wurde. Um- 
gekehrt iſt ein Urteil aufgehoben worden, ohne daß in zweiter Inſtanz verhandelt 
wurde. Und das liebe Reichsgericht erklärt dies Verfahren das eine Mal für geſetzlich, 
das andere Mal für ungeſetzlich. Und auf Grund dieſes nunmehr vom Reichsgericht 
für ungeſetzlich erklärten Verfahrens wird verhandelt und geurteilt. Und dieſe 
Urteilsbegründung „ſtellt“ fo ziemlich das Gegenteil von dem „feft“, was das 
frühere Urteil „feſtgeſtellt“ hat. Nicht nur wird Harden ſtatt zu vier Monaten 
Gefängnis zu 600 Mark Geldſtrafe verurteilt, ſondern es wird ihm auch feierlich 
atteſtiert, daß er fih bei feinem Vorgehen nicht von unlauteren Beweggründen 
habe leiten laſſen, ſondern im Gegenteil von ſehr ehrenhaften, ſehr patriotiſchen. 

Und dann die vertauſchten Rollen! Ein Schauſpiel für Götter! Das eine 
Mal: Harden, der arme Schächer, auf dem Armeſünderbänkchen, in Sack und Aſche, 
kaum noch anders angeſehen als mit einer aus Mitleid und Verachtung gepaarten 
Geringſchätzung. Das andere Mal: auf hohem Roſſe, ein Ritter ohne Furcht und 
Tadel, in ſeinem „gerechten Zorne“ vom Vorſitzenden fortgeſetzt geſtreichelt, be- 
gütigt und beſchwichtigt, wie ein verwöhnter, launiſcher Prinz, dem man ſchon 
manches nachſehen müſſe. 

Damals — Oberſtaatsanwalt Zienbiel: „Der Staatsanwalt foll fich über 
nichts freuen und nichts ärgern, er ſoll nur ſeine harte Pflicht tun. Aber als Menſch 
freue ich mich aufrichtig und herzlich, daß es gelungen ift, den Verdacht, 
der ſo lange Jahrzehnte auf dem Fürſten Eulenburg ſchwer 
la ſt e t e, im weſentlichen meines Erachtens vollſtändig zu beſeitigen. 
Der arme, kranke, vielgequälte Mann, der ſich hierher geſchleppt hat, um Zeugnis 


Züremers Tagebuch 371 


abzulegen für feinen Freund und für fid, der Mann gehört zu den glück- 
lichen und beglückten Perſonen, die man lieben muß, ohne 
daß es einen erotiſchen Beigeſchmack hat.“ 

„Genügt's?“ fragt der Herr Oberſtaatsanwalt mit triumphierendem Hohne 
den Verteidiger Hardens und erwidert dann höchſtſelbſt darauf: 

„Dem Herrn Juſtizrat Bernſtein genügte es nicht; er fragte noch, ob damit 
nur Verfehlungen gegen $ 175 abgeleugnet werden ſollten, oder ob dieſe Erklärung 
ſich auf andere Handlungen homoſexueller Natur beziehe, die nicht unter den § 175 
fallen. Der ſagte darauf einfach und ſchlicht: „Sind das keine Schmutzereien? 
3b glaube, das müßte genügen für jeden ehrlichen und 
anſtändigen Menſchen.“ 

Weiter: 

„Wir haben zwei Beamte des Fürſten Eulenburg gehört, die lange in ſeinen 
Dienſten ſtanden, lange mit ihm unter einem Dac ſchliefen. Beide Zeugen haben 
gejagt: Niemals und nun und nimmer ift etwas irgendwie Anſtößiges in dem Ber- 
halten des Fürſten vorgekommen; im Gegenteil, wir verehren unſeren langjährigen 
Brotherrn. Rann man mehr verlangen? Zh hoffe, daß Zuftia- 
rat Bernſtein Abbitte leiſten wird. Zch kann ihn nicht zwingen; 
tut er es aber, dann darf er ſtolzeren Sinnes dieſen Saal 
verlaſſen als damals, nach dem ſo ſchlechten Erfolg in 
der Schöffengerichtsver handlung.“ 

Endlich am 3. Januar: 

„Seit dem Prozeß Brand, in dem Fürſt zu Eulenburg unter ſeinem Eid 
erklärt hat, nie etwas mit einer derartigen Schmutzerei zu tun gehabt zu haben, 
ijt der Fürſt in die Lage verſetzt, zu fagen: Jetzt habe ich geſchworen, nie eine der- 
artige Schmutzerei getan zu haben, jetzt komme, wer da wolle, und 
behaupte, ich habe es doch getan. Ich ftelle ihm frei, wegen Wein 
eids gegen mich vorzugehen. Zeder Mann im ganzen 
Deutſchen Reiche und im Auslande kann ſich als Zeuge 
melden oder eine Anzeige gegen mid erſtatten. Zh fehe 
abſolut ruhig der weiteren Entwickelung entgegen.“ 

Jetzt — Staatsanwalt Preuß: „Ich möchte zunächſt dem Herrn An- 
geklagten das Zeugnis ausftellen, daß nach meiner persönlichen Überzeugung er 
bei ſämtlichen Artikeln aus durchaus ehrenwerten, durchaus patriotiſchen Erwägun- 
gen gehandelt hat. Ich füge noch hinzu, daß auch der Verdacht der Senſationsluſt, 
der im vorigen Urteil erhoben ijt, meiner Anſicht nach nicht zutrifft, ſondern wider- 
legt wird durch die Artikel ſelbſt. Da aus den Artikeln unzweideutig hervorgeht, 
daß der Herr Angeklagte dieſe Senſation hat vermeiden wollen, daß er die Abſicht 
gehabt hat, nicht jedem verſtändlich zu ſein, ſondern nur denen, die es anging, 
um fie zu warnen und zum Fortbleiben von der Politik, zum Weggehen ins Aus- 
land zu beſtimmen. Wenn ich von dieſen Erwägungen ausgehe und hinzunehme, 
daß der Mann, der durch die Drohung des Herrn Angeklagten am meiſten gefährdet 
war, entfernt worden iſt, ſo muß ich zu der Folgerung kommen, daß die Artikel in 
der Hauptſache gegen dieſen gefährlichen Mann ſich gerichtet haben, 


372 Zürmers Tagebuch 


und daß die übrigen Perſonen, die in den Artikeln erwähnt find, nur nebenher, 
ſoweit es zu den Zwecken, die der Herr Angeklagte verfolgte, notwendig war, er- 
wähnt wurden. Und wenn man von dieſem Geſichtspunkt aus die einzelnen Artikel 
anſieht, dann ſcheint mir doch zweifelhaft, ob das Gericht bei den früheren Feft- 
ſtellungen wird bleiben können, und ob nicht wenigſtens zum größten Teil die Er- 
klärungen, die der Herr Angeklagte heute abgegeben hat, vollen Glauben finden 
müſſen.“ 

Für den Fall der Verurteilung aber, den er ja immerhin als „möglich“ 
vorausſetzen müſſe, ſieht ſich der Herr Staatsanwalt „genötigt“, auch auf die 
Frage des Strafmaßes einzugehen, und da, meint er, „kommen für den Herrn An- 
geklagten gegenüber dem vorigen Urteil eine Reihe von Tatſachen zur Erwägung, die 
es meiner Meinung nach ausſchließen, daß gegen den Herrn Angeklagten nochmals 
auf eine Gefängnisſtrafe erkannt wird. Sch bin, wie ich bereits hervorgehoben habe, 
überzeugt, daß der Herr Angeklagte von patriotiſchen Erwägungen ausgegangen 
und daß er auch nicht in irgendeiner Beziehung leichtfertig dabei zu Werke ge- 
gangen iſt. Das geht klar aus allem hervor, was inzwiſchen geſchehen iſt. Das allein 
muß zur Evidenz nachweiſen, daß der Angeklagte nicht leichtfertig mit feinen An- 
griffen vorgegangen iſt, daß er ſich wohl und reiflich überlegt hat, wie weit er 
gehen könne, und daß er höchſtens eines entſchuldbaren Der 
ſehens ſchuldig wäre 

Alfo: „höchſtens eines entſchuldbaren Verſehens“ und auch das nur be- 
ding ungsweiſe! O quae mutatio rerum! 

Und nun Harden ſelbſt in der letzten Verhandlung: „Graf Kuno Moltke hatte 
die Aufgabe, feinen Freund Eulenburg Voie über das am Hof Vorgehende zu unter- 
richten; dieſe Berichte, in denen allerlei Intimitäten ſtanden, haben ja auch an dem 
Sturz Moltkes mitgewirkt. Er hat ſeinem Freund faſt täglich geſchrieben. Die 
Briefe find vorhanden. Ich will Darüber keine Details geben; auch nicht erwähnen, 
mit welchem Decknamen der Deutſche Kaiſer darin bezeichnet wurde. ... Moltke 
war völlig kritiklos, völlig unter dem Bann des großen Komödianten, der uns vor 
anderthalb Jahren hier die Krankenprozeſſion vorgaukelte und abends dann 
ſeine Freunde durch luſtige Parodien des Vorſitzenden, 
des Staatsanwalts und der anderen Prozeßbeteiligten 
erheiterte. Ein Prachtexemplar. Dafür ſitzt er auch, mit allen Orden und 
Ehren, unangefochten in feinem Schloß; dichtet neue Gänge, läßt fi malen und 
zeigt den Gerichtsärzten die facies hippocratica. Dieſer Zauberer hat den armen 
Grafen Moltke mißbraucht. Jahrelang ihn als ſeinen Briefträger, ſeinen Zuträger 
benutzt; und der Graf war vollkommen machtlos gegen die Suggeſtion.“ 

Harden kommt dann auf die „weichliche Politik“ am Hofe zu ſprechen. „Eine 
Arſache dieſer fab ich (mit Recht oder mit Anrecht) darin, daß Myſtiker, Süßholz- 
raſpler, Spiritiſten, kränkliche Männer aller Sorten fih um die Perſon des Mon- 
archen geſchart hatten. Damals gab es zweierlei Politik: die amtliche 
und die eulen burgiſch e. Die zweite, die okkulte, wurde von Herren be- 
trieben, die den Kaiſer umknieten. Ich bitte, das nicht nur 
bildlich zu nehmen. Dieſe Herren haben den Enkel Wilhelms des Nüch- 


Farmers Tagebuch 373 


ternen in eine ungeſunde, ihren Zwecken erſprießliche Romantik zu zerren verſucht. 
Sie ſind weg: und der Dunſt iſt zerflattert. Weggekommen ſind ſie nach meinen 
Artikeln. Ich bitte, endlich ſich einmal von dem Gedanken loszumachen, hier handle 
ſich's um die Bekämpfung und Entſchleierung Homoſexueller. Die Angegriffenen 
waren Spiritiſten, meinetwegen Theoſophen, Myſtiker, Leute, die kranke Menſchen 
und Tiere durch Gebete heilen wollten und von denen einzelne auch ſexuell ab- 
norm waren. Wird etwa geleugnet, daß ſolche Abnormität auf die Geſamtpſyche 
wirkt? Laſſen Sie ſich von der wiſſenſchaftlichen Literatur, von Krafft-Ebing bis 
auf Kraepelin, belehren! Daß ſolche „Männer“ von Eulenburg an ſolche Stelle ge- 
bracht wurden, war ein nationales Unglück. Dadurch iſt die Atmoſphäre entſtanden, 
die eine ſo ſchwache, eine ſo weiche Politik, eine ſo verhängnisvolle Täuſchung über 
die Realitäten ermöglichte. Und da einzugreifen, war nach meiner Überzeugung 
meine Pflicht. Daß es dabei zu Enthüllungen kam, die Menſchenleben vernichteten, 
ift nicht meine Schuld. Ich habe keinen denunziert; trotzdem ich mir dadurch man- 
ches erſpart hätte. Habe ich nicht hier in dieſem Saal geſeſſen und den biederen 
Eulenburg ruhig ſchwören laffen? Ich hätte ihn jeden Moment vernichten können. 
Heute willen Sie es. Ich wollte nicht. Ich habe den Juſtizrat Bernſtein gebeten, 
ruhig zu fein, als er aufſpringen und ſagen wollte: ‚Sie haben falſch geſchworen, 
Herr Fürſt!“ Ich wollte und konnte Ihr Urteil abwarten. Dann, nach den Hym- 
nen, den Barettorgien, dem Urteil, das mich entehren ſollte, mußte ich handeln. 
Hatte ich's nicht getan, fo wäre Eulenburg, als ein Gereinigter, am Ende gar in 
die Gunſt zurückgekehrt. Das durfte nicht fein.“ 

Aus feinem Schlußwort: „Der erſte politiſche Eindruck meines Lebens ent- 
ſtand duch die außerordentliche Freundlichkeit, ja, ich darf ſagen: Freundſchaft, 
die Fürſt Bismarck mir gewährte. Ich darf es fagen, denn er hat es ja ſelbſt oft fo 
genannt. ... Dieſer Mann hat mir immer wieder gefagt: „Ihnen mißfällt ber 
Kaiſer als politiſche Perſönlichkeit in vielen weſentlichen Zügen; mir auch. Aber 
Sie können mir glauben: alle oder mindeſtens neun Zehntel dieſer nicht erfreulichen 
Seiten wären nicht fihtbar, wenn Philipp Eulenburg nicht feine 
Sippſchaft an ihn her angebracht hätte. Das ſind gräßliche 
Leute, ganz anders als wir; ſentimental, geiſtergläubig, ſpukſcheu (Eulenburg hat 
an dem Herrn neben anderen Wunderqualitäten ja das Zweite Geſicht 
der Stuarts entdeckt); ohne Sinn für die Nüchternheit des politiſchen Lebens, 
ohne den Nerv der Tapferkeit, die eine große Nation braucht; und der größte Teil 
iſt auch noch geſchlechtlich abnorm und nicht ſauber. Da gibt's Zuſammenhänge 
und Hautſympathien, die unſereins gar nicht verſteht.“ Das habe ich in Barzin, 
Friedrichsruh und Schönhaufen oft gehört und befproden. ... 

Dieſes Geſchlecht, mit feiner Hnperfenfivität und Aberſchwenglichkeit, hatte 
einen Zuſtand geſchaffen, der nüchterner Förderung ernſter Staatsgeſchäfte nach 
dem Urteil aller Sachverſtändigen im höchſten Grade ſchädlich war. Beweiſe? 
Soll ich Miniſter, Botſchafter, Generale hier laden, damit fie es Ihnen bezeugen? 
Ihnen wiederholen, was fie mir geſagt und geſchrieben haben? Über das ungeheure 
zum Himmel ſchreiende Unheil, das von Eulenburg und feinen Leuten kam? Ich 
denke nicht daran. Wozu denn? Sie brauchen mir nicht zu glauben. Soll ich das 


374 Zürmers Tagebuch 


Deutſche Reich aufwühlen, nur damit Sie mir glauben und ich weniger hart oder 
gar nicht beſtraft werde? Das iſt nicht nötig. Ihre Strafe ſchreckt, bekümmert 
mich nicht. Was ich erreichen wollte, ift längſt erreicht: diefe Einflüſſe find beſeitigt, 
und Volk und Kaiſer dürfen ſich deſſen freuen. Im vorigen Jahr konnte man noch 
zweifeln. Da hat der Fürſt feinen letzten g r o hen Co u p gewagt. Da fiel irgend- 
wo das Wort: „Fſenbiel hat fie famos rausgehauen.“ Da galt 
Phili als makellos, und man konnte glauben, dem Verbannten eine Genugtuung 
ſchuldig zu fein. Da zitterte Philis ſchönſte Kreatur vor der Rückkehr des Gehaßten. 

Feſt ſteht ... die Tatſache, daß Graf Kuno Moltke niemals gehört worden ijt, 
ſich niemals irgendwie rechtfertigen durfte; daß der ewige Pleſſen ihm einfach 
briist das Abſchiedsgeſuch abverlangt hat. Details find hier nicht nötig. Iſt aber 
anzunehmen, daß nur die Artikel der , Zukunft“ zu dieſem Schritte getrieben haben? 
Leben wir in einem Reich, wo die beliebteſten Herren weggejagt werden, weil in 
einem leidlich angeſehenen, aber vom Kaiſer durchaus nicht geliebten Blatt ein paar 
Artikel gegen fie erſchienen find? Darum werden alte Freunde, die man duzte, 
einfach hin ausgeworfen? Darum wird dem Vertreter des beurlaubten Polizei- 
präfidenten geſagt: Über Eulenburg, Moltke, Hohenau, Lecomte brauchen Sie 
mir nichts mehr zu erzählen; die ſind erledigt; aber von den anderen aus Hof und 
Garde will ich ſchnell eine Lifte? 

Als die Geiſter ausgeräuchert waren und Graf Moltke in die Preſſe ſickern 
ließ, er habe mich (zu ſpät) gefordert, kam der Lärm. Und nun wollte jeder Eſel 
natürlich längſt alles gewußt haben. Meine Artikel waren in der Erinnerung ver- 
blaßt oder auch nie geleſen worden. Hatte da nicht was von Päderaſten ge- 
ſtanden? Gewiß. Und das Spektakel war fertig. Ich wurde gebeten, der Meute 
abzupfeifen; und tat's vielleicht etwas zu laut. Aber wenn Sie die ganze Welt- 
geſchichte durchgehen: Sie können niemals eine ſchwierigere Aufgabe finden als 
den Kampf eines einzelnen gegen eine Hofclique. Der hat kaum jemals zum Siege 
geführt. Das iſt beinahe unmöglich. Und Fehler? Wer hat in dieſer Sache denn 
keine Fehler gemacht? Sie, meine Herren? Die Staatsanwaltſchaft? Graf 
Moltke? Meine Fehler ſind noch lange nicht die ärgſten, ſcheint mir; ſind nicht 
ſehr beträchtlich neben denen der anderen Beteiligten 

Alles, was Ihnen hier immer über Nervenfoltern und gräßliches Ungemach 
vorgejammert wird, vergeht vor dem ernſtlich prüfenden Blick ja wie Schaum 
Da hätte ich ſchon eher Anlaß zu ſtöhnen. Ein Privatmann gegen alle Reichsgewal- 
ten; und gegen neun Zehntel der Preſſe, die öffentliche Meinung macht. Ein Ber- 
mögen hingegeben, Schimpf, Achtung, Bedrohung aller Art hingenommen. Das 
will erlebt fein ... 

Und warum das alles? Weil ich getan habe, was jetzt jeder nützlich findet; 
am Ende fogar der preußiſche Kriegs miniſter; der ſich mit der R ev o fa- 
tion nachgerade allerdings ein bißchen ſputen könnte. Darum ſtehe ich nun zum 
viertenmal vor einem deutſchen Gericht. So findet man bei uns fein ect, 
wenn man für eine gute Sache tapfer gefochten hat 

Wenn Sie mich verurteilen, üben Sie (ohne es zu wollen, verſteht ſich) 
Willkür, nicht: Recht; denn Sie haben mir nicht die kleinſte Schuld bewieſen. Tun 


Zürmers Tagebuch 375 


Sie's! Ich habe nichts dagegen. Go müſſen ſolche Sachen ja enden; fo haben fie 
in ber Geſchichte ſtets geendet. Der eine ſitzt unangetaſtet in feinem ſchönen Schloß, 
der andere wird von Inſtanz zu Inſtanz gefchleppt, feiner Arbeit entzogen, ge- 
ſchmäht, mit dem Unrat der Preßkloaken beſchmutzt, verurteilt. Das ift die Rrö- 
nung. So muß es fein. Er hat der ſchmierigen Katze ja die Schelle angehängt. 

Ich will ganz ruhig ſchließen. Ihr Urteil kann mir nicht ernſtlich ſchaden. 
Auch Ihnen nicht? Ich glaube, von allen Beteiligten habe ich Ihr Urteil am wenig- 
ften zu fürchten. Und deshalb bitte ich Sie, in Ihrem Beratungszimmer viel mehr 
an ſich als an mich zu denken. Daran, daß unter einem neuen Fehlſpruch wieder 
Ihr Name ſtünde. Lange würde er ja nicht gelten. Denn wenn Ihr Arteil mich 
unerträglich dünkt: es gibt mehr als ein wirkſames Mittel dagegen. Das habe ich 
Ihnen bewieſen. Auch diesmal würde es vielleicht eine Weile dauern. Aber wir 
würden uns wiederſehen. Nur: Ihr Name wäre auch von dieſem Dokument 
deutſcher Rechtspflege nicht wegzukratzen. 

Aus dem Mittelalter iſt uns ein niederdeutſches Bild nebſt erläuternden 
Verſen überliefert: es ſtellt ein Rad und an dieſem Rade einen Mann dar, der 
nacheinander alle ſeine Drehungen mitmacht, ganz oben, tiefer, ganz unten uſw. 
zu ſtehen kommt. Es heißt „Das Glücksrad“, und die mittelniederdeutſchen Verſe 
ſchildern das Walten des blinden „Aventiure“, was fo viel heißt wie Glück, Schick 
fal, Zufall, Kismet. 

** 1. 
% 

Nach ſolchen Juſtizirrungen haben wir nicht gerade Urſache, allzu „vertrauens- 
voll in die Zukunft zu ſchauen“, und tun als vorſichtige und gewitzigte Leute auf 
alle Fälle gut daran, uns auch die neue Vorlage recht genau anzuſehen. Da Wellt 
ſich heraus, daß leider auch die ſonſt ſo dankenswerten und wohlgemeinten Be⸗ 
ſtimmungen für erhöhten Kinderſchutz doch noch recht unzulänglich ſind. 

Die Novelle beſtimmt: Als $ 223 a Abſatz 2 wird folgende Vorſchrift ein- 
geſtellt: „Gleiche Strafe“ (Gefängnis von zwei Monaten bis zu fünf Jahren) 
„tritt ein, wenn gegen eine noch nicht 14 Fabre alte oder wegen Gebrechlichkeit 
oder Krankheit wehrloſe Perſon, die der Fürſorge oder Obhut des Täters 
unterſteht, eine Körperverletzung mittels grauſamer Behandlung 
begangen wird.“ 

„Der Unterſchied gegen den bisherigen Zuſtand“, bemerkt dazu Dr. Broich 
in der „Köln. Volksztg.“, „beſteht alfo nunmehr lediglich darin, daß bei „grau- 
ſamer“ Körperverletzung von Kindern oder Gebrechlichen durch deren 
Fuͤrſorge oder Obhutpflichtige, auch wenn fie nicht mit gefährlichem Werkzeug 
oder lebengefährdender Behandlung vorgenommen ift, ohne Erfordernis des Straf- 
antrages eingeſchritten werden kann, und daß die Strafe, wie bei den ſonſtigen 
„gefährlichen Körperverletzungen“ in den Grenzen von zwei Monaten und fünf 
Jahren Gefängnis liegt. Aber nicht etwa jede Körperverletzung der Kinder 
durch ſolche Machthaber wird fo beſtraft, nein, fie muß mittels ,g r a u f a mer Be- 
handlung“ begangen fein, und zwar iſt dies nach dem Inhalt der Begründung jel- 
ber eine bewußte Einſchränkung des Begriffes der tör 
perlichen Miß handlung im Sinne des $ 223! 


376 Zürmers Tagebuch 


Der Behauptung in der Begründung des Entwurfs, daß der § 223 ‚jedes (?) 
unangemeſſene, ſchlimme oder üble Behandeln einer Perſon“ umfaſſe, gibt die 
Praxis eine ganz andere Antwort. 

Von praktiſchem Wert ift in der Novelle nur das Wegfallen des An- 
tragserforderniſſes; die Erweiterung des Strafrahmens in der vorgeſchlagenen 
Weiſe wird dagegen wenig wirken, zumal ſchon jetzt das niedrigere 
Straf maximum faſt nie auch nur annähernd in den Verurteilungen 
erreicht wird. Aber der geringe Vorteil wird wieder beeinträchtigt durch das Er- 
fordernis der Körperverletzung' mittels ‚graufamer Behand- 
lung“. Wie bald werden die kriminaliſtiſchen Exegetiker fih dieſes Begriffs be- 
mächtigt und das Loch hineindisputiert haben, durch das der advokatoriſche Dia- 
lektiker den Täter ſchon hindurchziehen wird! 

And ein ſolcher Entwurf ſoll beſſern, abſchreckend wirken und die Häufigkeit 
der Mißhandlungen mildern? Niemals, denn dem Entwurf fehlt alles, was ihn 
dazu befähigen könnte! Es fehlt (da nur „Körperverletzungen“ getroffen find) 
eine Erſtreckung des Kindermißhandlungsbegriffs auf körperliche und 
ſeeliſche Quälereien (während dieſelbe Novelle im § 145 b die Tiere 
„vor boshaftem Quälen“ ſchützt !). Es fehlt eine beſondere Bewertung der mehr- 
fachen, fortgeſetzten, ſyſtematiſchen, durch Monate oder Jahre dauernden Miß 
handlungen von Kindern durch ihre Machthaber. Es fehlt die langerſehnte Cha- 
rakteriſierung ſolcher dauernden Beſtialitäten als Berbrechen. Es fehlt ferner 
die Berückſichtigung und entſprechende Bewertung fortgeſetzter Mißhandlungen 
durch alle die, welche ihre Brutalitäten unter dem Schutze und in mißbräuchlicher 
Ausnutzung der einem anderen gegen das Kind zuſtehenden Fürſorge- und Ob- 
hutspflicht ausüben (Zuhälter, Liebhaber der Mutter uſw.). 

Es fehlt alſo der Vorlage alles, was eine wirkliche Waffe im Kampfe gerade 
gegen die häufigſten und ſchlimmſten Fälle der Kindermißhandlungen bilden könnte! 

Es ſoll nach der Novelle alſo dabei bleiben, daß jemand nicht befon- 
ders gefaßt werden kann, der ſein Kind z. B. zwingt, ekelerregende Dinge zu eſſen, 
der es fortgeſetzt der Nachtruhe beraubt, es durch, Geiſtererſcheinungen“ und ſonſtige 
Schreckniſſe fortgeſetzt quält und peinigt und deſſen Seele ruiniert!! 

Es ſoll alfo dabei bleiben, daß jemand, der ein Rind ‚unzüchtig 
betaſtet“, auch wenn dieſe Handlung keinerlei körperliche oder ſeeliſche Folgen 
für das Angegriffene hat, prinzipiell ins Zuchthaus kommt, daß dagegen einer, 
der ſein Kind, das wehrlos, hilflos und aus Angſt ſchweigſam iſt, jahrelang, tagein, 
tagaus mit ſyſtematiſcher Bosheit quält, peinigt, mißhandelt und martert, nur 
hid ftens fünf Jahre Gefängnis bekommen kann, wenn das Kind vor ſchweren 
körperlichen Leiden oder dem Tod bewahrt geblieben iſt. 

Es foll alfo dabei bleiben, daß der ‚Liebhaber‘ einer Frau, 
mit der er zuſammenwohnt, welcher deren Kind, das ihm ‚im Wege“ ift, unmenſch⸗ 
lich prügelt, mit Gewichten belaſtet herumjagt, ihm allwöchentlich die Haare auf 
dem Kopf friſch zuſammenleimt, daß eine ſolche Beſtie Höhftens drei Jahre 
Gefängnis bekommen kann, während ein zweimal rückfälliger Dieb ins Zucht- 
haus wandert! 


Zürmers Tagebuch 377 


Auf diefe verſchiedenen Punkte hat der Abgeordnete Dr. Faßbender kürz- 
lich noch im Reichstage hingewieſen. Und doch ſoll alles beim alten bleiben? So 
lange bis das fpätere neue Strafgeſetzbuch nach einem Jahrzehnt vielleicht wieder 
erſt mit halber Arbeit hervortritt? Nie und nimmer! Freilich bedarf es mehr als 
eines einzigen kleinen Paragraphenzuſatzes! Getroffen werden müf- 
fen und können alle ſchweren Fälle, wenn man nur end- 
lich die Sache beim rechten Namen zu nennen ſich ent 
ſchließt. Es gilt den Kampf um das Wohl der Kinder, gegen ihre Qualen und 
Marter, die man nicht mit halben Mitteln beſeitigt oder dadurch, daß man die 
Augen ſchließt vor ihrer Furchtbarkeit! 

Die Preſſe muß einmütig aufſtehen in dieſem Kampf, und der Reichs- 
tag erfüllt eine Ehrenpflicht, wenn er zu einer kampfkräftigen Waffe ſchmiedet, 
was jetzt in der Novelle nur als ſchwanker Stecken weder Stütze noch Schutz bietet. 
Darum mein Ruf immer von neuem: Zeder Kinderfreund agitiere für beſſern 
Kindesſchutz!“ 

Der Türmer kann ſich dem nur von ganzem Herzen anſchließen, und er ift 
überzeugt, daß dieſer Ruf gerade in den Kreiſen ſeiner Leſer vollen Widerhall 
finden wird. Praktiſche Winke gibt ein Aufſatz, den die Geſchäftsführerin des 
Berliner Vereins zum Schutze der Kinder vor Ausnutzung und 
Mißhandlung, Marie Sprengel, in der „Tägl. Rundſchau“ veröffentlicht hat: 

„Vo blieb der Verein zum Schuß der Kinder vor Ausnutzung und Mißhand⸗ 
lung? haben viele gefragt beim Leſen der letzten entſetzlichen Kindertragödie. 
‚Warum wurde uns dieſer kraſſe Fall von Mißhandlung nicht längſt gemeldet?‘ 
möchten wir dagegen fragen. Wir haben über ganz Berlin und ſeine Vororte 
Hunderte von Meldeſtellen eingerichtet, wir verſichern immer wieder, daß wir nie- 
mals verraten, wer uns die betreffende Anzeige gemacht hat, wir unterſuchen in 
kürzeſter Zeit jeden bei uns gemeldeten Fall, ob er anonym oder mit einem Namen 
verſehen zu uns kommt, ob er den Stempel der Übertreibung an ſich trägt, oder ob 
uns ganz kurz eine entſetzliche Tatſache mitgeteilt wird, wir erklären uns immer 
wieder bereit, jedes mißhandelte Kind wenigſtens vorläufig in unſerem Heim 
Kinderſchutz aufzunehmen, und trotzdem ſpielen ſich in unſerer nächſten Nähe von 
uns ungewußt dieſe Szenen ab, die uns ſchaudern machen. 

Ein Blatt berichtet, wieviel mehr für die mißhandelten Tiere als fiir die ge- 
quälten Kinder geſchieht, und findet es für jedes menſchliche Gemüt beſchämend, 
auf die Tierſchutzvereine hinweiſen zu müſſen, wenn es ſich um die Verhütung 
von Grauſamkeiten gegen wehrloſe, unſchuldige Kinder handelt. Ich möchte hierzu 
bemerken, daß der erſte Kinderſchutzverein, der im Fabre 1875 in 
Neupork gegründet wurde, überhaupt aus einem Tierſchutzverein 
hervorgegangen iſt Eine Miffionarin konnte für ein mißhandeltes Kind 
nirgends Hilfe finden und brachte es ſchließlich zu dem Vorſitzenden des Tierſchutz 
vereins, der ihm wenigſtens den gleichen Schutz angedeihen laſſen wollte wie 
‚emem Hunde auf der Straße“. 

Dieſem erſten Kinderſchutzverein in Amerika folgten ſpäter die in England 
und vor zehn Jahren die in Oeutſchland. Aber der Kinderſchutz ift längſt nicht popu- 


378 Zürmers Tagebuch 


lar genug bei uns. Sämtliche Kinderſchutzvereine in Deutfchland zählen gufammen 
kaum 8000 Mitglieder; fie haben keine der Vergünſtigungen, wie fie Amerika 
und England längſt den Beamten der Vereine gegeben haben, um gequälte Rinder 
zu retten, und die Strafen für Miß handlung en ſind oftgeradezu 
minimal. . . Aber die Hauptſache ift doch, daß wir diefe Mißhandlungen ver- 
hüten, und das kann nur geſchehen, wenn das Publikum Hand in Hand mit dem 
Verein zum Schutz der Kinder vor Ausbeutung und Mißhandlung arbeitet. 
Dieſer Verein hat ſein Bureau im franzöſiſchen Dom am Gendarmenmarkt 
und täglich von 8 —5 Uhr Sprechſtunde. Im vergangenen Jahre hat er ſich mit 
dem Schickſale von 726 Kindern beſchäftigt; für 69 Kinder hat er ſtädtiſche, für 37 
private Fürſorge erwirkt, und 287 Pflegekinder hat er ſelbſt verſorgt. Von dieſen 
wurden 92 in ſeinem Heim Kinderſchutz untergebracht, für deſſen Erhaltung die 
Herren James Simon und Franz v. Mendelsſohn ſorgen; 145 Kinder gab der 
Verein teils in andere Anſtalten, teils in Familienpflege und zahlte dafür faft 
14 800 M. Pflegegelder. Leider ſchloß er mit einem Defizit von 500 M. ab, und foll 
er nicht nur in der gleichen Weiſe weiterarbeiten, ſondern auch in dem gleichen 
Verhältnis weiter wachſen wie bisher, ſo brauchen wir dringend Hilfe. 
„Je ſchneller diefe Hilfe den unglücklichen Kindern gebracht wird, um fo größer 
ſind die Erfolge. Der Verein hatte ſich ein hohes Ziel geſteckt, indem er ſich das 
Motto erwählte: ‚Rettet die Kinder, und ihr habt keine Verbrecher mehr“, und dies 
Ziel erfordert ernſte, ſyſtematiſche Arbeit. Es genügt nicht, die Kinder vorüber- 
gehend ihrer traurigen Umgebung zu entreißen; die meiſten find durch die erlitte- 
nen Qualen bis in ihr Innerſtes erſchüttert, find verbittert und reizbar geworden, 
auch von den ſchrecklichen miterlebten Szenen nicht unberührt geblieben und be- 
dürfen dauernder Aufſicht und zielbewußter Leitung. Wir bringen unſern Schüß- 
lingen, dieſen ſchwergeprüften Kindern, Liebe, Geduld, Verſtändnis für ihr Seelen- 
leben und vor allem Vertrauen entgegen, und damit erzielen wir die ſchönſten Er- 
folge. Von den 170 Kindern, die bis jetzt Zuflucht in unſerem Heim fanden, mußten 
wir nur ſechs als ganz verwahrloſte der Fürſorgeerziehung überweiſen, alle anderen 
haben ſich körperlich und geiſtig gut entwickelt. Eine Dame, die unſer Haus beſuchte, 
ſagte: „Ich habe noch nie fo viele vergnügte Kinder beiſammen geſehen', und die- 
ſer Frohſinn iſt das beſte Zeichen, daß fie die ihnen zugefügten Leiden bald ver- 
geſſen und ihren Anteil an Sonnenſchein und Glück gefunden haben und ihn um 
ſich verbreiten möchten. Der kleinſte Inſaſſe, ein ſiebenjähriger Junge, dem die 
Mutter mit einem Feuerhaken das Naſenbein zerhauen hat, bittet jede Woche um 
eine Karte: „Ich will an meine Mutter ſchreiben, daß fie mir beſucht. Und fragt 
man ihn, ob fie ſchon bei ihm war, fo antwortet er: ‚Nein, aber vielleicht kommt 
ſie doch noch“, und ſchreibt von neuem. Wir beobachteten, wie ein großer, ſehr 
trauriger Zunge angekommen war, wie die Kleinen ihn forſchend anſahen, bis ein 
Größerer an ihn heranging, ihn fragte: „Bleibſt du hier?“, und als der andere trau- 
rig mit dem Kopfe nickte, ihm die Hand gab und ſagte: „Weine nicht, hier iſt's fein“, 
und dann kamen alle, gaben ihm die Hand, fagten: ‚Sa, hier iſt's fein“, und der Neu- 
angekommene fühlte ſich heimiſch. Ein Mädchen ſagte: „Ich kann hier gar 
nicht böſe fein, denn alle denken immer, ich bin gut, und 


Zürmers Tagebuch 379 


da muß ich es doch fein‘ — beſtätigt der Kindermund nicht unbewußt 
die Worte Goethes, wenn er fagt: „Behandelt die Menſchen fo, als ob fie ſchon fo 
gut wären, wie ihr ſie haben wollt. Es iſt der einzige Weg, ſie dazu zu machen“? 

dch will keinen der von uns bearbeiteten Fälle hier erwähnen. Das Schick 
ſal vieler Kinder iſt nicht weniger tragiſch als das des 
kleinen Seidel, das durchaus nicht vereinzelt daſteht. 
Möchte dieſer traurige Vorgang uns alle aber viel mehr als bisher an 
unſere Pflichten gegen diefe verlaffenen, hilfsbedürf⸗ 
tigen Kinder erinnern, wir müffen fie ſchützen und wir können 
es, aber nur durch vereinte Arbeit.“ 

Wo Kinderſchutzvereine bereits beſtehen, da ſchließe man ſich ihnen an, wo 
dies noch nicht der Fall, da begründe man ſolche. In jedem Orte wird ſich eine 
gerrügende Anzahl Perſonen dazu bereit finden laffen, der Appell an die Menſchlich⸗ 
keit hat immer noch in deutſchen Herzen ein Echo gefunden. Und dazu ein ſolcher! 
Nur ein Anfang muß gemacht werden, nur Znitiative iſt nötig! 

Intereſſant ijt die Tatſache, daß der erſte Kinderſchutzverein aus einem Tier- 
ſchutzverein hervorgegangen ift. Aber nicht verwunderlich. Denn es ift das ſelbe 
Mitleid mit aller Kreatur, das ſelbe große Weltenherz, das mit dem einen wie dem 
anderen in Leid und Liebe zuſammenſchlägt. 


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Martin Greif 


Zum ſiebzigſten Geburtstage des Dichters 
Von ) 


Hans Benzmann 


ls angehender Lyriker hat fih Martin Greif einmal — es war im 
J Sabre 1865 — an Emanuel Geibel gewandt und ibn um eine Be- 
l * urteilung ſeiner Verſe gebeten. Geibel antwortete ihm: „Ihre 

ä vVerſe ſind ganz nett und werden gewiß in Freundeskreiſen recht gut 
gefallen. Natürlich für das große Publikum, für eine ſtrenge Kritik taugen ſie nicht.“ 
Greif bat den Dichter darauf um ein beſtimmtes Urteil, — da wies Geibel auf den 
brennenden Ofen und ſagte: „Nun, wenn Sie das wollen, ſo iſt es das beſte, Sie 
werfen dieſelben da hinein, dann haben Sie die Sache hinter ſich; denn zur Poeſie 
haben Sie keinen Beruf!“ Ein herbes Urteil in herber Form, und noch herber 
wirkt es, wenn es aus ſolchem Munde klingt. Nun, man mag über Geibel denken, 
wie man will — ich möchte ihn gewiß nicht unterſchätzen —; aber es ift eine oft er- 
wieſene Tatſache, daß er für anders geartete Dichter kein Verſtändnis hatte. Und 
Greif iſt ganz anders geartet als er. Die einfache, prägnante, ſich unmittelbar 
gebende Lyrik der Stimmung und des Gefühls, des Augenblicks und des Einfalls 
war Geibel, dem wortreichen Reflexionspoeten, dem Sucher muſikaliſch abgetin- 
ter Klänge und Rhythmen, ganz fremd. In feinem Zeitalter — es ijt das der Epi- 
gonen — galt Schlichtheit und Natürlichkeit des Ausdrucks wenig. Wahrſcheinlich 
wäre Liliencron damals noch mehr abgefallen als ſpäter am Ende der achtziger 
Jahre. Aber Greif ſollte doch nicht ohne Anerkennung bleiben. Seine Berfe fan- 
den bald das Lob von Aſthetikern und Kritikern wie Adolf Bayersdorfer und Julius 
Klaiber; merkwürdigerweiſe intereſſierte ſich auch Dahn für ihn, auch Bodenſtedt 
und Adolf Pichler. Beſonders begreiflich finden wir es, daß Eduard Mörike dem 
jungen Dichter anerkennende Worte ſchrieb. In feiner „Pſychologie der Lyrik“ 
(1878) zitiert Dr. Karl du Prel öfters Greifſche Berfe; aber er entſchuldigt ſich ge⸗ 
wiſſermaßen dafür: „Es geſchieht vielleicht zur Verwunderung der Lefer, daß ich 


Benzmann: Martin Greif 381 


dieſen, manchen wenig bekannten Dichter fo hoch ſtelle. Vor zehn Jahren erfdie- 
nen, haben ſeine Gedichte noch nicht die zweite Auflage erlebt. Nun iſt allerdings 
richtig, daß unſere Generation für Poeſie überhaupt kein großes Intereſſe beſitzt; 
wenn man indeſſen ſieht, daß andere ſogenannte Dichter bei derſelben Generation 
die wärmſte Aufnahme finden, fo kommt man zu dem Schluſſe, daß eben die Greif- 
jhe Poeſie nur der herrſchenden Geſchmacksrichtung nicht entſpricht, welcher anderer- 
ſeits ſich anzubequemen andere für gut finden. Daß dieſe Geſchmacksrichtung vom 
wahren Weſen der Poeſie ſich entfernt und nach dem Reflektierten, wenn nicht gar 
nach dem Rhetoriſchen und der bloßen Phraſe geht, iſt unverkennbar, und es iſt nur 
die natürliche Kehrſeite dieſes Verhältniſſes, daß ein Dichter vernachläſſigt wird, der 
aller Effekthaſcherei entſagend, nicht den Stoff betont, ſondern in der poetiſchen 
Form ein Genügen findet; denn — wie La Bruyère ſagt —: „Du même fond 
dont on néglige un homme de mérite l'on sait encore admirer un sot... Für den 
Philoſophen, der in die verſchwiegenen Tiefen der künſtleriſchen Werkſtätte einzu- 
dringen verſucht, find diefe Gedichte darum fo intereſſant, weil fih in ihnen ihr Cnt- 
ſtehungsprozeß fo ungeſchminkt offenbart, bei dem das Bewußtſein des Dichters 
nicht erzeugend, ſondern empfangend ſich verhält; aus der unbewußten Phantaſie 
entſpringen fie wie ein friſcher Quell, und die künſtleriſche Beſonnenheit des Dich- 
ters hat an ihnen nur den geringſten Anteil. Eben diefe ihre organische Natürlich 
keit und Freiheit von Beſtandteilen bewußter Konzeption verleiht dieſen ungekün⸗ 
ſtelten Empfindungslauten für den Philoſophen ſogar mehr Intereſſe, als es die 
Produkte von höherer Kunſtbeſonnenheit tun könnten.“ Nicht für alle Gedichte 
Greifs werden wir dies Urteil anerkennen, aber die Art des Oichters trifft es 
genau, und wir leſen zwiſchen den Zeilen auch etwas Ober das heraus, was dem 
Dichter fehlt: ich möchte es nennen dichteriſche Perſönlichkeit, bewußte künſtleriſche 
Intelligenz. 

Dod zunächſt noch ein anderes intereffantes Urteil über Greif. Der Dichter 
war längſt mit ſeinem erſten Buche — 1868 — auf dem Plane erſchienen, er war 
auch bald Mitarbeiter guter Zeitſchriften geworden, — als ein neues Oichtergeſchlecht 
ſich anſchickte, gegen den alten abſtrakten Idealismus der Geibel, Rittershaus, 
Gottſchall u. a. Front zu machen. Es waren die Stürmer und Dränger der Moderne, 
die Gebrüder Hart, Conradi, Alberti, Bleibtreu, Holz u. a. Aber auch dieſe neue 
Generation wollte von Greif nichts wiſſen. In feiner „Revolution der Literatur“ 
(1886) ſagt Bleibtreu von Greif, daß er „einen mißverſtandenen Goethe kopiert“ 
er nennt ihn zuſammen mit Lingg () einen „Wortdichter“. Dies Urteil ift be- 
greiflich und — unbegreiflich; denn nur in dem Stofflichen unterſchieden ſich dieſe 
Modernen von den Epigonen, in der Form waren ſie ebenſowenig Originalgenies 
wie Geibel, Bodenſtedt und ähnliche; auch ſie waren recht eigentlich abſtrakte 
Ideenjäger und Phraſendreſcher, Wortdichter in dieſem Sinne. Erft die ſpätere 
Moderne, die auf Storm, Goethe, Mörike, Keller, Fontane als ihre Meiſter zurüd- 
blickt, ſchlug ähnliche Töne an, wie fie Greif längſt und ohne Rüdfichtnahme auf 
eine Schule, auf eine Richtung angeſchlagen hatte. 

Greif ſteht außerhalb der alten und neuen Generation, er ſteht wie ſo viele 
echte Poeten für ſich allein, man kann ihn andrerſeits zu denjenigen Dichtern 


382 Benzmann: Martin Greif 


rechnen, die zwiſchen der beiten Tradition und der Moderne vermitteln. Er hat 
Gedichte geſchaffen von einer Knappheit und ſchlichten Prägnanz des Ausdrucks, 
die fie unſern beſten Volksliedern und Goethes ſchönſten Gedichten ähnlich er- 
ſcheinen laffen. Dieſe Prägnanz und die innige Tiefe der Empfindung nur an- 
deutende lyriſche Unmittelbarkeit iſt niemals epigonenhafter Poeſie eigen. 


Morgengang 
Sch geh' auf Willen Wegen Sch bred’ mir ein Geſchmeide 
Frühtags ins grüne Feld, Von naffen Rofen ab: 
Wie lacht mir da entgegen Wärſt du an meiner Seite, 
Die junge Morgenwelt! Von der geträumt ich hab'! 
Wohl tauſend Blüten ſchauen Ich hing dirs in die Locken 
Von Wald und Wieſen her, Als deinen Hochzeitskranz — 
Die alle tropfend tauen Da gehn die Morgenglocken, 
Von edlen Perlen ſchwer. Ich ſteh' in Tränen ganz. 


Ich habe dieſes feine Gedicht hierhin geſetzt, um die Leſer dieſes Aufſatzes 
zunächſt an Greifs eigene Art, eine Stimmung zu veranſchaulichen und zu ver- 
tiefen, zu erinnern. Vielleicht iſt das folgende Gedicht noch charakteriſtiſcher für ihn: 


Tannicht im Felde 


Es liegt im Feld ein finſtrer Tann Du nabjt dich mit geſpanntem Ohr 
Im regungsloſen Schweigen, Und ſuchſt ihn zu belauſchen, 

Kein leiſes Wehen ſtört den Bann Doch dringt kein Laut aus ihm hervor, 
Der Ruhe, die ihm eigen. Kein Flüſtern und kein Rauſchen. 


Jeder hat dieſe Stimmung oft genau ſo durchlebt, dieſes Stück Landſchaft, 
dieſen Tannicht im Felde oft geſehn; aber wie wenige Dichter vermögen die Natur, 
ein Stück geſehene Natur ſo handgreiflich darzuſtellen, wie es in dieſem kleinen 
Gedicht geſchehen ift. Man möge den ganzen Geibel nach ſolchem Gedicht durch- 
blättern. Ich nannte Greifs Art vorhin eine „eigene“. In der Tat: er hat einen 
ganz eigenen Stil. Selbſtverſtändlich kommt dieſe Art von Goethe her; auch 
Mörike, Storm, Johann Georg Fiſcher kommen von Goethe her; aber jeder wirkt 
anders als der andre. Für Greif iſt charakteriſtiſch eine zarte, etwas ſpröde, ſtumpfe, 
doch wiederum biegſame Art, ein lichter, impreſſioniſtiſcher Stil, der die Eindrücke 
nebeneinanderſetzt — ſcheinbar willkürlich, nachdem fie tatſächlich aber aufs ge- 
naueſte auf den Geſamteffekt hin abgeſtimmt und abgetönt ſind. Greifs Lyrik iſt 
vorzugsweiſe Naturlyrik, ſeeliſche Lyrik, maleriſche oder ſinnvolle, leicht durch eine 
Empfindung pointierte, aber niemals unkünſtleriſch pointierte Lyrik. Das alles 
hängt wohl miteinander zuſammen: Natur, Seele, Lied, Stimmung, und ergibt 
reine Lyrik; aber wie ich ſchon auseinanderſetzte, es ergibt doch immer wieder, 
wenn es ein rechter Dichter fügt und ſtimmt, einen beſonderen, einen perſönlichen, 
individuellen Klang. Das iſt durchaus auch bei Greif der Fall. 

Er hat einen fo ausgeprägten Stil, daß er faſt einfeitig anmutet und infolge- 
deſſen von anders gerichteten Dichtern oder Kritikern oft eine wenig anerkennende 


Benzmann: Martin Greif | 383 


Bewertung erfuhr. Und nun muß man allerdings eines einräumen: Greif hat viel 
gedichtet und vieles, was eine noch fo objektive, noch fo verſtändnisvolle Kritik nicht 
verteidigen kann; namentlich in feiner zweiten Sammlung: „Neue Lieder 
und Mären“ (1902) findet man ganze Reihen von nichtsſagenden Gedichten. 
Man hat oft das Gefühl, als hätte der Dichter jede Kritik fic ſelbſt gegenüber ver- 
loren. Dieſen Einwand muß ich vorwegnehmen und nach Gebühr betonen. Mir ift 
es ſogar oft unverſtändlich geweſen, daß der ſo zart empfindende, den ſchwerſten 
Ton, den echten Ton des Volksliedes oft ganz rein treffende Dichter gewiſſe Ge- 
dichte überhaupt in feine Sammlungen aufnehmen konnte. Das hat ihm bei den 
Beſten geſchadet. Deshalb aber darf man umgekehrt ihn nicht allein nach dieſen 
überzähligen Produkten beurteilen; ja, es gibt wiederum Serien von Gedichten in 
ſeinen Büchern, die bei oberflächlicher Lektüre oberflächlich und nüchtern wirken, 
in deren einfache Schönheit man ſich erſt hineinfühlen muß. 

Mich wenigſtens berühren ſeine Naturgedichte am ſympathiſchſten, in ihnen 
ſcheint mir ſeine Art am wirklichſten und weſentlichſten zum Ausdruck zu kommen. 


No vemberſtimmung 


Die Flur umher Im Wald zerſtiebt Sich frühe neigt Es füllt ſich ſacht 
Es kalt durchweht, Das welke Laub — Der Sonne Lauf, Das Sternenzelt. 
Wo nirgendmehr Die ich geliebt, Am Himmel ſteigt Sie ſind erwacht 
Ein Blümlein ſteht. Sind alle Staub. Der Mond herauf. Zn jener Welt. 


Dies ganz einfache, doch ſtimmungstiefe Gedicht erinnert in Klang und Farbe 
an einen der berühmteſten modernen Lyriker, an Verlaine; auch an die wunder- 
zarten Gebilde japaniſcher Malerei und chineſiſcher Verskunſt denkt man; und doch 
iſt durch die ein klein wenig zu viel herausgearbeitete Pointe eine ſtarkdeutſche 
— ſentimentale — Nuance in dem Gedicht 


Liebesnacht 

O weile, füßer Geliebter! Ein Traum iſt alle das Treiben 
Es triigt dich nur, In dunkler Höh', 
Noch hellt, nur wolkengetrübter, Doch uns muß ewig verbleiben 
Der Mond die Flur. Der Sehnſucht Weh. 
„Ooch nimmer weilen und halten „Ich feb’ nur Kommen und Scheiden 
Die Wolken dort, Am Himmelszelt, 
Es führen ſie wilde Gewalten Es zieht die Seele der Leiden 
Von Ort zu Ort.“ Durch alle Welt.“ 

Die Wolken wandern ſo nächtig 

Ohn' Schmerz und Luſt, S 


Sch aber ziehe dich mächtig 
An meine Bruſt. 
Wohl eines der ſchöͤnſten und einfachſten Liebeslieder der modernen deutſchen 
Lyrik! Auch dieſer Ton — der Ton des Liebesliedes — klingt innig und heimlich, 
voll Sehnſucht und Schmerz, durch die Lyrik Greifs. Aber mir liegt es fern, dieſe 


384 Bergmann: Martin Greif 


Gedichte ihrem Inhalte nach zu rubrizieren und jede Art zu etikettieren. Zch möchte 
nur den Charakter ſkizzieren und ein wenig verdeutlichen. 

Und zu dieſem Charakter gehört, wie ich ſchon andeutete, das Weſen des 
Volksliedes. Er klingt fo leicht, fo gefällig, dieſer Ton des Volksliedes, 
als wäre er unſchwer nachzuahmen; aber die wirklichen Dichter wiſſen es, wie ſchwer 
er nachzuahmen iſt, grad weil er ihnen ſelbſt nur unwillkürlich in den Sinn kommt. 
Dieſe edle Gabe, dieſen Sinn für das Weſentliche des Volksliedes beſitzt Greif in 
hohem Maße. Freilich die Fülle, die gewaltig an tragiſcher Tiefe aus manchem 
Volkslied klingt, die ſchwere Laſt eines Schickſals vermögen die zarten Gebilde 
Greifs nicht zu tragen. Hier verſagt des Dichters Kraft. Dazu ift er nicht Perſön⸗ 
lichkeit, nicht ſchöpferiſche Perſönlichkeit genug. Aber das kleine, gefällige, von 
Sagenmotiven, von Volksvorſtellungen genrehaft durchwobene Lied gelingt ihm 
ganz ausgezeichnet. Manche dieſer kleinen liedartigen Balladen Greifs, wie „Die 
wilden Frauen von Untersberg“, „Der Geworbene“, „Umzug“, „Hufarendurd- 
marſch“, „Barbarazweige“ ſind bekannt geworden. Sie ſind im Ton ganz echt 
getroffene Volkslieder. Kein falſcher Klang iſt in ihnen zu finden. 

Dagegen unterſcheiden fih die vielen größeren „Balladen und Ro- 
manzen“, die Greif geſchrieben hat, insbeſondere nach hiſtoriſchen Motiven, wie 
„Hermann und Flaccus“, „Xenophon“, „König Odoaker“, „Mohammed“ uſw., in 
nichts von den üblichen Balladen der Epigonen. Sie wirken zumeiſt nüchtern und 
farblos, ſie ſchleppen ſich hin im ſich ſtets gleich bleibenden monotonen Fluſſe der 
referierenden Erzählung. Es ift merkwürdig, daß der Dichter ſelbſt diefe Balladen, 
die er nach unintereſſanten klaſſiſchen Motiven, nach oft benutzten mittelalterlichen 
Fabeln und Anekdoten gedichtet hat, nicht als langweilig, als unpoetiſch empfun- 
den hat. Ich glaube, wir Deutſche beſitzen in unſerer Literatur gerade genug folder 
Balladen; die Nachromantiker und ausgeſprochenen Epigonen haben uns reichlich 
damit verſehen. Doch ich nehme einige Balladen oder Romanzen aus dieſem über- 
flüffigen Überfluß heraus. Es find „Held Reinhold“, „Prinzeſſin Rhodopis“ und 
„Das klagende Lied“. Das find wieder einmal feine, vornehme, ganz durchempfun⸗ 
dene und künſtleriſch durchgearbeitete, wahrhaft poetiſche Gebilde, voll Leben, 
voll Süße, voll Lieblichkeit, voll Träumerei, Phantaſie und Sinn. Das ſonderbare 
Gedicht „Das klagende Lied“, deſſen Stoff Greif einem Bechſteinſchen Märchen 
entnahm, ijt ſogar myſtiſch tief; infolge der ſtraffen Rompofition, der eigenartig be- 
ſeelten, von verhaltener Leidenſchaft gleichſam durchbluteten Sprache hält es den 
Leſer in ſeltſamer Spannung wie ein Zauberſpruch. 

Greif hat ſich auch in gedanklichen, in freien Phantaſiedichtungen verſucht. 
Gutes gelingt ihm auch auf dieſem Gebiete, wenn er ſeiner geliebten Natur getreu 
bleibt, wenn er in einem höheren Tone, in einer kraftvolleren Sprache Naturereig- 
niſſe oder irgendwelche ſagenhaften oder idylliſchen Vorgänge ſchildert; man ver- 
gleiche z. B. die Elegie „Sagunt“, die ein früherer Kritiker Greifs, der Grazer 
Profeſſor Prem, mit Recht mit Goethes Wanderer vergleicht. Zwar in dem eigent- 
lichen Gedankengedicht verſagt ſeine Phantaſie, wohl aber weiß er feine und auch 
tiefe Gedanken, eine Lebensanſchauung, in der gefälligen Form des kurzen Sinn- 
gedichts oder in lebhaft geſtimmten Knüttelverſen wiederzugeben. Man vergleiche 


Bergmann: Martin Greif 385 


z. B. die höchſt beachtenswerten Brologe zu feinem HYans-Sahs-Schaufpiel. Man 
wird gezwungen, in dieſe feine Kunſt hineinzuhorchen, und man hört die heimlichen 
Stimmen des Herzens ſingen und ſagen. 

Und damit bin ich bei Greifs Dramen angelangt. Greif hat bekanntlich 
eine ganze Reihe von Dramen geſchrieben, es find faſt durchweg tüchtige, von dra- 
matiſchem Talente zeugende Leiſtungen, das wird nur ein Ubelwollender verkennen, 
fie find reich an plaſtiſch hingeſtellten, lebendigen Szenen, auch an poetiſch ſtimmungs⸗ 
vollen Momenten, fie ſetzen meiſtenteils gut und ſpannend ein — das alles kann man 
wohl zu ihrem Lobe ſagen. Sie leſen ſich ſtellenweiſe gut. Trotzdem wird man 
Greif einen geborenen Sramatiter nicht nennen können. Merkwürdigerweiſe kommt 
der Lyriker Greif, wie er fih in feiner beſten Art — in den kleinen Natur- 
ſtimmungen — offenbart, in den Dramen eigentlich gar nicht zum Ausdruck. Die 
Dramen ſind nicht lyriſch, ſie ſind ſorgfältig und nach den Regeln des Dramas 
aufgebaute, ſtrikte durchkomponierte Gebilde; die Handlung ift die Hauptſache, oft 
allzuſehr die Hauptſache. Aber was ihnen fehlt, das iſt die dramatiſche hinreißende 
Kraft, die dramatiſche Leidenſchaft, das eigentliche, das wirkſame tragiſche Handeln. 
Und das hängt wiederum damit zuſammen, daß die Helden dieſer Dramen keine 
Helden, keine Perſönlichkeiten find, daß die vielen Charaktere keine Individuali⸗- 
täten find, daß die Führung der Handlung keine aus pſychologiſchen Tiefen, Grün- 
den, Notwendigkeiten, Gegenſätzen uſw. ſich ergebende iſt. Die Handlung wird 
überhaupt nicht pſychologiſch geführt, fie haftet an Motiven, fie wird nach vor- 
liegendem hiſtoriſchen Material oder nach gewiſſen erdachten Momenten aus- 
gearbeitet, vollzieht ſich äußerlich logiſch richtig — und es fehlt ihr das, worauf es 
vor allem ankommt: Leben, Seele, Leidenſchaft, — ſie iſt flach, breit, farblos, 
fie ift tot... Deshalb vermag ich Greifs Dramen keine beſondere Bedeutung zu- 
zuſprechen. Dem überſchwenglichen Lobe, das Profeſſor Lyon in ſeiner Broſchüre 
„Martin Greif als Lyriker und Dramatiker“ (Leipzig, Teubner) den Dramen Greifs 
zuteil werden läßt, vermag ich nicht beizuſtimmen. 

3d möchte die erſten Dramen Greifs, ,Corfig Ahlfeldt“, „Nero“, 
„Marino Falieri“, „Prinz Eugen“, für die gelungenſten halten. Sie 
zeugen noch von der Friſche einer poetiſchen Geſtaltungskraft. Ich will nicht auf 
die einzelnen Dramen eingehen; ich halte es nicht für opportun und geſchmackvoll, 
dieſen Aufſatz mit Inhaltsangaben von Dramen zu füllen und an Einzelheiten 
logiſche oder techniſche Fehler nachzuweiſen. Jene Tragödien und Schauſpiele 
zeugen, wie geſagt, von einer gewiſſen poetiſchen Spannkraft; aber man empfindet 
ebenſoſehr die oft unvermittelt ſchnell ſich erledigende Handlung als eine unwirkliche, 
ſprunghafte und lückenhafte. Dies ift namentlich im „Corfiz Uhlfeldt“ und im 
„Marino Falieri“ der Fall. Jm „Nero“ findet man febr anſchauliche, lebendige 
Szenen; doch das Ganze — in ſeinem Durcheinander und Nebeneinander von 
Epiſoden — wirkt wenig eindringlich und charaktervoll. 

Greifs Dramen, die geſchichtliche Vorgänge und Charaktere der deutſchen 
Kaiſerzeit behandeln, möchte id breit hingemalten, nicht unintereſſanten Gemäl- 
den vergleichen, denen aber ein bedeutſamer Mittelpunkt fehlt, deren einzelne 
Gruppen, näher beſehn, ebenfalls an Friſche und Farbe verlieren. Es WE Bilder, 

Der Türmer XI, 9 


386 BSenzmann: Martin Greif 


die in der Erinnerung bald verblaſſen, geſchweige denn, daß fie Leben find. Greifs 
Geſtaltungskraft verſagt grade hier, er vermag keine Menſchen zu ſchaffen, 
noch weniger Perſönlichkeiten, Helden wie „Heinrich der Löwe,“ „Ludwig 
der Bayer“. Es wäre eine Verſündigung, zum Vergleiche etwa die gewaltigen 
Hohenſtaufendramen Grabbes hier heranzuziehen. Greif hat u. a. auch eine 
Tragödie „Agnes Bernauer“ geſchrieben. Das Drama ſetzt mit hübſchen 
Volksſzenen ein, etwas wie ein dramatiſcher Stil möchte ſich entpuppen — und 
dann wird es immer ſchwächer, die unglaublichſten Dilettantenkünſte ſpielen, 
pſychologiſche Anmöglichkeiten paſſieren — bis alles ſchier märchenhaft zu Ende geht. 

Auch das Hans -Sachs-Schauſpiel, deſſen petih feinen Prolog ich 
vorhin erwähnte, ift eine Folge gleichförmiger, hübſch gedachter, aber unwirk- 
ſamer Szenen. Es läßt ſich über alle Dramen Greifs dasſelbe ſagen. Er hat u. a. 
auch ein Schauſpiel „General Vork“ geſchrieben. Es iſt — möchte ich fagen — 
aus dünnen Brettern zurechtgezimmert; in ſeinem marionettenhaften Stil, der 
in ſeiner Nüchternheit vielleicht dem Zeitſtil der Handlung entſprechen ſoll, wirkt 
es im Hinblick zu den großen Momenten und Männern, die es hätte veranfchau- 
lichen ſollen, direkt trivial, manchmal in den überaus leichtfertig motivierten 
„tragiſchen“ Ereigniſſen direkt komiſch. 

Hervorheben möchte ich jedoch die ſtimmungsvolle lyriſche und ſzeniſche Um- 
kleidung, die Greif dem Oemetriusfragment Schillers gegeben hat. Er hat das 
Drama ſelbſt nicht angetaſtet. 

Greifs Dramen find in zwei Bänden erſchienen, auch einzeln „Agnes Bern- 
auer“, „Hans Sachs“, „General Vork“ und „Schillers Demetrius“. — Übrigens 
gab der Verlag E. F. Amelang, Leipzig, in dem alle Werke Greifs erſchienen ſind, 
im Jahre 1895 und 1896 die „Geſammelten Werke“ des Dichters heraus, die jetzt 
in neuer Ausgabe erſcheinen. Von Schriften über Greif erwähne ich noch die leider 
im Buchhandel vergriffene von Dr. S. M. Prem: „Martin Greif. Verſuch einer 
Geſchichte feines Lebens und Dichtens mit beſonderer Rüdficht auf feine Dramen“. 
Wie mir Profeſſor Prem ſchrieb, bereitet er eine Neubearbeitung vor. Ferner 
nannte ich bereits Profeſſor Lyons Broſchüre, die manche gute Bemerkung ent- 
hält, und nenne endlich die kleine, ausgezeichnete Abhandlung von Laurenz Kiesgen, 
die in der Sammlung „Moderne Lyriker“ des Verlages Max Heſſe erſchienen ift. 

Ich bin auf das Leben Greifs nicht eingegangen, doch möchte ich zum Schluß 
noch einige wenige Daten mitteilen. Martin Greifs Familienname ijt eigentlich 
Friedrich Hermann Frey. Die Heimatſtadt des Dichters ift Speyer, wo er als 
Sohn eines höheren Verwaltungsbeamten am 18. Juni 1839 geboren wurde. 
In Speyer beſuchte der Knabe das Gymnaſium, ſpäter ſiedelte die Familie nach 
München über, wo Greif 1857 als Kadett ins bayriſche Heer eintrat; er wurde 
1859 Leutnant und lag in verſchiedenen Orten Bayerns in Garniſon. Der Tod 
löfte einen zarten Liebesbund. 1867 trat Greif aus dem Heere, 1869—1880 lebte 
er in Wien im Verkehr mit Moſenthal, Rollett, Pichler, Franzos u. a. Seit 1880 
lebte er mit Unterbrechungen in München. 


KA 


Rultuewerte in Dramen 387 


Kulturwerte in Dramen 


Sas Wort von Deutfdland als dem Land der Dichter und Denker ift nachgerade zur 
YE bloßen Phraſe entartet. Und es behält eigentlich nur nod einen Sinn in der Ber- 
Grr bindung „Dichter und Denker“. Das Wort vom „denkenden Künſtler“ ift nicht 
zufällig bei uns gewachſen. In Oeutſchland iſt recht eigentlich die Heimat der denkenden 
Dichter und der dichtenden Denker. Oas beweiſt faſt jede Seite der deutſchen National- 
literatur. Im allermodernſten Literaturleben iſt es nicht anders. 

Wir haben noch heute manchen nicht wertlofen Rulturſchatz in dramatiſchen 
Dichtungen, der unbeachtet verkommt, zu unſerem eigenen Kulturſchaden! Vor allem 
liegt dieſes wohl an der weitverbreiteten Verſtändnisloſigkeit dem Buchdrama gegen- 
über. Es ift ja bekannt, daß im Land der Dichter und Denter dramatiſche Gedichte überhaupt 
nur nach dem Bühnenerfolg gelefen werden, oder wenn fie bereits „klaſſiſch“ geworden find, 
das heißt Marmordenkmal und Lexikonnotiz verdient haben. Müßten nicht auch in dieſem Punkte 
die Zeitſchriften und Zeitungen mit Liebe ihre Pflicht tun? 

Wer dem Buchdrama die Oaſeinsberechtigung überhaupt abſtreitet — nicht wenige 
ſehen es als ein notwendiges Übel allerhöchſtens an! —, dem wird vergeblich zugeredet werden. 

Wo das Buchdrama beginnt, wiſſen wir noch nicht genau. Die Antwort: Dort, wo das 
Bühnendrama aufhört, vermag nicht zu befriedigen. Wer entſcheidet denn über das 
Bühnenwert? An den Theatern von heute verteilen leider nur zu oft Clique und Claque und — 
der Herr Theateragent die Lofe. Wie wäre es ſonſt möglich, daß ſich ein in jeder Beziehung 
raffinierter Geſchäftsdichter wie Henry Bernſtein monatelang auf dem Spielplan hält, 
trotzdem ihn die Beſten der Kritik energiſch abſchütteln, und auf der andern Seite, daß Ott o 
Erlers „Zar Peter“, das wirkſamſte Bühnenſtück des neuen hiſtoriſchen Dra- 
mas, ruhig beiſeite gelaſſen wird? Manch ein gehaltvoller, aber irgendwie ſpröder Anfänger 
kommt über drei oder vier Abende nicht hinaus und ftürzt dann in den Abgrund. Wie viele 
werden der Probe einer Aufführung überhaupt nicht ausgeſetzt! Unſere „Kritik“ ſcheint nicht 
eindeutig, lar und ehrlich und — fähig genug zu fein. Unſere meiſten Bühnen befinden fid 
bei aller ihrer techniſchen Vollendung, ihrem Luxus in Regie und Ausſtattung auf einem 
beklagenswerten Kulturtiefſtand, abgeſehen noch davon, daß das zarte Seelchen Phantaſie dabei 
elendiglich erſticken muß. 

Neben den vielen Dramenwerken, die durch Bühne, Kritik und — Publikum zur Buch- 
wirkung verdammt werden, gibt es ſolche, die von vornherein den Verzicht auf die Bühne an 
der Stirn tragen. 

Rudolf Burghallers „Phryne“ (ein Drama in einem Vorſpiel und drei 
Akten, bei Goſe & Tetzlaff, Verlagsbuchhandlung in Berlin-Wilmersdorf, erſchienen) ift ein 
Kulturwerk und will es ſein. Wenn man die Art, „ideelle Lebenswerte in geſchichtliche 
Exeigniſſe hineinzutragen, wie es unſere Klaſſiker getan haben“, geſchichtlich nennt, dann kann 
man allerdings hierbei von einem „hiſtoriſchen“ Drama ſprechen. Wie dem auch fel, die Hetäre 
Phryne (Mneſarete) und der Bildhauer Praxiteles und zwiſchen ihnen die öffentliche Meinung 
Athens ſind die drei „Ideen“ der Dichtung, deren Kern in dem Wort ſteckt: 

„Es formt das Schickſal ſeine Menſchen in einem Entwicklungskampfe, der die höheren 
Lebenswerte: Stärke, Schönheit und Liebe, die niederen: Schwäche, Häßlichkeit und Haß 


VH N ö 
eG 


beſiegen läßt!“ 


Im Streben nach dem „höheren“ Menſchen findet fih der Künſtler in der tragiſchen 
Lebenskultur, jener Nietzſchekraft: die Notwendigkeit zu lieben. „Die 
Tragödie des Genies“ könnte der Untertitel des Dramas lauten, auch im Hinblick 
auf Phrynes Entwicklung: vom Naturkind durch den Willen zum eigenen Leben in der Luſt 
lachenden Menſchentums zum freien, ſtarken Weibe. 


588 Kulturwerte in Dramen 


. . bem liebenden Freien, bee fretend 

bie Liebe aus Achtung verlangt, 

bringt jetzt bas wiſſende Weib, 

beffen Willen er Achtung bezeugte, 

die Starke dem Starken ſich bar... 


Inſofern iſt „Phryne“ ein Hohes Lied auf die Freiheit der edlen, 
alles adelnden Geſinnung ein friſcher, lebendiger Hauch in die Höhe einer neuen 
und höheren Menſchheit. Die Liebe des Praxiteles und der Phryne ſoll „Neid nach höch⸗ 
Her Liebe wecken“, wenn Neid das Erwecktwerden und -fein der eigenen Lebensſtärke 
bedeutet. 

Um den einen im Verhältnis zum andern, aber mehr auf die Vielheit, das Volk gerichtet, 
kriſtalliſiert ſich auch Run o Schalks „dramatiſche Warnung“: „Die Sintflut in 
Griechenland“ (Leipzig 1907, im Verlag für Literatur, Kunſt und Muſik). Eigenartige 
Gedanken ſtehen in dieſem Werk ganz im Vordergrund. Die Knäuelung der wichtigſten Kultur- 
fragen und Antworten machen es nicht gerade überfihtlih. Wo aber bei Bur ghaller das 
Einfachere ift, herrſcht bei Schalk das Schönere. Iſt jener ſtolz auf eine gewiſſe Ungehobelt- 
heit, fo ift dieſer noch unſicher in feinem Rhythmus. Durch die beiden Hauptgeſtalten D e u- 
kalion und Pyrrha, Vollmann und Vollweib, alſo wie Praxiteles und Phryne, wird das 
Geſchlechtsproblem zwar auch berührt und ebenſo kerngeſund und ſeelenvoll, ebenſo fern der 
geringſten überreizten oder perverſen „modernen“ Erotik, jedoch univerſal in eine Held- und 
Heilandsdichtung hineingeſtaltet. Man darf zuweilen an Rurt Geudes ſehr gehaltvollen 
„Sebaſtian“ denken. — Verjüngung des ganzen Volkes — vorher in den ein- 
zelnen —, Wiedergeburt in einer tieferen und ehrlicheren Kultur, das iſt der große Ruf dieſer 
Dichtung: 

Alles 

Set wieder friſcht Wir wollen edel fein, 
Unb aus der Runft bie Größenkraft ber Wahl 
In jeden Ausdruck unſres Lebens heben. 

Die Hanblung foll dem richtenden Gefühl 
Vollkommen ſein. Wir ſtreben nicht mit allen, 
Nicht gegen alle, ſondern mit den beſten 
So foll es fein: bie höchſte Form bes Lebens 
Iſt immer tugenbhaft. 


Burghaller rechnet von ſich aus eine neue Zeit, Schalk hingegen geht mit der Kultur 
„bis wo fie f a f t i g ift, und weiter nicht“. Er entflieht einem Land, das in Gedanken und Reden 
ſchwelgt, berauſcht von Un- und ÜUberkultur, umſchlungen von Barbarei, zerfreſſen von Materia; 
lismus iſt, und weiſt auf „den freien Weg der Taten“: 


Wie müffen nach und nach 
Die Welt zum Ausbrud unfrer Seele machen. 


Deutalion, des Prometheus Sohn, foll jedem einzelnen von uns das Licht bringen: 


Ou mußt wachſen, um dich auszubrüden, 
Und leiden, bis du ehrlich biſt. 

Seine Regung muß dir alles ſein. 

Mit dem Arteil deiner Ehrlichkeit 

Soll bir alles gliden. 


M 


Friedrich Schönemann 


Der Oichter des Struwwelpeter 389 


Der Dichter des Struwwelpeter 
(Heinrich Hoffmann⸗Donner, geb. am 13. Juni 1809) 


Es ging ſpazleren vor dem Tor 

Ein kohlpechrabenſchwarzer Mohr. 
Die Sonne ſchien ihm aufs Gehirn, 
Da nahm er feinen Sonnenſchierm. 
Da kam ber Lubwig hergerannt 

Und trug fein Fähnchen in der Hand. 
Der Rafpar kam mit ſchnellem Schritt 
Und brachte ſeine Brezel mit; 

Und auch der Wilhelm war nicht ſteif 
Und brachte ſeinen runden Reif. 

Ole ſchrien und lachten alle brei, 

Als dort das Mohrchen ging vorbel, 
Well es fo ſchwarz wie Tinte fet! 


Da kam der große Nikolas 

Mit feinem großen Zintenfaß. 

Der ſprach: „Ihr Rinder, hört mir zu 
Und laßt den Mohren hübſch in Nuh’! 
Was kann denn dieſer Mohr dafür, 
Oaß er fo weiß nicht ift wie ihr?“ 
Die Buben aber folgten nicht, 

And lachten ihm ins Angeſicht, 

Und lachten ärger als zuvor 

Aber den armen ſchwarzen Mohr. 


Da wird der große Nikolas böſe, er nimmt die Buben und: 


Bis übern Kopf ins Tintenfaß 
Tunkt fie der große Nikolas. 


Auf dem nächſten Blatte tanzen die drei ganz ſchwarzen Buben an uns vorüber — 
jede Miene, jede luſtige Bewegung erkennen wir wieder, ſo wie wir ſie als Kinder geſehen, 
ſtudiert und belacht haben ! ... Vor mir liegt die 2 9 4. Auflage des weltberühmten Struw- 
welpeter. Ich blättere weiter: da ift der „Friederich, der Friederich — das war ein arger Wüte- 
rich !“, da ift die „gar traurige Geſchichte von Paulinchen mit dem Feuerzeug“, „Die Geſchichte 
vom Daumenlutſcher“, „Die Geſchichte vom Suppen-Kaſpar“ und „vom Zappel-Philipp“ 
und „vom Hans Guck-in-die-Luft“. Wie köſtlich friſch, wie charaktervoll muten uns dieſe naiven 
Geſchichten und Bilder neben den modernen Kinderbildern und ⸗geſchichten an, ganz abgeſehen 
davon, daß ſie uns unvergeßliche, uns uralt anmutende vertraute Bekannte ſind! Zch ſagte 
ja fon, wir erkennen jede Phyſiognomie, jeden Rodzipfel, jedes Blümchen und jedes Stern; 
chen wieder, fo genau und fo oft haben wir fie uns einſt angeſehen. Ich möchte hierbei nicht das 
Problem der „Runft für das Kind“ erörtern. Aber welches ift der Zauber, der von dieſen Bil- 
dern ausgeht, woher kommt er urſprünglich? Ich finde ihn in dem Sinnvollen und Charakter- 
vollen der Bilder und Geſchichten, in dem Einfachen, aber Angeſucht - Raiven; ich emp- 
finde ihn ſodann in dem Gemütlichen, Humorvollen, ja in dem Seeliſchen — möchte ich 
fagen — biefer ftilvollen Berfe und Bilder: Der, der fie einſt gezeichnet und gedichtet hat, hat 
ſie mit innigſter Li e be gezeichnet und erdacht, er hat ſeine naive, friſche, fröhliche und reine 
Seele in dieſe Bilder und Geſchichten hineingedichtet und hineingelacht. Daher liegt ein ewiger 
Sonnenſchein über dieſen Blättern !... Ihr Dichter und Zeichner kann mit keinem Geringeren 
als mit dem unſterblichen Wilhelm Buſch verglichen werden. 

Auch Dr. Heinrich Hoffmann-Donner — dies ift der wenig bekannte Name des Oichters 
des Weltbuches „Struwwelpeter“ — machte die Verſe ſelber zu feinen Zeichnungen wie Buſch. 


390 Der Dichter des Struwwelpeter 


In launiger Weiſe erzählt er ſelbſt, wie er auf den Struwwelpeter gekommen ift (vgl. , Garten- 
laube“, Jahrgang 1871, Nr. 46, und „Gartenlaube“, Jahrgang 1893, Nr. 1): 

„Es war im Jahre 1844, das Weihnachtsfeſt nahte; ich hatte damals zwei Kinder, einen 
Sohn von dreieinhalb Jahren und ein Töchterchen von ein paar Tagen. Nun ſuchte ich fir 
jenen ein Bilderbuch, wie es für einen ſolchen kleinen Weltbürger ſich ſchicken mochte; aber alles, 
was ich da zu ſehen bekam, ſagte mir wenig zu. Endlich kam ich heim und brachte ein Heft mit, 
welches ich meiner Frau mit den Worten überreichte: „Hier habe ich, was wir brauchen.“ Ver- 
wundert öffnete ſie die Blätter und ſagte: „Das iſt ja ein leeres Schreibheft!“, worauf ſie die 
Antwort erhielt: „Jawohl, aber da will ich dem Jungen ſchon ſelbſt ein Bilderbuch herſtellen!“ 
Das Kind lernt einfach nur durch das Auge, und nur das, was es ſieht, begreift es. Mit mora- 
liſchen Vorſchriften zumal weiß es gar nichts anzufangen. Die Mahnung: Sei reinlich! fei vor- 
ſichtig mit dem Feuerzeug und laß es liegen! fei folgſam! — das alles find leere Worte für das 
Kind. Aber das Abbild des Schmutzfinken, der brennenden Kleider — das Anſchaun allein er- 
klärt ſich ſelbſt und belehrt.“ 

And nun erzählt Hoffmann, wie er in ſeinen freien Stunden ohne viel Vorbereitung ans 
Werk ging, welche Mühe ihm die Erfindung der Motive, das Kolorieren vim, machte, wie Cr- 
lebniſſe — er war Arzt — der Phantaſie nachhalfen, wie er ſelbſt nach dem Leben unartige 
Kinder gezeichnet habe. Auf das letzte Blatt ſetzte er dann den gewaltigen Struwwelpeter, 
der jetzt übrigens das erſte Blatt „ziert“. Das Originalexemplar kam dann auf den Weihnachts 
tiſch, bald aber wurden ſeitens anderer Familien Wünſche laut, daß das Buch gedruckt würde. 
Die Angelegenheit wurde in dem literariſchen Verein (in Frankfurt a. M.), der den ſeltſamen 
Namen „Die Bäder des Ganges“ führte, beſprochen, und bald übernahm ein Verlag die 
Herſtellung des Buches, das in einer Erſtauflage von 1500 Exemplaren hinaus in die Welt ging. 
Nach etwa vier Wochen war die Auflage vergriffen. Der Abſatz wuchs dann von Jahr zu Jahr 
und betrug nach fünfzig Jahren 30 000 Exemplare jährlich. 

In ähnlicher Weiſe entſtanden die übrigen Kinderbilderbücher Hoffmanns: „König 
Nußknacker und der arme Reinhold“, „Prinz Grünewald und 
Perlefein mit ihrem lieben Eſelein“ und „Baſtian der Faulpelz“; 
ſie ſind jedoch nicht ſo beliebt geworden wie der „Struwwelpeter“. Ich möchte ſie jedenfalls 
den meiſten modernen Kinderbuͤchern vorziehen. Sie find ganz dem kindlichen Seelen und 
Phantaſieleben angepaßt, die Bilder find voll märchenhafter, gemütvoller Poeſie, voll Humor; 
ſie wirken in der holzſchnittartigen Manier geradezu ſtilvoll. Der Stil der Zeit — der fünfziger 
Jahre des verfloſſenen Jahrhunderts — ſpricht leiſe aus ihnen und mutet uns altfräntifch und 
doch vertraut an, aber auch ein zeitloſer Stil offenbart fidh eindringlich in ihnen, der echte, volts- 
tümliche Stil des Kinderbuches, der wie alle wahrhafte Poeſie auf das Volkslied, auf volts- 
tümlihe Vorſtellungen und Anſchauungen zurückgeht. Zeichnungen wie die Wmrantung der 
Seite 10 des „König Nußknacker“, wie „Der Wettlauf“ und „Das Ballſpiel“ auf Seite 20 
und 21 des „Prinz Grünewald“ zeugen überdies von einem ausgeprägten Schönheits- und 
Stilgefühl. Wie Hoffmann hier die Perſpektiven in einfachſter — geradezu genial einfacher 
Weiſe — hergeſtellt hat, das iſt bewunderungswürdig! 

Es war mir nicht möglich, etwas Genaueres oder Intereſſantes über das Leben goff⸗ 
manns zu erfahren. Der Verlag Rütten & Loening in Frankfurt a. M., bei dem ſämtliche Rinder- 
bücher Hoffmanns erſchienen ſind, hielt es nicht für nötig, auf meine an ihn mehrfach deshalb 
gerichteten Zuſchriften zu antworten. Aus dem Brockhaus entnehme ich, daß Hemrich Hoff- 
mann, unter Hinzufügung des Namens feiner Frau Hoffmann-Oonner genannt, am 13. Juni 
1809 in Frankfurt a. M. geboren ift, daß er in Heidelberg, Halle und Paris Medizin ſtubierte, 
dann Lehrer der Anatomie am Senckenbergſchen Stift in Frankfurt und 1851—89 dirigie- 
render Arzt an der ſtäͤdtiſchen Frrenanſtalt daſelbſt war, deren Bau er veranlaßt hatte. Er ſtarb 
am 20. September 1894. Auf mediziniſchem Gebiete veröffentlichte er „Beobachtungen und 


Zwei Wanberbider 391 


Erfahrungen über Seelenſtörung und Epilepſie“. Außer den beſprochenen Kinderbüchern ver- 
öffentlichte er lyriſche Gedichte (1842), in zweiter, vermehrter Auflage unter dem Titel „Auf 
heitern Pfaden“ 1875 erſchienen; er ſchrieb ferner unter dem Pſeudonym Polykarpus Gaft- 
fenger eine ſatiriſche Badeſchrift: „Der Badeort Salzloch“ (1861), dann das „Breviarium 
der Ehe“ (1853), „Jumoriſtiſche Studien“ (1847) und „Das Allerſeelenbüchlein. Eine humo- 
riſtiſche Friedhofsanthologie“ (1858). Wie man fieht, find auch alle diefe Schriften und Did- 
tungen auf einen heiteren Grundton geſtimmt. Nach den Proben, die mir vorliegen, erhebt 
ſich aber nichts über das Dilettantenhafte. An dem „Breviarium der Ehe“ z. B. bewundere 
ich L. Richters poetiſche Titelzeichnung, die ſcherzhaften und ſatiriſchen Gedichte haben mich 
gelangweilt. — Übrigens habe ich weder in Bartels noch Kurz' Geſchichte der deutſchen Litera- 
tur etwas über H. gefunden. Auch im Vilmar iſt er nicht einmal erwähnt. Ich meine dagegen, 
daß er neben Robert Reinick, Hoffmann von Fallersleben u. a. als Kinderdichter unbedingt 
genannt werden muß. 8 Hans Benzmann 


LS 
Zwei Wanderbücher 


Ga Ber bekannte katholiſche Theologe A. NM ey en b er g fendet ein Buch Wartburg- 
2 2 fahrten“ aus (Luzern, Raber & Ko.). Man darf dieſes gedanken und ftimmungs- 
REEL Teiche Buch in recht viele Hände wünſchen. Beſonders ſollten die deutſchen Ratho- 
liken nicht daran vorübergehen. „Mit welch ſtiller Freude ſchrieb ich die Zeilen dieſes Buches! 
Faſt darf ich hoffen, daß ſie eben deswegen auch einigen anderen Freude bereiten werden. 

Schrieb ich ſie doch mit Herzblut.“ in 

So iſt es in der Tat. Wir haben es hier mit einem erlebten Buche zu tun; wir find hier 
in Seelenland. Jene ſchöne thüringiſche Landſchaft, mit der berühmten Burg inmitten, wird 
innerlich erſchaut, wird beſeelt, gibt ihre Geſchichte her. Mehr als das: der Verfaſſer zieht die 
ethiſchen Folgerungen aus dieſem eſoteriſchen Schauen. Er nimmt von feiner religiöſen Welt- 
anſchauung aus Stellung zu den großen Dingen, die dort geſchehen find, zu den Gedanken, die 
ihn dort durchfließen. Er verflicht ſeine Erkenntniſſe mit den Geiſteskämpfen der Gegenwart 
und beſchäftigt ſich z. B. häufig und warm mit Lienhards „Wegen nach Weimar“, mit Kraliks 
„Gral“ und Muths „Hochland“. Und dann baut er, vom klaſſiſchen Ideal ausgehend, das drift- 
liche Ideal der harmoniſchen „ſchönen Seele“ auf. Und es mutet uns eigenartig an, Schiller 
nebſt Goethe gedanklich neben Ignatius von Loyola aufwandern zu ſehen. Auch was er über 
die Perſönlichkeit der heiligen Elifabeth — als lebendiges Beiſpiel der „ſchönen Seele“ — aus- 
führt, verdient Beachtung. 

Selbſtverſtändlich bekundet der Luzerner Kanonikus und Profeſſor deutlich feine re- 
ligiöſe und kirchliche Weltanſchauung. Ja fie bildet des Buches Grundlage. Aber wenn wir 
auch (S. 81) den Satz geſperrt leſen: „Aber grade bei der Entfaltung derartiger Programme 
darf nie vergeſſen werden: welch ungeheure Kluft das poſitive Chriſtentum, die katholiſche 
Gottes- und Weltanſchauung von jeder, auch der feinſten Form des Nationalismus und Moder- 
nismus trennt“ — wir finden S. 100 einen weiteren Satz durch Sperrdruck hervorgehoben, 
der jenen erſteren ausgleicht: „Sie führt (die dort geſchilderte Entwicklung) auch von ſelbſt zu 
bedeutſamen Beiträgen zur Nationalliteratur, zumal das echt Humane, Nationale und Patrio- 
tiſche mit dem Chriſtlichen weſensverwandt ift, von ihm ſich weder trennen will noch kann.“ 

Das mitunter, aus Herzensfülle, weitſchweifige Buch könnte ein wenig Straffung ver- 
tragen; auch entgeht es nicht immer einer leiſen Neigung zu einer Art geiſtlicher Rhetorik. 
Aber das hängt mit des Verfaſſers Weſensart und Vorzügen zuſammen. 

Wie anders, wie nahezu kühl mutet da des Elſäſſers Karl; Gruber „Wasgaur 


392 Neue Bücher 


herbſt“ an! Dieſes unabhängige Wanderbuch (Straßburg, L. Seuft) verrät einen natio- 
nal und religiös gleichſam indifferenten oder neutralen Wandersmann, der ſich mit der Gegen- 
ſtändlichkeit beſchäftigt und die geſchichtlichen Dinge in behaglicher Läſſigkeit vorüͤberziehen läßt. 
Kopf und Auge haben hier die Führung, nicht das religiöſe Herz. Und doch ift auch hier anteil“ 
nehmende Wärme: es ift Freude an der Anſchauung, am Detail, an den ſinnfälligen Formen 
der Landſchaft oder der Witterung, am Anekdotiſchen und Pfychologiſchen der Geſchichte und 
der Chronik. Das Buch wirbt für die „Schönheiten der Nordvogeſen“. Aber Gruber, ein be- 
gabter Eſſayiſt, kommt auf das elſäſſiſche Geiſtesleben überhaupt zu ſprechen. „Die Wanderun- 
gen wurden mit zunächſt hoffender, dann bewußter Beziehung auf das erwachende jung- 
elfaffifhe Stammesleben angetreten.“ Wir verdanken dieſer ſteten Anteilnahme des aufmert- 
famen Feuilletoniſten bereits ein wichtiges Buch „Zeitgenöſſiſche Dichtung im Elſaß“ (Straßburg, 
L. Beuſt): neben Köhlers Betrachtungen über das „Elſäſſiſche Theater“ (Straßburg, Schleſier & 
Schweikhardt) ein unentbehrlicher Beitrag zur Kennzeichnung der jungelſäſſiſchen Beſtrebungen. 

Auch in dieſem Vanderbuch ift Gedankliches und Landſchaftliches miteinander verfloch- 
ten. Und eine perſönliche Note hat auch dieſes Buch. Nur ſteht eben ein ganz anders geſtimmter 
Menſch dahinter: ein weltlicher Menſch gleichſam, der von Geſchmack und Anſchauung ausgeht, 
in deſſen Herzen ſchwerlich jemals religiöfe Seelenkämpfe ftattgefunden haben. Ob er 
plaudert von den Händeln der Lichtenberger Burgherren oder von der Oberſteinbacher Maler- 
kolonie, vom Eſſen und Trinken auf den Ritterburgen oder von der Geſchichte des Wafichen- 
ſteins, von der ſogenannten Décadence in der Literatur oder vom Hagen -Darſteller Gabillon, 
von Regenwetter und Blätterfall oder vom Farbenſpiel der Sonne: — ſeine Denkart und 
Diktion bleibt „der Erde treu“. Er hat ſogar ein bißchen Angſt vor Pathos und Rhetorik; er weicht 
gern in eine leichte, nicht verletzende Zronie aus, etwa in Montaignes läßlicher Art. 

Und fo bilden jener Gralſucher auf der Wartburg und dieſer Beobachter in den 
Nordvogeſen einen Gegenſatz wie Kirche und Welt. Wir find unbefangen genug, beiden Wander- 
büchern Lefer zu wünſchen. L. 


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Neue Bücher 


Erich Wunſch: Aus des lieben Gottes Arbeitsſtübchen. (Berlin, 
Harmonie-Verlag, 3 M.) 

Für ſich einzeln geleſen, wirken dieſe Dichtungen ſympathiſch. So geſammelt hat man 
dagegen das Gefühl einer allzu ſyſtematiſchen Ausnutzung dieſer Stoffe. Doch find die zu- 
grunde liegenden Gedanken durchweg ſchöͤn. So Gottes freudige Erſchuͤtterung, als er das Herz 
Goethes brechen hört, den er nun als Gaſt zu empfangen ſchreitet. Ein guter Gedanke liegt auch 
dem Eidyllion zugrunde, wo die vielen Malersleute im Himmel beſchließen, für ihre nächſte 
Ausſtellung nur das Bild Gottes zu malen, und wo dann doch die Ausftellung, die gufammen- 
kommt, genau ſo iſt wie alle früheren, voller Landſchaften, Hiſtorien, Legenden, Genrebilder; 
auch Porträts ſind da, nur keines vom lieben Gott. Denn kein Maler hat's vermocht, Gottes 
Antlitz zu malen. 

„Sedoc wie jeber dich auf Erden ſchaute, 
Wie er in dem dich ſchaute, was er liebt, 
Zn allem, was ihm tief das Herz bewegte, 
Das findeſt bu allhier auf dieſen Bilbern.“ 

Das Buch ift mit Zeichnungen von Hans Lindloff gefhmüdt, die merkwürdig unfelbftän- 

dig zwiſchen Staſſen und Fidus hin und her ſchwanken. 


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KRaumkunſt und Religionskunſt 


Von 


Dr. Hans Schmidkunz 


ach langer Vernachläſſigung, zumal um die Mitte des 19. Jahrhun- 
derts und noch weiterhin, wird die religiöfe Kunſt feit einiger Zeit 
wieder eifriger gepflegt. Zwar daß der Kirchenbau quantitativ und 
wohl auch qualitativ vorwärtsſchreitet, könnte vielleicht als etwas 
recht Außerliches und im übrigen als eine rein architektoniſche Sache, wie ſo viele 
weltliche Baugelegenheiten, gedeutet werden. Wenn ferner in der Malerei und 
etwa in der Plaſtik religiöſe Motive häufiger werden, fo mag das einem bloßen 
Eifer des Suchens nach „Stoffgebieten“ entſpringen; und tatſächlich werden ja ſchon 
auf der Kunſtſchule derlei Themen eventuell ebenſo wie andere und durcheinander 
mit ihnen bearbeitet — zum Leidweſen derer, die eine ſolch äußerliche Beziehung 
des werdenden Künſtlers zu den Gegenſtänden ſeiner Formenſprache beklagen. 

Noch mehr: ein Intereſſe an religiöſer Kunſt verlangt eben nicht bloß Kunſt, 
ſondern auch Religion und ſieht in einer bloß weltlichen Behandlung ſeiner Stoffe 
fogar eine Gefahr. Nur wenn ein ſolches Werk nicht bloß artiſtiſch, ſondern auch 
religiös wirkt, was ohne eine derartige Geſinnung des Künſtlers nicht recht gelinge, 
nur dann meint jenes Intereſſe, befriedigt zu fein. 

Aber auch umgekehrt: die bloße Geſinnung tut's noch nicht. Das war und iſt 
ja das beſondere Unglück, daß gutgemeinte Leiſtungen auf religiöſem Gebiet mit 
geringerer Rünftlerfchaft auszukommen glauben, als die auf weltlichem. Nüchternſte, 
rein baugewerkliche Kirchengebäude, ausgeſtattet mit abſchreckend rohen Plaſtiken 
und ſüßlichen Malereien, ſodann die Willionenmaſſen induſtrieller Devotions- 
artikel: das alles mußte ſchließlich dem religiöfen Leben ſchaden und dem irreligid- 
fen nutzen. 

Daß heute tatſächlich nach beiden Seiten manches Beſſere geleiſtet wird, 
ift nicht vielen bekannt; und die es wiſſen, wiſſen auch, wieviel noch übrigbleibt. 
Anſere Sache ift hier nicht eine Regiſtrierung moderner Religionskunſt überhaupt, 
wohl aber die Frage, was davon all dem, das ſich Raumkunſt nennt, zugute kommt 
und weiterhin zugute kommen ſoll. 


394 Schmidkunz: Raumtunft und Religionstunft 


Nahe liegt der Gedanke, daß Kunſt ebenſo wie vieles andere neutral bleiben 
und Religion ſich aufs eigene Gebiet beſchränken müſſe. Können wir hier zwar 
nicht eine derartige Prinzipienfrage beantworten, ſo dürfen wir doch bemerken, 
daß in dieſen Dingen ein ſcheinbares Streben nach Neutralität mehr, als man gu- 
nächſt ahnt, zu einer Verletzung der Neutralität nach einer entgegengeſetzten Seite 
führt. Ze weniger himmliſch die Kunſt ſein will, deſto irdiſcher wird ſie. Das iſt 
ebenfalls bereits eine poſitive, keine neutrale Stellung. 

Sofort bekommt die Raumkunſt damit zu tun. Wo die Religion aufs „eigene 
Gebiet“ beſchränkt wird, ſieht ein Stadtbild und ſelbſt Landbild anders aus, als 
wo fie „das ganze Leben durchdringen“ foll. Die Markierung der Höhe eines an- 
und abſteigenden Feldweges ſowie die einer Wegkreuzung durch ein Kruzifix; 
die Schmückung von Häuferfaffaden und Häufereden durch Heiligenbilder; die 
Stellung kirchlicher Gebäude mitten in die Häuſermenge hinein, gleichſam als 
ihre Beſchützer; die Zerteilung des kirchlichen Bauweſens in verſchiedene größere 
und kleinere Gebäude durch die ganze Stadt hindurch: das alles gibt dem Raum- 
künſtler ſowohl allein wie auch mit ſeinen Mitarbeitern ganz anders zu tun, als 
wenn jene Schmückung und Charakteriſierung von Weg und Haus fehlt, wenn das 
Kirchengebäude iſoliert ſteht, und wenn fic ein folches lediglich als die eine Pfarr- 
kirche vorfindet. 

. Ein hiſtoriſcher Überblick über die Faſſadenmalerei würde vielleicht mert- 
würdige Wechſelbeziehungen zwiſchen religiöſer Kultur und chemiſcher Farben- 
technik ergeben. Die Erinnerung an vergangene Zeiten architektoniſcher Farben- 
freude und das heutige Suchen nach wetterbeſtändigen Farben, ja ſelbſt die all- 
mähliche Wandlung vom Znnenintereſſe antiker zum Außenintereſſe moderner 
Gebäude kommen auch unſerem Thema zu Hilfe. Speziell die gegenwärtige Wieder- 
erweckung der Moſaik vermag einem Stadtbild Neues zu geben; und mit ihrem 
Zuge zum Erhabenen, Monumentalen, Myſtiſchen ſind wir leicht auch wieder beim 
Religiöſen angelangt. 

Das Kirchengebäude ſelbſt hat, wie ſchon angedeutet, nicht bloß mit der Archi- 
tektur engeren Sinnes, dem Bauen, ſondern auch mit dem Bebauen und 
jeglicher Tätigkeit deſſen zu tun, was man jetzt als „Städtebau“ (weiterhin auch 
als „Dorfbau“ und „Landſchaftsbau“) kennt. Deſſen Beziehungen zur Religions- 
kunſt könnten uns allein ſchon langhin beſchäftigen; und über die Stellung der Kirche 
im Stadtbilde liegen bereits Erörterungen nicht bloß von dem Verfaſſer dieſer 
Zeilen vor. 

Am geläufigſten dürfte weiteren Kreiſen die Frage nach Freilegung oder 
Verbauung der Kirchen ſowie die damit verwandte nach Freiſtellung oder Cin- 
bauung fein. Daß hier zahlreichere Rückſichten zuſammenwirken, als es zunächſt 
ſcheint, iſt das Wichtigſte, was unſere Worte ſagen können. Rein raumkünſtleriſch 
kommt wohl am ſtärkſten in Betracht eine Wandlung von der eng zufammengepreß- 
ten Stadt des Mittelalters und (vielleicht noch mehr) der erſten Neuzeit zu der gegen- 
wärtigen Stadt, die ſich mehr und mehr lockert und ausdehnt, die ihr altes Zentrum 
„aushöhlt“ und es durch „Nebenzentren“ ergänzt, die endlich ſich ſelbſt opfert und 
das frühere Gleichmaß der Kultur in Stadt und Land wiedergewinnen hilft durch 


Schmibkunz: Raumkunſt und Religionstunft 395 


Eroberungszüge in die Umgebung. Das gibt auch den Kirchenbauten nicht nur 
freieren Raum, ſondern zugleich jene reichlichere Verteilung, die wir bereits an- 
gedeutet haben. 

Das vermehrt aber auch die uns ſchon bekannte Gefahr einer Herauslöſung 
des Kirchengebäudes aus der Häuſermenge ſowie feiner ſchon rein bebauungs- 
techniſch unglücklichen Stellung. Von der völligen Erſtickung des Kirchenbaues 
im Häuſermeere, vielleicht nicht einmal mit einer Straßenfaſſade, bis zu der võlli- 
gen Freilage auf ländlichem Hügel gibt es eine reiche Stufenleiter von Stellungen, 
aber auch von mannigfaltigen Gründen bald fiir die eine, bald für die andere. Dieſe 
Gründe ſind teils religiöſe, teils künſtleriſche (und techniſche). Ein beſonders inter- 
eſſantes Zuſammenwirken von Gründen beiderlei Art iſt folgendes. 

Oer radikalſte Verfechter des Freilegens und Freiſtellens von Kirchen kann 
doch auch einſehen, daß die Anordnung eines kirchlichen Gebäudes in der Mitte 
eines ſtädtiſchen Platzes ungünſtig iſt. Sie zerreißt ihn und auch den Anblick des 
Gebäudes ſelbſt. Statt ton zentriſch wird fie beſſer e x zentriſch geſtellt. Das 
ſchlägt aus dem Platzraume mehr und Abwechſelungsreicheres heraus. Das er- 
möglicht aber auch eher eine Verbindung des eigentlich gottesdienſtlichen Baues 
mit zugehörigen Bauten, wie Pfarrhaus, Gemeindehaus u. dgl. m. So geraten 
ein äſthetiſcher Vorteil und ein religiöſer zuſammen und ſchaffen ſtatt eines Ob- 
jektes auf dem Präſentierteller vielmehr die kirchliche Baugruppe, ſchaffen ſtatt 
einer Siolierung des Religiöſen feine kulturelle Vermittelung. 

Der „Kirchenplatz“, dieſer gewichtige Beſtandteil des Städtebaues, wird ſo 
zu" einem empfindlichen Maße für die Verwirklichung der in unſerem Thema lie- 
genden Wünſche. Beſonders ſchwierig, doch auch von beſonders intimem Inter- 
eſſe mag die Erkenntnis des Einfluſſes religiöſer Eigenart auf ihn und vielleicht auch 
umgekehrt feines Einfluſſes auf diefe fein. Ze mehr das religiöſe Leben fih auf 
eine eigene, vom weltlichen abgeſchloſſene Sphäre beſchränken foll, deſto gleich- 
gültiger wird der Vorplatz des religiöfen Gebäudes; je mehr es darüber hinaus- 
greifen ſoll, deſto mehr prägt ſich dies auch auf dem Kirchenplatz aus. Kommen 
gar Wallfahrten, feſtliche Empfänge und Aufzüge oder dgl. in Betracht, fo ver- 
größern fih nicht nur die Anſprüͤche an die Faſſade und zumal an das Portal oder 
an die Portale, ſondern auch die an den Platz davor. 

Es ift ferner nicht gleichgültig, ob die Mauer des Rirchengebäudes kurzweg 
den Gottesraum vom Weltraum abſchließt, oder ob ſie ſich durch irgendwelche 
Verkehrsgelegenheiten ergänzt. Die optiſchen und geiſtigen Reize des „Kirch- 
hofes“ mit oder ohne Gräber ſind ja bekannt. Weniger bekannt und jedenfalls noch 
ungenügend verwertet ſind die Vorteile von Arkadenbauten an den Außenſeiten 
von Kirchen. An denen von weltlichen Gebäuden findet dieſes, auch rein prat- 
tiſch febr ernſte Architekturſpiel heute mehr und mehr Würdigung. Die Kirchen- 
arkade bedeutet noch eigens eine Näherung von Religion und Welt, mag ſie nun 
für Denkmäler, für Umzüge uſw. verwendet werden oder nicht. 

Solche Näherungen finden ihre Ergänzung (hoffentlich nicht ihren Gegen- 
fat) in einer architektoniſchen Konkurrenz von Welt und Kirche. Altere Zeiten 
machten es dieſer leicht, ſich auch optiſch zu behaupten. Neuere Zeiten haben durch 


396 Schmidtunz: Naumtunft und Religionstunſt 


die Steigerung weltlicher Baukunſt, zumal im Fürſtenſchloß und im Stadthaus, 
dieſes Behaupten erſchwert oder vielleicht auch durch einen Reiz des Wettbewerbes 
bereichert. Ob Gleiches von den modernen Fabrikgebäuden und namentlich von 
ihren Schloten zu fagen ift?! Dieſer Welt architektoniſch gegenüberzutreten, 
nicht feindlich, ſondern freundlich, ift eine recht aktuelle Forderung unſeres Lhe- 
mas. Wie ſie dann den Künſtler des Kirchenbaues zu neuen Formen ſeiner Türme 
und vielleicht zu Kuppelbauten anregt, iſt nicht mehr Sache der vorliegenden Zeilen. 

Auch all das, was durch den gegenwärtigen Bau von Krematorien, Fried- 
hofshallen und überhaupt Friedhofsanlagen geleiſtet wird, bedarf nicht erſt einer 
Betonung durch uns. Nur daß da bereits jetzt mannigfaltige Schranken fallen, 
und daß die fallenden eine innigere gegenſeitige Durchdringung von Sphären, 
die einander ſonſt fremd bleiben, ermöglichen, ſei betont. 

So viel vom Religionsbauwerk nach außen. Nach innen zeigt es ebenfalls 
bereits Wandlungen, die zugleich räumliche wie geiſtige Werte beſitzen. Die pro- 
teſtantiſche Kirche müht ſich mit der „axialen“ Stellung von Altar, Kanzel und 
etwa Muſikchor in einer zuſammengeſchloſſenen Gruppe ab („Wiesbadener Pro- 
gramm“). Die katholiſche Kirche bedauert neuerdings die Nachteile der Mehr- 
ſchiffigkeit ſowie des Säulen- und Pfeilerbaues gegenüber den Anſprüchen der 
Gemeinde auf optiſch und akuſtiſch bequeme Teilnahme am Gottesdienſte. Sie 
greift auf die „Predigtkirche“ des Spätmittelalters (z. B. auch in Katalonien) zurück, 
nicht ohne Anerkennung der ſpäten Rückkehr des Proteſtantismus zu dieſer Form, 
und ſteht nun vor der neuen Aufgabe, die einſchiffige Verſammlungskirche nicht zu 
einem Hinderniſſe für die weitere Pflege ſpezifiſch katholiſcher Kirchenmotive wer- 
den zu laſſen. Die tiefe und breite Sphäre des individuellen Frömmigkeitslebens, 
das ſeinen Platz in Seitenſchiffen, Seitenkapellen, „Gebetswinkeln“ u. dgl. m. 
findet, mit all dem Zauber dämmeriger Stimmungen und enger, aber wohl geiſtig 
weiter Raumkünſte, geht hoffentlich nicht verloren. 

Damit hängt auch die Verteilung des Kirchenſchmuckes im Inneren des Ge- 
bäudes zuſammen. Eine Konzentration künſtleriſcher Leiſtungen auf und um den 
Altar entſpricht wenig dem proteſtantiſchen Fühlen, und hier wieder am wenig- 
ſten dem der Reformierten; woraus eine Begünſtigung abgelegener Stellen des 
Kircheninneren durch Kunſtwerke folgt. Um ſo mehr entſpricht jene Konzentration 
dem katholiſchen Fühlen; woraus aber hier eine Vernachläſſigung des übrigen 
Kircheninterieurs nur dann folgt, wenn geſpart werden muß, während ſonſt auch 
Nebenteile katholiſcher Kirchen eine generell und individuell höhere Bedeutung 
haben, als die proteſtantiſcher, und folglich auch wieder künſtleriſch empfänglicher 
ſind. Daß damit zugleich verſchiedene Anſprüche an Zufuhr von Licht gegeben 
ſind, und daß all dies überhaupt in das Walten eines aufmerkſamen Architekten 
eingreift, bedarf kaum der Erwähnung. 

Die verſchiedenartige Beantwortung der Frage nach dem Durchdringen 
der Religion durch das übrige Leben entſcheidet auch über die Fortſetzung unje- 
res Intereſſes in das Innere des Wohnhauſes hinein. Es gibt wohl wenig Völker 
und Epochen, deren Wohnräume nicht eine mehr oder minder künſtleriſche Aus- 
ſprache ihrer mehr oder minder religiöfen Weltanſchauung tragen, vielleicht ſogar 


Schmibkunz: Raumtunft und Religionstunft 397 


mit einem Hausaltar oder einer ähnlichen Einrichtung, wie fie uns noch aus deut- 
ſchen Bauernſtuben mit ihrem „Herrgottswinkel“ bekannt ift. 

Was aber Griechen und Römern und ſelbſt Oſtaſiaten geläufig iſt, wird von 
unſerer heutigen Kultur trotz ihrer Verehrung und Nachahmung dieſer Völker ſo 
gut wie ganz vergeſſen. An den „Interieurs“ und überhaupt „Innenkünſten“, 
wie ſie ſeit mehreren Jahren zum eiſernen Beſtande der Ausſtellungen gehören, 
ijt nicht bald etwas fo durchgehends merkwürdig, wie ihr Verzicht auf jene künftle- 
riſche Ausſprache höherer Dinge, als die des täglichen Verkehres ſind. An Platz 
dafür würd’ es bei der Kahlheit mancher moderner Wände und namentlich Ecken 
wahrlich nicht fehlen. 

Eine bequeme Weiſe, geiftige Werte im Interieur des Wohnhauſes zu re- 
präfentieren, ift analog wie im Kircheninterieur der maleriſche und zeichneriſche 
Wandſchmuck. Nun fehlt es heute nicht nur an einer genügenden Vorliebe für die 
Vertretung des Religiöſen im Wandbilde, ſondern auch an feiner Vertretung in 
der Graphik, alfo — neben der Zeichnung und etwa Miniatur — der Griffel- oder 
Schwarzweißkunſt, dem Bilddruck oder Kunſtdruck. Die einſt auch durch die Re- 
produktion erfolgreichen Nazarener und Düſſeldorfer Maler ſind für die große 
Menge der Laien und ſelbſt der Fachleute nahezu verſchollen. Ein Verſuch, bei 
den Malerftedhern und Malerradierern uſw. des 19. Jahrhunderts religiöſe Motive 
oder gar deren religiös gerichtete Durchführungen zu finden, ergibt eine zwar nicht 
zu vernachläſſigende, aber doch relativ recht dürftige Ausbeute. 

Für uns kommt zunächſt folgendes in Betracht. Die allermeiſte bisherige 
Graphik iſt Buch- und Mappenkunſt, d. h. aus keiner weiteren Entfernung, als 
Armlänge, zu betrachten. Nun aber wächſt darüber die Wandgraphik hinaus, alſo 
vor allem das Plakat und ſodann die ſonſtige, ſtark von dieſem beeinflußte und auch 
durch den Triumphzug des japaniſchen Farbholzſchnittes gekennzeichnete Graphik. 
Ihre koloriſtiſchen Möglichkeiten überwinden die Ungeeignetheit der bloßen Schwarz- 
weißkunſt für die Anbringung an der Wand. Doch noch mehr: die Bannung zahl- 
reicher Partien und Leiſtungen der angewandten oder der dekorativen oder über- 
haupt der neben Malerei und Plaſtik ſtehenden Künſte unter die Architektur, fpe- 
ziell unter den Innenbau, greift auch hier ein. Folgt dem die religiöſe Griffelkunſt 
nach, ſo hat ſie auch daran zu tragen. 

Sie wird dadurch aus dem Intimen engerer in das Offene weiterer Wir- 
kungen hinausgezogen. Dazu gehört aber auch eine Verdrängung der Linien- 
graphik durch die Flächengraphik. Und hier kommt nun unſeres Erachtens wieder 
ein Moment in Betracht, das allerdings noch nicht allgemein geläufig zu ſein ſcheint, 
und dem auch widerſprochen werden kann. Es ift dies das Verhältnis der künſtleri- 
ſchen Formenſprache zum Inhalt, und zwar für uns zum religiöſen Inhalt. Je 
mehr dieſer lehrhaft und gar dogmatiſch iſt, deſto treffender wird für ihn eine 
Linienmanier; je mehr er der Hiſtorie und dem Genre angehört, deſto paſſender 
wird für ihn eine Flächenmanier. Zum Teil kommt es auf das nämliche hinaus, 
daß dort eine mehr zeichneriſche und hier eine mehr maleriſche, alfo ſpeziell tolo- 
riſtiſche und luminiſtiſche Weiſe gilt. Hiſtorie und Genre aber führen das religiöſe 
Denken ebenſo zum Menſchlichen und Irdiſchen (nach „links“), wie Lehre und 


398 Schmibkunz: Raumkunſt und Religions kunſt 


Dogma zum Himmliſchen (nach „rechts“). „Natur und Gnade“ ſpielen fo mit 
ihren Gegenſätzen und ihren Vereinigungen bis in die Schickſale der Kupferplatte 
hinein. 

Daran ſchließt ſich auch noch eine Menge einzelner Fragen an, wie etwa 
die nach der Weite oder Enge der architektoniſchen Umgebung einer religiöſen 
Szene auf einem Gemälde oder einem Griffelwerk. Wie ſich ſolche Fragen beant- 
worten, geht natürlich über die von unſeren Zeilen beabſichtigte Rundſchau hinaus 
und verbleibt der Spezialforſchung. 

Um fo mehr müſſen wir darauf achten, daß uns eine möglichft breite Über- 
ſicht über den Beſtand der religiöſen Kunſt in Vergangenheit und Gegenwart not 
tut. Die Unentbehrlichkeit der Graphik dafür, einſchließlich der Photographie und 
ihrer Vervielfältigungen, liegt auf der Hand. Jegliche Architektur, fogar die je- 
weils der Autopſie zugängliche, und gar erſt der Städtebau, erſchließt ſich uns ganz 
nur durch irgendwelche graphiſchen Vermittelungen. Dazu nun die bekannte re- 
lative Leichtigkeit, mit welcher alle Graphik in die Intimitäten eines Rünftlers und 
ſeiner Zeit eindringen läßt! 

Erſchwert wird dies allerdings durch die auffällige, doch bisher anſcheinend 
recht wenig auffallende Minderzahl von öffentlichen Sammlungen für Graphik, 
alſo kurz von ſogenannten Kupferſtichkabinetten. Wir könnten deren noch manches 
Dutzend brauchen. Überdies bevorzugen die paar berühmten Sammlungen dieſer 
Art die ältere vor der neueren Kunſt — oder haben ſie wenigſtens bevorzugt. Ein 
Muſeum für Städtebau fehlt noch ganz und wird von den kartographiſchen Samm- 
lungen in ihren Abteilungen für Städtepläne ſowie von der Kgl. Meßbildanſtalt 
in Berlin mit ihren mehr als 12 000 architektoniſchen Photographien nur ſehr 
partiell erſetzt, von der ſeit wenigen Jahren ſtill exiſtierenden Zentralſtelle des 
Oeutſchen Städtetages anſcheinend noch ohne Verbindung mit der Öffentlichkeit 
vorbereitet. Gerade die Geſchichte des Städtebaues, beiſpielsweiſe vielleicht mit 
Vergleichungen der Zeit vor und der nach der Säkulariſation von 1803, wird für 
unſer heutiges Thema unentbehrlich. 

Dazu endlich die noch immer nicht ganz überwundene Vernachläſſigung der 
neueſten Kunſt (etwa ſeit 1800) in der kunſtgeſchichtlichen Arbeit, einſchließlich der 
für Graphik, und die noch kaum zum Bewußtſein gekommene Vernachläſſigung 
der religiöſen Kunſt dieſes Zeitraumes in der landläufigen hiſtoriſchen Forſchung 
und Oarſtellung. Gar erft eine Geſchichte unſeres Themas, alfo kurz der religiöſen 
Raumkunſt als ſolcher, wird wohl noch lange nicht in Angriff zu nehmen ſein. 

Ehe nicht auch ſpezielle Muſeen für religiöſe und vornehmlich chriſtliche Kunſt 
exiſtieren, bleibt die Erkenntnis dieſer Kunſt allzu eingeſchränkt. Natürlich bedarf 
es derartiger Veranſtaltungen nicht fo febr für die ältere Zeit, zumal ſoweit Male- 
rei und Plaſtik in Betracht kommen, da bereits allgemeinere Sammlungen dafür 
ſorgen — als vielmehr für die neuere Zeit, etwa ſeit 1800 oder 1750, ſowie für die 
älteren Beſtände an Architektur und ſonſtiger Runft. Welch umfangreiche Rolle die 
Graphik als eine Hauptabteilung ſolcher Muſeen ſpielen würde, womöglich mit 
einer Unterabteilung für ſpezifiſche Raumkunſt, leuchtet aus dem Bisherigen wohl 
ohne weiteres ein. 


„Die Welt iſt grün und weiß und blau“ 399 


Daß dabei die religiöſe Kunſt nicht möglichſt enge, ſondern möglichſt weit ge- 
faßt werden müßte, doch mit betonter Unterſcheidung des Eigentlichen vom Un- 
eigentlichen, dafür ſprechen nicht nur die hier ſo ſchwer ziehbaren Grenzen, ſondern 
auch zahlreiche Gründe, die direkt oder indirekt in unſeren eigenen Ausführungen 
enthalten ſind. Wer z. B. in unſerer Zeit und in der letzten Vergangenheit religiöſe 
Kunſt ſucht, wird oft ſchon froh fein, wenn er wertvollere Landſchaften mit Kirchen- 
anſichten findet, und wird ſich wohl auch etwa mancher ſolchen Radierung von 
Charles Mérnon freuen. 

Wem daran gelegen iſt, religidfe Kunſt nicht bloß auf der Staffelei u. dgl. zu 
begünſtigen, ſondern ſie in der Kunſt durch deren ſämtliche Gebiete und in dem 
ſonſtigen Leben durch deſſen ſämtliche Partien hindurchzuführen, der ſtößt fort und 
fort auf Raumprobleme. Ein ſolches beſteht aber bereits auch in der Quantität 
des Raumes, den die religiöſe Kunſt ſucht, und den ſie findet. 


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END 
NA igentlich foll hier von den Blumen die Rede fein, von der farbigen Pracht der Blumen 


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D und von den bunten Töpfen, die dazu gehören. Wir haben beide ſehr nötig für 

—Bunſere Räume. Ein Raum, darin nicht die farbige Wirkung der Blumen zur Gel- 
rung kommt, ift ein äſthetiſch vollkommen mißlungener Raum, und wäre er auch mit verſchwende⸗ 
riſchem Reichtum ausgeſtattet. Zumindeſt ift er koloriſtiſch mißlungen. Für unfer Farben- 
gefühl iſt das Beiſpiel maßgebend, daß die Natur ſchöne, ſtarke Farben liebt. Leuchtend blau 
wölbt ſich die Himmelsglocke über dem ſmaragdenen Grün der friſchen Wieſen und der jung- 
grünen Wälder, blendendweiße Aprilwolken, die voll Sonne find, ſegeln weit gebläht hoch ein- 
her. „Die Welt ijt grün und weiß und blau.“ Sie kleidet fih in heraldiſche Farben, und das tun 
auch die Blumen, die Blumen der Heimat, wegen ihrer kräftigen, ſchönen Farben auch Bauern 
blumen genannt, deren Farben ein Gleichnis der Natur find. Von blutigroten Gonnenunter- 
gängen träumen die brennenden Zynnien, die Nelken in allen Abſchattungen von Zinnober bis 
Karmin, Verbenen, gar ſinnreich Brennende Liebe genannt, das glühende Mohnfeld und die 
ſpäten Dahlien; gleich blauen Himmelswellen leuchten die Gloxinien und Kampanulen; vom 
gelben Mittagsſonnenſchein erfüllt ſind die Kapuzinerkreſſen und Ringelblumen, und das 
Schneeweiß geballter Frühſommerwölkchen haben die Margariten und das Maßliebchen er- 
koren, die flockenweiſe weit über die Wieſe verſtreut find. Aber die Natur wirkt als echter Heral- 
diker, indem fie nicht nur die leuchtenden fatten Farben gibt, ſondern zugleich ihren tomplemen- 
tären Gegenſatz. Wir bemerken, daß ſie den graubraunen Frühlingswaldboden mit den gelben 
Flocken der Himmelsſchlüſſel ſchmückt und den Bachrand mit den ſonnigen Dotterblumen be- 
grenzt. Aber neben dieſen goldigen Farben ſchafft fie den Gegenſatz in dem Dämmerſchattenblau 
der Veilchen, der Leberblümchen und der Küchenſchelle. Im Sommer ſtehen neben der blauen 
Waldglockenblume die gelben Königskerzen, und im Hausgarten, wenn er mit den richtigen 
heimiſchen Bauernblumen bepflanzt ift, ſehen wir lauter farbige Gegenſätze, die ſich harmoniſch 
verbinden. Wildblühende Sommerwaldwieſen tragen ein buntes Sommerkleid, an dem alle 
komplementären Farbengegenſätze feſtzuſtellen ſind. Harmonie im Kontraſt iſt das natürliche 
Farbengeſetz. Das iſt ein Wink für die künſtleriſche Geſtaltung, die ſich in der Anwendung der 
Blumen und in der Wahl der bunten Keramik, der Töpfe und Vaſen aus farbig glaſiertem Ton 


400 „Die Welt ift grün und weiß und blau“ 


beftatigt. Ja, die ganze farbige Behandlung unſerer Wohnräume beruht auf dieſen Grund- 
linien, die uns die Natur vorzeichnet. 

Wenn ein Raum etwa durch die Möbelbezüge, Vorhänge vi. auf Blau geſtimmt ift, 
jo werden alle eremefarbenen, weißen und gelben Blumen, Rofen, Primeln, Sonnenblumen, 
Narziſſen eine ſchöne Wirkung hervorbringen, und umgekehrt werden blaue Blumen, wie 
Ritterſporn, Enziane, Eiſenhut, Veilchen, Clematis, blauvioletter Flieder u. a. in einem auf 
Gelb oder Elfenbeinweiß geſtimmten Raum Wunder tun. Ein Raum, wo Rot vorherrſcht, 
wird ebenſogut Blau, Weiß und Grün, als die ganz ſtarken und höher gefärbten gelben und 
ſcharlachroten Blumen aufnehmen können, wie Oahlien, Feuerlilien und Sonnenblumen. 
Weiße Räume können nicht genug herrliche, bunte Blumenfarben enthalten. Hieraus ergeben 
ſich für unſere Kunſtpflege im Haus bedeutungsvolle Winke in bezug auf die Keramik. 

Wir werden, um Rube und Einheit in unſeren Räumen aufrechtzuerhalten und zugleich 
ſtarke Blumenwirkungen zu erzielen, gelegentlich Blumen von einer Farbe, je nach der Gunſt 
der Jahreszeit, aufſtellen und zu dieſer jeweilig herrſchenden Farbe Steingutvaſen ſuchen, 
die ebenfalls einfarbig find, leuchtend und ſchön, gleichſam heraldiſch, und einen tomplemen- 
tären Gegenſatz bilden. Dadurch ſteigern wir die Wirkung der Blumen und durch die Blumen 
die Wirkung der bunten Keramik. Hier iſt ein weites Feld für die keramiſche Kunſt offen. Wir 
bemerken, daß beſtimmte Jahreszeiten ganz beſtimmte Arten von Schnittblumen ergeben. 
Im Frühjahr, wo die Borfriblingsblumen erſcheinen, kurzſtengelig und in weiten Ständen, 
iſt Bedarf an niederen, breiten Schalen; für die Treibhausblumen und ſpäter fuͤr die im Garten 
gezogenen hochſtengeligen Blüten bedarf man ſchmaler und hoher zylindriſcher Röhren in ver- 
ſchiedenen Größen und, um einen großen Strauß Feldblumen zu ſchaffen, großer bauchiger 
Töpfe von abgemeſſener Weite und Höhe mit großer Standfeſtigkeit. Dieſe Formen, ſechs 
bis ſieben an der Zahl, genügen für den Jahresbedarf. Der Wunſch ift berechtigt, daß ſolche Töpfe 
zu febr billigen Preiſen auf den Markt kommen und unter Umſtänden gleichzeitig mit den Schnitt; 
blumen auf den Blumenmärkten zu erſtehen find. Keramiſche Induſtrien, die künſtleriſch ge- 
leitet find, mögen diefe Winke ausnutzen und für das ſorgen, was das Leben braucht. Das Wefen 
einer guten Blumenkeramik liegt nicht im Ornament. Dieſes iſt in den meiſten Fällen über- 
Hütte und beeinträchtigt die gute, auf Farbe berechnete Wirkung, die wir anſtreben. Dagegen 
finden wir auf den alten Töpfermärkten, wo die leider in Bedrängnis gebrachte volkstümliche 
Bauerntöpferei zu haben ift, für billiges Geld ganz ſachliche Formen mit entzüdend ſchönen, 
kräftigen farbenen Glaſuren, die unſeren Wünſchen vollkommen entſprechen. Laßt uns die 
Töpfermärkte beſuchen! Laßt uns die alte volkstümliche Bauernkeramik, ſoweit fie noch un- 
verfälſcht auf dem Markt erſcheint, mit Vorliebe ergreifen und durch unſere Nachfrage einem 
wirtſchaftlich bedrängten heimiſchen Kunſtzweig zu neuer Lebenskraft verhelfen! Hier finden 
wir, ſoweit nicht verderbliche Einflüſſe von der Stadt her geltend gemacht worden ſind, ſchlichte, 
zweckmäßige Formen und Farben, die jenen unſerer Bauernblumen gleichen. Denn die Farben 
der Bauernblumen brauchen wir auch an unſeren Blumenvaſen und -töpfen, heraldiſche Far- 
ben, darein an nebelfreien Sommerſonnentagen die Natur gekleidet iſt, heraldiſche Farben, 
die wir an dem köſtlichen Gefieder vieler unſerer Vögel entdecken, an leuchtenden Inſekten und 
Käfern, an dem Fligeltleid der Schmetterlinge, an den Mineralien, den Edelſteinen und Halb- 
edelſteinen, und nicht zuletzt an dem Volk und ſeinen alten, ſchönen, bunten Trachten. Das 
Volk hat immer die heraldiſche Farbe geliebt. Nicht nur an ſeinen Gewändern und Stoffen 
und dem bäurifchen, bunt bemalten Hausrat, ſondern auch an feinen Architekturen, an den Bauern- 
häuſern, die heute noch in vielen Gegenden an den Holzteilen bunt bemalt ſind, rot, blau oder 
grün an Fenſterrrahmen und Türen, die an der milchweißen Hauswand mit doppelter Leucht; 
kraft wirken. Von dieſer Farbenfreude des Volkes bieten uns da und dort noch auf den alten 
Töpfermärkten die bunten Bauernkeramiken einen herzhaften Sommergruß und eine freund- 
liche Aufforderung. 


Neue Bücher 401 


Ein Zweig weißlicher Hedenrofen, einige Narziſſen oder Chryſanthemen ſehen niemals 
fo wunderſam aus, als wenn wir fie in ſchwarze oder ſchwarzgruͤne, hohe zylindriſche Vaſen 
ſtellen. Dagegen kommen die Primeln, die Ringelblumen, Sonnenblumen, die gelben Mar- 
gariten, Immortellen, Mimoſen und Dahlien in blauen Gefäßen zu ausdrucksvoller Geltung. 
Umgekehrt werden gelbe Geſchirre ihren Zweck am beſten für blaue Aſtern, Clematis, Veilchen, 
Kornblumen, Ritterſporn und ähnliche erfüllen. Lichtgrünes Steinzeug iſt gnadenvoll mit 
hellen, weißlichen Blüten, wie Rofen, Maiglöckchen, weißem Flieder, Anemonen, weißen Mar- 
gariten. Möwengraue Glaſuren ſind mit allen Blumennuancen von gelb bis ſcharlachrot 
zu den vornehmſten Wirkungen berechtigt. 

Seder, der die Probe macht, wird finden, daß ein Gemadh wohnlich und von freundlichen 
Hausgeiſtern erfüllt ift, wenn wir die Blumen zu Hüterinnen und Herrſcherinnen der Schön- 
heit des Raumes machen. Das haben auch unſere Großeltern und Urgroßeltern getan, die in 
dieſen Dingen einen hochentwickelten Inſtinkt beſaßen. Räume, deren Wände mit ſchmutzig⸗ 
farbenen Tapeten bekleidet ſind, werden die farbige Schönheit der Blumen nicht zur Geltung 
kommen laffen. In ſolchen Räumen wird nichts zur Geltung kommen, und das Widtigfte in 
dieſem Umkreis, der Menſch, kann nicht erwarten, in ſolcher Trübnis zur Heiterkeit zu gelangen. 
Die Wahrnehmung ift täglich leicht zu machen, daß Menſchen in farbig ſchlecht geſtimmten Räu- 
men ein ſchlechtes Ausſehen haben. Es ergeht ihnen dann, wie es den Blumen ergeht. Darum 
fort mit den trüben, häßlichen Farben, mit den ſchlechten Tapeten, mit dem braunen Zür- 
und Fenſteranſtrich, und herein mit hellen und kräftigen Farben und vor allem mit möglichſt 
viel Weiß in die Wohnungen, und dann werden Sie ſehen, welches Wunder die Blumen tun, 
die Blumen mit der bunten Keramik, und wieviel Glüͤckſeligkeit aus dieſen Gnadenquellen in 
die Seele der Inwohner ſtrömt. Sofeph Aug. Lux 


* 


Neue Bücher 


Die deutſche Landſchaft. Deutſche Charakterlandſchaften in 
farbigen Bildern von Profeſſor Ernſt Liebermann. (40 Blätter in 
acht Lieferungen. Geſamtpreis 40 K, Preis des Einzelblattes 1.25 K — Hamburg- Groß- 
borſtel, Gutenberg -Verlag.) | 

Ein großes Wageftüd hat der trefflihe Ernſt Liebermann unternommen, denn gerade 
weil unſere deutſche Landſchaft ſo außerordentlich mannigfaltig iſt, iſt es für einen einzelnen 
ſchwer, das Charakteriſtiſche aller ihrer Erſcheinungen nicht nur zu fühlen, ſondern auch deutlich 
herauszuarbeiten. Aber wenn ein deutſcher Landſchafter das kann, fo ift es dieſer auch techniſch 

fo ungemein gewandte und fo ſicher und echt fühlende Künſtler. Eine Aberraſchung bietet z. B. 

gleich das erſte Blatt, das nach einem Motive aus dem Allgäu eine Vorgebirgslandſchaft der 

bayriſchen Alpen ſehr großzügig und in packender Farbigkeit gibt. Auch von den anderen zehn 

Blättern der bisher vorliegenden zwei Lieferungen erwecken die meiſten reine Freude, wäh- 

rend mich beim „Eifelbild am Weinfelder Maar“ die Behandlung des Waſſers ſtört und beim 

„Buchenwald“ der Charakter des Laubes nicht ſcharf genug herauskommt. Es ware ſehr ſchön, 

wenn man einen Text beigeben wollte. Er ließe ſich wohl aus deutſchen Dichtern gufammen- 

ſtellen, Gedichte und Schilderungen gemiſcht. Das würde zu verweilenderem Beſchauen der 
ſchönen Blätter anregen und dadurch ihren Eindruck noch verſtärken. 


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Des Zürmer XI, 9 26 


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Joſeph Haydn 


Zur hundertſten Wiederkehr ſeines Todestages 
Von 


Dr. Karl Storck 


ft, wenn ich mit Hinderniſſen aller Art rang, die ſich meinen Arbeiten 
entgegenſtemmten, wenn oft die Kräfte meines Geiſtes und Rör- 


fo wenige der frohen und zufriedenen Menſchen, überall verfolgt fie Rummer und 
Sorgen, vielleicht wird deine Arbeit eine Quelle, aus welcher der Sorgenvolle 
oder von Geſchäften laſtende Mann auf einige Augenblicke feine Ruhe und feine 
Erholung ſchöpfet.“ Dies war dann ein mächtiger Beweggrund, vorwärts zu ftre- 
ben, und dies ift die Urfache, daß ich auch noch jetzt mit ſeelenvoller Heiterkeit auf 
die Arbeiten zurüdblide, die ich eine fo lange Reihe von Jahren mit ununterbrode- 
ner Anſtrengung und Mühe auf dieſe Kunſt verwendet habe.“ 

Dieſe Worte, die der ſiebzigjährige Haydn an einen begeiſterten Verehrer 
feiner Kunſt richtete, geben eine menſchlich und künſtleriſch gleich wertvolle Auf- 
klärung für jene Heiterkeit, die wir bei dieſem Meiſter als beſonders charakteriſtiſch 
zu rühmen gewohnt ſind. Sie verraten uns, was wir aus der Geſchichte aller 
Künſtler wiſſen könnten, daß alle große Kunſt Ergebnis von Kämpfen iſt, daß von 

jener Kunſt, die man als ein Vergnügen des Verſtandes und Witzes bezeichnen 
kann, nachhaltige, tief dringende Wirkungen nicht ausgehen. Die Schöpfung eines 
Kunſtwerkes iſt für den Künſtler das Loslöſen eines Stückes ſeines Selbſt. Das 
geht nur unter Kämpfen und Krämpfen vor ſich. Und wenn es dem Künſtler ge- 
lingt, alle Spuren des mühſamen Gewinnes ſeines Werkes zu verwiſchen, fo be- 
deutet das in der Regel nur ein weiteres Überwinden feiner ſelbſt. So ift es zweifel 
los der ſeeliſch größte Mangel unſerer zeitgenöſſiſchen Kunſt, daß unſere Künſtler 
uns alle ihre Qualen und Nöte fo ſtark mitempfinden laffen. Ja zumeiſt gelangen 


Stord: Zoſeph Haydn 403 


fie nicht einmal zu einem Sieg. Denn wie foll man die Widerftände der Welt be- 
liegen, wenn man nicht fich ſelbſt beſiegt? Der Begriff Meiſter, der fich uns gerade 
beim Künſtler ſo leicht aufdrängt, ſchließt das völlige Beherrſchen, das gänzliche 
In- der-Gewalt-haben in fih. Es ift aber nicht nur ein Mangel an Heldentum, 
wenn man alle ſeine eigenen kleinen Nöte der Welt verrät und von ihr Teilnahme 
dafür verlangt, es iſt auch ein Mangel an Liebe. Dieſe Liebe zur Menſchheit leuchtet 
aus des greiſen Haydn Bekenntnis ſo wundervoll heraus: weil er erkannt oder ge- 
fühlt hatte, daß ſeine Kunſt für Mühſelige und Beladene eine Quelle der Erfriſchung 
ſei, deshalb mühte er perſönlich ſich doppelt, immer Vollkommeneres zu ſchaffen 
und ſicher damit Heitereres, Klareres, Sonnigeres. 

In ſteigendem Maße hat die neuere Kunſt den Charakter der Kampfkunſt er- 
halten. Das ungeheure Ringen, das der Menſchheit ſeit der franzöſiſchen Revolution 
in bürgerlicher und ſozialer Hinſicht, aber doch auch in vielen geiſtigen und feeli- 
[hen Dingen auferlegt geweſen ift, hat den Künſtlern die Oarftellung des Kampfes 
ſelber, des Sich-Durchringens immer wertvoller gemacht, fo daß immer häufiger 
das Ergebnis, das Ziel jedes Kampfes zurücktreten mußte gegen dieſes Kämpfen 
ſelbſt. Der Goethiſche Fauſt und Beethovens ungeheures Lebenswerk ſtehen hier 
auf der Grenzſcheide. Ihre ungeheuer befreiende Macht, ihre Fähigkeit, Millio- 
nen Menſchen eine Art von Lebensevangelium zu ſein, beruht auf dem glücklichen 
Verhältnis in der Darſtellung von Kampf und Sieg. Die Kunſt vorher, in der 
überhaupt die Vorführung von Entwicklungen zurüdtritt hinter der Darjtellung von 
Zuſtänden, hat viel ausſchließlicher ſich erſt mit der Darlegung des Zuſtandes 
nach dem Kampf befaßt. Wer tiefer in Mozarts Weſen eingedrungen iſt, weiß, 
daß ſelbſt dieſe ſonnigſte aller Künſtlernaturen als Menſch ein ſchweres Rampfer- 
daſein geführt hat. Nicht bloß den Kampf ums tägliche Brot, ſondern den Kampf 
gegen die Welt um ſeine Kunſt. Wir empfinden das heute nicht, wenn wir die 
Werke allein hören, oder doch nur ſelten. Und dem iſt gut ſo, wie es gut iſt, daß in 
uns zu trüber Winterszeit bei Wind und Sturm die Vorſtellung lebt von immer 
ſonnigen Landen, über denen ſich ein dauernd blauer Himmel wölbt. Dieſe Bor- 
ſtellung laffen wir uns durch das Wiſſen nicht trüben, daß es auch in jenen Himmels- 
ſtrichen ſtürmiſche und regneriſche Zeiten gibt, daß dort die Kämpfe der Erde in 
oft viel tückiſcheren Formen ausgefochten werden müſſen als bei uns. So habe ich 
auch nicht die Abſicht, mit dieſen Ausführungen das wunderbar heitere Verhält- 
nis, mit dem wir an die Kunſt eines Haydn denken, zu verdüſtern, möchte keines- 
falls erreichen, daß die Sucht nach dem Problematiſchen, die heute fo vielfach unfe- 
ren Kunſtgenuß beeinträchtigt, auch gegenüber den Werken dieſes Meiſters Platz 
griffe. Wohl aber ſcheint es mir an einem Gedenktage am Platze, zu zeigen, daß 
das geflügelte Wort vom „Papa Haydn“ oder „Vater Haydn“ nicht mit der üblichen 
herablaſſenden Vertraulichkeit geſprochen werden dürfte, ſondern der Ausdruck 
eines tiefen Dantgefühls fein müßte. Er, der fo gut und hilfsbereit gegen alle war, 
hatte im eigenen Werdegang kaum Liebe erfahren. Und erſcheint er uns im kampf⸗ 
loſen Beſitze ſeiner heiteren Kunſt, ſo war er nur als kühn vorwärts Drängender, 
als wagender Neuerer in dieſes ſonnige Land gelangt. 

Als zweites Kind einer armen Familie, in der feit Geſchlechtern das Wagner- 


404 Store: Zofeph Haybn 


handwerk erblich war, wurde Franz Jofeph Haydn am 31. März 1732 in dem 
kleinen Marktflecken Rohrau geboren. Kann man bei ihm auch nicht in gleichem 
Maße wie bei ſo vielen anderen Komponiſten von muſikaliſcher Vererbung ſprechen, 
ſo war doch der Vater von Natur aus ein echter Liebhaber der Muſik, der ohne 
Notenkenntnis es dahin gebracht hatte, auf einer kleinen Harfe in den Feierabend- 
ſtunden die Mutter zu ihren Volksliedern zu begleiten. Ein Schwager der Frau, 
der Chorregent Matthias Frankh aus dem benachbarten Städtchen Hainburg, ſah 
bei einem Beſuch den kleinen Sepperl mit zwei Stöckchen taktfeſt das Geigenſpiel 
nachahmen und erkannte aus der Art, wie er gehörte Lieder nachſang, die mufi- 
kaliſche Anlage des Knaben. Bei der damaligen Bedeutung des Kirchengeſanges 
waren Chorregenten in höherem Maße auf die Entdeckung muſikaliſcher Begabung 
aus als heutzutage. So nahm denn Frankh ſeinen fünfjährigen Neffen mit, um 
ihn in der Muſik zu unterrichten. Die Eltern, deren Haus ſich ſchon damals mit 
Kindern füllte — es ſind im Laufe der Zeit ihrer zwölf geworden —, mußten 
wohl froh fein, wenn ein Eſſer weniger am Tiſch war. Unſer Joſeph hat von die- 
ſer Zeit ab immer das bittere Brot des Heimatloſen eſſen müſſen. Zum Glück 
hatten die Muſen dem Knaben ein ſonniges Temperament zur Rünftlergabe in die 
Wiege gelegt, jene ins Humoriſtiſche gewandte Form des Leichtſinns, dem ein Licht- 
blick genügt, um froh aufzujauchzen, der mit einer gewiſſen Findigkeit aber auch 
noch den düſterſten Lagen eine gute Seite abzugewinnen weiß. So hat auch der 
alte Haydn feiner harten Jugend nicht bitter gedacht und auch dieſen Frankh dant- 
bar erwähnt, „weil er mich zu fo vielerlei angehalten hat, wenn ich auch mehr Prü- 
gel als zu eſſen bekam“. So eine Chorregentenſchule war in der Tat eine ganz 
vorzügliche Pflanzſtätte für ein friſches muſikaliſches Talent. Hier wurde nur ſo 
viel Theorie getrieben, als unbedingt notwendig war, dafür aber um fo gründ- 
licher praktiſch muſiziert. Es galt bei hunderterlei Gelegenheiten zuzugreifen, aus 
allerlei Verlegenheiten auszuhelfen. So hat der Knabe nicht nur fingen, Violine 
und Klavier ſpielen gelernt, ſondern überdies in allen damals gebräuchlichen Zn- 
ſtrumenten handwerksmäßig mit zugegriffen. Hier ift die Grundlage zu der für 
ſein ganzes Leben wichtigſten Eigenſchaft in Haydn gelegt worden: nicht lange zu 
ſpintiſieren und theoretiſch alle Wenn und Aber zu erwägen, ſondern praktiſch zu 
probieren und darüber hinaus gegebene Verhältniſſe nach Möglichkeit auszunutzen. 

1738 hatte der Wiener Domkapellmeiſter Georg Reutter zufällig in Hain- 
burg den kleinen Haydn gehört und war über die muſikaliſchen Fähigkeiten des 
Sechsjährigen ſo erſtaunt, daß er ihn in das Wiener Kapellhaus aufnahm. Das 
konnte freilich erft 1740 geſchehen, als Joſeph das vorſchriftsmäßige Alter erreicht 
hatte. Die Kapellknaben hatten es nicht gut. Reutter ergänzte die ſchmale Koſt 
durch ſtrenge, liebloſe Zucht, und auch als Lehrer wirkte er nur zum eigenen Bor- 
teile, d. h. er vernachläſſigte die theoretiſche Ausbildung feiner Zöglinge und nutzte 
jie nur möglichſt für den praktiſchen Dienſt aus. Für eine fo zähe und aufnahme- 
fähige Natur, wie ſie dem kleinen Haydn eignete, war das freilich vielleicht das 
Allerbeſte; denn es waren bedeutende muſikaliſche Verhältniſſe, in die er hier ge- 
kommen war. Reutter war ſelbſt ein tüchtiger Komponiſt und guter Gefangs- 
lehrer. Da die Knaben bei den kirchlichen und weltlichen Feſten mitzuwirken hat⸗ 


Storck: Zoſeph Haydn 405 


ten, wurden fie in die kontrapunktiſche Kirchenmuſik und in die italieniſche Opern- 
muſik eingeführt. So wollte es nicht allzuviel bedeuten, daß im Unterricht für 
Kompoſition der Knabe eigentlich ganz ſich ſelbſt überlaſſen war. Haydn ſelber 
berichtet fpdter darüber: „In dieſer habe ich andere mehr gehört als ſtudiert: ich 
habe aber auch das Schönſte und Beſte in allen Gattungen gehört, was es in mei- 
ner Zeit zu hören gab, und deſſen war damals in Wien viel! O wie viel! Da 
merkte ich nun auf und ſuchte mir zunutze zu machen, was auf mich beſonders ge- 
wirkt hatte und was mir als vorzüglich erſchien. Nur daß ich es nirgends bloß nach 
machte! So iſt nach und nach, was ich wußte und konnte, gewachſen.“ 

Noch aber waren die herben Prüfungen nicht zu Ende. Aus einer kleinen 
Schelmerei drehte der Herr Domkapellmeiſter dem Jungen, der nach dem Stimm- 
wechſel feine Sängerſtelle nicht ausfüllen konnte, den Strick und fekte ihn 1749 
plötzlich vor die Tür. Ohne irgendwelche Unterhaltsmittel, ohne jede Bekannt- 
ſchaft ſtand der Siebzehnjährige einſam in der Großſtadt dem Leben gegenüber. 
Ein Chorſänger Spangler fand ihn halb erfroren und verhungert und nahm ihn 
zu ſich. Doch unfer Joſeph war ja nicht verwöhnt, und fo nahm er den Kampf mit 
dem Leben auf. Er ſchrieb Noten ab, ſpielte auf Tanzböden und bei abendlichen 
Ständchen auf, gab Unterricht und verdiente ſich noch einige Kreuzer durch die 
kleinen Stückchen, die er nach damaliger Sitte für feine Schüler ſchrieb. Als ihm 
ein Wiener Bürger 150 Gulden lieh, konnte er ſich ſelbſtändig machen. In einer 
dürftigen Dachlammer brachte er fein Klavier unter, und „wenn ich an meinem 
alten, von Würmern zerfreſſenen Klavier ſaß, beneidete ich keinen König um ſein 
Glück“, ſagte er noch als Greis zu Grieſinger, dem wir die wertvollſten Notizen 
über des Meiſters Leben verdanken. 

Der Jüngling ftand feiner Künſtlerlaufbahn viel beffer ausgerüſtet gegen- 
über, als man es bei feiner notgepeinigten Jugend zunächſt denken möchte. Das 
Leben hatte ihm eigentlich doch alle wertvollen muſikaliſchen Kräfte zugeführt, 
über die es verfügt. Er hatte die Kunſt-Muſik feiner Zeit durch eigene Mitwirkung 
gründlich kennen gelernt und hatte im praktiſchen Umgang alle Inſtrumente, auch 
das des Geſanges, ſich zu eigen gemacht. Aber auch der Volksmuſik ſtand er ſo 
nahe wie kaum ein anderer. Selber echtes Volkskind und als ſolches mit beſonders 
empfänglichen Organen für die vielfach verachtete Kunſt der niederen Schichten 
ausgeſtattet, drückte ihn das Leben wieder hinab zu dieſen Schichten, für deren 
muſikaliſche Unterhaltung er jetzt ſorgen mußte. In dieſer tieferen Volksmuſik aber 
waren ungemein fruchtbare Keime, vor allem für die Inſtrumentalmuſik. Dann 
war er von Kind an gewöhnt, ſich ſelber der eigene Lehrmeiſter zu ſein, von den 
Kunſtwerken ſelbſt zu lernen und nicht von den daraus mühſelig abgezogenen 
Regeln. Sein eigenes Ohr war ftets fein mufikaliſcher Ratgeber geweſen. Es blie- 
ben ihm jene Kämpfe erſpart, die ſonſt jeder Neuerer durchzumachen hat, indem er 
die eigene Überzeugung gegen erlernte alte Regeln durchſetzen muß. 

Die volkstümliche Natur in ihm bäumte ſich auf gegen die gelehrte ſtrenge 
Polyphonie. Aus der inſtrumentalen Volksmuſik heraus fühlte er, daß die Zn- 
ſtrumentalmuſik naturgemäß einen anderen Stil verlange als die vokale. So 
wurde ihm das „galante“ Klavierſpiel Ph. Em. Bachs geradezu zur Offenbarung. 


406 Store: Zofeph gapbn 


Und wenn er ſich jetzt an ein gründliches Studium der Theoretiker machte, fo war 
er durch den eigenen Entwicklungsgang geſchützt gegen alle Beeinfluſſung zur 
Unſelbſtändigkeit. Freilich leicht bekam er auch jetzt feinen Unterricht nicht. In 
dem gleichen Haufe, in dem der künftige deutſche Meiſter fein ärmliches Dach- 
ſtübchen innehatte, bewohnte der welſche Operndichter Metaſtaſio ſeine glänzenden 
Gelaſſe. Der empfahl ihn an den Geſangslehrer Porpora, der als echt italieniſcher 
Geizhals den Züngling in der gewöhnlichſten Weiſe für alle möglichen Dienſte 
ausnutzte. Aber der Unterricht, den er ihm dagegen gab, war gediegen, und in die 
Geheimniſſe der italieniſchen Geſangskunſt konnte er nirgendwo beffer eindringen. 
Nach wie vor gewann fih Haydn den Unterhalt hauptſächlich durch feine Mit- 
wirkung bei Kaſſationen, jenen abendlichen Ständchen, die damals ſo beliebt waren. 
Jetzt ſchuf er meiſtens ſelbſt die Muſik dafür. So auch eine für die Gemahlin des 
berühmten Komikers Zofeph Kurtz, der in groben Poſſen als Bernardon zu einem 
Liebling des breiten Volkes geworden war. Da Kurtz die Serenade außerordentlich 
gefallen hatte, veranlaßte er Haydn, ihm zu einer Operette „Der neue krumme 
Teufel“ die Muſik zu ſchreiben. So kam er 1751 auch vor die größere Öffentlich- 
keit. Die Begabung des jungen Muſikers war allerdings fo, daß fie nicht leicht über- 
ſehen werden konnte, und ſo fiel er auch den öſterreichiſchen Adligen auf, die bei 
Porpora und Metaſtaſio ihre muſikaliſche Ausbildung holten. Ein Herr von Fürn- 
berg lud ihn auf ſein Gut, wo er ein Violinquartett eingerichtet hatte. Aus der 
Gelegenheit der dargebotenen Mittel heraus ſchuf hier Haydn fein erſtes Streich- 
quartett. Die Form kam ſeiner ganzen Natur fo glücklich entgegen, daß raſch fieb- 
zehn weitere Quartette folgten. Ganz ähnlich erſtand ihm die erſte Symphonie 
1759, als er beim Grafen von Morzin eine größere Kapelle vorfand. 1760 lud ſich 
Haydn dann die ſchwerſte Prüfung auf, die ihn in feinem ganzen Leben þeim- 
geſucht hat, indem er die Tochter des Perüdenmaders Keller heiratete. Der 
Mann hatte ihm in den Tagen ſeiner Armut manchen Dienſt geleiſtet, und 
es war vielleicht nur Dankbarkeit, als er um die Hand der Jüngeren anhielt. 
Aber als dieſe nun den Kloſterſchleier nahm, ließ er ſich die Altere aufreden. Wenn 
der gute Haydn eine Frau als „hölliſche Beſtie“ bezeichnete, ſo muß ſie wirklich 
ſchlimm geweſen fein. Es hat fih denn auch noch kein Retter für diefe verfdwen- 
dungsſüchtige und bigotte Perſon gefunden, die ihm vierzig Jahre lang das Leben 
ſchwer gemacht hatte. 

Haydns muſikaliſcher Ruf hatte ſich inzwiſchen ſo gefeſtigt, daß ihm die Auf⸗ 
löſung der Morzinſchen Kapelle nicht weiter ſchadete. Er fand ſofort eine neue 
Stellung als zweiter Rapellmeifter des Fürſten Paul Anton Eſterhazy zu Eiſenſtadt 
in Niederungarn. Von 1766 ab nahm er auch dem Namen nach die leitende Stellung 
ein. Seine Stellung war hier nach außen jenes für uns kaum mehr begreifliche 
Mittelding zwiſchen Beamten und Diener, das vor der franzöſiſchen Revolution 
im günſtigſten Falle für einen deutſchen Muſiker herauskam. Aber einmal war 
er geborgen, ſodann konnte er die außerordentlichen Vorteile nicht verkennen, 
die ihm als Künſtler der ſtändige Umgang mit einer ihm jederzeit zur Verfügung 
ſtehenden Kapelle brachte; und endlich waren die Eſterhazys echte Edelleute, die die 
künſtleriſchen und menſchlichen Werte ihres Kapellmeiſters richtig zu ſchätzen wußten. 


Stord: goſeph Haydn 407 


Er ſelbſt ſagt darüber: „Mein Fürſt war mit allen meinen Arbeiten zufrieden, 
ich erhielt Beifall, ich konnte als Chef eines Orcheſters Verſuche machen, beobachten, 
was den Eindruck hervorbringt und was ihn ſchwächt, alſo verbeſſern, zuſetzen, 
wegſchneiden, wagen; ich war von der Welt abgeſondert, niemand in meiner 
Nähe konnte mich an mir ſelbſt irremachen und quälen, und ſo mußte ich original 
werden.“ Das Orcheſter, das Haydn fo zur Verfügung ſtand, zählte zunächſt nur 
16 Mitglieder, die freilich zu beſonderen Gelegenheiten durch die Mitwirkung 
muſikaliſcher Kräfte aus der Umgegend verſtärkt wurden. Später wurde indes auch 
die ſtändige Kapelle auf 30 Mitglieder erhöht. 

Haydn hat ſich in Eiſenſtadt wohl gefühlt. Bis ans Lebensende blieb er in 
enger Verbindung mit dem fürſtlichen Hauſe, dem er 28 Jahre lang ſeine beſte 
Arbeitskraft gewidmet hatte. Das Haus verdiente ſeine Anhänglichkeit, wie nicht 
nur die Schätzung, die ihm von der Familie zuteil wurde, beweiſt, ſondern auch 
die Art der vornehmen Regelung ſeiner Penſionsverhältniſſe. Im übrigen wußte 
auch Haydn feine künſtleriſche Würde zu wahren. Zn dieſer Eiſenſtadter Zeit ent- 
ſtanden die Meiſterwerke Haydns. Folgerichtig entwickelte er, man möchte faſt 
fagen, entwickelten fih ihm, aus feinen erſten Verſuchen die Formen des Streich- 
quartetts, der Symphonie und der Sonate zu jenen Gebilden, die wir darunter 
begreifen. Auch für die Oper, die im fürſtlichen Theater gepflegt wurde, ſchuf 
Haydn mancherlei, doch iſt er hier von der herrſchenden Art der Zeit nicht frei- 
gekommen und hat es auch innerhalb der italieniſchen Oper zu keiner hervor- 
ſtechenden Stellung gebracht. 

Die abgelegene Lage Eiſenſtadts behinderte weder Haydns Anteilnahme an 
allen wichtigen muſikaliſchen Geſchehniſſen, noch ſein wachſendes Bekanntwerden. 
Denn einerſeits herrſchte auf den Schlöſſern des einen üppigen Haushalt führenden 
Fürſten reges Leben, andererſeits brachte man in der Regel mehrere Winter- 
monate in Wien zu. So war auch Haydn in der öſterreichiſchen Hauptſtadt ſeit den 
achtziger Jahren populär. Als Mozart 1781 zu dauerndem Aufenthalt hinkam, 
kam es bald zu einer auf wechſelſeitiger Verehrung beruhenden Freundſchaft. 
Haydn erkannte neidlos das überlegene Genie des Jüngeren an, und es zeugt für 
ſeine ſtets wache Aufnahmefähigkeit, wie er die Anregungen Mozarts zu nutzen 
wußte, ſo daß Otto Jahn mit Recht von einem vor- und nachmozartiſchen Haydn 
ſprechen kann. Aber der Siegeslauf der deutſchen Muſik durch die Welt geht auf 
Haydn zurück. Bis dahin hatte man wohl allenthalben Deutſche als bedeutende 
Muſiker anerkennen müſſen; aber die Haſſe und Graun waren zu Stalienern ge- 
worden, Händel gehörte England, Gluck hatte ſein Opernreformwerk in Paris 
durchgeſetzt. Vom gewaltigen Joh. Seb. Bach wußte man nichts, dagegen gelangte 
Haydn, trotzdem er in feinem kleinen Eiſenſtadt blieb, zu allgemeinem Ruhm. 
Seine Muſik drang überall hin und wahrte im internationalen Treiben die be- 
fondere Note des Deutſchen. So hatte man ihm von Paris aus 1786 feds Sym- 
phonien in Auftrag gegeben. Viele ſeiner anderen Werke wurden dort gedruckt. 
Vor allen Dingen aber bemühte fih London um feine tätige Mitarbeit am eng- 
liſchen Muſikleben. 1790, als nach des Fürſten Nikolaus Tode die Eiſenſtädter 
Kapelle aufgelöſt worden und Haydn mit einer lebenslänglichen Penſion von 


408 Store: Zoſeph Haydn 


1400 Gulden nach Wien übergeſiedelt war, verpflichtete er ſich trotz ſeiner ſechzig 
Jahre zuverſichtlich dem Londoner Violiniſten Salomon zur Leitung von zwölf 
Konzerten und zur Schöpfung von ſechs neuen Symphonien. Haydn blieb volle 
anderthalb Jahre in London, wo er als Menſch und Künſtler großen Erfolg hatte. 
So erreichte ihn noch hier die Nachricht von dem allzu frühen Tode Mozarts. Auf 
ſeiner Rückkehr aber lernte er in Bonn den jungen Beethoven kennen, der ihm 
nach Wien folgte und ſein Schüler wurde. Freilich dauerte dieſes Verhältnis bei 
der Ungleichheit der beiden Naturen nicht lange. Aber auch Beethoven hat zeit- 
lebens die höchſte Verehrung für den älteren Meiſter bewahrt. Schon im Januar 
1794 reiſte Haydn wieder nach London, wo er bis zum Auguſt des nächſten Jahres 
blieb. Gern hätte man geſehen, daß er hier eine Art Nachfolgerſchaft Händels an- 
getreten hätte, aber er hing zu febr an feinem Wien. Was hier an feiner allgemei- 
nen Volkstümlichkeit unter Anerkennung ſeiner hervorragenden Stellung gefehlt 
hatte, das war durch die Erfolge im Auslande eingeholt. Dieſe echte Boltstümlich- 
keit offenbarte fih darin, daß man ihn mit der Schöpfung einer deutſchen Raifer- 
hymne beauftragte. Und er hat das Vertrauen glänzend gerechtfertigt. Lag ihm 
ſonſt die eigentliche Liedkompoſition wenig, ſo hat er mit der Melodie zu „Gott 
erhalte“ einen prachtvollen weltlichen Volkshymnus geſchaffen, der ſo groß und ſo 
urdeutſch ift, daß erft die ſpätere Zeit in „Oeutſchland, Deutfchland über alles“ den 
vollwertigen Text dazu geſchaffen hat. 

Es iſt eine der troſtreichſten Erſcheinungen des geiſtigen Lebens, daß die 
dauernde geiſtige Tätigkeit die Kräfte nicht eigentlich aufzehrt. Wie zwei Menfchen- 
alter früher Händel, ſo vermochte jetzt auch Haydn als Greis ſich noch ein neues 
Schaffensgebiet zu erobern. In London hatten die Händeloratorien ſo gewaltig 
auf ihn eingewirkt, daß er fih einen Oratorientext mitgebracht hatte, den ihm der 
um die Pflege älterer Muſik ſtets bemühte van Swieten ins Deutſche übertrug: 
„Die Schöpfung“. Gewiß hatte er Iden früher zweimal oratorienartige Kom- 
poſitionen geſchaffen; aber das dem Jahre 1775 angehörende „II ritorno di Tobia‘ 
trägt ganz den Charakter der italieniſchen geiſtlichen Oper, und die bekannten „Sieben 
Worte des Erlöſers am Kreuze“ ſind urſprünglich Inſtrumentalſätze, denen erſt 
jetzt, 1794, Worte unterlegt wurden. In mehrjähriger Arbeit — ſo leicht wie 
früher floß ihm der Strom der Erfindung nicht mehr zu — vollendete er bis 1798 
dieſes kraftſtrotzende, nach Empfindung und Ausdruck jugendlich frohe Werk, 
und ſchon im nächſten Jahre wagte er ſich in den „Jahreszeiten“ an ein zweites 
Oratorium, bei dem er die großen Schwierigkeiten des Textes in bewunderns- 
werter Weiſe überwand. Danach hat er nicht mehr viel geſchrieben. Auf einige 
Geſangsquartette legte er mit Recht großen Wert. 1803 ließ er fid auf feine Vifiten- 
karten die Anfangsworte eines derſelben drucken: „Hin iſt alle meine Kraft, alt und 
ſchwach bin ich.“ Von da ab hat er nicht mehr komponiert. Ruhig und heiter ſah 
er dem Ende entgegen, in freudiger Anteilnahme am Schaffen der Jugend. All- 
verehrt, von den beſorgten Dienerhänden Elslers wohl betreut, war er ein Wahr- 
zeichen Wiens geworden. Schwer litt er, der ein echter Patriot war, unter den 
harten Heimſuchungen, die ſein Vaterland durch den napoleoniſchen Krieg erlitt. 
Mitte Mai 1809 war Wien von den Feinden eingenommen worden. Am 26. Mai 


Ein Goltetlavier 409 


verſammelte der Greis nod einmal fein Haus um fid, ließ ſich ans Klavier tragen 
und ſpielte dreimal nacheinander feine deutſche Vaterlandshymne. Danach trat 
die Entkräftung ein. Am 31. Mai 1809 gegen 1 Uhr in der Frühe iſt Haydn 
ſanft entſchlummert. 

Haydn hat eine außerordentliche Fruchtbarkeit entfaltet: 125 Symphonien, 
77 Streichquartette, 66 Divertiſſements, 24 Opern, die beiden großen Oratorien 
und zahlreiche kleinere Werke. Seine große Bedeutung für die Entwicklung liegt 
in der Inſtrumentalmuſik. Die immer mehr ins einzelne dringende Forſchung 
hat die Mannheimer Schule mit Stamitz, Richter, Cannabich, und die Wiener 
Schule mit Monn an der Spitze als Vorbereiter Haydns nachgewieſen. Trotzdem 
bleibt Haydn der Schöpfer des neuen Inſtrumentalſtils. Einmal indem er alle 
vorhandenen Kräfte zuſammenfaßte, dann aber durch die außerordentliche Steige 
rung und grundſätzliche Durchbildung des vorher mehr Geahnten oder in ver- 
einzelten Fällen Getroffenen. Von Haydn führt der gerade Weg zu Beethoven. 
Für die Entwicklung bedeutſam ſind auch ſeine Oratorien, durch die der weltliche 
Charakter der Gattung ſo recht entſchieden wurde. Sie ſind auch kulturgeſchichtlich 
von außerordentlicher Bedeutung geworden, weil dank der Beliebtheit ihres Schöp- 
fers man allenthalben diefe Werke, deren idylliſcher Gehalt dem deutſchen Volks- 
empfinden febr entgegenkam, fih zu gewinnen ſuchte. Dazu wurde der Zufammen- 
ſchluß der bis dahin recht zerſplitterten muſikaliſchen Kräfte allerorten notwendig. 
Die Gründung von Muſikfeſten wie von großen Singvereinen knüpft ſich an 
dieſe Tatſache. 

Aber glücklicherweiſe brauchen wir Haydn nicht bloß hiſtoriſch zu werten. 
Seine Kunſt iſt eine durchaus lebendige Kraft unſeres Muſiklebens, die zum Schaden 
desfelben nicht genug ausgenutzt wird. Es wäre die ſchönſte Frucht dieſes Zubi- 
läumsjahres, wenn es eine vermehrte Pflege der Muſik Haydns mit fic) brächte. 
Gegenüber der Verſtiegenheit, der Maſſigkeit in allem Techniſchen, des Oben- 
hinaus-wollens und der inneren Armut eines großen Teils der neueren Muſik 
gibt es kein beſſeres Gegengewicht als dieſe klar durchſichtige, ſich möglichſt einfach 
gebende und bei alledem doch tief empfundene und gehaltreiche Kunſt, die ihr 
höchſtes Ziel in der Beglückung des Nächſten ſieht, die frei iſt von aller Selbſtſucht, 
vollkommener Ausdruck iſt einer warmen Liebe zur Welt und den Menſchen in ihr. 


— 


Ein Volksklavier 
(Zur Förderung der Volks muſik) 


N dringenden Rufe: Zurück zur Natur, zur Einfachheit, zur Gefundheit! Beſonders 

8 auf dem Gebiete der Muſik tut fih ſolche Sehnſucht kund und verdichtet fic zu der 
Mahnung, den Volksgeſang beſſer zu pflegen, um dadurch unſer Volkslied wieder zu heben, 
zu veredeln. Denn es beſteht kein Zweifel, daß die Luſt zum Liederſingen noch in weiteſten 


410 Cin Vollatlavier 


Kreiſen lebendig ift, daß aber die neuerdings dafür gebotene Koſt eine minderwertige, oft 
ſogar verdorbene Nahrung für die Seele unſeres deutſchen Volkes darſtellt. Während nun 
die einfachen, leicht ſingbaren Liedlein immer banaler erklingen, nehmen unfere Rongertgefange 
einen ftets vornehm- kühleren Ton an und ſchließen fih durch zunehmende Verkuͤnſtelung für 
den Gebrauch als Hausmuſik ſelbſtverſtändlich ab; denn ihre Anforderungen an Gefangs- und 
Begleitekunſt ſind ſo hohe geworden, daß ſie der durchſchnittlich muſikgebildete Laie nicht mehr 
bewältigen kann. Dadurch aber wird jener Zwieſpalt zwiſchen oberen und unteren Bolts- 
ſchichten, den eine neuere Kultur leider hervorgerufen, auch in den Bereich der Liedkunft ge- 
tragen und droht, die allgemeine Liebe zur Muſik in unſerem Volke ſchwer zu ſchädigen. 

Solche Gefahr iſt vielen bewußt geworden, und man hat verſucht, durch Volkskonzerte, 
Vorträge u. dgl. die weniger Gebildeten zur Muſikpflege zu ermuntern. Manche haben dabei 
ganz richtig erkannt, daß, um die vokale Muſik zu heben, auch die inſtrumentale Kunſt geübt 
werden muß — denn die meiſten Liedlein klingen ja bei Begleitung um fo ſchöner! So holte 
man die halbvergeſſene Laute hervor, verſuchte es auch mit der Gitarre und Mandoline u. a., 
aber erfuhr nur zu bald, daß dieſe (durchaus nicht leicht erlernbaren) Inſtrumente unſerer Bor- 
fahren dem Muſikempfinden der neuen Zeit nicht mehr genügen wollen. Das Rlavier in feiner 
Vielſtimmigkeit hat fie leider völlig in den Schatten geſtellt; denn wo es auch hindringt, über- 
tönt es bald alle anderen Begleitinſtrumente, ſei es zum Tanze, in der Geſelligkeit oder beim 
Singen. Dieſer Siegeszug des Klaviers ift nicht aufzuhalten, ſondern wir miiffen vielmehr 
trachten, ihn zum Wohle der Volksmuſik auszunutzen. Was man aber in einfachen Stabtkreiſen 
oder auf dem Lande heute an Pianoforten trifft, ift gewöhnlich fo erſchreckliches Material, daß 
es die holde Kunſt mehr herabzuziehen als ſie emporzuheben geeignet erſcheint. Denn alle 
alten Ravierinvaliden erhalten, wenn fie bei Vornehmen ausgedient, „da draußen“ noch lange 
ein Gnadenbrot: — neue Inſtrumente find ja zu koſtſpielig in der Anſchaffung! 

Letztere allgemeine Klage ift berechtigt und hat verſchiedene Gründe. Es ließen fidh aber 
ſehr gut auch billige brauchbare Klaviere herſtellen, wenn man ſich nur entſchließen wollte, 
fie einfacher im Außeren — nicht als Salonmöbel — und kleiner im Formate, alfo im Ton- 
umfange, zu bauen. Schreiber dieſes tritt feit geraumer Zeit für die Einführung folder Kla- 
viere in Haus und Schule ein und traf zum Glücke auf gleiche Beſtrebungen bei der bekannten 
Pianofortefabrik von Auguft Foerſter in Löbau. Dieſe lieferte Anfang 1907 das erſte Zn- 
ſtrument folder Art, welches wir „Pianetto“ nannten; es verfügte über A Oktaven (C—gI) 
und bewährte feinen vollen Klang recht gut bei einem Volksliederabende vor etwa tauſend 
Zuhörern. Genannte Fabrik fertigte danach Klaviere von 4½ und 5 Oktaven, welche letzteren, 
bei einem Tonumfange von con. A bis aIH, das Aanggebiet der menſchlichen Singſtimme fo 
weit umfaſſen, daß fie als Begleitinſtrumente für Chor- und Einzelgeſang völlig genügen. 
(Man erinnere fic, daß Mozart kein größeres Klavier benutzte!) In der Form erſcheint das 
Pianetto als verkleinertes Pianino, alfo hochgebaut, denn die frühere Tafelform ift ja über- 
wunden. Sehr leicht ließe fidh dieſes kleine Pianino, das äußerlich an einen Schreibtiſch erinnert, 
als ſolcher in zweiter Linie verwenden: der Klavlerdeckel braucht nur entſprechend verbreitert 
und einige Fächer unten angebracht zu werden. Wie willkommen wäre eine derartige Rom- 
bination für Minderbemittelte oder bei Platzbeſchränkung! Derartige Inſtrumente dürfen 
ſelbſtverſtändlich, wenn fie weiten Volkskreiſen dienen wollen, einen gewiſſen billigen Preis 
nicht überſteigen; in der Menge werden fie ſich auch, bei einfacher Ausſtattung, wohlfeil und 
doch gut herſtellen laſſen. Daneben behalten natürlich die großen Inſtrumente für Virtuoſen 
oder fortgeſchrittene Klavierſpieler, die neuerdings fogar an Tonumfang wachſen, ihren künft- 
leriſchen Wirkungskreis. Derjenige des Pianettos erſtreckt ſich auf die Pflege der Volksmuſik 
in Schule und Haus. 

Wenn ſich nun unſere Schulgemeinden — wo nötig, mit ſtaatlicher Beihilfe — zur An- 
ſchaffung derartig billiger Rlaviere entſchließen wollten (in den Seminaren würde es an Stelle 


em Voltsklavier | 411 


der Violine ſchnell eingeführt werden), fo würden ſolche, zumal auf dem weiten Lande, außer- 
ordentlich zur Förderung einer guten Volksmuſik beitragen. Welch veredelnder Einfluß fidh da- 
durch aber von der Dorfidule aus über das ganze Land verbreiten müßte, ift gar nicht abzu- 
ſehen: denn der Kulturwert ſolcher Einwirkung auf unfer deutſches Volk wäre ein unberechen⸗ 
bar großer! — Auch in den Städten könnte das kleine Haustlavier (und zwar mit entſprechender 
Dämpfervorrichtung) ſehr ſegensreich wirken: ein guter Hausfreund, ein Bindemittel für die 
Familie, ein Erzieher zu höherer Lebensanſchauung, ein Stifter ſeeliſcher Genüſſe — alles das 
könnte es werden. Daneben hätte es den verdienſtlichen Kampf gegen jene verderbliche Baridté- 
muſik und andere niedere Kunſt zu führen, die unfer Volk vergiftet. Welch lohnender Beruf! — 

Unfer liebes Volkslied aber, dieſer treue Gefährte des deutſchen Volkes feit älteſten Bei- 
ten, könnte durch ſeine Begleitung nur gewinnen; während unſer allgemeines Liederſchaffen, 
durch das neue Volksklavier friſch angeregt, ſich wieder einfacheren Formen zuwenden und, 
der deutſchen Eigenart entſprechend, ſich gemütvoller, innerlicher, ſchlichter und vertiefter ge- 
ſtalten würde! Mögen daneben für kompliziertere Menſchen vielgeſtaltige Kunſtgeſänge im 
Konzertſaal erklingen (das deutſche Lied ſtuft ſich ja von jeher tauſendfältig ab): für die große 
Menge des Rulturmittelitandes brauchen wir gute einfache Lieder, geeignet, den allgemeinen 
Muſikdurſt mit ſchlichter Hausmuſik zu ſtillen. 

„In der Mitten liegt holdes Beſcheiden“, ſingt Mörike. Solch edlem Beſcheiden in der 
Pflege der holden Muſika will ſich das Pianetto widmen. Möge ſein Weſen erkannt und es 
als Volksklavier in weiteſten Kreiſen freundlich aufgenommen werden, auf daß es ſeinen hohen 
Beruf, Geſittung zu verbreiten, ſegensreich erfüllen kann. 

Otto R. Hübner 


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— 


LX 


Die moderne Zeitung 


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A n ihrem Weſen wird die moderne Zeitung gründlich beleuchtet in einem aus gediege- 
ner Sachkenntnis geſchriebenen Aufſatze von Dr. Hermann Oiez (Beilage der 
2 O Münch. N. Nachr.). Im Abſtand des früheren Urteils Eduard Lasters, der die 
Zeitungsleute als „Neuigkeitsverkäufer“ brandmarkte, von der Charakteriſtit des Leipziger 
Nationalökonomen Karl Bücher: „Früher verkaufte die Zeitung ihre Nachrichten an ihre Leſer, 
jetzt verkauft fie ihren Leſerkreis an jedes zahlungsfähige Privatintereſſe“ offen- 
bart ſich die weite Entwicklung. 

„In der Tat kann eine moderne Zeitung von ihren Abonnenten nicht mehr exiſtieren; 
die Erweiterung ihres Leſerkreiſes kann ihr nicht mehr Selbſtzweck fein, da fie auch dem voll- 
bezahlenden Abonnenten jahraus jahrein ein namhaftes Geſchenk macht, ſo daß jeder neu 
hinzukommende einen baren Verluſt bedeutet, ſondern ſie hat an dieſer Erweiterung lediglich 
ein mittelbares Intereſſe, ſofern und ſoweit die geſteigerte Publizität höhere Einnahmen aus 
dem Inſeratenweſen zur Folge haben kann. Aus Anlaß des fünfzigjährigen Zubiläums der 
„Münchner Neueſten Nachrichten“ hat deren Verlag vor einigen Fahren berechnet, daß der tåg- 
liche Betriebsaufwand zur redaktionellen und techniſchen Herſtellung des Blattes auf mehr 
als 7400 M fidh belief, wogegen die tägliche Einnahme aus Abonnement und Einzelverkauf 
bei einer damaligen Auflage von 95 000 Exemplaren und einem Quartalspreis von 2,50 A 
nur 2612.50 K betrug, jo daß dadurch nur etwa ein Drittel der Herſtellungskoſten gedeckt wurde, 
während für die übrigen zwei Drittel und den ganzen Geſchäftsgewinn die Inſerate aufkommen 
mußten. Eine analoge Berechnung bei der Wiener „Neuen Freien Preſſe“ hat ergeben, daß 
auch der hohe Abonnementspreis von 18 Gulden nur drei Fünftel der Geſamtherſtellungs- 
koſten deckte, die ſich auf 30 Gulden pro Exemplar beliefen. Bei den Londoner Times“ erzielt 
ſelbſt der Brutto verkaufspreis von 3 Pence pro Exemplar nur die Hälfte des Inſeratenertrags, 
beide zuſammen mit zirka 50000 M pro Nummer reichen aber nach glaubhafter Schätzung 
heute kaum mehr aus, die Herſtellungskoſten zu decken. 

Daß ſonach die Exiſtenz einer modernen Zeitung ganz und gar wirtſchaftlich auf das Zn- 
ſeratenweſen geſtellt iſt, bedeutet begrifflich und grundſätzlich eine vollſtändige Verſchiebung 
ihres urſprünglichen Weſens. In der Praxis kommt hinzu, daß das Überwiegen des Inferaten- 
intereſſes notwendig verflachend und abblaffend auf die redaktionelle Geſtaltung des Zeitungs- 
inhalts wirkt, und zwar bis zum völligen Verzicht auf jede eigene Meinung, wie er in der fo- 
genannten Generalanzeiger-Preſſe zutage tritt. Und ſchließlich ift dieſes Verflachen und Ber- 
blaſſen eine der wichtigſten Vorausſetzungen des großgewerblichen, fabrikartigen oder waren- 
hausmäßigen Zeitungsbetriebs, wie er nach amerikaniſchen und engliſchen Vorbildern auch 
in Oeutſchland allmählich Platz greift. Die Londoner Firma Harmsworth, der die ‚Daily Mail‘ 


Auf ber Warte 413 


und der ‚Daily Mirror“ mit je einer Million täglicher Auflage gehören, beſitzt insgeſamt zirka 
fünfzig Blätter, und C. Arthur Pearſon, der Beſitzer des ‚Daily Erpreß‘, des, Standard“ uſw., 
hat es wohl auch ſchon auf einige Dutzend gebracht. So weit ſind wir heute noch nicht, aber 
wir find auf dem Wege dahin. Die drei Firmen Moſſe, Scherl und Ullſtein haben heute ſchon 
den größten Teil der Berliner Preſſe in ihren Händen und find augenſcheinlich vom Sättigungs- 
zuſtand noch weit entfernt; dazu kommen einige großkapitaliſtiſche Zeitungskonzerne, die in den 
verſchiedenſten Teilen des Reichs Blätter von derſelben Art und Farbe bzw. Farbloſigkeit 
herausgeben. Die hohen Koſten eines ſelbſtändigen vielſeitigen Nachrichtendienſtes, die ein 
Blatt für ſich allein kaum zu tragen vermag, haben mit elementarer Gewalt in dieſe Richtung 
gedrängt, und das Zurücktreten des politiſchen Charakters der Blätter hat die inneren Voraus- 
ſetzungen für dieſe Anfänge einer Vertruſtung unſeres Zeitungsweſens geſchaffen.“ 

Am meiſten bedroht iſt durch dieſe Entwicklung die Parteipreſſe. Das mag manchem 
bei dem ewigen Gezänk nicht als Übel erſcheinen; aber der leidenſchaftliche Meinungsaustauſch 
über foziale, wirtſchaftliche und politiſche Dinge iſt doch nicht zu entbehren und keinesfalls durch 
die Liebedienerei der farbloſen Blätter gegen alle Behörden zu erſetzen. Heute wählt man oft 
den Ausweg, daß derſelbe Verlag zwei Zeitungen herausgibt: ein farbloſes Inſeratenblatt 
muß die vornehmere und charaktervollere Schweſter mit durchfuͤttern. Aber es ift nicht zu ver- 
kennen, daß in dieſer Entwicklung zweifellos eine Gefahr liegt, „die ſich immer ernſter und 
empfindlicher geſtalten wird, je mehr unſere Preßverhältniſſe in der neuen Richtung weiter- 
ſchreiten. Und das Ende würde ſchließlich eine Monopolſtellung der großkapitaliſtiſchen Zeitungs- 
unternehmungen weniger Hauptſtädte fein. Alſo Umlehr, wenn es noch möglich ift, oder aber 
Trennung der Zeitungswelt in koſtſpielige farbloſe Nachrichtenblätter und ernſthafte politiſche 
Zeitungen, die ihren Wert durch geiſtig⸗ſittliche Qualitäten erhalten, nicht durch die wahnſinnige 
Konkurrenz des Zuerſtwiſſens! 

Was eine moderne Zeitung in der Herſtellung fo teuer macht, das ift die Nachrichten- 
beſchaffung im allgemeinen und ſpeziell die Koſtſpieligkeit des telegraphiſchen Dienſtes, ge- 
ſteigert oft durch eine geradezu groteske Verkennung deffen, was überhaupt meldens- und wif- 
fenswert ijt. Denn was kommt ſchließlich dabei heraus? Man kann wohl fagen, daß die Privat- 
telegramme mancher Blätter nicht den zehnten Teil des Geldes wert ſind, das ſie koſten, auch 
abgeſehen davon, daß fie bei den techniſchen Schwierigkeiten der telegraphiſchen und telephoni- 
ſchen Übermittlung häufig bis zur völligen Wertloſigkeit verſtümmelt werden. Wie unglücklich 
ſind meiſt die Parlamentarier über die Art, wie ihre Reden wiedergegeben werden! Wie oft 
kommt der gewiſſenhafte Redakteur in die Lage, feſtzuſtellen, daß ein ausländiſcher Staats 
mann etwas ganz anderes geſagt hat, als das Telegramm behauptete, wie oft empfindet er es 
als faft zwingende Verpflichtung, die erſte Meldung wenigſtens zu ergänzen, um ein politiſch 
annähernd richtiges Bid zu geben! Aber der knapp zugemeſſene Raum, der natürlich immer 
knapper wird, je mehr der Leſerkreis eines Blattes fih erweitert — bei einer Auflage von 
Hunderttaufenden gehen die Koſten eines ‚Diertelbogens‘, Iden in die Hunderte —, geftattet 
derlei Ergänzungen und Wiederholungen in der Regel nicht. Nur zu oft ijt auch an die erſte un- 
zulängliche oder irreführende Meldung ſchon ein politiſches Räſonnement geknuͤpft worden, das 
dann ebenfalls modifiziert und korrigiert werden müßte, was Verleger und Publikum als 
Eingeſtändnis einer ſchuldhaften Voreiligkeit empfinden könnten. Alſo — läßt man fünfe grad 
ſein und geht zur Tagesordnung über, um bei der nächſten Gelegenheit naturnotwendig in 
denſelben Fehler zu verfallen. Die Folge aber iſt eine Verlotterung der ganzen politiſchen 
Publiziſtik und eine moraliſche Depravation des Redakteurs ſelbſt, dem als einziger bürftiger 
Troſt die Gewißheit bleibt, daß Zeitungen von vorgeſtern im allgemeinen die vergeſſenſte 
Sache der Welt ſind. 

Noch ſchlimmer aber iſt, daß die Zeitungen unter dem Einfluß der allgemeinen Haſt und 
des nervöſen Wetteifers mehr und mehr anfangen, unter die Propheten zu gehen. Man wartet 


414 Auf der Warte 


die Ereigniſſe gar nicht mehr ab, eine einigermaßen ‚gut unterrichtete‘ Zeitung muß fie voraus 
wijfen. Welche Freude nachher, wenn eine ſolche Prophezeiung fidh beitätigt‘, und wenn fie’s 
nicht tut, welch ſchöne Aufgabe für einen ſcharfſinnigen Kopf, nachzuweiſen, daß und inwie- 
fern man doch recht gehabt oder wie vielleicht grade die wohlberechnet falſche Meldung auf 
den Gang der Dinge eingewirkt hat! Ym ſchlimmſten Fall aber verläßt man ſich auch wieder 
auf das kurze Gedächtnis des lieben Publikums, das heute nicht mehr weiß, was es geſtern ge- 
leſen hat, fo daß man wohl gar ſchreiben darf: „Wie wir von vornherein als wahrſcheinlich be- 
zeichnet haben, ift uſw.“, wenngleich das direkte Gegenteil der Fall iſt. Der gute alte Grund- 
ſatz, daß der politiſche Publiziſt mehr wiſſen muß, als er ſchreibt, iſt durch die Anforderungen 
oder die vermeintlichen Anforderungen des modernen Fixigkeitswettkampfes zum alten Eiſen 
geworfen; man bemüht fid jetzt, mehr zu ſchreiben, als man weiß, und druckt ſkrupellos einige 
Senſationskorreſpondenzen nach, obwohl man regelmäßig die Erfahrung macht, daß ihre 
Neuigkeiten ſehr kurze Beine haben. Das Publikum will Neuigkeiten, beſonders pikante Neuig- 
keiten, und hat man ſie nicht, ſo ſchafft man ſie in Gottes Namen oder läßt ſie ſich von Leuten 
darbieten, über deren Vertrauenswiirdigteit man fic ſelbſt keinerlei Illuſionen macht. Aber 
eben dadurch verdirbt man das Publikum und erzieht ihm den Neuigkeitshunger an, den es an 
und für ſich gar nicht hat. 

Es verſteht ſich von ſelbſt, daß dieſes harte Urteil nicht allgemein gültig iſt. Es wird viel 
treue, gewiſſenhafte Arbeit geleiſtet innerhalb des weiten Bereichs der deutſchen Preſſe, und 
wer überhaupt politiſchen Inſtinkt hat, lernt auch verhältnismäßig ſehr raſch die falſche Nady- 
richt von der glaubwiirdigen zu unterſcheiden — eines der allerweſentlichſten angeborenen Stüde 
der Berufsausrüftung des politiſchen Redakteurs. Aber im allgemeinen drängt der Geiſt der Zeit 
in dieſe unheilvolle Richtung, und es kommt leider vor, daß ihm auch ernſte Männer unterliegen. 
Dafür hat — auf nichtpolitiſchem Gebiet — der berüchtigte „Fall Hau“ eklatante Beiſpiele ge- 
liefert. Auch da genügte es nicht, daß man die ſenſationellen Wendungen des Prozeſſes forg- 
lich verfolgte und in die ſeeliſchen Rätſel des Falles vorſichtig einzudringen ſuchte. Auch da 
mußte der journaliſtiſche Scharſſinn den Ereigniſſen vorauseilen, auch da mußte prophezeit 
werden, was die Unterſuchung ergeben würde, bis die Gegenwehr einer ſchmählich verdächtig; 
ten Frau den Übereifer dämpfte. Vorher aber hatte man ſelbſt die einfachſte Rüdficht und 
Anſtandspflicht beiſeite geſetzt in der verwirrenden Hetze eines journaliſtiſchen Syſtems, das 
den Rekord der Berichterſtattung ſchließlich in der Welt der künftigen Dinge ſuchen muß, weil 
die Ereigniſſe ſelbſt einen unbequemen terminus a quo in ſich ſchließen. Aber ganz abgeſehen 
von dieſen Extremen und Exzeſſen — unſerer Tageszeitung als folder droht, wenn die gegen- 
wärtige Entwicklung anhält, ein verhängnisvolles Sinken ihres geiſtigen und ſittlichen Niveaus.“ 

Noch wäre die Heilung möglich, da die ſchlechte Entwicklung noch nicht fo weit vorgefchrit- 
ten iſt, um das auf dieſem Gebiete geleiſtete Gute völlig erſticken zu können. Allerdings müßte 
dann auch die Art, wie eine inhaltlich ernſt gearbeitete Zeitung geleſen wird, etwas anders 
werden. Denn öfter als für die Schreiber trifft für die Lefer der Vorwurf der Oberflächlichkeit 
zu. „Die journaliſtiſche Leiſtung iſt ihrer Eigenart entſprechend ſicherlich eine beſondere, aber 
darum noch keineswegs eine minderwertige Art ſchriftſtelleriſcher Tätigkeit. Und tatfächlich ver- 
ſchmähen es ja auch die erſten Geiſter unſeres Volkes nicht, anonym in den Zeitungen das Wort 
zu ergreifen und dadurch deren Anſehen und Nimbus zu ſtärken. So iſt es im ganzen ſicherlich 
nicht berechtigt, wenn man die geiſtige Arbeit der Preſſe zu den üblen Erſcheinungen unſerer 
Zeit und zu den Urſachen eines allgemeinen Niederganges rechnen will. Die vornehmeren 
Erſcheinungen der deutſchen Preſſe ſind heute nicht ſchlechter als zu der Zeit, wo die erſten Ver⸗ 
treter ber deutſchen Geiſteswelt perſönlich unter die Redakteure gingen, und wenn die Mehr- 
zahl der deutſchen Blätter einen ſo hohen Rang nicht einnimmt und ihr Einfluß um ſo größer 
ift, als gerade fir die weiten minder gebildeten Schichten unſeres Volkes die Zeitung faſt die 
einzige Lektüre bildet, fo ift fie es auch allein, die in unſerem Zeitalter der äußerſten Arbeits- 


Auf der Warte 415 


teilung auf allen Gebieten ihrem Publikum ſo etwas wie eine univerſale Bildung vermitteln 
kann. Das Buch kann ſelbſt in den Kreiſen, denen Mittel und Zeit genug zur Verfügung ſtehen, 
einen Wettbewerb nicht aufnehmen. Zu der Buchlektüre muß unter allen Umjtänden auch 
unter den Geſichtspunkten der Bildung die Zeitung hinzutreten. Man mag von der ſtolzen 
Höhe des Berufsgelehrtentums herab oder von den Nebenwegen eines extremen Individua⸗ 
lismus über diefe Art von Bildung und Belehrung die Nafe rümpfen: wenn das Bildungs- 
niveau unſeres Volkes im allgemeinen erfreulich hoch ift und jedenfalls den Vergleich mit tei- 
nem anderen Kulturvolk der Welt zu ſcheuen braucht, fo ift das neben der vielgerühmten deut- 
ſchen Schule doch zu einem nicht allzu kleinen Teile auch der deutſchen Preſſe und ihrer unermüd- 
lichen Arbeit zuzuſchreiben. 

Aber die Erhaltung der Zeitung, von der man fo rühmliche Dinge fagen kann, der Set, 
tung, deren Leitartikel, politiſche Briefe und Feuilletons ernſthafte, wohlerwogene Außerungen 
berufener Köpfe und zugleich ſtiliſtiſche, künſtleriſche Leiſtungen ſind, ſollte all den Kreiſen am 
Herzen liegen, denen das Wohl unſeres Volkes am Herzen liegt. Und eine ſolche Zeitung ließe 
fih ohne Überſpannung des Znſeratenintereſſes wohl auch heute noch nutzbringend geſtalten, 
wenn nur der durch nichts gerechtfertigten, unnatürlichen und ungeſunden fortwährenden Ver- 
billigung des Zeitungspreiſes Einhalt geboten würde. An und für ſich würde ja eine Ausgabe 
von zehn Pfennig pro Tag für die Zeitung ſelbſt im Etat des kleinen Beamten und Gewerbe- 
treibenden heutzutage kaum eine Rolle ſpielen. Wäre dieſe Grundlage aber gewonnen, dann 
wäre auch der im üblen Sinn ‚modernen Zeitung“ der Lebensfaden durchgeſchnitten, die ge- 
rade fo viel ſchlechte Telegramme, überhaſtete Artikel und aufgebauſchte Tagesneuigkeiten bringt, 
um die Anzahl von Abonnenten anzulocken und feſtzuhalten, die ſie für ihre Inſerenten braucht.“ 

Und follte nicht ſchließlich jeder ernſte Mann zu einem Opfer für die Erhaltung einer 
gediegenen Preſſe bereit fein, wenn er die Dinge bedenkt, die er in den letzten Wochen bei der 
Geburt des holländiſchen Thronfolgers und der türkiſchen Revolution in den Senſationsblättern 
erleben mußte. 

Wen hat es nicht angeekelt, wie in dieſen Zeitungen durch Wochen jedes aufgefangene 
Rutider- und Zofengeſchwätz über das Befinden der Königin telegraphiert wurde! Mußte 
einem diefe Frau nicht leid tun, wie fie in dieſen ſchweren Tagen umlüjtert und vor die breiteſte 
Öffentlichkeit gezerrt wurde! Und nachher das ſchleimige Ergebenheitsgeſchreibe. Pfui Teufel! 
Kellner, einen Rognat! 

Konſtantinopel bot dazu das Satyrſpiel im edlen Wettkampf der Herren Rorrefpon- 
denten, ihren Blättern die neueſten Nachrichten zu verſchaffen. Das Berliner Tageblatt hatte 
gluͤcklich feſtgeſtellt, daß die letzte geiſtige Nahrung, die der entthronte Sultan zu fih genommen, 
aus feinen Spalten geſchöpft war. Aber der Lokalanzeiger ließ ſich nicht lumpen, und fein Ror- 
reſpondent berichtete in einem zwei Spalten langen Telegramm, daß er als erſter und einziger 
Europäer vom neuen Sultan empfangen worden fei, der ihm verſicherte, daß er zwar die ganze 
Welt, insbeſondere aber Deutſchland liebe. Darob helle Wut in der ZJeruſalemer Straße, und 
das Berliner Tageblatt ließ es ſich ein großes Telegramm aus London koſten, in dem der Bericht 
eines engliſchen Korreſpondenten übermittelt wurde, der als erter und einziger Europäer 
vom neuen Sultan empfangen und verſichert worden fei, daß er zwar die ganze Welt, insbefon- 
dere aber England liebe. Sicher ijt auch ein Pariſer Korreſpondent als erſter und einziger emp- 
fangen worden und hat die Verſicherung der beſonderen Liebe fir Frankreich erhalten. Aber 
das Schönſte kam am Ende. Der Korreſpondent des Berliner Tageblatts verdoppelte nun ſeine 
ohnedies ſchon „fieberhafte“ Tätigkeit und erreichte glücklich die Verſicherung — daß überhaupt 
noch kein Europäer vom Sultan empfangen worden fei. Heil dem Volke der Lefer, das mit 
gleichbleibendem Heißhunger immer das Neueſte und nur das Neueſte verſchlingt! 


* 


416 Auf ber Warte 
Tſchechows Möwe 


uf dem Vorhang des „Künſtleriſchen Theaters“ in Moskau, deffen atmoſphäriſche 
AN und ſtimmungserfüllte ſzeniſche Verdichtungen wir in Berlin vor einigen Jahren 
o duch das Gaſtſpiel Stanislawskis und der Seinen kennen lernten, breitet — fo 
erzählte mir eine ruſſiſche Freundin — fih als ein ornamentales Wahrzeichen eine Möwe. 

Dies Sinnbild weiſt auf den von dieſen Künſtlern ſo hochverehrten Dichter Anton 
Tſchechow und auf fein Drama, das den Meervogel im Titel führt. 

NMerkwürdigerweiſe gaben die Ruffen damals nicht Tſchechows Möwe, ſondern feine 
„Drei Schweſtern“. Die Möwe haben wir erſt jetzt durch eine am ruſſiſchen Regievorbild ge- 
ſchulte Aufführung im Hebbeltheater kennen gelernt. 

Das gleiche ſeeliſche Mima weht hier, wie wir es nach jenen Eindrücken charakteriſierten. 
Variationen flawifher müder Seelen klingen, ſingende langgezogene traurige Weifen ohne 
Auflöſung, endloſe Tristesse de la vie. Hoffnungslos Dahinleben, welk und matt, mit erſtickten 
Sehnſüchten und der Verzweiflungsfrage: Warum wir leben, warum wir leiden, wenn wir's 
doch wüßten, wenn wir's doch wüßten! 

Doch leiſe, auf Sordinen geht dieſe Melancholie, es iſt jene Maeterlinkſche Alltagstragil 
voll Stille und Tonloſigkeit, duldend, leidend, paſſiv, während das tätig robuſte Leben darüber 
und daneben riidfidtslos brutal weiterhajtet, weitertreibt. 

Es ift eine künſtleriſche Abſicht Tſchechows, daß er feine Schickſale nicht in die Tiefe, 
ſondern zuſtändlich breit ausmalt. Er zeichnet die Situationen, das Spiel auf der Oberfläche. 
Die inneren Reaktionen gibt er nur andeutend als die erdruͤckten, erſtickten Regungen vergewaltig- 
ter zur Stummheit gezwungener Geſchöpfe. 

So wird die Wirkung eine rein lyriſche, da man zum anſpannenden dramatiſchen Inter- 
eſſe nicht kommt. Die Geſtalten mit ihrem Wohl und Wehe bleiben eben bei dieſer Art in zu 
weiter Diſtanz, man taucht in ihren innerlichſten Schickſalskreis nicht hinunter. Was man emp- 
fängt, ift lediglich ein Anflug jener ſchweren, truͤbſalſchwangeren Luft, bie fie umgibt; wir emp- 
finden nicht ſowohl den ſpeziellen perſönlichen Schickſalsfall mit, als ein allgemein verſchwim⸗ 
mendes Gefühl vom Erdenweh und vom dumpfen Traum des Seins; was hier geſchieht, geht 
uns der Sache nach gar nicht fo nah, aber was daraus klingt, das Seufzen der gequälten Rrea- 
tur, die gebrochene Stimme der vom Leben Erdroſſelten bewegt uns ſehr. 

Und wie eine Mahnung, gleich jenen alten Orakeln, raunt es den Lächelnden und Strab- 
lenden zu, daß auch 


„Das reinſte Glück ber Welt 
Schon eine Ahnung von Weh enthält.“ 


Mit dieſer künſtleriſchen Art hängt es ferner zuſammen, daß Tſchechow ſeinen Stoff 
nicht ſcharf konzentriert und auf eine ſchickſalvolle Hauptſache zuſammendrängt, ſondern er 
jhüttelt aus feinem fataliſtiſchen Becher viele Würfel nebeneinander hin. Sie rollen fih gegen- 
ſeitig nah und entfernt in mannigfachem Abſtand, und alle ſprechen in ihrer Zahlenſpmbolik 
die gleiche bittere Erkenntnis der Eitelkeiten und des „Es lohnt nicht“ aus. 

Gerade das Spiel von der Möwe illuſtriert das deutlich. 

Es enthält ſozuſagen in Miniaturformat kriſtalliſiert eine Auswahl von Stoffen — mehr 
zu Novellen übrigens als zu Dramen —; fie alle geben Wechſelerſcheinungen der Lebensbefriedi⸗ 
gung, der Lebensängſte, des krampfhaften Herausfehnens und des unloslichen In- ich- gebunden; 
feins. Dargeſtellt wird das an einer ſommerlichen Geſellſchaft auf einem Landſitz mit ihren 
verſchiedenen Typen. 

Da ift die alternde Exzellenz, der gelähmte Staatsrat a. D. Er nennt ſich ſelbſt „homme 
qui a voulu“, den Unfruchtbaren, Unbefriedigten, der vor lauter Wollen nicht zum wirklichen 
Leben gekommen ift, und der nun frierend, mit leerer Seele, unerfüllt auf den Tod wartet. 


Auf ber Warte 417 


Dann ift da feine Schweſter, die berühmte Schaufpielerin, eine ,,Demi-Vieille“, nach 
dem Wort der Yvette Guilbert, aber eigentlich ſchon mehr trois-quart. An der gefährlichen 
Schwelle müht fie ſich fiebernd, die Illuſion der Jugend feſtzuhalten. Ihre Beſtätigung ſieht 
ſie in dem viel jüngeren Geliebten, den ſie krampfhaft an ſich zu feſſeln ſucht, den Schriftſteller 
Trigorin; das drohende Alter aber verkörpert ſich ihr unabweisbar durch ihren EE 
jährigen Sohn Konſtantin. 

Auch diefe beiden Jüngeren, Trigorin und Konſtantin, tragen Lebenswunden und find 
Anheils-Verfallene. Trigorin ift eine willensſchwache müde Seele, die unter der Liebestyrannei 
der alternden Frau leidet, ohne ſich von ihr losmachen zu können. Noch mehr aber leidet er unter 
der Defpotie feiner Kunſt. Tſchechow charakteriſiert an ihm jenes „Malheur d’ötre poste“, 
das fo viele Dichter voll Selbftquälerei bekannt, Grillparzer, Ibſen, Maupaſſant. Jenes Aus- 
geſaugtwerden ift hier gemeint, jener VBampyrismus der Kunſt, die den ihr Verfallenen ohne 
Gnade antreibt und ihn niemals unbefangen leben läßt. Er hat keinen Anteil am Menſchlichen, 
und alles wird ihm nur Stoff und Modell für ſeine Literatur. 

Und der andere, der junge Konſtantin, wird von einem brennenden Ehrgeiz und einer 
wütenden Eiferſucht auf Trigorin verfolgt. 

Zwiſchen beiden und einer dritten, Nina Mirowna, entwickelt ſich nun über die vergweig- 
ten Nebenmotive hinaus die Haupthandlung. Nina — die Möwe iſt das Sinnbild für ſie — wird 
von Konſtantin geliebt, verfällt aber Trigorin. Doch der ſieht eben auch nur in ihr Stoff und 
Modell und Metier-Ausbeute, er bringt fie ins Unglück und verläßt fie dann. Konſtantin liebt 
fie weiter unglücklich. Und als er nach zwei Jahren wieder um fie wirbt und er merkt, daß ſie 
an Trigorin immer noch hängt, da erſchießt er ſich. Er kann das Leben im Schatten dieſes Men- 
ſchen nicht mehr ertragen. 

Wie gejagt, dies Einzelſchickſal geht uns nicht beſonders nahe. Doch aus dem Ganzen, 
aus dieſen Verkettungen von unfreiwillig einander angetanen Leiden und dieſem Klima der 
Unentrinnbarteit kommt eine nachdenkliche Lebensſtimmung. 


E 
Das Kölniſche Theater 


Vit freudiger Anerkennung nur kann man in den letzten Jahren die Entwicklung 
N der Kölner Bühne verfolgen. Seitdem Max Marterſteig dort als Direktor ein- 
Z gezogen ift, geht es ftändig aufwärts und heute Iden müſſen wir anerkennen, 
daß es Ke gelungen ift, ſowohl in der Oper als aud im Schauſpiel Köln eine führende und 
beſtimmende Stellung zu verſchaffen. Die Oper brachte in den letzten Fahren ſtets mit großer 
Sicherheit alles einigermaßen Wertvolle an neuer Erſcheinung, ohne dadurch die Tradition 
der beſonderen Pflege alter guter Werke zu verdunkeln. Der Fidelio ift, wie natürlich, eine 
Muſterleiſtung Kölns, die Meyerbeerſchen Hugenotten zeichnen fih durch eine glanzvolle Würde 
aus, von Mozart bleibt außer der Zauberflöte die „Entführung aus dem Serail“ und „Baſtien 
und Baſtienne“ auf dem Repertoire, von Roſſini in heiterer Grazie der Darſtellung der Barbier 
von Sevilla und der Tell. Ihr Beſtes aber leiſtet die Kölniſche Oper für Verdi und Wagner. 
Die Aida wirkt geradezu großartig, und die Möglichkeit, einen hiſtoriſchen Wagnerzyklus un- 
mittelbar vor den großen Junifeſtſpielen in Köln herauszubringen, legt Zeugnis ab von der 
ſiegenden Sicherheit, welche hier die Leitung beſeelt. Mit dem Rienzi als letzter Einſtudierung 
ift der ganze Wagner für dauernd gewonnen; die blendenden Inſzenierungen würden das nicht 
zuwege gebracht haben, wenn nicht die Ausbildung eines Wagnerenſembles erſten Ranges 
gelungen wäre, welches ſeine Feuertaufe zuletzt in den Gaſtſpielen in Madrid und Liſſabon 
Der Tuͤrmer XI, 9 27 


Felix Poppenberg 


418 Auf der Warte 


empfing. Frau Guszalewicz, Whitehill und Remond haben fih und ihrer Bühne den verdien- 
teſten Ruf geſichert, um nur die hervorragendſten unter vielen guten Namen zu nennen, und 
Lohſe hat ſich als Dirigent ein Orcheſter geſchaffen, das jede Nuance zu halten weiß. Eine 
freudige Diſziplin waltet in dieſem Reich. Von Neueren wird man ſchwerlich die Aufführung 
von d' Alberts Tiefland in Deutſchland irgendwo übertroffen finden, und auch Richard Strauß 
darf wohl mit dem zufrieden ſein, was ſich hier „ausrichten“ läßt. In der Ausbildung der Oper 
geht das Publikum ohne Schwierigkeit mit; es handelt fih da nur um kͤnſtleriſche Schwierig 
keiten im Streben nach der erhofften Höhe. Die Oper war auch immer gut beſucht und mußte 
früher das Schauſpiel „mitnehmen“. Daß auch das ſich geändert hat, zeigt, daß Marterſteig 
nicht nur ein guter Theaterdirektor, ſondern auch ein nicht zu unterſchätzender Kunſtpolitiker 
iſt. Darin hat er allerdings in ſeinem Dramaturgen Dr. Simchowitz einen vortrefflichen Helfer 
und Berater. Man muß, um die Schwierigkeit, mit der hier zu kämpfen iſt, recht würdigen zu 
können, bedenken, daß Köln eine ultramontane Stadtratsmehrheit hat, und dementiprechen- 
den Einfluß in der Theaterkommiſſion. Ohne Zugeſtändniſſe wäre da die Poſition verloren. 
Man darf es vielleicht als ein folches und dann febr feines anſprechen, daß in der letzten Spiel- 
zeit Thomas „Moral“ in Köln nicht gegeben wurde. Durch ſolche Zugeſtändniſſe ſichert ſich 
Marterſteig die Möglichkeit, in wirklich wichtigen und ernſthaften Fragen ſtandhaft zu bleiben. 
Dieſe Standhaftigkeit zeigt ſich oft genug in erfreulicher Weiſe, ſo daß ein Unbeteiligter und 
Uneingeweihter kaum etwas von den „moraliſchen“ Betrachtungen ahnt, mit denen man 
ſich hinter der Szene abzufinden hat. Sie zeigt ſich auch gegenüber den Bedürfniſſen der ober- 
flächlichen und in literariſchen Dingen ſchichtenweiſe haarſträubend ungebildeten Kölniſchen 
Geſellſchaft, deren Niveau durch den Stolz auf die Kölner Blumenſpiele, dieſe aufgebauſchte 
Nichtigkeit, dieſes künſtleriſche Scheinweſen ſchlimmſter Sorte, gekennzeichnet if. Rührſtüͤck 
und Schwank dürften wohl die Pole fein, zwiſchen denen ihre Schauſpielwünſche wandern. 
Die Tür ins Freie und ſelbſt Auernheimers blödes Gemächte „Die glücklichſte Zeit“ begeiſtern 
das Parkett zu einem Beifall, der einem „Reſidenz“ theater angemeſſen wäre. Da aber ift 
Marterſteig unerfchütterlih. Er ſpielt lieber vor leeren Bänken, als ſich mehr als vorübergehend 
zu dieſem Niveau herabzulaſſen, und erzieht ſich doch ſo allmählich eine Ausleſe des Publi- 
kums. Es iſt unverkennbar, daß das Niveau der Theaterbeſucher in den letzten Jahren geſtiegen 
iſt. Der Kölner Bürger iſt ja weniger bildungsfeindlich als gleichgültig und oberflächlich und 
vor allen Dingen durch kulturfeindliche Einflüffe oft ſehr ſchlimm und beinahe unausrottbar 
voreingenommen, ſoweit nicht in manchen Schichten des Induſtriellismus, die davon allerdings 
frei find, ein ganz öder Materialismus Platz gegriffen hat. — Und da liegt, um nicht ſchönfär⸗ 
beriſch zurückzuhalten, nach meiner Beobachtung auch die größte Gefahr, welche noch zu über- 
winden iſt, da liegen die Mängel begründet, die der Bühne erſichtlich anhaften. Grade dieſe 
zuletzt gekennzeichneten Kreiſe find es, die das Intereſſe für das Theater in einem perfön- 
lichen und durchaus nicht durch künſtleriſche Geſichtspunkte beſtimmten Kultus des Perſonals 
Debt und betätigt, — ohne daß ich dabei an moraliſch anfechtbare Zuſtände dächte! — und das 
mit der größten Naivität und geradezu ſtupender Kritikloſigkeit. So kommt es, daß beſtimmte 
Perſönlichkeiten mit geſellſchaftlichen Talenten, großer Anpaſſungsfähigkeit an die jovialen 
Gewohnheiten des „Kölſchen“ Bürgertums, ſchneidigem Auftreten und guten Proportionen 
fih die Gunſt dieſes Publikums bis zum Haß der Nichtmittuenden erwerben, und natürlich da- 
durch zu unerträglicher Geckenhaftigkeit und Veräußerlichung „verzogen“ werden. Viele Vor 
ſtellungen wurden ſo geſtört, wenigſtens für den empfindlichen Zuſchauer, wenn dieſes wenig 
ſachliche Element zur Geltung kam. Man fühlt gradezu, wie beſtändig der triviale Alltagston- 
takt des Menſchlich-Allzumenſchlichen ſtörend zwiſchen den von der Seele zur Oichtung fidh 
ſchiebt. Man ſieht das Lauern auf die Wirkung in den Blicken ins Publikum und in der jeweiligen 
Poſe und hört es aus der rein techniſch pointierten Proſtitution des Stimm- und Sprechmate- 
rials. Um es alfo kurz zu fagen, der künſtleriſche Ernſt, der die Leitung ſchon ganz durch 


Auf der Warte 419 


dringt, ift noch nicht auf die Schaufpieler durchweg übergegangen, und es hat den Anſchein, 
als ob hier aus Rüdfiht auf die Sympathien des Publikums noch nicht mit der nötigen Energie 
vorgegangen wird. Vielleicht iſt das vorläufig nötig, eben aus kluger Politik. Ich will bei den 
ſchönen Zielen und großen Erfolgen nicht kleinlich mäkeln, zumal da auch auf dieſem Gebiet 
viel geleiſtet worden iſt. So haben ſich erſichtlich entwickelt, und ſcheinen der angedeuteten Gefahr 
wenig ausgeſetzt Schaufpieler wie Becker und Senden, der fidh z. B. in einen ganz ausgezeich- 
neten Oktavio und Mephiſto hineingeſpielt hat. Und die alten Kräfte, diejenigen, welche die 
ſchauſpieleriſche Erfahrung und Tradition haben, find ausreichend vertreten (3. B. durch Odemar 
und Portz), Ich will nur feſtſtellen, daß hier unbedingt noch reformiert werden muß, und daß 
darin, ohne Frage, Theater wie das Deutfche und Leſſingtheater und das Königliche Schau- 
ſpielhaus und viele andere in Berlin und anderswo dem Kölner noch weit überlegen ſind. 
Und deshalb kann eben in Köln bei vielem Guten noch lange nicht fo gut gemi mt werden 
wie dort, wenn man das auch gern feſtſtellen möchte. Ein vielfach beſſeres Publikum ſitzt in den 
Vorſtellungen, welche Sonntags nachmittags und bei dem wachſenden Bedürfnis auch ſchon 
an manchen Wochenabenden gegeben werden. Dieſe Vorſtellungen gehören zu dem Erfreu- 
lichſten, was ich auf dem Gebiet der Kunſterziehung bisher kennen gelernt habe. Hier wird 
ohne viele Worte und ohne ein großes Programm Erkleckliches geleiſtet. Es beſtehen Verab⸗ 
redungen zwiſchen der Theaterleitung und den verſchiedenſten Arbeiter-, Induſtrie- und Ge- 
werbeverbänden, nach welchen dieſen das ganze Haus mit Vorſtellungen des Jahresrepertoires 
nach eigener Wahl gegen eine Pauſchalſumme zur Verfügung geſtellt wird. Dieſe Verbände 
verloſen alle Plätze zu einem äußerft geringen (wenn ich recht orientiert bin, für 30 J) Einheits 
preis unter ihren Mitgliedern. Die Nachfrage iſt außerordentlich und die ſegensreiche Wirkung 
ganz unverkennbar; wie gejagt, es miiffen ſchon Wochenabende herangezogen werden, weil 
die Sonntage alle beſetzt ſind. Daß natürlich bei dieſer Bühne ein — jetzt zwei — Zyklen 
Klaſſikerdramen für beſondere Bildungszwecke nicht fehlen, verſteht ſich von ſelbſt. 

Auch für die Entwicklung unſerer Literat ur hat das Kölniſche Theater in den 
letzten Jahren Entſcheidendes geleiſtet. Nachdem es 1906/07 Wilhelm von Scholz’ Drama 
„Der Zude von Konſtanz“ ſiegreich auf die Bühne gebracht hatte, verſuchte es vorigen Winter 
mit wenig Glück aber entſchiedenem Verdienſt Herbert Eulenbergs intereſſantes, aber allzu 
unfertiges und „genialiſches“ Drama „Fürſt Ulrich von Waldeck“ durchzuſetzen, und das Deutſche 
Theater hat ihm dieſen Verſuch erft nachgemacht, ohne jedoch mehr zu erreichen, als eben mög- 
lich war. Einen vollen Erfolg aber brachte Marterſteig ſein unentwegtes Einſetzen fuͤr Ernſt 
Hardt. Schon 1905/06 wurde deſſen Einakter „Ninon von Lenclos“ nicht weniger als achtmal 
gegeben, und „Tantris der Narr“ wurde mit großem Beifall und entſchiedenem Erfolg im vorigen 
Winter zur Aufführung gebracht, in einer Zeit, wo ſich faſt ſämtliche Theater Berlins und 

Münchens durchweg ablehnend verhielten und keiner die nächſte Zukunft dieſes Stückes ahnte. 
Hier darf Marterſteig ſich ohne Zweifel einen großen Teil des Erfolges zuſchreiben. Daß 
fih daran ähnliche Erfolge reihen werden, ift kein Zweifel, da manche Umſtände diefe Entwick- 
lung begünftigen. . 

Nun hat gwar Marterfteig in dieſer fo überaus ſchwachen Saiſon keine bedeutende Novi- 
tät herausgebracht, dafür aber einige vortreffliche Neueinſtudierungen; daß dabei dem Natura- 
lismus eine fpäte Huldigung zuteil wurde, dürfte wohl nur Zufall fein, und vielleicht mit einer 
gewiſſen Ausbildungstendenz für das Perſonal zuſammenhängen. Der „Meiſter Olze“ in 
der Neubearbeitung, welche Schlaf dieſem Jugendſtück des Naturalismus angedeihen ließ, 
flel dem Publikum gegenüber ſo ab, daß es nur zweimal gegeben werden konnte. Damit iſt das 
Schickſal dieſes Stils, zunächſt für die Praxis, endgültig beſiegelt. Dagegen gelang Marter- 
ſteig ein vorher mit Befremden und nachher mit aufrichtiger Bewunderung aufgenommenes 
Experiment vollkommen. Gegenüber einer allgemeinen Ankündigung eines gründlichen Herein- 
falls Hauptmanns „Florian Geyer“ neu auf die Bühne zu ſetzen und monatelang auf dem 


420 Auf der Warte 


Repertoire zu halten!! Wie ift es möglich geworden? Denn man kann doch Marterfteig die 
Erkenntnis zutrauen, daß dieſes zerfließende und nicht vorwärts kommende Stück an ſich nicht 
bühnenfähig ift, d. h. nicht bühnenfähig im gewöhnlichen Sinn des Worts, wenn man an Auf- 
bau und Einzelkonſtruktion der Handlung denkt. Die Löſung kann natürlich nur durch die Regie 
kommen. Marterſteig wirkte mit einer künſtleriſchen Sicherheit, die er auch wie ſchon fo oft 
z. B. bei der wunderbar vereinfachten Inſzenierung des Gyges bewies, in denkbar weiteſtem 
Umfang auf den Geſichtsſinn. Er holte alle bildhaften Wirkungen heraus und unterſtrich die 
ſtimmungsſtarken Stellen ſowohl in der Inſzenierung wie in der Inſtruktion der Schaufpieler. 
Und da hatte er das Glück, daß Becker mit feinſtem Verſtändnis für feine Intentionen mit- 
ging und einen Geyer von großzügiger Einfalt und Wucht hinſtellte. Trotzdem wirkten die 
mittleren Akte wohl ohne Ausnahme bei allen Vorſtellungen ermüdend. Den Sieg brachte der 
letzte Akt, deſſen Wirkung ſich in Köln niemand entziehen konnte. Alles ſpitzte ſich auf die Szene 
zu, da Geyer, der zu Tod gehetzte Mann, von dem alles Zufällige abgefallen iſt, der nur als 
der neue Menſch gegen eine alte, übermächtige Welt allein daſteht, umwittert von einer unficht- 
baren Schönheit des reinen Wollens gegenüber dem äußerlichen Prunk der ritterlichen Herren, 
der Spürhunde der Welt, — da dieſer Geyer fo allein heraustritt aus feinem Verſteck vor die 
lauernden Feinde, die ſeine Tür in weitem Kreis umſtehen mit vorgeſtreckten Waffen. Bei 
jeder Bewegung des einen zucken fie zurück, vor jedem feiner Worte fallen ihre frechen Augen 
zu Boden, bis ein Pfeil aus dem unbewachten Hintergrund ihn trifft, und ſie über den wie ein 
Baum vornüber Stürzenden herfallen, um noch einmal entſetzt zurückzufahren, vor dem drohen 
den Geſicht des umgewendeten Toten. Dieſe Szene war ſo packend, daß mancher Zuſchauer 
ſich atemlos im Parkett in die Höhe hob, keine Bewegung ſich entgehen zu laſſen. Die halbe 
Ermüdung von vorher ift vergeſſen und nach tiefer Erſchütterung bricht der Jubel los. Dieſe 
eine kurze Szene in Marterſteigs Regie war es, was den Florian Geyer wieder lebendig machte, 
nichts anderes; und deshalb glaube ich nicht, daß dem Kölner Erfolg ein anderer anderswo 
nachfolgen würde, wenn man ſich dadurch beſtimmen ließe. Die Erfahrungen der Erftauf- 
führungen beim Erſcheinen der Dichtung find durch Köln trotz des Erfolges nicht Lügen geſtraft 
worden. Zeder aber wird froh fein, ihn hier geſehen zu haben oder noch zu ſehen. Aus den 
ſtarken Erfolgen, die zum Teil ähnlichen Abſichten ihre Wirkung verdanken, hebe ich die 
Aufführungen „Hanneles“ und des „Wallenſtein“ hervor. 

Die Spekulation des Regiſſeurs auf den Geſichtsſinn, welche ihre Anregung aus den 
bildenden Künſten hernimmt, iſt ja an ſich heute durchaus nichts Neues und wird wohl in ihrem 
unbegrenzten Kern dauernd bleiben. (Auch Reinhardts Erfolge beruhen ja zum großen Teil 
darauf.) Bei Marterſteig aber iſt das, was vielfach heute Mode geworden iſt, ein Ausfluß 
ſeiner beſonderen Begabung, die ſich hier glänzend ausgeben kann. Deshalb haben ſeine Bilder 
auch höchſt felten etwas äußerlich Dekoratives, fie find elementar belebt, fie gehen aus dem 
ſicheren Gefühl für das der Dichtung, der fie zum Rahmen werden follen, Homogene hervor. 
Es ift nicht ein Nebeneinander von Anſchauung und Geſchehen, was er bietet, ſondern ein Zn- 
und Durcheinander. Er ſchafft dabei mit großer Anbefangenheit, nimmt das Gute auch ohne 
Bedenken aus der Überlieferung oder von den neueſten Anregungen her, die Einheit des Ganzen 
iſt ihm offenbar gegeben ſchon in der erſten Intuition, die gleich ſo lebendig vor ihm ſteht, daß 
er nur ihr gerecht zu werden ſtreben muß, ohne weſentlich nach Ergänzungen und Erweiterungen 
feiner Darſtellungswelt ſuchen zu müſſen. Aus dieſem Können, und dem Bewußtſein dieſes 
Könnens entſpringt auch feine Fauſtinſzenierung, welche den größten künſtleriſchen Theater- 
erfolg dieſes Winters für das Rheinland gebracht hat. 


F 


Auf ber Warte 421 


Verärgerte Kritik 


IE Di * einer freundſchaftlichen Auseinanderſetzung mit Frank Wedekind ſchreibt ſich ein 
Dis Mitarbeiter der „Standarte“ allerlei Oruck vom Herzen. „Wiſſen Sie es denn, 
2 wos das für ein Beruf ift, der Kritikerberuf?“ fragt er. „Wie öde, nutzlos und ver- 
bummelt ſich ſo allmählich ein Menſch vorkommen muß, der ein halbes Jahr hindurch täglich 
um Mitternacht ſchreiben muß: „Es war ſchon wieder nichts“, ‚es war Iden wieder nichts’. 
Stellen Sie ſich ein mediziniſches Genie vom Kaliber Virchows vor, das ſeine Kraft mit dem 
Ziehen von hohlen Backzähnen aufreiben müßte, und Sie haben ſo ungefähr die Qualen und 
die Scham, die kultivierte Kritiker durchmachen müſſen. Sie ſind keine Genies, gewiß nicht. 
Aber ſie haben mit Genies Umgang gehabt, haben an Genies gelernt und ihre Maße erprobt. Sie 
kommen alleſamt aus den literarteutoniſchen Hörſälen her, wo ſie nur das edelſte Gedankenwerk 
toter Jahrhunderte kennen gelernt haben. Und follen ſich nun mit der Dutzendware abgeben, 
die leider unſere Bühnen beherrſcht, die Fäden alberner franzöſiſcher Späße entwirren, der 
Pointe eines ekelhaften Ehebruchdramas nachſinnen. Da iſt es denn kein Wunder, daß ſie 
wütend werden und ächzen, ſich in die Verbitterung hineinreden und in dieſer Verbitterung 
auch das Werk des Genies abtun, weil es fo ein Aufwaſchen iſt. Haben Sie Umgang mit 
Theaterkritikern, verehrter Herr? Dann werden Sie wiſſen, daß die Kritiker jeden Premieren- 
abend fiir einen verlorenen Abend halten; daß fie jauchzen, wenn einmal eine Premiere ab- 
geſetzt wird. Kein Kritiker liebt feinen Beruf. Und es iſt ja auch ein Beruf, der ſchwer zu 
lieben iſt. 

Schwierig wird das Problem, wenn wir uns fragen, warum die kritiſche Verärgerung 
nur bei uns in Deutſchland vorkommt. Die Kritik in Frankreich, England, Italien ift mild und 
freundlich und läßt ihre Sonne leuchten über Gerechte und Ungerechte. Sie verlangt nicht 
von dem Pflaumenbaum, daß er Bananen trage, im Gegenteil, fie freut ſich, wenn die Pflau- 
men recht tüchtig pflaumenmäßig geraten. Und nirgendwo in der literariſchen Welt gibt es die 
ſchlechten Manieren, deren ſich ganz im Beſonderen die Berliner Kritik befleißigt. Als der eng- 
liſche Schauſpieler Beerbohm-Tree mit feiner Truppe im Neuen Königlichen Operntheater 
gaftierte, da ſchrieb der Kritiker Hart im Tag“, man folle dieſen Künſtler rechts und links opr- 
feigen und ihm Fauſthiebe in den Magen geben. Haben Sie etwas ähnliches in franzöſiſchen 
Blättern geleſen, als jetzt eine deutſche Truppe in Paris gaſtierte? Schwerlich. Dieſe Art der 
Verärgerung ift etwas rein Oeutſches. Aber warum fie nur in Deutſchland vorkommt, darüber 
denkt jeder bei ſich im Kämmerlein nach. Ich perſönlich meine, es kommt von dem übertriebenen 
literarteutoniſchen Studium her. In den germaniſtiſchen Seminaren verliert der junge Mann 
das Augenmaß und kann dann der Forderung des gegenwärtigen Tages nicht mehr gerecht 
werden. Unſere Kritik ift zu ſtubengelehrt, nicht theaterpraktiſch erfahren; daran liegt alles. 


Zi 
Das deutſche Dorf 


Gin eigenartiges Freilicht-Muſeum ift in der Nähe Berlins geplant. Man will die 
be: typiſchen Bauernhäuſer der deutſchen Gaue zu einem deutſchen Dorfe gufammen- 
NZ ftellen, deffen Mittelpunkt wiederum — anſchließend an den Dorfteich — ein „Mär⸗ 
"reen Dorf“ bilden foll, an deſſen Peripherie dann unter geſchickter Benutzung des Geländes 
die übrigen Bauernhäuſer ſtehen werden: ein Poſener Hauländer-Gehöft, ein oſtdeutſches 
Bauernhaus (Pommern), ein ſchleſiſches, ein Spreewaldhaus, ein niederdeutſches, fränkiſches 
Bauernhaus, ein ſchmuckes Gebäude aus dem Rheinlande mit hohem Schieferdach, ein Schwarz; 
waldhaus, eine oberbayerifhe Behauſung und ein Tirolerhaus. In die Zeit der alten Deut- 


422 Auf ber Warte 


ſchen führt uns eine urgermaniſche Siedelung. Die nächſte Umgebung ber Häufer wird natürlich 
auch landſchaftlich getreu geſtaltet und charakteriſtiſch belebt werden. Bei der altgermaniſchen 
Siedelung ſind beiſpielsweiſe noch eine Grubenwohnung — nach den ſogenannten Hausurnen 
rekonſtruiert —, ein Wodanshügel mit Opferſtein, ſowie markante Hünengräber vorgeſehen; 
beim niederſächſiſchen Bauernhaus wird ſich ſeitlich ein Blick auf die braune Heide bieten, auf 
der ſich eine Imkerei, ein Schäferkarren, einige weidende Heidſchnucken und ein ſtrickender Schä- 
fer befinden werden; ein Rebgarten hinter dem Rheinlandhaus wird die maleriſche Wirkung 
dieſes Bildes erhöhen. Das Innere der Häuſer wird die jeweiligen typiſchen Einrichtungen 
enthalten und teilweiſe Sammlungen alter Bauernkunſt und Bauernkultur bergen, teils eine 
praktiſche Verwendung durch Vorführung dörflicher Handwerke finden. Das märkiſche Dorf 
foll außer einer Kirche und anderen Häuſern auch noch eine Dorfbäckerei mit dem charakteriſti⸗ 
ſchen Backofen im Freien, eine Schmiede, das Schulhaus, eine Windmühle, einen Teerofen 
und einen Dorfkrug uſw. aufweiſen. Den Übergang von den Bauten Niederdeutſchlands zu 
denen Mitteldeutſchlands vermittelt ein Fichtenbeſtand, in welchem eine Oberharzer Röte 
(Behauſung der Köhler und Waldarbeiter), einige Meiler und eine Windmühle Platz finden 
werden, und zu den oberbayeriſchen und Tiroler Anſiedlungen führt der Weg auf ſteigendem 
Terrain durch Felſen an Marterln und einer Alm mit Sennhütten und kleinem Viehbeſtand 
vorüber. — Als Auffeher und Bewohner der Bauernhäuſer hat man ſich — nach ſchwediſchem 
Mufter — Militärinvaliden gedacht. 

Das wären die Grundzüge des deutſchen Dorfes, das in uns das Verſtändnis lebendig 
machen will, wie die alte Bauernarchitektur und »kunſt ſchon immer den Forderungen der neu- 
zeitlichen Kunſt nachgekommen ift, daß fie ftil- und materialgerecht, innerlich wahr in Technik, 
Konſtruktion und Zierwerk, zweckdienlich und, was die Hauptſache iſt, daß ſie ſtets bodenſtändige 
Kunſt geweſen iſt, dauernd den Zuſammenhang zwiſchen Landſchaftscharakter und Hausſtil 
bewahrt hat. 

Das Muſeum foll uns — namentlich aber den Bauern — die Augen öffnen, wie turm- 
hoch das alte Bauernhaus über der hohlen Phraſe des modernen Backſteinkaſtens ſteht; und auch 
die Städter will es einen Hauch des alten Volkstums fühlen laſſen, das leider in dem 
Internationalismus unſerer verflachenden Zeit unterzugehen droht, einen Blick in die rein 
deutſche Volksſeele gewähren, die in unverfälſchter Prägung uns heute wohl nur noch auf ent- 
legenen Dörfern und Gehöften entgegenblüht. So wird das deutſche Dorf ein nährendes 
Quellwaſſer für jeden fein, der es beſuchen wird, für den Kuͤnſtler und Kulturhiſtoriker, für den 
Städter und Dörfler. Die Leitung des Unternehmens liegt in den Händen des Konſuls Heinz 
Bothmer in Großlichterfelde, der Beiträge und Stiftungen entgegennimmt. Durch das deutſche 
Dorf geht ein Poetentraum des Malers O. Schwindrazheim in Erfüllung, der das Zreilicht- 
muſeum Iden in feinem „Jeutſchhauſen, ein Märchen“ geſchaut und beſchrieben hat. 

Er ſagt über das Dorf: 

Da ſtehen friedlich nebeneinander ſächſiſche, bayriſche, frieſiſche, ſchwäbiſche, Schwarz 
wälder, niederdeutſche Bauernhäuſer und andere dazu! Jedes in feiner ihm eigentümlichen 
näheren Umgebung; dies an einen Hügel gebaut, dies freiſtehend, allein oder einer Gruppe an- 
gehörig — dazu hier ein Tiroler, ein Heidezaun, ein Harzzaun, da ein Altländer Tor! Das 
frieſiſche Haus da unten entbehrt zwar des Seedeichs und des „blanken Hans“, des Meeres, 
aber ein kleiner, halb ausgetrockneter Teich erinnert doch ſchwach an ein Stück Priel im Watt. 

Deutſch find fie alle zuſammen von oben bis unten! Reins, wo wir inſtinktiv fühlen: 
Das ift nicht Get von unſerm Geiſt! — Beim Spreewälder und Litauer, fo nett fie find, füh- 
len wir's ganz richtig ſchon, daß wir da fremde Elemente vor uns haben. — Heimlich, anmutend, 
einladend kommen uns die rein deutſchen alle vor, — wir finden fie nicht bloß merkwürdig fin, 
ſie packen uns auch im Innerſten, ſie nehmen uns gefangen mit demſelben Zauber, mit dem uns 
in fremdem Lande ein deutſches Lied gefangennimmt: unſere Bauernhäuser find geradezu 


Auf der Warte 423 


klaſſiſche Muſterleiſtungen echt volkstümlich-deutſcher, ja echteſter, volkstümlichſter, deutſcheſter 
Kunſt, unübertroffen in der Vollendung, mit der die betreffenden Stämme dieſem ihrem Runft- 
werk ihren ureigenſten Stempel aufgedrückt haben. Sie find eindringliche Predigten über den 
unerſetzlichen Wert innerlichſter und innigſter, von Heimatluft durchwehter, im Heimatboden 
feſtwurzelnder Eigenart der Dreiheit der Einzelperſon, des Einzelvölkchens und des Gefamt- 
volles! W. Lennemann 


* 


Geburts⸗ und Todestage 


ünfundzwanzig, fünfzig, ſechzig, ſiebzig uſw. uſw.! Wird es nicht allgemach zuviel 

dieſer Geburts- und Todestagsfeiern im deutſchen Blätterwald? Mir ſcheint, 

die an ſich ſchöne, pietätvolle Sache, unſre Tüchtigen und Großen zu ehren, artet 
aus wie fo manche Wirkung eines guten Gedankens. Warum m u jedes Blatt und Blättlein 
zu ſämtlichen Ehren und Fefttagen feinen betreffenden Artikel liefern, ſehr zum Schaden aller 
und alles Neuen, Werdenden, dringend ans Licht des Tages Verlangenden? Gewiß haben unfre 
Bejahrten und Toten ein Recht an unfre dauernde Aufmerkſamkeit, aber wir dürfen der Jugend 
und dem heutigen Leben dadurch nicht den ihnen gebührenden Raum ſchmälern. Dazu iſt es 
gekommen. Nicht daß ich unſern Dichtern und Schriftſtellern die Freude kürzen möchte, an 
hohen Zubeltagen uns von den Jubilaren zu fingen und zu fagen, wenn es ihnen juft danach 
ums Herz ift?! Wenn das Herz nur dabei ift?! Aber das ift es eben im Durchſchnitt nicht; und 
dem Leſer, der heute mehrere Zeitungen und einige Zeitſchriften dazu hält, wird es langweilig 
und lächerlich, bei jedem, oft geringfügigſten Anlaß in jedem einzelnen feiner Blätter der pflicht; 
ſchuldigen Abſolvierung einiger Gedenkſpalten zu begegnen. Dem in beſcheideneren Verhält- 
niſſen ſeinen Bedarf an Tagesweltwiſſen Befriedigenden aber liegt keinenfalls etwas daran, 
an allen möglichen Ausgrabungen und Huldigungsgelegenheiten prompt und gründlich teil- 
nehmen zu müſſen; er will Tatſachen des heute ſich abſpielenden Lebens erfahr en. Wozu alſo 
der ganze Aufwand nutzloſer Kunſtrederei, Wiederholung von hundertmal Geſagtem, qual- 
vollſter Anſtrengung, der alten Materie einigermaßen neue Seiten abzugewinnen? Unglaub- 
liche Schriftblüten kommen dabei heraus! Zch erinnere an die fünfundzwanzigſte Wiederkehr 
von Richard Wagners Todestag im vorigen Jahr. Da war Tür und Tor geöffnet für das Aus- 
kramen aller denkbaren Seichtheiten, aller undenkbaren Bizarrerien. In einem einzigen Feft- 
aufſatz las ich von dem „faszinierenden Nervenreiz“, der „in glühendſten Farben ſchwelgenden 
Poeſie der Qual“, der „unaufhörlichen Leidensbrunſt“, der „Oämonie“, „Magie“, dem „Orien- 
taliſchen, Krampfhaften, — Hyſteriſchen“, das in Wagners Veſen und Werk gelegen haben 
foll. Ob unfer großer Meiſter nicht herzlich gern auf diefe „Feier“ des brunſtliebenden Dämonen- 
ſpürers verzichtet haben würde? Man hätte einfach lachen können über derlei krauſes Rede- 
geſtrüpp, wenn's nicht doch einen ernſten Hintergrund dafür gäbe. Es exiſtiert nämlich eine 
bedenklich große Anzahl ſolcher Geiſterbeſchwörer, die die Welt mit nicht genug Krankheits- 
geſichten beglücken können, folder Schatzgräber, die nicht nach Glücks und Kraftquellen unfres 
Volkes, ſondern nach Anormalitäten und Elends möglichkeiten graben. 

Immerhin ſind alle die erwähnten unerquicklichen Erſcheinungen nicht die eigentliche 
Gefahr unferer heutigen Gedentmanie. Stets und überall wird Minderwertiges das Borzüg- 
liche mehr oder weniger üppig umwuchern. Die Verderbnis liegt im Schema. Daß zu einem 
beſtimmten Zeitpunkt eine Unzahl Reden über juſt die eine beſtimmte Perſönlichkeit da ſein 
und gedruckt werden m u ß, das macht die Sache zur Spekulation, zum Geſchäft! Unſre vor- 
nehmen Blätter ſollten deshalb dem entarteten Brauch entgegentreten. Wenn wir unſre Hel- 
den feiern wollen, fo brauchen wir das nicht auf Rommando zu tun: Aufgepaßt! morgen — oder 
auch am zwanzigſten — hat die Welt „Hurra! hurra! hurra!“ zu ſchreien! Laßt uns dem Manne 


424 Auf ber Warte 


oder der Frau, die wir ehren möchten, zur Roſenzeit die Roſen und zur Winterzeit den grünen 
Kranz bringen, nämlich dann ein Gedenkwort ſagen, und nur dann, wenn ein Berufener ſich 
zu reden gedrungen fühlt! Das allein ift eine rechte und würdige Wertung unfrer großen Geiſter. 
Toni Harten-Hoende 
Damit, daß wir dieſen Ausführungen unſerer temperamentvollen Mitarbeiterin gerade 
im vorliegenden Hefte, das mehrere Gedenkartikel bringt, Aufnahme gewähren, zeigen wir, 
daß wir einerſeits ihren Darlegungen zuſtimmen, andererſeits doch in derartigen Radbliden 
Werte ſehen, auf die wir nicht verzichten mögen. Tadelnswert iſt ja jedenfalls das Zuviel. 
Sonſt aber find derartige Rückblicke beſonders dazu angetan, vergangene Leiſtungen und Per- 
ſönlichkeiten auf ihre Gegenwartswerte zu unterſuchen. Dann aber, und das ſcheint mir befon- 
ders wichtig und wird vom Zuſtand unſerer Gegenwartskritik beſtätigt, liegt hier ein Hilfsmittel 
gegen die Überfchägung unſeres zeitgenöſſiſchen Tuns. Wir neigen ſehr zu dieſer Aberſchätzung, 
vor allem auf den künſtleriſchen Gebieten. Da tut es denn beſonders gut, immer wieder durch 
Vergleiche mit der Vergangenheit Maßſtäbe zu gewinnen, die nicht für den Tag geſchnitten 
ſind, ſondern über weitgeſpannte Zeiträume ausreichen müſſen. Gewiß wäre es unrecht, 
Vergangenes künſtlich beleben zu wollen. Aber ebenſo unrecht ift es, wertvollen Altersbeſitz 
leichthin preiszugeben, und verhängnisvoll kann es fein, Neues an feine Stelle zu ſetzen, nur 
weil es neu iſt. g S 


Sie wühlen mit den Händen im Schmutz und bleiben reinen Herzens 


a E ieſe neue Literaturſpezialität ſcheint ſich herausbilden zu wollen. Frauen verfaffen 

4 7 A Bücher über Dirnen und Bordelle, laffen fidh ob ihres „Mutes“ bewundern, fchwel- 
Een in unwahrhaftiger Sentimentalität, ſtellen die tatſächlichen Verhältniſſe auf 
den Kopf — und waſchen am Ende ihre Hände in Unſchuld. So kam das „Tagebuch einer Ber- 
lorenen“ mit feinen vielen Nachläufern. Vor wenigen Wochen ift in S. Fiſchers Verlag zu Ber- 
lin ein faſt 700 Seiten ſtarker Band „Der heilige Skarabäus“ von Elfe Zeruſalem er- 
ſchienen, der von Anfang bis zu Ende im Bordell ſpielt und wie eine Enzyklopädie des Dirnen 
tums wirkt. Aber die künſtleriſche Seite wird noch an anderer Stelle zu reden fein. Hier inter- 
effiert ein anderes. Die Technik des Romans ift die naturaliſtiſche, das an Zola geſchulte An- 
einanderreihen zahlloſer Einzelfälle im Dienſte einer Idee. Soll diefe Technik überhaupt Werte 
haben, fo muß fie auf wirklichen Beobachtungen fußen. In der Tat wurde Frau Elſe Ferufalem 
von manchen Kritikern ehrfürchtig beſtaunt, wie ſie den Mut gefunden, ſich ſo mit dieſem Milieu 
bekanntzumachen. Aber, nicht wahr? — man ſchreibt ja zu gern liederliche Dinge, aber felber 
fein — um Gottes willen nicht! Und fo fühlte auch Frau Elfe Jeruſalem den Drang „aufzu- 
klären“. Im „Weltſpiegel“ veröffentlicht ſie folgenden Brief: 

„Sehr geſchätzte Redaktion! Ich komme mit Freude Ihrer Aufforderung nach. Hier 
das Wenige, das ich Ober mich zu ſagen habe. Ich bin am 23. November 1877 zu Wien geboren. 
Meine Eltern entſtammen der guten Bourgeoiſie. Unter ſechs Geſchwiſtern das drittjüngſte 
Mädchen, lebte ich ein einſames, nicht eben freundliches Kinderleben. Früh hatte ich mir meine 
eigene Welt geſchaffen, die ich mit all meinen Kräften nährte, und die ich mir, unabhängig von 
den engen und nüchternen Verhältniſſen meines Außenlebens, zu erhalten ſtrebte. Selbſtzucht, 
Wille zur Tat, Arbeitsdrang und die Luſt zu wiſſen, Traum und Wahrheit zu Bildern verdichten 
— Ehrgeiz, Ekſtaſen, hier find die Erlebniſſe meiner Jugend kriſtalliſiert. Jd erlebte tauſend 
Dinge, erlebte alles, was ich ſah, hörte, was ich mir vorſtellte und was in mein Gedankenleben 
fiel. Der Heldin meines Romans ‚Der heilige Starabäus‘ — Miladas Kinderleben — ins Bür- 
gerliche transponiert: es ift das meine! Sechzehnjährig beſuchte ich die Wiener Univerſität. 
Hier ging meinem Leben die Sonne auf, fie erhellte und wärmte. Die Vorleſungen, die Bücher, 


Auf ber Warte 425 


wahllos genommen und gehört, fie waren meine Erlebniffe. Sieben Fahre hindurch. Mit 
achtzehn Jahren ſchrieb ich mein erſtes Buch: „Venus am Kreuz‘, Der Roman einer Dirne. 
Ohne jemals mit Frauen dieſer Sphäre in Berührung gekom- 
men zu ſein, ohne die Einrichtung ihres Lebens anders als aus 
Büchern oder Zeitungsnotizen zu erfahren, faßte ich frühzeitig eine 
ſeltſame und unerklärliche Sympathie zu dieſen bürgerlich Enterbten mit folh intenſiver Kraft, 
daß ihre Daſeinsbedingungen, ihr Elend und ihr ganzer trauriger Weg wie eine Offenbarung 
in mein Oaſein traten. Dies hier nur geſagt, weil zwölf Jahre ſpäter der große Roman folgen 
ſollte, der mir den Erfolg brachte. Mit vierundzwanzig Jahren heiratete ich. Sch lebe in Wien, 
habe zwei reizende Kinder, gar keine geſellſchaftlichen Beziehungen, gar keine Erlebniſſe. Kleine 
Tagesmiſeren und große Pläne, große Ideen und häusliche Sorgen, das wechſelt fo huͤbſch mit- 
einander ab. Mein neuer Roman, an dem ich vier Jahre arbeitete: ‚Der heilige Skarabäus“ 
(vordem noch ein Novellenband „Komödie der Sinne“ und eine Brofchüre „Gebt uns die Wahr- 
heit‘) findet in Deutfchland und Ofterreich ein lautes, allzulautes Echo. Über viele warme, ver- 
ſtändnisvolle Stimmen freue ich mich. — Hier haben Sie alles, was über mich zu ſagen iſt. 
Erlebt habe ich nichts. Zch habe die Welt nie geſehen. Es kommen viele fremde, 
laute Dinge zu mir. Und bin ich nur ſelbſt recht ſtill, dann reden dieſe fremden Dinge am laute- 
ſten und klarſten und erzählen mir meine Bücher. Mehr weiß ich nicht. Vielleicht machen Sie 
aus dieſen Strichen ſich das Bild zurecht, das Sie brauchen können.“ 

Nun mögen die Lobredner erft recht diefe Frau bewundern, der Ekſtaſen und Phanta- 
fien eine fo erſtaunliche Oetailkenntnis des Bordellbetriebs verſchafften. 

Aber auch an der „Echtheit“ ſoll es nicht fehlen. Kurt Wigands Modernes Verlagsbureau 
kündigt im „Börjenblatt für den Deutſchen Buchhandel“ folgendes Werk an: 

„Wer wirft den erſten Stein...“ von Gerda Wilhelm. Znhalt: 
1. Vorwort; 2. Einblicke in das Leben der Bordellmädchen; 5. Aus dem Leben der Verfaſſe⸗ 
rin; 4. Wie Frau Thea Berger Bordellwirtin wurde. Von ihr ſelbſt erzählt; 5. Die Empfangs- 
räume; 6. Zwei Todesfälle; 7. Das Kommen und Gehen der Mädchen, und wie fie enden; 
8. Verſchiedene Lebensbeichten; 9. Die Proſtitution und der wahrhaft freie Menſch. 

In der Anpreiſung heißt es: „Wie ſo unendlich oft im menſchlichen Leben wird auch bei 
der Beurteilung des ernſten Problems der Proſtitution und ihrer Kaſernierung Primäres und 
Sekundäres verwechſelt und durcheinandergeworfen. Wenn alte Damen, vielfach unbewußt, 
unter dem eiſernen Gewicht chriſtlich-traditionellen Empfindens nach wie vor erklären, die 
Proſtitution müſſe durch Gebet und Polizei „unterdrückt“ werden, fo kann uns das höchſtens 
ein Lächeln abnötigen, da wir wiſſen, daß nicht die Proſtitution das verurſacht, was als ‚Un- 
ſittlichkeit bezeichnet wird (auch von denen, die dieſe Einrichtung niemals entbehren können 
und wollen), ſondern die Organiſation des Mannes und, ſoweit es ſich um Fälle abnorm ge- 
ſteigerter Sinnlichkeit handelt, auch die des Weibes. Das geſchlechtliche Bedürfnis ift das Pri- 
mare. Es zieht die Erſcheinung der öffentlichen Mädchen nach fic, ohne die die meiften Män- 
ner nun mal nicht auskommen, wenn ſie auch oft genug ſo erbärmlich ſind, den erſten Stein 
auf dieſelben Weſen zu werfen, die fie haben korrumpieren helfen. — Von ſolchen Gefichts- 
punkten geht obiges Buch aus, das von einer ehemaligen Leiterin eines 
Bordells verfaßt ift. Die Autorin ijt nicht etwa auch vom Bau“, ſondern ihr an man- 
nigfachen Bitterniſſen reicher Lebenskampf hatte fie vorübergehend an dieſen Poſten verſchla⸗ 
gen, und da fie nicht nur reinen Herzens war und geblieben ift, 
ſondern auch über die angenehme Gabe ſcharfen Beobachtens verfügt, fo hat fie ein Buch ge- 
ſchaffen, das — man kann das ohne Übertreibung feſtſtellen — ſeinesgleichen kaum hat.“ 

Ach ja, ſie ſind reinen Herzens und bleiben es. Darum wühlen ſie mit ihren Händen 
im tiefſten Schmutze herum und überſchwemmen das Land mit einer Flut von Schlamm. 
Aber fie ſelber bleiben reinen Herzens, wer möchte daran zu zweifeln wagen?! 


ZS 


426 Auf der Warte 


Mundus vult decipi 


AGrgo decipiatur! — fagen die Sportsunternehmer, die jetzt allmählich die wildeſten 
J Leidenfchaften des Publikums zu erregen verſtehen. Der „Berliner Lokalanzeiger“ 
leuchtet hier einmal hinter die Kuliſſen. Anlaß dazu gibt das immer häufigere Auf- 
treten eines „Homme masqué“, wobei das romantiſche Geheimnis des „Mannes mit der eiſer⸗ 
nen Maske“ aus der Baſtille zur Erhöhung der Spannung des Publikums verwertet wird. 
„Neuerdings ift dieſer Reklametrick wiederholt bei Ringkampfkonkurrenzen in Szene geſetzt 
worden. ‚Ein Mitglied der vornehmen Geſellſchaft“ — fo hieß es dann in den Zeitungen — 
‚wünfcht an den Kämpfen teilzunehmen, wird aber, um, mit Rüdficht auf feine diſtinguierte 
Familie, unerkannt zu bleiben, eine Maske tragen“. Fd) brauche nicht erft betonen, daß es fidh 
in all Gielen Fällen um einen Berufsringer handelte, der, gut honoriert, als Maskenringer auf- 
trat und zur rechten Zeit wieder von der Bildfläche verſchwand. Die geſchäftskundigen Variété- 
oder Zirkusdirektoren hatten ihre Senſation, und das brave Publikum ſtaunte über den ſtarken 
Ariſtokraten, der die beiten Berufsringer auf den Rüden legte und „vielleicht gar ein Graf 
oder noch etwas Höheres“ war. 

Erſt kürzlich hat man in Wien bei einer dortigen Ringkampfkonkurrenz die Komödie 
von dem Mann mit der Maske aufgeführt, aber die Preſſe hat ſich ziemlich ablehnend verhalten. 
Sekt follen wir in Berlin damit beglückt werden. Das Palaſt-Theater gibt wenigſtens bekannt, 
daß fih ein Amateur gemeldet habe, der die Teilnehmer an der augenblicklich dort ftattfinden- 
den Konkurrenz herausfordere, aber die Bedingung ſtelle, mit einer Geſichtsmaske ringen zu 
dürfen. Die Konkurrenten und die Direktion haben ihm dies zugeſtanden, heißt es weiter. 

Man ſagt den Berlinern nach, daß fie „helle“ feien, eine Eigenſchaft, die fie bekanntlich 
mit den Sachſen teilen. Nun, ich glaube, daß man den Mann mit der Maske nicht recht ernſt 
nehmen wird. Aber wir, die Preſſe, müſſen ihn ernſt nehmen, und zwar als Symptom fiir die 
bedenkliche Begriffsverwirrung über das, was heutzutage im Sport erlaubt und nicht erlaubt, 
was ehrlich und nicht ehrlich iſt, kurz über das, was der Engländer ‚fair play‘ nennt. 

Drüben in England, das wir uns, was regelrechten Sportbetrieb anbetrifft, ruhig zum 
Vorbilde nehmen können, würde das Publikum ſich derartige Mätzchen nicht gefallen laſſen; 
dort will es ehrliche Kämpfe ſehen, und das Scheinringen, das heute bei faſt allen Ronturren- 
zen an der Tagesordnung iſt, iſt dort einfach unmöglich. Erſt vor kurzem hat das Publikum bei 
einem Fußballmatch in Glasgow, als die Spieler nicht ganz ſportgerecht verfahren wollten, 
feinem Unmut durch Demolieren des Platzes Ausdruck verliehen. Ich möchte derartigen tumul- 
tuöſen Meinungsäußerungen nun keineswegs das Wort reden, aber ich wünſchte unſerem 
Sportpublikum gelegentlich etwas mehr Temperament, dann würde es beſſer um den deutſchen 
Sport ſtehen. 

Wie ſchlecht es um ihn beſtellt iſt, hat der noch immer nicht beendete Streit zwiſchen 
Radrennfahrern und Rennveranftaltern gezeigt. Der untrüglide Beweis ift erbracht worden, 
daß viele, vielleicht die meiſten Rennen nach vorheriger Vereinbarung gefahren werden. Man 
macht dem Lokalpatriotismus nach Belieben Konzeſſionen; in München ſiegt das Münchner 
Kindl Thaddäus Robl, in Berlin der Berliner Theile, in Hannover Arend ufw.; von einem ehr- 
lichen Kampfe iſt keine Rede. Aber die Welt will nun einmal betrogen werden und bejubelt 
nach wie vor die Helden des Zements. 

Die Komödie mit dem Manne mit der Maske iſt, wie geſagt, ein Symptom, und zwar 
ein Symptom, das dazu beiträgt, die Grenzen zwiſchen dem Erlaubten und dem Nichterlaubten 
zu verwiſchen. Ich möchte hierfür einige Beiſpiele geben. Im Palaft-Cheater ringt feit Be- 
ginn der Konkurrenz der „Franzoſe“ Pierre de Rouen. Dieſer Frangofe, der kein Wort Fean- 
zöſiſch ſpricht, heißt Benkowsky, iſt ein Arbeiter aus der Kruppſchen Fabrik in Eſſen und wird, 
da er nur auf acht Tage beurlaubt ift, vermutlich Ende dieſer Woche unter irgendeinem Bor- 


Auf ber Warte 427 


wande aus der Konkurrenz ausſcheiden. Der ,englifhe Champion Brillon“ ift ebenfalls ein 
Angeſtellter der Kruppſchen Werke, ſeines Zeichens ein Schmied; er iſt ſtark, aber kein Ringer. 
Sein wirklicher Name iſt Georg Brill. Manchmal ringt er auch unter dem klangvollen Titel 
„Charvat aus dem Kaukaſus“. Der Holländer van Deye, der ſich gelegentlich auch Porthos 
nennt, wohl nach dem famoſen Musketier des Alexander Dumas, iſt ein Elberfelder, und auch 
der Steiermärker Brenno, der Luxemburger Collon und der Pole Petrowitſch ſind nicht das, 
was ſie zu ſein ſcheinen. 

Ich könnte dieſe Liſte nach Belieben verlängern, aber dieſe kleine Ausleſe wird genügen, 
um zu zeigen, was man von den modernen Ringkampfkonkurrenzen zu halten hat. Schuld 
daran find meiſtens nicht die Direktionen der Variétés, ſondern die Leiter der betreffenden 
Truppen. Bekanntlich ſchließen die Gariétés nicht mit den einzelnen Ringern ab, ſondern mit 
den Managern oder direkt mit den Chefs der verſchiedenen Truppen. Als ſolche fungieren ge- 
wöhnlich die führenden Ringer, wie Koch, Eberle, Pons uſw. Dieſe Chefs engagieren ſich ihre 
Leute und verteilen wie ein geſchickter Regiſſeur von vornherein die Rollen. Sie beſtimmen 
die Preisträger, übertragen einem dazu beſonders geeigneten Mitgliede die Rolle des ‚wilden 
Mannes‘ und erwählen ſchließlich auch denjenigen, der eines ſchönen Tages der ‚Wut‘ dieſes 
wilden Mannes zum Opfer zu fallen und ins Orcheſter zu fliegen hat. Und das alles wird vor- 
her genau einſtudiert; die Gegner, die ſich abends, anſcheinend in grimmem Ernſt, auf der Matte 
gegenüberſtehen, trainieren vormittags einträchtiglich zuſammen, und beide üben fleißig den 
„Tour de bras“ durch den der eine abends „nach heißem Widerſtande“ auf die Schultern gelegt 
wird. Und die ,wilden Männer“ find im Privatleben fo zahm und fo biderbe Burſchen, daß man 
ſich beinahe verſucht fühlt, mit ihnen Schmollis zu trinken. Treffliche Eignung für dieſe Rolle 
haben bisher der Neger Sanders, der Oſtpreuße Kornatz, alias Karl Kornatzki aus Polen, und 
Caſeaux de la Baſtide aus Bordeaux gezeigt. Sie bringen, wie man ſagt, Leben in die Bude 
und laffen es fih fogar nicht anfechten, wenn erzürnte Galeriebeſucher, die ihre ‚Roheiten‘ 
nicht mehr mit anſehen können, ein Bombardement mit Vierfeideln eröffnen, wie wir dies 
im Vorjahre in Berlin ja erlebt haben.“ 

Gerade wollte ich mich einmal über den Lokalanzeiger gründlich freuen ob ſeiner Wuf- 
klärarbeit, da drehe ich das Blatt, wohlverſtanden denſelben halben Bogen, um und finde 
auf der Rüdfeite — eine lange, durchaus alles ernſt nehmende Beſprechung eben der Ring- 
kämpfe, die auf der Vorderſeite als beſſerer Schwindel entlarvt werden. Mundus vult decipi. 
Ergo decipiatur — fagen offenbar nicht nur die Ringkämpfer. 


* 
Eine „Kunſtrede“ 


x ie Kunſtrede „von oben her“ gehört ſchon mit zu den Zeichen unſerer Zeit. Eine 
neue Kunſtrede bedeutet eine neue Enthüllung unfrer künſtleriſchen Untultur. — 
Vor einigen Wochen fühlte der Oberbürgermeiſter von Hanau, Dr. Gebeſchus, 
den heiligen Drang, in der Stadtverordnetenverſammlung fein Kunſtgeſtändnis abzulegen. 
Nach den Berichten der Tageszeitungen fagte er u. a.: „Übrigens wird der Wert der flot: 
ſiſchen Stücke wohl doch überſchätzt. Ich habe kürzlich, Maria Stuart geſehen, 
und ich habe mich herzlich gelangweilt. Es hat mir durchaus nicht gefallen, 
und dieſelbe Anſicht habe ich auch von anderen Beſuchern gehört. Es paßt eben nicht 
mehr fo recht in unſere Zeit. Die ,‚Dollarprinzeſſin“ aber habe ich 
ſiebenmal geſehen, und ich könnte ſie heute noch einmal ſehen, 
wenn ich Zeit hätte, ins Theater zu gehen. Hängen Sie fih ruhig das Mäntelchen des Runft- 
verſtändniſſes um und fagen Sie, ich habe keines, mir ift es gleich.“ Einzig erfreulich an dieſer 


428 Auf ber Waste 


ganzen Rede ift die Ehrlichkeit des Bekennens. Wie viele der deutſchen „Gebildeten“ 
denken und — leben ebenſo, nur fagen fie es nicht. Im Theater hört man zuweilen 
Urteile, die einem eine Gänſehaut übertreiben. Da darf man nicht verallgemeinern. Aber 
die „Kunſtrede“ dieſes Oberbürgermeiſters ſcheint mir den geiſtigen Tiefſtand ſo mancher 
„höheren“ Kreiſe zu enthüllen, vielleicht ganzer Geſellſchaftsſchichten? F. Sch. 


F 


Journaliſtiſche Hebammen 


Ss em mehr als unwürdigen Gebahren ausländiſcher Berichterftatter bei der Geburt 
des holländiſchen Thronfolgekindes widmet die „Standarte“ ein paar kräftige 

2% Wörtlein. Man verfteht wohl, daß die holländiſche Preſſe das Publikum über das 
SE der Königin auf dem Laufenden hielt. Man verſteht ſchon etwas weniger, daß dieſe 
guten Holländer (das Schickſal herausfordernd) ſchon lange vor der Geburt die Salutkanonen 
ſchußfertig aufftellten. Aber ganz unbegreiflich fei die lakaienhafte Schnüffelei, die von der nicht- 
holländiſchen Preſſe um das königliche Wochenlager herum betrieben wurde. 

„Schon Monate vor dem möglichen Termine des Ereigniſſes rückte es aus allen Himmels- 
richtungen in dichten Schwärmen an und fing um das Haager Schloß zu ſummen an wie die 
Fliegen um den Milchtopf. Von Berlin aus kam eine der Koryphäen der Journaliſtik, unfer 
großer Conrad Alberti, höchſelbſt als Erſter an. Allerdings hielt er es nicht lange aus, und nach- 
dem er in dem ihm eigenen klaſſiſchen Deutſch feſtgeſtellt hatte: „Die Ankunft des Thronerben 
zieht ſich in die Länge', nachdem er dieſe köſtliche Stilblüte vor dem Palais gepflanzt hatte, 
zog er ſich wieder nach Berlin zurück. Denn ſchließlich waren in Berlin noch einige Theater- 
premieren zu erwarten, und die ſind immerhin doch noch wichtiger als die Geburt im Hauſe 
Oranien. 

Aber an die Stelle des Meiſters traten nun die eifrigen Herren Spezialberichterſtatter, 
die die Chofe gründlich bearbeiteten und die mehr emſige Geduld zeigten, als Konrads apolli- 
niſches Haupt. Und nun mußten wir tagelang leſen, ob die beklagenswerte Königin um halb 
vier geſeſſen oder geſtanden habe; ob der Arzt im Schloſſe fei oder im Café feine Partie Billard 
ſpielen könne; wie die Amme beſchaffen ſei und was der Staatsminiſter im Krankenzimmer 
zu beſcheinigen haben werde. Und immer wurde das alles ſo ſpannend wie möglich gemacht, 
damit das gute Publikum auf die nächſte Nummer begierig wurde. ‚Das Ereignis iſt in zwei 
Tagen zu erwarten.. .. Fit noch heute zu erwarten. Dürfte in drei Stunden eintreten. Steht 
unmittelbar bevor! 

Auch fehlten heitere und köſtliche Züge der Selbſtironie nicht. Mit witzigem Stifte 
wurde geſchildert, zu welchen Kniffen die Reporter greifen mußten, um ihrer gynäkologiſchen 
Pflicht zu genügen. Der eine mietet ſich ein möbliertes Zimmer, von dem aus er die wehrloſe 
Königin in ihrem Garten beobachten kann; der andere biedert ſich mit einem Waſchweib an; 
der dritte wird durch die Lakaien angeführt, ift aber ein braver Kerl, der Spaß verſteht, und 
berichtet ſelbſt über fein Pech. Und immer wieder müfjen wir hören, wie die holländiſche Poli- 
zei den läftigen Schwarm von den Türen des umlauerten Palaſtes jagt. 

Von den armen Spezialberichterſtattern kann man ein beſonders mimoſenhaftes Gefühl 
für die eigene Würde kaum verlangen. Aber bei den — mit preußiſchen Orden geſchmückten — 
Verlegern großer Berliner Zeitungen hätte man ein ſolches Gefühl eigentlich vorausſetzen tön- 
nen. Hätte erwarten können, daß dieſe Herren es wiſſen, wie unpaſſend es iſt, einen kranken 
Menſchen zu belauern, einer der ſchweren Stunde entgegengehenden Frau keck ins Geſicht zu 
ſehen, um dann darüber zu telegraphieren, ob ſie die Augen zu Boden ſchlug oder verächtlich 
lächelte. 


Auf ber Warte 429 


| Zn meiner Erinnerung“, fährt der Verfaſſer fort, „haftet ein Bild, das vor Jahren ein- 
mal in einer Berliner illuſtrierten Wochenſchrift erſchien. Es ſtellte die Berichterſtatter dar, 
die auf dem Petersplatze in Rom auf den Tod des in der Agonie liegenden Papſtes Leo XIII. 
warteten. Dieſes Bild hat einen gräßlichen Eindruck auf mich gemacht und auf jeden empfind- 
licheren Menſchen gewiß ebenfalls. Man mußte an die berühmten Wüftenvögel denken, die 
um den gefallenen, aber noch lebenden Wandersmann fiken und warten, wann er endlich auf- 
gehört haben wird, ſich zu regen. Und man mußte davor erſchauern, zu welchen Grauſamkeiten 
der journaliſtiſche Betrieb ſonſt friedliche und gutmütige Menſchen zwingt. Gewiß wäre keiner 
dieſer Herren Spezialberichterſtatter fähig, einem Menſchen ein Leid zuzufügen; gewiß hatte 
jeder von ihnen ſchon einmal mit Abſcheu von der grauſamen Neugier und Ungeduld des alt- 
römiſchen Zirkuspublikums geleſen ... und nun faßen fie hier um das Haus eines Sterbenden, 
ſchloſſen Wetten ab und ſehnten mit aller Inbrunſt den möglichſt ſchnellen Tod eines Men- 
ſchen herbei. 

Aber trotzdem weiß ich nicht, was unerfreulicher iſt: die in Rom auf den Tod warten- 
den oder die im Haag das keuſche Entſtehen eines Lebens umſchnüffelnden Herren Spezial- 
berichterſtatter. Schließlich iſt ein Papſt ein Mann, und gerade der Papſt, der damals in Sankt 
Peter ſtarb, war ein gar ſtreitbarer Mann geweſen, der ſelbſt feine Gegner nicht allzu zart an- 
gefaßt hatte. Was an der Haager Betriebſamkeit fo peinlich wirkte, das war, daß die tede Neu- 
gier ſich auf eine ſchwache, ſtille Frau richtete, die den größten und ſchwerſten Gang dieſes Lebens 
zu gehen hatte und die während dieſes Ganges auf Stille und auf leiſes Mitgefühl einen An- 
ſpruch gehabt hätte. Aber ſo ändern ſich die Zeiten: früher betete man, wenn eine Königin 
ihrer Stunde entgegenging. Jest interviewt man ihre Wäſcherin und telegraphiert das Inter; 
view ſtolz in die Welt hinaus. 

Das iſt es ja, was man Fortſchritt der Kultur und Entwicklung der Geſittung nennt.“ 


F 


Mode und Geſchäft 


GR aC Leder hygieniſche noch äſthetiſche Rüdfichten geben bei dem Wechſel der Moden 
den Ausſchlag. Sie werden vielmehr von den großen tonangebenden Geſchäf⸗ 
= ten nach rein geſchäftlichen Erwägungen diktiert, geändert, widerrufen. Die 
Moden ſind ein Mittel, deſſen ſich die kapitaliſtiſchen unternehmer bemächtigt haben, um durch 
ſteten Wechſel den Markt der Eitelkeiten zu beleben und ihren Zwecken dienft- 
bar zu machen. Ein Pariſer Modebericht macht dieſen Zuſammenhang beſonders deutlich. 
Es heißt da: Die plötzliche Unterdrückung des Directoireſtils in der Mode, die in Paris als 
Stichwort ausgegeben tft, ruft allenthalben Erſtaunen hervor. Die Beweggründe dafür lie- 
gen nun allerdings nicht in der äſthetiſchen Abneigung gegen dieſen Stil, fondern fie find aus 
materiellen und geſchäftlichen Momenten herzuleiten. Die letzte Saiſon war für die großen 
franzöſiſchen Modefirmen ſehr wenig einträglich, und man ſchiebt nun die Schuld an den fdled- 
ten Geſchäften auf die Directoiremode. Die Rleiderftoff- und Wäſchefirmen haben am ſchwer⸗ 
ſten unter dieſem enganliegenden, den Unterrod verpönenden Stil gelitten. Braucht man doch 
zu einem Directoirekleid wenig mehr als die Hälfte des Stoffes, der früher zu einer Robe not- 
wendig war! Außerdem ſind die Oirectoireformen ſehr leicht zu kopieren, und ſo haben ſich 
viele Damen ihre Toiletten von Hausſchneiderinnen machen laſſen, nachdem ſie erſt einmal 
ein Modell bei einer großen Firma erworben. So herrſcht denn allgemeine Rage unter den 
Modeküͤnſtlern, den Tuch-, Seiden und Samtfabrikanten und in den Wäſchegeſchäften. Die 
einzigen Raufleute, die mit der Directoiremode Geld verdient haben, find die Fabrikanten 
der langen Strümpfe und der „combinations“, die zu der Toilette unerläßlich waren. Die 


430 Auf ber Warte 


neue (d. h. die von den führenden Geſchäften jetzt diktierte) Mode drängt nun vor allem wieder 
auf eine weitere Form, bei der ſich ein Luxus in Stoffen und Garnierungen entfalten kann; 
man will wieder volle, breite Maſſen, Röcke mit einem Gewoge von Volants und Spitzen; 
man will eine beſondere Betonung der Unterkleider. Man will ſogar wieder verſuchen, den 
Reifrock und die Krinoline einzuführen, weil ſich in dieſen unförmigen Erfindungen der Mode 
ein beſonderer Reichtum an Material anbringen läßt. Während die Schneiderinnen klagen, 
ſind die Putzmacherinnen vergnügt. Die raſchwechſelnde Vielgeſtaltigkeit der Hutformen, 
die unendliche Fülle des Gebotenen haben den Hutluxus zu einer erſtaunlichen Höhe ſteigen 
laſſen. „Die durchſchnittliche Lebensdauer für einen modernen Hut“, ſo äußert ſich ein be⸗ 
kannter Pariſer Modiſt, „iſt ein Monat. Die elegante Pariſerin muß jeden Monat einen neuen 
Hut haben, wenn fie nach der Mode gekleidet bleiben will, und jeder Hut koſtet etwa 240—800 K. 
Aber zwölf Hüte im Jahre find nicht genug. Sie muß einen Automobilhut haben, Hüte für das 
Reftaurant, das Theater, für Reifen, für die Riviera, kurz für jede Gelegenheit einen befonde- 
ren Hut. Dreißig Hüte im Fahre find daher der geringſte Bedarf für eine elegante Dame. 
Die Menge der Kopfbedeckungen, die ſie mit auf die Reiſe nimmt, iſt ſo zahlreich geworden, 
daß wir beſondere große Hutkoffer haben anfertigen laſſen müſſen, nicht viel kleiner als ein 
großer Koffer für Toiletten.“ 


Glückliche ruſſiſche Komponiſten. Wie die Frankf. Ztg. nach den „Sig⸗ 
nalen für die muſikal. Welt“ berichtet, hat der berühmte Kontrabaſſiſt und Dirigent Sergei 
Kuſſewitzey gemeinſam mit feiner Gattin Natalie eine philantropiſche Stiftung „Ruſſiſcher 
Muſikverlag“ ins Leben gerufen. Sie gründeten eine Geſellſchaft mit beſchränkter Haftung, 
die nach dem Gründungsdokument das Ziel verfolgt, „das hergebrachte Abhängigkeitsverhält⸗ 
nis der Romponiften von dem Verleger durch völlige Ausſchaltung des Verlegergewinns zu be- 
ſeitigen und dadurch die wirtſchaftliche Selbſtändigkeit des Komponiſten zu fördern“. Zu die- 
ſem Zwecke haben die Gründer das Unternehmen zunächſt mit einer Million Mark ausgeſtattet, 
ſtellen aber für den Bedarfsfall weitere Summen in Ausſicht. Die Kunde klingt faſt wie ein 
Märchen. Jedenfalls gehörte nicht nur hohe Kunſtbegeiſterung, ſondern auch eine gang ungewöhn⸗ 
liche Menſchenfreundlichkeit dazu, ſie ins Leben zu rufen. Aber die Statuten des „Ruſſiſchen 
Muſikverlags“ belehren uns, daß hier nicht bloß ein ſtarker Impuls zum Wohltun, ſondern auch 
reife Erfahrung und ſorgfältige Aberlegung am Werke waren. Hier ſoll nicht aus ſentimentaler 
Sympathie mit den Verkannten und Unbekannten Geld auf die Landſtraße geworfen werden, 
hier ſoll vielmehr der Entwicklung der Kunſt Vorſchub geleiſtet und dem ſchaffenden Künſtler 
die Frucht feiner Arbeit garantiert werden. Einige kurze Bemerkungen über die innere Organi- 
ſation des „Ruſſiſchen Muſikverlags“ zeigen, wie vorſichtig und weiſe Herr und Frau Ruffe- 
witzky zu Werke gegangen find, damit die Wohltaten der Stiftung vor allem denen zugute tom- 
men, die fie am meiſten verdienen. „Die wichtigſte Einrichtung des Verlags ift fein muſikaliſcher 
Beirat, der aus mindeſtens fünf Mitgliedern zu beſtehen hat. Er muß über alle Rompofitio- 
nen, die zum Gedrucktwerden eingereicht werden, ſein Gutachten abgeben, und nur wenn die 
abſolute Majorität des Beirats für die Annahme ſtimmt, wird das eingereichte Werk gedruckt. 
In dieſem Beirat wird man Namen der beſten ruſſiſchen Komponiſten finden, ſo daß durch 
ſeine Zuſammenſetzung nicht nur Unparteilichkeit, ſondern auch fachmänniſche Kompetenz in 
der Beurteilung garantiert erſcheint. Nach der Annahme des Werkes trifft der Verlag ein fchrift- 
liches Abkommen mit dem Komponiſten, für den ein eigenes Konto eröffnet wird. Er erhält 


Auf ber Warte 431 


zunächſt ein feſtes Honorar, das je nach der Größe und Art des Werkes zwiſchen dem Minimum 
von 100 & (für kleine Klavierſtücke und Lieder) bis zu 6000 M (für eine Oper oder ein Ballett) 
variiert. In ganz befonderen Fällen, aber nur auf einſtimmige Empfehlung des muſikaliſchen 
Beirats hin, kann auch dieſes Maximum des Honorars noch überfchritten werden. Ferner er- 
halt der Komponiſt einen ſteigenden Anteil an den Erträgniſſen feines Werkes, der aber, bis die 
Herſtellungskoſten der Noten gedeckt find, auf 25 % beſchränkt bleibt. Nach dem Tode des Kom- 
poniften gehen diefe Bezüge feinen Erben zu. Die Werke werden in der Reihenfolge ihrer An- 
nahme gedruckt. Mit der Drucklegung wird fih der Ruſſiſche Muſikverlag aber nicht begnügen, 
er wird auch in anderer Weiſe für Propaganda ſorgen, vor allem durch Veranſtaltung von öffent- 
lichen Aufführungen der betreffenden Werke. Ferner behält ſich der Verlag das Ausſchreiben 
von Preiſen für beſtimmte Kompoſitionsgattungen vor, und an dieſen Konkurrenzen können 
ſich Komponiſten aller Nationen beteiligen. Der Sitz des ruſſiſchen SES ijt nicht in 
Rußland, fondern in Berlin.“ 

Dieſe zuletzt verzeichnete Tatſache kann einen etwas bedenklich machen. Wir haben ſchon 
im letzten Konzertwinter unter einer Überfülle ruſſiſcher Muſik gelitten. Aber dieſe Bedenken 
gehen uns hier jetzt nichts an; ſie können nicht die Größe, Vornehmheit und Weitſichtigkeit 
beeinträchtigen, die dieſe ruſſiſche Stiftung vom ruſſiſch-nationalen Standpunkte auszeichnet. 
Neiderfüllt mögen unſere Komponiſten, die Fortſetzer der größten Muſikkultur der Welt, auf 
dieſe glücklichen Vertreter der jungen ruſſiſchen Kunſt hinüberſehen. Gewiß iſt Kuſſewitzkys 
Stiftung von ungewöhnlicher Größe. Aber auch andere Länder haben manches derartige, 
nur Deutſchland nicht. Kein Kulturland der Welt benimmt ſich ſo karg und kleinlich ſeinen 
Dichtern und Denkern gegenüber, als eben unſer Vaterland, das mit ſeinen Männern des 
Geiſtes und der Kunſt protzt und prunkt. Wer, wie der Schreiber dieſer Zeilen, es gelegentlich 
übernommen hat, bei reichen Leuten, die fih gern im Ruhmesglanze des Mäzenatentums 
ſonnen, für hervorragende künſtleriſche Talente eine größere Unterſtützung zu erwirken, der 
hat ſicher ebenſo betrübliche und tief beſchämende Erfahrungen gemacht wie ich. Aber wie trau- 
rig iſt es überhaupt in der Hinſicht bei uns beſtellt! Man ſehe einmal zu, wie zahlreiche Preiſe 
in der Höhe von 1000 bis 5000 Franken die franzöſiſche Akademie, Sorbonne uſw. zu vergeben 
haben, mit denen alljährlich zahlreiche franzöſiſche Künſtler und Gelehrte unterſtützt werden. 
Wie wenig haben dagegen wir! Etliche Akademie-Stipendien, für deren Erlangung in der 
Regel Bedingungen geſtellt find, die entweder demütigend find, oder eine Arbeitsleiſtung er- 
fordern, im Verhältnis zu der die Entlohnung lächerlich klein iſt. Gewiß, ich weiß, wir waren 
lange ein armes Volk. Wir find es aber längſt nicht mehr. Wohl aber find wir noch immer höchſt 
knickerig und kleinlich, wo es für Kunſt und Wiſſenſchaft perſönliche Geldopfer zu bringen gilt. 

ZS ZS 


Von ganz anderer Seite kommt zu einer nicht mehr erfreulichen Meinung über der Deut- 
ſchen Kunſtliebe die „Fölniſche Zeitung“ bei einer Beſprechung der „Deutſchen Lite- 
raturgeſchichte“ von Adolf Bartels, indem fie deffen Standpunkt, immer wieder die Juden 
für die Schattenſeiten in der modernen Literatur, für die Dekadenz und den Reklamegeiſt in 
ihr verantwortlich zu machen, ablehnt. Sie hebt dagegen die außerordentliche Bedeutung 
des jüdiſchen Publikums für die deutſche Literatur (auch chriſtlicher 
Herkunft) hervor und führt aus: „Es wäre eine große Täuſchung, wenn man glauben wollte, 
das rege literariſche Leben Berlins ſei eine allgemeine, durch die ganze Geſellſchaft gehende 
Erſcheinung. Es gibt dort eine ganze Menge hochſtehender, hochbetitelter Perſönlichkeiten, 
denen Theaterpremieren oder ein Aufſehen erregender neuer Roman höchſt gleichgültig ſind, 
und die davon trotz alles Zeitungslärms kaum Kunde bekommen. In den Provinzſtädten macht 
ſich dieſe Erſcheinung noch viel deutlicher geltend. Wenn nun trotzdem ſich ſeit einer Reihe von 
Jahren überall das Intereſſe für das ernſte Schauſpiel erheblich gefteigert hat, wenn das früher 
dem Oeutſchen ganz fremd geweſene Kaufen belletriſtiſcher Werke immer mehr zugenommen 


432 Auf der Warte 


hat und die Werke beliebter Autoren zahlreiche Auflagen erleben, fo ift das unbeſtreitbar nach 
Beobachtungen jedes im literariſchen Leben ſtehenden Menſchen zunächſt dem regen Intereſſe 
der jüdiſchen Kreiſe zu danken, die auch bei allen Gelegenheiten, wie Vorträgen literari- 
fher Art, das Haupttontingent ftellen, und die intelligente jüdiſche Jugend ift es geweſen, die 


im Laufe der Jahre auch die chriſtli che mit fortgeriſſen hat, fo daß wir allerdings, 


was eine künftige Generation angeht, erwarten dürfen, daß das Intereſſe an der Literatur 
ſich geſellſchaftlich immer mehr ausbreiten wird. Die Pionierdienſte hat die beſondere 
jüdiſche Geſellſchaft geleiſtet. Wenn nun Bartels es als eine unmittelbare Aufgabe der 


deutſchen Intelligenz betrachtet, das Judentum von der Literatur zurückzudrängen, jo werden 


ſich alle deutſchen Schriftſteller und Dichter eifrig dagegen wehren müſſen, daß ihnen der Aſt 
abgeſägt wird, auf dem ſie ſitzen. Gewiß entſtehen dadurch mancherlei Einſeitigkeiten, es leidet 
die nationale Tiefe unſerer Literatur, und die Großſtadt gibt zu einſeitig den Ton an, aber 
dieſes Übel iſt jedenfalls geringer als dasjenige, an dem die deutſche Literatur früher gelitten 
hat, daß der Deutſche es überhaupt als eine frevelhafte Verſchwendung betrachtete, ein Buch 
um einen Preis zu kaufen, für den man ſich eine gute Flaſche Wein leiſten kann.“ 


Sch ſetze gleich noch eine andere Stimme hierher, die diefe Ausführungen nach der Seite 


des Kunſtmäzenatentums hin ergänzt. Sie ſteht in einer Beſprechung, die Fedor 
von Zobeltitz in den „Hamburger Nachrichten“ der Berliner Porträtausſtellung widmet, 
und lautet: „Die Liſte der Ausſteller iſt ſo intereſſant, daß ich die Namen hier wiedergeben möchte. 


Sie lauten: Arnhold, Berl, v. Dirkſen, Feiſt, Frenkel, v. Friedldnder-Fould, Gans, Hainauer, 
v. Hollitſcher, Huldſchinsky, Kappel, Kocherthaler, Koppel, v. Mendelsſohn, Roſenberg, v. Schwa- 
back, Ed. Simon, James Simon, Weisbach. Es findet ſich kein Name von altem Adel darunter, 


aber viele erſt jüngſt nobilitierte Herren und viele jüdiſcher Abſtammung. Das könnte nicht 


auffallen, denn in ihren Händen liegt das Kapital, das koſtſpielige Liebhabereien geſtattet. 
Aber es gibt doch auch unter unſerem grund beſitzenden Hochadel eine ganze Menge ſchwerreicher 
Leute; gehört keiner von ihnen dem Kaiſer-Friedrich-Muſeums- Verein an und fand ſich in ihren 
Häufern nie einer, der neben der traditionellen Sportpaſſion auch ein vornehmes Magenaten- 
tum pflegte? Die Kgl. Bibliothek hat jüngſt eine karolingiſche Prachthandſchrift erworben: 
das Prümer Evangelienbuch Kaiſer Lothars. Um den Ankauf (für 80 000 M) zu ermöglichen, 
mußte Geheimrat Harnack ſich an den Patriotismus wohlhabender Gönner wenden. Da ge- 
fellten ſich den Namen Arnhold, v. Mendelsſohn, Roſenthal, Scherl, Speyer, Darmſtädter, 
Werthauer auch der Graf Tiele-Winckler und der Fürſt Hendel-Oonnersmart an. Im allgemei- 
nen aber wird man ſtaunend fragen können: Wo ſteckt unſer reicher alter Adel, wenn es ſich um 
die Förderung von Kunſt, Wiſſenſchaft und Literatur handelt?“ 

Es ließe ſich hier wohl manche Einwendung machen; vor allem für die Einſchätzung der 
jüdiſchen Teilnahme an den Künſten. Aber nur zu willig ſuchen und finden die deutſchen Kreiſe 
in der Herabminderung des Wertes der jüdiſchen Beteiligung eine Entſchuldigung für die 
eigene Gleichgültigkeit, den eigenen Mangel an Opferſinn. Aber gibt es überhaupt einen ſchwe⸗ 
reren Vorwurf für uns Deutſche, als wenn wir jagen müſſen, daß das Judentum eine im Ber- 
hältnis zu ſeiner Zahl ſo ungeheure Macht in Literatur, Theater, Preſſe, bildender Kunſt und 
Muſik iſt?! Wird dieſer Vorwurf für uns nicht in dem Falle noch ſchwerer, wenn wir dieſen 
jüdiſchen Einfluß für ſchädlich halten?! Dann mußten und müſſen wir ihm doch erſt recht ent- 
gegenarbeiten! Wenn die deutſchen Kreiſe die beſten Abnehmer für Kunſtware ſind, wird ſich 
das Angebot des Marktes ganz von ſelbſt nach ihrem Geſchmacke, ihren Bedürfniſſen richten. 
Aber mit Reden und Schimpfen iſt freilich nichts zu erreichen — wie herrlich weit hätten wir 
es ſonſt bereits gebracht! —, ſondern nur durch die Tat. St. 


Verantwortlicher und Chefredakteur: Jeannot Emil Freiherr von Grotthuß, Gab Oeynhauſen in Weſtfalen. 
Literatur, Bildende Kunſt, Muſie und Auf der Warte: Dr. Karl Storck, Berlin W., Landshuterſtraße 5. 
Drud und Verlag: Greiner & Pfeiffer, Stuttgart. 


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Mit Genehmigung der Verlagsanstalt F. Bruckmann A. G. in Miinchen 


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‚Monatsfhrift für Gemüt und Geif vr 
rausgeber:Jrannot Emil FreihervnBrotfhuss 


XI. Jahrg. Juli 1909 Heft 10 


Das Elend der Neuen Welt 


Von 


Dr. Richard Bahr 


n Amerika hat vor ein paar Jahren ein Buch gewaltigen Eindruck 
gemacht, das fih „Das Elend der Neuen Welt“ nannte. Sein Ver- 
faſſer war Robert Hunter; ein reicher Mann, der jenen Entwicklungs- 
O gang durchgemacht hatte, den in der angloamerikaniſchen Welt (wie 
in der engliſchen) fo viele junge Leute von Beſitz und Bildung zu gehen pflegen. 
Er hatte, was bei uns in Deutfchland erft feit kurzem und ganz vereinzelt verſucht 
wird, im Settlement gelebt. Das heißt: er hatte ſich in den Quartieren der Armut 
angeſiedelt, um ſo durch das Zuſammenhauſen, durch das Beiſpiel des eigenen 
Lebens, durch Ratſchläge und werktätige Hilfe den Stiefkindern des Schickſals 
nahezukommen. So hatte er viele Jahre verbracht; als Student ſchon und auch 
noch nach beendeter Studienzeit. Dann faßte er feine Unterſuchungen und Er- 
fahrungen in einem Bändchen zuſammen, das in einer eigentümlich herben Leiden 
ſchaftlichkeit, knapp, faſt wortkarg und doch mit zwingender Beredſamkeit zu zeigen 
unternahm, auf welcher Unſumme von Jammer und Not die vielgerühmte, auch 
von deutſchen Beobachtern immer wieder beſtaunte induſtrielle Entwicklung der 
Anion ſich aufbaut. Dies Buch hat der ſozialdemokratiſche Reichstagsabgeordnete 
Dr. Albert Südekum — ein fleißiger und febr unterrichteter Herr — mehr nach- 
ſchöpfend als überſetzend in ein vortreffliches Deutſch übertragen (Berlin, Ron- 
Der Türmer XI, 10 28 i 


434 Bahr Das Elend der Neuen Welt 


kordia Deutfche Verlagsanſtalt'). In dem Vorwort, das er feiner Übertragung 
vorausſchickt, meint er: „Wenn die deutſchen Leſer an der Hand des Verfaſſers 
durch die Abgründe der amerikaniſchen Geſellſchaft wandern, dann wird ſicherlich 
die Mahnung ihrem Geiſte erklingen: Tua res agitur. Deine Sache wird verhandelt, 
Denn das iſt die Stärke dieſes Werkes, daß es aus der Fülle der Einzelheiten immer 
wieder zum Allgemeingültigen führt. Daher können wir Deutiche fo viel aus ihm 
lernen.“ Sehen wir zu, wie weit das zutrifft. 
* 


* 

Zunächſt: Robert Hunters Darſtellung führt in der Tat durchweg vom Be- 
ſonderen zum Allgemeinen. Zum Schluß ſeines Buches preßt er die Summe des 
Elends, von dem er die Hüllen genommen hat, in folgende Sätze zuſammen: 
„In Amerika gibt es wahrſcheinlich auch in einigermaßen günſtigen Jahren nicht 
weniger als zehn Millionen Arme; als arm bezeichnen wir die unterernährten, 
ſchlecht gekleideten und armſelig wohnenden Menſchen. Gegen vier Millionen 
von ihnen find Paupers, d. h. hängen von öffentlichen Unterſtützungen ab. Über 
zwei Millionen Arbeiter ſind vier bis ſechs Monate im Jahre arbeitslos. Ungefähr 
500 000 männliche Einwanderer kommen jährlich nach Amerika und ſuchen gerade 
in ſolchen Gegenden Arbeit, wo die Arbeitsloſigkeit am größten iſt. Beinahe die 
Hälfte der Familien in Nordamerika iſt beſitzlos. Mehr als 1 700 000 kleine Kinder 
miiffen erwerbstätig fein, während fie noch die Schule beſuchen ſollen. Über fünf 
Millionen Frauen ſind gezwungen zu arbeiten und über zwei Millionen ſtehen in 
Fabriken, Spinnereien uſw. Wahrſcheinlich werden nicht weniger als eine Mil- 
lion Arbeiter jährlich in ihrem Beruf verletzt oder getötet, und über zehn Millio- 
nen der heute lebenden Perſonen werden, wenn das heutige Verhältnis beſtehen 
bleibt, nach allen Regeln der Wahrſcheinlichkeit an Tuberkuloſe ſterben ...“ 

Auf dürre Zahlen gebracht der Extrakt des Buchs. Aber dieſem Extrakt gehen 
einige zweihundert Seiten lebenſprühender Schilderung voraus. Lebeniprühen- 
der und um deswillen ſo beſonders ergreifender Schilderung, weil ſie, wennſchon 
ſie häufig von ihnen ausgeht, ſich doch nicht bei den Einzelſchickſalen aufhält; weil 
fie allenthalben das dieſem wimmelnden Haufen Gemeinſame aufzuweiſen be- 
müht iſt. Der Mann, der in den Nord- und in den Südſtaaten, in Oſt und Weſt 
in den slums gehauſt hat, der den noch zähe, unter Aufbietung der letzten Kraft 
mit ausſichtsloſer Armut Ringenden ein verſtändnisvoller Vertrauter geweſen ift 
und auch denen, die nicht mehr rangen, die als Landſtreicher und Vagabunden 
vom Strom eines armſeligen Lebens ſich treiben ließen, teilnehmende, erbarmende 
Menſchenliebe gezeigt hat, gibt nicht Zufallsbilder. Ihm rundet ſich das da und dort, 
das heute und das vor langen Jahren Geſchaute zum Typus. Und dieſes Tppiſche 
ijt: den ungelernten Arbeiter erwartet in der vielfach noch ganz ungeſchützten 
Induſtrie der Union ein troſtloſes Schickſal. Wenn er Arbeit hat, verdient er ge- 
rade nur ſo viel, daß er ſeine und der Seinen drängendſte Notdurft befriedigen 
kann. Wird er krank, alt oder aus irgendeinem Grunde erwerbsunfähig, pocht 
ſofort ſchreiendes Elend an ſeine Tür. Wenn dann das letzte Stück einer dürftigen 
Habe verſetzt iſt, wenn der Verdienſt der Frau nicht ausreicht oder nicht möglich iſt, 
wenn auch die Hilfe der Nachbarn, dieſes rührende, nie verſagende Mitleid des 


Bahr: Das Elend ber Neuen Welt 435 


Armen mit dem Armen, erſchöpft ijt, dann kommt für die ſchwerblütigeren Naturen, 
die mit dem reizbareren Ehrgefühl, wohl der Augenblick, wo fie aus dem Oaſein, das 
ihnen immer nur als eine düſtere Gewohnheit erſchien, flüchten. Die anderen re- 
ſignieren, beißen die Zähne zuſammen und — haſchen hilfeflehend nach öffent- 
licher und privater Wohltätigkeit. Das aber iſt der pſychologiſche Moment, wo 
der Arme zum Pauper wird. Wer einmal von fremder Wohltätigkeit abhängig 
war, behauptet auf Grund feiner Erfahrungen Hunter, mit deffen Widerſtands- 
kraft iſt es vorbei. Der hat ausgekämpft. Der ſchließt die Augen und beginnt 
fih langſam mit dem abwechſlungsreichen Leben der Ausgeſtoßenen zu befreunden. 
Tagsüber gräbt er in den Abfallſtätten der großen Städte nach verdorbener Nah- 
rung. Oder er lungert mit ſeinesgleichen oder Schlimmeren, mit Dieben, Stro- 
mern, Proſtituierten in den Bars herum. Und nachts kriecht er mit dem Abſchaum 
der ganzen Welt in der verpeſteten Luft der Logierhäuſer zuſammen. Er vege- 
tiert, aber er kennt dafür keine Arbeitshaſt mehr, keine quälenden Sorgen. Zwifchen- 
durch arbeitet er wohl auch; aber nur eine Arbeit, die kein Pflichtgefühl erheifcht 
und jeden Augenblick unterbrochen werden kann. Und hält er in der ſchwammig 
und energielos gewordenen Fauſt ein paar Cents beieinander, dann kommt der 
Tröſter Alkohol und lullt die erſchlafften Sinne vollends ein. 

Jahr um Jahr aber nahen von jenfeits des Weltmeeres neue Scharen und 
mehren die Armut, die eigene und die amerikaniſche. Sie kennen die Sprache des 
Landes nicht, lernen fie, zumeiſt nur unter ihren Stammesgenoſſen hauſend, viel- 
fach ihr Leben lang nicht kennen. Sie ſuchen, um ſo billig als möglich zu wohnen, 
in den üͤbelberufenſten Quartieren Unterfchlupf, die der honette amerikaniſche Arbei- 
ter meidet. In dumpfen, von Krankheitsſtoff aller Art erfüllten, ohnehin viel zu 
hoch belegten Häuſern. Und während fie in der Schwitzhöhle bei raſtloſer, un- 
ausgeſetzter Arbeit, an die von der alten Heimat her ihr Körper nicht gewohnt iſt, 
ſich den Todeskeim holen, müſſen ſie erleben, wie ihre Kinder, um deren Erziehung 
und Anleitung ſich zu kümmern ſie keine Zeit finden, von der Straße, auf die ſie 
angewieſen ſind, deren verderbliche Gewohnheiten annehmen und wie ihre Um- 
gebung werden. Dieſe Umgebung der Paupers, der Vagabunden, der Verbrecher 
und Dirnen. Das Elend der Neuen Welt ... 

* * 
de 

Was können wir in der alten aus ihm lernen? Vor allem dieſes: daß ein 
Induſtrieſtaat (und Deutſchland wird es von Jahr zu Jahr mehr) ohne Sozial- 
politik nicht exiſtieren kann, und daß, was wir nach der Richtung durch Arbeiterſchutz⸗ 
und Fürſorgegeſetzgebung leiſteten, unſerem Volk von unermeßlichem Segen ge- 
weſen ift. In Amerika ift — ich fagte es Iden — zu beträchtlichen Teilen die Zn- 
duſtrie noch ganz ungeſchützt. Wo man doch einen Anlauf genommen hat, verhindert 
das anarchiſche Staatsrecht der Union, das dieſe Probleme in die Kompetenz der 
Einzelſtaaten verweiſt, die rechte Wirkung. Wenn in einem Staat ein ſtraffes 
Schutzgeſetz erlaſſen wird, droht die betroffene Unternehmerſchaft mit der Aus- 
wanderung. Was nützt es, daß man in den Nordſtaaten der Kinderarbeit gewiſſe 
Grenzen gezogen hat, wenn in den Baumwollſpinnereien des Südens — eine 
Neuauflage der Sklaverei und kaum eine beſſere — nun 80 000 Kinder, zumeiſt 


436 Bahr: Das Elend ber Neuen Welt 


kleine Mädchen, frohnen: ſechsmal ſoviel als vor zwanzig Jahren! Das zeigt (und 
manche Erfahrungen bei der preußiſchen Berggeſetzgebung zeigten es auch), wie 
gut es iſt, daß dieſe Dinge bei uns in der Hauptſache von Reichs wegen geordnet 
werden. Schließlich handelt es ſich hier doch um ungleich Bedeutſameres als die 
Frage politiſcher Atilität: Wie befreien wir unſer Volk von der Sozialdemokratie? 
Dazu iſt Sozialpolitik vielleicht überhaupt nicht nütze. Aber um die Nation geiſtig 
wie körperlich bei Kräften zu erhalten, um der Zukunft im großen ganzen unge- 
ſchmälert und unverdorben den Born zu überliefern, aus dem das Volk fic zu er- 
gänzen und zu verjüngen hat — zu ſolchem Ende gibt es kein anderes Mittel als 
unausgeſetzten Arbeiterſchutz und planmäßige Fürſorgegeſetzgebung. Manche von 
uns find geneigt (ich ſelbſt bin zuweilen von ſolchen Anwandlungen nicht frei ge- 
weſen), den Wert unſerer ſtaatlichen Zwangsverſicherung gering zu ſchätzen. Das 
Buch des Amerikaners belehrt uns darüber eines andern. Er nennt das deutſche 
Syſtem der Zwangsverſicherung „vielleicht das intereſſanteſte und erfolgreichſte 
Syſtem“. Und dann ſchreibt er: „Deutſchland hat, geſtützt auf die durch feine Alters-, 
Kranken- und Unfallverfiherung gewonnene Statiſtik, die Verantwortung für eine 
große Menge von Armutsfällen der Allgemeinheit und nicht dem Individuum auf- 
gebürdet ... Es ift natürlich unmöglich, alle Unfälle zu vermeiden, und auch in 
Deutſchland muß der Arbeiter, wenn es notwendig iſt, ſeine Haut zu Markte tragen, 
aber er und ſeine Familie brauchen deshalb nicht zu Paupers zu werden. Indem er 
ſo die Verantwortlichkeit für die Anfälle feſtſtellte, kam der Staat weiter zu der 
Aberzeugung, daß es billiger iſt, Leben zu erhalten, als verderben zu laſſen. Es iſt 
auch billiger, Krankheiten raſch und gründlich zu heilen, die, wenn fie ohne Be- 
handlung bleiben, den Arbeiter oft dauernd arbeitsunfähig machen. Man hat ein- 
geſehen, daß vorbeugende Maßregeln wahrhaft ökonomiſch find. Das Bemerkens- 
werteſte an dieſem Syſtem ift, daß jedes Jahr große Summen für die Heilung 
Schwindſüchtiger, für die Errichtung von Bädern und guten Arbeitshäuſern und 
für die Verbeſſerung der ſanitären Verhältniſſe in Häuſern und Fabriken aus- 
gegeben werden. 

Wir follen uns nicht berühmen und nicht hoffärtig werden; Elend, auch un- 
verſchuldetes, ſoziales, durch die Geſellſchaft und die wirtſchaftlichen Inſtitutionen 
erzeugtes, gibt es immerhin bei uns noch genug. Aber eines hat die Sozialpolitik, 
die kurzſichtigen Politikaſtern noch immer als ein unverdientes und zweckloſes Ge- 
ſchenk an eine undankbare Pöbelmaſſe erſcheint, doch bewirkt: bei uns braucht 
der kranke und ſieche Arbeiter noch nicht zum widerſtandsunfähigen Pauper zu 
werden. Die Geſellſchaft erhält ihn für die Geſellſchaft. Sie ſchützt, wenn er alt 
wird, ihn auch davor, ohne einen Pfennig in der Taſche auf die Straße geworfen 
zu werden. 

* ‘ * 

Auch das Straßenkind in feiner grauenhaften amerikaniſchen Prägung ten- 
nen wir nicht. Unſere großen Städte werden — nehmt alles nur in allem — von 
reinlichen Leuten verwaltet. Sie leitet nicht an unſichtbaren metalliſchen Fäden 
der „Boss“, der Korruptionschef der politiſchen Parteien. Wir haben Baupolizei- 
verordnungen, beſcheidene Anſätze zur Wohnungspflege, und unſere Kommunen 


Bahr: Das Elenb der Neuen Welt 437 


ſorgen mit erfreulichem Eifer, daß inmitten des grauen Einerleis hoher Stein- 
käſten immer wieder Raſenflächen und freie Plätze dem Kind und feinem Spiel 
ſich breiten. Dennoch: ſo ganz fremd iſt das Straßenkind auch uns nicht mehr, 
und auch von der deutſchen Entwicklung gilt in gewiſſem und leider nicht ganz ge- 
ringem Umfang das Wort Hunters, daß fie bei dem Beſtreben, ſich auf das neue 
ſtädtiſche und induſtrielle Leben einzurichten, das auf der Grundlage von Dampf 
und Elektrizität entſtand, das Kind überſehen hat. Auch bei uns findet der Vater, 
den die moderne Arbeitsvereinigung in die Fabrik treibt, nie, die Mutter nur ſelten 
tagsüber Gelegenheit, ſich um das Kind zu kümmern. Küche und Kammer find für 
fein Spiel zu eng, und aus dem Hof verjagt es das ſtrenge Geheiß des unerbitt- 
lichen Hausvogts. So bleibt, da Anlagen nicht immer erreichbar find, für die Mehr- 
zahl auch nur die Straße. Die Straße mit ihrem Lärm, mit ihrem toten, ſchmutzi- 
gen Steinpflaſter und ihren tauſenderlei widrigen Eindrücken. Auch unſere Groß- 
ſtadtjugend wächſt zu bedauerlich ſtarken Prozentſätzen ohne Zufammenhang mit 
der Natur auf und ohne die Antriebe, die die innige Berührung mit ihr dem Gemüts- 
leben leiht. Sie kann Roggen von Weizen nicht unterſcheiden und den Ruf der 
Nachtigall nicht vom Triller der Lerche. Dafür öffnet fih ihr vorzeitig ein entſetz⸗ 
liches Verſtändnis für alle Nachtſeiten des Großſtadtlebens, und wer Gelegenheit 
hat, auf den Rummelplätzen und den Tanzböden der Peripherie die Halbflüggen 
zu beobachten, dieſe Rudel bleicher, verlebter Bengel und dieſe Mädchen, für deren 
freche Frühreife es kein Geheimnis mehr gibt, den friert zuweilen bei dem Ge- 
danken an die Zukunft unſeres Volkes. Darum wird es auch für uns Zeit, uns der 
Kinder wieder zu erinnern. Hunter denkt an Ausbau und Weiterentwicklung der 
Schule. An Angliederung von Gärten, Plätzen, Turnhallen, Werkſtätten an die 
Schule, die ſo an die Stelle zu treten hätte, die in einfacheren Epochen, bei einer 
anderen Organiſation der Geſellſchaft und unter anderen Formen der Wirtfchaftes- 
verfaſſung der Familienverband noch zu löſen imſtande war. Die Geſellſchaft 
trägt ſchuld, daß er's nicht vermag. Darum hat ſie auch für den Erſatz zu ſorgen, 
für eine angemeſſene Erholung und Beſchäftigung des Kindes in den Stunden, 
da es von Lehre und Lernen nicht in Anſpruch genommen wird. Der Schluß iſt 
logiſch und bündig, und es kann wohl ſein, daß eine ſpätere, in ſozialen Stücken 
reifere Zeit ihn einmal ziehen wird. Für heute verhüten Schulzwang und Kinder- 
ſchutzgeſetz uns wohl noch die gröbſten Abel. Das Problem des Straßenkindes 
heißt bei uns überhaupt anders. Das ſind die Minderjährigen, die die Schule nicht 
mehr erfaßt und die große Erziehungsanſtalt der allgemeinen Dienſtpflicht noch 
nicht in ihre ſtrenge und heilſame Zucht genommen hat. Wer bei uns rettungs- 
los verwildert, verwildert mett zwiſchen dem dreizehnten und zwanzigſten Jahr. 
Für diefe Altersſtufen — far die aber unverzüglich — ſollten wir zunächſt ſoziale 
Inſtitutionen ſchaffen. 
* = *. 

Noch eines: wenn man fo will — ein Rafjenproblem. In einem bejon- 
deren Kapitel feines Buches ſpricht Hunter mit eindringlichem Ernſt vom Ein- 
wanderer. Von dieſen Hunderttauſenden von Chineſen, Kroaten, Griechen, Stalie- 
nern, Litauern, Ungarn, Polen, Portugieſen, Ruthenen und Slowaken, die von 


438 Wolframedorff-Gaars: Aphorismen 


ftrupellojer Profitwut Fahr um Fahr auf die ungelernten Arbeiter Nordamerikas 
losgelaſſen werden. Von Haus aus bediirfnislofer, find fie zur Arbeit um jeden Lohn 
bereit, auch zur widrigſten und am längſten dauernden. Der Gewohnheiten, der 
Sprache und der Geſetze des Landes unkundig, fehlt ihnen jede Möglichkeit einer 
Verſtändigung mit ihren Arbeitskameraden; auch wohl die Einſicht in die Not- 
wendigkeit gelegentlicher gemeinſamer Abwehr. So find fie die geborenen Streit- 
brecher; eine widerſtands loſe Kohorte, die um jeden Preis und unter allen Be- 
dingungen zu haben ift und das Streben der kulturell höher ſtehenden amerikani- 
ſchen Arbeiter nach einer Verbeſſerung ihrer Lage von vornherein zunichte macht. 
Sie daneben auch aus der znduſtrie- und Tagelöhnerbevölkerung verdrängt. 
„Die Amerikaner verſchiedener Oſtſtaaten“, klagt Hunter, „ſind aus der Klaſſe, 
auf der bekanntermaßen die eigentliche Volksvermehrung beruht, ausgerottet wor- 
den.“ Als ich das las, habe ich immer wieder an Rheinland Weſtfalen denken 
müſſen. Natürlich nehmen die Dinge jenſeits des großen Waſſers gleich gigantiſche 
Formen an. Aber etwas Ahnliches beginnt im Zuſammenhang mit den deutſchen 
Binnenwanderungen ſich doch auch bei uns zu bilden. Derſelbe Dr. Südekum, 
dem wir die Uberfekung des Hunterſchen Buches verdanken, hat im Verein mit 
ſeinem Parteigenoſſen Dr. Lindemann im vorigen Jahr zum erſtenmal ein „Kom- 
munales Jahrbuch“ herausgegeben (Jena, Guſtav Fiſcher); ein groß angelegtes, 
mit erſtaunlichem Fleiß zuſammengetragenes Werk, das auf nahezu 900 Seiten 
einen Überblick über die Entwicklung der kommunalen Verwaltung und ihrer ver- 
ſchiedenen techniſchen, hygieniſchen, rechtlichen und ſozialen Probleme gibt. 

Das zeigt in trockener Sachlichkeit, in nüchternen, gewiß ohne jede Abſicht 
weitergegebenen Zahlen, wie mächtig im Herzen deutſchen Landes das minder- 
wertige flawifhe Element anſchwillt; wie der eingeborene Arbeiter, weil er höhere 
Anſprüche hat, ihm weichen muß und an Stelle eines deutſchen Kernvolkes von 
herber, reizvoller Eigenart ein aus Unkultur und Bedürfnisloſigkeit gezeugtes 
Raſſengemiſch unſerer Noten Erde entſpringt. „Wir brauchen eine Weſtmarken- 
politik!“ hat mir einmal ein ſicher nicht nationaliſtiſch gerichteter ſozialdemokrati- 
ſcher Parlamentarier geſagt. Das Buch von Sunter läßt ahnen, wie ſehr wir ſie 
einmal brauchen könnten. Wie es überhaupt für den, der es richtig zu leſen ver- 
ſteht, durchaus „eigene Sachen“ verhandelt. Ich wünſche ihm viele nachdenkliche 


deutſche Leſer. 
LY 
Aphorismen 


| Von 
Melanie von Wolframsdorff⸗ Baars 


Im Grunde kommt es in unſerem Leben nicht darauf an, was wir getragen, ſondern 
wie wir es getragen haben. 
* 


gochbegabte Menſchen bedürfen nur der Anregung. Wir andere brauchen der Be- 


lehrung. 
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ze es 
Kees 


22 


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—_ IJ, 


Die Briefe des alten Joſias Köppen 


Von 


Marie Diers 


Fortſetzung) 


Greeſchenbock, Freitag den 8. September 1893. 
yeg Liebe Elfe! 
N ch will Dir diesmal auf Deinen Geburtstagsbrief antworten, weil 
einiges darin ſteht, darauf wohl eine Antwort gehört. 

Wenn Dein Mann krank ijt, fo muß er eben zuſeh'n, daß er wieder 
geſund wird und zwar möglichſt ſchnell, damit er nicht ſeine Familie 
ganz und gar ins Elend bringt. Kannſt ihm nur von mir beſtellen, ein kräftiger Wille 
täte da Wunder. Weichlich fein und jammern und fih pflegen laffen, könnten viel- 
leicht reiche Leute, aber ſo einem Viertelhunderttalerherrn käme das nicht zu. 

Sch) weiß wohl und will Dir das auch anerkennen, daß Du mich um nichts 
bitteſt in Deinem Brief. Ich will's auch geſteh'n, daß ich recht mißtrauiſch war, 
als ich von der Krankheit las. Aber es iſt nur gut, daß Du doch wenigſtens noch 
fo viel Ehrgefühl haſt, daß Ou fiir dieſe Sorte von Mann nicht bei mir betteln gehſt. 

Nein, ich lege keinem was in den Weg, jeder mag bleiben, wie er iſt, aber 
Ehre, dem Ehre gebührt. Und der, dem keine gebührt, der muß eben zuſeh'n, auch 
ohne auszukommen. 


IE 


Dein Vater Fofias Köppen. 

* Lé 
* 
Greeſchenbock, den 3. Dezember 1895. 

Liebe Elſe, ich bin doch ſehr erſchrocken, ich drehe Deine paar Worte hin und 
her und nehme fie immer wieder. Den Wagen zur Kirche habe ich wieder abfpan- 
nen laffen. Gite, er ift tot? Woran denn? Zit er ſeitdem nicht wieder geſund ge- 
worden? Zt das fo ſchlimm geweſen? Einen Brief habe ich ſeitdem von Dir nicht 
mehr gekriegt, haft auch wohl nicht zum Schreiben kommen können? Fd ſchreibe 
ſo undeutlich, aber mir zittert die Hand vor Schreck. Wenn ich nur wüßte, wie das 
gekommen iſt. | 

Rann das wohl fein, Elfe, daß ich da noch hätte etwas helfen können? Aber 
dann hätteſt Du Dich doch deutlicher ausdrücken muͤſſen. Aber Du haft auch wohl 
gedacht — ach, ich bin ſo dumm im Kopf, ich weiß kaum, was ich ſchreibe. 


440 Diers: Die Briefe des alten Joſias Köppen 


Schreib nur bald. Wie es kam und alles. Ob Du geſund biſt und was das 
arme Kind macht. Daß ich doch ein bißchen klarer Beſcheid weiß. Mir dreht ſich 
ja alles im Kopf. 

Dein Vater. 

(Nachſchrift mit Bleiſtift.) Ich bin Lepel noch nachgerannt, habe den Brief 
nochmal aufgemacht und ſchreibe auf einem Zaunſtück. Entſchuldige man die 
Schrift. Ich habe in meiner Oöſigkeit ganz vergeſſen, Dir zu ſchreiben, daß Ou 
mit dem Kind herkommen ſollſt. Haſt Du denn Geld zum Reiſen? Deine Wöbel 
verkaufe nur, Du boat ja hier genug. Wundere Dich nicht über die fremde Auf- 
ſchrift auf dem Kuvert, Lepel wird in Friedenſee adreſſieren. 


$ * 


Greeſchenbock, Sonntag abend. 
Denſelben Tag. 
Liebe Elſe! 

Ich fike vor dem großen Briefbogen, aber ich weiß nicht, was ich Dir ſchreiben 
ſoll, ehe ich nicht eine nähere Nachricht von Dir habe. Komm nur bald. Dann 
wird ja alles klar werden und zurechtkommen. 

Liebe Tochter, das wollte ich Dir nur noch ſagen: Es iſt ja vielleicht an dem, 
daß ich ihm doch unrecht getan habe. Das ſollte mir f e br leid fein, und ich bitte 
Dich dann um Verzeihung. Denke nur nicht mehr daran, ich habe es ja auch nicht 
beſſer gewußt. | 

Sh möchte da wohl hinüberſehen können, ob Du da jetzt in großer Betrüb- 
nis ſitzſt, und wie das alles gekommen iſt. 

Dein getreuer Vater 
Joſias Köppen. 


Den 9. Dezember 1893, 

Liebe Elſe, heute iſt ſchon Sonnabend, und ich habe noch keine Antwort von 
Dir. Jeden Morgen warte ich. Du haſt wohl noch mit dem Begräbnis zu tun ge- 
habt. Aber das muß doch jetzt vorüber ſein. Ich muß mir immer vorſtellen, was 
Du wohl tuſt, und wie das nur ſo gekommen iſt. Ob er ſeitdem krank iſt, ſeit Du 
es zu meinem Geburtstag ſchriebſt. 

Nimm Dir nur nicht zu Herzen, was ich darauf antwortete. Ich bin auch 
ein armer Menſch und kann mich irren. 

Hajt Du die Möbel ſchon verkauft? Gib mir nur Nachricht, wann Du kommſt. 

Dein Vater. 


* * 
* 


Den 14. Dezember 1895. 
Liebe Gite, Ich lege Dir eine Briefmarke bei, damit Du mir antworteft. 
Biſt Du etwa ſelber krank? Dann iſt doch gewiß eine Aufwärterin oder Deine 
Wirtin oder ſonſtwer, der mir ſchreiben kann. Soll ich kommen? Schreib nur bald. 
Dein Vater. 


* * 
a 


Piers: Die Briefe bes alten Joſias Röppen 441 


Freitag, den 15. Dezember 1893. 
Liebe Elſe! 

Deinen Brief habe ich heute endlich erhalten, und mein letzter, in dem eine 
Briefmarke beiliegt, iſt noch unterwegs. Es iſt ja nur gut, daß Du lebſt und ſchreiben 
kannſt, ich war ſchon ſehr in Sorge. 

Der Inhalt Deines Briefes aber könnte beffer fein. Daß Dein Mann an 
Schwindſucht geſtorben ift, dafür kann er ja nichts, das hat ihm der Herrgott ge- 
ſchickt. Aber daß er, der doch gewiß ſchon immer die Krankheit in ſich gefühlt hat, 
ein junges, geſundes Mädchen geheiratet und ins Unglück geſtürzt hat, das iſt ein 
großes Unrecht von ihm geweſen. Und von Dir, Elfe, ift es ein ebenſo großes Un- 
recht, daß Du jetzt in allem dieſem Elend Deinen Kopf aufſetzen und nicht nach 
Haufe kommen willft, darum, weil ich Deinen Mann nicht geachtet habe. 

Jawohl, das iſt in Deiner Lage ein ſchlechter und törichter Trotz. Was Du 
Dir wohl verdienen willſt! Wie bald wirſt Du mit Deinem armen Wurm in Hunger 
und Kummer fiken. Das ift nicht Mut, das ift ſündliche Vermeſſenheit. Du h a ft 
einen Vater, der Dich ruft und für Dich und des fremden Menſchen Kind ſorgen 
will. Das haſt Du dankbar und gehorſam anzunehmen. Ou bift nicht in der Lage, 
die Stolze zu ſpielen. f 
Qa, ich habe Dir geſchrieben, ich hätte Deinem Mann vielleicht unrecht getan. 
Aber das kam mir ſo im erſten Schreck angeſichts des Todes. Der Tote verlangt 
Ehrfurcht und ich habe dem ſchlechteſten Kerl im Dorfe nichts Böſes nachgeſagt, 
wenn er vor mir auf der Bahre gelegen hat. Aber wenn ich jetzt darüber nachdenke, 
was ich über Deinen Mann gejagt habe, fo ift das ganz ruhig und beſonnen ge- 
weſen und ich kann es nicht widerrufen. Ich habe geſagt, er wäre kein Mann der 
Arbeit und nehme das Leben nicht ernſt, wie alle Künſtler tun, und es hat mich 
bitter gekränkt, daß mein einzigſtes Kind ihren Vater verlaſſen hat und mit einem 
heimat- und grundſatzloſen Muſikanten gegangen iſt. 

Freilich, der Tod löſcht alle Schuld. Ich habe dem Manne nichts mehr vor- 
zuwerfen, und all mein Menſchentadel trifft an ihn nicht mehr heran, der vor 
einem höheren Richter ſteht. Aber wenn ich leſe, wie Du ihn nicht nur geliebt, 
ſondern auch verehrt haſt, dann muß ich doch wieder mit dem alten Groll und 
Zorn kämpfen, gegen ihn, der mein geſundes, klaräugiges Kind mir noch bis über 
ſein Grab hinaus verführt und verblendet hat! 

Elſe, unſer Zuſammenwohnen wird nicht eitel Zuckerleben ſein. Erſt mußt 
Du Wahrheit und Irrtum zu unterſcheiden lernen, ehe es zwiſchen uns wieder 
hell wird. Und das werde ich mit Gottes Hilfe erreichen an Dir, nicht nur um 
mich und Dich, ſondern auch um des armen Kindes willen, das doch auch Dein 
Kind und mein Enkel ift. Es hat ein verhängnisvolles Erbteil im Blut: das Rünftler- 
gewiſſen, das kein Gewiſſen iſt. Da gehört viel geſunde und kräftige Landluft dazu, 
ihm das auszutreiben und einen tüchtigen Menſchen daraus zu machen. 

Er iſt ja noch klein, die Eindrücke werden ſich verwiſchen laſſen, und was von 
dunklen Regungen in ihm iſt, werde ich beſſer zu erkennen und zu unterdrücken 
verſtehen als Du. Laß ihn nur zu ſeinem Großvater kommen. Er wird ihn nicht 
mit weichen Händen anfaſſen, ihm auch nicht den ganzen Tag lang Klavier vor- 


442 Diers: Die Briefe des alten Zoſias Köppen 


ſpielen, aber wenn der Junge groß iſt, wird er vielleicht noch einmal für deſſen 
Erziehung dankbar ſein. 

Nun aber überwinde Du erſt Deinen törichten Trotz. Wie willſt Du Mutter 
fein, ehe Du gehorſames Kind geweſen biſt? Wie willft Du Dein eigenes Kind 
leiten, wenn Du ſelber Dich in blindem Unverſtand verſtockſt? Lern Ou erſt Dich 
ſelber überwinden, dann wirſt Du auch andere überwinden. 

Haſt Du einen guten Händler da, der die Möbel zu anſtändigen Preiſen ab- 
kauft? Alte Möbel bringen ja nie viel, man muß da immer mit Verluſten rechnen. 
Aber das hilft nun mal nichts. Was ſollſt Du den Krempel herſchleppen, hier ſteht 
er ja nur unnütz rum, und jeder Schrank und Tiſch und Stuhl hier fällt Oir ja doch 
mal zu. 

Schreibe mir nun genau darüber, ehe Du abſchließeſt. Ich habe ſchon daran 
gedacht, Dir den Tiſchler Heiſe zu ſchicken, der iſt praktiſch für zehn. Das Reife- 
geld käme ſchon dabei heraus. Aber ich muß erſt von Dir Antwort haben, ob Ou 
vielleicht ſchon in Verhandlungen eingetreten biſt, Dann wäre das ja überflüſſig. 

Nun laffe mich aber nicht wieder fo lange warten. Du haft nichts Wichtige 
res vor als den Briefwechſel mit mir. Dienstag ſpäteſtens kann ich auf Antwort 
rechnen, dabei laſſe ich Dir noch reichlich Zeit. 

Es wird jetzt übrigens fo dicht vor Weihnachten vielleicht eine ſehr günftige 
Zeit zum Verkaufen fein, falls Du Dich ſehr beeilſt. Inſeriere nur in die dor- 
tigen Blätter und nimm für die Sachen etwa drei Viertel des Einkaufspreiſes. 
Unter der Hand an Private ift fo etwas immer am beſten. Sei recht ruhig und 
beſonnen dabei, meine Tochter. | 

Dein Vater. 
k $ * 
Greeſchenbock, Montag den 18. Dez. 
Liebe Elſe! 

Deine Antwort kam ſchnell genug, aber es wäre mir lieber geweſen, Du 
hätteſt Dich etwas länger beſonnen und mir dann verſtändiger geantwortet. 

Mich ärgert dabei nur, daß durch Dein Sperren und Trotzen und Deine un- 
vernünftigen Redensarten, die Du über Deines verſtorbenen Mannes Ehre machſt, 
als würde er hier beſchimpft und beſudelt, die ſchönſte Zeit zum Möbelverkauf 
vorbeigeht. Nun iſt es natürlich zu ſpät. Und Du haſt vielleicht Hunderte von 
Mark eingebüßt, weil Du an Private, und gerade jetzt zu Weihnachten, fo viel 
vorteilhafter hätteſt verkaufen können. 

Was Oeine Einwendungen betrifft, ſo will ich auf das einzelne nicht mehr 
zurückkommen, lies nur meinen vorigen Brief noch mal durch. Daß dem Kinde 
das Andenken ſeines Vaters hier getrübt würde, iſt auch ſolche Redensart, die nichts 
vor und nichts hinter hat. Von dem Andenken ſeines Vaters wird er weder ſatt 
noch ein ordentlicher Kerl, ſondern davon, wie er ſelbſt erzogen und gerichtet wird. 
Sft ja gut, wenn man das Andenken des Vaters hochhalten kann, ift auch bei uns 
Köppens bisher immer der Fall geweſen. Wenn ſich's aber nun mal nicht machen 
läßt, mein’ Tochter, fo fällt ein richtiger Fung’ deswegen noch nicht gleich auf den 
Rüden. Mußt nicht mit weichlichem Larifari; dem Jung das Oaſein verbuttern, 


Diers: Die Briefe des alten Zoflas Röppen 443 


Du verſtehſt eben von Jungserziehung nod nichts und kannſt Gott danken, daß, 
wenn kein Vater da ift, ein Großvater zur Stelle fteht. 
Ach ja, mein' Tochter, man kann in dieſem an ſich traurigen Fall immer 


noch ſingen: Was Gott tut, das iſt wohlgetan, 
Es bleibt gerecht ſein Wille, 


was ſie an dem Sarge von unſerem alten, guten Paſtor ſangen. Damals mußte 
man ſeinem Herzen aber noch mehr einen Stoß geben, an die Vahrheit dieſes 
ſchönen Liedes zu glauben, als wie man heute braucht. 

Ach Elſing, ich muß viel unnützliche Worte reden, weil Du noch ſo ſtörrig 
biſt wie ein Kind. Das ſchöne Geld für die Möbel iſt nun ſchon hin. Nun nimm 
Dich zuſammen und lern Vernunft. Im nächſten Brief erwarte ich beſtimmte 
Angaben. Kannſt gern damit dieſe Woche durchwarten, denn mit der Ausſicht, 
daß Du zu Weihnachten hier biſt und das arme Kind einen Baum zu ſehen kriegt, 
wie Mamſell hoffte, iſt's nun wohl nichts mehr. 

Oein getreuer Vater. 
* ‘ * 
Am Morgen des heiligen Abende. 
Liebe Tochter Elfe! 

Nun wollen wir es aber genug ſein laſſen. Ich hab' Dir lang genug geduldig 
zugehört und Dich einen unvernünftigen Brief um den andern ſchreiben laſſen. 
Zeit habe ich Dir auch genug gelaſſen. Bin nicht wie ein ſtrenger Vater mit Dir 
geweſen, der zu befehlen hat, ſondern wie ein Ratgeber und Helfer, denn ich habe 
mir geſagt: Sie iſt ja doch nun auch erwachſen und hat ſelber ein Kind. Aber ſo 
wie Du Did beträgſt, rechtfertigſt Du mein Vertrauen nicht. Du beträgſt Dich 
wie ein ſtörriſches Kind, das die Rute haben müßte. 

Was willft Ou denn eigentlich arbeiten, um Dir und dem Jungen das Leben 
zu verdienen? Gelernt halt Du ja doch nichts Ordentliches, nicht einmal zur Lepre- 
rin haft Du es gebracht wegen Deiner Liebelei, und obwohl das Geld bis zu Ende 
bezahlt werden mußte. Willſt Ou vielleicht bei Herrſchaften waſchen gehn und 
Sein Kind auf den Boden der Waſchküche ſetzen wie Fiek Ballermann und Line 
Tromp? Dente man nicht, daß ich damit ſpaße, mir iſt's nicht nach dem Spaßen 
zumut. Es ijt mir bitterlicher Ernſt, viel bitterlicher, als für das heilige Weihnachts- 
feſt paßt, in das wir jetzt hineingehen. 

Mamſell ſagte: „So einen hübſchen lütten Baum hatte ich mir ſchon holen 
laſſen, Wilhelm Neumann hat ihn gebracht. Und die Ketten dafür habe ich letzte 
Nacht gemacht. Da hätte der lütte Jung’ doch feinen Spaß daran gehabt. Was 
weiß ſo'n Kind von Tod und Sterben?“ 

„Ja, Mamſell,“ ſage ich, „den Baum ſchenken Sie man Fiek Ballermann 
für ihre Jören.“ Was weiß fo'n Rind von Tod und Sterben! O ja, feine Mutter 
wird's ihm ſchon beibringen. Er wird's ſchon lernen müſſen, das arme Wurm, 
daß die Welt ein Jammertal iſt. 

Elſing, bringſt Ou das eigentlich übers Herz? Wenn ich über den Hof gucke 
und ich denke, der Jung’ läuft da lang, wenn dann erft Frühjahr wird, und kriegt 


444 Diers: Die Briefe bes alten Zoſias Köppen 


alle Tage die ſchönſte Milch warm aus dem Stall — und fikt jetzt da, blaß und ver- 
hungert, und ſoll vom „Andenken ſeines Vaters“ leben, da möchte man lachen und 
weinen, in eins. Was kaufe ich mir für alle Deine Redensarten! Ein Topf voll 
Kartoffel und ein tüchtiges Stück Fleiſch darauf ſind beſſer im Leben und Sterben. 
ich denke immer noch, mein Diern, Du kommſt noch zur Vernunft. Nun 
naht das ſchöne Weihnachtsfeſt, da wird Dir ja wohl das Herz wieder ſchwer ſein, 
na, laß man, ich will Dich ja auch in Oeiner Trauer nicht ſtören, das iſt ja auch 
natürlich und richtig. Aber wenn das Feſt vorbei iſt, Elſing, dann trockne Deine 
Tränen ab und gib dem Leben wieder fein Recht. Ja, wenn Du das Kind nicht 
hätteſt, aber ſo haſt Du Deine Pflichten gegen ſeinen Leib und ſeine Seele. 
Das bedenke Dir im Ernſt. 
Dein getreuer Vater 
Sofias Köppen. 


* $ 
* 


Am letzten Tage des Jahres 1893. 

Ou willft alfo nicht. Dies Jabr foll alfo ſchließen, wie es begonnen hat: 
in Zwietracht Vater und Kind. Nun, ich kann Dich nicht zwingen. Gehe Deinen 
eigenen, vermeſſenen, hochmütigen, verſtockten Weg des Verderbens. Du mit 
Deinem armen Kinde. 

Es nützt gar nichts, daß Du mir in Deinem letzten Brief weiche Worte gibjt 
und mir einreden willſt, daß Du mich liebſt und ehrſt, auch wenn Du mir nicht 
gehorchen kannſt. Solche Liebe, mein Kind, iſt eine Seifenblaſe, von der man 
lieber nicht ſchön reden, ſondern ſie ihrem Schickſal überlaſſen ſollte. Gebe nur 
Gott, daß Du an Deinem Kinde nicht dermaleinſt büßen müſſeſt, was Du an Dei- 
nem Vater geſündigt haſt. 

Du verſchmähſt ein „Wohlleben“ an dem Ort, an dem Euer Mann und Vater 
verfemt und verachtet wäre. Ja, das hört ſich pompös an, und ift doch nichts da- 
hinter. Aber das habe ich Dir all lang auseinandergeſetzt, und es widert mich, 
nochmal davon zu ſchreiben. Jd rede ja doch nur hier für taube Ohren. Ich kann 
den Mann nicht höher achten, als ich kann, aber daß das arme Kind darum an 
Leib und Seele verkommen ſoll, darin ſehe ich noch keinen Zuſammenhang. 

Bin ja freilich auch nur ein ungebildeter alter Landwirt und keiner von den 
Künſtlern, die ja wohl überall Zuſammenhänge feben und machen. 

Wenn Ou denkſt, daß Dein Kind es bei Dir beſſer hat als bei mir, und wenn 
Dir die ſogenannte Ehre Deines Mannes auch noch im Tode höher ſteht als die 
Liebe und das Glück Deines alten Vaters im Leben, fo kannſt Du ja dann auch 
wegbleiben. Hindern kann ich das nicht. Du haſt mich um dieſes Menſchen willen 
Iden einmal verkauft, Du kannſt mich ja auch zum zweiten und letztenmal ver- 
kaufen. Der Narr, der noch einmal auf Verſöhnung und Freude fir feine alten 
Tage hoffte, der war ich. 

Dann bleibe alfo, wo Du but, 

Dein Vater. 


* ké 


Diers: Die Briefe bes alten Zoflas Röppen 445 


Greeſchenbock, Dienstag den 2. Januar 1894. 

Meinem vorgeſtrigen Brief will ich nur noch einen kleinen Nachtrag nach- 
ſchicken. 

Wenn Du alfo auf Deinem Kopfe beharrſt und den Beiſtand in der Form, 
wie ich ihn Dir angeboten habe, verwirfſt, ſo erwarte ihn auch nicht in einer andern 
Form. Die Un vernunft und Verrücktheit unterſtütze ich 
nicht! Sch ſchicke Dir weder Geld noch Geſchenke noch Kleidungsſtücke und leide 
auch nicht, daß Mamſell Dir aus der Wirtſchaft ſchickt. Indeſſen ſage ich Dir eins: 

Ich verſchließe mein Herz noch immer nicht vor Dir. Zch verfluche Dich auch 
diesmal nicht. Wenn Ou ſiehſt, daß Du nicht weiterkommſt, kannſt Du es ruhig 
ſchreiben. Ich nehme Dich auf, und wenn es mitten in der Nacht iſt. Das iſt die 
Form, in der ich Dir helfen und beiſtehen will. Eine andere gibt's nicht. 

Das wollte ich Dir noch ſagen. Dein Vater. 


% * 
a 


Greeſchenbock, Montag den 21. Mai 1894. 
Liebe Giel 

Zu Deinem Geburtstage gratuliere ich Dir. Du haft hoffentlich nicht er- 
wartet, daß ich Dir auf Deine fünf Briefe ſeit Neujahr extra antworten ſollte. 
Ich wußte ja auch nichts, Dir zu ſchreiben. Daß ich den Unſinn und die Günd- 
haftigkeit, die Du da treibſt, auch noch beſchnattern foll, kannſt Ou nicht verlangen. 

Nun fieh nur zu, wie weit Du mit Deinen Klimperſtunden und Nachhilfe- 
ſtunden kommſt. Daß Dir Deine ſogenannten „Freunde“ dabei auch noch bel- 
fen, ift unrecht genug, aber törichte Menſchen, die keine Einſicht und keinen Hber- 
blick haben, gibt's ja überall. Jetzt ift hier holder Frühling geworden, alles treibt 
und blüht, und Dein armes Kind könnte es hier ſchon gut haben. Aber Du weißt 
ja alles beſſer. 

Was ich Dir noch fagen wollte wegen Deines Verdienens: Zegt geht es 
wohl noch, nun der Zunge kaum drei Jahre alt iſt. Du denkſt Dir auch wohl, das 
bleibt ſo. Und der Gedanke kommt Dir wohl gar nicht, daß ein Kind, das einen 
ſchwindſüchtigen Vater hatte, in großer Gefahr iſt und aufs beſte genährt werden 
ſoll. Aber das iſt Dir ja alles egal, wenn Du nur Deinen Kopf durchſetzeſt und 
dem Liebhaber, der Dich ins Unglück gebracht hat, beiſtehſt gegen den eigenen 
Vater. 

Ich kann Dir nur geſtehn: mir liegt diefe ganze Geſchichte ſchwer wie ein 
Stein im Magen. Eſſen tu' ich auch nur noch, weil ich muß. Manchmal ſtehe ich 
nachts auf, ſtecke den Kopf hinaus und denke: Bin ich eigentlich auch ſchon ver- 
rüdt geworden? 

Ja, meine Tochter, Du kannſt Dih freun, was Du aus Deinem alten Vater 
machſt. 

Das überdenke Dir nur an Deinem Geburtstage. Das iſt vielleicht die beſte 
Feier, die Du unter dieſen Umftänden abhalten kannſt. 


Dein Vater. 


a * 
% 


446 Oilers: Die Briefe des alten Zoflas Röppen 


Greeſchenbock, Sonntag den 27. Mai 94. 
Liebe Elſe! 

Auf Beinen Brief will ich Dir diesmal gleich antworten, weil ſonſt alles 
ein großes Mißverſtändnis wird. Das iſt nicht an dem, daß Du Hals über Kopf 
herkommen ſollſt, um mich zu tröſten und mir ſchön zu tun, darum, weil mir die 
Luſt am Eſſen und Schlafen vergangen iſt. Das ſtellſt Du Oir doch zu leicht vor. 
Denkſt, ich bin ein alter plinſender Narr, der in der Ofenecke ſitzt und nach ſeiner 
Tochter greint, daß ſie kommt und ihm die Backen ſtreichelt und ihn betut wie einen 
alten müden Hofhund, der das Gnadenbrot kriegt. Nein, da haſt Du das doch falſch 
verſtanden. Aber das kommt, weil Ou ſelbſt ſchon verweichlicht und verſchlampt biſt. 
Mit Tröſten und Küſſen kriegt man kein Unglück aus der Welt, aber mit Handeln. 

Wenn Du herkommſt, Elfe ſollſt Ou mit Sack und Pack, 
mit Leib und Seele und allem, was Du biſt und haſt und 
willſt und tuft, herkommen. Seine alte, verwirrte Welt ſollſt Ou hinter 
Dir laſſen. Nackt und bloß an der Seele wie ein neugebornes Kind ſollſt Du vor 
mich treten: Da, Vater, nimm mich wieder! Schalte, wie Du willſt! Sch verlange 
und gebiete Dir gar nicht, daß Du auf Knien liegſt: Vergib mir, ich hab gefün- 
digt im Himmel und vor dir — und wie die ſchönen Reden lauten. Brauch' ich gar 
nicht, will ich gar nicht. Brauchſt mir keine Muſik in die Ohren zu machen, dafür 
bin ich nicht poetiſch genug, bin ein einfacher alter Landmann, der das Rechte und 
Vernünftige will und weiter nichts. Brauchſt überhaupt nichts zu ſagen oder große 
Verſprechungen zu machen. Zit ja alles Klimbim mit nichts hinter. Sollſt nur 
herkommen und alles dumme Zeug vergeſſen und Deinen Vater walten laffen. 

Wenn's Dich grämt, daß Dein Kind dann keinen Vater hat, ſo hat es eben 
einen Großvater. Ach Dierning, das geht manch anderen auch noch ſo. Mußt 
Dich nicht ſo haben. Mußt an das Beſte des Kindes denken. 

Wird's Dir nicht jetzt allmählich doch klar? 

Alſo: zum Beſuchen oder Tröſten oder dergleichen Firlefanz ſteht Dir mein 
Haus nicht offen. Hat ja keinen Sinn und Verſtand, iſt ja nur Komödie. Aber 
als Vaterhaus und Heimatsort ſteht es Dir Tag und Nacht offen. 

Nun muß doch endlich Dein harter Sinn geſchmolzen ſein. Dich grüßt 


Dein getreuer Vater Ge SES Köppen. 


* * 
* 


Ein leeres Rupert. 
An Heren Zofias Köppen, 
Greeſchenbock bei ge, 
Anmerkung des Briefträgers: Annahme verweigert. Poſtſtempel Frieden- 
jee 9. 6. 1894. Zurück an Frau us Harting, Erfurt. 
Lé 
Ein leeres Kuvert. 
An Herrn Zofias Köppen, 
Greeſchenbock bei Pöpplitz. 
Annahme verweigert. Friedenſee 29. 6. 1894. Zurück an Frau Elfe Har- 
ring, Erfurt. 


* e & 


Piers: Die Briefe bes alten Zofias Röppen 447 


Greeſchenbock, 1. Juli 94. 
Teile Dir hierdurch mit, daß ich keine Briefe mehr annehme, denn ich habe 
mich jetzt über das Maß hinaus damit aufgeregt. Wenn Du anderen Sinnes ge- 
worden biſt, teile mir einfach auf einer offenen Poſtkarte mit, daß und wann Du 
mit dem Kinde auf dem Bahnhof in Pöpplitz eintriffſt. Alles andere hat keinen 
Sinn mehr. Ich habe meine Worte erſchöpft, und Deine kann ich nicht mehr hören. 
Lebewohl. — Vielleicht auf Wiederſehn, vielleicht zum letztenmal auf dieſer 
Erde. Möge bei einem Wiederſehn in einer anderen Welt der höchſte Richter 
Dir und mir gnädig ſein. 
Dein Vater Joſias Köppen. 


* * 
xK 


Ein leeres Kuvert. 
An Herrn Fofias Köppen, 
Greeſchenbock bei Pöpplitz. 

Annahme verweigert. Friedenſee 30. 5. 1895. Zurück an Frau Elſe Harring. 

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Ein leeres Rupert. 
An Herrn Fofias Köppen, 
Greeſchenbock bei Pöpplitz. 
Annahme verweigert. Friedenſee 2. 1. 1896. Zurück an Frau Elſe Harring. 
EI * 
* 
An Fräulein Raroline Röppen, 
Adr. Frau Elfe Harring, Erfurt. | 
Greeſchenbock, 18. Mai 96. 

Liebe Schweſter! Eben Deinen Brief erhalten. Erſt wie ich ihn öffne, ſehe 
ich, daß Du in Erfurt biſt. Fit es gefährlich mit Elfe? Wie ift denn das nur ge- 
kommen? Davon habe ich ja keine Ahnung gehabt. Ich habe im Januar einen 
Brief von ihr zurückgeſchickt, darin ſtand vielleicht ſchon, daß ſie krank iſt. Herr, 
mein Gott, warum hat ſie mir keine offene Poſtkarte geſchrieben, die hätte ich ja 
geleſen. Ach ja, ja doch, es ſoll alles geſchehen, was nötig iſt, alles und alles. Sieh 
es nicht aufs Geld an. Was kommt's darauf an, für fie liegt's doch bloß hier. Nur 
nicht bei irgendetwas denken, es wäre zu teuer. Nimm mehrere Arzte, die beſten, 
einer irrt ſich doch oft. Laß einen Profeſſor aus Berlin kommen, es handelt ſich 
ja um Tod und Leben. Liebe Line, ich habe es ja nicht böſe machen wollen mit 
Elſe, dachte jeden Tag und jeden Abend: Sie ſchreibt doch noch, ſie kommt doch 
noch. Ohne das lebte ich gar nicht mehr und wäre nicht mehr hier. Aber was rede 
ich, das iſt ja jetzt alles egal. Lepel nimmt den Brief gleich mit retour. Ich kann 
es nicht klug kriegen, was ihr eigentlich fehlt. Du ſchreibſt hauptſächlich bloß 
vom Fieber. Es iſt doch nicht — aber nein, das ſchreibe ich nicht aus. Das verhüte 
Gott in ſeiner unendlichen Barmherzigkeit! 

Liebe Schweſter, denkſt Du, Elſe mag mich jetzt ſehn und ich kann da was 
helfen? Sonſt iſt's am beſten, Du bringſt ſie her, ſowie ſie reiſen kann. Sie braucht 
fih nichts dabei denken, ich will gar nichts von ihr. Nur daß fie fic erholt und wie- 
der friſch wird. Dann kann ſie ja wieder gehen. Sag's ihr nur. Es ſoll nur ſo ein 


448 Diers: Die Briefe des alten Zoſias Röppen 


kleiner Ferienbeſuch fein. Ja, ja, das wird ſchön. Sch richte hier alles ein, fie kriegt 
die große blaue Stube nach hinten, weil ſie da den Garten vor den Fenſtern hat, 
und wenn ſie etwa noch nicht gehen kann, den kleinen Zungen im Auge hat, wenn 
er draußen ſpielt. Was meinſt Du, ob ich dem nicht ſo einen kleinen Leiterwagen 
machen laſſe? Oder womit ſpielt man in dem Alter? Gib mir man Beſcheid, ich 
weiß ſo wenig davon. Reiten kann er auch, erſt auf dem alten Butterſchimmel, 
ehe er ſicher iſt. 

Nun lege ich alles in Deine Hände. Zur Sicherheit ſchicke ich gleich drei- 
hundert Mark an Didh ab. Sieh es nicht auf die Koſten an und ſieh, daß Elſe ordent- 
lich kräftige Bouillon kriegt und Eier. Fh hab' ſchon immer und immer ſolche 
Angſt gefühlt, ſie ißt ſich nicht ſatt. 

Lepel muß fort, ich ſchließe. 

Dein Bruder Zofias. 

Verſäume nur nichts. Wenn Ihr mehr Geld braucht, ſchicke ich mehr. Es 
iſt ja nur für Elſing da. 

Lé 
* 

Depeſche. Aufgegeben Friedenſee 21. Mai 1896. Vormittags 11,50. 

Depefdhe erhalten. Ich komme ſofort. Telegraphiere nach einem Pro- 
feſſor. Verſprich den Arzten die höchſten Honorare. Verſäume nichts. 

Köppen. 
* x *. 

Oepeſche. Aufgegeben Friedenſee 21. Mai 1896. Nachmittags 4,15. 

Depeſche erhalten. Ich komme nicht. Bringe die Leiche und das Kind 
hierher. Ich komme an die Bahn entgegen. 


l Sonntag, den 25. Oktober 1896. 
Meine liebe, gute Tochter Elſe in der beſſeren Welt! 

Es wird jetzt wieder Herbſt und Winter, und hier ſitze ich, ein alter, ein- 
ſamer Mann. Hier habe ich an Dich geſchrieben, gut und böſe, und habe Dich 
immer lieb gehabt. Darum habe ich ſo ſchrecklich mit Dir gekämpft und gerungen, 
daß Du denken mußteſt, ich hätte Dich nicht mehr lieb. Es wird wohl nicht die rich- 
tige Liebe geweſen fein, denn ſonſt hätte Gott nicht fo furchtbar ernſt zu mir ge- 
ſprochen. Aber Liebe iſt's doch geweſen, wo käme ſonſt dies zerriſſene Herz her? 

Ich fange jetzt mit den Briefen wieder an, wie einſt in der guten, ſchönen 
Zeit. Ich ſchreibe wieder an Did, mein liebes Kind. Wenn die Leute das wüßten, 
würden ſie ſagen, ich habe meinen Verſtand verloren. Vielleicht iſt es nicht einmal 
ſo ganz unrichtig. Aber ich kann nicht anders. Wie es ſcheint, will Gott mich noch 
auf Erden behalten, vielleicht weil er mich drüben noch nicht brauchen kann. Da 
muß ich etwas tun, das Leben zu ertragen, und ich weiß es jetzt: ich kann es, wenn 
ich Dir ſchreibe. 

Dieſe Briefe werden nicht mehr auf dem Flurtiſch liegen mit einer Marke 
drauf, und Lepel wird ſie nicht mehr mitnehmen. Aber mir iſt ſo, als wenn ſie 
Dich doch erreichen. Als wenn Du, mein Kind, aus ihnen Deines Vaters Not 


Sters: Die Briefe bes alten Jofias Röppen 449 


und Sammer und feine Liebe zu Dir herausleſen und Dich doch darüber freuen 
könnteſt. Ich kann nicht anders als ſo denken. Ich denke, Du ſitzeſt oben in der 
ſeligen Herrlichkeit, aber zwiſchenein warteſt Du doch immer: ob Vater noch nicht 
ſchreibt? Und willſt Nachricht haben von hier unten aus unſerer armen Srdifch- 
keit, vom Leben und Treiben in Haus und Hof und vor allem davon, was Dein 
kleiner Junge macht. 

Elſing, dieſe Briefe kommen in denſelben Blechkaſten mit dem Schloß, der 
jetzt unten links in meinem Sekretärfach ſteht. Wie Du in Deinem Sarge fo ſtill 
in der guten Stube gelegen haſt und ich bin hierherüber gegangen und habe ge- 
ſtanden, ſo zerriſſen und verwüſtet, daß ich meine Wände nicht gekannt habe und 
mir mit den Nägeln habe die Bruſt zerkratzt, da ijt Dein litter Fung’ gekommen 
und hat ſo große Augen gehabt, blauer als Deine, Elſing, aber denſelben großen 
Blick drin, der mich immer fo warm gemacht hat ums Herz, und in fein’ Händchen 
hat er den Blechkaſten gehabt, und im linken ganz ordentlich das kleine Schlüſſel- 
chen. „Das ſoll ich Großvater bringen“, hat er geſagt. 

Ich habe nicht reden können, o nein, ich habe nichts dazu fagen können, aber 
der lütte, liebe Jung’ hat fih gar nicht gefürchtet vor mir. 

Da im Blechkaſten liegt noch Mutters Brautkranz und Dein und Willis 
erſter Zahn und die Bilder. Elſing, Elſing, was iſt das all! Manchmal iſt's, als 
kann ein Menſch nicht ſo viel tragen, und als zerbricht was in einem, wenn man 
ſo alte, ſchöne Dinge wiederſieht. 

Dann haſt Du ganz fein und nach der Ordnung alle meine Briefe drin ge- 
habt. Ach, und ich habe Deine, mein Rind, verbrannt. Wie Du von mir fort- 
gegangen biſt, die erſten, und wie ich Dir geſchrieben habe, ich nehme keine mehr 
an, nur eine offene Poſtkarte, da die letzten. 

Sh weiß jetzt nicht, warum ich's tat. Leicht ift es mir nicht geworden, ich 
hab's wohl tun müſſen. Manchmal ſitzt etwas in einem und macht einen hart und 
kalt. Und nachher ſteht man und wundert ſich, als ob man etwas Fremdes in ſich 
gehabt habe, und man war's doch immer ſelbſt, im Beſten und Schlechtſten. Soviel 
Ratjelvolles gibt es auf der Welt, und im eigenen Buſen weiß man nicht Beſcheid. 

Ob Du jetzt wohl Klarheit über alles haft, mein Elſing? Aber von Dir kriege 
ich keine Briefe mehr. 

Ich denke jetzt über fo vieles nach, daß mir der Kopf ganz wüſt ift. Wenn 
ich abends an Deinem Grab bin, mein Oirning, dann denke ich: da ſchläfſt Du 
nun ganz ſtill bei Mutter und Willi und haſt das Leben überwunden und kannſt 
ausruhen. Von allem, was uns arme Menſchen quält, fuͤhlſt Du nichts mehr. Und 
das tut dann ganz wohl. Aber wenn ich ſo herumgehe, oder wenn ich in der Kirche 
ſitze und die Orgel geht, dann mein' ich doch wieder: Du liegſt ja gar nicht da unten, 
Du lebſt ja jetzt in der ewigen Herrlichkeit. — Und dann wieder gehſt Ou hier durch 
die Stuben und ſiehſt alles, was ich mache und was Dein kleiner Zung’ macht. 

Manchmal denke ich: Eins von alledem kann doch nur richtig ſein, und dann 
habe ich große Angſt darüber, welches es wohl ijt, und welches nicht. Aber manch- 
mal kommt es ſo wie eine überirdiſche Klarheit, ſo daß ich fühle: bei Gott iſt kein 
Ding unmöglich, und dies geht eben über alle Vernunft. 

Der Tuürmer XI, 10 | 29 


450 Oiers: Die Briefe des alten Foflas Röppen 


Liebe Elfe, ich habe auch manchmal febr ſchwarze Tage. Dann denke id 
und kann gar nicht anders als ſo denken, ſo gern ich auch anders möchte: Das iſt 
ja alles Unſinn, was die Gelehrten uns vormachen. Sie ift eben tot und verweſt, 
und die Würmer haben ihren Leib gefreſſen, und es iſt nichts mehr da. Und all 
das vom Schlafen und der himmliſchen Seligkeit oder was ſonſt ich geträumt habe, 
das iſt leeres Eingebilde. Das macht man ſich bloß vor, um nicht zu verzweifeln. 

Und dann denke ich weiter und ſage mir: daß ſie nun tot iſt und ihr junges 
Leben von Würmern gefreſſen, daran biſt Du ſchuld, Du Narr und Sünder. Du 
haſt ihr ja nicht geholfen. Sonſt wäre alles anders und ſie lebte noch. 

Ach Elſing, ich habe einen Tag gehabt, da habe ich die Briefe im Blech- 
kaſten geleſen. Wann es war, weiß ich nicht mehr. Es war fo ein grauer, ſtürmiſcher 
Tag, aber Regen war nicht. Ich bin mit einem Mal drüber hergekommen, wie es 
kam, kann ich mich nicht mehr erinnern. Es war ſo um die Veſperzeit, und ich habe 
die beiden Türen nach dem Flur und nach meiner Schlafſtube zugeſchloſſen. Du 
haſt alles ganz ordentlich gehabt, jedes im Kuvert, und fein mit dem Meſſer auf- 
geſchnitten. Da habe ich gedacht: das hat ſie in ihren kleinen lebendigen Händen 
gehabt. 

Ach ja, mein Diern, was gibt es doch all! ch wundre mich nur, daß man 
ſolche Stunden überleben kann. Sch hab's beinah nicht leſen können, aber ich 
habe mir vorgeſagt: Du mußt! Du mußt! Aber in manchen habe ich doch nur 
reingeguckt, und immer war es, als ſtächen alle die Buchſtaben wie Nadeln, und 
ich konnte meine eigene Schrift kaum mehr anſehen. 

Dann kamen auch die Kuverte, die an mich waren, auf die Lepel geſchrieben 
hat: Annahme verweigert. Aber Deine Briefe waren daraus fort, und ich habe 
gewühlt und gewühlt, aber fie waren nicht mehr zu finden. Du haft fie wohl ver- 
brannt. 

Danach bin ich paar Stunden geweſen wie ein Verrückter, und bin herum- 
gerannt in der Stube und habe mit dem Kopf an den Schrank geſchlagen. Und 
dann habe ich geſeſſen und wieder gewühlt. Elſing, und geflucht und gebetet habe 
ich auch. Ich habe wiſſen wollen, was Du mir da geſchrieben haſt. Dann habe 
ich ſtill geſeſſen und gedacht: Gott gibt mir's vielleicht ein, denn Elſe ſieht doch 
meine Not und wird ihn bitten. 

Aber es kam nichts vom Himmel. 

Dann habe ich meinen Verſtand zu Hilfe genommen. Aber wenn ich es mir 
fertig gedacht hatte, dann kam ein anderer Gedanke quer, und dann dachte ich 
wieder: Es kann ja auch alles anders geweſen ſein. 

Zuletzt ſtand ich da und dachte: Meine Elſe hat mir etwas ſagen wollen, 
und nun iſt ſie tot, und ich ſtehe hier, und ich erfahre es nie mehr. 

Da dachte ich: Wozu der ganze Kram noch! wem iſt es was nütze? Dann 
kam es ganz von ſelbſt, und ich hatte mein altes Jagdgewehr, das beim Ofen hängt, 
in der Hand. Ich hab's auch noch geputzt, weiß nicht, was ich dabei dachte. Schießen 
tut's ja nicht, wenn es verroſtet iſt, aber gedacht habe ich wohl nicht viel dabei. 

Wie es blank war, wurde es draußen beinah dunkel. Ich nahm die Mütze 
von der Wand. Dann bin ich noch umgekehrt und habe den Blechkaſten ein- 


Dlers: Die Briefe bes alten Zoflas Röppen 451 


geſchloſſen und den Schlüſſel in die Taſche geſteckt. Dabei habe ich mir auch nicht 
viel gedacht. Ein bißchen döſig bin ich doch wohl geweſen, ſonſt wäre mir doch 
eingefallen: Wenn man mich findet, findet man den Schlüffel ja auch. Na, das 
war nun alles gleich. 

Draußen war es noch nicht ſo dunkel. Der Wind ging ſtark. Ich gucke noch 
einmal über den Hof, aber mir war alles egal. Der neue Schweinefutterer ſteht da 
noch und guckt an feiner langen Naſe runter. Ich ſage ihm noch: „Haft wohl viel 
Zeit zu verſchenken?“ Aber alles wie im Traum. Es kommt mir jetzt nur ſo zurück. 

Um die Hausede am Hoftor ſteht Dein kleiner Jung' und wirft Steinchen 
über die Mauer, und als er mich ſieht, kommt er gelaufen. „Großvater, gehſt Ou 
jagen? ich will mit!“ und ſteckt die lütte Pot' in meine Hand. 

„Nein,“ fage ich, „Du kannſt nicht“, und mache meine Hand auf, daß er los- 
laſſen ſoll. Da macht er ſeine großen blauen Augen und ſagt: „Großvater, ich kann 
weit laufen! So weit wie Du! Sch habe ſtarke Beine, hat Mutti geſagt.“ 

3h denke nach: So weit wie ich kannſt du doch nicht, mein Fung’. Aber 
ich hatte keine Kraft mehr zum Neinſagen oder zum Nachdenken. Sonſt hätte ich 
den lütten Kerl doch nicht mit auf dieſe Tour genommen. 

Sh weiß nichts mehr, Elſing. Ich habe wohl lange Schritte gemacht, und 
er hat laufen müſſen, aber immer war er dicht neben mir. Bleibe ich mal ſtehen 
und ſehe, wie er ſchnauft und ordentlich feucht und rot ift im Geſicht, und fein Müß- 
chen hat er auch nicht auf. Da komme ich mit einem Mal zur Beſinnung und kriege 
es mit der Angſt, er wird ſich erkälten. Zart iſt er ja man, Elſing, aber ein tapferer 
kleiner Mann. Und wir waren ſchon ſo weit im Feld, und dunkler wurde es mit 
jeder Minute, und der Wind ging fo eiſig kalt. Jetzt merkte ich, daß ich bis zum 
Tannenſchlag wollte und immer in der Richtung drauf losgegangen war. 

Da dachte ich mit einem Mal: Fa, was foll der kleine Fung’ denn machen, 
er kann doch nicht allein den ganzen Weg zurück, und erkälten wird er ſich auch. 
| Da ſtand ich ftill, und der Wind ſauſte, und ich hatte ſolche Angſt. Wenn 

Elſe das mit anſieht, was ich mit dem Jung’ mache! dachte ich. 

Sein Haar klebte ganz naß, und die lütte Bruſt keuchte nur ſo. Was muß 
er gelaufen ſein. 

„Großvater, ſchießt du nicht?“ fragte er. „Schieße doch, ich will's ſehn!“ 

3h ſagte: „Es wird heut' wohl zu fpät, Heinz. Du mußt nach Haufe, ſonſt 
ſchilt Mutti im Himmel auf uns beide.“ 

Da wird doch der kleine Fung’ ganz ernſt und böſe und blitzt ordentlich mit 
feinen Augen, zerrt mich am Rod und ſagt: „Großvater, und du haft mir's ver- 
ſprochen, und ich bin ſo gerannt, und du haſt es verſprochen, Großvater!“ 

Da habe ich dem Jung’ eine Krähe geſchoſſen, Elſing. Und die hat er mit 
ſeinen kleinen Händchen angepackt, und ich habe ihn auf den Arm genommen und 
nach Haufe getragen. War Dein Zungelchen doch fo müde, daß er mir den Kopf 
auf die Schulter legte und den ganzen Weg geſchlafen hat. Aber ſeine Krähe hat 
er nicht losgelaſſen. So bin ich wieder auf den Hof gekommen und habe das Ge- 
wehr an die Wand beim Ofen gehängt. (Schluß folgt) 


ZS, 


Die jüngſte Türkei 


Dr. Albrecht Wirth 


fine große Stadtverwaltung leiſtete neulich folgendes Stückchen. 
Durch Straßenarbeiten war einem Hausbeſitzer ſein Zaun zerſtört 
worden. Der Magiſtrat gewährte gnädigſt einige hundert Mark 
Ofür die Wiederaufrichtung des Zaunes. Als nun aber der Beſitzer 
den Zaun erneuert hatte, erhielt er einen Erlaß des hohen Magiſtrats: er habe 
den Zaun ohne Genehmigung gebaut und müſſe ihn daher wieder wegnehmen, 
widrigenfalls er amtlich entfernt würde. Derſelbe Magiſtrat zwang in einem einſam 
gelegenen großen Gebäude den Eigentümer, eine Feuermauer quer durch das 
Haus zu ziehen. Der Spaß koſtete 5800 Mark. Der kurz darauf neu ernannte 
Bauinſpektor beſichtigte bei irgendeiner Gelegenheit das Gebäude und fragte 
ahnungslos: „Wozu haben Sie eigentlich dieſe überflüſſige Feuermauer?“ 

Das kleine Beiſpiel zeigt, daß eine Selbſtverwaltung gerade fo elend fein 
kann wie eine aufgezwungene, meinetwegen wie eine deſpotiſche. Dieſe Erfahrung 
hat ſchon reichlich die junge und jüngſte Türkei gemacht. So gar ſehr viel beffer . 
find unter der freiheitlichen Selbſtverwaltung die Verhältniſſe nicht geworden. 
Immerhin find neue Kräfte entfeffelt, die früher gebunden waren, können fic talent- 
volle und hochſtrebende Männer jetzt offen entfalten, die früher entweder brad- 
lagen oder gar in der Verbannung verkümmerten. Man hat dieſes auch ſchon zur 
Zeit der franzöſiſchen Revolution geſehen. Die Generale, die gleichzeitig mit dem 
jungen Napoleon in den Heeren der Republik dienten, waren nicht ſelten erſt 
fünfundzwanzig Jahre oder nur wenig darüber alt. Nicht nur bei Revolutionen, 
bei jeder großen ſtaatlichen Umwälzung, auch bei Reſtaurationen kommt das 
Talent und die Jugend an die Spitze. So hat die Ara der Meiji, die 1868 in Japan 
begann, eine ſtattliche Reihe von Führern an die Oberfläche gebracht. Ebenſo 
bei kulturellen und techniſchen Umgeftaltungen. Die erſten Eiſenbahningenieure, 
die erſten Begründer der chemiſchen Induſtrie, ja auch mancher Zweige des Clettri- 
zitätsweſens waren meiſt junge Leute. So kann es nicht wundernehmen, jetzt an 
der Spitze der türkiſchen Freiheitskämpfer einen Anvar (Enver) Bey, der achtund⸗ 
zwanzig Jahre alt ift, ferner feine nicht viel älteren Freunde Halti und Niaſi zu er- 
blicken und eine wehrhafte Phalanx von Parlamentariern auftauchen zu ſehen, 


Wirth: Die jüngſte Türkel 455 


deren Talente erft durch die große Umwälzung geweckt wurden. Wie wir das ja 
ſchließlich auch in Rußland in ähnlicher Weiſe erlebt haben. 

Das neue Regime im Osmanenreiche hat unzweifelhaft die beſten Abſichten 
gehabt und hat auch vieles Nützliche erreicht. Es hat mit den Drohnen im Yildiz 
aufgeräumt und die Schätze, die dort unnütz aufgeſpeichert waren, der Allgemein- 
heit dienſtbar gemacht. Es hat ferner Handel und Wandel von fo mancher Ein- 
ſchnürung befreit. Es hat das Maſchineneinfuhrverbot aufgehoben, hat den Bau 
neuer Eiſenbahnen angeordnet und hat die Schaffung einer Handelsmarine in 
die Wege geleitet. Es hat ferner Heer und Flotte verjüngt und eine durchgreifende 
Neuorganiſation beſchloſſen. Es hat endlich ein brauchbares Budget aufgeſtellt. 

Was dagegen nicht erreicht wurde, iſt die völlige Gleichberechtigung der 
Bürger des Reiches. Schon jetzt fühlen ſich namentlich die Chriſten in allen Teilen 
des weitausgedehnten Landes bedrückt und benachteiligt. Bulgaren, Griechen und 
Araber erklären, es fet keineswegs beffer als unter dem alten Regime, und die Arme- 
nier wollten ſich gar unter den Schutz des Zaren ſtellen. Aber auch die Mohamme- 
daner ſind mit den jetzigen Machthabern in Konſtantinopel nicht zufrieden. Die 
Gründe hierfür ſind verſchieden. Aber Tatſache iſt, daß bei den mohammedaniſchen 
Albaniern wie Arabern und Kurden Aufſtände ausgebrochen ſind. Ja ſelbſt die 
Raſſengenoſſen der Türken in Anatolien wollen von ihren Brüdern in Europa 
nichts wiſſen. Das iſt eine ſehr bedenkliche Erſcheinung. Sie führt uns auf das 
Hauptproblem der jüngſten Türkei. 

Im Sabre 1848 find, wie bei allen Revolutionen, viele Kräfte freigeworden. 
Aber — das iſt der Pferdefuß — nicht nur deutſche, ſondern auch fremde Kräfte. 
Ein jeder wollte ſich eben geltend machen, wollte ſich durchſetzen. So iſt die deutſche 
Revolution der Ausgangspunkt für die Emanzipation der Slawen, der Ungarn, 
der Staliener, iſt der Springquell des Nationalitätenhaders geworden. Genau 
ſo iſt es der freiheitsdurſtigen Türkei ergangen. Gewiß, die Türken haben ſich von 
dem übergroßen Druck des Sultans emanzipiert, aber — die anderen auch! Schon 
befinden ſich die Führer am Goldenen Horn in der Rolle des Zauberlehrlings. 
Schon wünſchten ſie, ſie hätten nicht überall die Zügel ſo ſehr gelockert, ſie hätten 
nicht die Goler der Unabhängigkeit überall heraufbeſchworen. Nun ift die Drachen- 
ſaat groß geworden. Und ſie iſt für die Verdränger des Sultans nicht erfreulich. 
Da iſt namentlich das ſchwierige Problem in Arabien. Schon ſeit 1900 tobt dort 
ein Kampf gegen die türkiſche Oberhoheit. Letzthin iſt die Lage von Hadramaut 
bis nach El Haza, von Oman bis zum Hauran völlig unhaltbar geworden. Schon 
wollten die Machthaber wenigſtens Mekka und dem Yemen die Autonomie ge- 
währen. Schon ſpricht man in panislamitiſchen Kreiſen davon, einen neuen Kalifen 
aufzuſtellen, der arabiſchen Blutes ſei. Die Raſſe wird von einzelnen ſogar über 
die Religion geſtellt. Einige Syrer werben für den Zuſammenſchluß der drift- 
lichen und mohammedaniſchen Araber. Da iſt weiter die Anarchie in Kurdiſtan. 
Man hört wenig darüber. Begreiflich. Die Verbindungen find Schlecht. Die Macht- 
haber ſorgen dafür, daß nichts Ungünjtiges durchſickere. Der große Kurdenſcheikh 
Ibrahim wurde zwar mit Hilfe von zwölf Regimentern und von — Gift unfchäd- 
lich gemacht, aber ſeitdem ſind elf Monate verfloſſen, und die Lage iſt ſchlechter 


454 Wirth: Ole jüngfte Türkel 


als zuvor. Da iſt endlich die albaniſche Verwicklung. Einer der angeſehenſten Män- 
ner Albaniens, Ferid Paſcha, fit allerdings im Miniſterium, aber fein Anhang im 
Lande iſt nicht ſo ſehr groß. Viel größer iſt die Zahl der Frondeure oder offenen 
Gegner. Nur find dieſe bis heute noch nicht einig. Die Malſoren und die Mirditen 
gehen auf eigene Fauſt vor, ebenſo die Bewohner der Dibra und Lurja, und im 
Süden wühlen die Agenten Iſmail Kemal Beys. Doch ſcheint es, als ob in letzter 
Zeit ein albaniſches Volksbewußtſein erwache, ein Gemeinſamkeitsgefühl, das 
fogar ſtärker ift als die religiöfe Trennung. Die größere Hälfte ift nämlich dem Iſlam 
zugetan, der Reſt ſpaltet ſich in römiſche Katholiken und griechiſch Unierte. 
Dazu kommt noch der Gegenſatz zwiſchen verweſtlichten mazedoniſchen und 
konſervativen anatoliſchen Türken. Man darf füglich bezweifeln, daß ſich Anatolien, 
wo der Kern des Osmanentums ſitzt — 7 Millionen gegen 1½ in Europa —, 
bereits beruhigt habe. Der Gegenſatz iſt ſchwer überwindlich. Auch kann man es 
den Konſervativen nicht einmal ſo ganz übelnehmen, wenn ſie gegen ſo manchen 
jungtürkiſchen Heißſporn Mißtrauen hegen. Egoiſtiſche Ziele konnte man dem Her- 
ausgeber der Turquie Contemporaine nachweiſen, die 1891 in Paris gegründet 
wurde, und dem Leiter der Turquie Libre, des Organes der „tonftitutionellen 
türkiſchen Partei“, das 1892 in London das Licht erblickte. Kürzlich haben die jüng- 
ſten Türken ſelbſt einem der berühmteſten Jungtürken den Prozeß gemacht und 
ihn zu fünfzehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Ich ſpreche vom Staatsrat Murad 
Bey. Er, der Herausgeber des in London erſcheinenden jungtürkiſchen Organs 
„Huriet“, ſtellte das Erſcheinen feines Blattes für eine Vaſſerleitungskonzeſſion 
in Beirut ein; ebenſo Ali Schefketi Bey, der, nachdem ihn der Sultan befriedigt 
hatte, ſowohl fein Organ „Iſtikal“ („Die Zukunft“) wie „Haial“ („Die Zlufion“) 
eingehen ließ. Noch viele find hier zu nennen, die es ähnlich machten, z. B. Galib- 
Bey, Herausgeber von „Zudjili-Tſchauſch“, Paris; Tarſuſſi-Zade-MWunif Effendi, 
einſt Herausgeber von „Jakikat“, Genf; Tumali-Zade-Hilmi Bey, ebenfalls in 
Genf, Herausgeber des „Girid“, und Ali-Zade-Hodſcha-Muheddin, der in gyp- 
ten ein jungtürkiſches Blatt, „Ranun Eſſaſſi“ („Das konſtitutionelle Geſetz“) er- 
ſcheinen ließ. Achmed Bey, hervorragendes Mitglied der Genfer Jungtürken, 
wurde Wilitärattachs in Belgrad; Nazif Bey, der in Paris jungtürkiſche Weisheit 
verzapfte, wurde Generalſekretär des türkiſchen Generalgouverneurs in Bruſſa, 
und der gefürchtete Vizepräſident des jungtürkiſchen Komitees in Paris, Emin 
Arslan, lebte eine Zeitlang fogar als türkiſcher Konſul in Frankreich. Jetzt ift er 
einer der angeſehenſten Abgeordneten. Einige dieſer bêtes noires wurden ja, wie 
Murad Bey, von ihren eigenen Parteigenoſſen ausgemerzt. Dafür treiben ſo 
manche andere ungeſtört ihr Weſen. Überhaupt iſt der Argwohn, den bereits der 
berühmte italieniſche Hiſtoriker Ferrero ausſprach, nicht ganz unberechtigt: daß die 
ganze türkifche Revolution nichts bedeute, als daß nun andere Leute an die Krippe 
kommen — die alte Geſchichte von den Ins und Outs in England. Auch kann ſich 
der begeiſtertſte Freiheitsſchwärmer mit der Art nicht einverſtanden erklären, wie 
jetzt die ſiegreichen Revolutionäre hauſen. Zwei Kriegsgerichte ſeufzten derart 
unter der Laſt ihrer Arbeit, daß ihnen, wollten ſie nicht erdrückt werden, ein drittes 
beigeſellt wurde. Und wie haben die Kriegsgerichte mit Hängen und Schießen, 


Lang: Wolken 455 


mit Verbannen und Güterkonfiszieren gehauſt! Nicht viel beffer als Gulla und 
Marius, als die Triumvirn Antonius, Lepidus und Octavianus. Die natürliche 
Folge davon iſt, daß auch die Zahl der Feinde des neuen Regimes entſprechend 
gewachſen iſt. 

Dies Wachstum iſt nun einer beſonderen individuellen Handlungsweiſe, 
einem Mißbrauche der Macht zu verdanken. Was dagegen von individueller Be- 
tätigung vollkommen unabhängig iſt, das iſt der niemals zu verwiſchende Gegenſatz 
der verſchiedenen Volkheiten. Ich habe ſchon von den „Unſtimmigkeiten“ berichtet, 
die zwiſchen den Mohammedanern ſelbſt herrſchen. Noch unüberbrückbarer ijt be- 
greiflicherweiſe die Kluft zwiſchen Anhängern Mohammeds und Chriſti. Schon 
allein wegen der grundlegenden Verſchiedenheit der Ehegeſetze kann niemals ein 
völliger Ausgleich der bürgerlichen Rechte erzielt werden. Ein weiterer Stein des 
Anſtoßes iſt die Wehrpflicht. Einem Chriſten war es bisher noch gar nicht erlaubt, 
zu dienen. Auch jetzt wollen die Machthaber daran feſthalten und verlangen die 
hergebrachte Wehrſteuer der Rajah-Völker. Die Chriſten aber wollen die ſo viel 
gerühmte Gleichberechtigung verwirklicht ſehen; ſie wollen lieber dienen als, wie 
man ja früher auch bei uns für einen Stellvertreter tat, zahlen. Nun liegt die Sache 
inſofern für die Türken febr ungünttig, als ihre Ropfmenge in Europa nur ein Viertel 
von der Geſamtbevölkerung und in Alien nur etwa ein Drittel der Geſamtheit 
beträgt. Ich fürchte, diefe Differenz allein wird hinreichen, um einen nationalen 
Staat unmöglich zu machen. 

Dazu kommt noch eine ſchier unüberſehbare Reihe von äußeren Schwierig- 
keiten. Albanien allein wird von nicht weniger als drei Mächten umworben: von 
Oſterreich, Griechenland und Stalien. Arabien betrachten die Engländer als ſichere 
Beute. Um Syrien bemüht ſich Frankreich, um Hoch- Armenien Rußland. Mög- 
lich wäre freilich, daß gerade, wie fo oft ſchon, eine Ablenkung nach außen hin dem 
uneinigen Staate Rettung brächte. Ein Krieg mit Rußland wegen Adherbeidſchans 
würde jedenfalls die nationalen Triebe in Vorderaſien ſtark entflammen. 


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Wolfen 


Gon 
Martin Lang 


Gemahnt dich noch der ſchöne Sommertag? 
Wir ruhten aus am ſchattigen Buchenſchlag, 


Die Stunde ſchwieg in ſommerlicher Ruh’. 
Du ſahſt, wie ich, den weißen Wolken zu, 


Die, grüßend, uns vorüberflogen — weit, 
Als waren's Engel unſerer Kinderzeit. 


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Geblendet! 


Von 


Paul und Viktor Margueritte 


CEE Zug braufte mit vollem Dampf dahin. Man näherte ſich Saumur. 
P Schlafbefangen betrachtete Olivier Séranes die in unbeftimmtes 
) Grau gehüllte Gegend. Seine Gedanken, noch wirr und unklar, 
glitten die Telegraphendrähte entlang, brachen ſich an jedem Pfahl 
und entflohen mit der Landſchaft, über welche langſam die Morgenröte ſich breitete. 
Und er hätte doch fih ermannen, die Richtſchnur feines Benehmens über- 
denken mögen, denn das Unbekannte, das feiner harrte, erfüllte ihn mit leifer 
Unruhe. Doch jeder im Flug gewahrte Punkt dieſes Stückchens Erde, in dem 
jeder Winkel ihm vertraut und lieb geworden, gab ihm einen leichten Stoß inniger 
Freudigkeit. Und alles, das Grün der Bäume, das Blau des Himmels, das Auf- 
blitzen eines Fluſſes, ja alles verſchmolz ihm in ein köſtliches Gefühl des Frohſinns: 
fein ganzes Sein empfand die Verjüngung des Frühlings. Dieſe rofigen Wölt- 
chen, die von Sekunde zu Sekunde ſich mit lebhafterem Purpur färbten, ſchienen 
ihm ſchöner als all die andern, die er unter dem wundervollen Himmel Afrikas 
oder des äußerſten Orients bewundert hatte. Als die Sonne erſchien und alles 
ringsumher mit ihrem Flammenmeer übergoldete, da glaubte Séranes eine der 
jüngſten Sonnen der Welt zu erblicken, ſo ſchnell lichtete ſich der weiche Dunſt, 
in den die Atmoſphäre gebadet ſchien, fo goldflüſſig war die Reinheit der linden, 
feuchten Luft. Und mit Wolluſt atmete Géranes die Friſche, die aus Wieſen und 
Wäldern aufſtieg, jenen Duft von Gras und Saft der glücklichen Touraine. 
Wie ſüß, o wie ſüß war dieſe Heimkehr zu dem heimatlichen Kirchturm nach 
langer, langer Abweſenheit! ... Seine Familie erloſchen, die Freunde zerſtoben, 
welche Umwälzungen während dieſer zehn Fabre! Nur der Boden allein hatte 
ſich nicht verwandelt; er allein begrüßte den Heimkehrenden mit ſeinem friedlichen 
Lächeln, ſeiner heiteren Schönheit. Wie damals wogte auf den Feldern das Ge- 
treide; durch die Spitzen der grünen Halme ſtrich ein ſilberner Schauer, und die 
große Loire führte in trägem Lauf in ihrem Spiegel das Abbild der Häuſer, der 
hohen Pappeln der Ufer mit ſich — ein Band voll Himmel und Wolken. Eine 
Kuh, die beim Vorüberſauſen des Zuges den Kopf hob, das ferne Gebell eines 


Margueritte: Geblendet! 457 


Hundes, alles, alles erfüllte ihn mit ſeltſamer Rührung. All der geheimnisvolle 
Zauber der elementarſten, der einfachſten Natureindrücke nahm ihn gefangen, 
durchdrang ſein Weſen. Und mit einer beinahe furchtſamen Freude dachte er nur 
noch an fie, die er ſogleich wiederſehen ſollte, an Charlotte Dexpers. 

War fie es nicht, die während ſeines Exils ihm zur Verkörperung aller teuer- 
ſten, treueſten Gefühle geworden: Zugenderinnerungen, Heimweh, lebensvolle An- 
mut der Dinge, das Ideal der ſchönen und guten Franzöſin? Charlotte! Dieſer 
magiſche Name belebte ſein Herz; er vergaß die Müdigkeit ſeines Körpers, die 
vierzig Jahre, die ſich mit vorzeitigen Falten in ſein gebräuntes Antlitz gegraben, 
Tongkings glühende Sonne und das Fieber. 

Wie hatte er dort unten in feinem Wohnſitz Bhui-Nam der klugen Freundin 
gedacht, die, an e nen reichen Induſtriellen verheiratet und Mutter großer Kinder, 
in dieſer anmutigen Provinzumgebung ihr friedliches Daſein lebte! Vie er ſie 
verlaſſen, ſo ſollte er ſie wiederfinden, in ihren weißen Gewändern ihren Park 
von Clairettes durchwandelnd, von dem Murmeln der Fontänen begleitet, die, 
aus Felſen und Grotten entſpringend, den Garten mit einem glitzernden Netz 
lebender Gewäſſer umgaben — eine immer gleich junge, immer gleich ſchöne 
Charlotte Derpers, von den Ihren umringt, von der allgemeinen Achtung ge- 
tragen, von den Armen geliebt. 

Seltſam, daß er nach ſo langer Zeit noch nicht ohne leiſes Erſchauern im Her- 
zen ihrer denken konnte! Aber er hatte fie jahrelang mit andachtsvoller Glut ge- 
liebt und ſeine Gefühle mit ſchmerzlicher Scheu vor allen und auch vor ihr ſelbſt 
verſchloſſen. Ein einziges Mal hatte er geſprochen, und dieſe Minute hatte über 
das Schickſal ſeines Lebens entſchieden. Er hatte erraten, daß Madame Dexpers 
ihn vielleicht lieben könnte, daß fie vielleicht im tiefſten Grunde ihres Herzens ihn 
{chon liebte, im ſelben Augenblick aber hatte er auch begriffen, daß fie es nie ihm ge- 
ſtehen würde. Noch weniger konnte er hoffen, daß dieſe Frau je auch nur um einer 
Linie Breite von den heiligen Pflichten, die ſie freiwillig übernommen, abweichen 
würde. Die Hoffnung, welche ihre kurze und entſcheidende Unterredung in ihm er- 
weckte, war flüchtig wie ein Blitz, der den Himmel beleuchtet, um für immer zu 
verſchwinden. Séranes erkannte, welch unverzeihliches Unrecht es wäre, dieſes 
Herz verführen zu wollen, das friedlich bleiben wollte und kraft ſeiner Reinheit auch 
ſtark genug ſein würde, ſich ſeinen Frieden zu bewahren. Er bewunderte dieſe 
ſanfte, ernſte Würde, dieſen ſtolzen Kampf für die Ehre. 

„Was ſoll ich tun?“ hatte er Madame Dexpers gefragt. Und ſie hatte mit 
einem vollen Blick in ſeine Augen erwidert: „Abreiſen!“ Er war abgereiſt. Mit 
heroiſchem Entſchluß hatte er die Unendlichkeit der Meere, der Trennung zwiſchen 
ſich und die Geliebte gelegt. Die Kolonien hatten ſeinem Tätigkeitsdrang ein 
weites Feld geboten; die höchſten Verwaltungsämter hatten ſich ihm geöffnet, 
zuerſt am Senegal, ſpäter in Tongking. Und vergeblich war er unter fremdem Him- 
mel eingeſchlafen und aufgewacht, vergeblich hatte er neue Freundſchaft und neue 
Liebe kennen gelernt, kein Ehrgeiz, kein Stolz auf errungene Ehren und auch nicht 
das Streben, ſeinen Platz würdig auszufüllen, hatten ihn die einzige Frau, die 
er je geliebt, vergeſſen laffen können. Von Zeit zu Zeit hatten fie Briefe von vollen- 


458 Marguerittes Geblendet! 


deter Korrektheit getauscht, in denen fie die wichtigſten Ereigniſſe erwähnten und 
ſchweigend über das hinweggingen, was tot fortan für ſie bleiben mußte. Die 
Jahre hatten das Band der Zuneigung, das fie vereinte, gelockert, datten in Géra- 
nes Herzen die Liebe in heitere, friedliche Freundſchaft gewandelt. Er war ge- 
heilt; daß auch ſie es war, daran durfte er ſeit langem ſchon nicht zweifeln. Wenn 
ſie ſo dringend darauf beſtand, daß er einige Tage in Clairettes zubrachte, ſo war dies 
der beſte Beweis, daß ſie ſeiner ſich ſo ſicher fühlte wie ihrer ſelbſt. 

Einen Augenblick lang bereute er beinahe, ſo ſchnell eingewilligt zu haben. 
Kann man je wiſſen, ob die Wunden des Herzens ganz vernarbt ſind? Er fürchtete 
ſich vor der Furcht, Madame Derpers immer noch zu lieben. Wenn im Moment 
des Wiederſehens die zehn Jahre der Trennung wie ein einziger Tag entſchwan⸗ 
den? Wenn er wieder, wie einſtmals, ihre ſo teure Gegenwart nicht ohne bebende 
Erregung zu ertragen vermochte? Wenn der Anblick dieſer hohen, glatten Stirne, 
dieſer leuchtenden Augen, dieſer goldbraunen Haarfülle, dieſes weißen, runden 
Halfes, dieſer ſchmiegſam-ſchlanken Taille ihm von neuem das Herz erſchauern 
machte? 

Er ſuchte dieſe quälenden Zweifel zu verſcheuchen. Doch ſie verfolgten ihn 
unaufhörlich, fie miſchten fidh in das unruhige Schwanken des Zuges, in den Rhyth- 
mus der grollenden Lokomotive. Und er gedachte ihres Abſchieds auf dem Perron 
des Bahnhofs, an einem Morgen ſo ſtrahlend wie der heutige. In ein ſilbergraues 
Koſtüm gekleidet, war ſie mit ihrem Gatten, einem kräftigen, blühend ausſehenden 
Manne, der, vielleicht von dieſer Abreiſe ſehr befriedigt, mit lauttönender Stimme 
ſprach, erſchienen, um ihm Lebewohl zu ſagen. Ihr Töchterchen Thereſe, zart 
und ſchwächlich für ihre zehn Jahre, hielt Géranes Hand feft in der ihren, denn fie 
hatte ihn ſehr ins Herz geſchloſſen. Mit geröteten Augen betrachtete ſie die 
Schienen, während die weichen Züge den fo ſeltſam nachdenklichen Ausdruck an- 
nahmen, den man bei Kindern häufig findet, wenn ein ihr Alter überſteigendes 
Gefühl fih ihrer bemächtigt. Wie oft hatte Sͤranes bei dieſer rührenden Erinne- 
rung gelächelt, und jetzt noch fühlte er in Gedanken den Druck der kleinen, weichen 
Hand. Liebliche Thereſe, lebendes Abbild ihrer Mutter — immer hatte er in ſeiner 
Erinnerung die beiden Geſtalten miteinander vereint gefunden. Bei feinen Gen- 
dungen ſeltener Kleinigkeiten und exotiſcher Schmuckſtücke hatte er feiner kleinen 
Freundin nie vergeſſen. 

Der Zug fuhr in den Bahnhof ein. 

* 


* 

Mit unüberlegter Haft ftürzte fih Géranes aus dem Coupé, mit verzehrender 
Ungeduld ſchweiften feine Slide den Perron entlang, auf dem Madame Derpers 
warten mußte, denn ſo hatte ſie es ihm verſprochen. Kein ſilbergraues Kleid wie 
ehemals, keine junge Frau mit leuchtenden Augen, kein kleines Mädchen mit bloßen 
Beinen. Lauter fremde Geſichter. Dort aber, abſeits ſtehend, wandte ſich eine 
elegante, ſchwarzgekleidete Dame von ihm ab wie von einem Fremden, betrachtete 
ihn dann aufmerkſamer 

Er erſtickte einen Schrei, ſtürzte vorwärts, zwei Hände drückten die ſeinen: 
„Charlotte.. gnädige Frau Sie 


Margueritte: Geblendet! 459 


Und Madame Derpers fagte zu ihm: „Ich bin glücklich, mein Freund..“ 

Er betrachtete ſie forſchend und ſtaunte nicht länger darüber, daß er ſie nicht 
ſofort erkannt hatte. Charlottes blühende dreißig Jahre waren nicht mehr; ihr 
blaſſes, des Samthauches beraubtes Antlitz trug die Spuren unmerklichen Welkens. 
Eine kürzlich erſt überſtandene Krankheit, deren fie in ihren Briefen keine Erwäh- 
nung getan, wohl auch Sorgen und Kummer mancher Art, hatten ihre Züge ab- 
gezehrt. Ihre Haare waren ergraut. Seranes hatte eine andere Frau vor ſich, 
eine alte Frau beinahe. 

Der Eindruck war ein ſo unerwarteter, daß er deſſen volle Intenſität nicht 
ſogleich zu empfinden vermochte. Der Gedanke kam ihm, daß er ſelbſt ſich ſehr 
verändert haben, ſehr gealtert fein müſſe. Hätte fie ſonſt gezögert? Seine ge- 
bräunten Schläfen, fein Fieberteint, fein aſchgrauer Schnurrbart ... ja gewiß, 
er war alt geworden, wozu es leugnen? — all dies erfüllte ihn mit peinlicher Ent- 
täuſchung, mit einer Traurigkeit, die ihm um ſo qualvoller war, als er ein ſolches 
Wiederſehen nicht erwartet hatte. 

Ohne Zweifel litt auch Madame Derpers unter dem Unbehagen, das fidh 
unbewußt, ernüchternd zwiſchen ſie gedrängt, unter der Leere, welche der erſten 
Aufwallung folgte! — Wie die Unbefangenheit wiederfinden? Und ſie hatten ſich 
doch fo vieles zu ſagen! Verwirrt und dabei beſtrebt, ihre Verwirrung zu verber- 
gen, beantwortete fie gufammenbanglos ſeine Fragen. Sie entſchuldigte ihren 
Gatten, den ein wichtiges Geſchäft am Kommen gehindert hatte. Ihren Söhnen 
ging es gut; der ältere ſollte demnächſt Kapitän werden; Roger beſchäftigte ſich 
unter Anleitung des Vaters mit der Fabrik. Und Thereſe? Die war da und wartete 
draußen mit dem Wagen, denn ſie hatte ſich in den Kopf geſetzt, ſelbſt kutſchieren 
zu wollen. 

Und Seranes folgte ihr und betrachtete dabei mit einem Gefühle der Weh⸗ 
mut die kleinen grauen Löckchen, die auf dem ſchneeweißen Halſe eine ſolch ver- 
welkte Anmut gewannen; Madame Oexpers' ſchmiegſame Taille übte nicht mehr 
den gleichen Zauber auf ihn aus. War es denn möglich, daß er ſie weniger liebte, 
fie auf andere Veiſe liebte, weil fie nicht mehr jung war? Armes Menſchenherz! 
Das Spiegelbild der Jugend alſo war es geweſen, was ihn an ihr bezaubert, und 
nicht die unſichtbare Schönheit der Seele? Nein, nein! Eine ungekannte Zärtlich- 
keit überflutete plötzlich ſein Herz: weil er ſie mit anderer Liebe liebte, liebte er ſie 
weniger? Zärtliche Freundſchaft, Glut der Erinnerung, Abglanz der Liebe — was 
lag an dem Namen des Gefühls, das er empfand! Eine mit Rührung gemiſchte 
Verehrung bemächtigte ſich ſeiner und beugte ihn vor dem edlen Weſen, das mit 
ſolch reiner Würde ſein Leben der Freuden und der Leiden gelebt hatte. Ach ja, 
wohl auch der Leiden: Frauenſorgen, Mutterſchmerzen; liebe, teure Madame 
Dexpers! 

Sie verließen den Bahnhof. Sie ſagte: , Hier iſt Thereſe!“ 

Neben einem ungeduldigen Goldfuchs, deffen Haut in der Sonne erglänzte, 
ſtand voll Jugendanmut lächelnd ein hochgewachſenes, junges Mädchen. Sie 
trug ein königsblaues Kleid, das ihren ſchlanken Wuchs vorteilhaft zur Geltung 
brachte. Unter einem breitrandigen Strohhut quoll in zwei ſchweren Flechten 


460 Margueritte: Geblendet! 


ihr goldbraunes Haar hervor und umrahmte ein taufriſches Antlitz, in dem zwei 
leuchtende Augen, ein kleiner, über elfenbeinweißen Zähnen geöffneter Mund 
in Lebensluſt und Lebensfreude erſtrahlten. Sie datte die ſchöne, glatte Stirn 
ihrer Mutter, ihre grade Naſe, ihr ovales Profil, ſie hatte den Blick, das Lächeln, 
die Haltung, die ihre Mutter einſt beſeſſen. Die Ahnlichkeit war ſo packend, daß 
Géranes ſich mächtig ergriffen fühlte. Das war nicht Thereſe, die vor ihm ſtand, 
das war die zwanzigjährige Charlotte. Und diefe Charlotte drückte ihm die Hände 
mit einer ſo jugendlichen Lebhaftigkeit, einem ſo ſpontanen Ausdruck der Freude, 
daß eine ſeltſame Rührung ihn überkam. 

„Sie erkennen mich alſo wieder, mein Fräulein?“ 

„Vor allem nennen Sie mich Thereſe. Ob ich Sie wiedererkenne? Als 
hätte ich Sie geſtern erft verlaſſen! Kann man denn feine alten Freunde über- 
haupt vergeſſen?“ 

Er lächelte. „Aber ich habe mich doch verändert.“ 

Sie erwiderte: „Und hätten Sie mich erkannt?“ 

„Ohne Zögern!“ Und verwirrt wandte er fih zu Madame Dexpers: „Dieſe 
Ahnlichkeit!“ 

Sie lächelte — ein herbſtlich ernſtes, ſinnendes Lächeln, als fühle fie er- 
gebungsvoll ſich glücklich, in ihrer Tochter wieder aufleben zu können. 

Séranes Blick kehrte zu Thereſe zurück: wie die Fee des Frühlings erſchien 
ſie ihm. War es denn möglich, daß die beiden Jahreszeiten des Lebens zu ſolch 
einer Fülle urſprünglicher Friſche, ſtrahlender Zugend verſchmolzen? Was hatte 
er vor ſich, die Gegenwart oder die Vergangenheit? Thereſens lebensvolles Bild 
oder die im friſchen Grün eines neuen Lenzes wiedererſtandene Charlotte, Char- 
lotte als junges Mädchen, die Charlotte, die er fo anbetend, mit fo heißer Leiden- 
ſchaft geliebt? ... 

„Setzen Sie fih neben mich,“ fagte das junge Mädchen. „Mutter zieht den 
Rückſitz vor. Sie follen ſehen, wie Trilby laufen kann.“ 

Sobald man das hohe Gefährt beſtiegen hatte, ergriff ſie Zügel und Peitſche, 
Trilby griff weit aus und jagte davon. Bald blieben die Straßen von Saumur, 
die Brücke hinter ihnen zurück. Durch die grünenden Gelände, den ſilberglitzernden 
Fluß entlang, eilte das leichte Gefährt dahin. Von dem klaren Himmel zeichneten 
ſich die harmoniſch gewellten Hügel, die luſtig im Morgenwind ſich drehenden 
Windmühlen ab. Fn der durchſichtig reinen Luft zeigten Bäume, Häuſer und Sniel- 
chen ihre unendlich zarten Umriſſe. Aus jedem bewegten Blatt, aus jedem fdwan- 
kenden Halm lachte die Anmut der Landſchaft; wie ein reicher Teppich dehnten 
ſich die mit Gras und Blumen überwucherten Ufer, und bis an den fernen Horizont 
weidete das Auge ſich an ſaftigen Wieſen. Ein friſcher Hauch ſtreifte die Wangen, 
und im Flug erkannte Séranes alle Einzelheiten des Weges, hier die Schmiede, 
dort im Hintergrund die Reihen hundertjähriger Bäume. Längſt vergeſſene Ge- 
ſichter lebten in ſeiner Erinnerung wieder auf: vom Rand einer Böſchung blickte 
eine Alte ihn an; er nannte ihren Namen, den er ſeit zehn Jahren vergeſſen hatte. 
Mit einem köſtlichen Gefühl der Wehmut atmete er all dieſen Zauber. Mit vollen 
Blicken, vollen Lungen ließ er ſich von dieſem Wohlgefühl durchdringen, ohne zu 


Margueritte: Geblendct! 461 


fragen, woher dieſer heilbringende Hauch ihm kam, dieſer Saft, der ihm durch alle 
Adern rann. Von der Landſchaft? Oder von der Gegenwart dieſer beiden teuren 
Weſen? Mit vollen Zügen trank er das Glück dieſer Minuten, und mit unaus- 
ſprechlicher, unerſättlicher Freude begegnete er abwechſelnd dem blühenden Blick 
des jungen Mädchens, dem matten Lächeln ſeiner alten Freundin. 


„Clairettes, lieber Herr —,“ ſagte Dexpers, „Clairettes hat fih, wie Sie 
ſehen, nicht verändert. Ich habe alle die Bäche, die meine Frau ſo poetiſch findet, 
geſchont und ihre in einen einzigen Waſſerfall geſammelte, bewegende Kraft erft 
am Ausgang des Parkes mir zunutze gemacht.“ 

Er war noch ganz der Alte, mit ſeiner kräftigen Geſtalt, ſeinen kaum ergrauen- 
den Haaren, feinem von den Genüſſen eines reichlichen Frühſtücks bedrot ge- 
färbten Geſicht. Er ſprach mit ſeiner lauten Stimme, ſeiner ſelbſtzufriedenen 
Sovialitat, aber Séranes hörte ihn kaum, und feine zerſtreuten Blicke ſchweiften 
über den ſtillen, in tiefem Grün prangenden Park, den nur das leiſe Murmeln 
rieſelnden Waſſers belebte. Géranes hatte nur noch für Thereſe Augen. Sie hielt 
ihre Mutter zärtlich umſchlungen und wandte ſich zuweilen lächelnd nach ihm 
um. . Roger, der jüngere Sohn, ſchritt, feine Zigarre rauchend, voran. Er zuckte 
leicht die Achſeln: 

„Dieſe Feuchtigkeit iſt ſchlecht für den Rheumatismus. Wenn Mama mir 
glauben wollte ...“ 

„Ihr feid proſaiſche Seelen,“ unterbrach ihn Thereſe. „Nicht wahr, Herr 
Seranes, Sie finden dieſe Friſche köſtlich nach dem Sonnenbrand der Kolonien?“ 

„Gewiß, mein Fräulein, köſtlich.“ 

Und da fie, den Arm von der Taille ihrer Mutter löfend, zu Herrn Dexpers 
trat, um ihn zu umarmen, fühlte Géranes fidh zu feiner Verwunderung von einem 
Gefühl der Eiferſucht über dieſe unſchuldsvolle Liebkoſung erfaßt, die von dem dicken 
Mann übrigens ſehr gleichgültig aufgenommen wurde. Und doch, welch natürliche 
Zärtlichkeit, welch intime Grazie gewann dieſe ſchlichte Bewegung in dieſer fchattig- 
traulichen, Frieden atmenden Umgebung! Sie erzählte plötzlich eine Geſchichte 
von armen Leuten, ſuchte, wenngleich vergeblich, die Teilnahme ihres Vaters für 
ihre Schützlinge zu gewinnen, und wie gierig lauſchte Seranes dieſer jugendlichen 
Stimme, die in jedem Ton ihm die Seele umſchmeichelte. Selbſt der Klang ihrer 
Stimme, nur etwas lichter, glich dem ihrer Mutter. Doch ſchon hatte er vergeſſen, 
Thereſe mit Charlotten zu vergleichen; ſchon war es nicht mehr das welke Geſicht 
ſeiner treuen, lieben Freundin, das ſeine Blicke ſuchten, ſondern das roſige Antlitz 
des jungen Mädchens. Thereſe, die vorerſt feine Aufmerkſamkeit nur wegen die- 
ſer außerordentlichen Ahnlichkeit erregt hatte, intereſſierte ihn ſchon um ihrer ſelbſt 
willen, und wenn er es ſich nicht zu geſtehen wagte, ſo geſchah es, weil er dieſem 
Eindruck Worte zu verleihen fürchtete; das Gefühl war darum nicht weniger tief. 
Von dieſen zwei Weſen, Mutter und Tochter, beide mit einem undefinierbaren Ber- 
fuͤhrungszauber begabt, konzentrierte die Tochter in fidh das ganze Fluidum und 
zog ihn an wie einen Liebenden. Géranes betrachtete Madame Oexpers jetzt voll 
Ruhe, er konnte ohne Erregung zu ihr reden. Eine Freundin, ja, nichts als eine 


462 Margueritte: Geblendett 


alte Freundin war fie ihm, würde fie fortan ibm fein. Thereſe aber... Er fühlte 
ſich wie ein von der Sonne geblendeter Mann, dem unter den Lidern noch ein 
Funke der Sonnenglut geblieben, und der wie in einem Rauſch des Lichtes alles 
in goldenen, ſchwarzen, roten Tönen ſieht. 

Glich ſie denn wirklich ſo ſehr ihrer Mutter, wie er zuerſt geglaubt? Zetzt 
fielen ihm ſo manche leichte Verſchiedenheiten ins Auge: ihre Haut war weißer, 
als die Charlottens je geweſen, ihre Augen waren heller, ihr Wuchs höher; und 
ſeltſam! Géranes ſuchte und fand diefe Verſchiedenheiten mit ſtiller Freude. Schlag- 
fertiger, heiterer, unaufhörlich in melodiſches Lachen ausbrechend — Charlotte 
hatte ſtets nur gelächelt —, beſaß Thereſe auch einen kühneren Geiſt, freier von 
bürgerlichen Gepflogenheiten, von den Traditionen des Milieus. Séranes ge- 
wahrte dies, als er das Intereſſe fab, mit dem fie ihn über Tongking, über die Git- 
ten, das Klima, die Daſeinsbedingungen jener fremden Länder ausfragte. Za 
nach einem von ihm zum beſten gegebenen Zagdbericht rief fie aus: 

„O ich kann es wohl begreifen, daß man gern in jenen Ländern lebt! Sie 
ſollten mich mitnehmen, Herr Olivier!“ 

Plötzlich aber errötete ſie; ſie hatte den lebhaften Eindruck gewahrt, der ſich 
auf Séranes Antlitz malte, hatte einen traurigen Blick in den Augen ihrer Mutter 
bemerkt. 

„O Mama! Ich fage das ja nicht, weil ich dich verlaſſen möchte! Ich bin 
ja fo glücklich mit euch allen! Ich will nur jagen, daß das Reifen mich nicht ſchreckt. 
Das Unbekannte iſt ſo ſchön!“ 

Mit einem ihm ſelbſt unbewußten Gefühl des Glückes vernahm Ssranes 
ihre Worte. Charlotte hatte ſich nie auf ſolche Weiſe geäußert. Sie war viel zurüd- 
haltender. Thereſe gehörte einer freieren, unbefangener denkenden Generation 
an. Sie ſprach mit einem natürlichen Feuer, das ihn entzückte, von Reiſen, von 
Büchern, die ſie geleſen. 

„Das iſt ein wirkliches junges Mädchen,“ dachte er, „ein wahres Weib.“ 
Und es kam ibm nicht in den Senn, daß fein ehemals n Madame Oexpers ver- 
körpertes Ideal fih geändert hatte. Die lebhafte Anziehungskraft, die das junge 
Mädchen auf ihn ausübte, entfernte ihn ein wenig von der Mutter. Unbeftimmbar 
feine Nuancen des Benehmens, des Entgegenkommens, über welche dieſe ſich nicht 
zu täuſchen vermochte. Zu ehr Weib, um nicht den Zauber zu gewahren, mit dem 
Thereſe den Zugendfreund gefangen hielt, zu ſehr Weib, um im Grunde ihres 
Herzens nicht darunter zu leiden, beſaß ſie doch die Würde, ſich über perſönliche 
Gefühle zu erheben, die Zärtlichkeit, einz.g an das Vergnügen zu denken, welches 
das vertrauliche intime Geplauder mit dem gemeinſamen Freunde ihrer Tochter 
bereiten mußte. War es nicht ganz natürlich? Wie hätte ſie, ſo jung, ſo friſch, ſo 
für alle Ideen empfänglich, nicht einen Mann von wirklichem Werte bezaubern, 
faszinieren follen? Denn Madame Derpers war, wie alle Mütter, ſtolz auf ihr 
Kind, das ſie zu ihrer Gefährtin zu machen verſtanden hatte. Sie wußte gar wohl, 
daß Thereſe mit ihrem freien, feingebildeten Geiſte die mittelmäßigen Anbeter 
entmutigte, die Hoffnungen der nach ihrer Mitgift ſchmachtenden Bewerber ver- 
nichtete. Der Gedanke, daß Thereſe keinen ihrer würd. gen Gatten finden würde, 


Walter: Troſtung 463 


erfüllte fie oft mit banger Unruhe. Ihr Mann hingegen verſtand nichts von dieſen 
zarten Sorgen und grollte ſeiner Tochter, die er für zu wähleriſch hielt. 

Er und Roger hatten ihre Zigarren ausgeraucht, ihre Verdauung beendet. 
Ihre Geſchäfte riefen fie bis zum Diner nach Saumur. Sie verabjd).edeten fid. 
And nun erft begann für Géranes und die beiden Damen die richtige, köſtliche In- 
timität des Beiſammenſeins. Sie hatten ſich in der Veranda niedergelaſſen. Vor 
fih hatten fie das mit dem dichten Grün bengaliſcher Rofen umſponnene Ter- 
raſſengeländer. Die Straße war den Blicken entzogen, das Auge ſchweifte über 
die Ufer der Loire. Gewaltig floß fie dahin, fo langſam, daß man ihren Lauf kaum 
gewahrte. Ihre blitzende Oberfläche ſpiegelte den weiten, ſonnenüberglänzten 
Himmel, Kaum daß das Waſſer fih in unſichtbarem Anprall um eine flache Inſel 
kräuſelte, deren mächtige Baumgruppen ihren Widerſchein in bläulichgraue Schat- 
ten tauchten. Die Luft war ſo rein, daß das Murmeln der Fontänen aus dem Park 
herüberdrang, und dieſes Murmeln war ſo leiſe, flüſternd, daß es wie Schweigen 
und Stille erjchien. 

Madame Oexpers hatte eine Arbeit ergriffen. Über einen Rahmen gebeugt, 
wob ſie mit zarten Fäden große ſeidene Blumen und Vögel. Thereſens Hände 
hielten einen engliſchen Roman. Mechaniſch öffnete fie ihn. Séranes betrachtete 
den Titel. Es war die „Geſchichte einer Farm“ von Olive Schreiner. Gleich ihr 
las auch er Engliſch; er trat näher; ihre Köpfe neigten f.h über das Buch, und in 
einem ſtummen Zneinanderfließen gegenſeitigen Vertrauens begannen fie ge- 
meinſam mit den Augen zu leſen. Doch nur mit Mühe erfaßten ſie den Sinn der 
Worte; zwei Flüſſen gleich, die zu einem e.ngigen Strom fidh vereinen, riffen ihre 
Gedanken jie hen. 

Thereſe empfand eine Verwirrung, wie noch kein Mann ſie ihr eingeflößt. 
Und das war fo plötzlich, fo überraſchend gekommen, daß fie ſich fragte, ob fie nicht 
träume. Geheimnisvolle Macht der Sympathie: war es nur, weil ſie ſo oft von 
Seranes ſprechen gehört und mehr als einmal über fein Ternes Daſein nachgeſonnen 
hatte? War denn wirklich das kleine Mädchen, das dieſen ernſten Freund ſo ſehr 
ins Herz geſchloſſen hatte, herangewachſen, ohne zu ahnen, daß, wenn es den Ab- 
weſenden, Fernen wiederſehen ſollte, es ihm dasſelbe Herz entgegenbringen würde, 
mit dem es vor zehn Sabren feine Hand fo feft gedrückt und dabei fo nachdenklich 
den Weg betrachtet hatte, auf dem er ihren Blicken entſchwmden mußte? Wie, 
ſo ſchnell? Wie, ohne alles Wunder? Er war gekommen, und ihr war. als hätte 
jie immer feiner geharrt. 

Und Séranes? Er war immer noch geblendet. Dieſes junge Mädchen — kaum 
konnte er das Wunder faſſen, und doch war es holde Wahrheit — er durfte wagen, 
es zu lieben, er mit ſeinem müden Körper und geſättigten Geiſt, er, ſo jung und ſo 
alt zugleich, mit ſeinen vierzigjährigen, erſchlaffenden Nerven, ſeinen fieberglan- 
zenden braunen Augen, ſeinen aſchgrauen Schläfen? 

Mein Gott, war es denn möglich? So hatte er die Ferne durchwandert, 
um bei der Heimkehr, an der Schwelle des Hauſes, das mit gaſtlichem Lächeln ſich 
ihm öffnete, das unverhoffteſte, das unwahrſcheinlichſte Glück zu finden! Var er 
bei Sinnen? Und ſein Herz begann in dumpfen Schlägen zu pochen, während ſie 


464 Margueritte: Geblendet! 


und er, ohne den Blick zu heben, ohne zu begreifen, weiterlaſen oder doch zu leſen 
glaubten, und dabei vergaßen, die Blätter umzuwenden. 

Madame Derpers betrachtete fie. 

Sie betrachtete ſie mit einem ſchönen, tiefen Blick, mit einem jener Blicke, 
welche die Fülle einer oder mehrerer Exiſtenzen umfangen, einem unbeſchreiblich 
ſinnenden Blick, in dem der Schmerz und die Süße der Erinnerung, Zukunfts- 
ſorgen und Zukunftshoffnungen in einem ſtolzen, tiefen Ausdruck ſich vereinten, 
der die ganze volle Wirklichkeit umfaßte, mit einem Blick, der mutig war wie ihr 
Leben, rein wie ihr Gewiſſen. Und dieſer Blick umfing die beiden mit ſolcher Kraft, 
daß ſie gleichzeitig die Köpfe hoben. 

„Mama!“ rief das junge Mädchen und ſtürzte zu den Füßen der Mutter, 
umſchlang ſie mit ihren Armen, liebkoſte ſie mit unendlicher Zärtlichkeit. 

Und Madame Derpers hatte doch kein Wort geſprochen. Und auch Thereſe 
und Géranes blieben ſtumm. Doch alle drei fühlten ihre Augen feucht werden, 
und ſie lächelten, das Herz von bitterem und ſeligem Glück geſchwellt; und als 
Seranes und Sherefe fih in die Augen ſchauten, wurden fie ernſt, als ſähen fie 
über einen nahen Himmel den weißen Engel bräutlichen Glücks dahinſchweben. 


Tröſtung 
Von 


Robert Walter (Freyr) 


Wie die Wege auch gingen, Wem dein Wandel begegnet Aber aus deiner Wehmut, 
Die dein Leben ſchlich, Zwiſchen Luſt und Laſt, Gabenarm zu gehn, 
Seele, in allen Dingen Jedes hat dich gefegnet Lernteſt du in Demut 
Sahſt und fühlteſt du dich. Und lud dich zu Gaſt. Vor der Welt zu ſtehn. 


And du ſchöpfteſt aus Quellen Lautlos klingt die Stunde, 
Waſſer vom wirkenden Lauf. Die dein Glück erſchließt, 
Und nun atmen und ſchwellen Das aus deinem Munde 
Deine Blüten auf Selig überfließt. 


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Sexuelle Aufklärung in der Schule? 
Rektor Fr. Erdmann 


= heutzutage um nichts beffer als in dem modernen Seinebabel, 

JA SE um ein gut Teil ſchlimmer als in dem alten Babel. Die ſtatiſti- 
iden Veröffentlichungen der Krankenhäuſer beweiſen, daß ein erſchreckender Pro- 
zentſatz der Jugend, vor allem der ſtudierenden, von der galliſchen Krankheit an- 
gefreſſen iſt. Mehr als ein Militärarzt ſpricht die ernſteſten Bedenken über die 
Schlagfertigkeit des Heeres im Falle einer Mobilmachung aus, die gerade durch 
die Geſchlechtskrankheiten gefährdet wird; insbeſondere ift das Verhältnis von 
Geſunden und Kranken bei der Marine ein derartig naturwidriges, daß es geradezu 
Schrecken erregen muß. 

Auf die unſerem Volke drohende Gefahr iſt man ſeit langem auf allen Seiten 
aufmerkſam geworden, und von den verſchiedenſten Seiten und Geſichtspunkten 
aus ſucht man ihr zu begegnen: der Arzt, der Sozialpolitiker, der Volksfreund, 
der Kirchenmann, der Erzieher — ſie alle vereinigen ſich zum Kampfe wider den 
furchtbaren Feind; wenn ſie auch oft getrennt marſchieren, derſelbe Feind wird 
doch von allen Seiten angegriffen. Aber es ſcheint ſo, als wenn alle Bemühungen 
— auf das Große geſehen — bisher geringen Erfolg gezeitigt haben. 

Da ſieht man ſich denn, wie immer in ſolchen Fällen, nach einem Sündenbock 
um, der die Schuld an dem Mißlingen tragen foll, damit man fein Gewiſſen be- 
ruhigen kann. Und dieſer Sündenbock muß wieder einmal die Schule ſein! Bei 
der Zugend muß man im Kampfe wider alles Verderbliche einſetzen. Und weil 
fie bisher nichts Rechtes darin geleiſtet hat, darum miiffen alle anderen Bemühun- 
gen, ihre Unterlaffung wieder gutzumachen, fruchtlos verlaufen, darum iſt es nun 
endlich auch die höchſte Zeit, daß die Schule ſich auf ihre Pflicht beſinnt und ſie 
tatkräftig erfüllt. 

„Sexuelle Aufklärung der Zugend in der Schule“, 
ſo lautet die Parole, die, einmal ausgegeben, überall ſtarken Widerhall findet. 

Faft ſieht es fo aus, als ob auf das Wort bald die Tat in größerem Umfange 
folgen wird. Die erſten Schritte auf der Bahn ſind bereits getan. Das preußiſche 

Oer Türmer XI, 10 . 30 


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y BX Wie Renner behaupten, ſteht es um die Sittlichkeit in Groß Berlin 


cs ) Gr it dem fittlichen Kapital im deutſchen Volke geht es reißend bergab. 
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466 Erdmann: Sezuelle Auftlärung in ber Schule 


Kultusminiſterium beſchäftigt ſich zurzeit noch mit einer Umfrage bei den niederen 
Anterrichtsbehörden, ob in den höheren Lehranſtalten eine feru- 
elle Aufklärung der Schüler, vor allem beim Abgange von der Anſtalt, 
angebracht ſei. Wenn wir nicht irren, ſo wird die Frage vielfach mit ja beantwortet. 
Schon hat man hier und da die erſten praktiſchen Verſuche mit der Aufklärung ge- 
macht, und man kann auch leſen, daß die Verſuche bei Eltern und Schülern Bei- 
fall gefunden und zu guten „Ergebniſſen“ geführt haben (NB. Dieſe Ergebniſſe 
entziehen ſich doch wohl ſo gut wie ganz der Nachprüfung; die bloße wohlwollende 
Aufnahme bei den Beteiligten kann doch der eingefleiſchteſte Optimiſt höchſtens 
nur als eine günftige Vorbedingung für den wirklichen „Erfolg“ werten). — Fn 
der Volksſchule hat es zwar bisher an praktiſchen Verſuchen noch gefehlt, 
aber in der Lehrerſchaft, leider vor allem auch der weiblichen, wirbt man auf alle 
Weiſe dafür, und wahrſcheinlich wird ſich auch hier irgendwo bald ein Verſuchs⸗ 
feld finden. 

Wie find nun diefe Verſuche, die Jugend in der Schule ſexuell aufzuklären, 
zu beurteilen? Bevor wir darauf eingehen, ftellen wir einmal die Borfrage, 
ob dieſe Aufklärung überhaupt nötig ift. Da müſſen wir von vornherein 
ſagen, daß ſie inſoweit ſicherlich durchweg ihren Zweck verfehlt, als ſie ein bereits 
beſtelltes Feld nochmals zu durchackern unternimmt. Auf Grund allſeitiger, eigener 
wie fremder Erfahrung, die Lehrer wie Schüler machen, behaupten wir, daß fo- 
wohl die Volksſchüler als die Schüler der höheren Lehranſtalten, alſo unſere ge- 
ſamte Jugend, ſchon früh, jedenfalls viel früher, als man mit den Belehrungen 
beginnen will, über das „aufgeklärt“ find, worüber fie erſt aufgeklärt werden fol- 
len: nämlich über die feruellen Vorgänge. Wer alfo die geſchlechtlichen Auftlä- 
rungen etwa im Rahmen der Biologie in der Schule erteilen wollte, würde meiſt 
Waſſer ins Meer gießen, feine Arbeit wäre überflüſſig. Denn die Kinder haben 
ſich ſelbſt entweder untereinander oder aus dem wirklichen Leben längſt belehrt. 
— Eine andere Frage ift freilich die, ob fie über die mit dem ſexuellen Leben ver- 
knüpften Gefahren hinreichend belehrt ſind. Wenn wir dieſe Frage verneinen, 
ſo ziehen wir damit noch nicht die Folgerung, daß eine Belehrung wenigſtens nach 
dieſer Hinſicht eintreten müſſe. 

Denn wir lehnen jegliche abgeſonderte ſexuelle Be- 
lehrung in der Schule grund ſätzlich ab. 

Um unſere Stellung zu begründen, prüfen wir die Hebelkräfte, 
welche man bei der Aufklärung der Jugend anſetzen will. Wir finden in der Haupt- 
ſache deren drei: das natürliche Empfinden, den Egoismus 
der Selbſterhaltung und den Altruismus der Familien- 
und Volksliebe; dagegen der vierte Gedanke, daß es ein göttliches Gebot 
über das Geſchlechtsleben gibt, alfo das ſittlich-religiöſe Motiv, tritt bei den meiſten 
Reformern in der vorliegenden Sache faſt ganz in den Hintergrund. 

Das Einfachſte und Nächſtliegende iſt es ja, daß man ſich an die Natur des 
Kindes wendet. Mit der Naturanlage ift auch der geſchlechtliche Unterſchied, weiter 
der Geſchlechtstrieb und der Drang zur Fortpflanzung gegeben. In der Natur- 
kunde lehrt man ja die Kinder auf die damit verknüpften biologiſchen Vorgänge 


Erbmann: Sexuelle Aufllärung in der Schule 467 


wie auf deren Organe achten. Warum ſoll man nun beim Menſchen Halt machen 
und den Schleier über deffen Geſchlechtsleben ängſtlich ungelüftet laffen? ,,Natu- 
ralia non sunt turpia.“ An allen natürlichen Vorgängen haftet doch nichts Günd- 
haftes. Mit der peinlichen Umgehung des Geſchlechtlichen erreicht man nur das 
gerade Gegenteil von dem, was man beabſichtigt: die Lüſternheit, in das Geheim- 
nis hineinzuſchauen, wird dadurch um fo reger, und das Natürliche, die naive Auf- 
faſſung bekommt einen widernatürlichen, prüden Zug. Davor bleibt das Kind be- 
wahrt, das in den geheimnisvollen Vorgängen des Geſchlechtslebens das „ewige 
Geſetz“ der Natur verehren lernt. 

Vom Standpunkte des natürlichen Empfindens aus hal- 
ten wir die feruelle Belehrung, wie bereits gejagt, für überflüſſig, weil das natür- 
liche Leben ſchon mehr als frühzeitig für die Bekanntſchaft der Kinder mit den feru- 
ellen Lebensdugerungen ſorgt. Wir kennen aber auch weiter die Tatſache, daß 
dem natürlichen Empfinden das Gefühl der Scham nicht etwa künſtlich 
anerzogen, ſondern angeboren ift. Auf die Jittlich-religiöfe Begründung des feruel- 
len Schamgefühls foll gar nicht einmal zurückgegangen werden. Die einfache Tat- 
ſache genügt, daß dies Gefühl in der Menſchennatur wurzelt, obwohl es ertötet oder 
abgeſtumpft werden kann, und daß es mit der Steigerung des Geſchlechtstriebes 
in Verbindung mit dem Wachstum des Lebens ſich gleichfalls ſteigert. So ent- 
ſpricht es auch dem rein natürlichen Empfinden, wenn der Apoſtel Paulus von 
Dingen redet, die bloß auszuſprechen man ſich ſchämt. Damit wäre denn wohl 
das Hin- und Herreden über dergleichen Dinge in der Öffentlichkeit der Schule 
hinreichend gerichtet. An welchen Abgrund man aber geraten kann, wenn man 
das Schamgefühl mißhandelt, weil man es für das Erzeugnis einer naturwidrigen 
Erziehung erklärt, das zeigt ſich zum Erſchrecken, ſobald man den Abweg bis zum 
Ende verfolgt. Mit dem bloßen Worte kann und ſoll es in der ſexuellen Aufklärung 
nicht getan ſein, die Anſchauung muß hinzukommen, und es fehlt, wie ein Gegner 
mit Recht gefolgert hat, nur noch die — praktiſche Vorführung und Übung! Viel- 
leicht graut den Anwälten des „natürlichen Empfindens“ in ihren beſten Stunden 
vor den Geiſtern, die ſie aus der Tiefe heraufbeſchworen haben! — 

Weit natürlicher als diefe Art der IJnanſpruchnahme der Menſchennatur will 
es uns ſcheinen, wenn man ſich an den Selbſterhaltungstrieb des 
Menſchen in dem Kinde wendet. Hier wiegt dann das hygieniſche Bedenken 
vor, ſei es, daß die geſchlechtliche Enthaltſamkeit an ſich als geſundheitfördernd 
gewertet wird, fei es, daß fie als Verhüterin der Anſteckung mit Krankheit geprie- 
ſen wird. Die üblen Folgen, welche gerade dieſe Krankheit außerdem für das 
ganze Leben, für Arbeit und Genuß nach fic zieht, pflegt man bei dieſer Gelegen- 
heit lebhaft auszumalen. Mit dem vorigen Geſichtspunkt hat die Berufung an 
den Selbſterhaltungstrieb met den Umftand gemein, daß fie kein Schamgefühl 
kennt und an fih jede Befriedigung des Geſchlechtstriebes innerhalb wie auber- 
halb der Ehe für berechtigt, weil natürlich, erklärt. 

Dieſe Naturkenner — wie wenig kennen ſie doch die Menſchennatur! Wie 
wenig verſtehen fie von der Gewalt der Sinnlichkeit! Möglich, daß ausnahms⸗ 
weiſe kalte Verſtandesmenſchen vorkommen, welche ſich bei jedem aufſteigenden 


468 Erbmann: Sexuelle Auftlärung in ber Schule 


Triebe erſt fragen, ob ſeine Befriedigung nützlich oder ſchädlich für die Geſundheit 
fei. Die große Maffe folgt nicht dem Egoismus des Kopfes, der kühlen Nützlichkeits⸗ 
erwägung des Verſtandes, ſondern dem Egoismus der Sinnlichkeit, der gerade in 
ihrer augenblicklichen Luft auf feine Rechnung kommt. Wenn bloße intellektua- 
liſtiſche Erwägung und Aufklärung imſtande wäre, das Geſchlechtsleben in den 
rechten Schranken zu halten, ſo müßte man erwarten, daß unter den Gebildeten 
keine oder doch die wenigſten geſchlechtlichen Ausſchreitungen vorkämen, daß auch 
das von der Unſittlichkeit herrührende, den großen Maſſen gut genug bekannte 
Verderben ihnen längſt zur Abſchreckung und Beſſerung gedient hätte. Wie wenig 
das der Fall iſt, braucht nicht erſt auseinandergeſetzt zu werden. Nein, die Kraft 
des Selbſterhaltungstriebes reicht ebenfalls nicht aus, um das Geſchlechtsleben vor 
Gefahren zu ſichern: wenn nicht bei den Großen, wieviel weniger bei den Klei- 
nen und Zungen. Die ſexuelle Aufklärung verſagt auch hier, obwohl fie ſich auf 
eine ſtarke Triebkraft der Menſchennatur, den Egoismus, ſtützen kann. 

Auf eine höhere Warte als der Egoismus ſtellt uns ſicherlich di e alt ru iſt i- 
ſche Betrachtung unſerer Frage, ſo gewiß ſich die Nächſtenliebe über die 
Selbſtſucht erhebt; vielleicht leiſtet dieſer Hebel, was die vorigen nicht heben tonn- 
ten. Die Rüdfiht auf das kommende Geſchlecht, der Gedanke an das Wohl des 
Volkes, alfo die Gefühle der Bater- und Mutterſchaft und 
der Liebe zum Bolte follen fo geſtärkt werden, daß fie vor geſchlechtlichen 
Ausſchweifungen bewahren. „Gedenke deines Kindes! Gedenke deines Volkes! 
Gedenke, daß von dir das Wohl und Wehe, die Geſundheit des Blutes und die geiſtige 
und körperliche Kraft von Generationen, ja des ganzen Volkes mit abhängt!“ ſo 
rufe man der Jugend zu. Man wede ihren Verantwortlichkeitsſinn, ihr Selbſt⸗ 
gefühl und benutze „das heiligſte der Bande, den Trieb zum Vaterlande“, um 
den Züngling, die Jungfrau an Dijgiplin und Enthaltſamkeit im Geſchlechtsleben 
zu binden. | 

Und wer wollte leugnen, daß damit ein Bundesgenoſſe aufgerufen wird, 
deſſen Kraft das Höchſte, das Menſchenmögliche auf Erden leiſtet! Wie niedrig 
und gemein nimmt fic neben dieſem ſittlichen Ideal der Egoismus aus, der por- 
hin zur Triebfeder des rechten geſchlechtlichen Lebens gemacht werden ſollte! 
Dennoch müſſen wir bezweifeln, daß mit dem altruiſtiſchen Ideal das Allheil- 
mittel für die ſittlichen Schäden der Zeit gefunden ift. Das Ideal mag dem ge- 
reiften Manne naheliegen, nachdem er deſſen Verwirklichung oder auch Verfehlung 
an fih und anderen zum Teil erlebt hat, dem Kinde, dem Jünglinge liegt es doch 
zu weit außerhalb feines Geſichtskreiſes. Ja wir würden es geradezu für unnatür- 
lich halten, wenn ein Jüngling, der im Begriffe ſteht, fein eignes Leben voll zu ent- 
falten, und mit ſeiner eigenen Lebensgeſtaltung ringt, in die ferne Zukunft ſeinen 
Blick richten und fidh feine Lebensführung von der Rückſicht auf ſpätere Geſchlech⸗ 
ter, die noch gar nicht vorhanden find, ſondern nur erft vorgeſtellt werden, diktie⸗ 
ren laffen foll. Das wäre ein verſtiegener Idealismus, der mit den Aufgaben der 
Gegenwart ſchwerlich zurechtkommen würde: die größere Kraft könnte er noch in 
der Jungfrau entfalten, denn der Trieb, Mutter zu werden, die Mütterlichkeit ift 
in ihr in der Tat eine Macht, jedenfalls ſtärker als der Vaterſinn in dem Jüngling, 


Erdmann: Sexuelle Auftlärung in der Schule r | 469 


der ſich erfahrungsmäßig erft dann herausbildet, nachdem fein Gegenftand, das 
Kind, vorhanden ijt. Allein fo hoch man Bater- und Mutterſinn anſchlagen mag, 
die Löſung unſerer ſexuellen Frage trauen wir ihm allgemein nicht zu. Die bloße 
Sinnlichkeit, die Gewalt der Gelegenheit, die Macht der Gegenwart — das alles 
hat fein Recht auf das Verhalten des Menſchen, das alles fekt ſich beim Durch- 
ſchnittsmenſchen wider alle idealen Regungen mit brutaler Roheit durch. Wer das 
Gegenteil hofft, der beweiſt wieder, daß er die Menſchennatur, vielleicht — ſich 
ſelber ſchlecht kennt. Möge er einmal in den „Räubern“ die Stelle nachleſen, wo 
Franz Moor über die Entſtehung des Menſchen in ſeiner allerdings gemeinen 
Weiſe philoſophiert! Dann wird er von ſeiner Begeiſterung für die Aufklärung der 
Jugend über den Wert ihres geſchlechtlichen Verhaltens für die nachkommenden 
Blutsverwandten vielleicht weſentlich beſcheidener denken. Li 

So ſtänden wir nun vor dem traurigen Ergebnis, daß wir uns von allen neuen 
Reformverſuchen, durch die Schule die Sittlichkeit des Volkslebens zu beſſern, 
nicht nur wenig Nutzen, ſondern ſogar zum Teil bloß Schaden verſprechen. Wenig 
Nutzen, wenn die Belehrung es vermeidet, das Schamgefühl zu verletzen, Schaden 
dann, wenn ſie gerade darauf ausgeht, dies Gefühl als unnatürlich zu ertöten. 
In der Tat, wir ſehen in allen Reformverſuchen zur ſexuellen Aufklärung der Zugend 
nichts weiter als das Eingeſtändnis der Ohnmacht dem an unſerem Volke freffen- 
den Krebsſchaden gegenüber. Mehr mag die Aufklärung wirken, wenn ſie in der 
Familie, etwa vom Vater für den Sohn, von der Mutter für die Tochter ausgeht; 
daher mag ſie in der Familie ihre Stätte finden. 

Was unſerer Zeit, unſerem Volke not tut, das ijt nicht die intellektuelle Auf- 
klärung, die ſich an den Egoismus des Menſchen wendet, das iſt auch nicht die Be- 
rufung an ſein ſoziales Gewiſſen, an die Stimme des Blutes. Hier kann allein 
die Rückkehr zu der trotz allem wirkſamen Hilfskraft nützen, der Kraft des in Gottes 
Gebot gebundenen Gewiſſens. Sittlichkeit und Keuſchheit ſind Eigenſchaften, die 
nicht darum einen Wert beſitzen, weil ſie irgendwelchen anderen, außer ihnen 
liegenden Zwecken dienen, mögen fie egoiſtiſcher oder altruiſtiſcher Art fein, fon- 
dern ſind an ſich und für ſich Elemente des ſich nach Gottes Ebenbild geſtaltenden 
Menſchenlebens. Und die Verantwortung für die Reinheit unſeres Gejdledts- 
lebens ſchulden wir nicht uns und andern Menſchen, ſondern zu oberſt dem höchſten 
Richter, der zu uns ſpricht: 

„Du ſollſt nicht ehebrechen!“ 


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Regen und Ningen in der katholiſchen Kirche 


oma locuta — causa finite, das alte Wort gilt heute nicht einmal im Katholizismus 
R mehr. Rom hat geredet durch den neuen Syllabus vom 3. Juli 1907, dem bie 

» Enoyclica Pascendi vom 8. September folgte. Aber die Moderniſten ſchwiegen nicht. 
Zuerſt redeten die italieniſchen Vertreter ihrer Richtung, deren Antwort die Buchhandlung 
von Eugen Diederichs, Zena, nun auch in deutſcher Überfegung (1908, 1.50 4) nebſt dem deut- 
ſchen Text der Enzyklika bietet. Man ſagt, dieſe Antwort ſei beſtimmt geweſen, auf den Papſt 
einzuwirken, und dieſer Wunſch habe ihr das ruhige, zum Teil trockene Gepräge gegeben. Sie 
ift von dieſem Standpunkt aus nicht ungeſchickt verfaßt, und kann mit einem gewiſſen Recht dar- 
auf hinweiſen, daß die Moderniſten in den groben Linien und dunklen Farben, mit denen in 
dem päpſtlichen Erlaß ihre Beſtrebungen gekennzeichnet find, fidh ſelbſt gar nicht wiedererken⸗ 
nen, fo daß fie fi durch diefe Angriffe eigentlich gar nicht getroffen fühlten. Ferner fest fie 
in lehrhaftem, nüchternem Ton eine Anzahl tatſächlicher Ergebniſſe der wiſſenſchaftlichen Theo- 
logie auseinander, beſonders ſolche über die Entſtehung der 5 Bücher Mofe und die Evangelien 
frage; fie betont gegenüber dem Vorwurf des Agnoſtizismus, den fie entſchieden guriidweift, 
die Kraft religiöſer Intuition, fordert energiſch, daß die Alleinherrſchaft der ariſtoteliſch-ſcho⸗ 
laſtiſchen Philoſophie in der Kirche aufhöre, und verlangt, daß der berühmte Gamalielsrat 
aus der Apoſtelgeſchichte 5, 38 auch auf ihre Arbeit angewendet werde: „Zt der Rat oder das 
Werk aus den Menſchen, ſo wird es untergehen, iſt es aber aus Gott, ſo könnet ihr es nicht 
dämpfen“. Das alles in ruhiger, ſachlicher Sprache. Nur wo die Rede auf praktiſche Fragen 
kommt, wird die Tonart ſchärfer. Zumal, wo ſie die völlig verkehrte, weltfremde Erziehung 
der katholiſchen Prieſter ſchildert, die heute das „ſonderbare Schauſpiel lebendiger Anachro⸗ 
nismen bieten, welche in der modernen Welt leben, ohne ihre Beſtrebungen, ihre Sprache, 
ihre Ideale zu verſtehen.“ 

Pius X. ſoll dieſe Schrift, als deren Verfaſſer der ehemalige Kirchenhochſchulprofeſſor 
an der päpſtlichen Schule zu San Appollinare E. Bonajuti gilt, unter Gähnen ſtudiert und dabei 
geäußert haben: „Er habe feit langer Zeit nichts derartig Langweiliges geleſen.“ Seine Er- 
widerung war das Motu proprio vom 29. Oktober 1907, das Verfaſſer und Leſer des Programms 
unter das Edikt ſtellte. Darauf ſetzte die „Antwort der franzöſiſchen Katholiken an den Papſt“ 
(ebenfalls E. Diederichs 1908, 110 S. 14) in erheblich ſchärferer Tonart ein. Auch hier noch 
gelegentlich die Verſicherung, daß man ſich eigentlich durch das vom Modernismus entworfene 
Zerrbild der Bulle nicht getroffen fühle, ſowie daß man in ihr nicht eine unfehlbare Entſchei- 
dung ex cathedra anerkennen könne; aber im ganzen zeigt dieſe Schrift eine vollſtändig ver- 
änderte Stellung zum Papſt. Nicht nur, daß Leo XIII. als angeblich moderniſtenfreundlicher 


Regen und Ringen in der katholiſchen Rice 471 


Papſt, als fein gebildeter, wiſſenſchaftlicher Geiſt der „ländlich ſchlichten, ganz und gar prat- 
tiſchen Gläubigkeit“ feines Nachfolgers gegenübergeſtellt wird, deffen „unerſchüttertes, eines 
Dorfvikars würdiges Vertrauen zu den ſcholaſtiſchen Lektionen wackerer Prieſter“ auch feine 
Kirchenpolitik leite, nein, der ganze Geiſt dieſer Schrift iſt vom ſchärfſten Gegenſatz gegen die 
Kurie erfüllt. Die Bibelkritik iſt viel radikaler, als bei den Italienern, und einmal Ober das 
andere erſcheint als anerkannter Gewährsmann und hohe Autorität Erneſt Renan, der alte 
Todfeind der franzöſiſchen katholiſchen Kirche. Das ift nicht mehr Reform, das ift Abfall von der 
Mutter Kirche, zumal mit Zuſtimmung der Satz Pascals zitiert wird, daß dieſe Kirche niemals 
reformiert werden könne. Bei dieſer nach der vorangegangenen Behandlung der Moderniſten 
wohlverſtändlichen Stellungnahme mutet uns Evangeliſche höchſt eigentümlich die Verſicherung 
an, daß trotzdem niemand die Kirche verlaſſen werde. „Selbſt die Einzelaustritte werden ſelten 
fein. Noch weniger aber wird eine Unterwerfung ſtattfinden. Die Moderniſten werden viel- 
mehr die Hierarchie reden und ſich gebaren laſſen, und in größter Seelenruhe bleiben, was 
ſie ſind, und wo ſie ſind.“ Dieſe Stellung bei ſo radikalen Anſchauungen, wie ſie in der „Ants 
wort“ zum Ausdruck kommen, ift für unfer Gefühl eine innere Unwahrheit, und es wird un- 
ſchwer, zu glauben, daß Menſchen, die in einer jo zweideutigen Lage verharren, wirklich im- 
ſtande fein ſollten, „das ethijd-religidfe Erbe der Väter zu retten.“ Wir finden in dieſer Ant- 
wort der franzöſiſchen Moderniſten das alte unheilvolle Merkmal, das die franzöſiſche Reli- 
gioſität feit der Abſtoßung der Hugenotten an fic trägt: haltloſes Hin- und Herſchwanken zwi- 
ſchen Bigotterie und Freigeiſterei. 

Im deutſchen Lager geht es etwas ruhiger her. Hier iſt bei den heimlichen oder offenen 
Reformkatholiken mehr die Neigung vorhanden, kulturelle Schwächen des Katholizismus an das 
Tageslicht zu ziehen und als Angriffspunkte zu benutzen. So veröffentlicht Anton Memminger 
unter der Überſchrift „Das verhexte Kloſter“ (2. Auflage, Würzburg, Memminger, 1908, 
2 &) die Akten eines Hexenprozeſſes vom Jahr 1749 in ihrer ganzen grauſigen Ausführlichkeit, 
denn es ſei die Aufgabe der gebildeten deutſchen Publiziſten, „mit der Fackel der Wahrheit 
die dunkelſten Schatten der Vergangenheit zu beleuchten, damit die Gegenwart, und vor allem 
das Volk daraus lerne“. Aber was follen diefe Schauergeſchichten zur Volksaufklärung der Gegen- 
wart beitragen? Selbſt als „Belaſtungsmaterial wider die Jeſuiten“ haben ſie doch nur recht 
zweifelhaften Wert, ſintemalen in Hexenprozeſſen die Konfeſſionen allzumal Sünder waren. 
Da find eindrucksvoller die beiden von Eckart (Leipzig, Wiegandt, 5 M) herausgegebenen Bände, 
die je hundert evangeliſche und katholiſche „Stimmen aus vier Jahrhunderten 
über den Zejuitenorden“ geſammelt haben. Dieſe Stimmen zeigen eine über- 
wältigende Einmütigkeit bedeutender Perſönlichkeiten aus den verſchiedenſten Gebieten in der 
Ablehnung des Ordens und feiner Tätigkeit. Nur ſollte man bei dem Kampf gegen die Zeſuiten 
nie vergeſſen, daß der Streit um die Zulaſſung des organiſierten Ordens an praktiſcher Be- 
deutung nicht unerheblich verloren hat, feit der Geiſt des Sefultismus im innern Leben der 
katholiſchen Kirche auf der ganzen Linie Sieger geblieben iſt, und an den leitenden Stellen 
wie in der Ausprägung katholiſcher Frömmigkeit durchaus vorherrſcht. 

Aberſchaut man die ganze bisher geſtreifte Literatur, ſo fällt es dem Leſer immer wieder 
auf, wie felten und wie ſchwach wirklich religiöſe Töne in ihr angefchlagen werden. Zn bei wei- 
tem den meiſten Fällen find es intellektuelle Zweifel, die zum Ausdruck kommen. Die moder- 
niſtiſche Bewegung ijt eigentlich, fo fehe fie es vielfach ableugnet, nichts anderes als der Rüde 
ſchlag der deutſchen theologiſchen Arbeit auf den Katholizismus. Das ift für uns Evangeliſche 
intereſſant. Es beweiſt, wie erſchütternd diefe Arbeiten auf ernſte Katholiken wirken, und wie 
der durch den Druck dogmatiſcher Autorität mißhandelte Wahrheitsſinn hie und da zu neuem 
Leben erwacht. Aber faſt nie begegnet man Stimmen, denen es anzumerken iſt, daß ſie um den 
Kern ihres Weſens, um ihre Stellung zu Gott und um das Heil ihrer Seele bangen. Die ganze 
Bewegung iſt weit mehr wiſſenſchaftlich als religiös orientiert. 


472 Regen und Ringen in der katholiſchen Rirdhe 


Freilich auch bei Verteidigern Pius’ X. iſt es nicht anders. Zu ihnen rechnen wir den 
geſcheiten und geſchickten Journaliſten, der unter dem Pſeudonym Ignis Ardens ein Buch 
über Pius X. und den päpſtlichen Hof (deutſch von Maria Textor, Leipzig, Wie- 
gandt, 1908) herausgegeben hat. Sehr gewandt flicht der Verfaſſer zwiſchen allerlei fein- 
beobachtete Stimmungsbilder aus der letzten Krankheit Leos XIII., den Tagen des Konklaves, 
der erſten Regierungszeit Pius’ X., ſowie zwiſchen allerlei Anekdotenkram aus dem täglichen 
Leben des Papſtes eine Verteidigung ſeiner Regierungsmaßnahmen ein. Leo XIII. und Ram- 
polla erſcheinen abweichend von der landläufigen Vorſtellung als Männer, die in der Diplo- 
matie, beſonders im Verhältnis zu Frankreich, den Vatikan auf ein völlig falſches Geleiſe ge- 
bracht hatten, fo daß Pius X. lediglich der unglückliche Erbe einer verfehlten Politik fei. Dar- 
aus erklärten ſich feine auffallenden, aber wohlbegründeten Maßnahmen. Das Buch würde 
vielleicht noch eindrucksvoller ſein, wenn man es nicht von A bis Z mit dem ſtillen Argwohn 
läſe, daß der Verfaſſer ebenſo trefflich — aufzuſchneiden verſteht, wie feine von ihm oft wegen 
ihrer Tatarennachrichten verſpotteten Kollegen von der Feder. 

Aus all dieſem Tageslärm hebt uns weit heraus das Werk des Bonner Kirchenhiſto⸗ 
rikers Rarl Sell „Ratholizismus und Proteſtantis mus in Geſchichte, 
Religion, Kultur und Politik“ (Leipzig, Quelle & Meyer 1908, 326 S., 4.80 M). 
Sell will uns auf eine hohe Warte ſtellen, von der landläufigen Polemik mit ihrer beiderſeitigen 
Skandalchronik völlig abſehen und die großen Fragen, die zwiſchen den beiden Ronfeffionen 
ſpielen, rein geſchichtlich behandeln. Man könnte die Frage aufwerfen, ob ein ſolches Unter- 
nehmen unter unſeren heutigen Gerhdltniffen überhaupt durchführbar ift. Jedenfalls kann 
ein Buch wie das von Sell mit ſeiner großen Unparteilichkeit und dem weitgehenden Streben, 
dem Gegner gerecht zu werden, unter heutigen Zeitläuften wohl nur im evangeliſchen Lager 
geſchrieben werden und muß evangeliſche Grundſtimmung tragen. Mit großer Sachkenntnis 
ſucht Sell die Kernpunkte heraus, und bemüht ſich, die Konfeſſionen darzuſtellen als zwei „ver- 
ſchiedene Religionsindividualitäten, von denen jede in fih den ganzen Umfang der Merkmale, 
an denen man die chriſtlichen Religionen erkennt, in eigentümlicher Weiſe ausprägt und bar- 
ſtellt.“ Die Art der Auswirkung dieſer beiden Grundformen verfolgt Sell in weit ausholenden 
und doch ſtets auf die Gegenwart Bezug nehmenden geſchichtlichen Darſtellungen bis in die 
Gebiete der Politik und Kultur hinein. Dabei ift Sell jo objektiv, daß er ſelbſt die Rraftaus- 
drucke des „Kurialſtils“ (S. 181 pestilentissimus error) als „rein ſachliche Urteile“ vom Stand- 
punkte des Redenden aus anzuerkennen ſich Mühe gibt. Auch in der Beurteilung des moder- 
nen Katholizismus als Kulturfaktor kommt er den Ergebniſſen von H. Ro ft (Die Ratho- 
liken im Kultur- und Wiſſenſchaftsleben der Gegenwart. Köln, 
Bachem, 2 M) nahe, der in ſorgfältigen und intereſſanten ſtatiſtiſchen Unterjuchungen über 
die konfeſſionelle Anteilnahme am Reichtum und an der Bildung der Nation den Nachweis 
zu liefern fih bemüht, daß die ſogenannte Snferiorität der Katholiken nicht etwa in einer reli- 
giöſen Rückſtändigkeit, ſondern mehr in zufälligen wirtſchaftlichen und politiſchen Urſachen be- 
gründet ſei. 

Bücher wie das von Sell find immer wirkungsvoll, weil fie uns für eine Weile aus 
dem Gebiet des in feinen Mitteln oft wenig wähleriſchen Tagesſtreites herausführen. Auch 
wird man nicht mit Unrecht in ſolchem Bemühen, dem Gegner gerecht zu werden, einen ſtarken 
Beweis der eigenen Kraft erblicken können, und zugleich den Wunſch, auch von dem Gegner 
zu lernen und dabei den eigenen chriſtlichen Standpunkt zu vertiefen. Einen Einblick in die 
innerſte Seele katholiſcher Frömmigkeit können freilich auch ſolche Schriften nicht bieten. Da 
müſſen wir wieder den Stimmen der Katholiken ſelbſt lauſchen. Darum iſt heute für den auf⸗ 
merkſamen Beobachter dieſer großen Auseinanderſetzungen kaum etwas wertvoller und in- 
tereſſanter, als Biographien, womöglich ehrliche Selbſtbiographien von Katholiken. Zwei 
ſolcher Bücher liegen mir vor. 


Das Werden irdiſchen Lebens im Lichte der Pendulationstheorie 473 


Da ift eine in der bekannten Sammlung „Kultur und Katholizismus“ (Mainz, Kirch- 
heim, 2 M) erſchienene Biographie Huysmans von Zörgenfen. Zn gewiſſer Hinſicht 
ein typiſches Buch. Huysmans, wie die Helden feiner Werke, gehören ganz und gar der deta- 
denten franzöſiſchen Literatur an. Es ſind Menſchen, denen kein Sumpf zu ſchmutzig iſt und 
deren Luͤſternheit an das Perverſe ſtreift. Durch ein wahnwitziges Pariſer Genußleben gelangen 
ſie bis zu einer Grenze der Entnervung, die ich nicht weiter bezeichnen mag, und dann folgt 
plötzlich der radikale Umſchlag. In der Zurüdgezogenheit und im Frieden des Kloſters ſuchen 
die körperlich und ſeeliſch Aufgebrauchten Rettung vor fidh ſelbſt für den kurzen Reſt ihres ver- 
geudeten Lebens. Das iſt gewiß beffer, als wenn fie bis zum Ende auf der alten Bahn ver- 
harren würden. Aber fie bleiben, wie auch Zörgenſen mehrfach andeutet, doch im tiefſten Grunde 
unſympathiſche Perſönlichkeiten. 

Eine ganz andere Entwicklung ſtellt die Selbſtbiographie des Philoſophen an der Uni- 
verſität zu Münſter, G. Spicker, dar. (Dom Kloſter ins akademiſche Lehr- 
amt. Stuttgart, Fromman, 1908, 2 M). Das ift hübſch zu leſen, wie in dem aus ärmlichen 
Verhältniſſen ſtammenden frommen und klugen Burſchen der Drang, etwas zu lernen, immer 
mãchtiger wird; wie er ſchließlich in ein Kapuzinerkloſter eintritt, das ihn freilich auf die Dauer 
nicht zu halten vermag, aber ihm doch tiefe Cindriide fürs Leben mitgibt. Dann begleiten wir 
ihn durch die Univerſitätszeit mit mancherlei inneren und äußeren Kämpfen und ſehen, wie 
er ſchließlich, trotz aller Anfeindungen des ultramontanen Klerus, ſein Ziel erreicht: ein theiſtiſch 
gerichteter Philoſoph, ob auch von den offiziellen Lehren ſeiner Kirche wohl in vielen Punkten 
innerlich weit entfernt. 

Wollten wir aus einem Vergleich dieſer beiden Biographien einen Schluß ziehen, ſo 
würde er für die katholiſche Kirche nicht günſtig ſein. Der Gewinn einer Perſönlichkeit wie 
guys mans will wenig bedeuten, wenn ein Mann wie Spicker doch innerlich fid feiner Kirche 
entfremdet. Die Frage iſt nur, ob man ein ſolches Ergebnis mit Recht verallgemeinern kann. 


Chr. Rogge 
22 


Das Werden irdiſchen Lebens im Lichte der 
Pendulationstheorie 


> J chon Kreichgauer iſt in ſeiner Schrift: „Oie Aquatorfrage in der Geologie“ (1902) 

Y ZO, der vor ſieben Fahren von P. Reibiſch aufgeftellten Pendulationstheorie ziemlich 
nahe gekommen. Verſchiedentliche Erörterungen über einen zweiten Erdmond 
ſprachen dieſer Theorie gleichfalls das Wort. Einen Hauptvertreter aber hat die Pendulations- 
theorie in Profeſſor Dr. Simroth gefunden, der in verſchiedenen Abhandlungen und in ſeinem 
Werke: „Die Pendulationstheorie“, Leipzig 1907, Konrad Grethleins Verlag (mit 27 Karten 
im Text) dieſe Theorie vertiefte und ausbaute. 

Hören wir zunächſt in kurzem, wie Simroth die Pendulationstheorie tenn- 
zeichnet. Ecuador und Sumatra find die zwei Endpunkte der längſten Erdachſe. Zwiſchen die- 
fen beiden feſten Polen, dem W e ft- und dem © ft pol, pendelt die Erde in langſamen Schwin- 
gungen hin und her. Infolge dieſer Erdpendelung wird der Nord- und Südpol auf dem 
Schwingungskreis, dem 10. Grad öſtlicher Länge, abwechſelnd nach Süden und Nor- 
den verſchoben. Dieſen 30 bis 40 Grade betragenden Pendelausſchlägen entſprechen die großen 
geologiſchen Perioden. Im Altertum der Erde (in der paläozoiſchen Zeit) befand 
ſich Europa in Bewegung nach Norden und kam im Perm in die erſte Eiszeit hinein. Als dann 
der erſte Umfchlag eintrat und die Erde nach Süden pendelte, trat fie in ihr Mittelalter 
(in die meſozoiſche Zeit) und kam Europa in der Kreide und zu Beginn der Neuzeit im Eozän 


474 Das Werben irdiſchen Lebens im Lichte der Penbulationstheorie 


in ſubtropiſche Lage. Während des Tertiärs dann brachte ein neuer Umfdlag Europa in die 
diluviale Eiszeit. Seither pendelt die Erde wieder nach Süden. 

Warum aber pendelt unfere Erde zwiſchen ihrem Weft- und 
Oſtpol hin und her? Nah Simroth haben wir die Urſache hierfür in dem Auffallen 
eines zweiten Erdmondes auf die Erde zu ſuchen. Indem dieſer Mond von Weftfiidweften her 
im Sudan ſchräͤg auf die Erde traf, wurde das Gleichgewicht der Erde geſtört, die Landmaſſen 
der Alten Welt drängten ſich mehr zuſammen und bekamen über die der Neuen Welt das Über- 
gewicht, auf der pazifiſchen Erdhälfte wurde Land vom Weltmeer weggefpült, das auf den ur- 
alten afrikaniſchen Klotz geſtützte Europa blieb vor der Wegfpülung durch den Ozean bewahrt, 
und es ſtanden fih nun die landreiche atlantiſch- indiſche, afritanifch-europälihe und die waſſer⸗ 
reiche pazifiſche, amerikaniſch-auſtraliſche Erdhälfte gegenüber, 

Die geologiſchen Epochen erhalten im Sinne der Pendulationstheorie eine andere Wer- 
tung, gelten nicht mehr als gleichzeitige Perioden, ſondern als von Europa aus auf vorgegetdy- 
neten Linien über den Erdball gleitende Wellen. Die Verteilung der Zonen war immer die 
gleiche, die Abkühlung mag im ganzen nur wenige Grade betragen. Die großen geologiſchen 
Perioden entſprechen den großen Pendelausſchlägen, die Formationen den Verſchiebungen 
von einer Zone in die andere. 

Die Entſtehung der organiſchen Weſen erreichte auf dem Lande die 
höchſte Stufe. Außerdem machte fih aber von jeher in der organiſchen Entwicklung das Be- 
ſtreben geltend, ſich von der direkten Abhängigkeit von der Sonnenwärme und den klimatiſchen 
Verhältniſſen freizumachen, eigene Wärme zu erzeugen, die eigene Leibeswärme zu regulieren. 
Die Säugetiere und Vögel, welche ihre Innentemperatur auf 37—41 Grad zu erhalten im- 
ſtande find, haben es in dieſer Richtung am weiteſten gebracht. Giele beiden Grundzüge, der 
Ausgang der Lebeweſen vom Lande und die Befreiung von der gleichmäßigen Wärme der 
Tropen, ſagt Simroth, geben im Zuſammenhange mit der Pendulation der Erde den Schlüſſel 
für das Verſtändnis der geſamten Schöpfung. In Europa liegt der Schwerpunkt. Im Alter- 
tum der Erde erfolgte während der polaren Phaſe von einem alten tropiſchen Stock von Lebe- 
weſen eine rein mechaniſche Verſchiebung der Lebeweſen aus dem Sudan in das Gebiet des 
Mittelmeeres und weiter zu uns. Solche Verlegung von Lebeweſen konnte für dieſe verſchiedene 
Konſequenzen haben. Die plaſtiſchen, anpaſſungsfähigen Individuen unter ihnen geſtalteten 
fih in neue Formen um, die weniger plaſtiſchen, aber doch beweglichen wichen nach Süden 
oder auf dem ihnen paſſenden Breitegrade ſüͤdweſtlich oder ſüͤdöſtlich aus, die nicht anpajfunge- 
fähigen und auch nicht beweglichen Formen ſtarben aus. Bei neuerlicher Verlegung nach Nor- 
den arbeitete die Natur an den fo entſtandenen neuen Formen in gleicher Weiſe weiter. 

Waſſer und Feſtland verhalten fich der Zentrifugalkraft der Erde gegenüber verſchieden. 
Das Feſtland wird bei der polaren Phaſe der Erdpendelung aus dem Waſſer emporgehoben, 
vermag ſchließlich der Schleuderkraft nicht mehr Widerſtand zu leiſten, bricht ein und faltet 
ſich zu Gebirgen, umgekehrt wird es bei der dquatorialen Phaſe wieder untergetaucht. Das 
Waſſer aber behält, der Zentrifugalkraft folgend, immer die abgeplattete Kugelgeſtalt der 
Erde bei. Waſſertiere entſtehen, wenn bei der polaren Phaſe Landtiere den ſtärkeren Temperatur; 
ſchwankungen in der freien Luft auszuweichen ſuchen und ſich in das viel gleichmäßigere warme 
Waſſer begeben, und in der äquatorialen Phaſe, wenn Land mit feiner Tierwelt untertaucht. 

In Europa ſind ſo alle Lebeweſen, mindeſtens als Familien, entſtanden. Sie wurden 
fo weit verſchoben, als noch Bedingungen vorhanden waren, welche denen ihres europäiſchen 
Entſtehungsherdes entſprechen. Die Umwandlungen, die ſie unterwegs erfahren, ſind nur 
untergeordneter Art. Nachdem es vielfach zur Emporhebung des Meeresbodens über den 
Meeresſpiegel gekommen ift, kann man bereits die Ber bindungsbrücken zwiſchen den 
Kontinenten, auf denen die Wanderung vor fih ging, zum großen Teile ſkizzieren. Simroth 
hat die wichtigſten Verbreitungslinien kartographiſch angegeben. 


Oas Werben irdiſchen Lebens im Lichte ber Pendulationstheorte 475 


Es dürfte den Lefer beſonders intereſſieren, zu hören, wie nach dieſen Lehren die En t- 
tebung des Menſchen vor ſich gegangen ift. Da alle Refte vorweltlicher Menſchen 
zwiſchen den Pyrenäen und Kroatien gefunden wurden, müſſe der Menſch bei uns entſtanden 
fein. Indem dieſe Urwaldbewohner mechaniſch in baumloſe Gegenden verlegt wurden, waren 
fie genötigt, auf dem Boden zu gehen und fic fo aus Baumbewohnern in die gehenden Men- 
fen umzuwandeln. Faft alle Menſchenraſſen erſcheinen unter dem Schwingungskreis vom 
Kap bis Lappland und Grönland übereinander gelagert. Hier ſind auch die erſten Kulturen 
entſtanden und haben ſich in Lebensgemeinſchaft mit dem Menſchen die Haustiere heraus- 
gebildet, während die wilden Formen in der Tertiärzeit nach ihren heutigen Wohngebieten 
ausgewichen ſind. l 

Unter dem Kulminationskreis, dem durch die Schwingpole gehenden Meri- 
dian, gelangen in jeder Pendelſchwingung die Organismen auf der nördlichen Erdhälfte in 
ihre nördlichſte Lage. Unter dieſem Kulminationskreis wird das Land am weiteſten gegen den 
Nordpol hin verſchoben. In der Alten Welt iſt dies die Taimyrhalbinſel. Bekanntlich hat Palmen 
in feinen Karten der Vogelzugſtraßen gezeigt, daß diefe Zugſtraßen ſtrahlenartig aus dem Um- 
kreis des Nordpols, aus Neuſibirien, Taimyr, Nowaja Semlja, Spitzbergen und Oſtgrönland 
ausgehen. Die öſtlichen Zugſtraßen von Zeniſſei ab gehen in ſüͤdlicher und ſüdöſtlicher Richtung, 
die weſtlichen in ſüdweſtlicher Richtung. Von der Taimyrhalbinſel geht eine Vogelzugſtraße den 
Ob entlang nach dem Schwarzen und Griechiſchen Meere und nach der Levante, während ein- 
zelne Zweige nach dem Kaſpiſchen Meere und nach Turan verlaufen. Die Vorfahren dieſer 
Wandervögel erreichten die Taimyrhalbinſel entweder von Südweſten oder von Südoften her, 
daher geht der Wanderzug entweder nach Südweſt oder nach Südoſt, kein Zugvogel aber kreuzt 
die Halbinſel. Hier wird, ſagt Simroth, der Wanderzug der Vögel in feinem Maximum geradezu 
zu einem mathematiſchen Problem. Auch das rieſenhafte Auswachſen vorweltlicher Tiere in 
Nordamerika, weiters die eigenartige Tierwelt des Baikalſees findet in der Kulminationskreis- 
lage feine Erklarung. 

Die Pendulationstheorie bezieht noch die Einwirkung anderer Einflüſſe ein. Während 
die großen geologiſchen Perioden den großen Ausſchlägen der Erdpendelung, die Formationen 
den Verſchiebungen von einer Zone in die andere entſprechen, ſind die kleineren Stufen auf 
eine ſekundäre Bewegung eingeſtellt, wie fie der aſtronomiſch konſtatierten Drehung des Nord- 
pols innerhalb etwa 28 000 Zahren entſpricht. Indem fih diefe Drehung mit den Pendel- 
ausſchlägen kombiniert, werden die Pendelausſchläge in eine Schraubenlinie umgeſetzt, die in 
jeder polaren Phaſe einen Punkt unter dem Schwingungskreis nach Norden, dann wieder um 
einen geringeren Betrag nach Süden zurückführt uſw. (bei der dquatorialen Phaſe umgelehrt), 
wodurch u. a. die Zwiſcheneiszeiten zuſtande kommen. 

Sekundär macht fih auch ein anderes ſolares Prinzip, die eLfjabrige Sonnen- 
fleckenperiode geltend. Schon feit langem hat man das Auftreten der Heufchreden- 
ſchwärme mit dem der Sonnenflecken in Verbindung gebracht. Während die Periode der 
Sonnenfleckenmaxima zwiſchen 6 und 17 Jahren ſchwankt, würde die der Tiere, deren Abhängig- 
keit von der Sonnenfleckenperiode behauptet wird, Tat genau das Mittel, 11 Jahre, betragen. 
gm Zahre 1896 ſtellte fih in Oeutſchland der dünnſchnäbelige ſibiriſche Tannenhäher (Nuci- 
fraga caryocatactes macrorhyncha) in Unmengen ein. Simroth prophezeite für das Jahr 
1907 einen neuen Maſſeneinbruch dieſes Vogels, der auch tatſächlich ſtattfand. Während man 
bisher der Meinung war, daß es eine Mißernte an Zirbelnuͤſſen, der Hauptnahrung des Tannen- 
babers, fei, die den Vogel von Zeit zu Zeit zu uns führt, ſchreibt es Simroth dem beſonders 
reichlichen Samenertrage der Zirbelnuͤſſe, der infolge folder Nahrungsfuͤlle eine überreiche 
Vermehrung des Tannenhähers herbeiführt, zu, daß der Tannenhäher ſeine Wanderungen in 
die Fremde antritt. Das Jahr 1907 brachte auch andere Tierwanderungen, maſſenhafte Jeu- 
ſchreckenſchwärme in Ungarn, maſſenhaftes Auftreten von Weſpen, Eichhörnchen, zahlreiche 


476 ö Am Tage nach der Revolution 


Schwärme von Libellen, Oiftelfaltern. Wien war durch zwei Tage der Schauplatz einer Maſſen⸗ 
wanderung des Ringelfpinners, der alle Gärten, Straßen, öffentlichen Lokale mit feinen Schwär- 
men erfüllte und von Zeit zu Zeit ſelbſt die Bogenlampen auf den hohen Maſten verfinſterte. 
Termiten, die vor elf Jahren die Holzbeſtandteile des Nationalmuſeums zu Waſhington an- 
griffen, ſtellten fih im Jahr 1907 neuerlich in noch größerer Menge ein. Auch das Steppen 
huhn, das im Jahre 1888 in ſo enormen Mengen nach Europa gekommen war, machte im 
Sabre 1907, alſo nach zwei Sonnenfleckenperioden, neue Einwanderungsverſuche. 

Auch der Vulkanismus erſcheint nach den Erklärungen der Pendulationstheorie 
in anderem Lichte. In jeder polaren Phaſe, ſo im Altertum der Erde und im Tertiär, erreicht 
er fein Maximum. Wie die Organismen ſcheinen auch die Erdbebenlinien gleichen Berbreitungs- 
geſetzen zu folgen, und das dürfte auch für die meteorologiſchen Vorgänge in der Atmoſphäͤre 
ſeine Gültigkeit haben. 

So wird nach der Pendulationstheorie die ganze Schöpfung folgerecht und kontinuier- 
lich. Seit dem Kambrium, feit der Zeit, von der an die Ergebniſſe der Paläontologie eine ge- 
nauere Rechnung möglich machen, lag der Schauplatz aller wichtigen Umbildungen da, wo die 
Kultur des Menſchen ihren Höhepunkt erreicht hat. | 

„Ein Rückblick auf die Einzelheiten der in dieſem Buche niedergelegten Unterſuchungen“, 
ſchließt Simroth, „läßt es mir beinahe rätſelhaft erſcheinen, daß die Geburt der Pendulations- 
theorie ſo lange hat auf ſich warten laſſen. Wohin ich auch ſehe, alles war nach den Linien, 
die durch die Pendelbewegungen der Rotationspole bedingt werden, geordnet, alles ging von 
uns aus. Was ich weggelaſſen habe, iſt keineswegs unterdrückt worden, weil es ſich gegen 
die Theorie auflehnte, ſondern entweder weil ich es nicht genügend beherrſchte oder weil die 
bekannten Tatſachen noch zu ſpärlich waren, als daß fie einen Schluß pro oder contra zu- 
gelaſſen hätten.“ 

Für die Straßen, welche die ſich ausbreitenden Tiere gegangen ſind, erſcheinen die 
Wanderungen, denen fie jetzt folgen, bezeichnend. Die bei polarer Phaſe von uns aus ver- 
drängten Formen (3. B. Wanderratte, Zieſel, Tannenhäher, Steppenhuhn, die auf Helgoland 
eintreffenden amerikaniſchen Zugvögel) kehren jetzt bei entgegengeſetzter Phaſe als rüd- 
flutende Formen zurück. Zu beiden Seiten des Beringsmeeres ſuchen jetzt die Lachſe 
die Stellen in den Gebirgen auf, die ihren Bächen bei ſüdlicherer Lage den Urſprung gaben, 
heute aber in höhere Lagen emporgehoben ſind. Viele nordiſche Säuger wandern noch 
heute bei ſtärkſter Kälte aus, am ſtärkſten auf der Taimyrhalbinſel. 

Wohl verhält fic) die Mehrzahl der Forſcher dieſer Theorie gegenüber noch zurückhaltend, 
aber es iſt nicht zu leugnen, daß ſie in intereſſanter und umfaſſender Weiſe das Werden der 
irdiſchen Schöpfung zu erklären ſucht. Dr. Friedrich Knauer 


% 
Am Tage nach der Revolution 


Ger marxiſtiſche Kommunismus tritt bekanntlich mit dem Anſpruch auf, daß die Ourch⸗ 
führung ſeiner Lehre allein es bewirken kann, „daß“ — um mit den Worten des 
Erfurter Programms zu reden — „der Großbetrieb und die ſtets wachſende Er- 
tragsfähigkeit der geſellſchaftlichen Arbeit für die bisher ausgebeuteten Klaſſen aus einer Quelle 
des Elends und der Unterdrückung zu einer Quelle der höchſten Wohlfahrt und felgen har; 
moniſcher Vervollkommnung werde.“ 
Auf die Frage, wie ſich bei kommuniſtiſcher Regelung der Produktion ein folder Bu- 
ſtand nun in Wirklichkeit darſtellen werde, ſind bisher die Marxiſten die Antwort ſchuldig ge⸗ 
blieben. Alle Verſuche der Schilderung des „Zukunftsſtaates“, ſelbſt wenn ſie aus der Feder 


Am Tage nach der Revolution 477 


eines Bebel ſtammten, wurden von der Partei als ſolcher für unverbindlich erklärt und als mehr 
oder weniger „utopiſtiſch“ bezeichnet. 

Aber die Frage: Wie wollt ihr eure Verſprechen einlöſen? kehrt natürlich immer wie- 
der, und um ſo lauter und dringender wird die Frage, je mehr die Zahl der Anhänger wächſt 
und der Tag des Sieges den Maſſen als immer näher bevorſtehend hingeſtellt wird. Um auf 
ſolche Fragen zu antworten, hat nun vor kurzem der nüchternſte und vorſichtigſte der mar- 
xiſtiſchen Theoretiker, Rarl Kautsky, eine Schrift erſcheinen laſſen, die den Titel trägt „Am 
Tage nach der ſozialen Revolution“. Die Schrift enthält kein ausgeführtes Bild des Zukunfts- 
ſtaates, ſondern will lediglich die Maßnahmen ſchildern, die unmittelbar nach der Eroberung 
der politiſchen Macht, wenn fidh alfo etwa die ſozialdemokratiſche Reichstagsfraktion im Ber- 
liner Schloß als proviſoriſche Regierung erklären konnte, erfolgen werden. 

Die Schrift hat natürlich auch keinen parteioffiziellen Charakter; aber fo weit das über- 
haupt möglich ift, darf fie wohl als Wiedergabe der in der Partei herrſchenden Anſchauungen 
gelten. Karl Rautsty iſt das anerkannte Haupt der marxiſtiſchen Schule, der Leiter des wiffen- 
ſchaftlichen Organs der deutſchen Sozialdemokratie. Die Arbeit ſelbſt iſt kein erſter Verſuch, 
ſondern iſt in zweiter durchgeſehener Auflage erſchienen; ſein Verlag iſt der des Zentralorgans 
der ſozialdemokratiſchen Partei: Buchverlag Vorwärts in Berlin. — 

Die Schrift ſoll, wie geſagt, die Maßnahmen ſchildern, die das Proletariat, das in den 
Beſitz aller politiſchen Macht gelangt ift, wird nicht durchführen wollen, ſondern wird durch; 
führen müſſen, „getrieben durch feine Klaſſenintereſſen und den Zwang der ökonomiſchen 
Notwendigkeit“. 

Die Beſeitigung der privaten Unternehmungen für die größeren Induſtriebetriebe iſt 
verhältnismäßig leicht. Es genügt dazu in der Hauptſache eine Beſeitigung der aus der Ar- 
beitsloſigkeit entſpringenden Not: 

„Eine wirklich ausreichende Unterſtützung aller Arbeitsloſen muß nämlich völlig das 
Kraftverhältnis zwiſchen Proletariat und Bourgeoiſie, zwiſchen Proletariat und 
Kapital verſchieben, ſie macht das Proletariat zum Herrn in der Fabrik.“ 

Natürlich, der Arbeiter braucht dann nicht mehr den Kapitaliſten, während dieſer ohne 
ihn kein Unternehmen fortſetzen kann. Es werden die Löhne ſo hoch ſteigen müſſen, daß den 
Unternehmern nur noch Arbeit und Rifito bleiben. In ſolcher Lage werden fie fidh beeilen, 
ihre Unternehmen zu verkaufen, und Staat, Gemeinde, Gewerkſchaften, Genoſſenſchaften 
ſind dann in der Lage, gegen billige Entſchädigung (bei dieſer Lage der Dinge gewiß ſehr 
billige Entſchädigung) die mittleren und größeren Betriebe zu erwerben. 

Die Geldkapitaliſten 

„kann man ohne Schwierigkeiten mit einem Federzug erproprüeren“. 

Mit den Gütern, die Lohnarbeiter brauchen, geht es ebenſo wie mit den Sndujtriebe- 
trieben, während die Kleinbauernbetriebe vorläufig wohl noch weiter im Privatbeſitz bleiben 
können. 

Am meiſten geſpannt ift man auf die Löſung der Frage, an der bisher alle tommu- 
niſtiſchen Verſuche geſcheitert find, fo viel ihrer auch von den verſchiedenſten Seiten her unter- 
nommen wurden, die Löſung der Frage: wie nun in der Geſellſchaft, in der der Staatsbetrieb 
das Entſcheidende ift, die ökonomiſche Gleichheit mit der perſönlichen Freiheit ver 
einigt werden kann. 

Denn das iſt auf wirtſchaftlichem Gebiet das entſcheidende Argument, das die Boden- 
reform gegen den Kommunismus ins Feld führt: in feinem Rahmen findet die freie Per- 
jonlidteit keinen Raum — die Einzelperſönlichkeit, die mit ihrem gefunden Egoismus die Ur- 
ſache aller Rulturentwidlung, auch aller techniſchen Fortſchritte, geweſen iſt bis zu dieſem 
Tage. Und ſo hoch auch der Bodenreformer jede ernſte Sozialreform wertet, ſo vergißt er 
doch nie, daß fie nur Mittel zum Ziel fein kann, und daß das Ziel darin beſteht, miglidft viele 


418 Am Tage nach der Revolution 


aufrechte, wirklich freie, an Leib und Geiſt geſunde Menſchen zu ermoglichen. Selbſt wenn 
alſo irgend eine wirtſchaftliche Maßnahme verſpräche, die Zuteilung materieller Güter an den 
Einzelnen zu vermehren, dabei aber feine individuelle Entwicklung gefährdete, fo würde vom 
bodenreformeriſchen Standpunkt aus der Preis für den Gewinn der materiellen Wohlfahrt 
zu hoch bezahlt ſein! 

Wie ſteht es am Tage nach der marxiſtiſchen Revolution mit der perſönlichen Freiheit? 

* * 
æ% 

Die Arbeiter erhalten eine ausreichende Unterſtützung, auch wenn fie nicht arbeiten. 
Was ſoll ſie bewegen, in die Fabrik zu gehen? Etwa allein die Anderung des Firmenſchildes, 
daß z. B. ſtatt: „Singer & Ko.“ nun darauf ſteht: „Staatsbetrieb“? Schwerlich. 

Welche Mittel ſtehen dem proletariſchen Staate zu Gebote, die Arbeiter an der Arbeit 
zu erhalten? 

Kautsky weiſt auf „die große Macht der Gewohnheit“ hin. Es gebe Leute, „die nicht 
wiſſen, was ſie mit ihrer freien Zeit anfangen ſollen, die ſich unglücklich fühlen, wenn ſie nicht 
arbeiten können“. 

In den Kämpfen, die dem Siege des Proletariats vorausgehen, haben ja die Arbeiter, 
um die Unternehmer gefügig zu machen, fo lange aus den Fabriken herausbleiben müſſen, 
daß vielleicht „die große Macht der Gewohnheit“ eher für das Oraußenbleiben als für das 
Hineingehen in die Fabrik entſcheiden wird, ſintemal jeder Menſch fih ſchneller an Sequemlid- 
keit als an Mühewaltung gewöhnt. 

Kautsky gibt ſelbſt zu, daß man fich auf dieſen Antrieb nicht verlaſſen könne, er fei der 
ſchwächſte; viel ſtärker ſchon würde die Diſziplin des Proletariats wirken: 

„Wenn eine Gewerkſchaft die Notwendigkeit ununterbrochenen, regelmäßigen 
Fortganges der Arbeit anerkennt, dann dürfen wir überzeugt fein, daß im Yntereffe der Ge- 
ſamtheit kaum eines ihrer Mitglieder ſeinen Poſten verlaſſen wird.“ 

Die Berufung auf die heutige Oiſziplin in den Gewerkſchaften hat nicht viel Beweis- 
kraft für die Zukunft. Man braucht nicht große pſychologiſche Kenntniſſe zu haben, um zu wif- 
fen, daß ein kämpfendes Heer vor einem großen Ziele viel leichter in Disziplin zu halten ift 
als ein ſieghaftes, das kein Feind mehr bedroht. Auch Arbeiterheere können ihr Kapua finden. 

Wie nun aber, wenn eine Örtliche Gewerkſchaftsverſammlung einmal nicht von der Not- 
wendigkeit des ununterbrochenen Fortgangs gerade ihrer Arbeit überzeugt wäre? Oder wenn 
in einer Gewerkſchaftsabſtimmung eine verhältnismäßig große Minderheit nicht diefe Not- 
wendigkeit anerkennen würde, — foll die Mehrheit dann die Minderheit zur Disziplin zwingen? 

Kautsky ſelbſt ſucht nach anderen Mitteln und beruft ſich auf die Erhöhung „der An- 
ziehungskraft“ der Arbeit, die durch Reformen aller Art entſtehen wird, und endlich aus der 
bisherigen Laſt eine Luſt machen ſoll. Es leuchtet ohne weiteres ein, daß dieſe Reformen nicht 
gleichmäßig wirken können, daß es immer Arbeiten geben wird (Kohlengruben uſw.), die von 
bloßer „Luſt“ ſehr weit entfernt bleiben werden. 

In ſeiner Not kommt Kautsky dann zu einem Vorſchlag, der allerdings entſcheidend 
wäre, der aber mit einem Schlage das Weſen des kommuniſtiſchen Staates verändern würde: 

„Den nötigen Ausgleich kann man dadurch herbeiführen, daß man dort, wo ſich zuviel 
Arbeiter melden, die Löhne herabſetzt, dagegen in jenen Induſtriezweigen, wo es an Arbeitern 
mangelt, den Lohn erhöht, bis man es erreicht, daß jeder Zweig ſo viel Arbeiter hat, als er 
braucht.“ 

Dieſer gefährliche Satz wird nun in allerlei gelehrt klingende Erörterungen eingewickelt, 
die aber in fih fo widerſpruchsvoll find, daß ihre Gedankengänge ſich zum Teil ſelbſt aufheben. 
Denn ſoll erhöhter Lohn eine wirkliche Anziehungskraft entwickeln, fo muß er ein Weſentliches 
mehr ſein als niederer Lohn; ſein „Mehr“ ſoll ja größere Wirkungen ausüben als Gewohnheit, 
Difaiplin und Anziehungskraft der Arbeit! Denkt man dieſen Gedanken Kautskys zu Ende, 


Am Tage nach der Revolution 479 


fo führt er zum Zuſammenbruch feines ganzen ſtolzen Gebäudes. Es ſcheint dann nur folge- 
richtig, daß bei Mangel an Arbeitern auch die Arbeitsloſen-Unterſtützung, die jeden einzelnen 
unabhängig machen ſoll, ſo weit herabgeht, daß aus dem Zwange heraus, das Notwendigſte zu 
erwerben, der einzelne ſich zur Arbeit meldet. Dann aber ſind wir doch wieder mitten drin im 
Weſen des heutigen Lohnſyſtems. — 

Was verführt Kautsky nun dazu, fo gefährliche Sätze wie die von der Bedeutung ab- 
geſtufter Lohnſätze zu ſchreiben? Es iſt zweifellos die Scheu vor dem Eingeſtändnis, daß am 
Tage nach der marxiſtiſchen Revolution die perſönliche Freiheit keinen Platz mehr findet, daß 
der Kommunismus mit Notwendigkeit dazu führt, über die Art und das Maß der Arbeit jedes 
einzelnen von Mehrheits wegen zu beſtimmen. 

An anderen Stellen tritt dieſer Gedanke trotz allem inneren Widerſtreben Kautskys in 
feinen Ausführungen ganz klar zutage, fo z. B. dort, wo er von der Organifierung des Repro- 
duktionsprozeſſes ſpricht, nämlich von der Aufgabe des kommuniſtiſchen Staates, den einzel- 
nen Betrieben auch die nötigen Rohſtoffe, Hilfs material (Kohle uſw.), Erſatz für Maſchinen und 
Werkzeuge zuzuführen und die jeweilig erzeugten Produkte auch abzuſetzen. Jede Stockung in 
der Zirkulation würde den Eintritt von Kriſen bedeuten, „der ſchlimmſten Geißel der modernen 
Produktionsweiſe“: | 

„Das Proletariat allein kann diefe Regelung der Zirkulation der Produkte durchführen 
durch Aufhebung des Privateigentums an den Betrieben, und es kann ſie nicht bloß, es muß 
fie durchführen, foll der Produktionsprozeß unter feiner Leitung weitergehen, foll alfo fein Re- 
gime Beſtand haben. Es muß die Höhe der Produktion jeder einzelnen geſellſchaftlichen Pro- 
duktionsſtätte auf Grundlage einer Berechnung der vorhandenen Produktivkräfte (Arbeiter und 
Produktionsmittel) und des vorhandenen Bedarfs feſtſetzen und dafür ſorgen, daß einer jeden 
Arbeitsſtätte nicht bloß die nötigen Arbeiter, ſondern auch die notwendigen Produktionsmittel 
zugeführt und die fertigen Produkte an die Konſumenten abgeſetzt werden..“ 

Bei dieſer Erörterung ſtutzt Kautsky ſelbſt, und es drängt fidh ihm die Frage in die Feder: 
„Sollten wir etwa doch zum Rafernen- oder Zuchthausſtaat kommen müjjen?“ 

An einer anderen Stelle hätte er vielleicht noch mehr Veranlaſſung zu dieſer Frage ge- 
habt: „In einer kommuniſtiſchen Geſellſchaft wird die Arbeit planmäßig reguliert, werden die 
Arbeitskräfte den einzelnen Zweigen nach einem beſtimmten Plane zugewieſen.“ 

Wer wird denn dieſes Zuweiſen beſorgen? Das Proletariat, d. h. im Kommuniſtenſtaat 
die Geſamtheit aller Bürger, doch gewiß nicht. Es wird immer ein Ausſchuß fein müffen, nenne 
man ihn nun, da das Wort Regierung natürlich verpönt fein wird, ſtatiſtiſches Amt oder Ber- 
waltungsausſchuß, oder ſo harmlos, wie man immer will, meinetwegen, wie Kautsky S. 44 
es ſchamhaft tut: „Zentralpunkt“. 

Die Menſchen, die dieſen „Zentralpunkt“ vertreten, von dem die Produktion „planmäßig 
reguliert“ werden foll, werden eine fo große Macht gewinnen müſſen, wie fie heute keine Regie- 
rung der Welt in Händen hat, und auch eine Berufung auf die Mehrheit, die in irgendeiner 
Form dann ftets entſcheiden ſoll, ändert natürlich nichts an der Sachlage. Für den einzelnen 
und die Minderheit — und gewöhnlich ſind die Tüchtigen und Selbſtändigen, die Vertreter 
neuer Gedanken, zuerſt in der Minderheit — wird dieſe Abhängigkeit nicht weniger fühlbar, 
wenn ſie im Namen irgendeiner Mehrheit verhängt wird. 

Nun aber iſt es eine jeder Macht innewohnende abſolute Tendenz, gegen ihre Grenzen 
zu drucken. Sie ſtrebt ſtändig danach, fie zu uͤberſchreiten, wenn nicht gleich ſtarke Gegentenden- 
zen dieſem Streben Halt gebieten. Deshalb wird die wirtſchaftliche Macht des Verwaltungs 
ausſchuſſes der Mehrheit ſelbſt, ganz ohne individuelles Verſchulden von Einzelperſonen, auch 
auf das Gebiet des Geiſteslebens übergreifen. 

Es wird keine Frage geben, die nicht in irgendeine Beziehung zu der „planmäßigen Re- 
gulierung“ der Produktion gebracht werden kann und gebracht werden wird. Am „Tage nach 


480 Die Varusſchlacht 


der Revolution“ wird der ſiegreiche Kommunismus das Ende der perſönlichen Freiheit — nicht 
fein wollen — aber fein müffen! 
* * 
** 

Gewiß, auch heute iſt die freie natürliche Entwicklung vielen Teilen des Volkskörpers 
unterbunden. Der einzelne Bergmann z. B., der fih der ungeheuren Macht des Rohlenfyndi- 
tats gegenũberſieht, ift in feiner individuellen Freiheit aufs äußerfte beſchränkt, und er ift jedes 
Mitbeſtimmungsrechtes über den Ertrag ſeiner Arbeit bar. 

Zweifellos herrſcht heute auf vielen Gebieten ein wirtſchaftlicher Abſolutismus. Der 
Weg zur Geſundung heißt aber nicht Verallgemeinerung des wirtſchaftlichen Abſolutismus durch 
Übertragung auf einen „Zentralpunkt“, der im Namen einer Mehrheit beſtimmt, ſondern Weg- 
rdumung der Urſache, die zum wirtſchaftlichen Abſolutismus gegenüber Arbeitern und Ron- 
ſumenten führen kann, ja führen muß. 

Dieſe Urſache liegt aber im tiefſten Grunde nicht in einer „Planloſigkeit“ der Produk“ 
tion, ſondern in der Aberantwortung der unentbehrlichen Vorausſetzungen für jede menſchliche 
Arbeit — der Natur — an das Privatkapital. 

Stellt den Boden und alle ſeine Schätze unter die Kontrolle der Geſamtheit, macht ihn 
frei zugänglich jedem, der auf und von ihm leben will, und es wird kein Kartell, kein Syndi⸗ 
kat, kein Truſt ſich entwickeln und halten können, die Arbeiter und Konſumenten ausbeuten. 

Fließt die Grundrente in allen ihren Formen in die Kaſſen der Geſamtheit, ſo wird dieſe 
reich genug ſein, um jedem Kind des Volkes die beſte Ausbildung ſeiner Kräfte zu gewährleiſten, 
allem wirklichen Elend ein Ende zu bereiten. 

Wie dann die Arbeit in einem wahrhaft gebildeten notloſen Volke ſich in freier und ge- 
noſſenſchaftlicher Tätigkeit auch immer geſtalten mag, welche neuen Formen dadurch in or- 
ganiſcher Entwicklung im Produktionsprozeß geſchaffen werden mögen — es wird jedem jeder- 
zeit möglich ſein, in voller Freiheit ſeine Kräfte zu entfalten. 

Das iſt die tiefſte Rechtfertigung der Bodenreform in ihrem Kampfe: neben und über 
Kapitalismus und Kommunismus hinaus die Herrſchaft zu gewinnen, daß ſie gewiß iſt, einen 
Weg zu erſchließen, auf dem ſoziale Gerechtigkeit und perſönliche Freiheit vereint werden kann. 

(Die beiden erſten Bodenreformartikel: „Aus der deutſchen Bodenreformbewegung“ und 
„Vom Bauſchwindel“, Jahrg. X, Heft 5 u. 8, haben übrigens dem Verfaſſer viele Zuſchriften 
von „Türmer“-Leſern eingetragen. Wer mehr von der deutſchen Bodenreform Bewegung 
wiſſen will, der bitte die „Geſchäftsſtelle des Bundes deutſcher Bodenreformer“, Berlin, 
Leſſingſtr. 11, um koſtenfreie Zuſendung von Druckſachen.) A. Damaſchke 


Die Varusſchlacht 


ca d ker Verlauf der Schlacht im Teutoburger Walde ift bis in die neueſte Zeit allgemein 
| 2 K A fo dargeftellt worden, wie ihn der griechiſche Geſchichtſchreiber Dio Caſſius in ſeiner 

Ei von der Gründung Roms bis 229 n. Chr. reichenden römiihen Geſchichte gegeben 
hat. Er ftügt fih auf den Bericht, der ſeinerzeit dem Senat in Rom mitgeteilt wurde. . Diefer 
amtliche Bericht aber, der nichts von der ſchimpflichen Überrumpelung in Barus’ Lager und 
der Kapitulation des römiſchen Heeres weiß, vielmehr die Legionen auf dem Marſche von den 
Germanen angegriffen und in heldenmütigem Kampfe vernichtet werden läßt, war eigens 
für den Zweck zurechtgeſtutzt, die über die ſchmähliche Niederlage erregten Gemüter in Senat 
und Volk zu beſchwichtigen. In Wahrheit ſoll der Hergang ein ganz anderer geweſen ſein. 
Der Detmolder Seminarlehrer Heinrich Schwanold, der fih durch Arbeiten zur lippi- 

ſchen Landeskunde bekannt gemacht hat, gibt in einer ſoeben erſcheinenden Feſtſchrift zur Neun- 


Die Varusſchlacht 481 


zehnhundertjahrfeier der Schlacht im Teutoburger Walde („Armin, die Varusſchlacht und das 
germannsdenkmal“, Verlag der Meyerſchen Hofbuchdruckerei in Detmold) eine von der bis- 
her üblichen ſehr abweichende Schilderung. Im Zahre 7 nach Chriſtus war Quintilius Varus 
als Statthalter nach Germanien gekommen, mit dem Auftrage, vor allem die widerſpenſtigen 
Cheruster der römiſchen Herrſchaft zu unterwerfen. Er verſuchte es zunächſt damit, fie unter 
feine oberſte Gerichtsbarkeit zu zwingen, und ging dabei mit bewußter Willkür und Graufam- 
keit zu Werke. So ſagt der römiſche Geſchichtſchreiber Vellejus, ein Zeitgenoſſe Armins, der 
ſchon Tiberius auf ſeinen germaniſchen Feldzügen begleitet hatte: „Varus gab ſich dem Wahne 
hin, er habe es hier mit Menſchen zu tun, die vom Menſchen nichts weiter beſäßen als Stimme 
und Gliedmaßen, und Leute, die mit dem Schwerte nicht zu bändigen wären, könnten durch 
Gerichtsverfahren zahm gemacht werden.“ Diefer Politik des Römers nun ſetzte Armin die 
eigene entgegen. Er fab, daß Varus bei feinen Gerichtsſitzungen im Lager Zuſchauer und Zu- 
hörer zuließ, vielleicht ſogar ihre Gegenwart wünſchte, in dem Wahne, daß ſich die Germanen 
dadurch ſchneller an das Verfahren gewöhnen würden. Darauf baute Armin ſeinen Plan: er 
veranlaßte die mit ihm verſchworenen Cherusker, immer zahlreicher ihre Rechtshändel dem 
Statthalter vorzutragen. Ja man erdichtete Prozeſſe, klagte und ließ fih verklagen und dankte 
für die prompte und gerechte Entſcheidung, fo daß Varus nicht wenig erfreut fein mochte, 
feine oberrichterliche Stellung fo ſchnell anerkannt zu ſehen. Das verführte ihn zu einer Gorg- 
lofigteit, als wenn er nicht mitten im feindlichen Germanien an der Spitze eines Heeres ſtände, 
ſondern als Stadtrichter auf dem Forum in Rom. Jede Partei wurde von ihrer Sippe zur 
Gerichtsſtätte im Lager geleitet, wie es in Rom auch Sitte war; ſelbſt unbeteiligte Neugierige 
wurden geduldet. Dadurch gewann Armin die Möglichkeit, ganze Scharen von Verfdwore- 
nen fo unauffällig in das Römerlager zu bringen, daß fogar die Warnungen, die Armins eige- 
ner, ihm feindlich geſinnter Schwiegervater Segeſtes dem Feldherrn zukommen ließ, von die- 
ſem unbeachtet blieben. Za ſelbſt als Segeſt Armins Plan, ſoweit er ihm bekannt geworden war, 
verriet, glaubte Varus nichts anderes, als daß die Anklagen nur der Ausfluß des Haſſes Segeſts 
gegen den Schwiegerſohn feien, Im Gegenteil, noch am Abend vor dem Tage, den die Ber- 
ſchworenen für den Überfall verabredet hatten, waren die Cheruskerfürſten wie fo oft von 
Varus zum Gaſtmahl geladen. Bei dieſer Gelegenheit griff Segeſtes zu einem letzten ver- 
zweifelten Mittel, indem er den Statthalter aufforderte, ihn ſelbſt, Armin und die Mitverſchwore⸗ 
nen in Feſſeln zu legen. Das Volk würde ohne die Fürſten nichts wagen, und fo gewänne er 
Zeit, die Schuldigen von den Unfchuldigen zu ſondern. Allein Varus blieb bei feiner Anſicht. 
Oer körperlich und geiſtig ſchwer bewegliche Mann konnte ſich zu einer ſolch ungewöhnlichen 
und energiſchen Maßnahme nicht entſchließen. Am folgenden Tage brach das Unglück über 
ihn herein. 

Auf dem weiten Platze vor dem Tribunal ſtanden wie gewöhnlich Gruppen und Haufen 
von Cheruskern und erwarteten den Richterſpruch des Statthalters in ihren wirklichen oder 
erdichteten Rechtsſtreitigkeiten. Die römiſchen Soldaten waren dienſtfrei, alfo nicht unter Waf- 
fen. Während nun der Herold die Parteien mit lautem Ruf vor das Tribunal zitierte — viel- 
leicht war gerade der Heroldsruf das verabredete Zeichen — drangen die Cherusker plötzlich 
von allen Seiten auf Varus ein. Die drei Legaten, die wahrſcheinlich den Statthalter mit 
ihrem Leibe decken wollten, waren die erſten Opfer; fie fielen, und Varus ſelbſt wurde ver- 
wundet. Gleichzeitig war es auf die römiſchen Feldzeichen abgeſehen: zwei Adler wurden ihren 
Trägern entwunden, den dritten riß der Adlerträger, ehe er den Germanen in die Hände fiel, 
von der Stange, verſteckte ihn unter ſeinem Wehrgehenk und verbarg ſich damit in einem Sumpf. 
Da die Feldzeichen genommen waren, konnten ſich die einzelnen, auf den Lärm herbeieilenden 
Soldaten nicht zu Manipeln, Kohorten und Legionen zuſammenfinden, und ſo löſte ſich alles, 
was nicht ſofort von den heranſtrömenden Germanenmaſſen niedergemacht wurde, in eine 
regelloſe Flucht auf. Allen voran ſprengten die Reiter in einer Stärke von drei Schwadronen 

Dex Türmer XI, 10 31 


482 Die Varusſchlacht 


unter dem Legaten Vala Numenius davon, dem Rheine zu, fie machten nicht einmal den Ber- 
ſuch, ihren Kameraden zu helfen. Sie gelangten übrigens nicht bis an den Rhein. Der Legat 
wurde unterwegs abgefangen und fand ſo als Deſerteur ein unrühmliches Ende. Nur der 
Lagerpräfekt Eggius, der einzige Offizier, von dem Vellejus Rühmliches berichtet, daß er den 
Truppen ein herrliches Beiſpiel gegeben habe, machte Anſtrengungen, einen Teil der Zliehen- 
den zu ſammeln. So zog ſich der Kampf in der Ebene noch bis zum Abend hin. Die Reſte der 
zuſammengeſchmolzenen Legionen warfen zur Nacht ein notdürftiges Lager auf, und die Ger- 
manen ließen fie gewähren, ſchon um in aller Ruhe an den gefangenen Tribunen und Ober- 
zenturionen, den Vertretern der Armee nach dem Tode der Legaten, in den nahen Hainen 
die Strafe der Opferung vorzunehmen. Varus, der ſich ebenfalls in dem Lager befand, gab 
ſich, dem Beiſpiele feines Vaters und Großvaters folgend, aus Verzweiflung über die ſchimpf⸗ 
liche Niederlage ſelbſt den Tod. In rührender Pietät vergaßen die Soldaten nicht, ihren Feld- 
herrn zu beſtatten. Aber in ihrer entſetzlichen Lage fehlte ihnen das Holz zu einem ordentlichen 
Scheiterhaufen; halbverbrannt begruben fie ihn. Das Kommando übernahm jetzt der Lager- 
prafett Cejonius; auch er war nicht der Mann, der durch entſchloſſenes Handeln und kluge Aus- 
nutzung aller Vorteile die Rettung verſuchte. Als Arminius, der ſowohl den Überfall im Lager 
wie auch die ſpäteren Kämpfe geleitet hatte, am Morgen die Häupter der getöteten Führer 
auf Lanzen ſtecken und an das Lager der Römer herantragen ließ, ſchwand dieſen der letzte 
Reſt von Mut. Cejonius kapitulierte. Die Bedingungen der Übergabe ſind uns nicht bekannt. 
Wie es ſcheint, wurde denen, die ohne beſondere Schuld waren, das Leben geſichert, denn noch 
51 n. Chr. wurden Übriggebliebene vom Heere des Varus aus den Händen der Chatten, wohin 
ſie durch Schenkung oder Kauf gelangt ſein mochten, befreit. Die meiſten Gefangenen wurden 
jedenfalls nach damaligem Brauch zu Knechten gemacht. Über alle, die durch ränkevolle Pro- 
zeſſe Cheruskern zu ſchimpflichen Strafen oder gar zum Tode verholfen hatten, namentlich 
Advokaten und richterliche Beamte, verhängte Armin in einer römiſche Weife höhniſch nach- 
ahmenden Gerichtsſitzung ſelbſt die grauſamen Strafen, die die Germanen zum Teil erft von 
den Römern gelernt hatten. Die Liktoren wurden wie Unfreie gekreuzigt oder geköpft. Die 
Leiche des Varus wurde wieder ausgegraben und ihr das Haupt abgeſchnitten, nicht aus Roheit, 
ſondern weil man auch an ihm die Strafe für die zahlreichen Hinrichtungen freier Germanen 
vollziehen zu müſſen glaubte. Seſithacus, Segimers Sohn, alſo Armins Bruder, ſandte es 
an Marbod, den Führer der Markomannen, wohl zu keinem anderen Zweck, als ihn zu ver- 
anlaſſen, ſich dem erfolgreichen Aufſtande anzuſchließen. Marbod aber wollte ſich lieber den 
Römern gefällig erweiſen und ſchickte es nach Rom, und trotz aller Schuld des Feldherrn 
wurde ihm hier die Ehre der Beiſetzung im Erbbegräbnis ſeines Geſchlechts zuteil. 

Es waren die 17., 18. und 19. Legion, dazu ſechs Kohorten Bundestruppen in einer 
Stärke von 17000 Mann, die fo in der Schlacht im Jahre 9 n. Chr. vernichtet oder gefangen- 
genommen worden ſind. Wo der Schauplatz dieſes Kampfes zu ſuchen iſt, wiſſen wir nicht. 
Sedenfalls zwiſchen Weſer und Rhein, nicht fern der Lippe. Tacitus berichtet zwar, die Schlacht 
ſei im Teutoburger Walde geweſen, aber welches Gebirge er unter dieſem Namen verſtanden 
hat, können wir nicht mit Beſtimmtheit ſagen. Aller Wahrſcheinlichkeit nach iſt es der lippiſche 
Wald. Künftige Ausgrabungen werden erſt volle Gewißheit bringen. Auch die Beſtätigung 
der von Schwanold gegebenen Oarſtellung des Schlachtenverlaufs wäre ja noch abzuwarten. 

Kennen wir doch nicht einmal den germaniſchen Namen von Oeutſchlands Befreier. 
Arminius ift der römiſche Name, der ihm gegeben wurde, als er ins römiſche Heer eintrat und 
mit der Ritterwürde beehrt wurde. Sein Vater hieß Segimer, und der Name des Sohnes 
wird bei den Germanen oft im Anklang an den des Vaters gebildet. Sollte, fragt der Verfaſſer 
der Feſtſchrift, Armin Siegfried geheißen haben? Siegfrieds Vater führt im Nibelungen 
liede den Namen Sigemund; Sigemundus hieß nach Tacitus ein anderer Cheruskerfürſt. 
Kein Zweifel, daß diefe Namengruppe der Sippe Armins eigentümlich war. Die Siegfried 


Das Tierrecht 483 


fage, die zurück bis in den germaniſchen Mythus führt, bewahrt aud eine Erinnerung an die 
Römerzeit, denn Siegfrieds Vater hat feinen Sitz in Kanten am Rhein, das nur damals, als 
hier das große Römer-Standlager Vetera war, eine Bedeutung gehabt hat. Siegfried ſtirbt 
im blühendſten Mannesalter durch den Neid und Verrat feiner Verwandten wie Armin, der, 
erſt 37 Jahre alt, im Jahre 21 n. Chr. durch Mörderhand fiel, als Opfer des Neides und der 
Zwietracht der Seinen, die für feine Idee eines geeinten Germanentums noch nicht reif waren. 
Die Gattin Thusnelda hält zu ihm, nicht zu den Zhrigen, wie Krimhilde auch. Siegfrieds Mör- 
der Hagen ift, zwar nicht im Nibelungenliede, aber in einer andern Erzählung einäugig; das- 
ſelbe wird von Flavus, dem Bruder Armins, der auf ſeiten der Römer kämpfte, berichtet. 
Das ganze Fürſtengeſchlecht der Cherusker bis auf Ztalitus, den bei den Römern lebenden Sohn 
des Flavus, iſt in den Kämpfen, die auf Armins Tod folgten, zugrunde gegangen gleich allen 
Nibelungenfürſten. „Es wäre das erhabenſte aller Denkmäler, das je ein Volk ſeinen Helden 
geſtiftet, wenn Armin Siegfried iſt und die Erinnerung an ſeine Perſönlichkeit in der Geſtalt 
dieſes untadeligſten aller Männer weitergelebt hat“, ſchreibt Hans Delbrück in ſeiner Geſchichte 
der Kriegskunſt, „ja für einen hiſtoriſchen Menſchen von Fleiſch und Blut wäre es wohl zu groß, 
darum iſt es gut, daß wir es nur wie ein Märchen durch den Schleier der Vermutung ſehen.“ 
Jedenfalls fei nur fo zu verſtehen, daß andere Spuren der Erinnerung an Armin als die 
Berichte römiſcher Schriftſteller fehlen, er müßte alſo bei ſeinem Volke ganz in Vergeſſenheit 
geraten fein. Dem widerſpreche aber ſchon der Ausſpruch des Tacitus, der ein Jahrhundert 
nach der Varusſchlacht ſchreibt: „Armin war Deutſchlands Befreier, und die Barbaren preiſen 
ihn noch in ihren Liedern.“ Die Hppotheſe hätte mindeſtens den Vorzug der Kühnheit 
fuͤr ſich. l 
In der Woche vom 14. bis 22. Auguft wird an der Stätte, an der fid Bandels Hermanns- 
denkmal erhebt, auf der Grotenburg bei Detmold die Erinnerungsfeier der Schlacht im Teuto 
burger Walde durch hiſtoriſchen Feſtzug und Feſtſpiel begangen werden. Mußte dieſes durch- 
aus ein in Beſtellung gegebenes Ad hoc- Stück fein? Kleiſts „Hermannsſchlacht“ ift doch da. 
Und eignet fih die Naturbühne im Hiinenring der Grotenburg nicht für das ganze gewaltige 
Drama Heinrichs von Kleiſt, dann doch gewiß eine Reihe der packendſten Szenen. Sch. 


Sé, 
Das Tierrecht 


ie Novelle zum Strafgeſetzbuch, die den Reichstag beſchäftigen wird, ſieht eine ganz 
neue Strafbeſtimmung vor. Danach können boshafte Quälereien oder rohe Mig- 
: handlungen von Tieren mit einer Freiheits- oder Geldſtrafe geahndet werden. 
Damit die Polizeibehörden wirkſamer einſchreiten können, wird das Verordnungsrecht der Einzel- 
ſtaaten aufrecht erhalten. Zu deſſen Durchführung iſt an Stelle der bisherigen Vorſchrift 
in § 360 Nr. 13 eine neue Strafandrohung gegen die Verletzung landesrechtlicher Verord- 
nungen über Tierquälereien vorgeſehen. Da diefe bisher nur als Übertretungen beſtraft werden 
konnten, und zwar in ganz unzulänglicher Weiſe, bedeutet die Novelle einen großen Fortſchritt 
auf dem Gebiet des Tierſchutzes. Ja, es kann ſogar behauptet werden, daß damit der erſte 
Schritt zum juriſtiſchen Tierrecht getan wird. 

Wie allen Tierſchützern und Zuriſten bekannt, haben wir bis jetzt kein juriſtiſches, fon- 
dern nur ein ethiſches Tierrecht. Dieſes gründet fidh allein auf die kulturelle und religiöfe An- 
ſchauungsweiſe der Völker. Ze tiefer und feiner diefe, deſto höher und wirkſamer das Fier- 
recht. So war bei den alten Indern der Tierſchutz am meiſten ausgebildet. Zhre heiligen Bücher, 
die Veden, machten ihn zur Pflicht. Später kam es zur Abertreibung durch das Verbot, kein 


484 Das Tierrecht 


Tier gu töten. Denn, wie Haeckel behauptet, ſchließt dieſes Verbot Tierquälereien im Reiche 
des Buddhismus durchaus nicht aus. Das ethiſche Tierrecht wurde ferner bei den Griechen, 
Agyptern, Arabern und Germanen mehr oder weniger anerkannt. Selbſt bei den wilden 
Völkerſchaften wurde es beobachtet. Überall gab es Tiere, welche beſungen, verehrt, heilig- 
gehalten und als Götter und Söttertiere angebetet wurden. Daneben herrſchte aber auch 
Haß, Verachtung und Grauſamkeit gegen Tiere, welche die Quelle zu finſterem Aberglauben 
bildeten. Die religiöfen Tieropfer find als große Grauſamkeiten anzuſehen. Das Chriften- 
tum räumte damit auf und überwand auch manchen Aberglauben, der zur Tierquälerei 
führte. Da es aber auch die religiöſe Tierverehrung bekämpfen mußte, erweckte und nährte 
es die Anſchauung, daß die Tiere minderwertige, ſeelenloſe Geſchöpfe ſeien. Trotzdem nun 
die Kirchenväter das ethiſche Tierrecht pflegten und Kirchengeſetze dafür erlaſſen wurden, 
kam es doch in den folgenden Jahrhunderten in Vergeſſenheit. Als dann auch die Philoſophen 
den Unterſchied zwiſchen Menſch und Tier immer mehr betonten und den Tieren das Bewußt 
ſein abſprachen, kam es ſchließlich ganz in Verfall. Die Tiere wurden nur als Sachen betrachtet, 
mit denen man nach Belieben ſchalten und walten konnte. Daß in dieſer Zeit von einem Tier 
ſchutz gar nicht die Rede war, iſt klar. Erſt Rouſſeau predigte das Naturrecht, das auch den Tieren 
zugeſtanden werden mußte. Und mit dem Aufſchwung der Naturwiſſenſchaften in der letzten 
Hälfte des vorigen Jahrhunderts lebte die Tierſchutzidee immer mehr auf. Lamarck, Goethe, 
Herder und Schopenhauer erbrachten den Nachweis von der Weſensgleichheit zwiſchen Tier 
und Menſch, der von Darwin noch eingehender geführt wurde. Die Erforſchung der Tierſeele 
wurde nunmehr eifrig betrieben. Gleichzeitig traten auf dem Gebiet der Literatur Lafontaine, 
Leſſing u. a. m. warm für die Tiere ein, indem ſie durch alte und neue Tiergeſchichten das 
Gefühl der Menſchen und Volker für die Tierwelt erweckten. Immer mehr brach fih die Erkennt; 
nis Bahn: „Alles, was Seele hat, muß auch ein Recht haben.“ Das ethiſche Tierrecht wurde 
immer feſter begründet und zur Geltung gebracht durch die Tierſchutzvereine, welche ſich von 
England aus über alle Kulturländer der Erde verbreiteten. Faft überall wurde das Recht der 
Tiere auf Erhaltung ihres Wohlbefindens und ihrer Geſundheit ſowie auf Verminderung von 
Leiden anerkannt. Bald trat auch die Geſetzgebung für die Tiere ein und beſtrafte Tierquäle⸗ 
reien als Übertretungen oder beſſer gejagt, als Übertretungen der öffentlichen Ordnung. Die 
Tiere ſelbſt kamen als „Sachen“ für das juriſtiſche Rechtsbewußtſein nicht in Betracht. Der 
bekannte Rechtslehrer Rudolf von Fhering hielt auch als Tierſchützer ein juriſtiſches Tierrecht 
nicht für begründet, und der bedeutendſte Philoſoph der Neuzeit, Eduard von Hartmann, trat 
auch nur für ein ethiſches Tierrecht ein. 

Allein die Erfahrung lehrt, daß das ethiſche Recht zum Schutz der Tiere nicht genügt. 
Täglich kommt es vor, daß Tiere im Zugdienſt, auf dem Transport, beim Schlachten uſw. in 
roher Weiſe gemißhandelt werden. Es gibt nicht wenig Menſchen, die Tiere noch ſchlechter be- 
handeln als Sachen. Die Tierſchutzvereine haben darüber reichhaltiges Material geſammelt 
und ſind auf Grund deſſen nicht müde geworden, einen ausreichenderen geſetzlichen Schutz für 
die Tiere zu fordern. In der Tat haben ſie es auch nun erreicht, daß ſich der Reichstag damit 
beſchäftigen muß. Stimmt er, wie zu erwarten, zu, daß Tierquälereien empfindlich beftraft 
werden, fo begründet er ohne Zweifel das juriſtiſche Tierrecht, da dann nicht mehr die 
Abertretungen der öffentlichen Ordnung allein, ſondern vielmehr die Tiere ſelbſt den Anlaß 
zur Strafverfolgung bieten. Zur Erreichung eines rationellen Tierſchutzes iſt es auch not- 
wendig, daß das ethiſche Tierrecht durch ein juriſtiſches geftüßt, geläutert und gefördert wird. 

Hermann Borkenhagen 


VI 


Autobibakten von einſt und heute 485 


Autodidakten von einſt und heute 


Je. in der Stadt aufgewachſen iſt, empfängt ſchon frühe eine Anſchauung von 
i bh dem ungeheuern Anterſchiede, den Rang und Stand zwiſchen den Menſchen 

Lies fegen, noch ehe fie auf die Welt gekommen find. Nicht leicht wird es daher einem 
Se? noch fo idealiſtiſch beanlagten Kinde einfallen, diefe Unterſchiede gering zu ſchätzen und 
die innere Rangordnung der Menſchen auch in ihren äußeren Lebensbeziehungen für die weſent⸗ 
lichen zu halten. 

Anders ein weltfremdes Landkind, das infolge einer ungewöhnlichen inneren Begabung 
dieſe fiir das Ausſchlaggebende hält, beſonders dort, wo ſeine Erfahrungen und Kenntniſſe nicht 
hinreichen, alſo im Leben der ſogenannten Vornehmen. 

Daß innerer Reichtum bei unzulänglichen äußeren Mitteln überall ohne Geltung und 
Bedeutung für die anderen iſt, muß dem Dorftalente als ſo gänzlich abſurd und widerſinnig 
vorkommen, daß es von ihm nur nach langer und bitterer Lebenserfahrung — und auch dann 
nie völlig — begriffen werden kann. 

Freilich, daß Hab und Gut in der äußeren Anerkennung eines Menſchen einen gewal- 
tigen Unterfchied machen, muß auch dem ideal beanlagten Dorfkinde ſchon früh in die Augen 
ſpringen, nur daß es von ihm zunächſt als ein Zeichen der Bildungsloſigkeit, als etwas unfäg- 
lich Dummes und Rohes empfunden wird, wie alle übrigen Härten, an denen ſein oft allzu 
weiches Gefühl fid ſtößt. So war es nicht allein der Orang nach Erkenntnis, der ein ausnahms- 
weiſe begabtes Oorfkind in die Ferne lockte, ſondern ebenſowohl auch die Sehnſucht nach Men- 
ſchen mit größerem Gemütsadel, als ihm in der Nähe erreichbar waren. 

Wenn ſich nun die ungewöhnliche Begabung eines Dorfkindes, vorab eines Knaben, 
ſchon frühe als ein beſonderes Talent für diefe oder jene Kunſt offenbarte, fo würden ſchon be- 
ſonders ungünſtige Umftände dazu gehört haben, wenn dies Talent nicht wenigſtens vom 
Lehrer oder Pfarrer erkannt und gefördert worden wäre. Anders aber verhält es ſich mit der 
wiſſenſchaftlichen, ja auch mit der dichteriſchen Begabung, die auch nicht immer von vornherein 
mit einer auffälligen Geſtaltungskraft verbunden iſt. Man kann wohl ſagen, daß jemand Maler, 
Muſiker oder Schauſpieler, nicht aber, daß er Philoſoph oder Dichter werden will; wenigſtens 
würde dies von niemand als ein vernünftiges greifbares Ziel gehalten werden. 

Wie dem aber auch ſein mag, für den Knaben hat es zu allen Zeiten — wenn auch nicht 
gebahnte, ſo doch allgemein verſtändliche Wege und Ziele gegeben. Nicht ſo für ein Mädchen! 
Mit Zähnen und Nägeln hat es fih einen Weg durch Berge von Hinderniſſen bahnen miiffen, 
wenn ſeine ſeeliſchen und körperlichen Kräfte überhaupt dazu genügend waren. Und je größer 
die Mühe und Anſtrengung, je entfernter und ſchattenhafter das Ziel, deſto größer die ZUufio- 
nen von feiner Wichtigkeit im Menſchenleben. Und diefe Zllufion wurde von der Gleißnerei 
der Zeitſchriften und von Romanen genährt, fo daß alles nur davon abzuhängen ſchien, ob man 
ſich rechtzeitig bemerkbar machen konnte. 

In der idealeren Epoche vor und nach dem Revolutionsjahr 1848 mag eine ſolche fub- 
jettive Überſchätzung der geiſtigen Bedeutung freilich noch etwas Grund gehabt haben; denn 
noch zählten die Schriftſt llerinnen, Lehrerinnen, Malerinnen uſw. nicht nach vielen Tauſenden. 
Es waren noch ganz beſondere Individualitäten, die ſich einem ſolchen Ausnahmeberufe zu 
widmen ſtrebten. Seit aber die Schriftſtellerei zu einer Art höherer Handarbeit, das Lehrfach 
zu einer Verſorgungsanſtalt, das Theater zu einer Schauſtellungsbude für körperliche Reize ge- 
worden iſt, darf ein Talent beſonderer Art auf wenig Förderung und Anerkennung mehr hoffen. 

Wer fragt heute noch nach urſprüͤnglicher Begabung, wo überall nur das Geld, die 
Routine und die geſellſchaftliche Stellung den Ausſchlag gibt? Und beſonders das Landkind, 
das ſich mit unzulänglichen Mitteln aus eigener Kraft emporzuarbeiten ſucht, findet alle Stellen 
beſetzt im Leben. Überall ift ihm das Kind der übergelagerten Stände auf kürzerem Wege zu- 


486 Aneheliche Rinber 


vorgekommen, fogar im Auslande; denn kein noch fo entfernter Himmelsſtrich, wo die Abe- 
ligen und die Pfarrerstöchter nicht den Vorzug hätten. 

Seit „der Hunger und die Liebe“ im Leben der Frauen beſſerer Stände ſolche über- 
mächtige Faktoren geworden ſind, will kein Menſch mehr begreifen, warum ein Landkind auch 
bei noch ſo großer Begabung nicht daheim bei ſeinen Kühen und Schollen geblieben iſt. 

Was einem Menſchen alſo in früheren Zeiten zur Empfehlung gereichte, iſt heutzutage, 
wo es ſich lediglich ums leibliche und nicht ums geiſtige Brot mehr handelt, gewiſſermaßen ein 
Grund des Vorwurfs geworden. Ja, wie mir ſcheint, ift die Ware „Geiſt“ noch nie fo gering 
wie jetzt gewertet worden, wo auf der einen Seite die Sinnlichkeit und Genußſucht in allen 
Formen der Entfeſſelung ſich breit macht und andererſeits nur Geld und Familieneinfluß 
als Berechtigung zu einer höheren Bildung anerkannt werden. „Wer nicht reich iſt, ſoll nicht 
nach dem Mädchengymnaſium ſtreben“, foll die Deviſe der ſtimmführenden Frauen des redy- 
ten Flügels fein; und die der Linken verlangen außer dem Mann oder — wie fie es verihäm- 
ter ausdrücken — dem Kinde überhaupt nichts mehr. 

Überall nur Maſſen und Zahlen, und dazu noch der beſondere Abelſtand, daß feit den 
ſiebziger Jahren die Frauen der mit Slawenblut durchſetzten Stämme überall den Ausſchlag 
geben und man in Norddeutſchland überhaupt kein „Volk“ im ſüddeutſchen Sinne, ſondern 
nur Lohnarbeiter und Pöbel kennt. 

Was früher Hunger nach Wiſſen und Erkenntnis geheißen hat, wird jetzt mit der allge- 
meinen Landflucht in einen Topf geworfen, und dies Männern und Frauen gegenüber in 
faſt gleichem Maße. Seit die Großſtadtmädchen und Honoratiorentöchter der Rleinftädte 
ohne Kückſicht auf ihre geiſtige Berechtigung überall nur nach dem Höchſten ſtreben, findet 
das begabte Landkind keine Anerkennung mehr. Und um die Talente aus dem Volke wieder 
zu Ehren zu bringen, bedarf es auch auf dieſem Gebiete eines ſtrammen Zuſammenſchluſſes 
der bis jetzt unterdrückten ſüddeutſchen Kräfte, da ja das ganze ſüddeutſche Leben überhaupt 
mehr auf volkstümlichen als geburtsariſtokratiſchen und plutokratiſchen Elementen beruht. 

Das geborene Talent ift freilich auch etwas Ariſtokratiſches, auf Vererbung Beruhen- 
des, doch kümmert es ſich nicht um Rang und Titel, das heißt hiſtoriſche Vorausſetzungen. 
Daher hat es vom Sozialismus, der nicht allein die äußeren, ſondern auch die inneren Rang- 
unterſchiede in Abrede ſtellt, am wenigſten zu erwarten. Eher noch von den Vereinen zur 
Hebung der Volkskultur, wie fie z. B. in den Beſtrebungen des Rhein-Mainiſchen Verbandes 
für Volksvorleſungen und verwandte Beſtrebungen vorbildlich geworden ſind. Wenn man 
künftig die ländlichen Talente auf der Heimatserde zu pflegen und zu fördern verſteht, wird 
auch der geiſtigen Landflucht der Boden entzogen. Und in der Pflege der Volks- und Heimats- 
kunde iſt jetzt überhaupt ein Faktor geſchaffen, das Individuelle und geiſtig Wertvolle auf dem 
Lande zum Wohle des Ganzen nutzbar zu machen, anſtatt es bei der allgemeinen Anarchie in 
Kunſt und Literatur verkümmern und auch dann noch nicht aufkommen zu laſſen, wenn es nicht 
Geld und Einfluß genug hat, um die Geſchäftsreklame in ſeinen Dienſt nehmen zu können. 


Auguſta Bender 
By 


Uneheliche Kinder 


en P er Prozentſatz der unehelichen Geburten in den verfchiedenen Ländern Hellt ſich 
SIGG a nach einem äußerſt lehrreichen Vortrage, den Dr. Spann von der K. K. Statiſtiſchen 
gentralſtelle in Wien vor einiger Zeit im Vereinshauſe zu Dresden gehalten hat, 
wie folgt dar: 

Niederlande 2%, Schweiz 4½, Italien 6, Finnland und Baden 7, Belgien 8, Frant- 
reich 9, Württemberg 10, Sachſen 12, Bayern und Sſterreich 16 bis 18, Alpengebiete und 


Aneheliche Kinder 487 


Kärnthen bis 40. Die Anterſchiede ſind alſo außerordentlich groß. Die Bedingungen für die 
Anehelichkeit ſind mannigfacher Art: das Heiratsalter, das Verhältnis der beiden Geſchlechter, 
die Heiratsbeſchränkungen und in erſter Linie die Verwaiſung der jungen Mädchen. Dies hätten 
beſonders die Frankfurter Erhebungen gezeigt. Die Unterſuchungen erſtreckten fidh auf 5000 
Mütter, die unehelich geboren hatten. Von 100 Müttern waren 42,8 zur Zeit ihrer Niederkunft 
vãterlicherſeits verwaiſt, 4 ſelber unehelich geboren, ſo daß alſo faſt die Hälfte aller Mütter, 
die in Frankfurt a. M. unehelich gebaren, verwaift war. Von dieſen verwaiſten Müttern waren 
wieder mehr als die Hälfte von auswärts nach Frankfurt gekommen. Ein weiteres bedeutſames 
Argument für die unehelichen Geburten iſt die Entfremdung der Mütter von ihren Familien. 
Nimmt man die verwaiſten oder dauernd der Familie entfremdeten Mütter zuſammen, ſo ergibt 
fich, daß dreiviertel aller unehelich gebärenden Mütter bei ihrer Niederkunft familien- oder auf- 
ſichtslos waren. 

Auffällig ganz verſchiedene Ziffern über die Unehelichkeit findet man mehrfach bei Unter- 
ſuchungen nach Stämmen, die populationiſtiſch und wirtſchaftlich die gleichen Bedingungen 
haben. So zeigt das kleine Oldenburg, das ähnliche agrariſche Verhältniſſe hat wie das Alpen- 
gebiet, wo in geſchloſſenen Höfen viele junge Leute beiderlei Geſchlechts zuſammengehalten 
werden, unglaublich große Unterſchiede trotz feiner geringen Ausdehnung. Während im Müniter- 
land der Prozentſatz der unehelichen Geburten nur 2% betrage, ftelle er ſich im Fürſtentum 
Lübeck auf 13%. Der Statiſtiker Kolman führe die hohe Ziffer auf das Zölibat des Geſindes, 
auf die Schwierigkeiten, heiraten zu können, zurück. Aus alledem ergebe fih, daß die Unehe⸗ 
lichkeit eine ethiſche Erſcheinung fei. (2) — Die unehelichen Mütter bilden nun nicht eine ein- 
heitliche Maſſe, ſondern gliedern ſich in ſolche, die einmal, und ſolche, die mehrmals gebären. 
Letztere machen ein Fünftel bis ein Viertel der geſamten unehelichen Mütter aus. Bemerkens- 
wert iſt ferner, daß die unehelichen Kinder, die uneheliche Geſchwiſter haben, ſich wieder danach 
voneinander unterſcheiden, ob ſie denſelben oder verſchiedene Väter haben. 

Bei Betrachtung der Lage der unehelichen Kinder ſei die hohe Sterblichkeit auffallend, 
die fih hauptſächlich mit der meiſt ſchlechten Lage der Mutter während der Schwangerſchaft 
erklärt. Die Mutter könne ſich wenig ſchonen und jo komme ein großer Teil der Kinder bereits 
tot zur Welt. Die Totgeburten betragen bei den ehelichen Kindern nur 3, bei den unehelichen 
dagegen 4½ 0. Die Sterblichkeit der Säuglinge im erſten Lebensjahre ſtelle fih in Preußen 
bei den ehelichen Kindern auf 18, bei den unehelichen auf 34%, in Sachſen, wo eine größere 
Anehelichkeit beſtehe, fei das Verhältnis wie 26 zu 38%. Die Tendenz gehe im allgemeinen 
alfo dahin, daß in Oeutſchland die Sterblichkeit der unehelichen Kinder faſt doppelt fo groß ijt. 
als der ehelichen. In Wirklichkeit ſei das Verhältnis ein noch ungünſtigeres, da die Statiſtik 
in dieſer Richtung unzulänglich fei. Viele uneheliche Kinder würden nämlich im erſten Lebens- 
jahre legitimiert, ſtürben ſie dann, würden ſie in der Statiſtik als eheliche aufgeführt. 

Die Urſache der hohen Sterblichkeit liege in erſter Linie darin, daß nicht geſtillt werde 
und daß die Ernährung und Verpflegung unrationell und ungenügend fei. Auch die ſchlechten 
Wohnungsverhältniſſe ſprächen mit, oft befänden ſich die unehelichen Säuglinge bei armen 
Leuten und in überfüllten Wohnungen in Pflege. Eine große Rolle bei der hohen Sterblid- 
keitsziffer ſpiele auch die enorme Verbreitung der Geſchlechtskrankheiten, ſtammten doch die 
unehelichen Kinder zum Teil von Vätern oder Müttern, die aus halbproſtitutionellen Ele- 
menten beftänden. Das Zuſammenwirken aller dieſer Faktoren erzeuge unglaubliche Verhält- 
niſſe. So ſeien im Jahre 1900 in Berliner Vororten, wie Neu-Weißenſee und Gr.-Lichterfelde, 
80 und 60% aller unehelichen Kinder im erſten Lebensjahre geſtorben. Auf dem Lande fei die 
Gefährdung der unehelichen Kinder etwas geringer, im übrigen dauere aber allgemein die 
Gefährdung der unehelichen Kinder bis zum 14. Jahre an. So ſtellte fih in Berlin der Prozent- 
ſatz der Sterblichkeit bei den unehelichen Kindern im erſten Lebensjahre um 15,7, nach dem 
etften Lebensjahre um 7, nach dem fünften um 5,4 und im 19. Lebensjahre (Stellung der 


488 Uneheliche Kinder 


Militärpflichtigen) noch um 4,1 % höher als bei den ehelichen Kindern. Die fortwährende Oe- 
generierung der unehelichen Kinder im Verhältnis zu den ehelichen fei überall nachzuweiſen. 

Oabei ſei ſehr intereſſant, daß von den unehelichen Kindern die dauernd unentgeltlich 
verpflegten hinſichtlich des Sterblichkeitsſatzes gleich hinter den ehelichen rangieren, während 
bei den entgeltlich verpflegten die Sache ſchon viel ungünſtiger liege, am ungünſtigſten feien 
jedoch die Waiſenkinder daran. Die Arſache fei darin zu erblicken, daß ein großer Teil der un- 
ehelichen Mütter nicht in den Wohnungen niederkommt, ſondern in öffentlichen und privaten 
Anſtalten. Da dieſe Mütter meiſt ohne private Mittel ſind, ſo vollziehen ſich die traurigen 
Verhältniſſe ſchon bei der Geburt des Kindes. Nichts natürlicher, als daß die Lebensbedingungen 
der unehelichen Kinder folder Mütter, die verlaſſen find, keine Mittel haben und wo der un- 
eheliche Vater nicht ſorgt, noch viel ſchlechtere als bei den anderen ſind. — Ein weiterer wichtiger 
Umſtand fei der Pflegewechſel. Nach derſelben Statiſtik hatten 90% aller unehelichen Kinder 
ihre Pflege ein oder mehrere Male gewechſelt. Zm erſten Lebensjahre werde durch den Wechſel 
in der Pflege die Sterblichkeit direkt verurſacht. Im ſchulpflichtigen Alter bilde der Wechſel 
in der Pflege geradezu die Bedingung zur Verwahrloſung, die bekanntlich auch vielfach bei 
unehelichen Kindern anzutreffen iſt. Und der häufige Wechſel in der Pflege hat wieder zur 
Grundlage die ungenügende Alimentation. 

In welchen Pflegeformen wachſen nun die unehelichen Kinder auf? Entweder kommen 
fie zur Mutter, die ledig bleibt, oder fie kommen in die ſogenannte Stiefvaterfamilie. Möglich 
ſei auch die Aufnahme in die Stiefmutterfamilie, was aber ſelten vorkomme. Oft geht auch die 
Mutter zu Verwandten und nimmt das Kind mit, oder das Kind kommt allein zu Verwandten. 
Das ſchlechteſte bei alledem aber ift, wenn diefe Formen der Pflege nicht ſtabil find. Kommt 
das Kind zu den Großeltern, eine der glücklichſten Formen, ſo tritt z. B. ſehr oft der Fall ein, 
daß die Großeltern wegſterben und die Armenbehörde eingreifen muß. Nur die Kinder haben 
Ausſicht, in ſtändiger Pflege aufzuwachſen, die entweder bei den Verwandten der Mutter Zu- 
flucht finden oder bei der Mutter allein aufwachſen. Letzteres aber ſei ſehr ſelten, weil eben nur 
wohlhabendere Mütter die Erziehung ſelbſt übernehmen können. Gut fei es auch, wenn das 
Kind in die Stiefvaterfamilie kommt. Hinfidtlid der Legitimation der Kinder fei feſtgeſtellt, 
daß im erſten Lebensjahre 10% der unehelichen Kinder legitimiert werden, nämlich wenn die 
Mutter den Vater heiratet. 

Die Stiefvaterfamilie habe große Bedeutung für die Auferziehung der unehelichen 
Kinder, von denen 35—40% in ſolchen zu finden find. Man kann ſagen, daß fie dort gut er- 
zogen werden, vorausgeſetzt, daß die Gründung der Stiefvaterfamilie bald nach der Geburt 
des Kindes erfolgt. Es fei alfo eine irrige Anſchauung, daß die Stiefväter die Kinder oft mih- 
handeln, einzelne Fälle natürlich ausgenommen, in denen aber meiſt das Kind erft [pater in die 
Stiefvaterfamilie aufgenommen worden fei. 

Ein Blick auf die ſozialen Verhältniſſe zeige, daß die unehelichen Mütter zu etwa 90% 
den unteren Ständen und niederen Berufen angehören. Die übrigen 10—15% entſtammen 
meiſt kleinbürgerlichen Familien. Sind die Mütter in der Großſtadt geboren, ſo ſind es in der 
Mehrzahl Arbeiterinnen, ſtammen ſie aus kleinen Städten und vom Lande, iſt die größere 
Hälfte Dienſtmädchen. Von den Vätern waren — nach den in Frankfurt a. M. gemachten Er- 
hebungen — 40% gelernte und 25—30% ungelernte Arbeiter. Der Reſt verteilt ſich auf die 
übrigen Berufe. Die „hohen Stände“, wo man auf einen Mißbrauch der Dienſtmädchen ſchließen 
könnte, waren mit 3,80 beteiligt. — Intereſſant iſt ferner, daß der Prozentſatz der Militär- 
tauglichen der in Stiefvaterfamilien erzogenen unehelichen Kinder ein günſtigerer iſt, als der 
der ehelichen Kinder; während von den in fremder Pflege erzogenen 32% als tauglich befunden 
wurden, find es bei den verwaiſten Kindern 41 . Daraus ift zu folgern, daß es beffer ijt, die 
Mutter ſtirbt, als fie bleibt am Leben und verheiratet fih nicht wieder, weil fie eben wirtſchaft⸗ 
lich zu ſchwach iſt, um das Kind ordentlich erziehen zu können. Das alles ſei eine harte Anklage 


Schwachbegabte Schüler 489 


gegen die bisherigen ſozialpolitiſchen Maßnahmen auf dieſem Gebiete. Der Überblick über Lage 
und Schickſal der unehelichen Kinder lehre, daß letztere, wenn ſie nicht im frühen Lebensalter 
ſterben, einer körperlichen, beruflichen und moraliſchen Degeneration entgegengehen. 

Was fiir ſozialpolitiſche Maßnahmen hat man nun bisher getroffen, um helfend eingu- 
greifen? Man habe die Vorſchrift im Bürgerlichen Geſetzbuch, daß der uneheliche Vater für 
fein Kind aufzukommen hat, man habe die ehrenamtliche Vormundſchaft, die geſetzlich vor- 
geſchriebene Aufſicht über die Säuglingspflege, vielfach auch, wie in Dresden und Leipzig, 
die Einrichtung der Ziehkinderpflege, unter ärztlicher Aufſicht ſtehend. Alle dieſe Maßregeln 
find aber unvollſtändig, weil ihrer nicht alle unehelichen Kinder teilhaftig werden. Die Bor- 
mundſchaft ſei der alleinige Boden, auf dem alle unehelichen Kinder in Fürſorge kommen können. 

Es fet deshalb zu fordern, daß die ehrenamtliche Vormundſchaft in eine öffentliche Be- 
rufs vormundſchaft umgewandelt wird, daß dem Berufsvormunde ein Stab von Pflegern und 
Arzten zugeteilt wird. Dieſer müſſe auch juriſtiſche Kenntniſſe haben und imſtande fein, die 
berufliche Auswahl zu leiten. Nur dadurch könne die Degeneration der unehelichen Kinder 
verhütet werden. Gleichzeitig würde durch die Berufsvormundſchaft eine Reihe von gerfplitter- 
ten Reformbeſtrebungen zuſammengefaßt und ſo ein neuer Zweig der Sozialpolitik geſchaffen 
werden. Dadurch, daß ſie die Kraft der Bevölkerung bewahren und vermehren würde, bringe 
fie ganz bedeutende Kraft in die Bevölkerung hinein, würde fie zum Erfolge haben die Ve- 
wahrung und Höherbildung ungezählter Bevölkerungselemente. 


. 
Schwachbegabte Schüler 


d lie viele bedauernswerte Knaben und Mädchen, mahnt ein Artikel der „Köln. 
Volkszeitg.“, „fiken in den höheren Schulen, die beim beiten Willen und bei 
| dugerfter Anſtrengung doch nicht imjtande find, den Klaſſenforderungen zu ge- 
nügen? Falſcher Ehrgeiz der Eltern opfert dieſe Armen, die nicht felten als Träger geiſtiger 
und körperlicher Defekte aus den beſſergeſtellten und höchſten Ständen ſtammen, die den Aus- 
ſchluß ihrer Kinder von dem höheren Schulunterricht als eine ſoziale Degradation betrachten und 
werten. So lange werden auch die höhern Schulen von Schwachbegabten nicht verſchont bleiben. 

Für die enormen Anſprüche der modernen höhern Schule müffen allerdings viele Kinder 
unter den Begriff der „ſchwachen Begabung“ eingereiht werden, die bei einem andern Maß- 
ſtabe als vollauf genügend und ſelbſt gut veranlagt gelten können. Hierhin ſind z. B. alle jene 
ſonſt guten Schüler zu zählen, denen es an ausreichendem Gedächtnis mangelt. Für andere 
ſetzt die geiſtige Entwicklung zu ſpät ein. Bei wieder andern fähigen und ſelbſt genialen Schü- 
lern läßt die Eigenart ihres Geiſtes die Entfaltung unter dem Zwange der Schule nicht voll zu 


oder es findet ſich bei ihnen eine beſondere Veranlagung auf dem Gebiete der Technik, des 


Handels und der Kunſt, die der philologiſchen und mathematiſchen Begabung, wie die höhere 
Schule fie vorausſetzt, nicht entſpricht. Bei wie vielen Schülern aber ſchließen ſich mathema⸗ 
tiſche und philologiſche Begabung gegenſeitig vollſtändig aus? Erfahrungsgemäß bei der großen 
Mehrheit! Andere wieder hindern körperliche e beſonders Fehler der Sinnesorgane, an 
der vollen Entfaltung ihrer Geiſteskräfte. 

Alle dieſe Genannten gehören nicht zu den eigentlich geiſtig Schwachen, nicht einmal 
leichten und leichteſten Grades. Dieſe kommen aus der Kategorie der Neuraſtheniker und 
Hyſteriker, der ſogenannten pſychopathiſch Minderwertigen, die durch geiſtige Abnormität, 
ihre Unfähigkeit zur Konzentrierung der Aufmerkſamkeit, Sprunghaftigkeit des Denkens, leichte 
Ermüdung, Willensſchwäche, abnorme Neigungen oder durch Schwäche auf moraliſchem Ge- 
biete geiſtig zurückbleiben. 


F 


490 | Der Walzertonig 


Der eifrige Vorkämpfer für die Einrichtung von Hilfsſchulklaſſen auch an den höheren 
Schulen, Sanitätsrat Dr. Benda (Berlin), zeichnete auf dem erſten internationalen Kongreß 
für Schulhygiene zu Nürnberg 1904 das Schickſal dieſer Schwachbegabten. Durch die ſeeliſchen 
Reizmittel der Schule: Erregung des Ehrgeizes, Bedrohung mit Strafe und Schande werden 
ſie zu Leiſtungen angeſpannt, deren Reaktion unausbleiblich iſt. Die letzte Zuflucht iſt für viele 
eine der ſog. „Preſſen“. Dieſe bergen jedoch neben ihren hohen Gefahren für die Geſundheit 
oft auch noch ſolche in moraliſcher Beziehung, da neben den geiſtig Schwachen auch die moraliſch 
Schiffbrüchigen hier ein gaſtliches Obdach finden. Die Einwirkung des Gefühls der eigenen 
Unzulänglichkeit auf das Seelenleben der ſchwach begabten Schüler iſt eine tiefe, am ſtärkſten 
bei den ethiſch beſten Elementen, wenn vielleicht auch ein anſcheinender Gleichmut über die 
wahre ſeeliſche Verfaſſung hinwegzutäuſchen vermag. Die Eulenburgiſche Statiſtik über Schüler; 
ſelbſtmorde weiſt nach, daß 25 % derſelben aus ſchwacher Begabung reſultieren. 

Die letzten Vorſchläge Dr. Bendas gehen dahin, neben den Normalklaſſen von der unter- 
ften Klaſſe an für die Schwachbegabten Sonderklaſſen herlaufen zu laffen, die das normale 
Sahrespenfum in 1½ —2 Zahren zu bewältigen hätten. Erfordert werden eine geringe Schüler- 
zahl, verkürzte Unterrichtszeit, Einſchränkung der Anſpornung des Ehrgeizes, Wegräumung der 
Furcht vor Strafe und vor allem pſychologiſch hervorragende Lehrkräfte, die mit einer gewiſſen 
Kenntnis der pſychiſchen Krankheitsformen des Kindesalters vertraut und ſomit befähigt find 
zur eingehendſten Beachtung der Individualität ihrer Zöglinge. 

Der Hilfsſchuleinrichtung auch an höheren Schulen reden die ſtatiſtiſchen Zahlen über 
die Reſultate und Erfolge der an den höheren Schulen Eintretenden das Wort. In Preußen 
erlangen nur 20 % aller Schüler das Zeugnis der Reife, nur 40 % das Einjährigenzeugnis. 
Von den Abiturienten ſowohl der Gymnaſien als auch der Realanftalten find 75 % 19—21 Jahre 
und noch darüber alt, haben alfo das Normalalter von 18 Jahren überſchritten. Ahnlich ift es 
mit der Erreichung des Einjährigenzeugniſſes. Von 613 Unterſekundanern der Berliner ftadti- 
ſchen Gymnaſien ſtanden 1902 nur 335 im normalen Alter von 15 Jahren, die übrigen 278, 
aljo 45 %, waren 16, 17 und mehr Sabre alt.“ 


E 
Der Walzerkönig 


des Vormärz, plaudert die „B. Z. am Mittag“, in der tanzfrohen Kaiſerſtadt, die 
SE, trob aller Fährlichkeiten auf politiſchem und wirtſchaftlichem Gebiete wirklich keine 
anderen Sorgen hatte als die, ob ihr ordentlich zum Tanz aufgeſpielt werde, war er anfangs 
der „kleine Geiger“, der von Saal zu Saal zog und in ſeines Vaters Kapelle tüchtig auf ſeiner 
Fiedel herumſchabte. Dann aber wurde es anders. Nachdem er ſich auf eigene Füße geſtellt 
hatte, begann ſein Stern aufzuleuchten. Er ſtrahlte unvermittelt mit faszinierendem Glanze, 
und der junge Künſtler, der den Walzer ſchuf, weil man ihn am Abend zum Tanzen brauchte 
wie das liebe Brot, komponierte ſich faſt naturgemäß in die Art hinein, die ihm ſpäter ſeine 
Weltſtellung geben ſollte. Die „Ballkomitees“, eine geſellſchaftliche Inſtitution, die in einer 
ſchöneren Zeit den Lebensnery der Wiener Geſellſchaft bildete, folgten feinen Wegen in des 
Wortes wörtlichſtem Sinne, und ſo mancher berühmt gewordene Walzer entſtand in der Ecke 
eines Ballſaales unter dem Orängen eines befrackten Komiteemitgliedes, das auf feinem Schein 
beſtand und von dem geplagten Meiſter das Stück haben wollte, das, längſt ſchon mit dem 
Titel angezeigt, bis dahin auch noch nicht in der Skizze hingeworfen war. Die Zeitungsleute 
wollten ihren „Feuilletonwalzer“ und die „Telegramme“ für den Konkordiaball haben, die 
Mediziner ihre „Erhöhte Pulje“, die „Thermen“ und „Lebensretter“, die Techniker die „Schwung 


Ser Walzerlönig 491 


räder“, die Zuriften warteten auf die „Sentenzen“, die „Promotionen“, und die Kaufleute 
auf ihre „Oividenden“ und auf die „Handels-Elite-Quadrille“. So entſtanden denn fo manche 
der vielbegehrten Tänze ſchleuderhaft hingeſetzt, mit kurzen, wenig ausgefeilten Themen, und 
dieſe aus dem muſikaliſchen Leben jetzt verſchwundenen Werke zeigen dem Kundigen einen 
Strauß, den die große Menge nicht kennt. Aber wer in den verblaßten Blättern lieſt, der findet 
in dieſer Makulatur eines großen Geiſtes immer noch Schätze, die das Leben anderer ausgefüllt 
haben könnten, die, nicht fo wie er, auf dem Kleinkram der Kunſt ein ſtolzes Gebäude von An- 
ſehen und Ruhm aufgeführt haben. 

In den ſtillen Stunden des einſamen Schaffens aber formten ſich die Tanzgedichte von 
ewiger Schönheit, jene Walzer, die fih die Welt erobert haben. Auf Umwegen manchmal, wie 
der Donauwalzer, der bei feiner erſten Aufführung als Chorwalzer durch den Wiener Männer- 
gefangverein glatt durchfiel und nach drei Jahren aus Amerika als „berühmter“ Walzer nach 
Wien importiert wurde, die „Geſchichten aus dem Wienerwald“, „Wein, Weib und Geſang“ — 
dieſe zarten Gebilde einer Phantaſie, die in dem wieneriſchen Boden wurzelte, aus dem früher 
ſchon eine fo reiche, fo üppige Muſikkultur emporgeſprießt war. Strauß ſchuf fie gewöhnlich 
an der Heinen Hausorgel, die in einem Erker feines großen Speiſeſaales aufgeſtellt war, oder 
in ſeiner altertümlichen Kutſche mit den feierlich dahintrabenden Rappen, in der er an ſchönen 
Nachmittagen nach dem Prater zu fahren pflegte. Da waren ihm die Manſchetten ſeines Hem- 
des das Skizzenbuch. Auf ihnen verzeichnete er die Themen, und es gab im Hauſe Strauß ſo 
manche Szene, wenn unverſehens ein genialer Einfall in die Wäſche gewandert war, ehe der 
Meifter ihn ordnungsmäßig auf das Papier übertragen hatte. 

Einzig die Bühne, die fo viele Künſtler ſchon um ihr Lebensglück betrogen hat, wurde 
auch ihm der Anlaß zu Kummer und Schmerz. Zwei Operetten, der „Indigo“ und der ,, Rarne- 
val in Rom“, hatten den erwarteten großen Erfolg nicht gebracht. Da ſetzte denn Strauß ſeine 
Hoffnungen auf die „Fledermaus“. Und als der große Abend kam, da endete er mit einer 
großen Enttãuſchung. Das Stück war faſt ſpurlos an dem Premierenpublikum vorübergegangen, 
weil es kaum auf den Verlauf der Dinge auf der Bühne achtete. An demſelben Abend ſollte 
das Verdikt in einem Prozeſſe geſprochen werden, der im Jahre 1874 Wien und ganz Ofter- 
reich wochenlang in fieberhafter Spannung erhalten hatte. Der Cifenbabngriinder Ritter von 
Ofenheim ſtand vor den Geſchworenen, und der Prozeß hatte ſchon vor der Urteils verkündigung 
ein Opfer gefordert: der Handelsminiſter Banhans war durch verſchiedene Bekundungen un- 
möglich geworden. Das Publikum im Theater wartete erregt auf das Urteil, das jeden Augen- 
blick kommen mußte. Und als die Freiſprechung des Angeklagten im Saale bekannt geworden war, 
verließen viele Beſucher das Haus und überließen das Schickſal der Operette dem Berliner 
Publikum, das ihren Wert fofort erkannte und ihr ſtürmiſch zujubelte. 

Dann häuften fih Erfolg und Ruhm zu einem Hindernis, das den armen geplagten 
Meiſter von feinem Eigenleben völlig abſchloß. Wohin er den Fuß ſetzte, in der Öffentlichkeit, 
im Salon, — er wurde gefeiert wie ein Mächtiger dieſer Erde. Ein Wort von ihm beglückte die 
ſchönſten Frauen, ein Händedruck des Meiſters war eine Ehrung für den Glücklichen, der ſich 
ihm nahen durfte. And bei alldem ſchien der ganze Mann eine Abwehr gegen das Übermaß 
von Glanz und Ruhm zu fein, in deren Lichte er wandelte. Kein Wort der Aberhebung, kein 
lauter Ton, immer geduldig und verbindlich, rührend in ſeiner Liebenswürdigkeit. und wenn 
er in einer Geſellſchaft — er mußte febr heimiſch in ihr fein — ſich an den Flügel ſetzte und ein 
paar Takte eines ſeiner Walzer ſpielte, dann hatte er die höchſten Ehrungen vergeben, die er 
ſpenden konnte. Er ſpielte fürchterlich. Seine ungelenke Hand konnte kaum den Rhythmus 
markieren, und er kam nur ſchwer „vom Fleck“. Der Meiſter hat das ganz genau gewußt und 
ſelbſt oft über fein „ſchönes“ Spiel gelacht. Aber es waren doch hiſtoriſche Momente, an denen 
der Komponiſt der „Fledermaus“ fih ſelbſt ſpielte. 


22 


492 Rofegger über bie Nationalitatenfrage 


Rofegger über die Nationalitätenfrage 


aig) 


an kennt fie gar nicht auseinander! ruft er im „Heimgarten“. Die Leute ver- 


yp Ee N ſchiedener Nationalitäten, die in unſerem Lande ſeit Jahrhunderten beiſammen 
Ce wohnen und alteingefeffenes Heimatsrecht haben — fie find ja alle gleich. Nein, 
gleich nicht. Der Nang unterſcheidet. Die Kaſte unterſcheidet. Die Bildungsunterſchiede find 


groß. Die Klaſſen unterſcheiden weit mehr als die Raſſen, die fih längſt gemiſcht haben. Ein 
deutſcher Bauer und ein windiſcher Bauer ſtehen ſich näher als ein deutſcher Bauer und ein 
deutſcher Großſtädter. Was Lebenshaltung und Geſinnung anlangt. Mancher Deutfche unter- 
ſcheidet ſich mehr von ſeinem leiblichen Bruder als vom Nachbar, der jenſeits der Sprachgrenze 
wohnt. — Welch ein Unglück, Dieter Nationalitätenkrieg, den wir erleben, der unfer Leben fo 
ſehr verroht, verbittert, ſo würdelos macht! Nachdem wir längſt darüber einig waren, daß die 
Menſchen an fic) gleich find, daß bei den europäiſchen Bewohnern der Unterſchied ganz wo 
anders liegt, als in der Abſtammung, ift jetzt diefe ſchreckliche Zeit gekommen. Jenes Jahrhundert 
der Humanität mit ſeinen großen Geiſtern und Lehrern — iſt es denn ganz für uns verloren 
gegangen? Die Raſſe! Das Blut! Wer von uns kann fagen: Mein Blut ift rein germaniſch! 
Oder: Mein Blut ift rein ſlaviſch! Oder: Es ift rein romaniſch! Wenn man unfere Bluts- 
tropfen chemiſch daraufhin unterſuchen könnte — das würde kurioſe ÜUberraſchungen geben. 

Alſo bleibt nur die Verſchiedenheit der Sprachen übrig, wie ſie ſich, ich möchte ſagen, 
mehr zufällig in den Landſtrichen erhalten haben. Sft es nicht größtenteils ein Buchftaben- 
krieg, der da mit oft wahnwitziger Grauſamkeit geführt wird? Oer deutſche und der windiſche 
Bauer verſtehen ſich nicht. Richtig. Aber verſtehen ſich der deutſche Bauer und der deutſche 
Großſtädter? Verſtehen ſich der deutſche Sozialdemokrat und der deutſche Ariſtokrat? Ber- 
ſtehen fich der deutſche Katholik und der deutſche Proteſtant? Sie verſtehen fic vielleicht ſprach⸗ 
lich, aber nicht ſachlich. Lieber Himmel, wenn alle, die auf dieſer Welt ſich nicht verſtehen, ſich 
gegenſeitig ausrotten wollten, fo bliebe ſchließlich nur einer übrig. Und auch der müßte ſich ab- 
tun, weil er ſich ja ſelbſt nicht verſteht. In unſerer Sache wiederhole ich, daß der deutſche und 
der ſlaviſche Bauer über die Sprachgrenze hinweg vermöge ihrer ähnlichen Lebensführung 
fih beffer verſtehen als der altſtändige deutſche Bauer und der moderne deutſche Städter. 

Im großen find die Fntereſſen unſerer Menſchen und Völker gegenſeitig. Die wirt- 
lichen Konflikte aber liegen im Wirtſchaftsleben, und zwar innerhalb eines Volkes ſo gut als 
zwiſchen verſchiedenen Völkern. Wozu alſo dieſer Kampf um die Sprachen? Es iſt ein rein 
theoretiſcher, ein unnatürlicher, ein frevleriſcher Krieg. 

Ahnliche Gedanken quälten mich in den Tagen der Nationalitätenrevolten in unſeren 
öſterreichiſchen Städten. Ich bin der Überzeugung, daß ſolche Gedanken an ſich richtig find, 
aber auch, daß die Sache nicht fo einfach liegt. So überaus verwerflich der Nationalitaten- 
krieg iſt — wir haben ihn einmal, wir müſſen mit ihm rechnen. Das eine Volk hat angefangen 
mit der Eroberung, das andere muß ſich wehren. Und wehrt ſich natürlich vor allem um ſeine 
Sprache, dieſes teure Gefäß unſeres geiſtigen Lebens. Man meint aber, ein Kulturſtaat müßte 
es doch zuwege bringen, daß jedem ſeine Mutterſprache geſichert bleibe. Und man meint, 
die Leute ſollten doch ſo vernünftig ſein, auch die Sprachen der Nachbarn zu lernen, ohne zu 
befürchten, daß dadurch ihr angeſtammtes Blut zugrunde geht. 

Der Krieg] um die geiftigen nationalen Güter, das wäre etwas! Aber auf dieſer mora- 
liſchen Höhe ſtehen unſere nationalen Kämpfe nicht. Niedrige Intereſſenkämpfe ſind es, von 
perſönlichen Feindſeligkeiten werden ſie geleitet; Eitelkeit und Ehrgeiz der Parteiführer ſpielen 
mit. Ein Werk der Verführung ift größtenteils dieſer Kampf. Mit Schlagworten aufgewiegelt 
wird die Menge, die ſich weiß Gott was Heldenhaftes dabei dünkt, wenn man andersſprachige 
Mitbürger mit Steinen bewirft und ihre Häuſer demoliert. Der hohe Sinn, der im treuen Schutze 


Goethes Geſichtsmaste | 493 


des angeftammten Volkstums liegt, bleibt der fanatifierten Menge verborgen — ift ihr auch 
ganz gleichgültig. Ä 

Goll denn das nun ewig fo fortgehen? Denn was man heute will, ift nie und nimmer 
durchführbar; die Abgrenzung der Völker, damit dann Friede fei! Um bieten Frieden zu er- 
langen, ewiger Krieg! Zit das nicht widerſinnig? Aber es gibt Leute, die wollen den Kampf 
um jeden Preis. Der Kampf ſtähle und adle den Menſchen, ſagen ſie. Gut; dann ſollen ſie 
ja froh ſein, daß immer heftige Feinde gegen ſie aufſtehen; ſie könnten mit dieſen Feinden 
munter ringen, aber ohne Haß, ohne Nachgier, vielmehr mit Achtung, ja fogar mit Liebe zum 
Gegner, der ja das ift und tut, was fie wünjchen und nicht entbehren können. 

Nein, allen Ernſtes, ich muß es offen ſagen: die Treue zum eigenen Volke habe ich mir 
anders gedacht. Was iſt das für ein Nationalismus, der immer darauf aus iſt, dem eigenen 
Volke unter anderen Völkern Feinde zu machen?! 

Einer Grazer Zeitung, die ſchon Miene macht, den ſteiriſchen Heimatsdichter zu den 
„nationalen Verrätern“ zu ſtoßen, antwortet Roſegger folgendermaßen: „Zch hoffe doch, daß 
viele Ihrer Lefer es verſtehen können, wenn man den Sprachen- und Nationalitätenkampf 
als ein notwendiges, vorübergehendes Übel betrachtet, nicht aber als einen permanenten Zu- 
ſtand oder gar als das eigentliche Zdeal auf Erden. An wen meine Bemerkungen über Qema- 
gogentum uſw. gerichtet ſind, das iſt im Angeſicht der empörenden Ereigniſſe (der Artikel iſt 
unter dem Eindruck der Vorgänge in Laibach, Prag uſw. geſchrieben) leicht zu erkennen. Aber 
es ift nötig, auch die Deutſchen manchmal zu mahnen, ſich niemals jener Taktik zu bedienen. 
Das wenige, was wir neuere Poeten noch mit unſeren Klaſſikern gemein haben, möchte man 
doch nicht zu febr anfechten. Das Ideal von der Gemeinſamkeit aller Menſchen ſchließt ja die 
beſondere Liebe und Treue zum eigenen Volke nicht aus. 


Æ 
Goethes Geſichtsmaske 


IN ährend bisher die als wertvolles, ſozuſagen ſakroſanktes Eigentum des Goethe- 
AC Le į Nationalmuſeums hier aufbewahrte Geſichtsmaske Goethes, die wahrſcheinlich 
am 10. Februar 1816 von dem damals wegen der Ausführung des Blücherdenkmals 
in Weimar weilenden, dem Dichter befreundeten Berliner Bildhauer S cha d o w über dem 
Antlitz des lebenden Dichters geformt worden war, der weiteren Welt nur in Abbildungen, 
am beſten in der von Karl Bauer in ſeinem Büchlein „Goethes Kopf und Geſtalt“ (S. 8, Nr. 1) 
übermittelten bekannt war, ift es nunmehr, wie der „Frankf. Ztg.“ aus Weimar geſchrieben 
wird, dank der Liberalität der Leitung des Weimariſchen Goethe-Hauſes möglich geworden, 
die koſtbare Reliquie im Abguſſe zu erwerben. Die Ausführung und der Vertrieb der Ge- 
ſichtsmaske Goethes von Schadow find einer Berliner Firma übertragen worden. Dieſes aus der 
santa casa nunmehr befreite Runſtwerk — denn ein Kunſtwerk ift es trotz der Art feiner Cnt- 
ſtehung — gewährt nun auch die Möglichkeit, zu jeder Zeit die zum Teil auf dieſen Typus zu- 
ruͤckgehenden Bilder, Büſten und Plaketten des Kopfes auf ihre Wahrheit zu prüfen. Wenn 
P. J. Möbius in feinem bekannten Buche die Goethe- Vildniſſe mit Ausnahme derer aus dem 
Greiſenalter, ſämtlich als unzuverläſſig und wahrheitswidrig verwirft, fo kann fein Tadel un- 
moglich diejenigen treffen, die der Schadowſchen Maske nachgebildet find. Als Ergänzung 
des durch Schabows Werk gewonnenen Eindrucks könnte die am 13. Oktober 1807 von dem wei- 
mariſchen Bildhauer Weißer fir den Phrenologen Dr. Gall abgeformte Maske dienen, aus der 
wir den Kopf des jüngeren Mannes herauszuſchälen vermögen. Schadows Büfte hat aber vor 
der Weißers unſtreitig den Vorzug, daß von ihr der unſchätzbare erſte Abguß mit den geſchloſſe⸗ 
nen Augen noch vorhanden iſt, der bei der anderen leider verloren ging. Schade, daß nicht 


494 Polltiſcher Aberglaube 


auch der ganze übrige Teil des Schädels abgegoſſen wurde wie bei Schiller, von dem wir den 
ganzen herrlichen Kopf bis zum Nacken beſitzen. Aber der Schadowſche Kopf iſt ſo lebendig, 
als ob ſich der wundervoll geformte Mund eben erſt geſchloſſen habe. Der Dichter war in der 
Zeit der Abformung wieder einmal magerer geworden; das ntertinn war geſchwunden, was 
dem geiſtigeren Ausdruck zu ſtatten kommt. Beſonders fein und kraftvoll iſt die Naſe geraten. 
Die Stirn erſcheint durch das über die anſetzenden Haare gelegte Tuch beſonders hoch. nd 
wenn nun leider auch, wie es nicht anders möglich war, das Aug geſchloſſen ift — diefe obere 
Partie hat Schadow fpäter in Berlin aus dem Gedächtnis nachgearbeitet —, fo ſcheint doch der 
ganze Kopf ſo beſeelt, daß man an der Hand auf Autopſie beruhender Beſchreibung, ſowie 
mit Hilfe treuer Porträts, vor allem nach dem Stielers in der Münchener Pinakothek vom Jahre 
1828 leicht ſich die Ergänzung der Augen im Geiſte zu ſchaffen vermag. Goethes Augen waren, 
wie Heinrich Heine in ſeiner Schilderung des Dichters bemerkte, „ruhig wie die eines Gottes“, 
während andere, wie Schopenhauer, ein wiitiges Feuer in ſeinem Blicke zu erkennen wähnten. 
Jedenfalls gibt uns Stieler einen annähernden Begriff von dieſen ſchwarzen Sonnen. Goethes 
Geſicht war mehr als dem ſeiner Eltern dem der Großmutter mütterlicherſeits ähnlich, der 
Schultheißin Anna Margaretha Textor, geb. Lindheimer. Laſſen wir den Kopf in Schadows 
Maske als Ganzes auf uns wirken und beachten wir insbeſondere den weichgeformten Mund 
mit den ſanftgeſenkten Winkeln, fo verſtehen wir die Worte, die ein paar Jahre nach der Ab- 
nahme der Geſichtsmaske Schadows C. E. v. Weltzien in bezug auf des Dichters Antlitz nieder- 
ſchrieb und die lauten: „Nichts von Arroganz, nichts von Menſchenverachtung, ſondern etwas 
ganz Unnennbares, wie es Männern eigen zu fein pflegt, die durch vielfältige Erfahrungen 
und Schickſale gleichſam im Kampfe durch das Leben gegangen find und nun im Gefühle ihrer 
Integrität mit beneidenswerter Gemütsruhe der Zukunft entgegenſehen. In dieſem Aus- 
druck miſcht ſich bei Goethe ein unverkennbarer Zug von Herzensgüte und zugleich ein anderer 
von befiegter ehemaliger Leidenſchaft.“ Ganz ähnlich hat Goethe ſel b ft über fein Äußeres 
geurteilt. Ein Diplomat hatte von ihm geſagt: „Voilà un homme qui a eu de grands chagrins.“ 
Dazu meinte Goethe: „Der gewandte Geſichtsforſcher hatte recht geſehen, aber das Phänomen 
bloß durch den Begriff von Duldung ausgedrückt, was er auch der Gegenwirkung hätte zufchrei- 
ben follen. Ein aufmerkſamer, guter Oeutſcher hätte vielleicht geſagt: „Das ift auch einer, 
der ſich's hat ſauer werden laſſen.“ Der tolerante Weltbezwinger, der ſich auch ſelber über- 
wunden hat, ſchaut uns aus der herrlichen Maske an, deren Vervielfältigung dem Studierzimmer 
des den Dichter verehrenden Forſchers zur Zierde zu werden verfpricht, bei deren Anblick einem 
dann wohl das Wort in den Sinn kommt, das einft der Freund Herdern bei der Setrad- 
tung des Cranachſchen Luther Kopfes in der Sakriſtei der Weimariſchen Stadtkirche ſchrieb 
(10. Zuli 1776): „Das wuſch mich wieder von allem Staub, und fo reinige uns der Heilige Geiſt 
von allem Skwal eh er fingerdick auf uns ſizt wie auf den Gräbern der Helden.“ 


22 | 
Politiſcher Aberglaube 
NAD 


Els ſolchen bezeichnet Dr. Otto Schmidt-Gibichenfels im „Hammer“ die überfpannten 
A Hoffnungen, die unfere angeblich fo febr aufgeklärte Zeit auf Anderungen der 
A geſellſchaftlichen Einrichtungen, Staatsverfaſſungen uſw. fege. „Jede Partei, 
von der äußerſten Linken bis zur äußerſten Rechten, vermeint, das Wohl aller, das Heil der Ge- 
ſellſchaft, das Himmelreich auf Erden fei herbeigekommen, wenn nur erft ihr ſpezielles Par- 
teiprogramm vollkommen zur Durchführung gelangt ſei. 

Man vergißt dabei nur zu ſehr, daß es der Geiſt iſt, der auch den ſozialen 
und politiſchen Körper baut. Wo kein ſozialer oder liberaler oder konſervativer 


Politiſcher Aberglaube 495 


Geiſt wurzelt, wird auch die am meiften fogiale oder liberale oder tonfervative Staatsverfaſſung 
ihren Zweck nicht erfüllen, wohl ſogar das Gegenteil deſſen bewirken, was ſie bewirken ſollte. 
Dagegen vermag ein liberaler Geiſt auch in einem konſervativen Staatskörper und umgekehrt, 
ein konſervativer Geiſt in einer liberalen Verfaſſung nach ſeiner beſonderen Art zur Geltung 
zu kommen.“ 

In dieſer Beziehung, meint der Verfaſſer, ſeien wir wohl alle mehr oder weniger fonder- 
bare Schwärmer. Die ſonderbarſten aber die Sozialdemokraten. „Gerade die Ziel- 
bewußteſten unter ihnen empfinden, denken, handeln genau fo im Geiſte der Genußſucht, Hab- 
gier, Eitelkeit, kurz, der Selbſtſucht, wie die ſogenannten, Kapitaliſten“, und wenn man fie fragt, 
warum fie fih jo benehmen, erwidern fie entrüſtet: „Können wir denn jetzt, bei dieſer tapita- 
liſtiſchen Weltordnung, anders empfinden, denken, handeln, als die Kapitaliſten? Wenn wir 
das nicht täten, würden wir bald unten durch fein. Ja — freilich, wenn Staat und Geſellſchaft 
erſt ſo wären, wie wir ſie haben wollen, dann kann man überhaupt gar nicht anders als 
ſozial und gerecht denken, empfinden, handeln.“ 

Meinen Sie wirklich? Ich bin feft überzeugt, daß es auch im ſozialdemokratiſchen Zu- 
kunftsſtaate, gleichviel wie er in Erſcheinung trate, Selbſtloſe und Selbſtſuͤchtige, Edle und 
Gemeine, gerecht und ungerecht empfindende Individuen geben wird, und daß ſie, wenn auch 
in anderer Weiſe als heute, diefe Geſinnung betätigen werden. Vielleicht ift dann diefe Be- 
tätigung ſogar noch weniger beſchränkt als heute. Für gewiſſe Leute ſcheinen ja die geſetzlichen 
und ſittlichen Schranken nur dazu da zu fein, um möͤglichſt geſchickt umgangen zu werden. Die 
fie mit Gewalt beifeite ſtoßen, find nicht einmal die Schlimmſten. Ein gelegentlicher Knochen 
bruch kann verhältnismäßig leicht geheilt werden, allgemeine Knochenerweichung iſt der Anfang 
vom Ende. 

Nun iſt es freilich klar, daß ein beſtimmter Geiſt ſich in dem ihm am beſten angepaßten 
Körper auch am beſten wird betätigen können. Es iſt darum wünſchenswert, daß auch der ge- 
ſellſchaftliche und ſtaatliche Organismus immer mehr im Geiſte der Gerechtigkeit, Wahrheit, 
Freiheit und Schönheit ausgebaut wird; aber dieſer Geiſt muß immer zuerſt da 
fein, zuerſt gehegt und gepflegt werden und ſich in den gegebenen Schranken fo weit als ir- 
gend möglich betätigen. Die Schranken erweitern, verſchieben, beſeitigen ſich dann allmählich 
von ſelbſt, und ohne irgendwelche Zerſtörung wertvoller Güter der Geſellſchaft werden nach 
und nach dieſelben Einrichtungen geſchaffen, welche die ſtürmiſchen Geſellſchaftserneuerer 
raſch und gewaltſam herbeiführen möchten, aber vorläufig nicht und auf diefe Weiſe wohl 
niemals dauernd herbeiführen können. Erft muß der neue Inhalt da fein, ehe die neue Form 
ihren Zweck erfüllen kann. Die erſten Chriſten trugen ihre Religion ſchon lange im Herzen, 
ehe ſie in Staat und Geſellſchaft zum Ausdruck kam. 

Das ſollten ſich die Sozialdemokraten und alle, denen es mit der Erneuerung der Gefell- 
ſchaft Ernſt iſt, beſtändig vor Augen halten. Es iſt ſo bequem, auf gewiſſe Einrichtungen zu 
ſchimpfen und feine eigene geiſtige Trägheit mit dem Beharrungsvermögen dieſer Einrich- 
tungen zu entſchuldigen. Damit lockt man, wie die Bauern ſagen, keinen Hund vom Ofen. 
Es wird dadurch nur ſchlimmer, anſtatt beſſer. 

Die meiſten Menſchen von heute, beſonders diejenigen, die ſich mit Stolz „moderne“ 
Menſchen nennen, können beinahe alles, ſoweit dabei nur Wiſſen, techniſches Geſchick und rein 
materielle Mittel, Geld uſw. in Frage kommen. Sie denken ſcharf, wenn auch nicht gerade 
tief; ſie empfinden fein und weich und in dieſem weichen, weiblichen Sinne vielleicht auch 
edel, aber nicht ſtark, nachhaltig und im männlichen, heroiſchen 
Sinne edel. Die modernen Menſchen können auch wollen und handeln, nur darf dabei 
die Selbſtſucht nicht zu kurz kommen. Sowie anſtatt Selbſt f u cht — Selbſt zucht, ehernes 
Pflichtgefühl, Überhaupt hochherzige Gefinnung in Frage kommt, verſagen fie kläglich. Oar- 
aus erklärt fic) alles Matte, Laue, Erbärmliche unferer Zeit. And ſolange man eine Anderung 


496 O eutſche Grillen 


in dieſer Beziehung von einer Anderung der ſtaatlichen und geſellſchaftlichen Einrichtungen 
erwartet, wird es nur immer ſchlimmer, anſtatt beffer werden. Nur Selbſtüberwindung, Gelbft- 
erziehung, Veredelung des Wollens bilden das Samenkorn, aus dem alles Schöne, Große, 
Erhabene auch in Staat und Geſellſchaft emporwächſt.“ 


SQ 
Deutſche Grillen 


ME zngefichts der in England graſſierenden beifpiellofen Flottenpanik macht fid ein Mit- 
arbeiter des „Reichsboten“ das Vergnügen, an die anmaßende Selbſtuͤberhebung 

der Engländer zu erinnern, die ſie vor rund ſechzig Fahren zur Schau trugen. Es 
war bei dem erſten und einzigen Auftreten der damaligen, unter der ſchwarz-rot-goldenen 
Flagge ſegelnden deutſchen Bundesflotte in dem Seegefecht bei Helgoland. „Der aus Leipzig 
ſtammende und aus fremden Kriegsdienſten zur deutſchen Flagge übergetretene Seezeug⸗ 
meifter, fpätere Admiral Brommy, hatte es unter Überwindung unendlicher Schwierigkeiten 
verſtanden, die in Dienſt geſtellten Schiffe der jungen deutſchen Reichsflotte in kurzer Friſt 
ſo weit vorzubereiten, daß er es wagen konnte, ſeine Kräfte mit dem Feinde zu meſſen. Am 
A, Juni 1849 unternahm er mit den drei Korvetten „Barbaroſſa“, ‚Hamburg‘ und „Lübeck“ von 
der Weſermündung aus eine Rekognoſzierungsfahrt mit Kurs auf Helgoland, in deffen Schutz 
ſich das däniſche Blockadegeſchwader in der Regel aufhielt. Bald ſtieß man auf die von dem 
nordwärts kreuzenden däniſchen Geſchwader getrennte „Valkyrien“. Einige Schüſſe von deut- 
ſcher Seite gingen den Dänen durch die Takelage, doch erreichte die feindliche Korvette nach 
kurzer Zeit ſchon das engliſche Hoheitsgebiet, und ein engliſcher Signalſchuß vom Oberlande 
nötigte Brommy, das Gefecht abzubrechen. 

Wenige Tage nach der Affäre hielt es Lord Palmerſton für angebracht, durch die, Times“ 
bekanntzugeben und dem Hamburger Senat mitzuteilen, es hätten ſich Schiffe unter einer 
ſchwarz- rot- goldenen Flagge in der Nähe von Helgoland gezeigt; ließen fie fih noch einmal 
ſehen, ſo werde er ſie durch engliſche Kriegsſchiffe als Piraten aufbringen laſſen. Und das 
engliſche Blatt ‚Eraminees‘ ſpottete: ‚Unter anderen Grillen hielt das Oeutſche Reich von 1848 
es für würde voll und groß, eine deutſche Flotte auf die Beine zu bringen. Die Flotte exiſtierte 
freilich nur dem Namen nach. In der Tat, wie das Reich nur das Geſpenſt eines Reiches war, 
ſo war die Flotte nur das Geſpenſt einer Flotte.“ 

Damals mußte man die Beleidigung ruhig einſtecken. Wie im übrigen Albion auch in 
jenem Kriege ſeine Neutralität durchführte, kann man daraus erſehen, daß ſeit dem Gefecht 
(wahrſcheinlich auch ſchon vorher) auf Helgoland ſtets ein Matroſe eines däniſchen Kriegsſchiffes, 
verſehen mit einem großen Fernrohr und einer roten Winkflagge, tagsüber fih auf dem Ober- 
lande aufhielt, um dem däniſchen Blockadegeſchwader eventuell das Inſichtkommen deutſcher 
Schiffe zu ſignaliſieren. 

Nun, die deutſche Grille“, eine eigene Flotte beſitzen zu wollen, ift ebenſo wie die Schaf- 
fung eines geeinten Deutfchen Reiches in eine febr reelle Tatſache umgeſetzt worden; das ,Ge- 
ſpenſt der deutſchen Flotte“, freilich in anderem Sinne als damals, ſpukt jenſeits des Kanals 
noch heute fort. 

Brommy ſelbſt war es nicht mehr vergönnt, die Wiedergeburt des Reiches, deffen Kriegs- 
flagge jetzt auf allen Meeren weht, zu erleben. Bereits am 9. Januar 1860 verſchied er auf 
feinem Ruheſitz in dem ſtillen Dörfchen St. Magnus bei Bremen; feinem Wunſche gemäß wurde 
fein Körper in die Flagge gehüllt, die ihm patriotiſche Frauen und Jungfrauen von Brake in 
edler Begeiſterung bei Schaffung der damaligen Flotte verehrt hatten. Vom Alldeutſchen Ver- 


Sie. Entſcheldung 1870 497 


bande wurde ihm ſpäter ein würdiges Denkmal auf dem Friedhofe von Hammelwarden bei 
Brake geſetzt, und feine Bronzebüfte nimmt einen Ehrenplatz ein in der Galerie deutſcher Gee- 
helden in der Marine-Akademie zu Kiel.“ 


war 
Die Entſcheidung 1870 
St M 


d n der Revue des Deux Mondes ſchildert Emile Ollivier die Ereigniffe von 1870. 
AC D uber die Miniſterratsſitzung am 15. Juli in St. Cloud, die über Krieg und Frieden 

$) entſcheiden follte, berichtet er nach einem Auszug der „Frankf. Ztg.“: Der Kaiſer, 
die Kaiſerin und alle Miniſter waren gegenwärtig. Der Herzog von Gramont verlas die Er- 
klärung, mit der vom geſetzgebenden Körper Geld für den Krieg verlangt werden ſollte; es 
hieß darin, die Regierung ſei empört über die Verweigerung der Audienz bloß aus dem Grunde, 
weil die Emſer Depefche fie der ganzen Welt als eine greifbare Beleidigung kundgegeben habe. 
Als Gramont die Verleſung beendet hatte, klatſchte der Kaiſer Beifall. Die Minifter fragten 
dann den Kriegsminiſter, Marſchall Le Boeuf, ob er gerüſtet ſei. Der Marſchall erwiderte, 
Frankreich fei gerüftet und fei niemals in beſſerer Lage geweſen, feinen Streit mit Preußen aus- 
zufechten, ſo daß man volles Vertrauen haben könne. Zugunſten des Friedens ſprach niemand. 
Dann wurde abgeſtimmt. Einſtimmig, die Stimme des Kaiſers eingeſchloſſen, wurde 
der Krieg beſchloſſen. Nur die Kaiſerin ſprach keine Meinung aus und ſtimmte auch nicht mit. 
Dieſe Oarſtellung Olliviers ijt darum wichtig, weil bisher vielfach angenommen wurde, die 
Kaiſerin habe in dieſem entſcheidenden Miniſterrat geſprochen und ſowohl den Kaiſer 
wie einige zögernde Minifter zum Kriege bewogen. Das ift alfo nicht richtig; die Kaiſerin hat 
in dieſer Sitzung nicht eingegriffen. Freilich, ſie hatte das auch nicht nötig; ihre Leute hatten 
dem Kriege bereits gut vorgearbeitet. 

Ollivier kommt auch auf fein berüchtigtes „de cœur léger“ zu ſprechen und macht mil- 
dernde Umſtände geltend; er weiſt nämlich darauf hin, daß er nicht vom Kriege, ſondern von 
der ſchweren Verantwortlichkeit geſprochen habe, die er und die Miniſter an dieſem Tage auf 
ſich luden, und da habe er beigefügt, daß die Miniſter dieſe Verantwortlichkeit „mit leichtem 
Herzen“ übernähmen. Daß der geſetzgebende Körper nach einer ſtürmiſchen Sitzung mit einer 
Majorität von 245 Stimmen die verlangten Kredite bewilligte, daraus folgert Ollivier, daß 
das Parlament feinen Teil an der Verantwortlichkeit für den Krieg übernahm, fo daß die Ber- 
antwortlichkeit gleichmäßig drei Faktoren treffe: den Kaiſer, die Miniſter und das Parlament. 
Das ſei auch die Meinung Napoleons geweſen. „Wenn ich gegen den Krieg geweſen wäre,“ 
ſagte er, „hätte ich das Miniſterium entlaſſen können; wenn ſie den Krieg nicht für notwendig 
gehalten hätten, ſo hätten ſie ihre Entlaſſung nehmen können, und wenn das Parlament den 
Krieg mißbilligt hätte, ſo hätte es ihn nicht zu genehmigen brauchen.“ Kaiſer, Miniſter und 
Parlament, fügt Ollivier bei, hätten fih in aller Freiheit und in voller Kenntnis der Umſtände 
entſchieden; keiner von ihnen habe getdufdt, und keiner fei getäuſcht worden. Ollivier berichtet 
dann noch: Am Abend des verhängnisvollen Tages, der den Krieg entſchied, bewegten ſich der 
Raifer und die Raiferin unter den Senatoren und Deputierten. Die Verſchiedenheit ihrer Hal- 
tung wurde ſehr bemerkt. Die Kaiſerin war lebhaft und von triumphierendem Vertrauen 
beſeelt. „Wir beginnen“, ſagte ſie, „mit den beſten Ausſichten, die überhaupt ein menſchliches 
Unternehmen haben kann, und es wird gut gehen.“ Der Kaiſer dagegen war melancholiſch; 
er ſagte: „Das wird lang und ſchwierig werden, und wir werden uns furchtbar anſtrengen müf- 
ſen!“ Es wurde noch ſchlimmer, als der Melancholiker auf dem Kaiſerthron vorausgeſehen hatte. 


S 


Der Zürmer XI, 10 52 


498 | Blamabel 


Blamabel 


Fe ‘ as ift und bleibt das Verhalten des Publikums feinen Dichtern gegenüber. „Die 
WA À A Hamburger,“ ſchreibt H. K. Evers in der „Neuen Revue“, „haben Guftav Falke 

deen fabelhaften Ehrenſold von 2000 M (ich glaube, foviel ift es) zugebilligt, und 
Detlen von Liliencron bezieht ganze 1000 K vom Kaiſer. Als Firdufi vom Schah Mahomet 
ungefähr die zweihundertfache Summe für ſeinen großen Heldenſang bekam — gab er das 
Geld den beiden Boten und feinem Badediener als Trinkgeld — in gerechter Entrüftung, da 
der Fürſt ihm Silberſtuͤcke, ſtatt ebenſo vieler Goldftüde geſandt hatte. Was ift die Folge? 
Der Dichter iſt gezwungen, irgend etwas anderes zu tun, um genug Geld zum Leben zu ver- 
dienen. Natürlich ſind einige da, die es nicht nötig haben, die von Hauſe aus vermögend ſind. 
Das find die Glücklichen. Die anderen find zu Arbeiten gezwungen, die in weitaus den meiften 
Fällen ihre künſtleriſche Produktion ſchwer ſchädigen, denn anftändig leben kann bei uns kein 
Dichter vom Ertrag ſeiner Feder. Man ſehe doch die Auflagenziffern unſerer berühmteſten 
und anerkannteſten Dichter an: Zwei, febr felten drei Auflagen, das macht etwa 1000 M für 
ein Buch, in dem oft mehr als ein Jahr Arbeit ſteckt. Selbſt Gerhart Hauptmann hat mit ſeinen 
vielen Stücken und — ſcheinbar — großen Theatererfolgen kaum fo viel verdient, daß er wirt- 
lich gut leben könnte. Schnitzler, Bahr, Hoffmannsthal können nicht die Mieten für ihre Woh- 
nungen, andere, wie Eulenberg, ‚im Bau“ längſt anerkannt, nicht einmal feine Streichhölzchen 
von feinem, Verdienſt“ beim Theater bezahlen. So ift jeder auf einen „Nebenverdienſt“ an- 
gewieſen, der recht eigentlich „Hauptverdienſt“ ift. Die meiſten ergreifen das Nächſtliegende: 
jie find „journaliſtiſch“ tätig. Ich kann verſichern, daß es — für den Dichter — eine elende 
Kuliarbeit ift. Andere Dichter find Dramaturgen oder Regiſſeure, eine meiſt noch ekelhaftere 
Arbeit, die mit Kunſt womöglich noch weniger zu tun hat. Guſtav Falke gibt Klavierſtunden; 
Arno Holz erfindet kleine mechaniſche Scherzartikel für den Weihnachtsmarkt. Andere machen 
Reklameverschen für Andreas Hofers Malzkaffeebogen oder fabrizieren Beiträge für Witz- 
blätter. Einige treten im Kabarett auf; Frank Wedekind verdient feinen Unterhalt als Schau- 
ſpieler. Andere leſen Korrekturen, geben Privatſtunden, halten Vorleſungen; eine ganze Menge 
überſetzt aus fremden Sprachen. Einige — man kennt ihre Namen — hungern. Sie wären 
längſt verhungert, wenn nicht ihre Kameraden, die meiſt ſelbſt herzlich wenig haben, fie über 
Waſſer halten würden. So haben ſie Brot, aber Butter iſt wenig darauf. Und dabei gehören 
fie zu unſeren feinſten, eigenartigſten Dichtern. Es verſteht fid von ſelbſt, daß die Kunſt darunter 
jammervoll leidet. Wenn man nicht weiß, wovon man ſich im nächſten Monat — womöglich 
Frau und Kinder — ernähren ſoll, dann iſt es recht ſchwer, ein Kunſtwerk zu ſchaffen. So ſehen 
wir manchen glänzend einſetzen und langſam immer ſchwächer, immer blutärmer werden: 
die Not frißt ſeine Kunſt. Es iſt immer wieder dasſelbe Bild: Hoffnungen, Verſprechungen, 
die nicht gehalten werden. So gehen unſere Talente zugrunde, und es iſt das Publikum, das 
die Schuld trifft. Dutzendſchriftſteller ſehen wir reich werden mit ihren Verlegern und Theater- 
direktoren; Schauſpieler ſehen wir horrende Gagen beziehen. Einen Oichter, den ſeine Kunſt 
reich machte, hat Deutſchland noch kaum geſehen.“ 


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ae Die Hier veröffentlichten, dem freien Meinungs austauſch bienenden 11 
Einſendungen [ind unabhängig vom Standpunkte des Herausgebers 


Kulturopfer 
(Vgl. S. 197, Heft 8, Jahrg. XI) 


58 ird der Schrei nach Kultur, der heute immer lauter ertönt, in letzter Stunde un- 
geahnte Kräfte erwecken oder ift er vielmehr der ſehnſüchtige Ruf des Kranken 
nach dem entſchwindenden Leben?“ So ſchließt eine Betrachtung über „R u It u r- 
opfer“ im Maiheft des „Türmers“. „Wie denken die Türmerleſer darüber?“ fragt ber 
Herausgeber. 

Sehr ernſte Dinge beſpricht der Verfaſſer, Herr Dr. Wilh. v. Medinger. Mit Recht fhei- 
det er Ziviliſation und Kultur ſcharf voneinander. Er führt uns die vielgeprieſenen Errungen- 
ſchaften der Zivilifation des vorigen Jahrhunderts vor Augen und beleuchtet die verheerenden 
Wirkungen dieſer Fortſchritte auf die echte Kultur. Kein Wunder, wenn er mit wachſender 
Sorge in die Zukunft blickt. 

Wie ſtellen wir uns zu dieſem Ergebnis des vergangenen gahrhundertsꝰ 

Ohne weiteres nehmen wir mit dem Verfaſſer an, daß Kultur unendlich wertvoller iſt 
als bloße Ziviliſation. Dann müſſen wir aber die zweifelhaften „Segnungen“ der Ziviliſation 
ablehnen und bekämpfen, um die Kultur der Menſchheit zu retten. Doch da tritt uns die un- 
beſtreitbare Tatſache entgegen, daß die Fortſchritte der Ziviliſation mit dem Wachstum der 
Menſchheit unlöslich verbunden ſind. Mit „Naturnotwendigkeit“ geht da die Entwicklung 
ihren ehernen Gang. Demnach müßte feſtgeſtellt werden, daß die ziviliſatoriſchen Fortſchritte 
der Menſchheit, die mit Naturnotwendigkeit erfolgen, eine Vernichtung jedes höheren Men- 
ſchentums herbeiführen. Wir ſchreiten vorwärts zur — Selbſtvernichtung. Mit fortſchreiten- 
der Erkenntnis und Beherrſchung der Erde ſchlingen wir uns ſelbſt die Feſſeln, die uns nieder- 
halten — und wir können nicht einmal anders. Die Menſchheitsentwicklung muß im Sumpfe 
enden. Das ift eine erſchreckende Perſpektivel Jch kann mir nicht helfen: 
ſie muß am letzten Ende zum Nihilismus führen! Was ſoll ein Daſein, das nur gelebt 
wird, um die Waffen zu ſchmieden, die es ſelbſt umbringen müſſen? Ein EE Leben iſt ein 
Widerſinn, wert, je eher je lieber weggeworfen zu werden! 

Doch, Gott fei Dant! es gibt einen Ausweg aus dieſer furchtbaren Verkettung! Dieſer 
ſtärkſten Lebensverneinung ſetzen wir ein unverwüſtliches, lebenbejahendes Wollen entgegen, 
das auch dort noch, wo dem grübelnden Geiſte ringsum gähnende e ſich öffnen, rufen 
kann: „Ich atme, ich hoffe!“ 

Wir ift, als habe der „Tuͤrmer“ fragen wollen: Türmerleſer, ſeid ihr Optimiften oder 
Peſſimiſten?“ Da will ich kurz und bündig bekennen, daß ich ein unverbeſſerlicher Optimiſt 


500 Rulturopfer 


bin. Es wird ja wohl auch Leute geben, die das Gegenteil von ſich ſagen müſſen. Aber was 
von den Türmerleſern zur Türmer gemeinde gehört, das muß einem freudigen Optimis- 
mus huldigen. Denn ſonſt müßte der „Türmer“ folgerichtig ſein helles Horn an den Nagel 
hängen und ſich die graue Nebelkappe über Geſicht und Ohren ziehen. 

Warum id optimiſtiſch denke und fühle, das weiß ich nicht; ich weiß aber, daß ich nicht 
anders kann. Es wird unmöglich fein, jemals einen völlig befriedigenden Grund an- 
zugeben für die Tatſache, daß wir das Leben fo anſchauen und nicht anders! Dieſe leben- 
bejahende Grundrichtung der Seele iſt etwas Gegebenes, in ſich ſelbſt Ruhendes, das keiner 
Begründung bedarf. „Du weißt nicht, von wannen ſie kommt.“ (Joh. 3, 8.) 

Himmelfahrtmorgen iſt heute, ein Tag, wie für Optimiſten geſchaffen. Ich ſitze im 
Schulgarten unterm blühenden Baum und laſſe mich von der milden Maiſonne durchwärmen. 
Schön im Allerweltsſinn ift das Fleckchen Erde vor mir gerade nicht. Aber die Blütenbäume 
im Garten, das weltferne Wieſentälchen überm Zaun, dahinter der Hang mit Eichenhecken, 
Schlehdorn und wilden Rofen, höher hinauf die jungen Saatfelder, hinter denen noch ein Stüd- 
chen Eichwald hervorlugt, das alles zuſammen mit gaukelnden Schmetterlingen, ſummenden 
Bienen, flötenden Finken und lärmenden Spatzen unter die blaue Himmelsglocke geſtülpt, 
das genügt völlig, um mich froh zu machen, um fo mehr, als ich weiß, daß hinter meinem Rüden, 
keine Stunde entfernt, die blaugrünen Waldberge in die Weite locken! In dieſen Maienmorgen 
paßt mir kein Gedanke mit zweifelndem „Nein!“ auf bleichen Lippen. Daß der Menſch, das 
Prachtſtück der Natur, ausgerechnet in feinem Höchſten, in der Entwicklung in dem ihm 
allein eigenen „Reiche der Schönheit und der Kunſt, der Welt der philoſophiſchen Gedanken 
und der religidjen Gefühle“ ein klägliches Fiasko machen ſollte, wo ringsum alles in ewiger 
Schönheit ſteht, — das glaube, wer kann! 

Der Verfaſſer kann das, ſtreng genommen, auch nicht glauben, wenn er nicht inkonſequent 
fein will. „Der Glaube an Begnadigung und das Gefühl der Demut find allen wahrhaft genia- 
len Menſchen gemeinſam“, ſagt er. Und: „Die höchſte Erſcheinung ſolcher Epochen [edter 
Kultur !] war das Bezwingen niederer Triebe des Intellekts durch die Erhebung der morali- 
ſchen Perſönlichkeit zur Selbſtverleugnung.“ Sind das nicht Grundgedanken Jeſu? Sch weiß 
nicht, ob es je einen größeren Optimiften gegeben hat als den Mann von Nazareth. Sein lieb- 
ſter Finger, Johannes von Bethſaida, prägte für ihren Optimismus die lapidaren Worte: 
„Anfer Glaube ift der Sieg, der die Welt überwunden hat“ (1 Joh. 5, 4). Wer vermag fidh das 
Chriſtentum Jefu zu denken ohne dieſen Glauben? Wer daher, wie der Verfaſſer, Grund- 
gedanken des Chriſtentums zu feinen eigenen macht, der muß felber in dieſer weltüberwinden- 
den Grundeinſtimmung des Chriſtentums ruhen. 

Aus dieſer lebenwollenden Freudigkeit heraus muͤſſen wir fagen: Es iſt ein Irrtum, 
zu glauben, daß die naturnotwendigen Fortſchritte der Ziviliſation unbedingt tödlich auf das 
Höherſtreben zu echter Kultur wirken müffen. 

Wie erklärt ſich aber dann die Anſchauung, daß dieſe Schädigung wirklich erfolgt iſt? 

Antwort: 

1. Es ift noch nicht erwieſen, ob diefe Schädigung dauernd oder nur vorübergehend ift. 

2. Es ift auch nicht erwieſen, ob die Fortſchritte der Zivilifation oder wir ſelbſt die Schuld 
tragen. Beſteht ein innerer Zwang, daß ziviliſatoriſcher Fortſchritt einen Niedergang der Rul- 
tur nach ſich ziehen m u ß? Es ijt febr wohl denkbar, daß wir es nicht verſtanden haben, uns in 
der verwirrend ſchnell zunehmenden Bereicherung der Ziviliſation zurechtzufinden. Vielleicht 
lernen wir Heutigen es niemals. Vielleicht müffen zuerſt Generationen unter den neuen Ber- 
hältniſſen aufwachſen und mit ihnen verwachſen fein, um fih wieder zu rechter Kultur zurück⸗ 
zufinden. 

3. Wir dürfen auch nicht vergeſſen, daß auch Epochen mit höherer Kultur ihre Miede- 
rungen hatten. Wir ſehen heute nur mehr die ragenden Höhen und ü b e r ſehen das Sumpfland. 


Nulturopfer 501 


4. Umgekehrt fällt uns um fo leichter die Verſumpftheit unſerer Zeit ins Auge, während 
wir ragende Höhen vielleicht niedriger ſchätzen, als fie find. Auch Goethe iſt von feinen Zeit- 
genoſſen nicht ſo geſchätzt worden, wie von uns. 

5. Wiſſen wir denn, ob nicht hier und dort, trotz aller Not der Zeit, ein befreiender Genius 
im Aufwachſen begriffen ift? 

6. Gerade der Umſtand, daß „der Schrei nach Kultur heute immer lauter ertönt“, 
will mich bedünken, es habe aller äußere Fortſchritt doch nicht fertig gebracht, „das Streben 
nach Vollendung der moraliſchen Perſönlichkeit“ zu lähmen. 

Trotz aller Not der Zeit dürfen wir alſo nicht ſo ſchwarz ſehen wie der Verfaſſer. Die 
Menſchheit muß unter den veränderten äußeren Lebensformen neue Wege zur Höhe ſuchen. 
Und wir haben, weil wir nicht anders können, die gewiſſe Hoffnung, daß ihr auch künftig geniale 
Perſönlichkeiten geſchenkt werden, die ihr als Pfadfinder vorangehen. 

Zwar meint der Verfaſſer, daß infolge der nivellierenden Tendenz der Ziviliſation 
die „übergroßen Widerſtände“ wegfallen werden, die die Erzeugung genialer Perſönlichkeiten 
beguͤnſtigen. Das ijt nicht unrichtig. Aber ein Teil dieſer Widerſtände mu ß mit der Zeit fallen. 
Denn manche alten Zuſtände waren und find eine Sanktion der Ungerechtigkeit und Lieb- 
loſigkeit; ſie ſind ein Teil von jener Kraft, „die ſtets das Böſe will und ſtets das Gute ſchafft“. 
Aber ein feiner entwickeltes Gewiſſen künftiger Zeiten wird ſich daran wundreiben. Es wird 
doch auch niemand fagen wollen, Ungerechtigkeit und Liebloſigkeit müßten verewigt werden, 
da ohne fie ein Fortſchreiten zu höherer Sittlichkeit unmöglich wäre! Auch ohne diefe Wider- 
ſtände bleiben bis in die fernſten Zeiten noch genug andere beſtehen, die vom Fortſchritt der 
Ziviliſation völlig unabhängig find. Tauſend ſchmerzhafte und Entſagen fordernde Bertet- 
tungen menſchlicher Schickſale, Enttäuſchungen, zu Grabe getragene Wünſche, Krankheit und 
Tod werden auch dann noch einen wichtigen Faktor der Menſchheits-Erziehung bilden. End- 
lich mag auch mit zunehmender Verſittlichung das Bedürfnis nach „übergroßen Widerſtänden“ 
ſich verringern. 

Leider ſind wir aber ſo weit noch lange nicht. Noch bedürfen wir zu unſerer ſittlichen 
Erhebung recht kräftiger und fühlbarer Widerſtände. Blicken wir zum Schluſſe noch auf die 
nächſte Zukunft. Wird das Steigen hinunter in die platten, troſtloſen Wüſten des „rechnenden 
Verſtandes“ noch länger dauern, während das Herz an löcherigen Brunnen verſchmachten muß? 
Das mag wohl ſein, denn der Weg zur Höhe iſt durch breite Klüfte geſpalten, die durchwandert 
werden müſſen. Und wenn wieder ein Aufwärtsſteigen kommt, wird es allmählich einſetzen, 
indem der „Schrei nach Kultur“ ſchließlich übermächtig wird? Oder wird uns eine nieder- 
ſchmetternde Kataſtrophe, etwa ein unglüdlicher Krieg, zur Selbſtbeſinnung bringen? Ich muß 
fagen, ich denke oft, nur mehr ein ſolches Unglück könnte uns helfen, und es gibt ernſte Stun- 
den, in denen ich mit heißem Herzen wünſche, was kommen ſollte, das käme bald, damit wieder 
Frühling würde im lieben deutſchen Volk und Land. Aber wer weiß, wie es kommen mag! Wir 
werden kein Forum zuſammenbringen, das uns Auskunft geben kann. Da heißt es: Abwarten! 
Und wir können warten, nicht in dumpfer Refignation, ſondern in freudigem Schaffen am 
Tempel des Guten. „Ich atme; ich hoffe!“ 

Man möge uns Optimiſten vorwerfen, daß wir leichtſinnig über die Gefahren der Zeit 
hinwegſchauen. Wir haben volles Verſtändnis für die ſchweren Sorgen des Verfaſſers, die auch 
die unſern find. Auch wir wollen gerne praktiſchen Vorſchlägen zur Bekämpfung der gegen- 
wärtigen Not unſer Ohr und Herz leihen. Ich denke, in der angeregten Beſprechung werden 
wir ſolche Vorſchläge zu hören bekommen. Mir kam es nur darauf an, zu betonen, daß wir 
nicht Meinmütig dreinſchauen dürfen; denn ſonſt nehmen wir uns die innere Begründung für 
ein Weiterarbeiten an den Aufgaben der Zeit. W. Rh. 


Ser 


302 Mobernismus in der chriſtlichen Religion 


Modernismus in der chriſtlichen Religion 


(Vgl. Heft 7, 8 und 9) 


FRIST In der Abſicht, dem „Modernismus im Religionsunterrichte der Volksſchule“ das 
AG Wort zu reden, wendet fid Herr Geifrig in Heft 9, S. 355, gegen meine Ausfüh- 
E rungen in Heft 8, S. 218 des „Türmers“. Wir find, genauer zugeſehen, in gewiſſen 
entſcheidenden Hauptpunkten einig. Das möchte ich gern feſtſtellen. Vielleicht verlieren dann die 
Aufſtellungen des Herrn Geifrig gegen meine bibliſch unanfechtbare Poſition ihre Spitze. 

Herr Geifrig ſcheint mir beizuſtimmen in der doppelten Feſtſtellung, Jefus war fündlos 
und hat nicht geirrt. Nur verſtehe ich dann nicht den geſperrt gedruckten Satz: Sefus hätte irren 
können, weil er ein Menſch war wie wir! — Ein ähnlicher Satz findet ſich im 
Neuen Teſtament vor (vgl. Jak. 5, 17). Aber dort iſt die Rede vom Propheten Elias. Kein Apoſtel 
hätte von Jefus geſagt: Er war ein Menſch wie wir. Die Sündloſigkeit macht eben einen ge- 
waltigen Unterſchied. Wahrer, reiner Menſch war Zeſus. Wahre, reine Menſchen find wir 
alle nicht, ſondern bekanntlich allzumal Sünder. 

Aber nun fei doch Chriftus unfer Vorbild. Und wie könnte Gott von uns dasfelbe ver- 
langen, wenn er uns nicht mit denſelben Kräften ausgerüſtet habe? lautet ein Einwand des 
Herrn Geifrig. Je und je hat man verſucht, Gott die Schuld zuzuſchreiben für das durch den 
Sündenfall verlorene göttliche Ebenbild. Der Menſch, der ſich ſonſt fo viel herausnimmt und 
zuſchreibt, weicht zurück, wenn es gilt, die Verantwortung zu übernehmen für perſönliche Fehl; 
tritte und deren Folgen. 

Gewiß, das Ideal unſerer göttlichen Beſtimmung, unſerer religiös-ſittlichen Vervoll⸗ 
kommnung ift ſehr hoch geſtellt. Zu hoch, mag es ſcheinen. Nichts Geringeres als göttliche 
Vollkommenheit erwartet Zefus von feinen Jüngern (Matth. 5, 48). Indeſſen, wenn wir 
alle weit hinter dem Ziel zurückbleiben, woran liegt es? — — 

Und wenn Zeſus allezeit den Willen feines Vaters getan, verſucht worden ift, „doch ohne 
Sünde“, fo beweiſt dies, daß fein Wille ein dem göttlichen Ideal durchaus kongenialer geweſen. 
Er war (unbeſchadet ſeiner wahren Menſchheit) von oben her, wir andern alle ſind „von unten 
her“. Von bibliſcher Grundlage aus kann ich alfo dem Satze wieder nicht beiſtimmen: Jefus 
hatte in allen ſittlich-religibſen Anforderungen nichts vor uns voraus. Za, wenn jeder Menſch 
von Natur ein unbeſchriebenes weißes Blatt wäre! 

Abrigens bleibt Jeſu Vorbildlichkeit beſtehen, auch wenn von ſeinem Erdenwandel der 
göttliche Inhalt ſich in keiner Weiſe (nicht einmal theoretiſch) lostrennen läßt. Gott ſelbſt wird 
uns ja zum Vorbild hingeſtellt, wie oben gezeigt. Gerade wenn Feſu Vorbild ein durchaus 
ſündloſes, irrtumfreies geweſen (darin find wir, Herr Geifrig und ich, einig), find damit dic 
Vorbedingungen gegeben, die uns — auch den Kindern in der Schule — in Jefu noch mehr er- 
kennen laſſen (Sühnecharakter des andern Adam, der ſich bewährt hat). 

Nach alledem kann ich den pädagogiſchen Gewinn einer allzu ſtarken Betonung des 
menſchlichen Faktors im Weſen Feſu nicht allzuhoch anſchlagen. Gewiß, durch Fefu ſtets er- 
folgreiche fittlid-religidfe Kämpfe mögen in den Rindern lebhafte fittlich-religidfe Impulſe 
ausgelöſt werden. Sie werden aber auch innewerden, daß die Chancen des Sieges ihrerſeits 
nicht die gleichen find. Gut, wenn ihnen dann frühzeitig das Verſtändnis aufgeht für das pro 
nobis auch in Jefu verſuchungsreichen, ſieghaften Kämpfen. 

Abſchließend glaube ich von bibliſchen Prämiſſen aus die Theſe aufſtellen zu dürfen: 
Jeſus war nicht ein Menſch wie wir (Sünder 1), aber wir follen ernſtlich befliſſen fein, Menfchen 
zu werden wie er. Albert Lienhard 


* * 


Modernismus in der chriſtlichen Religion ` fk 503 


In den beiden Artikeln von Profeffor 3. Reinke und Albert Lienhard, Hefte 7 und 8 
des „Türmers“, die den Titel: „Mobernismus in der proteſtantiſchen Theologie“ führen, laffen 
die Verfaſſer die Stellung Chrifti als Gottmenſchen dem Bildungsſtand der damaligen 
Zeit gegenüber außer acht. 

Chriſtus lediglich als ein Kind feiner Umgebung, alſo als einen ſogenannten modernen 
Menſchen feiner Zeit zu betrachten, heißt ſeine Göttlichkeit leugnen und ihn in einer Weiſe unter- 
ſchätzen, die mit feinem Erlöſungswerke, wie es ſich im Chriſtentum bewährt, in abſolut keinen 
Einklang zu bringen iſt. 

Chriſtus kam als Erlöſer der Menſchheit, als Regenerator ihrer Geiſtigkeit auf die Erde. 
Sein Werk war ein immaterielles, und als Lehrer in dieſem Sinne ging er weit über die geifti- 
gen, die ſeeliſchen Anſchauungen feiner Zeit hinaus, wie es für die Erreichung feines Zieles, 
den Weg zur ewigen ſeligen Vollendung feſtzulegen, notwendig war. 

Als Gott kannte Zejus die Geheimniſſe der Natur, wie nie ein anderes Weſen fie kennen 
kann und wird. 

Als Menſch durfte er aber darüber nur den Anſchauungen feiner Zeit entſprechend leb- 
ren, da es der Entwicklung der Menſchheit vorbehalten iſt, die Wunder der Schöpfung durch 
eignes Studium, eignes Forſchen zu ergründen und ſie ſich auf dieſe Weiſe dienſtbar zu machen. 

Wie nach den neueſten Forſchungen das Alte Teſtament als naturwiſſenſchaftliches 
Werk unmaßgeblich erkannt wurde, müſſen auch die Mitteilungen des Neuen Teſtamentes, 
inſofern ſie dieſes Gebiet ſtreifen, als nicht maßgebend für die Wiſſenſchaft angeſehen werden. 

Beide Werke verlieren dadurch keineswegs etwas von ihren eigentlichen Werten, die 
nicht profanwiſſenſchaftlicher, ſondern lediglich religidfer Natur find. 

Indem erftere aus den heiligen Büchern als nebenſächlich und weil nur der Faffungs- 
kraft der Zeit, in der ſie geſchrieben wurden, entſprechend ausſcheiden, gewinnen alle darin 
enthaltenen Heilswahrheiten und Heilslehren nur ein um fo höheres Intereſſe für das geiſtige, 
das ſeeliſche Leben der Menſchheit. 

Chriſtus iſt abſolute Autorität, wie Lienhard richtig ſagt, aber auch da, wo er ſich der 
wiſſenſchaftlichen Erkenntnis feiner Zeit anpaßt, indem er als allwiſſender Gott ſpäterer Cnt- 
wicklung der Menſchheit auf dieſen Gebieten Rechnung trägt. —Von dieſem Geſichtspunkte 
aus offenbart ſich uns ſeine ganze göttliche Größe in beſonderer Weiſe durch dieſe ſeine ſich 
auferlegte Beſchränkung. 

Franz von Thurn 


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0 n dieſen männermordenden Tagen, da „das Schlachtroß ſteigt und 
die Trompete ſchmettert“, der Kampfruf erſchallt: „Hie Land- 
bund! Hie Hanſabund!“ — ijt es vielleicht nicht ganz überflüſſig, 


Nationale Kämpfe 


Profeſſor Lujo Brentano in der „Frankf. Ztg.“ unter der Überſchrift — ich finde 
fie außerordentlich zeitgemäß — „Herrenbevölkerung und Bevölkerung von Ab- 
hängigen“. So hat nämlich — mit erfreulicher Offenheit — die Feudalzeit unter- 
ſchieden. „Bei jener Freiheit, die Karl Moor für ſich in Anſpruch nimmt, wo er 
ſagt: „Das Geſetz hat noch keinen großen Mann gebildet; aber die Freiheit brütet 
Koloſſe und Extremitäten aus.“ Und dieſen Perſönlichkeiten, voll Freude, fih aus- 
zuleben, und ohne Schranke, fie in dieſem höchſten aller Genüſſe zu beeintradti- 
gen, ſteht die große Maſſe der abhängigen Bevölkerung gegenüber, von der König 
Robert von Frankreich in dem Gedichte Adalberos ſagt: Servorum lacrymae, 
gemitus non terminus ullus. 

Dieſe Zweiteilung der Bevölkerung war die Nachwirkung der Art, wie die 
germaniſchen Völker fih niedergelaſſen hatten. Wo immer fie nach der Völker- 
wanderung neue Reiche begründeten, hatten ſie ſich die, welche ſie vorfanden, 
unterworfen. In der Hauptſache waren die Herrenmenſchen die Nachkommen der 
Eroberer, die Abhängigen die jener unterworfenen. Zwiſchen beiden aber ſtand 
die Geiſtlichkeit. Sie rekrutierte ſich aus den Angehörigen der Herrenmenſchen wie 
der Abhängigen. Ihr Zuzug aus der Herrenbevölkerung beſtand aus den An- 
gehörigen, die bei der Erbteilung als ſtörend empfunden wurden. Von den 
Tagen angefangen, wo die Söhne Chlodowechs, Chlotar I. und Childebert, 
einen Boten zu ihrer Mutter Chlotilde ſchickten, in der einen Hand den Dold, 
in der anderen die Schere, und ihr die Frage vorlegten, was ſie für ihre Enkel, 
die Söhne ihres Sohnes Chlodomir, vorziehe, bis zu den Domkapiteln des 17. und 
18. Jahrhunderts, die von ihren Mitgliedern den Nachweis von 16 adligen Ahnen 
forderten, haben ſich die Herrenmenſchen der Kirche bedient, um gleichzeitig eine 
Schmälerung ihres Erbes zu verhindern und die Wirkſamkeit der Kirche in den 


Zürmers Tagebud) 505 


Dienſt ihrer Intereſſen zu ſtellen. Noch bedeutſamer aber war, daß fie fih auch 
aus der abhängigen Bevölkerung rekrutierte. Die große Zahl der Dorfpfarrer 
waren Söhne von Unfreien; vor allem aber war die Mehrzahl der Mönche dieſem 
Stande entſproſſen. Sie wurden die Organe, durch welche die religiös-ethiſchen 
Aſpirationen und damit die ſozialen Wünſche und Hoffnungen der Maſſen in der 
Kirche ſich geltend machten. Und was für Vorkämpfer derſelben ſind nicht aus 
ihren Reihen hervorgegangen! Der große Papſt Gregor VII., in ſeiner Kindheit 
ſelbſt zuerſt Hirtenbub und dann Schreinerlehrling, war der Sohn eines Schmiedes; 
Papſt Urban IV. war der Sohn eines Schuſters; und viel zu groß, um fie alle auf- 
zuführen, iſt die Zahl berühmter Doktoren und mächtiger Biſchöfe und Erzbiſchöfe, 
die aus dem Proletariat hervorgingen. Dieſe erprobten ſich aber nicht nur als die 
ſiegreichen Vertreter ſittlicher Kultur gegenüber feudaler Verwilderung, ſondern 
ſie lieferten auch die meiſten großen Miniſter, mittels deren die Könige den von 
der Kirche aus dem Altertum herübergeretteten Gedanken der politiſchen Einheit 
gegenüber den feudalen Gewalten zur Geltung brachten; als die Könige von 
Frankreich, England und Spanien in ihren Gebieten den Nationalſtaat begründe 
ten, waren die Berater meiſt Geiſtliche, die aus der abhängigen Bevölkerung, 
teils ſogar aus deren unterſten Schichten, hervorgegangen waren. 

Das Königtum hat nur da, wo es ſich mit der abhängigen Bevölkerung ver- 
bunden hat, ſein Reich vor der Auflöſung durch die feudalen Gewalten zu bewahren 
vermocht; wo es fich aber auf fie ftiigte, gelang es ihm, der Feudalität gegenüber, 
den politiſchen Einheitsgedanken zum Siege zu führen. Damit wurde der aus der 
Eroberung hervorgegangene Unterſchied zwiſchen einer gerrenbevölkerung und 
einer Bevölkerung von Abhängigen rechtlich wieder beſeitigt, denn der Triumph 
des politiſchen Einheitsgedankens bedeutete die Unterwerfung aller Staatsangehö- 
rigen, gleichviel welchen Standes, unter dasſelbe Recht und unter dieſelbe Pflicht. 
Die rechtliche Bedeutung des Standes wurde durch das allgemeine gleiche Staats- 
bürgertum erſetzt. Mit dem Vordringen des Bürgertums fam aber auch die Emanzi⸗ 
pation der Wiſſenſchaft von deren bisheriger Hüterin, der Kirche; fie erſetzte nun- 
mehr die Kirche in ihrer Funktion, die Geiſter auch der Herrenmenſchen zu zivili- 
fieren; alle ethiſchen Poſtulate, die bis dahin hauptſächlich eine religidje Begrün- 
dung erhalten hatten, erhielten nunmehr eine rationelle Begründung. Seit dem 
17. Jahrhundert zeigt ſich namentlich ein Aufblühen der ethiſchen Difgiplinen und 
ein Anwachſen ihres Einfluſſes auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens, das in 
dem Satze Kants, daß jeder Menſch Selbſtzweck iſt und keiner lediglich als Mittel 
für andere betrachtet werden darf, und in ſeiner praktiſchen Anerkennung in dem 
im § 4 der preußiſchen Verfaſſungsurkunde ausgeſprochenen Grundſatz der Gleich- 
heit aller Preußen vor dem Geſetze kulminiert. Wie dieſen Fortſchritt, ſo danken 
wir jenem Aufblühen der ethiſchen Diſziplinen alle Fortſchritte des gejellichaft- 
lichen, politiſchen und wirtſchaftlichen Lebens während der letzten Jahrhunderte. 

Allein dieſe Entwicklung iſt keineswegs ohne Rückfälle. Namentlich leiden 
unter ſolchen die Völker, bei denen das Fortdauern von Eroberung gegenüber An- 
gehörigen anderer Stämme oder anderer Raſſen in den Eroberern jenes Gefühl 
des Herrenmenſchen gegenüber Unterworfenen fortbeſtehen ließ, das die Crobe- 


506 Zürmers Tagebuch 


rung von Anfang an in den Siegern erzeugt hat. Das ſehen wir befonders an Eng- 
land. Es zeigt heute zwei Arten von Politikern. Die einen find im Mutterland auf- 
gewachſen. Sie ſind ganz von modernem Geiſte beſeelt; gleiches Recht aller iſt 
ihnen ein ſelbſtverſtändliches Axiom, und ſie ſind durchdrungen vom Gefühl der 
Pflicht, die Anlagen aller nach Maßgabe der Fähigkeiten eines jeden zur größten 
Entfaltung zu bringen. Was alles zum Aufſteigen unter der unteren Bevölkerung 
Englands im 19. Jahrhundert geſchehen iſt, iſt ihnen zu danken. Die anderen ſind 
im Kolonialdienſt aufgewachſen. Da ſtehen ſie Eingeborenen gegenüber auf viel 
tieferer Kulturſtufe, ſchon äußerlich kenntlich durch Verſchiedenheit von Haut- 
oder Haarfarbe, vom Weiß des ſchwarzhaarigen Frländers angefangen durch alle 
Schattierungen von Gelb und Braun hindurch bis zum Ebenholzſchwarz. Sie haben 
die Empfindung, ihre Herrſchaft beruhe darauf, daß fie diefe unterworfene Be- 
völkerung nicht als gleichberechtigt anerkennen, und gelegentlich bringen ſie ihr 
gegenüber den Herrenmenſchen mit der äußerſten Brutalität zur Geltung. Dieſe 
in den Kolonien erworbene Geſinnung bringen ſie mit zurück in ihr Heimatland, 
machen ihren Herrenſtandpunkt zum Maßſtab auch in allen Fragen, welche die 
unteren Klaſſen der Heimat betreffen, und flößen dem Torygeiſt neues Leben ein, 
der unter dem Einfluß fortſchreitender Ethiſierung des öffentlichen Lebens ins 
Hintertreffen geraten war. Sie find der Jungbrunnen aller rückſtändigen Eng- 
herzigkeit in allen ſozialen, finanziellen und politiſchen Fragen des Mutterlandes. 

In ODeutſchland tritt die Rückwirkung des auf der Unterwerfung von An- 
gehörigen anderen Stammes beruhenden Herrengeiſtes auf die innere Politik 
gerade im Augenblick wieder deutlich hervor. Wir haben ein Rolonifationsland, 
nicht einmal, wie England von Irland, durch ein Meer von uns getrennt, aber in- 
folge der ſteten Erneuerung durch Zuzug nichtdeutſcher Bevölkerung aus dem 
Often unſerer Nationalität ebenſowenig wie die Frldnder England gewonnen. 
Die Folge iſt: während das altdeutſche Mutterland bei allen Zweigen des Lebens 
die Erſcheinungen jahrtauſendjähriger nationaler Kultur aufweiſt und vor allem 
der Gedanke der gleichen Unterwerfung aller unter den Staatsgedanken ſich bis 
zur Selbſtverſtändlichkeit eingelebt hat, verweigert in Oſtelbien, trotzdem der Große 
Kurfürſt feine Souveränität wie einen rocher de bronze ſtabiliſiert zu haben ge- 
glaubt hat, der Zunkertrotz heute noch dem Staat die Exiſtenzbedingungen, ſobald 
ſie auch aus junkerlichen Mitteln genommen werden ſollen. In der Abneigung gegen 
das Steuerzahlen find ſich die Grundherren aller Zeiten und Länder ſtets gleich ge- 
weſen und gleich geblieben. Im Mittelalter ſahen fie in dem Nichtzahlen von 
Steuern das charakteriſtiſche Zeichen der Freiheit. In Frankreich ließen ſie ſich 
ſelbſt vom abſoluten Königtum nie zu der ſervilen Leiſtung vermögen, dem Staate 
ihren Anteil an den Staatslaſten zu entrichten, denn ſo etwas tat nur die abhängige 
Bevölkerung. In England ſchreien heute wieder die konſervativen Landbeſitzer 
über Sozialismus, weil die dortige Regierung eine Vertzuwachsſteuer und eine 
Beſteuerung nach dem gemeinen Wert vorgeſchlagen hat, wie ſie unſere gewiß 
nicht ſozialiſtiſchen Konſervativen verlangen, und diefe wieder beantragen Beſitz— 
ſteuern, welche die Laſt auf die ſtädtiſche Bevölkerung abwälzen ſollen, die der 
Herrenbevölterung auf dem Land von der Nachlaßſteuer droht. Wohl ſpricht man 


Zürmers Tagebuch 507 


auch in Oſtelbien gelegentlich bei Feſtreden von Kants kategoriſchem Imperativ, 
der Denken und Handeln des preußiſchen Volkes beherrſche, oder bekennt ſich zur 
Hegelſchen Lehre vom Staate als der ‚Wirklichkeit der ſittlichen Idee“ und der 
höchſten Pflicht des einzelnen, ‚Mitglied des Staats“ zu fein, oder lehnt die Be- 
ſtrebungen der ‚abhängigen‘ Bevölkerung, durch Mittel der Geſetzgebung ihre 
Lage zu beſſern, mit dem Nodbertusſchen Gedanken ab, daß der Staat nicht da 
fei zur Glückſeligkeit der einzelnen, ſondern daß die einzelnen zum geiſtigen, fitt- 
lichen und wirtſchaftlichen Wohlbefinden des Staates dienen ſollen; aber unter 
den einzelnen verſteht man dann eben nur die ‚abhängige‘ Bevölkerung und unter 
dem Staate, dem ſie ſich opfern ſollen, ſich ſelbſt. Und was in England eintreten 
würde, wenn Chamberlains Reichsföderation zur Wahrheit würde, daß die Rolo- 
nien das Mutterland beherrſchen und ausbeuten würden, das hat die geſchichtliche 
Entwickelung längſt in ODeutſchland verwirklicht. Das alte deutſche Mutterland, 
das einſt feine Kinder zur Koloniſation über die Elbe entſendet hat, wird heute 
von unſerem Kolonialland im Oſten beherrſcht und ſeine Intereſſen denen des 
öſtlichen Großgrundbeſitzes geopfert, und der durch die fortdauernden Kämpfe 
mit dem Slawentum dort wachgehaltene Geiſt der Herrenmenſchen erſtreckt ſich 
heute, wie in England der der in Kolonien aufgewachſenen Politiker, auf das 
alte Mutterland, ſucht alle deſſen älterer Kultur entſprechenden politiſchen und 
ſozialen Errungenſchaften zurückzudrängen und geht über Wünſche und Klagen 
von deſſen freier Bevölkerung zur Tagesordnung über, wie der Herrenmenſch zur 
Zeit des Biſchofs Adalbero über die Tränen und Seufzer der Abhängigen. 
Aber freilich unſere oſtelbiſchen Herren beanſpruchen, die Stütze des Staates 
zu fein. Wie aber ſteht es mit dieſer Behauptung? Im Sabre 1902 wurde in Preu- 
zen eine Verſchuldungsſtatiſtik des preußiſchen Grundbeſitzes veröffentlicht. Sie 
iſt auf Grund der eigenen Angaben der Grundbeſitzer aufgebaut. Danach waren 
im Jahre 1902 in den öſtlichen Provinzen Preußens von den Grundbeſitzern mit 
einem Grundſteuerreinertrag von 1500 bis 5000 Mark 25 Prozent mit 75 bis 100 
Prozent ihres Geſamtvermögens und 2,8 Prozent ſogar mit 100 Prozent und 
mehr ihres Geſamtvermögens verſchuldet; von denen mit einem Grundfteuer- 
reinertrag von 3000 Mark und mehr betrug bei 21,8 Prozent die Verſchuldung 
75 bis 100 Prozent, bei 2,6 Prozent 100 Prozent und mehr ihres Geſamtvermögens. 
Dabei macht es einen eigentümlichen Eindruck, wenn 1 Prozent ſämtlicher Grund- 
eigentümer mit einem Grundſteuerreinertrag von 3000 Mark und mehr, d. h. 
108 Großgrundbeſitzer angeben, daßihr Einkommen went 
ger als 900 Mark jährlich betrage, wonach ſie Freiheit von der 
Einkommenſteu er beanſpruchen können. Wie lebt eigentlich ein 
Großgrundbeſitzer, der doch fo vielen geſellſchaftlichen Anſprüchen an 
ſeine Lebenshaltung zu genügen hat und genügt, mit einem Einkommen 
nur bis zu 900 Mark? Oder ift die Verſchuldungsſtatiſtik von 1902 etwa 
ein weiterer Beleg für die Behauptungen von Hans Delbrüd? Wie dem nun fein 
mag, jedenfalls zeigt ſich, daß der Anſpruch der oſtelbiſchen Großgrundbeſitzer, 
die Säule des Staates zu ſein, mit den Tatſachen in argem Widerſpruch ſteht. 
Entweder ſie vorenthalten dem Staate die ihm gebührenden Steuern, 


508 Türmers Tagebuch 


oder ein außerordentlich großer Prozentſatz iſt wirklich ſo hoch verſchuldet, daß 
ihnen der Boden, den ſie bewirtſchaften, tatſächlich gar nicht gehört; ſie ſind nichts 
als Verwalter im Intereſſe ihrer Gläubiger. Wie aber kann eine Klaſſe Stütze des 
Staates fein, die ſelbſt auf fo ſchwachen Füßen ſteht? Aber freilich, ſchon 
die Forderung höherer Getreidezölle wurde von dieſer Stütze des Staates damit 
begründet, daß fie nicht ſtehen könne, wenn fie nicht aus der Taſche der übrigen Be- 
völkerungsklaſſen geſtützt werde. Und in derſelben Weiſe bewährt ſie ſich eben jetzt, 
indem ſie durch Ablehnung der Nachlaßſteuer dem Staate die Exiſtenzbedingungen 
verweigert, ſobald fie ſelbſt dazu beitragen foll ...“ 

Wie vor 900 Jahren, ſo gebe es auch noch heute die Herrenmenſchen und die 
Abhängigen. Noch immer gelte (wie die Getreidezölle und die Expropriationen 
mittels Einfuhrſcheinen zeigten), daß dieſe jene ernähren müſſen, und noch immer 
werde vom Herrenmenſchen gejagt, daß er ohne dieſen Zuſchuß aus dem Arbeits- 
vertrag nicht leben kann. Noch immer gelte tatſächlich die Steuerfreiheit des Groß 
grund beſitzers. 

Iſt dem wirklich alſo? — Maßgebend, ſo wird im „Berl. Tagebl.“ ausgeführt, 
für die Berechnung des Einkommens bei Erhebung der Einkommenſteuer iſt der 
Ertrag. „Bekanntlich unterſcheidet man einen Roh ertrag und einen R ein- 
ertrag. Während der Rohertrag durch die Geſamtheit aller Einkünfte gebildet wird, 
ijt der Reinertrag die Summe, die nach Abzug der Werbungskoſten vom Roheinkom- 
men übrigbleibt. Unter Werbung skoſt en verſteht das preußiſche Einkommen- 
ſteuergeſetz die Aufwendungen, die ‚zur Erwerbung, Sicherung und Erhaltung des 
Ertrags’ gemacht werden. Sie find entweder bare Ausgaben, wie Handlungs- 
unkoſten, Grund-, Gebäude- und Gewerbeſteuern uſw., oder ‚Abfchreibungen‘, 
das heißt regelmäßige Abſetzungen für Abnutzung der Gebäude, Maſchinen ſowie 
des ſonſtigen toten Inventars. 

Zur Einkommenſteuer herangezogen wird nicht das Roh-, fondern 
das Rein einkommen. Denn die Einkommenſteuer ſoll ſich der perſönlichen 
Leiſtungsfähigkeit des einzelnen anpaſſen, ſoll, wie geſagt, nur denjenigen Teil 
feines Roheinkommens treffen, der dem Steuerpflichtigen zur Befriedigung fei- 
ner Lebensbedürfniſſe oder zur Bildung von Vermögen durch Erſparniſſe bleibt. 
Die Werbungskoſten aber, deren Abzug nach § 8 des Geſetzes geſtattet und vor- 
geſchrieben iſt, ſind Aufwendungen, die die Leiſtungsfähigkeit beeinträchtigen. 

Eine Abzugsfähigkeit der Aufwendungen kann jedoch nur dann anerkannt 
werden, wenn dieſe zur Erwerbung, Sicherung und Erhaltung 
des Ertrages dienen, nicht aber dann, wenn fie eine Erhöhung des Ber- 
mögens bezwecken. Dieſer aus den allgemeinen Grundſätzen der Einkommen- 
beſteuerung zu entnehmende Satz hat in dem preußiſchen Einkommenſteuergeſetz 
unbedingte Aufnahme gefunden. Im § 8 dieſes Geſetzes werden den abzugsfähigen 
Werbungskoſten (alfo den Ausgaben „zur Erwerbung, Sicherung und Erhaltung 
des Ertrags) die nicht abzugsfähigen Verwendungen zur Ver 
beſſerung und Vermehrung des Vermögens, zu Geſchäfts— 
erweiterungen, Kapitalanlagen oder Kapitalabtragungen gegenübergeſtellt. 

Man ſollte meinen, daß durch dieſe Beſtimmung die Möglichkeit ausgeſchloſſen 


Zürmers Tagebuch 509 


wäre, bei der Steuereinſchätzung Melio rationen, alfo Verbeſſerungen von 
Grundftüden durch darauf verwandte Kulturarbeiten, vom Rohertrage in Abzug 
zu bringen. Allein dem iſt nicht ſo. Denn einmal iſt die Unterſcheidung, ob 
eine Aufwendung zur Sicherung oder Erhaltung oder ob fie zur Er- 
höhung des Einkommens dient, oft recht ſchwierig. Dann aber hat das Ober- 
verwaltungsgericht in einer Reihe von Entſcheidungen die Grenze bei Verwen- 
dungen für landwirtſchaftliche Grundſtücke derart gezogen, daß es Ausgaben, die 
ohne allen Zweifel eine Verterhöhung des Grund und Bodens zur Folge 
haben und mithin nicht abzugsfähige „Verwendungen zur Verbeſſerung und Ver- 
mehrung des Vermögens“ darſtellen, für abzugsfähig erklärt hat, da fie un- 
mittelbar auf die Erzielung des Ertrags gerichtet‘ feien. Natürlich ijt durch eine 
ſolche Rechtſprechung dem ſattſam bekannten Beſtreben der Agrarier (Nur der 
Agrarier? D. T.), fih von der Einkommenſteuer nach beſten Kräften zu drücken, 
mächtig Vorſchub geleiſtet worden. 

Von den Entſcheidungen des Oberverwaltungsgerichts find einzelne von be- 
ſonderer Bedeutung. In einem ſchon vor einer Reihe von Jahren erlaſſenen 
Urteil ging das Gericht von der durchaus zutreffenden Erwägung aus, daß nicht 
abzugsfähige Verwendungen zur Verbeſſerung und Vermehrung des Ber- 
mögens vorlägen, wenn das Kapital erhöht oder erweitert werde, wenn alſo der 
Landwirt Inventar oder Gebäude vermehre und verbeſſere, ferner wenn er blei- 
bende Bodenverbeſſerungen QNeliorationsanlagen) vornehme. Allein 
das ſo gewonnene einwandfreie Ergebnis wurde durch das Gericht ſofort in Frage 
geſtellt, indem dieſes dem Begriff ‚Melivrationsanlagen‘ eine ſehr eigenartige 
Interpretation gab. Es führte nämlich folgendes aus: ‚Bei der gewöhnlichen Land- 
wirtſchaft, wobei es nur auf die Nutzungen des Bodens abgeſehen fei und die Sub- 
ſtanz des Bodens im weſentlichen beſtehen bleiben ſolle, könne von Meliorationen 
nur dann die Rede fein, wenn Anlagen oder Wirtſchaftseinrichtungen zur Ber- 
beſſerung der für längere Zeit, dauernd, beſtehenden Produktionsbedingungen 
gemacht würden, nicht aber dann, wenn es fih nur um beſſere Befriedigung vo r- 
über gehender — wenn auch wiederkehrender — Wirtſchafts- 
bedürfniſſe handele.“ Demgemäß erklärte das Oberverwaltungsgericht ver b ef- 
ſerte Fütterung, Düngung und Beackerung als nicht unter den 
Begriff der Meliorationen fallend, wenn dadurch auch der Kulturzuſtand gehoben 
werde. Weiter bezeichnete es zwar ‚Die Ausgaben für Inſtandſetzung des In- 
ventars und der Gebäude“ als nicht abzugsfähig, da es fih dabei um „Vermehrung 
und Verbeſſerung des Kapitals, alfo um dauernde und unmittelbare Vermögens- 
verbeiferung‘ handele, machte dann aber wieder eine Ausnahme für vorübergehende, 
nur mittelbar einer dauernden Verbeſſerung dienende Aufwendungen“, wie 
es Die pflegliche Inſtandhaltung des Gebäudebeſitzes“ fei, ſoweit fie fih innerhalb 
der Grenzen abgugsfabiger Reparatur- und Verwaltungskoſten halte.‘ 

Es leuchtet ohne weiteres ein, daß derartig verſchwommene und unklare De- 
duktionen — in denen zwiſchen ‚dauernden‘ und „wiederkehrenden“ Wirtſchafts⸗ 
bedürfniſſen künſtlich unterſchieden und der Begriff „Inſtandſetzung“ viel enger ge- 
faßt wird, als nach dem allgemeinen Sprachgebrauch ſtatthaft iſt — nicht geeignet 


519 Zürmers Tagebuch 


find, die Scheidung zwiſchen den abzugsfähigen ‚Ausgaben zur Erwerbung, Siche⸗ 
rung und Erhaltung des Ertrages“ und den nicht abzugsfähigen „Verwendungen 
zur Verbeſſerung und Vermehrung des Vermögens“ zu erleichtern. In ſpäteren 
Urteilen ift dann die Stellungnahme des Oberverwaltungsgerichts nicht klarer ge- 
worden, indeſſen iſt das Gericht der Steuerſcheu der Agrarier noch viel weiter und 
viel bereitwilliger entgegengekommen. Es hat nämlich entſchieden, daß die Koſten 
der Tiefkultur von Grundſtücken, der Mergelung, der Anlegung von Weidenpflan- 
zungen, von Spargelbeeten ſowie der Wiederbeſamung oder Bepflanzung alten 
Forſtlandes nach Kahlhieb abzugsfähig feien, da diefe Ausgaben nicht auf die Er- 
werbung neuer oder die Erweiterung beſtehender Quellen, ſondern unmittelbar 
auf die Erzielung des Ertrages gerichtet ſeien. Und doch ſagt einem jeden der ge- 
funde Menſchenverſtand, daß die Anlegung von Spargelbeeten oder Weiden- 
pflanzungen nichts anderes ift als die Erweiterung einer vorhandenen Einnahme- 
quelle, daß die Ausgaben hierfür „Verwendungen“ find ‚zur Verbeſſerung und 
Vermehrung des Vermögens“. 

So zeigt eine Betrachtung der Be ſtimmungen des Einkommen- 
ſteuergeſetzes über die Abzugsfähigkeit der Werbungskoſten und ein Blick in 
die im Anſchluß hieran ergangene Rechtſprechung folgendes Bild: Nach der 
Faſſung der Geſetzesvorſchriften iſt im Einzelfalle die Entſcheidung oft ſchwierig, 
ob Aufwendungen der ‚Sicherung und Erhaltung des Er rags‘ oder der „Verbeſſe⸗ 
rung und Vermehrung des Vermögens“ dienen. Dieſe Entſcheidung iſt um ſo 
ſchwieriger, als das Oberverwaltungsgericht die Grenze zwiſchen den abzugsfähi- 
gen Werbungskoſten und den nicht abzugsfähigen Verwendungen zur Vermögens- 
erhöhung bald enger, bald weiter gezogen hat, fo daß der Unterſchied zwiſchen die- 
jen beiden Arten von Ausgaben von Urteil zu Urteil nicht präziſer hervorgetreten, 
ſondern eher undeutlicher geworden iſt. Den Nutzen aus dieſer bedauernswerten 
Anklarheit ziehen die Agrarier. Dieſe wiſſen genau: der Nachweis, daß Aufwen- 
dungen keine Werbungskoſten find, ſondern eine Vermögens ver mehrung be- 
zwecken, ift äußerſt ſchwer, häufig überhaupt nicht zu führen, und fo ziehen fie denn 
mit der größten Seelenruhe alle Ausgaben für Meliorationen, alle Verwendungen 
für die Verbeſſerung des Grund und Bodens, für die Erhöhung des Gutswertes 
von ihrem Roheinkommen ab. Auf ſolche Weiſe kommen dann Einſchätzung en 
zuſt ande, nach denen das ſteuerpflichtige Einkommen großer 
Rittergüter gleich Null ift, Einſchätzungen, die allgemeines Kopf- 
ſchütteln und allgemeine Entrüſtung erregen und nur den Herren Grokgrund- 
beſitzern als das Selbſtverſtändlichſte auf der Welt erſcheinen.“ 

Man muß ſich Giele Eigentümlichkeiten einer gummiartigen Gefekesaus- 
legung und Rechtſprechung, nicht weniger aber auch die Eigenart ländlicher Cin- 
ſchätzungskommiſſionen vor Augen halten, um auch nur den Schimmer einer 
Ahnung davon zu bekommen, durch welche Künſte es möglich gemacht 
werden kann, unter den Augen einer ſonſt doch wahrlich nicht mit Sammetpfötchen 
zugreifenden Staatsgewalt bei notoriſchem Reichtum und luxuriöſer Lebens- 
haltung überhaupt keine oder nur fo lächerlich geringe Steuern zu zahlen, 
daß ſie eher eine Verhöhnung als eine Leiſtung darſtellen. Da wird z. B. dem 


Zürmers Tagebuch 511 


Frankfurter „Freien Wort“ geſchrieben: „Ich wohne auf dem Lande, habe einen 
großen Verwandten und Bekanntenkreis in Oft- und Weſtpreußen und intereſſiere 
mich bereits feit Jahren für die Steuerangelegenheiten. In der Gemeinde, welcher 
ich angehöre und in deren Vertretung ich auch bin, habe ich mich foon viel be- 
müht, in die Steuereinſchätzungskommiſſion zu kommen, dieſes wird aber wohl- 
weislich vermieden, und fo ift es in der ganzen hieſigen Gegend. Um Ihnen ein 
Bild zu geben, welche Einkommen hier von den großen Gutsbeſitzern verſteuert 
werden, will ich Ihnen nachſtehende Zahlen nennen. Ein Domänenpächter, der 
im übrigen zurückgezogen lebt, aber einen großen Hausſtand unterhält und jährlich 
nebjt Familie eine mehrmonatliche Badereiſe unternimmt, verſteuert 3000 Mark. 
Ein anderer Domänenpächter, der auf ſehr großem Fuße lebt, eine große Familie 
und ſehr viel Verkehr hat und auch viele große Geſellſchaften gibt, verſteuert 5000 
Mark. Ich ſchätze die Ausgaben dieſes Herrn für feinen Haushalt uſw. jährlich auf 
20—25 000 Mark. Bei dem Pächter eines Stiftungsgutes in hieſiger Gegend 
liegen ähnliche Verhältniſſe vor. Ferner verſteuert ein Guts- und Ziegeleibeſitzer 
(das Gut iſt 2500 Morgen groß, die Ziegelei hat eine Produktion von 4 Millionen 
Steinen) ein Einkommen von 10000 Mark. Dabei hat er vor einigen Wochen 
fein Gut und Ziegelei zum Verkauf angeboten, die Ziegelei mit einem nadmeis- 
lichen Reinertrag von 50000 Mark pro ahr, ungerechnet die Cr- 
träge des Gutes. Dieſer Herr hat die Beſitzung vor zirka neun Jahren für 
620 000 Mark gekauft und fordert heute eine Million; 950 000 Mark ſind ihm 
bereits geboten worden. Dieſes find die Verhältniſſe auf den mir zunächſt ge- 
legenen Gütern, in der gleichen Weiſe wird aber überall gewirtſchaftet 
mit ländlichen Kommiſſionen. Es kommt ſogar vor, daß, wenn 
der Beſitzer verſchuldet iſt, der penſionierte Lehrer mehr Steuern 
zahlt als der Gutsbeſitzer, während die Haushaltungen der beiden wohl 
keinen Vergleich aushalten. Ich bin der Anſicht, nach den mir bekannt ge- 
wordenen Zahlen, und ich könnte Ihnen noch verſchiedene ſolche Beiſpiele 
anführen, daß unſere Landwirte nur ein Viertel bis ein Drittel 
ihres wirklichen Einkommens verſteuern.“ 

Noch hübſcher ift, was im „Breslauer Generalanzeiger“ aus dem Trebnitzer 
Kreiſe erzählt wird. Auch in dieſem ſei die Zahl der Rittergutsbeſitzer, welche keine 
oder wenig Einkommenſteuer zahlen, ſehr bedeutend. „Damit nun niemand im 
Kreiſe den Rittergutsbeſitzern nachrechnen könne, wieviel Einkommenſteuer 
die Beſitzer zahlen, hat der Herr Landrat des Kreiſes Trebnitz die Einrichtung ge- 
troffen, die Höhe der zu erhebenden Kreisabgaben nicht wie früher im Kreis- 
blatt bekanntzugeben, wonach man mit Leichtigkeit die vom Ritterguts- 
beſitzer zu zahlende Steuer ausrechnen könnte, ſondern die Kreisſteuern werden 
den Herren Rittergutsbeſitzern perſönlich brieflich mitgeteilt. Die 
Kreis abgaben der Gemeinden werden nach wie vor im Kreisblatt publi- 
ziert. Wo ift hier das gleiche Maß? Nur die Beamten, namentlich die öffent- 
lichen, deren Einkommen feſtgeſetzt iſt, müſſen Heller und Pfennig verſteuern, jeden 
Trunk und jede Zigarre vom Gehalt, nicht bloß direkt, ſondern auch im Gefamt- 
einkommen direkt verſteuern. 


512 Türmers Tagebuch 


In meiner Nähe iſt in Langenau der Rittergutsbeſitzer Max Grätzer, der eine 
Tochter des reichen Schottländer aus Münſterberg, eine Nichte des Breslauer 
Südpart-Schottländer zur Frau hat, deffen Rittergut zirka 1300 Morgen groß ift, 
und auf welchem ſich eine große Ziegelei befindet. Er iſt noch nicht ſo 
hoch zur Einkommenſteuer eingeſchätzt wie ſeine Hofknechte; er 
iſt einfach frei, obwohl er einige Vermögensſteuer zahlt. 
Er hält ſich wohl 10 Kutſchenpferde, 2 Kutſcher, gibt Feſtlichkeiten, 
ſchickt feinen einzigen Sohn alle Tage per Wagen auf ein Gymnaſium; der Sohn 
gibt ſchon wieder Tanzbälle im Haufe, und doch keine Eeinkommenſteuer; 
das ift geradezu ein Rätſel. Die Gewer betreibenden, wie Kaufleute, 
Gaſtwirte, Handwerker, werden in der Einkommenſteuer alljährlich in die 
Höhe getrieben, aber der Rittergutsbeſitzer bleibt 
ſteuerfre i. Dieſer Herr Grätzer beſitzt auch am Orte ein Gaſthaus, der Bäch- 
ter zahlt 2400 Mark Pachtgeld und muß Einkommenſteuer zahlen, 
fein Herr iſt frei. — Bei der letzten Landtagswahl lagen die Wählerliſten 
öffentlich aus, da konnte man auch die von jedem Wähler zu zahlende Steuer er- 
ſehen. Verhältnismäßig zahlen unſere Bauern und Kleinbeſitzer 
mehr Steuern als viele Nittergutsbeſitzer, und hat ein klei- 
ner Beſitzer einmal einige taufend Mark Vermögen, dann muß er in läſtiger Weiſe 
nachweiſen, wohin er ſeine Kapitalien anlegt.“ 

Bei ſoviel — Entgegenkommen müßte der rabiate Widerſtand gegen die 
Erbſchaftsſteuer vollends unverſtändlich erſcheinen, wenn auch hier nicht wieder 
der Knüppel beim Hunde läge und nicht ganz andere Erwägungen entſcheidend 
wären als fachliche oder gar patriotiſche — von der lächerlich verlogenen „Zer- 
ſtörung des deutſchen Familienlebens“ und des „deutſchen Gemüts“ wollen wir 
ſchon gar nicht reden! „Wie ſollten auch“ — das müſſen ſich die „patriotiſchen“ 
Herren vom ſozialdemokratiſchen Parteiorgan ſagen laſſen — „die minimalen, 
weit hinter den engliſchen und franzöſiſchen Steuerſätzen zurückbleibenden Be- 
ſteuerungsvorſchläge der Sydowſchen Vorlage die deutſche Landwirtſchaft ernit- 
lich ſchädigen — denſelben ländlichen Grundbeſitz, den der neue Zolltarif, die 
Vieheinfuhrverbote, Ausfuhrprämien und Liebesgaben im letzten Jahrzehnt auf 
Koſten der breiten Volksmaſſe Milliarden eingetragen haben? Beträgt doch 
der vorgeſchlagene Steuerſatz der Erbſchaftsſteuer ſelbſt für ſchöne Ritter- 
güter nur 1—2 Prozent, und zwar foll dieſer Satz nicht von dem wirt 
lichen Wert der hinterlaffenen Grundſtücke gezahlt werden, ſondern von dem 
nach dem Fahresreinertrag ermittelten „Ertragswert“: einem fiktiven Wert, 
der in Preußen meiſt um 25 — 40 Prozent hinter dem tatfad- 
lichen Verkaufswerte der Güter zurückbleibt. 

And von dieſer ermäßigten Wertſumme darf der Erbe nicht nur alle 
auf dem ererbten Beſitz ruhenden Hypotheken und ſonſtigen Schulden 
und Laſten abziehen, ſondern obendrein auch noch den Wert des im Herren- 
hauſe vorhandenen Hausgerätes, der Wäſche, der Luxusgegenſtände uſw., 
ferner alle nicht auf dem Gute laſtenden privaten Verpflichtungen 
des Erblaſſers, die Koſten ſeiner Beſtattung, der Leichenfeierlichkeiten, des Grab- 


Türmers : Tagebuch 513 


denkmals, der Inventuraufnahme, der Wertabſchätzung und ſchließlich, wenn der 
neue Erbe vor dem Erbantritt wegen der Erbmaſſe prozeſſiert haben ſollte, a uch 
noch die Koſten des Rechtsſtreites! 

Und damit noch nicht genug; zu guter Letzt ſoll auch noch dann, wenn ein 
Nachlaß an einen gemeinſchaftlichen Abkömmling aus der Ehe mit dem ver- 
ſtorbenen Ehegatten des Erblaſſers fällt, auf die Nachlaßſteuer der Betrag in 
Anrechnung gebracht werden, der vorher von dem Erblaſſer bei dem Tode 
ſeines Ehegatten für das ihm zugefallene Erbe an Steuer entrichtet worden 
ift, und zwar ſelbſt dann, wenn folder Erbfall Sahrzehnte 
zurückliegt. 

Durch alle ſolche Beſtimmungen wird in den meiſten Fällen der Steuer- 
betrag für den glücklichen Erben eines ſchönen Landgutes auf ein Minimum 
ermäßigt. Nehmen wir an, ein Sohn erbe von ſeinem Vater ein prächtiges Ritter- 
gut im Kaufwert von einer Million Mark, dann kommt nicht dieſer 
wirkliche Wert zur Berechnung, ſondern der nach dem jährlichen Reinertrag 
ermittelte effektive Ertragswert, der nach der bei derartigen Schätzungen 
in Oſtelbien üblichen Methode ſich ſchwerlich auf mehr als 700 000 Mark ſtellen 
wird. Von dieſen 700 000 Mark kommen zunächſt alle auf dem Gute ruhenden 
Hypothekenſchulden und ſonſtigen Laſten in Abzug. Schätzen wir, daß das be- 
treffende Rittergut zu 60 Prozent ſeines tatſächlichen Wertes beſchwert iſt, alſo 
mit 600 O00 Mark, dann bleiben zur Verſteuerung im ganzen nur noch 100 000 Mark. 
Doch auch von dieſer Summe zahlt der Erbe noch nicht die Steuer. Er kann weiter 
abziehen den Wert des im Herrenhauſe vorhandenen Hausgeräts, der Wäſche, 
Luxusgegenſtände ufw. — nehmen wir an 20000 Mark —, ferner den Betrag 
der perſönlichen Schulden und Verpflichtungen des Erblaſſers (Alimente, Dota- 
tionen an die Dienerfchaft uſw.) — fagen wir wieder 20 000 Mark — und ſchließ- 
lich auch noch die Koſten einer angemeſſenen Beſtattung (auch der Grabkapelle) 
ſowie alle durch die Nachlaßregelung verurſachten Koſten, insgeſamt vielleicht 
10000 Mark. 

Dann bleiben zur Beſteuerung nur noch 50 000 Mark, wofür ſich nach dem 
im Sydowſchen Nachlaßſteuerentwurf vorgeſchlagenen Steuerſatz von 0,7 Pro- 
gent die Geſamtſteuer auf 350 Mark ſtellt. 

Der Erbe des Rittergutes im tatſächlichen Werte von einer Million Mark 
zahlt alfo nur 350 Mark Steuer. Und diefe Abgabe, die ungefähr fo viel be- 
trägt, wie ein neuer Hühnerhund oder eine Vogelflinte 
loftet, die fih der neue Herr Rittergutsbeſitzer leiſtet, foll die ganze Landwirt- 
ſchaft ruinieren? 

Aber auch dieſe Summe von 350 Mark braucht der neue Herr“ nicht in jedem 
Fall zu entrichten. Hat z. B. der Vater des Erben das Gut ſelbſt erſt vor acht, neun 
oder zehn Jahren geerbt und ſchon damals Erbſchaftsſteuer bezahlt, dann braucht 
der neue Erbe nur ungefähr die Hälfte der 350 Mark zu zahlen. Oder hat der 
Vater früher von ſeiner Frau, der Mutter des neuen Erben, geerbt und dafür ſchon 
einmal Erbſchaftsſteuer bezahlt, dann kann der neue Beſitzer auch noch die 
ſen Betrag von den 350 Mark abziehen. 

Der Türmer XI, 10 35 


514 Zürmers Tagebuch 


Zudem hat der Erbe durchaus nicht nötig, dieſe ganzen 350 oder 175 
auf einmal zu zahlen. Er kann fie fih bis zu zehn Jahren, ohne 
dafür Zinſen zahlen zu müſſen, ſtunden laffen, fie in Raten 
zahlen oder fie auch unter Berechnung einer vierprozentigen Verzinſung als amorti- 
ſationspflichtige Grundfchuld auf fein Gut eintragen laffen. Wenn er es alfo für 
beffer hält, kann er ze hn Fabre lang jährlich nur 35 oder 17,50 
Mark zahlen — jedenfalls nicht ſo viel, als er während der landwirtſchaftlichen 
Woche in Berlin des Abends in einem der feinen Weinreſtaurants oder in den 
Amor- und Blumenſälen für Sekt ausgibt. 

Es find deshalb auch keineswegs die ‚unerſchwinglichen Laſten“, die die 
Funker zum Kampf gegen die Nachlaß; und Erbanfallſteuer treiben. Sie wollen 
überhaupt der Landwirtſchaft keine neuen Steuern aufladen laſſen, ſeien dieſe 
auch noch fo leicht zu tragen; vor allem handelt es fidh aber für fie bei ihrer Oppoſi⸗ 
tion um eine Machtfrag e. Ihr Kampf gegen die Nachlaßſteuer ift nicht Selbit- 
zweck, ſondern Mittel zum Zweck — nämlich zu dem Zweck, der Regierung zu 
zeigen, daß das Suntertum Herr im Haufe und nicht gewillt ift, zugunſten blod- 
liberaler Anſprüche etwas von ſeiner Herrſchaftsſtellung aufzugeben.“ 

Der Wille zur Macht fei in keiner Partei fo ſcharf ausgeprägt als im ,, Funter- 
tum“, und nie habe es ſich geſcheut, wenn es ſeine traditionelle Machtſtellung in 
Preußen angetaſtet fühlte, wegen der geringfügigſten Dinge den Kampf gegen 
die Krone und die Regierung zu eröffnen: „Die innere Geſchichte des preußiſchen 
Staates iſt überhaupt jahrhundertelang nichts anderes geweſen als ein fortgeſetzter 
Kampf zwiſchen Krone und Junkertum. Und daran hat fidh wenig geändert, feit 
unter Preußens Führung des neuen Deutjchen Reiches Herrlichkeit entſtanden ift. 
Nur die Formen des Kampfes haben gewechſelt; ſie ſind moderner, aber zugleich 
auch grotesker geworden.“ 

Und noch immer habe in Deen Kämpfen das Junkertum geſiegt, bei den 
nebenſächlichſten Anläſſen, z. B. bei der Beratung des Bürgerlichen Geſetzbuches 
im Reichstage während des Zuni 1896, „als die Herren Junker durch ihre Ob- 
ſtruktion den Reichstag matt zu ſetzen drohten, falls dieſer nicht dem herrichaft- 
lichen Hafen das unveräußerliche Recht gewähre, fih auf den bäuerlichen Feldern 
vollzufreſſen, wie bei den wichtigen nationalen Lebensfragen, z. B. beim Kampf 
um das Mittellandtanal-Projett, als die Konſervativen trotz des öffent- 
lichen Verſprechens des Kaiſers in Dortmund durchſetzten, daß der Kanal 
nur bis zur Leine, nicht bis zur Elbe durchgeführt werden dürfe. Ihr Royalismus 
hinderte ſie nicht, der Welt zu beweiſen, wie wenig ſelbſt Königsworte in Preußen 
bedeuten, wenn fie nicht die Zuſtimmung des Zuntertums haben.“ 

Deshalb fei auch dem Machtbewußtſein des Junkertums die Blodgemein- 
ſchaft mit dem Freiſinn ſtets unbequem geweſen; doch in Anbetracht der politi- 
ſchen Lage habe es ſich das läſtige Konkubinat gefallen laſſen, zumal es doch im 
weſentlichen feinen Willen durchſetzte und der Liberalismus nur ſehr ſchmale Bu- 
geſtändniſſe errang: „Als aber die Liberalen erreichten, daß bei der Eröffnung des 
preußiſchen Landtages in der Thronrede eine gewiſſe Reform des preußi- 
ſchen Oreiklaſſenwahlrechts verheißen wurde, da war es mit der 


‚Zürmers Tagebuch 515 


Duldung des Freiſinns vorbei. Mochte diefe Verheißung auch noch fo fhem en- 
haft fein, feine beherrſchende Stellung im preußiſchen Landtag will das Junker 
tum ſelbſt in Gedanken nicht angetaftet wiſſen, denn in dieſem Landtag erblickt es 
nicht nur die Hauptſtütze ſeiner Macht in Preußen, ſondern im ganzen Deutſchen 
Reiche. So wurde denn der Sydowſche Finanzreformplan zum Anlaß genommen, 
um der Regierung aufs neue die Macht des Funtertums zu demonſtrieren, den 
liberal-konſervativen Block zu ſprengen und an feine Stelle trotz aller Einſprüche 
der Regierung den klerikal-konſervativen Block zu ſetzen.“ 

Nicht die Abwehr der Nachlaßſteuer, ſondern die unbedingte Aufrechterhal- 
tung der Machtſtellung des Funkertums in Preußen und im Reiche fei alfo das 
eigentliche Motiv der junkerlichen Oppoſition. Daß dies der Fall ſei, werde durch 
eine an die Mitglieder des Oſtpreußiſchen konſervatiwen Vereins gerichtete ver- 
trauliche Mitteilung beſtätigt, in der nach den „Berliner Neueſten Nachrichten“ 
ſich folgende Sätze finden: 

„Die Konſervativen ſehen in jeder einzelnen freiſinnigen Hauptforderung 
die größte Gefahr für die Zukunft des Landes. Sie vergeſſen auch unter der Herr- 
ſchaft der Blockpolitik nicht, daß der bürgerliche Liberalismus und Freiſinn Hand 
in Hand mit der Sozialdemokratie in mehr oder weniger ſcharfer Form folgende 
Ziele verfolgt: 

Die Schwächung der Stellung des Monarchen zugunſten einer möglichſt un- 
umſchränkten Herrſchaft der zufälligen Parlamentsmehrheit; die Beſeitigung des 
chriſtlichen Geiſtes in Staat, Schule und Haus; die Abſchaffung des Schutzes von 
Landwirtſchaft und Induſtrie, welche nach tonfervativer Überzeugung den Bu- 
ſammenbruch unſeres geſamten wirtſchaftlichen Lebens zur Folge haben würde. 

Die Erreichung auch nur eines dieſer Ziele, wie ſie der Freiſinn mit Hilfe 
feiner Stellung im Block erſtrebt, würde nach konſervativer Überzeugung die äußerſte 
Gefahr für das Vaterland bedeuten. Nur eine ſtarke, von künſtlich gemachten Volks- 
ſtimmungen unabhängige und ihrer vollen Verantwortung bewußte konſervative 
Partei kann dieſer Gefahr wirkſam entgegentreten. Wer wirklich konſervativ denkt, 
kann ſich dieſer Notwendigkeit nicht verſchließen, er muß in ernſten und ſchwierigen 
Situationen, wie ſie gerade die gegenwärtigen Verhältniſſe für die konſervative 
Partei mit ſich bringen, trotz Meinungsverſchiedenheiten in Einzelfragen zu der 
Partei halten. Mögen auch die Beweggründe für die abweichende Stellung man- 
cher Parteigenoſſen zur Frage der Erbſchaftsſteuer nod fo lauter und rein fein, 
fo dürfen diefe doch nicht vergeſſen, daß die überwältigende Mehrheit der Partei““ 
genoſſen im Reiche das Verhalten der Fraktion billigt und ein Aufgeben ihres 
Standpunktes als Verrat an den konſervativen Grund ſätzen 
betrachten würde.“ 

Deutlich werde hier ausgeſprochen, daß die wahren Beweggründe der ton- 
fervativen Oppoſition andere find, als in der vom Bund der Landwirte betriebe- 
nen demagogiſchen Agitation den Einfältigen im Get vorgeſchwindelt würden. 
Es handle fic) hier lediglich um die Ausſchaltung jeglichen Liberalismus, um die un- 
bedingte Aufrechterhaltung der junkerlichen Machtſtellung. 

Es ſind bekanntlich längſt nicht mehr nur ſozialdemokratiſche Organe, die 


516 Türmers Tagebuch 


eine ſolche Sprache führen. Sogar die freikonſervativen „Berliner Neueſten Nach- 
richten“ geben unumwunden der Meinung Ausdruck, daß es fic hier nur um ein 
ganz brutales Machtintereſſe handle: „Denn da das Reich und der Kaiſer von 
Freiſinnigen und Nationalliberalen nicht bedroht werden, ſo wäre es überflüſſig 
und grotesk, wenn ſich die Konſervativen in Harniſch würfen zum Schutze fir das 
Vaterland. Nein, ſie treiben ein Gaukelſpiel mit dem von den Liberalen bedrohten, 
von ihnen zu ſchützenden Vaterlande, fie haben ihren Spott mit Patrio- 
tis mus, mit Kaiſer und Reich; Kaiſer und Reich find ihnen getade 
gut genug als Vorwand für den Schutz des eigenen Be 
ſitzes an Macht, Einfluß und Vermögen.“ 

ga, es ift weit gekommen! So weit, daß treueſte Anhänger der tonferva- 
tiven Partei ihren gegenwärtigen verhängnisvollen Abwegen nicht mehr folgen 
wollen. „Allen Beobachtern dieſer verworrenen Wochen“, ſchreibt die „Welt am 
Montag“, „muß es aufgefallen fein, daß alle Paſtorenblätter Geg- 
ner der Konſervativen in der Frage der Nachlaßſteuer 
find. Der ‚Reichsbote‘ hat mannhaft und gerecht, in einer Weiſe, die an des Blattes 
Glanzzeit in den ſiebziger Jahren erinnert, den Drückebergern der Rechten die 
Wahrheit geſagt. ‚Deutſche Ztg.“ und Gage, Rundſchau“, die von mehr kirchlich 
liberalen Paſtoren geleſen werden, haben ſich auf die Seite der Nachlaßſteuer ge- 
ſtellt. Nun ſind heute die Konſervativen auch ohne Hilfe der Paſtoren eine Macht, 
wenn die Landräte als ihre Einpeitſcher tätig ſein und die Wähler auf dem 
Lande vergewaltigen dürfen. Ohne Paſtoren und Landräte geht trotz des Bundes 
der Landwirte das konſervative Regiment in die Luft. 

Als Bismarck 1878 die Konſervativen wieder zu begönnern anfing, waren die 
Junker nichts. Aber der ‚Reichsbote” hatte in heftiger Fehde gegen den Kultur- 
kampf die Paſtoren mobil gemacht und organiſiert. Dieſe waren die erſten Of- 
fiziere der konſervativen Agitation. Die e ernteten nur, was jene gejäet 
hatten. 

Die Paſtoren im Lande ſind, ganz im Einklang mit ihrer Preſſe, empört über 
die Weigerung der Konſervativen gegenüber der Nachlaßſteuer. Die Paſtoren 
ſind in vielen Gegenden die einzigen Leute auf dem Lande, die ihr 
wirkliches Einkommen verſteuern. Ihnen ift am beſten bekannt, wie 
ſkandalös die Einſchätzung des Einkommens aus Landwirtſchaft funktioniert, — 
auch der Finanzminiſter von Rheinbaben weiß das ganz gut, 
obwohl er es beſtritten hat. Hat er nicht in dieſem Fahr die Einſchätzungs—- 
behörden ſelbſt in einem Erlaß darauf hingewieſen, daß die Einſchätzung 
auf dem Lande ſchärfer gehandhabt werden müſſe? Mir liegt eine Verfügung 
eines Landrates vor, die offenbar auf einen miniſteriellen Erlaß zurückzuführen iſt. 

Die Paftoren wiſſen Beſcheid. Sie wiſſen und ſehen auch, wie die Land- 
wirte in den letzten Fahren verdient haben. Sie erfahren es durch die Genoffen- 
ſchaften, deren Leitung in ihren Händen liegt: über eine Million Umſatz jährlich 
in einer wohlhabenden Bauerngemeinde, in der Spar- und Darlehenskaſſe. 
Und in derſelben Gemeinde muß ein Bauer verurteilt werden, weil er die Steuer- 
drückerei allzu unverſchämt betrieben hatte. Der Gemeindevorſteher 


Zürmers Tagebuch 517 


muß mit vor Gericht, weil er dem Bauern gezeigt hatte, wie man 
es machen müſſe. Bleibt aber Gemeindevorſteher! Natür- 
lich! Er paßt in das Syſtem ganz wie der Gutsjäger, der vor mehreren Jahren 
wegen grober Wahlfälſchung (im Intereffe der Konſervativen) z u 
Gefängnis verurteilt und bald darauf zum Amtsvorſteher 
ernannt worden iſt! 

Die Macht korrumpiert. Und die Paſtoren ſehen das ein. Von ihnen 
ſtammt die ſpäter von Delbrück aufgenommene Behauptung, daß der Widerſtand 
gegen die Nachlaßſteuer auf die Furcht vor der Entlarvung der 
Steuerdrückerei auf dem Lande zurückzuführen iſt. Die Furcht iſt auch 
ſehr berechtigt. Hat doch ein biederer ſüddeutſcher Abgeordneter das kürzlich ebr- 
lich zugeſtanden! Und iſt doch kürzlich der Nachlaß eines Fideikommißherrn in 
Oberbayern um 352 000 Mark geſtraft worden wegen der Steuerhinterziehung 
des Verſtorbenen. 

Die Paſtoren würden jetzt bei einem Wahlkampfe, vor allem wenn die Land- 
rate nicht mehr als konſervative Einpeitſcher fungieren dürften, den Konſervativen 
die Rechnung verderben. Erginge etwa gleichzeitig eine Verordnung des Bundes- 
rats gegen die empörende Rentenentzie hung, die ſeit einiger Zeit 
auf dem Lande verübt wird, ſo würde ein Wahlkampf die kleinen Leute auf dem 
Lande mit den Paſtoren auf die Seite der Regierung führen, und eine ganze 
Reihe konſervativer Abgeordneter ginge zum Orkus. Die Nachlaßſteuer würde 
glatt durchgehen.“ 

So ſtehe es. Aber Bülow und die Liberalen, — ſie ſeien es nicht, die ſolch 
einer Gunſt der Umftände etwas Ernſtes abzugewinnen imſtande wären. Ehe- 
mals fagte man den Konſervativen nad, fie feien die Leute der verpaßten Gelegen- 
heiten; die hätten aber gründlich umgelernt. Heute ſeien es die Liberalen und „ihr 
Ol- und Prügelgötze, der Reichskanzler“. 

Die politiſchen Machtverhältniſſe in Preußen find eben vom Wandel der 
Zeiten faſt unberührt geblieben und wirken um deswillen auf o weite Kreiſe 
innerhalb und außerhalb der preußiſchen Monarchie peinlich und grotesk. „Die 
Einrichtungen, durch die in Preußen und im Reich die politiſche Macht verteilt ift,“ 
jo äußert fih der ſüddeutſche Reichstagsabgeordnete Konrad Haußmann im „März“, 
„wurden geſchaffen, als Deutſchland überwiegend Agrikulturſtaat war. 
Die Abgrenzung der Wahlbezirke nach der Kopfzahl der Einwohner ſchuf damals 
wahrheitsgetreu eine Mehrheit von Abgeordnetenſitzen, die auf agrariſche oder 
doch agrariſch dominierte Wählerſchaften angewieſen blieben. Dieſes Verhält- 
nis wurde in den Verfaſſungen verankert und macht fein Gewicht noch heute gel- 
tend, obſchon das Übergewicht des feldbautreibenden Teils der Bevölkerung ver- 
ſchwunden und Deutſchland ein Induſtrieſtaat geworden iſt. Dieſer tatſächlichen 
Verſchiebung würde ſich auch der Charakter der politiſchen Vertretung allmählich 
angepaßt haben, Iden wegen der inneren Macht, die Handel, Induſtrie und Tech- 
nik erlangten, wenn fih nicht der Großgrundbeſitz jenes künſtliche Verhältnis und 
den Machtvorſprung, den er als Adel in Preußen beſitzt, mit rückſichtsloſen Ellen- 
bogen zunutze gemacht hätte. 


518 Zürmers Tagebuch 


Er organifierte ſich auf Grund des Oreiklaſſenwahlrechts, das ihm auf den 
Leib geſchnitten ift, inſtallierte fih im preußiſchen Abgeordnetenhaus und ver- 
ſuchte erfolgreich, der preußiſchen Regierung Weiſung zu erteilen. Die jo geſchaffene 
Poſition verleiht die Macht zu parteipolitiſcher Beherrſchung der ländlichen preußi- 
ſchen Wahlkreiſe, und, da je ein paar von ihnen einen Reichstagswahlkreis bilden, 
auch zur Dominierung einer unverhältnismäßig großen Zahl von Reichstags 
wahlkreiſen. Da dieſe auf dem allgemeinen Wahlrecht beruhen, erſchien es dem 
preußiſchen Großgrundbeſitz richtig, eine berufsſtändiſche Organiſation zu patroni- 
fieren, die im Bund der Landwirte demagogiſch geſchaffen wurde und die felbft- 
verſtändlich bei der tatſächlichen politiſchen Abermacht der Großgrundbeſitzer von 
dieſen gegängelt und ausgenützt werden kann. Dieſe große Intereſſenkoalition 
nahm politiſche Oeckung unter der Parole ‚Mit Gott für König und Bater- 
land‘ und gewann dadurch wie durch ihren Quietismus gegenüber allen ernſthaften 
Reformen ſowohl den Geiſtlichen als auch die Bureaukratie zu Parteigängern oder 
Wahlhelfern, während fie fih der Krone mit freigiebigen Loyalitätskundgebungen 
und mit der Prätenſion erſtklaſſiger Untertanenhaftigkeit zu nähern weiß. 

Die Macht dieſer großen Gruppe in Preußen iſt ſo gewaltig, daß ſie den 
Anſpruch zu erheben wagt, Geſetze, vor allem wirtſchaftliche Geſetze, dürften nicht 
ohne ihre Genehmigung gemacht werden. Steuergeſetze ſind wirtſchaftliche Geſetze, 
bei denen, ſolange die Welt ſteht, ‚herrichende‘ Parteien regelmäßig die eigenen 
Intereſſen mehr zu ſchonen verſuchen als die fremden. 

Das weiß die Reichsregierung und vor allem die preußiſche Regierung, 
ohne deren Genehmigung kein Geſetzentwurf im Reich eingebracht wird. Und 
fo ijt denn die Finanzreform in der Schonung der Intereſſen der 
Grundbeſitzer außerordentlich weit gegangen. Das Halb- 
milliardendefizit ſollte von vornherein zu vier Fünfteln durch indirekte Steuern 
aufgebracht werden, die regelmäßig als Kopfſteuer wirken und die unbemittelten 
Kreiſe ſcharf heranziehen. Daneben wurde aber eine Nachlaßſteuer oder Erb- 
ſchaftsſteuer vorgeſchlagen, die bei der Wertberechnung und durch Stundung auf 
die landwirtſchaftlichen Verhältniſſe die weiteſtgehende Ruͤckſicht nahm, ja die Erb- 
ſchaften von 20 000 Mark überhaupt ganz ſteuerfrei ließ. 

Gegen diefe Steuer ließ die tonfervative Partei die landwirtſchaftliche Be- 
völkerung Preußens blindlings marſchieren, und ſie frondiert ſeither gegen die 
Reichsregierung ſamt ihrem agrariſchen Kanzler. 

So ift die Steuerfrage zu einer politiſchen Frage, zu einer politiſchen 
Machtfrage erſten Ranges geworden, und die Entwicklung ift nun 
bei dem Punkt angekommen: Kann der Großgrundbeſitz — das ift ein Bruch- 
teil des landwirtſchaftlichen Beſitzes, der ſelbſt nicht mehr die Mehrheit innehat — 
der Reichsregierung und der übergroßen Mehrheit der deutſchen Bevölkerung, die 
hinter dem Vorſchlag der Regierung ſteht, eine andere Löſung aufdrängen? 

Das Defizit von einer halben Milliarde, entſtanden durch eine Finanzwirt⸗ 
ſchaft, der ſich die Ronfervativen nie entgegengeſtellt haben, will die Bevölkerung, 
fangmiitig wie fie ift, bezahlen. Die unteren Klaſſen, der ganze Mittelſtand, Ge- 
werbe, Handel und Znduftrie, alle arbeitenden Stände mit Ausnahme der von 


Eüiemers Tagebuch 519 


den Konſervativen irregeleiteten Landwirte, die Reichsregierung, alle Einzel- 
ſtaaten, alle Parteien mit Ausnahme der Konſervativen und des Zentrums ſind 
für die Erbſchaftsſteuer, — und allen dieſen Anhängern ſtellt fih die konſervative 
Partei entgegen mit der Erklärung: Ich will nicht. 

Man verſteht, daß es von weittragender Wirkung und Nachwirkung iſt, ob 
die konſervative Partei ſiegt oder beſiegt wird. Die Herausforderung 
der preußiſchen Konſervativen richtet ſich an ganz Deutſchland, und 
dieſe Herausforderung wirkt lagerbildend. Sie könnte der 
Ausgangspunkt einer neuen Konſtellation werden, wenn die nationalliberale Par- 
tei dauernde Erfahrungen aus der Miſere von heute zu ziehen die Kraft bewahrt 
haben ſollte. In dieſer Möglichkeit liegt die parteigeſchichtliche Bedeutung des 
Frühlings von 1909. .. . Mag die Entſcheidung in der Finanzreform herüber oder 
hinüber fallen, — ein politiſches Vertrauens verhältnis zwiſchen der Linken und 
der Rechten des Blocks ift aus inneren Gründen in den zwei reſtlichen Jahren der 
Legislaturperiode nicht mehr möglich, ſogar dann nicht, wenn bei einem oder dem 
andern Geſetz die Linke und die Rechte zuſammenſtimmen ſollten. Selbſt die 
Nationalliberalen werden das Odium einer politiſchen Vertraulichkeit mit den 
Konſervativen nicht auf ſich nehmen, es wäre denn, daß die konſervative Partei als 
ſolche die Erbſchaftsſteuer laudabiliter annähme. — Die konſervative Partei richtet 
ja ihre Machtprobe bewußt gegen den Block und den Blockkanzler, fie will ihn ferner- 
hin nur am Ruder dulden, wenn er das Steuer führt, wie der unverantwortliche 
konſervative Kapitän kommandiert. Auch den Konſervativen ift die Erbſchafts⸗ 
ſteuer nicht mehr die Hauptſache, ſondern nur der bequeme Anlaß, den ſie benutzen, 
weil ſie die Großgrundbeſitzer perſönlich trifft und die kleinen Beſitzer dank dem 
falſchen Lärm der Bundespreſſe alarmiert. Es ſoll ein Zeichen auf 
gerichtet werden, ſichtbar der Krone, ſichtbar der Neidsregie- 
rung und den,dreinredenden Einzelſtaaten, ſichtbar dem Volk, 
dem Gewerbeſtand und den Nationalliberalen: „Es muß in Oeutſchland regiert 
werden, wie der preußiſche Großgrundbeſitz es will; ſonſt ſtreiken die Stützen von 
Thron und Altar.“ So pfeift es aus dem Oreiklaſſenparlament, und auch die ein- 
ſichtigen Elemente der konſervativen Partei glauben mittanzen zu müſſen. 

In der Wahl der Mittel iſt dieſe Politik nicht verlegen. Sie rechnet als auf 
einen untrüglichen Faktor auf die Rache des Zentrums und auf den Haß der Polen 
gegen Bülow. — Die preußiſchen Konſervatiwen wollen mit dem Zentrum deutſche 
Politik machen und rechtfertigen dieſen Entſchluß mit dem Hintergedanken, daß ſie 
im Bedarfsfall auch wieder das Zentrum im Stich laſſen und als Zünglein an der 
parlamentariſchen Wage eine doppelte Mehrheit bilden könnten, weil, wie ſie 
annehmen, die Nationalliberalen nachher jedesmal wieder mittun würden, wenn 
man ihnen drohe: ‚Sonft ſtimmen wir mit dem Zentrum.“ Aber diefe Politik mit 
dem doppelten Boden ſcheitert aus innern und aus äußeren Gründen; und jo be- 
deutet der Pakt der Konſervativen mit dem Zentrum zugleich den Entſchluß, den 
eigentlichen Leitern der Bewegung, dem Kanzler, dem Kaiſer und Deutſchland 
eine konſervativ-ultramontane Politik aufzunötigen. Das kann und darf 
die konſervative Partei; aber nur auf Grund des Eonftitutio- 


520 Zürmers Tagebuch 


nellen Prinzips, — das die Konſervativen perhorreſzieren. Wenn 
fie und ihre Wähler — die vor zweieinhalb Jahren gegen das Zentrum geſtimmt 
haben — und die Zentrumswähler mit den Polen eine Mehrheit zuſammenbringen, 
und wenn ſie mit Zentrum und Polen die Regierung verantwortlich übernehmen, 
dann ſollen ſie regieren. Sie werden bald ausregiert haben. 

Aber das Mehrheitsregiment leugnen und unterirdiſche, unverantwort- 
liche Mehrheiten bilden, um den Kanzler Bülow zu zwingen, eine Politik zu 
machen, die er öffentlich erklärt hat nicht verantworten zu können, — das 
it eine pringiplofe herrſchſüchtige und un wahrhaftige 
Methode, die alle Verantwortlichkeiten zerſtört, den öffentlichen Get ver- 
wirrt und das Reich desorganiſiert ..“ 

Weite Schichten, ſo ſchließt der ſüddeutſche Abgeordnete mit deutlichem 
Hinweis auf die ſchwankende, ſchwächliche Haltung der Regierung feine Betrach- 
tungen, ergreife ein Widerwillen gegen das politiſche Leben 
ob der Kraftloſigkeit ſeiner Organe! 

Und o b der Mann damit recht hat! Cin ſolcher Zuſtand, wie wir ihn in atem- 
raubender Klemme monatelang ertragen mußten, wie er ſich in aller Gemächlichkeit 
zum internationalen Spektakelſtück auswachſen durfte, grenzt doch nachgerade ans 
Anarchiſche, zeugt von einer Ohnmacht und Hilfloſigkeit, für die es eine ſach liche 
Erklärung überhaupt nicht mehr gibt. Sachlich gab es hier nur noch ein Entweder — 
Oder: der Reichstag bewilligte die Nachlaßſteuer der Regierung, oder er wurde auf- 
gelöſt. Wählte das deutſche Volk auch dann noch eine Mehrheit, die ſich der gerechteſten 
aller Steuern widerſetzte, — nun, dann bewies es, daß es keine andere wollte und 
verdiente, und mußte fih eben von dieſer Mehrheit — wie lange wohl? — beberr- 
ſchen laſſen. Aber die Regierung hatte dann ihre Schuldigkeit getan, niemand konnte 
ihr noch einen Vorwurf machen. Zu einem ſolchen Ergebnis wäre es aber ganz 
gewiß nicht gekommen, käme es nicht, auch wenn heute noch der Reichstag auf- 
gelöft würde. Daß Bülow einen anderen Ausfall erwarten follte, wird man einem 
jo klugen Manne nicht wohl zumuten dürfen. Woher alfo die Scheu vor dem 
Entſchluß? Woher das zähe Feſthalten an dieſem Reichstage, die Bereitſchaft, 
von der eigenen beſſeren Überzeugung Stück für Stück zu opfern, nur um die 
„Finanzreform“ mit dieſer Mehrheit zu machen? Sollte da nicht — bewußt oder 
unbewußt — neben dem angeborenen inſtinktiven Solidaritätsgefühl der Klaſſe 
auch die durchaus nicht abzuweiſende Erwägung mitſprechen, daß des Kanzlers 
fernere Regierungsfähigkeit, ja amtliche Exiſtenz am Ende doch in den Händen 
eben dieſer Klaſſe ruht? Dak diefe Klaſſe, trotz allen „Volkswillens“, aller wechjeln- 
den Mehrheiten doch für abſehbare Zeit die herrſchende, am letzten Ende maßgebende 
im Staate Preußen und damit — bei der wunderlichen Struktur unſerer politi- 
ſchen Verhältniſſe — auch im Reiche bleiben wird? Dak ſich gegen dieſe Klaſſe 
dauernd in Preußen-Oeutſchland eben nicht regieren läßt? 

Aber die Sozialdemokratie könnte bei einer Auflöſung des Reichstages ge- 
ſtärkt aus den Neuwahlen hervorgehen? Gewiß, die Möglichkeit, ja Wahrſchein⸗ 
lichkeit liegt nahe genug. Aber mit Recht warnte der nationalliberale Parteiführer 
Baſſermann in der Reichstagsſitzung vom 16. Juni vor einer Aberſchätzung 


Zürmers Cageduch §21 


dieſer Gefahr, indem er erklärte, daß er für feine Perſon auch vor einer Auflöfung 
nicht zurückſchrecken würde, wenn er auch ſehr wohl wüßte, „daß in ſolchen Zeiten, 
in denen der Staat große neue Bedürfniſſe hat, den Sozialdemokraten vielleicht 
aus den Wahlen gewiſſe Erfolge erwachſen“. Aber man müſſe auch den Vorteil 
in Rechnung ſtellen, daß die Regierungen übereinſtimmen mit dem ganzen libera- 
len Bürgertum: „Sie dürfen auch nicht glauben, daß, wenn etwa eine verkehrs- 
feindliche und ungerechte Finanzreform verabſchiedet wird, die Zwiſchenzeit 
bis zu den nächſten Wahlen das Verhältnis in dieſer Beziehung günſtiger 
geſtalten würde. In einer Periode der allgemeinen Unzufriedenheit, wo man erſt 
das alles empfinden wird, was heute ja noch gar nicht 
erkannt iſt, an den Steuerprojekten, iſt im Gegenteil die Gefahr vorhanden, 
daß die Unzufriedenheit dann noch viel größer fein wird, daß fie der Sozialdemo⸗ 
kratie 1911 noch ganz andere Erfolge bringen würde als jetzt.“ 

Auch wenn die Regierung ihre neuen Steuergeſuche — man muß hier ſchon 
mehr von „Geſuchen“ als von Forderungen reden — bewilligt erhielte, ſo wäre 
damit die notwendige wirkliche Finanzreform nur vertagt, nicht durchgeführt. 
Daß mit dieſen Pfläſterchen eine dauernde Geſundung unſerer durch und durch 
zerrütteten Finanzwirtſchaft herbeigeführt werden könnte, glauben ihre Erfinder 
wohl ſelbſt nur in Augenblicken, wo ihnen „die ganze Welt in roſenrotem Lichte“ 
erſcheint. Mit 500 Millionen, auch wenn fie eingehen, was noch mehr als zweifel 
haft, iſt die Sache überhaupt nicht zu machen. Man kann auch heute ſchon dreiſt da- 
mit rechnen, daß ein erheblicher Teil der neuen Gelder überhaupt nicht bis zum 
Reichsſäckel gelangen wird, vielmehr febr ordentlich und gewiſſenhaft für Cin- 
ziehungs-, Verwaltungskoſten uſw. uſw. „aufgerechnet“ werden wird. Es wäre 
mindeſtens neu, wenn unſer altbewährtes und berühmtes bureaukratiſches Syſtem 
uns diesmal im Stich laſſen ſollte. 

Im übrigen bedeutet die neue Vorlage, wie ja auch gar nicht anders zu er- 
warten war, ein weiteres und zwar febr weites Zukreuzekriechen vor dem „Familien- 
ſinn“ und dem „deutſchen Gemüt“ prominenter Agrardemagogen. Ein ſo weites, 
daß ſelbſt diefe ſich dem Eindruck von fo viel löblicher Unterwerfung nicht ganz ver- 
ſchließen, einer gewiſſen Rührung nicht erwehren können. Sie würden denn auch 
das Geſchäft ſchon ganz gern machen, wenn bloß die vertrackte Erklärung in der 
bewußten Thronrede nicht wäre, wenn Bülow ſich bloß nicht auf eine „gewiſſe Ne- 
form“ des preußiſchen Wahlrechts feſtgelegt hätte. An dem iſt aber 
bekanntlich „nicht zu tippen“. „Eintritt ſtrengſtens verboten“ — „Aufgang nur 
für Herrſchaften!“ Aber nur Mut! Auch dann kann — und wird vielleicht auch 
noch — Rat geſchafft werden. Denn ſo feſt legt ſich Bülow nie feſt, daß er ſich 
nicht wieder auf die andere Seite legen könnte. Fatal ift nur, daß er das Ber- 
ſprechen jener „gewiſſen“ Reform auch im Namen des Königs abgegeben hat. 
Aber über die Grenzen einer „gewiſſen“ Reform läßt ſich gern und gründlich reden, 
es laffen fih weitere „Erhebungen“ anſtellen, die naturlich nicht üͤberſtürzt werden 
dürfen. Somit ift immerhin die Möglichkeit nicht von der Hand zu weiſen, daß die Erb- 
pächter des „deutſchen Familienſinns“ und des „deutſchen Gemüts“ doch noch einmal 
mit fic reden laffen, weil das Geſchäft an fih wirklich ein glänzendes für fie ift. — 


522 Türmers Tagebuch 


Auch wenn wir das Geweſene geweſen ſein laſſen, von der unbeſchreiblichen 
Wirtſchaft, die uns in den bodenloſen Sumpf unſerer heutigen Finanzmiſere hinein 
geritten hat, gänzlich abgeſehen, auch dann bleibt noch immer die Tatſache be- 
ſtehen, daß wir, wenn alles mit rechten Dingen zuginge, überhaupt keine 
neuen Steuern brauchten. Denn mit dem, was auf der einen Seite 
für überlebte und überflüſſige Marotten und ähnliche angebliche „Bedürfniſſe“ 
verwirtſchaftet, auf der anderen mit ſchier verblüffender Oreiſtigkeit 
hinterzogen wird, könnten wir unfere ganze Finanzblöße doppelt bedecken. 
Dafür liefert uns ja jeder Tag neue Belege; mit dem Iden heute zutage geförder- 
ten Material könnte man Bände anfüllen und Milliarden zuſammenrechnen. Und 
nun, wo es gilt, das Notdürftigſte heranzuſchaffen, wo breite, völlig unverſchuldet 
vor ſolche Opfer geſtellte Schichten des minderbemittelten Volkes ſie gleichwohl 
auf ſich nehmen wollen, da mißbraucht eine einzelne Klaſſe die ihr eingeräumte 
bevorzugte Stellung, um die gerechteſte, keinen Teil über ſeine Verhältniſſe be- 
drückende Steuer ohne Rüdfiht auf Wohlfahrt und Anſehen des Vaterlandes bis 
aufs Meſſer zu bekämpfen, nur um ſich politiſch und wirtſchaftlich nicht in die Karten 
gucken, tein 8-Tüpfelchen von ihrer politiſchen und wirtſchaftlichen Vorzugsſtellung 
zugunſten der Allgemeinheit abſplittern zu laffen. Das ift wahrlich ein — „Kon- 
ſervativismus“ ganz eigener Art, wie ich ihn in dieſen Kreiſen früher nicht an- 
getroffen habe, wie er früher dort nie eine ſolche Rolle hätte ſpielen können! Denn 
früher galt in dieſen Kreiſen, bei allem „Feſthalten am Alten“, das Noblesse oblige 
und war das „Adel verpflichtet“ noch kein leerer Schall. An manchen alten Freund 
aus dem konſervativen Lager, den nun längſt der grüne Raſen deckt, muß ich den- 
ken: was der wohl zu der heutigen Auslegung dieſer Worte ſagen würde! Wohl 
ihm, daß er ſie nicht mehr mit erleben muß! 

And wie kurzſichtig dies ganze Gebaren! Mag man über die weitere Ent- 
wicklung des neu begründeten „Hanſabundes“ denken, wie man will, — daß ein 
ſolcher Zuſammenſchluß der verſchiedenartigſten Elemente aus den verſchiedenſten 
Lagern mit der einzigen Frontſtellung gegen einen gemeiſnamen „Gegner“ über- 
haupt möglich wurde, beweiſt zwingender als alle Reden, weſſen man ſich von 
dieſem „Gegner“ verſieht, bis zu welcher Erbitterung die Gemüter aufgepeitſcht 
worden find! Dabin hat es eine ſkrupelloſe Agrardemagogie gebracht, daß ganze 
Klaſſen in einer anderen Klaſſe ihres eigenen Volkes einen Gegner, einen „Feind“ 
erblicken, den es gemeinſam zu bekämpfen gilt! Deutſche Kämpfe! „Nationale“ 
Kämpfe! 

„Sie finden in dem Bunde“, ſo mahnte der Abgeordnete Baſſermann, 
„Handel und Induſtrie vereinigt. Bedenken Sie wohl, Freihändler und Schutz- 
zöllner, Induſtrie und Handwerk, das große und das kleine Kapital, Mittelſtand 
und Beamte, Innungen und freie Verbände, alle zuſammengeſchloſſen zu einer 
großen Kampfesorganiſation. Wie hoch muß da die Glut des Unwillens geſtiegen 
fein, wenn diefe doch reichlich heterogenen Elemente ſich in einer einzigen Organi- 
ſation zuſammengefunden haben? Der Zuſammenſchluß iſt erfolgt, weil alle dieſe 
Kreiſe die Quellen, aus denen die Werte geſchaffen werden, bedroht ſehen und eine 
Vernichtung ihrer Exiſtenzbedingungen befürchten Unterſchätzen Sie die Bedeu- 


Zürmers Tagebuch 523 


tung dieſer Vereinigung nicht! Yc erinnere Sie daran, wie feinerzeit die Arbeit- 
geber ſich gegen die Sozialdemokratie zuſammenſchloſſen und damals Spott und 
Hohn ernteten. Man traute es dem Unternehmertum nicht zu, daß es ſtark und 
mächtig genug ſein würde gegenüber den Arbeiterorganiſationen. Und wie heute? 
Heute ift der Arbeitgeberſtand ſtark organifiert und benutzt das Mittel der Sperre 
als Gegenmaßregel gegen die Streiks. Das ift auch eine Bewegung, die aus klei- 
nen Anfängen ſtammt und heute ein großer Machtfaktor ift. Am bemerkenswerte 
ſten waren am 12. Juni die Ausführungen des Vorſitzenden des Zentralausſchuſſes 
der vereinigten Innungsverbände Deutidlands. Er ſagte, die Hinweiſe, daß die 
Erbſchaftsſteuer den Familienſinn ſchädige, hätten nichts gemein mit deut- 
ſcher Art; es handle ſich dabei nur um einen traurigen Verſuch, ſich um 
notwendige Laſten herum zudrücken. Er fügte hinzu, daß die Mitgliederzahl 
der im Innungsverbande zuſammengeſchloſſenen Organiſationen die Zahl 300 000 
bereits überfchritten habe, und daß alle diefe Organiſationen fich uns zur Verfugung 
ſtellten. Das ſagte kein Kapitaliſt, ſondern ein Innungsmeiſter.“ 

Das find die Errungenſchaften unſerer traffen reinwirtſchaftlichen 3 n t er- 
eſſen vertretungen. Nun ernten ſie, was ſie geſät haben! „Man hatte 
ſich“, fo das „Berliner Tageblatt“, „ſeit geraumer Zeit bei uns in den Ge- 
danken eingeſponnen, daß die eigentlichen politiſchen Parteien ihre Rolle 
ein für allemal ausgeſpielt und daß die wirtſchaftlichen Gruppie- 
rungen allein noch eine Daſeinsberechtigung hätten. Mit der 
Verkündung dieſes mephiſtopheliſchen Satzes hatte man in Wahrheit den v er- 
faffungsmäßigen Standpunkt aufgegeben, der in jedem Ab- 
geordneten einzig und allein den Vertreter der Volks geſamtheit anerkennt. 
Die Verfaſſung verbietet es geradezu dem Abgeordneten, irgendwelche Sonder- 
intereſſen zu vertreten; er darf weder dahingehende Aufträge ſeiner Wähler ent- 
gegennehmen, noch darf er ſeinen Wählern gewiſſe Verſprechungen geben. Und 
dieſe anſcheinend nur theoretiſch mögliche Auffaſſung iſt auch in Wahrheit von 
der größten praktiſchen Wichtigkeit und Bedeutung. Allerdings können derartige 
rein verfaſſungsmäßige Anſchauungen unter Umftänden einer Regierung febr un- 
bequem werden. Gerade unſere parlamentariſche Entwickelungsgeſchichte weiß 
davon viel zu erzählen. Und noch immer ift es fo gegangen, daß man gegen un- 
bequem gewordene politiſche Grundſätze, an denen die Volksvertreter im Sinne 
der Verfaſſung feſthalten zu müſſen glaubten, wirtſchaftliche Inter- 
eſſenvertreter ausſpielte, mit denen man nicht nur leichter verhandeln, 
ſondern vor allem nach Kaufmannsbrauch handeln, feilſchen, dingen 
konnte. „Fordern und Bieten machten das Gef haft', wurde der leitende Grund- 
ſatz, nach dem ſeit Jahrzehnten unſere innere Politik tatſächlich betrieben wurde. 

Mit der Abkehr des eiſernen Kanzlers von den Liberalen, mit deren Hilfe 
und ruhmreicher Mitarbeit er den Ausbau des Reiches in Angriff nehmen und in 
vielen Hauptſtücken durchführen konnte, alfo mit dem Fahre 1879, gelangte bei 
uns die Intereſſen vertretung und die Intereſſenwirtſchaft im Reichstage mehr und 
mehr zur Heriſchaft. Von dieſer Zeit an ſchreibt ſich aber ganz naturgemäß auch 
der Niedergang unſeres Parlamentes her. Pas Niveau feiner 


524 Zürmers Tagebuch 


Verhandlungen fant tiefer und tiefer und damit auch fein Anſehen im Volke. Fest 
haben wir die ehedem über den grünen Klee gepriefene Intereſſenvertretung im 
Parlamente, jetzt ſehen wir ſie ſeit Jahren an der parlamentariſchen Arbeit, dieſe 
Männer der Praxis, dieſe Männer der wirtſchaftlichen Arbeit; ſie haben die Klinke 
der Geſetzgebung in Händen. Und was haben fie zuſtande gebracht? Partikular- 
intereſſen werden von ihnen ins Feld geführt gegen unabweisliche Anforde- 
rungen der Geſamtheit. Die unbequeme grundſätzliche politiſche Oppoſition 
ſollte um jeden Preis niedergezwungen werden, und ſo wurde der Heerbann der 
Wirtſchaftsintereſſenten aufgeboten. Um den politiſchen Liberalismus und ſeinen 
Verfaſſungsſtandpunkt mundtot zu machen, verſchrieb ſich die Regierung mit Haut 
und Haaren jenen Vertretern, die dann auch vortrefflich ihre Geſchäfte zu 
betreiben verſtanden. 

Eine ganze Weile verſtand man es, die Partikularintereſſen fälſchlich mit den 
Allgemeinintereſſen zu identifizieren. Aber dieſe Rechnungsaufſtellung hatte ein 
Loch, das mit jedem Jahre größer und größer wurde. ... Bis endlich die falſche 
Rechnungsaufſtellung vor aller Augen klar dalag, das Defizit im Reichshaushalt 
immer ſtärker hervortrat, die Reichsſchuldenlaſt immer rieſiger anſchwoll, die ganze 
Reichsfinanzwirtſchaft in die heilloſeſte Verwirrung geriet. 

Daß diefe Taktik fih ſchließlich gegen den Staat ſelber wenden müſſe, hat 
kein Geringerer als der eiſerne Kanzler ſelbſt, trotzdem er bekanntlich der rein 
wirtſchaftlichen Vertretung in den Parlamenten erſt die rechten Wege gebahnt, in 
einer feiner berühmteſten Reden rund heraus erklärt. Es ijt gerade ein Viertel- 
jahrhundert her, daß Fürſt Bismarck fih in den ſchärfſten Worten gegen die Partei- 
politik wandte: ‚Sobald es der Parteipolitik, der Fraktionspolitik nicht paßt, fo 
können die Intereſſen zugrunde gehen.“ Der Fürſt, der mit den „Inter- 
eifen‘ die allgemeinen, im Gegenſatz zu den partikularen bezeichnet, 
fährt dann fort: ‚Sie (nämlich die Fraktionspolitik) fragt nur: Was nützt es meiner 
Fraktion? Vivat fractio, pereat mundus!‘ Allerdings foll nicht verſchwiegen wer- 
den, daß dieſes Vernichtungsurteil ſich gegen die fortſchrittliche Oppoſition richtete. 
Aber treffen die Worte nicht genau auf die diesmalige reaktionäre Oppoſition im 
Reichstage zu? Sie verſagt fih diesmal — und das ift der entſcheidende Unter- 
ſchied zwiſchen ihrer Haltung und derjenigen der damaligen Fortſchrittspartei — 
dem Reichsgedanken nicht ſowohl aus ideellen als aus rein materiellen 
Gründen. Sie will ſo wenig wie nur irgend angängig aus eigenen Mitteln zur 
Linderung der unerträglich gewordenen Reichsnot beiſteuern, ſondern lieber alle 
anderen und namentlich auch die wirtſchaftlich Schwächeren und Schwachen 
ſtärker als ſich ſelbſt belaſten Die gegenwärtige Oppoſition handelt demnach 
vollſtändig als eine dem Weſen der Verfaſſung widerſprechende Zntereſſenten⸗ 
vertretung und nicht als eine Volksvertretung.“ 

Daß dieſe „nationale Entwicklung“ gerade unter der Reichskanzlerſchaft des 
Fürſten Bülow fo erhabene Gipfel erklommen hat, dafür wird man ihn gerechter- 
weiſe nicht verantwortlich machen dürfen. Freilich hat er ſich auch nie gegen dieſe 
Strömung geſtemmt, eher fie begünſtigt. Gegen den Strom ſchwimmen ift über- 
haupt nicht ſeine Sache. Dagegen verſteht er es, auch in dem widrigſten heiter und 


Sürmers Tagebuch | 525 


gefällig zu plätſchern, überraſchende Evolutionen auszuführen und überhaupt 
durch die wunderbarſten Schwimmkünſte zu ergötzen. Ein Meifterftüd auf dieſem 
Gebiete war feine Rede in der Neichstagsſitzung vom 16. Zuni. Die Geſchmeidig⸗ 
keit, mit der er fih durch die rings um ihn ſtarrenden Klippen durchwand, bald 
auf die eine, bald auf die andere einen kecken Vorſtoß wagte, und dann doch jedes- 
mal, dicht vor dem Anprall, mit eleganter Schwenkung die Richtung wechſelte, 
ohne ſich ſelbſt und anderen wehe zu tun, — dieſes Schauſpiel mußte auch bei dem 
trockenſten Philiſter einen äſthetiſchen Genuß auslöſen. Über den flüchtigen Reiz 
der Stunde hinaus aber verdient eine Bemerkung aufbewahrt zu werden, die 
uns den Fürſten als feingebildeten Kulturmenſchen auf einer Entwicklungsſtufe 
zeigt, zu der ſich durchzuringen manchen unſerer Zeitgenoſſen warm empfohlen 
werden kann. Der Fürſt erwähnte — unter lebhafter Unruhe des Zentrums —, 
daß Mitglieder „anderer“ Parteien ſogar die geſellſchaftlichen Beziehungen zu 
ihm abgebrochen hätten. „Vielleicht“, fo fuhr er fort, „trägt mein langer Aufent- 
halt im Auslande dazu bei, daß ich nicht gewohnt bin, daß man ſich gegenſeitig 
geſellſchaftlich ausſchließt, weil man politiſch hart aneinander geraten 
ift oder wirtſchaftlich anders denkt. Fd hoffe, daß fih in dieſer Beziehung 
der Takt noch beſſern wird, und daß man auch bei uns dahin kommen 
wird, wo andere Völker ſchon lange ſind. Namentlich in England denkt man nicht 
fo kleinlich, die politiſchen Gegenſätze auf das perſönliche 
Gebiet zu übertragen. Jd hoffe, wir werden auch dahin kommen, 
daß man den, der in politiſchen, wirtſchaftlichen oder fozialen Fragen anders denkt 
als man ſelbſt, deshalb nicht gleich für einen Narren oder Schurken hält. 
Das wird dann ein ſchöner Fortſchritt auf dem Wege von geiſtiger Gebunden- 
heit, auf der Abſtreifung von Philiſternetzen. Aber vorläufig ſind wir noch nicht 
ſo weit.“ 

Eine etwas bittere, aber recht angebrachte Lektion. Und keineswegs nur für 
den einzelnen, gegebenen Fall. Denn wie ſang doch ſo ſchön jener bekannte Komiker 
im längſt verfloſſenen Berliner American Theater? „In Paſewalk, in Paſewalk 
ſind wir noch nicht fo weit!“. 


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Schwedens hervorragendſte Erzähler 


Von 
Anna Brunnemann 


chweden, ein Land ſchroffer, klimatiſcher Gegenſätze, wo von nimmer- 
müder Sonne durchleuchtete Sommer auf lange, ſtrenge Winter fol- 
gen, das Land träumeriſcher Seen und düſterer Waldeinſamkeiten, 
22 nennt ein lernbegieriges Volk fein eigen, das ſchaffensfriſch auf den 
Bahnen modernſter Zdeenſtrömungen vorwärts ſchreitet und die neuen Kultur- 
werte durch tief aus der heimiſchen Seele geſchöpfte Schätze bereichert. Auf phan- 
taſievolle Romantiker folgten in den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts 
revolutionäre Neuerer, die im Bann großer geiſtiger Führer wie Darwin, Spencer, 
Stuart Mill, Caine und Nietzſche ſtanden. Dem bekannten däniſchen Literarhiſto- 
riker Georg Brandes fällt dabei das Verdienſt gu, dieſe Geiftesheroen den ftandi- 
naviſchen Ländern durch feine Vorleſungen an der Kopenhagener Univerjität er- 
ſchloſſen zu haben. Die eigentlichen Bahnbrecher aber kamen von dem wortkargen, 
grübelnden und ſtarrköpfigen Nachbarvolke, das damals noch mit Schweden ver- 
einigt war, von Norwegen. Dort rüttelten kühne Neuerer an den alten Grundfeſten 
der menſchlichen Geſellſchaft, Staat, Kirche und Ehe. Ihre Werke wurden eifrig dis- 
kutiert: ein Zungſchweden erſtand, das ebenſo kühn mit der Überlieferung brach, 
das mutig alle Schiffe hinter ſich verbrannte und mit der noch lebendigen Aben- 
teuerluſt der alten Wikinger hinauszog, um ein Neuland zu erobern. Eine Fülle 
ſtarker künſtleriſcher Individualitäten tritt uns entgegen, deren Charakter innig mit 
der eigenartigen, an Gegenſätzen ſo reichen Natur ihres Landes verwandt iſt. 
Mit neuen Augen wird unfer Dafein und die Natur, aus deren tiefſten Ur- 
gründen es emporblüht, erſchaut. Jedes, auch das Geringſte, erhält ernſte Bedeu- 
tung, wird zum inneren Erlebnis. Und wenn extreme Geiſter mit einem Male 
alle Schranken durchbrechen wollen, fo wird das tede Umfidfdlagen des Indivi- 
dualismus gemildert eben durch die innige Liebe zur heimiſchen Natur und durch 
den echt germaniſchen Hang zum Träumen. Das bringt den großen nationalen 
Gemeinſamkeitszug in alle Produktion, den wir verſtärkt ſehen durch die tief in den 


SBrunnemann: Schwedens hervorragenbſte Erzähler 527 


Schweden wurzelnde Liebe zum Volkstum und feiner legendariſchen Vergangen- 
heit mit ihren naiven Vorſtellungen, ihrer urſprünglichen Poeſie, ihrer düſteren 
Tragik und ihrem weichen lyriſchen Zauber. 

Gegen die achtziger Jahre hatte der franzöſiſch-däniſch-nordiſche Einfluß eine 
realiſtiſche Strömung mit Abſchweifungen auf das nackt-naturaliſtiſche Gebiet her- 
vorgerufen, die der phraſenreichen Nachromantik ſchlichte Wirklichkeitsſchilderung 
entgegenſtellen wollte. Einige Verfaſſer verbanden damit beißende Geſellſchafts⸗ 
ſatire, doch find die nun auftretenden ſtarken künſtleriſchen Individualitäten keines- 
wegs in den engen Rahmen beſtimmter literariſcher Strömungen zu zwängen und 
mit Schlagwörtern zu rubrizieren: ſie ſind viel zu reich und viel zu ungebunden. 
Gleich Auguft Strindberg (geb. 1849), der erſte große Revolutionär der 
modernen ſchwediſchen Literatur, ſpottet jeder Schranke. Er hat feit feinem epode- 
machenden Auftreten im Jahre 1879 die verſchiedenartigſten Entwicklungsphaſen 
durchlaufen. Strindberg ift unſtreitig der genialſte und vielſeitigſte unter den mo- 
dernen ſchwediſchen Autoren, doch leidet er an einer geiſtigen Zügelloſigkeit, die 
heute in krankhafte Überreizung ausgeartet ift. Auf allen Geiſtesgebieten hat er 
ſich getummelt mit einer nach Ausſpruch ſeines Landsmannes Levertin geradezu 
„diaboliſchen Genialität“. Er iſt eine raſtlos bildende und raſtlos wieder zerſtörende 
Natur; was er heute anbetet, pflegt er morgen zu verbrennen. In einer abwechſe⸗ 
lungsreichen Fülle von Dramen, Romanen, Novellen und hiſtoriſchen Werken 
zeigt er fih nacheinander als Demokrat, Sozialiſt und Altruiſt, um ſpäter unter dem 
Einfluß Nietzſches, der für ihn ein „Befreier“ ward, individualiſtiſchen Tendenzen 
zu huldigen und den Geiſtesariſtokraten zu ſpielen. Der Atheiſt verwandelte ſich 
in den Myſtiker der „Nachtwandlernächte“. Weltbekannt iſt ſein miſogyner Zug, 
der ihm die gehäſſigſten Angriffe auf das weibliche Geſchlecht eingab: vorzüglich 
aufgebaute kurze Dramen, darunter „Der Vater“ das ſchonungsloſeſte iſt, und die 
„Zwölf Ehegeſchichten“, nach denen man ihn ſcherzweiſe als „Profeſſor für un- 
glückliche Ehen“ bezeichnet hat. Strindberg verfügt über eine feltene Vielſeitig- 
keit von Kenntniſſen, die auf manchen Gebieten, wie dem hiſtoriſchen und kultur- 
hiſtoriſchen, ein durchaus fachmänniſches Gepräge tragen. Daher verdankt ihm 
Schweden ganz ausgezeichnete Bearbeitungen von hiſtoriſchen und legendariſchen 
Stoffen, darunter ſein erſtes, ſehr bedeutendes Drama: „Meiſter Oluf“, das den 
nationalen Reformator Olaus Petri zum Helden hat, die „Hiſtoriſchen Miniaturen“ 
und „Die ſchwediſchen Geſchicke und Abenteuer“, Werke, die alle große Beachtung 
verdienen. Zudem gehören ſeine Schilderungen aus dem heimiſchen Volksleben: 
„Die Leute auf Hemſö“, zu den beiten ihrer Art. Ola Hanſſon nennt Strindberg „den 
ausgeprägteften Schweden“, weil er all die ſchroffen Gegenſätze, die ganze Phan- 
taſtik des ſchwediſchen Temperaments in ſich vereinigt und daher ganz beſonders 
befähigt ift, uns die Volksſeele intuitiv zu erſchließen. Seine erſte gejellichafts- 
kritiſche Tat war der Roman „Das rote Zimmer“ (1879). Er zog hier gegen die 
literariſche, künſtleriſche und politiſche Verſumpfung feines Landes, die Nach- 
romantik der ſiebziger Jahre, und gegen den Schlendrian der Bureaukratie mit 
feiner „diaboliſchen Genialität“ und einer ebenſolchen Rückſichtsloſigkeit und Un- 
erſchrockenheit zu Felde und begeiſterte die junge Generation, deren Führer er 


528 Srunnemann: Schwedens hervorragenbſte Erzähler 


wurde, zu gleichen revolutionären Taten. Das Buch rief eine vollkommene Um- 
wälzung im künſtleriſchen und literariſchen Schaffen des Landes hervor. Strind- 
berg hat nun in verſchiedenen Zeitabſchnitten dieſe Kritiken fortgeſetzt („Die 
gotiſchen Zimmer“, „Schwarze Fahnen“) und zwar mit abnehmendem künſtleriſchen 
und ſachlichen Ernſt und mit immer gehäſſigeren Angriffen gegen feine Zeit- 
genoſſen, von perſönlicher Feindſeligkeit diktiert. Das krankhafte, zerſtörende Ele- 
ment in dieſem genialen Dichter trat mit der Zeit immer heftiger hervor und hat 
fein Schaffen ſchließlich zu einem fortgeſetzten Kämpfen gemacht, das ihn zu zu- 
nehmender Vereinſamung und Verbitterung führte. Sein Auftreten aber bedeutet 
einen Markſtein in der ſchwediſchen Literatur, der er manches vollwertige Kunſt⸗ 
werk geſchenkt hat. 

Neben Strindberg glückte es dem in Oeutſchland gleichfalls wohlbekannten 
Guftaf af Geijerſtam (geb. 1858, geſt. 1909), lange Zeit die Geiſter zu 
feſſeln. Er ſchrieb zunächſt einen wackeren naturaliſtiſchen Roman, „Erik Grane“, 
worin ſich ein junger Student, vom Elend des Menſchenlebens erſchüttert, der 
Schilderung des traurigen Alltags zu widmen entſchließt. Wie ſein Held, iſt auch 
er von ſozialem Mitgefühl ergriffen und rührt in ſeinen weiteren Romanen an tiefe 
ſoziale Probleme. Der warme, altruiſtiſche Zug, das was die Franzoſen ſo treffend 
„la religion de la souffrance humaine“ genannt haben, macht ſeine Schöpfungen 
„Jvar Lyth“, „Das Haupt der Meduſa“, „Gefährliche Mächte“, fo ſpmpathiſch, 
ebenſo ſein ſichtliches Streben, ſchroffe ſoziale Klüfte zu überbrücken und den oberen 
Klaſſen ans Herz zu legen, daß Geburt und Bildung verpflichten. Es fehlt ihm 
jedoch an packender Kraft, große ſoziale Bewegungen, die Pſychologie der Maſſen, 
darzulegen. Ganz Bedeutendes leiſtet er dagegen auf volkspſychologiſchem Gebiet, 
ſowie fpdter als Schilderer vornehmer ſeeliſcher Verfeinerung. In ſeinen Novellen 
aus dem heimatlichen Bauerntum „Arme Leute“, „Von der äußerſten Schäre“ 
u. a. m. wird er nur von Strindberg — als Realiſt — übertroffen. Geijerſtams 
ureigenſtes Gebiet aber wurde ſpäter der Eheroman: Das innerſte Weſen der 
heutigen bürgerlichen Ehe, die tiefen Beziehungen von Mann zu Weib, von den 
Eltern zu den Kindern, das ſchildert er mit unendlichem Nuancenreichtum an 
ariſtokratiſch empfindenden, ſeeliſch verfeinerten Menſchen in ſeinen beſten Büchern, 
zu denen der „Roman vom Brüderchen“ gehört. Kaum ſichtbaren Sommerfäden 
gleich ſpinnen ſich hier die feinſten Empfindungen von Seele zu Seele, von jedem 
rauheren Lufthauch bedroht. Auch als Kinderpſycholog leiſtete er hierin Bedeuten- 
des, kaum übertroffen von feinem köſtlichen Kinderbuch „Meine Zungen“, in dem 
es auch an geſundem Humor nicht fehlt. Als Verfaſſer des „Journal intime“ der 
bürgerlichen Ehe fand er ſeinen eigenen Ton; dieſer Ton aber wurde leider als- 
bald bei ihm zur Manier und artete ins krankhaft Sentimentale und Geſuchte aus. 
Obwohl Geijerſtam ſich dadurch einen breiteren Leſerkreis gewonnen hat, haben 
die kritiſchen Führer ſeines Landes längſt hier ein Abnehmen ſeiner künſtleriſchen 
Kraft erblickt, ja man beginnt, die Manie, jede kleinſte Gefühlsdifferenz im Ehe- 
leben zu einem großen entſcheidenden Seelenerlebnis aufzubauſchen und daraus 
„Literatur“ zu machen, geradezu als „die Geijerſtamſche Richtung“ zu verurteilen. 
Dieſe brandmarkt vor allem, allerdings auf die widerlichſte Weiſe, Strindbergs 


Brunnemann: Schwedens hervorragenbſte Erzähler 529 


letzte groteske Geſellſchaftsſatire „Schwarze Fahnen“. Geijerſtam, der ſich ur- 
ſprünglich im Naturalismus verfuchen wollte, liefert das ſchlagendſte Beiſpiel da- 
für, daß eben der Naturalismus niemals in Schweden feſte Wurzeln faſſen konnte. 
Weder Temperament noch Überzeugungen befähigten ſeine Dichter dazu; ihr zum 
Reflektieren geneigter Geiſt konnte ſich nicht mit dem bloß Greifbaren begnũgen; 
er mußte in das Gebiet des Seeliſchen, Spiritualiſtiſchen hinüberſchweifen. Und 
weiter liegt in allen dieſen Dichtern, trotz ihrer humanitären, altruiſtiſchen Welt- 
anſchauung, ein ſtark individualiſtiſcher, ariſtokratiſcher Zug, der bei Behandlung 
ſozialer Probleme nicht fo febr der Maffe, ſondern vielmehr der ifolierten Einzel- 
erſcheinung ſeine Sympathien ſchenkt. Franzoſen und Ruſſen ſteigen im ſozialen 
Roman gern zu ihren auf der Schattenſeite des Lebens ſtehenden Brüdern hinab; 
die ſchwediſchen Dichter löſen weit eher das verfeinerte Individuum einer noch 
ungebildeten Kaſte von ſeinem Milieu los und ziehen es zu ſich empor. Und wenn 
Geijerſtam in einem ſeiner letzten Romane „Gefährliche Mächte“, ſchon dieſen 
Geiſt der Ffolierung predigt und in der wachſenden Solidarität der unteren Klaſſen 
ein gutes Beiſpiel zum Heil vereinſamter Gefühls- und Geiſtesariſtokraten der obe- 
ren Geſellſchaftsſchichten erblickt, vermag er uns durch ſein Werk durchaus nicht 
energiſch genug davon zu überzeugen, daß dieſe Solidarität bald der Geiſt des 
„jungen Schweden“ ſein wird. 

Das Ende des naturaliſtiſchen Romans verkündeten um 1896 Oskar Levertin 
und Werner von Heidenſtam durch eine von ihnen ſelbſt verfaßte und zugleich kritiſch 
zerpflückte Novelle: „Die Heirat Pepitas, der Zigarrenarbeiterin“. Sie waren, 
als feine kritiſche Köpfe, von dem Verſagen des ſchwediſchen Temperamentes auf 
dem naturaliſtiſchen Gebiet überzeugt und vertraten fortan ſpiritualiſtiſche Ten- 
denzen. Levertin, geb. 1862 und leider bereits 1906 dahingerafft, iſt eine 
vornehme Oichternatur mit ſchwermütigem Einſchlag und zugleich eine der fein- 
ſinnigſten literariſchen Perſönlichkeiten von univerſeller Kultur. Er gab den Ro- 
man: „Die Feinde des Lebens“, eine hervorragende, pſychologiſche Studie, ſowie 
geiſtvolle, mit einem leiſen Hauch von Satire durchſetzte kulturhiſtoriſche Erzäh⸗ 
lungen: „Der Magifter von Ofteräs“ und „Rokokonovellen“. Als einer der bedeu- 
tendſten Kritiker feines Landes war er auf dem beiten Wege, ſich als Ejfayift und 
Profeſſor der neueren Literatur einen Namen zu machen. 

Das philoſophiſch-allegoriſche Gebiet wählte fih zunächſt Werner von 
Heidenſtam, geb. 1859, mit den Romanen „Endymion“ und , Hans Alienus“. 
Später wandte er fih dem kulturhiſtoriſchen Gebiet zu und ſchilderte in der No- 
vellenfammlung „Karolinerna“ die Zeit Karls XII. In „Der heiligen Brigitta 
Pilgerfahrt“ beſchwor er ein Stück Mittelalter herauf und vertiefte ſich ſodann 
mehr und mehr in die halb legendariſche Vergangenheit ſeines Volkes, was ihn den 
gewaltigen Plan einer Folge von Romanen aus der Entſtehungszeit des ſchwe⸗ 
diſchen Reiches, deſſen Wurzeln im Bauerntum liegen, faſſen ließ. Von dieſer 
groß angelegten Arbeit, „Folkungaträdet“ (der Baum der Folkunger), ſind nunmehr 
die erſten beiden Bände „Folke Filbyter“ (der Stammvater des Folkunger Ge- 
ſchlechts) und „Bjällbo-Arfvet“ (das Erbe Bjällbos), erſchienen, packende Beit- 
gemälde von großzügiger Kraft im SEET des Nationalen. In ihrer vollen- 

Der Türmer XI, 10 34 


530 Brunnemann: Schwedens hetvorragendſte Erzähler 


deten Form und ſtiliſtiſchen Meiſterſchaft — Heidenſtam gilt als einer der glän- 
zendſten Stiliſten Schwedens — ſind ſie als vollwertige Kunſtwerke anzuſprechen. 
Zudem iſt die Stimmung in Schweden derartigen Produktionen, die das Ureigenſte 
des nationalen Volkscharakters an ſeinen Wurzeln aufſuchen, beſonders ſeit der 
Trennung von Norwegen, günſtig und daher wurden diefe Werke Heidenſtams 
mit Begeiſterung aufgenommen und der Oichter erfreut ſich heute einer allerdings 
wohlverdienten Popularitãt. 

Mehr und mehr wandten ſich nun die jüngeren Autoren dem Ideenroman 
und Drama zu, darunter vor allem Tor Hedberg, geb. 1862, der das Judas- 
motiv auf feffelnde Weiſe im Roman und Drama behandelte und eines der beiten 
Dramen Schwedens geſchrieben hat, „Johann Alfitjerna“, ein Stoff aus Finn- 
lands ſchwerer politiſcher Bedrängnis. Hedberg ift, wie es Levertin war, zugleich 
ein ausgezeichneter Eſſayiſt, ein hervorragender Literatur- und Kunſtkritiker. 

Ganz bedeutende Talente beſitzt Zungſchweden beſonders auf dem Gebiet 
der Novelliſtik. Ola Hanſſons (geb. 1860) Kunſt weiß in „Sensitiva amo- 
rosa“ die Schilderung ſeeliſcher Krankhaftigkeit durch die Poeſie echter Schönheit 
zu verklären. Er ſingt in ergreifenden Tönen das Lied von Menſchen mit allzu 
zart organiſiertem Empfindungsleben — freilich enthalten faſt alle ſeine Bilder 
DSetadengmotive, banges Erlahmen des Willens vor dem rauhen Griff des Lebens. 
In ſpäteren Skizzen ſchlägt der Verfaſſer etwas kräftigere Töne an, hat jedoch die 
künſtleriſche Höhe ſeines Hauptwerkes nicht wieder erreicht. 

Als der Meiſter aber der ſchwediſchen Novelle ift heute Per Hallſtröm 
(geb. 1866) anzuſehen, eine träumeriſche Natur, von unendlicher Schönheits- 
ſehnſucht erfüllt. Seit dem Bruch mit dem Naturalismus iſt überhaupt wieder 
das Element der Schönheit leidenſchaftlich heraufbeſchworen worden, ja man kann 
von einer wirklichen Schönheitsrenaiſſance reden. Ganz erfüllt davon iſt Hall- 
ſtröms köſtlicher „Florentiner Abendtraum“. Gern bewegt ſich ſein wunderbar 
reiches Phantaſieleben in Halbſtimmungen zwiſchen Traum und Wirklichkeit, aus 
denen heraus er farbenreiche, empfindungswarme und doch mit der tiefen Schwer- 
mut des Nordens überhauchte Bilder ſchafft. Der Dichter verbindet den genialen 
Naturſchilderer mit einem Seelenkünder von ſeheriſchem Tiefblick. Viele ſeiner 
Menſchen find ganz Seele; in anderen wächſt das mühſam gurtidgebaltene Innen- 
leben zu einer ſolchen Machtfülle an, daß es tötet, wenn es endlich befreit wird. 
So geſchieht es mit Ingert, dem liebenden Weibe aus ſeiner Meiſtererzählung 
„Das Stumme“ (enthalten in der Sammlung „Die vier Elemente“). Als wort- 
karge Menſchen nordiſcher Cindden haben Ingert und Gabriel nie das erlöfende 
Wort für ihre gegenfeitige Liebe gefunden und Ingert hat ſich einem anderen ver- 
mählen laffen. Doch als diefe Weibesſeele nach Jahren endlich ihr innerſtes Geheim- 
nis offenbart, bricht fie unter dem jubelnden Geſtändnis tot zuſammen. „Das 
Stumme“ gehört zu den edelſten Werken geſteigerten Seelenlebens und knapper 
tragiſch gefaßter Schilderungskunſt, die die Literatur überhaupt hervorgebracht 
hat. Und dabei, welch meiſterliches Stück Volkspſychologie! Natur und Menfden- 
tum ſtehen hier in tiefinnerlichem Zuſammenhang; in der an eigenartigen Schön- 
heiten reichen Einſamkeit lebt ein ſtarkes Volk, „gewohnt, ſich zu beherrſchen, aber 


Brunnemann: Schwedens hervorragendſte Erzähler 531 


feinhörig für die Regungen feiner Seele, ſtumm in feiner Tätigkeit, noch ſtummer 
in ſeiner Freude“. Hier berührt ſich Hallſtröm mit der warmen Verkünderin der 
ſchwediſchen Volksſeele, Selma Lagerlöf, die eben als ſolche den hervor- 
ragendſten Schriftſtellern ihres Landes ebenbürtig zur Seite ſteht. (Vgl. den Auf- 
ſatz „Schwedens größte Dichterin“, Türmer, 1908, XI. Ihrg., Heft 3.) Wie fie 
verſucht ſich auch Hallſtröm in der Schilderung fremdartiger Umgebungen mit 
einem fafzinierenden Zauber, einer ſtarken, Stimmung weckenden Kraft. Er ift 
dabei unnachahmlich fein in der Durcharbeitung der Einzelheiten und ſtimmt doch 
alles zuſammen zu einem harmoniſchen Einheitsklang, deffen Grundton das 
Seeliſche ift. „Die Seele der Dinge“ aus den mannigfaltigen Erſcheinungen her- 
auszulöſen, verſteht kaum einer ſeiner Landsleute wie er. 

Dieſen hervorragenden Erzählern find noch einige ganz vortreffliche Cr- 
zählerinnen anzureihen: zunächſt Sophie Elkan (geb. 1853), mit mehreren 
Sammlungen verinnerlichter Novellen und zwei wertvollen geſchichtlichen Romanen, 
in denen das Milieu auf geiſtvolle Weiſe geſchildert wird: „John Hall“ und „Guſtav 
IV. Adolf“. Ferner gab Hild a Angered Strandberg mehrere ſehr eigen- 
artige peſſimiſtiſch gefärbte Schilderungen aus dem ſchwediſch- amerikaniſchen Leben 
(„Die neue Welt“), und die geiſtvolle Ros mopolitin gane GernandtClaine 
(fie ijt mit einem franzöſiſchen Forſcher verheiratet) wählt für ihre elegante, fein- 
ſinnige Novelliſtik Stoffe aus allen Weltteilen, wobei ihr allerdings der eigenartige 
nationale Zug ihrer Erſtlingswerke mehr und mehr verloren geht. 

Eine Sonderſtellung nimmt der Füngſte unter den modernen Autoren, 
Hjalmar Söderberg, geb. 1869, ein, deſſen Geſellſchaftsdrama „Gertrud“ 
wegen ſeiner tief aus der Frauenſeele geſchöpften Pſychologie vor einigen Jahren 
großes Aufſehen erregte. Söderberg, ein Stockholmer Kind, der ſeine Stoffe vorwie- 
gend aus dem Leben und Treiben der Hauptſtadt wählt, iſt ein an der franzöſiſchen 
Schule gereifter Realiſt. Man hat ihn nicht mit Unrecht „den ſchwediſchen Anatole 
France“ genannt, deffen überlegene Skepſis und Zronie er teilt. Sein Stil ift wie der 
des größten franzöſiſchen Stiliſten geradezu kriſtallklar; er trat künſtleriſch als bereits 
völlig Reifer vor die Öffentlichkeit, und in den Novellenſammlungen „Verirrungen“ 
und „Hiſtorietten“ bietet er in der Konzentration auf das Weſentliche bei ſchlagender 
Deutlichkeit das denkbar Vollendetſte. Auf drei bis vier knappen Seiten werden 
uns Lebens- und Stimmungsbilder, oder in gefteigerten Momenten des pſychiſchen 
Lebens erfaßte Zuſtände vorgeführt und zwar von einer ſolch ſuggeſtiven Kraft, 
daß ſie trotz ihrer Knappheit unendliche Verkettungen in uns auslöſen. Seine 
vorherrſchende Note ift eine feingeſchliffene Jronie, die ihre Spitze gegen das 
„Allzumenſchliche“ richtet. Diejen kleinen Kunſtwerken reiht ſich würdig der Ro- 
man „Martin Birks Jugend“ an, die grau in grau gefärbte Geſchichte eines kleinen 
Stockholmer Beamten, der auch einmal in ſeiner Jugend Verſe gemacht und 
davon geträumt hat, „in einem großen Leidenſchaftsbrand zu verbrennen“, und 
nun langſam erfriert im Einerlei des Alltags, in der Tretmühle des Berufs, die 
ſein Daſein in einen bloßen Mechanismus verwandelt. 

Eine ungemein reiche und urſprüngliche Produktionskraft, die ſich raſtlos 
ſchaffend auf den vielſeitigſten Gebieten betätigt, hier allen modernen Zeitpro⸗ 


532 — Der Noman eines Lebens 


blemen Rechnung trägt, dort ſich nur ausleben will in ihrer ganzen, friſchen Phan- 
taſiefülle, und die da das Höchſte erreicht, wo ſie hinabtaucht in die Tiefen der 
Volksſeele, in die Eigenart der heimiſchen Natur: fie iſt das Merkmal des jung- 
ſchwediſchen Schrifttums. Genialen ſchöpferiſchen Begabungen, wie Strindberg, 
Heidenſtam, Selma Lagerlöf, Per Hallſtröm, zu denen ſich noch mehrere tüchtige 
Lyriker geſellen, reihen fich vertiefte, mit den reifſten Früchten europäiſcher Rul- 
tur vertraute Schriftſteller an, ebenſo viele Beweiſe für die elementare, noch un- 
verbrauchte Schaffenskraft des ſchwediſchen Volkstums, wie für feine hohe künſt⸗ 
leriſche Empfänglichkeit. 


Der Roman eines Lebens 


Cs Kë, s gehört zum Tiefſten menſchlicher Tragik, wenn ein Leben, das zum Großen, Vollen, 

€ © JB Ganzen geſchaffen ſchien, Bruchſtück bleibt, weil „ein Übermaß in feines Blutes 
— miiſchung“ den Menſchen hindert, feine Gaben zu einer geſchloſſenen Wirkung zu 
ſammeln. Ein Überſchuß irgendeiner Eigenſchaft, die an ſich nicht zu verwerfen, ja ſogar zu 
loben iſt, wird zum Fehler, der eine merkwürdig ſchwächende Wirkung auf alles Sonſtige des 
Lebens ausübt. Benjamin Conſtant, dieſer eigenartige Franzoſe, iſt ein Schulbeiſpiel 
für dieſe tragiſche Zuſammenſetzung. Sein Grundfehler iſt das Mitleid. Das Fehlen einer 
entſchloſſenen Härte, wenn das Leben fie gebietet. Dieſer Grundfehler der Schwäche gegen 
ſich und andere, das Sich-und-andern-nicht-wehe-tun-können läßt fih wie ein Stockfleck auf 
jedem Blatte feines Lebensbuches finden. Die größten Torheiten, die Benjamin Conſtant be- 
gangen hat, entſpringen dieſem Fehler, und das Tragiſch-Froniſche dabei ift, daß die aller- 
größten Dummheiten dann von ihm gemacht werden, wenn er dieſes Mitleid, dieſe Schwäche 
beſiegen und handeln will. 

Wer war Benjamin Conſtant? Das feine und intereſſante Buch, das Joſeph Ett- 
linger als gründlichſter deutſcher Kenner dieſes merkwürdigen Lebens ſoeben unter dem 
Titel Der Roman eines Lebens (Benjamin Conſtant, Oer Roman eines 
Lebens von Joſeph Ettlinger. Mit neun Abbildungen, Quellen- und Namen- 
verzeichnis. Berlin 1909, Egon Fleiſchel & Ko.) herausgegeben hat, gibt uns zu dieſer Frage 
ausreichende, man kann fagen erſchöpfende Antwort. Es füllt eine Lücke aus und wird 
hochwillkommen ſein. 

Wenn man dieſes Leben betrachtet, das tatſächlich wie ein einziger Roman anmutet, 
ſo ſieht man ſich mitten in eine nach allen Seiten hin gewitterhaft Entwickelungsblitze aus- 
ſtrahlende Zeit geſtellt. Es iſt die Zeit der gewaltigen Revolution in Frankreich, des Uſurpators 
Napoleon, der großen literariſchen Genies in Deutſchland, der Reaktion und abermaligen 
Revolution in Frankreich, der Romantik in Deutſchland, der fic) vorbereitenden Sozialreform 
in England, in welche der erſte Ruf der Frauenrechtlerinnen hereintönt. Es iſt die Zeit großer 
Menſchen und es iſt die Zeit ſeltſamer Menſchen. Es iſt die Zeit, da ein einziger titaniſch-frecher 
Wille wie der Napoleons Europa in die Taſche zu ſtecken vermag. Und es ift die Zeit, da pradt- 
volle Intelligenzen und Veranlagungen zugrunde gehen oder mit halbgeſcheitertem Fahrzeug 
ſich auf den Wellen der Zeit treiben laſſen. Es iſt die Zeit, da man die Schar der Berufenen 
kaum zu überſehen vermag und da doch ein nur geringer Bruchteil zu den Erwählten gehört. 
Es ift die Zeit, da Menſchen auftauchen, die um ihres eigenartigen Lebens willen beadtens- 
werter find als um deſſentwillen, was fie geleiſtet haben. Niemals feit den Zeiten der Renaij- 


Der Noman eines Lebens 533 


fance fab man fo individuelle Menſchen wie in dieſer Zeit. Es ift die Zeit von etwa 1780 bis 
1850. Zn diefe Zeit fällt die Hauptlebenstätigkeit Benjamin e des in vielen Beziehun- 
gen intereſſanteſten Franzoſen jener Zeit. 

„Sdeologe“ hat ihn einmal Napoleon ſpottend genannt. Er hat einen großen Teil 
feines Weſens damit prägnant charakteriſiert. Benjamin Conſtant, der Sohn eines ſchweize⸗ 
riſchen Haudegens, hatte vom Vater als edelmänniſch-kriegeriſche Eigenſchaft nur eine Nei- 
gung zu Duellen geerbt; eine Art gleichgültiger Verſchwendung des Lebens, etwa wie Lord 
Byron; daneben eine nicht ſehr rühmliche Spielſucht. Nicht aber leider die Entſchloſſenheit 
des Soldaten. Er ſtammt aus Kreiſen und iſt in Kreiſen aufgewachſen, welche die ariſtokratiſche 
Ausbildung mit einer gefährlichen Frühreife bezahlten. Nicht Benjamin Conſtant allein, viele 
andere jener Zeit trugen den verhängnisvollen Keim jener Frühreife verderbend in ſich: ich 
nenne neben Byron nur Alfred de Muſſet für Dutzende von andern. Wo wie bei Byron und 
Muſſet ſich das Frühreife als poetiſcher Niederſchlag zeigte, trägt es das Charakteriſtikum des 
Unbefriedigtſeins und des Suchens nad ſtets neuen Erregungen; die frühe Müdigkeit; die allzu 
frühe Mündigkeit; das Verſchobenſein des Lebens und Schaffens und damit die Unrichtigkeit 
ſeines Aufbaus, ſo daß ihr Dichten daſteht wie ein jählings vom Baumeiſter im Stiche gelaſſenes 
Bauwerk. Wo bei Benjamin Conſtant dieſe Müdigkeit in Wirkung tritt, zeigt fie ſich als allge- 
meiner Lebens- und Weltanſchauungsausdruck peſſimiſtiſcher Natur. Wenn man das Tage- 
buch Conſtants, das Journal intime lieſt, ſo glaubt man zuweilen, Schopenhauer zu lefen. 

Das praktiſche tatſächliche Erfaſſen des Lebens, in dem Benjamins gewaltiger Beit- 
genoſſe Napoleon fo groß war, wird bei Naturen wie Benjamin Conſtant durch diefe Frühreif⸗ 
heit und die daraus hervorgehende Läſſigkeit und Unentſchloſſenheit wenig gefördert. Wir 
ſehen diefen außerordentlich klugen Menſchen faſt an jeder Gelegenheit, das Leben zu geftal- 
ten, vorbeigehen. Nicht er führt das Leben, ſondern das Leben führt ihn. Ein großer Teil dieſes 
Lebens gilt der Wiſſenſchaft. Ein großes Werk über die Religionen wird ſchon in der Frühzeit der 
Studien, denen ſich Conſtant widmete, mit Eifer begonnen. Der ewig ruhelos Umhergetriebene 
wird erft im ſechzigſten Jahr den erſten Band ſchreiben, und das ganze Werk hat das Schickſal, 
zu verſtauben. Ein anderer Teil dient der Literatur. Goethe und Schiller werden in dem Leben 
Conſtants von Bedeutung. Er ift mit den dichteriſchen Oioskuren in engſter Fühlung und über- 
fegt den Wallenſtein ins Franzöſiſche. Wieder ein anderer Teil dient der Politik und den Sozial- 
wiſſenſchaften. Dieſer Teil ſeines Lebens iſt der ausgebauteſte und hat ihm auch die meiſten 
tatſächlichen Früchte gereift. Hat doch ein Napoleon ihn feines Haſſes und ſpäter feiner 
Gunſt für würdig gehalten! Aber in allem dem ſieht man immer wieder den Geiſt der Un- 
befriedigung, der alle möglichen Dinge aufſucht, um fie alsbald wieder zu verlaſſen. Ein Genie 
wie Goethe konnte den tauſend Spuren des Lebens folgen, ohne ſich zu verlieren. Ein Talent 
wie Benjamin Conſtant mußte fih notwendigerweiſe, bei bedeutſamen Leiſtungen im einzel- 
nen, im ganzen verzetteln. 

Von allen Hemmungen dieſes Lebens war das Weib die ſtärkſte und folgenſchwerſte. 
Es ift immer ein Zeichen niedergehender, ſchwächerer Naturen, wenn das Weib beherrſchend 
wird. Man kann hier einleuchtende Parallelen ziehen. Ein Goethe hatte unendlich viel unter 
dem Weib zu leiden. Aber es hat ihm für feine Sichtung unendlich viel gegeben. Er war eben 
Künſtler. Ein Schiller hat das Weib als beherrſchende Macht ausgeſchaltet. Und nicht zum min- 
deſten darum hatte er den großen Willen zum Vollbringen. Ein Napoleon, der mitten in fei- 
nem ungeheuren Tatendrang Gemüͤtsmenſch wurde, wenn es ſich um ein geliebtes Weib þan- 
delte, hatte gleichwohl die Kraft, mit Zofephine Beauharnais zu brechen, da fein Intereſſe, 
ſein Leben, feine Zukunft es verlangten. Benjamin Conſtant, vor die Trennung von Madame 
de Sta öl geftellt, hatte nicht den Mut. Er konnte nicht wehe tun. Nicht ihr. Nicht ſich. 
Das böfe Mitleid faßte ihn immer wieder, und fo ward er feig und beinahe ſchlecht, mit dem 
Gefühl dieſer Unzulänglichkeit im tiefſten Herzen. 


534 Der Roman eines Lebens 


Sola inconstantia constans, hat fih Benjamin einmal fpottend felbjt charakteriſiert: 
die Unbeſtändigkeit ift feine Beſtändigkeit. Die Konſequenz der konſequenten Inkonſequenz. 
In dieſem ſprunghaften unaufhörlichen Verzerren einer einheitlichen Lebenslinie ift er zugleich 
der unruhige Galller, wie ihn Cafar gezeichnet hat. Galliſch ift auch fein trockener und doch fun- 
kelnder Witz, feine Dialektik, feine beſtechende Konverſation. „Le premier esprit du monde!“ 
nannte ihn Frau von Stasl. Galliſch ift endlich fein Hang zum Weib. Tragikomiſch ſpielt fein 
Scherzwort vor allem hier. Und zur erſchütternden und zugleich beſchämenden Tragödie wächſt 
es fih aus in feinen Beziehungen zu Frau von Stadl. Von allen den ſchöngeiſtigen und ftark- 
willigen Frauen, welche die Aufklärung und das Revolutionszeitalter Frankreich und Deutid- 
land brachte, war fie die Raffigfte, Willensmächtigſte, Tatkräftigſte. Ihr ganzes Weſen war 
auf Beherrſchung des Mannes geſtellt. Sogar ein Napoleon ſollte ihr Werkzeug werden. Allein 
er hatte den natürlichen Inſtinkt des Tatmenſchen gegen das Tatweib und feinen Herrfcher- 
willen. Er ließ ſie kurzerhand aus Frankreich ausweiſen. Ein feinnerviger, willensſchwacher 
philoſophiſcher Menfch wie Conſtant mußte ihr zum Opfer fallen. Und er ward ihr Opfer. 
Es mag das frühe Eintreten des Liebesgenuſſes fein, das wie bei Alfred de Muffet ihn mit die- 
ſer lodernden Heftigkeit des Temperaments erfüllt hatte, welche raſch aufflammt, ganz und gar 
bis zur Beſinnungsloſigkeit ſich hingibt, um dann Sklave zu werden bis zur Unwürdigkeit. 
Und Benjamin Conſtant ward Sklave von Frau von Stasl. Ettlinger läßt dieſen Liebesroman, 
den Conſtant im fpdten Leben in feinem pſychologiſchen Roman „Adolphe“ fo wahrheitsgetreu 
in engſten Rahmen gefaßt hat, in breiter Fülle an uns vorbeiziehen: erft ift Conſtant heftig an- 
gezogen, dann langſam abgeſtoßen, dann zu mitleidsvoll, ein Ende machen zu können, immer 
wieder verſtrickt in das zuerſt ſelig⸗ qualvolle, dann nur noch qualvolle Netz der homme - femme, 
des Mannweibes, wie Conſtant ſelbſt Frau von Staël charakteriſiert, immer wieder im Verſuch, 
zu entrinnen, bis er endlich die Maſchen durchreißt, aber mit Verluſt des weſentlichſten Teiles 
ſeiner Perſönlichkeit. In der Entwicklungsgeſchichte des Verhältniſſes zwiſchen genialem Weib 
und geiſtvollem, aber ſchwachem Mann wird dieſe von Ettlinger mit der feinen Hand des er- 
fahrenen Pſychologen erforſchte und geſchilderte Liebestragödie einen Markſtein bilden. 

Um diefe Zentralſonne des Weib Erlebens Conſtants fluttuieren eine große, faſt zu große 
Anzahl anderer Weiblichkeiten. Eine eigentümliche und wiederum für ſchwache Mann Naturen 
bezeichnende Vorliebe für be mutternde Frauen kennzeichnet Conſtants Liebesdramen. 
Da ijt zuerſt die Frau von Charriere, eine mütterliche Freundin. Später ift ihm ähnlich bedeut- 
fam Julie Salma, die Gattin des großen franzöſiſchen Tragöden. Die ſchöne ſirenenhafte 
Madame Recamier, für die er im ſiebenundvierzigſten Lebensjahr eine tragiſch- lächerliche Leiden- 
ſchaft faßt, eine zuweilen beelendende echte Paſſion eines alternden Mannes, bemuttert ihn 
desgleichen. Es ift weiterhin für Conſtant, aber auch für die ganze Zeit charakteriſtiſch, daß die 
geſchiedene oder die mißverſtandene, von ihrem Gatten innerlich leer gelaſſene Frau ſein Liebes- 
leben beherrſcht. Die femmes de trente ans und die femmes de quarante ans galten mehr als 
die vollwangige friſche Jugend. Sie gaben dem geiſtigen Suchen, der allgemeinen Schöngeiſterei 
mehr. Zudem lag jener eigentümlich mächtige Zug der Lebens- und Liebeserfahrenheit in 
ihrem Weſen, der zumal den jüngeren Mann fo gerne in Feſſeln fchlägt. 

Die Tragikomik des Conſtantſchen Liebeslebens wird nicht zum mindeſten in feinen beiden 
Heiraten offenbar. Die eine geſchah in jugendlichem Alter mit einem Weibe, zu dem ihn das 
Mitleid geführt hatte. Sie endete, wie ſich vorausſehen ließ. Die zweite Heirat mit Charlotte 
von Tertre, geſchiedene von Mahrenholtz, geborene von Hardenberg, ſollte ihn von Frau von 
Staël erlöſen. Die Geſchichte dieſer Heirat bietet das traurigſte Schwanken eines Mannes 
zwiſchen zwei Frauen. Von Frau von Staél kommt er nicht los, weil er ihr nicht wehe tun kann, 
und der im ſtillen ihm bereits angetrauten Frau ſoll und will er doch gehören! So wächſt die 
tragiſche Verwirrung ins Unendliche. 

Man hat Benjamin Conſtant eine Werthernatur genannt. Man hat ihm und Werther 


Det Roman eines Lebens 535 


damit unrecht getan. Zum Werther war Conſtant eine trotz aller Hemmungen zu rhrige Natur. 
Und in den Zahren, in welchen naturgemäß das Weib feine Rolle ausgeſpielt haben muß, 
ſehen wir dieſen Mann eine außerordentlich reiche politiſche Tätigkeit durch lange Jahre ent- 
falten, der die geiſtige nebenhergeht. Ein Werther war er nicht. Dazu fehlte ihm bei aller Weich- 
heit das Gemüt. Er war Franzoſe. Er war Europäer. Einer jener ewig Reiſenden, wie 
ſie die Spezialität jener Zeit ſind. Ein unendlich feiner, einer der feinſten Beobachter. Jenes 
innig-deutſche Erfaſſen des Menſchen aber und vor allem jenes Einswerden der Menfchen- 
ſeele mit der Natur Werthers hatte Conſtant nicht. Die Natur ſchien ihm nicht viel zu ſagen. 
Goethes Fauſt verſtand er gar nicht und ſtellte ihn unter Voltaires Candide. Seine Wallenitein- 
uͤberſetzung ift wenig genießbar. Dennoch müſſen die Oeutſchen in ihm wie in Frau von Stasl, 
der Verfaſſerin des berühmten Buches L’Allemagne, einen Bahnbrecher für deutſche Kultur 
erblicken. Seine Vorrede zum „Wallſtein“ enthält eine Reihe feinſter Bemerkungen über das 
deutſche Drama und zeigt ihn als entſchloſſenen Gegner der drei Einheiten. Freilich wird dieſe 
Tatſache wieder etwas getrübt dadurch, daß feine Aberfetzung ſtockfranzöſiſch ift — Goethe machte 
ſich mit Recht darüber luſtig —, und daß Tiecks konfuſer Roman „Sternbald“ ihn mit ſeiner 
frömmelnden Süßmeierei ſehr anzog, wie er auch bezeichnenderweiſe die Zukunft des Dramas 
in Dramen A la Zacharias Werner fah. Man erkennt aus allen feinen Verſuchen, ſich Deutſch⸗ 
land zu eigen zu machen, aller Ende nur die Schwierigkeit far den Franzoſen, deutſches Weſen 
zu verſtehen; eine Schwierigkeit, die überhaupt nicht zu beheben ſein wird. Gleichwohl hebt 
Conſtants Eintreten für deutſche Kultur ihn vor ſeinen Zeitgenoſſen beachtenswert hervor. 

Aberblicken wir Conſtants Leben — er ſtarb hochbetagt und von der Nation betrauert —, 
fo bleibt zunächſt das Relief einer außergewöhnlichen Perſönlichkeit, umgeben von einer un- 
gemeinen Fülle bedeutfamer Zeitgenoſſen, auf dem Hintergrund einer großen, mächtig be- 
wegten Zeit. Dieſe Perſönlichkeit zeigt alle Züge des modernen Nenſchen nach jener Rid- 
tung hin, wie ſie in der Literatur und Philoſophie auf lange Zeit vorwiegend geworden iſt. 
Wir ſehen den Romantiker und feine Fronie vorgebildet. Wir ſehen die Zerfaſerung einer un- 
aufhörlich ſich ſelbſt beſpiegelnden und unterſuchenden Natur. Wir ſehen die weltfremde, un- 
befriedigte Traurigkeit, die ſich vergeblich unter Skepſis und rauſchendem Erleben verbergen 
will. Wir ſehen eine Fülle von Got, dem die wahrhafte Wärme mangelt. Wir ſehen glän- 
zende Eigenſchaften, die dennoch keine endgültigen ſieghaften Wirkungen hervorbringen. Allem 
dem fehlt noch die eigentliche E i e be. Das, was Goethe in fo wunderbarem Maße an fic hatte: 
das Sich-zu-eigen- machen des Daſeins. Wenn man das hochintereſſante 
Buch Ettlingers lieft, hat man ein Bild vor fih: unermüdlich ſchöpft ein Menſch Welle um Welle, 
um fie zerrinnen zu laffen. Von aller der ungeheuren Gelehrten; und Politikerarbeit Conftants 
iſt für die Geſchichte nur das eine erinnerungsfriſch geblieben, daß Conſtant nach der Rückkehr 
Napoleons von Elba mit einem jähen Frontwechfel fidh in die Dienſte des von ihm fo lang und 
leidenſchaftlich bekämpften Korſen geſtellt hat; ſicher mit der beſten Intention und in einer 
jener Regungen des Edelmutes, die fein Leben auszeichnen. Freilich: er ward dadurch ge- 
ſchichtlich der Typus des Renegaten; sola inconstantia constans. Ettlinger ſucht den Beweis 
zu erbringen, daß Benjamin Conſtant mit dieſer Frontänderung recht gehabt habe. Und ge- 
wiß wird man bei ernſter Prüfung Conſtant einer Charakterloſigkeit hier nicht zeihen können. 

Ein Bleibendes für die Literatur hat Benjamin Conſtant als Beſtes aus dem 
Meer der Zeit geſchöpft: feinen „Adolphe“ (übertragen von Zoſeph Ettlinger, bei 
Hendel, Halle a. d. S., erſchienen) Sein „Ich“ und feine Stellung zum Leben und zum Weib, 
feine Tragödie mit Madame de Stasl hat er in dieſem kleinen Werk widergeſpiegelt in taufend 
feinſten Nuancierungen. Kein Dichter, ift er in dieſem Selbſtbetenntnis unbewußt unter die 
Dichter gegangen, die zu allen Zeiten in ihrem Beſten auch wahre Bekenner waren. Zn- 
dem die Hand des Wiſſenſchaftlers und Philoſophen dieſes Werk ſchuf, machte fie es zum Grund- 
ſtock des modernen Experimentalromans. Es ijt das Bild des an der Welt 


536 Von mexilaniſcher Syrit 


leidenden, des ſchwachen Menſchen. Für uns Menſchen des zwanzigſten Jahrhunderts muß 
dieſer Conſtant-Adolphe, dem wir unfer Zntereffe, ja unfere Sympathie nicht durchaus ver- 
fagen dürfen, ein zu Uberwindendes fein. Einer hat uns den Weg gezeigt: Goethe. 
Die bewußte, feſt angreifende Willenskraft muß alle Skepfis, alle Welttrauer beſiegen. Höher 
als der Roman eines Lebens ſteht die Tat. Die menſchliche wie die dichteriſche. Das lehrt uns 
Conſtant-Adolphe mit ſeinem Roman! Albert Geiger 


R 
Von mexikaniſcher Lyrik 


i er kennt das Vaterland Montezumas? Von Angeſicht zu Angeſicht wohl nur wenige, 
UG Gs aber der es geſchaut hat, dem wird es unvergeßlich bleiben. Selten lieft man den 
I Namen Merito in den Zeitungen; das Land ift nicht die Wiege welterfchütternder 
Ereigniffe, ruhig und ſtetig entwickelt es fih, nachdem es nun die Geburtswehen überſtanden 
hat. Nur Mutter Erde kann ſich die Märzgedanken nicht aus dem Kopfe ſchlagen, und niemals 
ift man vor ihren Pronunciamentos ficher, die fih in Erdbeben und Vulkanausbrüͤchen äußern. 
Wird ſchon vom Lande wenig Aufhebens gemacht, wieviel weniger von ſeinem geiſtigen 
Leben, und wer hat ſchon von mexikaniſcher Literatur gehört? Wir wühlen in den literariſchen 
Rumpelkammern aller Nationen, Völker und Völkchen umher, als gelte es, verzauberte Dorn- 
rischen zu befreien oder ſpinnwebüberzogene Ewigkeitsgedanken ans Licht zu bringen. Sollen 
wir an Mexiko vorbeigehen? Das Land verdient es nicht; Mexiko hat eine Literatur und echte 
und ſchlechte Poeten. 

Das Schönſte in dieſer mexikaniſchen Literatur ift die Sprit, Eine ſeltſame Blume, 
dieſe Lyrik; eine Blume, ſchwermutig und von narkotiſchem Duft, wie fie im Schatten fchwüler 
tropiſcher Wälder träumen. Und es iſt doch ein Sonnenland, dieſes Mexiko, und der Himmel ſo 
blau wie über Italiens Fluren! Woher kommt das ſchwere Blut feiner Dichter? Es ift das 
Erbe der Raſſe. Das wenige ſpaniſche Blut konnte den Ernſt der indianiſchen Raſſe nicht ver- 
drängen, und in den mexikaniſchen Oichtern als den Repräfentanten ihres Volkes kommt dieſer 
ſchwere Charakter zum Ausdruck. 

Sn der Dämmerung mexikaniſcher Literatur tept ein Weib: Sor Juana Ines 
de la Cruz, Nonne im Kloſter des hl. Fofeph in Mexiko. Sie ſtarb 1695 an der Peſt, die fie fid 
bei der Pflege Peſtkranker zugezogen hatte. Obſchon eine Nonne, find ihre Gedichte keine reli- 
giöſe Schwärmerei und Kirchenlieder; fie find der Ausfluß einer verhaltenen Leidenſchaft. 
Sie mag wohl eine der erſten Frauen geweſen ſein, die für Frauenrechte eingetreten ſind. In 
einem Gedichte „Advertencias“ N verteidigt fie ihr Geſchlecht und greift die An- 
ſichten der Männer heftig an. 


Sw 


„Ziel aud manche der Sünde zum Sold, | Da bie Schuld euch felber ja flucht, 
Wer hat zu verdammen mehr Gründe? Git es euer Recht zu verfemen ? 

Oie, welche fünbigt für Gold, Macht ſie zu dem, was ihr ſucht, 
Oder der, welcher zahlt für die Sünde?  . Wie ihr ſie machtet, müßt ihr ſie nehmen!“ 


Einen eigentlichen Aufſchwung nahm die Literatur erſt in den Befreiungskriegen und 
Revolutionen, und aus jener Zeit ift einer der Größten Vicente Riva Palacio. Er 
liebte ſein Vaterland glühend und verteidigte es nicht nur in Wort und Schrift, ſondern zeichnete 
fih auch auf dem Schlachtfeld aus und nahm ſelbſt am blutigen Orama von Querretaro teil. 
Seine Sichtungen umfaſſen eine ganze Skala menſchlicher Leidenſchaften und Gefühle. Er be- 
herrſchte ſie alle: Scherz und E SE ai N und den jauchzenden Hym- 
nus an das Vaterland. 


Von menxitaniſcher Lyrit 537 


Ein Beiſpiel von Intelligenz und Tüchtigkeit der eingeborenen Raffe ijt 8 gnaeiĩ o 
Altamirano, Indianer von reinſtem Blute, wie auch Mexikos größter Staatsmann, 
Benito Juarez. Sein Leben war ein arbeitſames und vielſeitiges. Er gründete literariſche 
Geſellſchaften, Muſeen, Lyzeen, Schulen und redigierte Dutzende von Zeitungen und Beit- 
ſchriften. Er iſt der Dichter des häuslichen Lebens. 

Guttierez} Naje ras wie flüſſiges Silber gleitende Berfe find voller Gedanken 
und eigenartiger Bilder. Er iſt der Dichter des Schmerzes; Schwermut iſt der Grundton fei- 
ner Werke. Ein Gedicht von wunderbarer Schönheit iſt ſeine „Schubertſche Serenade“. Die 
Verſe klingen wie Mufit, und wie Schubert feine Seele in Töne legt, fo legt Najera feine Sehn 
ſucht in Worte. 


„So, fo ſpräche meine Seele — wenn fie könnte! 
Und ſo im innerſten Buſen 
Schluchzen und weinen ungehört meine Leiben.“ 


Einem ganz eigentümlichen Charakter begegnen wir in Antonio Plaza. Sein 
Leben war eine einzige Kette von Widerwärtigkeiten. Von der Geſellſchaft ausgeſtoßen, ge- 
haßt, verachtet und verfolgt, zahlte er mit gleicher Münze. Seine Kritiken ſind das Schärfſte 
und Gewagteſte und nicht ſehr wähleriſch im Ausdruck. Man entſetzte ſich über ſeine Gottlofig- 
keit und unverhüllte Wahrheit, die niemand, ja fidh ſelbſt nicht verſchonte. Er glaubte an nichts, 
reſpektierte nichts, nicht andere und nicht fic ſelbſt. Um der Verzweiflung zu entgehen, fucht 
er Vergeſſen in Bacchanalen, aus denen er nur zu bald erwacht; dann möchte er wieder empor, 
doch ſein grauſames Geſchick zieht ihn immer wieder hinab. Er wurde an ſich ſelbſt irre, und ſo 
mußte dieſer glänzende Geiſt verbluten. Plaza liebte nur eines: ſeine Familie; ihr galt all 
feine Liebe. Aber auch hier verfolgte ihn das Unglück. Als fein jüngſter Sohn durch einen Un- 
glüdsfall ſtarb, da konnte auch er nicht mehr leben; langſam ſiechte er in ſchmerzvollem Leiden 
dahin; nicht einmal einen ſchnellen Tod hatte ihm ſein Geſchick gegönnt. Er litt an der fixen 
Idee, lebendig begraben zu werden, und kurz vor feinem Tode ſchrieb er an den Friedhofwäͤchter, 
er folle feine Leiche fo lange im Totenhaus laffen, bis der Körper in Zerſetzung übergehe, und 
ihn erſt dann begraben. Seine Familie blieb im Elend zurück und lebte von Almoſen weniger 
Freunde. Erſt nach ſeinem Tode begannen ſeine Werke bekannt zu werden und ſind heute in 
ſeinem Vaterlande und in allen Ländern ſpaniſcher Sprache außerordentlich verbreitet. 

Es ift nicht der Zweck dieſes Aufſatzes, die mexikaniſche Literatur ſyſtematiſch aufzu- 
zählen. Wenn der eine oder andere dadurch veranlaßt wird, einen Blick in dieſe eigenartige 
Welt zu tun, fo ift mein Wunſch erfüllt. Es ift mir nicht bekannt, ob es Überſetzungen mezi- 
kaniſcher Dichter gibt; jedenfalls würden ſich ſolche lohnen. Wer der ſpaniſchen Sprache mächtig 
iſt, ſollte nicht zögern, wenigſtens die ſehr gute Anthologie: „Jojas de la Literatura Mexicana“ 
(zu beziehen durch Editorial Ibero-Americano, Madrid, Desengaño 9, 11 y 13) kennen zu lernen. 

Aus der Reihe mexikaniſcher Dichter will ich nur noch einen hervorheben, der durch fein 
Leben und tragiſches Ende unſere Anteilnahme hervorruft: Manuel Acunña. Er ift einer 
von den zu jung Verſtorbenen, die uns die ſchmerzhafte Frage laſſen: Was hätte dieſer Mann 
noch leiſten können, wäre ihm ein längeres Leben beſchieden geweſen! Er ſtarb 27 Jahre alt 
durch Selbſtmord; was er in ſeinem kurzen Leben geleiſtet hatte, berechtigte zu den ſchönſten 
Hoffnungen. 

Manuel Acuña wurde im Fabre 1849 in Saltillo geboren. Seine Eltern, die in befdeide- 
nen Gerhdltniffen lebten, und die der Knabe über alles liebte, erteilten ihm den erſten Unter- 
richt. Mit 18 Jahren kam er nach der Hauptſtadt, um Medizin zu ſtudieren. Hier trat er auch 
mit ſeinen erſten poetiſchen Verſuchen hervor, die von Erfolg begleitet waren. Bald war er 
der Fuhrer der damaligen literariſchen Bewegung in Mexiko. Die Zugend ſcharte ſich um ihn, 
denn er war es, der neues Leben und modernes Empfinden in die Literatur ſeines Vaterlandes 
brachte. Sein Ruhm wuchs täglich; die Geſellſchaft vergötterte ihn, und niemand ahnte, daß 


538 Pierre de Coulevain 


dieſes ſprühende Leben bereits vom Tode angehaucht war. Mitten in feinen Triumphen fand 
man ihn eines Morgens tot — er hatte Gift genommen. 

Unter allen Dichtern ſeiner Heimat iſt keiner, der unſerm Empfinden fo nahekommt 
wie Manuel Acuña. Seine Berfe find frei von allem Gezierten und Geſuchten; fie find die 
Einfachheit ſelber, aber reich an Gefühl und Zartheit. Man wird beim Leſen unwillkürlich 
an Lenauſche Lyrik erinnert. Acuña ijt nicht nur Lyriker, er ift auch ſcharfer Denker. Seine 
Dichtung „Vor einer Leiche“, die er als Mediziner mit dem Seziermeſſer zerlegt, iſt voll tiefer 

philoſophiſcher Gedanken, zwiſchen denen poetiſche Perlen eingeſtreut ſind. 

Sein letztes Gedicht, ein Nokturno „An Roſario“, iſt der prächtigſten eines; es iſt ein 
Schrei aus der Tiefe einer gequälten Seele und ſchlechterdings unüͤberſetzbar; diefe Knappheit 
des Ausdrucks und die innere Harmonie der Berfe ift nicht wiederzugeben. Es ijt fein Schwanen 
gefang, in dem er dem Leben fein letztes Lebewohl zuruft. Manuel Acuña war ein Zdealiſt, 
der ſich im Leben nicht zurechtfinden konnte; gerade ſeine naturwiſſenſchaftlichen Studien 
machten ihn zum Peffimiften und Grübler. Er war der Wirklichkeit nicht gewachſen; fo warf 
ihn eine unglückliche Liebe vollends nieder. 

Aus dem Nachruf, den ihm fein Landsmann Sufto Sierra widmet, greife ich wenige 
Verſe heraus. 


„Palmen, Triumph und Lorbeer, und Odmmern Das Orama deines Lebens war dir 

Einer glücklichen Zukunft, in einer Stunde Seit beiner Wiege im Innern geſchrieben. 
Von Ekel und Einſamkeit Es war ein Reim, der in der Seele die gärte, 
Gabſt du dahin für dein Necht; In deiner Seele, bie Unenbliches ſuchend 

Das traurige Necht zu ſterben, mein Bruber. In einer vertrüppelten Welt im Giel ertrank. 


A. Gamerdinger (Planta Juando) 
PUY 


Pierre de Coulevain 


as M 70 n ihrem perſönlichſten Buche ſpricht die Dame, die ſich Pierre de Coulevain nennt, 
2S auch von der Aufgabe der Kritik. Nicht der erfte befte, fondern nur der durch Prü- 
fung erwieſene Kenner fei zum literariſchen Richter berufen, und dieſer kundige 
Thebaner müſſe gewiſſenhaft, wohlwollend und gerecht vorgehen, um ein guter Kritiker zu heißen. 
Einverſtanden! Aber ich ſtimme nicht ihrer Forderung bei, daß der gute Kritiker ſich damit 
begnüge, Anlage, Sprache und Ausführung eines Buches zu ſtudieren und auf die Auffaſſung 
des Verfaſſers zu achten. Als Ausländer zumal beanſpruche ich größere Unabhängigkeit. 
Wer iſt Pierre der Coulevain? Eine Dame, wie geſagt. Mehr wiſſen wir nicht. „Lebend 
und tot will ich meine Anonymität wahren,“ ſchreibt ſie in einem Briefe an mich. Wenn Leute, 
die fic für eingeweiht ausgeben, uns verraten, daß fie die Mitte des Lebens überfchritten habe, fo 
darf man dies unbedenklich glauben; ihre Werke zeigen die Schwächen und Vorzüge des ge- 
prieſenen reiferen Alters. Ebenſo unbedenklich darf man behaupten, daß ſie nach Erziehung 
und Stellung der höheren Schicht der franzöſiſchen Geſellſchaft angehört. Ihre Aufmerkſam- 
keit widmet ſie den Leuten, die in den alten Paläſten und vornehmen Hotels der Großſtädte 
wohnen oder verkehren; die Perfonen ihrer Bücher entſtammen der Ariſtokratie lateiniſcher Raſſe 
und der fünften Avenue zu Newyork; fie weilt gern als Gaſt auf den behaglichen Gutshöfen 
des engliſchen Landabels. Die Kreiſe dieſer Bevorzugten, Weitgereiſten, dieſer Weltbürger, 
die fih nicht um nationale Scheidewände kümmern, die am Fortſchritte der Kultur, am Ver- 
kehr unter den Völkern, oder wenigſtens an den Tollheiten der Mode teilnehmen, ſind ihre 
Kreiſe; diefe Welt des verfeinerten Genuſſes, der geiſtigen Regſamkeit, der künſtleriſchen Zn- 


Pierre de Coulevain §39 


tereffen iſt fo ausſchließlich die ihrige, daß fie von keiner anderen weiß und uns in keine andere 
einführt. 

Annie Villars aus Newport, die Heldin ihres erſten Romans (Noblesse améri- 
caine) beſitzt 60 Millionen. Trotz diefer anfehnlichen Mitgift iſt fie eine begehrenswerte 
Partie, und fie würde es auch ohne fie fein. Auf einer Europareiſe lernt fie in Paris den ver- 
armten Marquis Jacques d' Anguilhon kennen. Sie heiratet ihn und umgibt ihn mit neuem 
Glanze und verſchwenderiſcher Fülle. Und doch betrügt er fie nach kurzer Zeit. In zorniger 
Aufwallung verrät eines Tages die Mitſchuldige das Geheimnis; ein Zuſammenleben der Gat- 
ten ſcheint nicht mehr möglich. Aber bei Annie fiegt die kühle Vernunft Ober das empörte 
Rechts und Schamgefühl; ihrem Sohne und fic ſelbſt zuliebe bleibt fie an ihrem Platze und 
läßt ſich, als die reuige Chriſtiane de Blanzac freiwillig den Tod geſucht hat, verſöhnen und zu 
dem frohen Glauben überreden, daß fie dem Glide für Lebenszeit ihren Zoll entrichtet habe. 
Die Leidenſchaft, philoſophiert ſie, ſei über Jacques gekommen wie eine Krankheit, etwa wie 
die Pocken; nun fei er gegen einen Rückfall ſchutzgeimpft. Nur eine Franzöſin könne einen Fran- 
zoſen verſtehen. Vermutlich geht aber ſelbſt vielen Franzöſinnen das Verſtändnis für dieſen 
Jacques d' Anguilhon ab, der mit Chriſtiane feit der Jugend befreundet, von ihr beraten und 
unterftüßt, die Hand der reichen Amerikanerin gewonnen hat, um dann mit derfelben verwit- 
weten Chriſtiane die jugendfriſche, gradfinnige und großmütige Annie zu hintergehen. Nach 
feiner Meinung wird die Frau mit dem Ehemanne fo völlig eins, daß diefer, ohne ein Unrecht 
an ihr zu begehen, auch außerhalb des Hauſes fih für weibliche Reize intereſſieren darf. 

Wer weiß, vielleicht entwickelt ſich Jacques zu einem vernünftigen und arbeitſamen 
Manne nach dem Herzen der Yankees. Am Schluſſe der Noblesse américaine tritt er mit feiner 
Frau die erſte Reiſe nach ihrer Heimat an. Die Verfaſſerin läßt ihn aber nicht ganz aus den 
Augen. In ihrem folgenden Werke (Eve victorieuse) erſcheint er noch einmal, um 
die überfeeifhen Freunde Annies zu bewirten, und wir hören fpäter, daß er fidh für die Bolts- 
vertretung hat wählen laſſen. Eine Rolle ſpielt er in dieſem Buche nicht; er und ſeine Frau 
dienen nur als Bindeſtrich zwiſchen den beiden Romanen, die trotz dieſes Zuſammenhangs 
und mancher gemeinſchaftlicher Züge einander nicht bedingen. Auch der Neuyorkerin Dora 
Carroll wird ihre Fahrt nach der Alten Welt zum Verhängnis; ihrem Verlobten daheim zieht 
ſie den römiſchen Grafen Sant' Anna vor. Es koſtet manche ſchmerzliche Lehre, bis ſie, die 
Eigenwillige, fih in die zwieſpältige Geſellſchaft Roms eingewöhnt. Und ob ihr das Frauen- 
leid ihrer Landsmännin Annie erſpart bleibt? Aber dieſe über den Roman hinausgreifende 
Sorge läßt die Verfaſſerin gleichgültig. Nicht Dora Carroll, ſondern ihre jugendliche Tante 
Helene Ronald iſt die Eve viotorieuse. Das iſt eine kluge Frau, auch nicht ganz unerfahren, 
aber ſchwach genug, um an Sant' Anna Yntereffe, Gefallen zu finden. Selbſt als fie, durch 
ſeine freche Zudringlichkeit beleidigt, ihn in die Schranken gewieſen, als er ſich bald darauf 
ihrer Nichte zugewendet hat, bleibt er der Mittelpunkt ihrer Träume; auch die Rückkehr zu 
ihrem Manne, ihr Übertritt zum Katholizismus bringt ihr die Ruhe nicht wieder; erft ein Brah- 
mine, ein geheimnisvoller Seelenarzt, befreit ſie von ihrer Not: er ſuggeriert ihr die Kraft 
gegen die ſchlimme Erinnerung an den Staliener. Es dauert lange, bis fih diefe durch erborgte 
Stärke ſiegreiche Eva die Rolle eingeſteht, die fie in Europa geſpielt hat, die Rolle der in den 
Eſelskopf verliebten Titania. : 

Vielleicht ift diefe Bewertung ihres Verſuchers unbillig, zu hart. In der Ehe mit Dora 
Carroll erreicht Lelo von Sant' Anna ungefähr das Mittelmaß; er iſt mehr träge als unbegabt. 
Aber was geht uns ſeine Ehe an, uns, die wir gern glauben, daß er kaum zu mehr taugt, als 
der Ahnenkette ſeines Hauſes ein Glied anzufügen, oder die Buntfarbigkeit des römiſchen 
Straßen; und Geſellſchaftsbildes um fein bißchen Erſcheinung zu ſteigern. Die Erzählerin 
benutzt aber gar den Palaſt der Sant' Anna, um von hier aus ihre Lefer in das Rom der Über- 
gangszeit einzuführen, in dem Schwarze und Weiße fih das Gebiet ſtreitig machen, in die Haupt- 


540 Pierre be Coulevain 


ſtadt des neuen Italien, die von überall her fremde Gedanken und Sitten aufnimmt. Darüber 

verlieren wir die Heldin des Buches beinahe aus den Augen, haben es auch gar nicht eilig, ſie 

wieder einzuholen. Die Not der Gedankenſünderin hat uns nicht allzu rauh ans Herz gegriffen. 

Zudem find wir gewiß, daß Nichte und Tante ſich wiederſehen werden, daß aus dem römifchen 

Leben der einen für die andere Selbſtbeſinnung, Sieg und Freiheit hervorgehen muß. Im 

Grunde genommen, miijjen wir auf zwei Geſchichten hören, und die Geſchichte der Dora Carroll 

ift nicht übermäßig anziehend, auch gar nicht neu. Aber fie liefert den Anlaß zu lehrreichen Be- 

merkungen, zu vielſagenden Formulierungen und allerlei Nebenſächlichkeiten. Während Dora, 

die Oberflächliche, Kurzſichtige, Leichtherzige ſich mit einem billigen Glide an der Seite des 

windigen Römers zufrieden gibt, gewinnt die ſiegreiche Eva aus ihrer europdifden Rrife das 

Verſtändnis für die Tüchtigkeit und die in feſtem Boden wurzelnde Sittlichkeit des Neuyorkers. 

Eine Theſe, für die der Roman mit feiner Landes- und Volkskunde den Beweis liefern foll! 

Schon in der Noblesse américaine verrät fih der Hang zum Lehrhaften; aber die gradlinig 
ausſchreitende Erzählerin verliert ſich nicht im dichten Buſchwerk geiſtreicher Raſſenvergleiche, 

geſellſchaftlicher Charakteriſtiken, hiſtoriſch-politiſcher Geſpräche. Sie überläßt es dem felbjtin- 

digen Lefer, Annies Entſchlüſſe und Schickſale aus ihrer amerikaniſchen Erziehung zu erklären 

oder über andere Möglichkeiten für den Verlauf und Ausgang der Geſchichte nachzuſinnen. 
Und ſo verfährt der rechte Erzähler wohl immer; er ſtattet ſeine Perſonen ſo hinreichend aus, 

daß ihre Eigenart und ihre Unterſchiede in allen Lagen ohne Kommentar den wachen Augen 
offenbar werden. Dieſes dem natürlichen Bedürfnis angepaßte Verfahren hat Pierre de 
Coulevain ſchon in der Eve victorieuse vernachläſſigt, in ihren beiden folgenden Werken aber 

noch gründlicher und ſorgloſer mißachtet. 

Sur la Branche heißt das nächſte, ein Selbſtbekenntnis. Heimatlos! Shere Hei- 
mat hat die Erzählerin an dem Tage verloren, als fie ihren Mann begrub, und da hat fie aud 
gleichzeitig die Luſt verloren, eine neue zu ſuchen. Sie entdeckte ja, daß der Verſtorbene ſie 
betrogen hatte, daß der Sohn einer Verwandten ſein Kind war. Erſt mit den zunehmenden 
Jahren hat ihr ungeheurer Groll der Nachſicht Platz gemacht, ja, das Geſchick fügt es, daß fie den 
Verrat an ihr ſelbſt mit muͤtterlicher Teilnahme an jenem jungen Manne vergelten muß, in deffen 
Leben fie hilfreich und entſcheidend eingreift. Es lohnt fih, dieſes feltene Los einer Hinter- 
gangenen und Vereinſamten, menſchliche Gebrechen anderer durch echte Menſchlichkeit zu füh- 
nen, als einen natürlichen, ſogar notwendigen Vorgang zu motivieren. In der Tat leuchtet 
manche Bemerkung unerwartet wie ein Blitz in das Herz der gepeinigten Frau hinein. Aber 
dieſe Beichte eines empfindlichen Gewiſſens büßt an Wirkung ein unter der ungeſichteten Fülle 
des Cagebuchs, in dem die Verfaſſerin über ihre Erlebniſſe in Paris oder in franzöſiſchen Bädern, 
am Mittelmeer oder im Black country Englands berichtet; ſie lebt ja wie der Zugvogel „auf 
dem Zweige“. Nicht ganz unähnlich dem gedankenbeſchwerten Childe Harold. Und wie Byron 
die Betrachtungen ſeines Ritters durch Einſchub von Strophen ausweiten konnte, ſo ließen 
auch Pierre de Coulevains (hier Frau de Myeres genannt) Aufzeichnungen ſich beliebig ver- 
mehren; ihrem Buche mangelt es eben an Rundung, Geſchloſſenheit, vorwärts drängendem 
Fluſſe. Es ließe ſich umgekehrt ohne Schaden fiir die Kompoſition daran auch kürzen. Mich 
wundert faft, daß die Verfaſſerin ihre Mitteilungen über Staffordshire nicht geſtrichen hat; fie 
find für den Kern der Geſchichte zu entbehren, wenn von einer ſolchen überhaupt geredet wer- 
den kann. Zudem hat ſie den Teil des Buches, der dem engliſchen Landleben gewidmet iſt, 
in ihrem letzten Buche (Ile inconnue) nochmals behandelt, treffender und eingereiht in einen 
größeren gleichartigen Zuſammenhang. 

Unbekannt mag England, die Ile inconnue, der großen Mehrzahl der Fran- 
zoſen fein. Aber der Titel klingt doch reichlich gefpreigt. Als ob nicht früher ſchon für franzöſiſche 
Lefer febr tüchtige Bücher über Großbritannien geſchrieben worden wären, unter denen die 
von Laine, Max O' Rell und Hamerton keineswegs veraltet find! Pierre de Coulevain hat uns 


Pierre de Coulevain 541 


fiber das Snfelvolt freilich manches mitzuteilen, das anderen Augen entgangen ift. Nicht nur ift 
die Ile inconnue ein franzöſiſches Buch, das die Schriftſtellerin ihren Landsleuten als Spiegel 
zugedacht hat, ſie iſt auch ein durchaus weibliches Buch; durch den Federnamen Pierre de 
Coulevain könnte nur der getäuſcht werden, der nicht weiß, was bei Frauen Intereſſe und Ver- 
ſtändnis findet, oder der überſieht, wie auch die gebildete Frau zu Verallgemeinerungen neigt. 
Einem glücklichen Zufall verdankt fie die Einladung zu einer vornehmen Familie in der Um- 
gebung Londons, wo fie längere Zeit zubringt. Ihrer Wirtin, einer Witwe, fällt mit einer be- 
deutenden Erbſchaft auch ein hübfches Landgut anderswo in England zu; fie zieht dorthin um. 
Ihre beiden älteſten Kinder verloben ſich, fie gewinnen zu ihren alten neue Freunde. Endlich 
kehrt auch der jüngfte Sohn aus Amerika heim. So vergrößert ſich der Perſonenkreis, und da- 
mit erweitert fih für den franzöfifchen Gaſt die Umſchau über das fremde Volk. In der Er- 
findung ift die Ile inconnue nicht origineller als etwa eins jener Schulbücher unſerer Nachbarn, 
in denen eine Familie durch Studium, Heirat oder Berufsgeſchäfte über alle Provinzen ver- 
ſtreut wird und ſo dem Verfaſſer die Gelegenheit verſchafft, ſeiner Leſergemeinde Frankreich 
mit der etwas erquälten Lebendigkeit des planvollen Ungefährs darzuſtellen. Eine ſolche Ge- 
ſchichte hat nicht mehr Sonderart und Zweckbedeutung als das Lattenwerk unter dem Schling- 
grün am Haufe oder als die Dauben und Reifen des Salles, in das man einen guten Jahrgang füllt. 

Von den Perſonen der beiden zuletzt genannten Bücher läßt ſich Pierre de Coulevain 
gelegentlich als romancier ſchmeicheln. Bei aller mitteleuropäiſchen Höflichkeit bin ich zu auf- 
richtig, um in dieſe Anerkennung einzuſtimmen. Nur ihr erſtes Buch iſt in Wahrheit ein Roman, 
durchweht von Leidenſchaft und erfüllt von dem bunten Spiel des Lebens. In den beiden fol- 
genden drängen ſich allerlei Nebenabſichten in die Aufgabe der Erzählerin; der Leſer, der gern 
ein Einzelſchickſal verfolgen möchte, muß ſich durch ganz unintereſſante Menſchen und breite 
Reflexionen ftören laffen. In der Ile inconnue ift die Erfindung zu dürftig, um Aufmerkſam⸗ 
keit zu verdienen; in den Mitgliedern einer einzigen Familie ſoll ein Volk abgeſchildert werden: 
Wahrheit und Dichtung alſo, von denen eins zu kurz kommen muß. Beſitzt dieſe Schriftſtellerin 
die Gabe, ein Stück der gegenwärtigen Menſchheit abzugrenzen und daraus eine Welt im 
Kleinen, eine allezeit und allen verſtändliche Welt zu geſtalten? Wenn ſchon, dann iſt es zu 
bedauern, daß ſie ſich in einer ausländiſchen oder internationalen Geſellſchaft gefällt, die uns 
notgedrungen fern und fremd bleibt oder ſozial zu hoch über dem Ourchſchnitt ſteht, um nicht 
dem pfſychologiſch veranlagten Lefer den Blick nach oben zu verleiden. Dieſer Geſellſchaft ſtehen 
die erzählten Vorgänge gut zu Geſicht; zum Ehebruche führen fie oder fie entwickeln ſich aus 
ihm, dem Ehebruche als brutal-ſelbſtſüchtigem Betruge, dem Ehebruche als der unentſchloſſenen 
Begehrlichkeit der Nichtbefriedigten, dem Ehebruche als dem finn- und liebeleeren Fehltritte 
einer ſchwachen Stunde; und die dem Alkohol verfallene Mrs. Beaumont (Ile inconnue) mit 
ihrem ſchmählichen Ende vervollſtändigt das Geſamtbild der vier Bücher, ohne es vorteilhaft 
zu heben. Mit den klaren oder dunklen Menſchenſchickſalen in den Erzählungen iſt der Glaube 
an eine göttliche Weltleitung recht gut zu vereinen, aber nicht jener gläubige, faſt fataliſtiſche 
Optimismus Pierre de Coulevains, der dem Ungetreuen und Schuldigen beinahe die Ber- 
antwortung abnimmt. | 

An die dichteriſche Kraft bei dieſer bücherſchreibenden Frau glaube ich alſo nicht, an jene 
Kraft, die zum Erdichten und Verdichten drängt und dafür auch befähigt. Und ſie ſelbſt, ſcheint 
mir, glaubt auch nicht recht daran. Wohl um bieles Unvermögen auszugleichen, hat fie ihren 
Blick ſcharf und ihre Teilnahme am Menſchlichen rege erhalten, hat fie den Kreis ihrer Beob- 
achtungen von Buch zu Buch erweitert. Es liegt ihr mehr daran, ihre Eindrüde von der Fremde 
treu feſtzuhalten, das Beobachtete zuſammenzuſtellen und miteinander zu vergleichen, Grund- 
linien aufzuſpüren und allgemeine Wahrheiten zu formulieren. In den beiden erſten Werken 
bringt fie das Amerikanertum nach Frankreich und Ftalien, um darzuſtellen, wie es ſich in die 
alte geſellſchaftliche Kultur Europas einfügt und fie beeinflußt. Die Ile inconnue und zum Teil 


* 


542 Pierre de Coulevain 


Sur la Branche find Studien über England vom franzöſiſchen Standpunkte aus. In kurzweiliger 
Folge wedfelt der Gegenſtand: die Geſellſchaft mit ihren Erforderniſſen und Auswüchſen, 
der Staat als hiſtoriſche Form, ſeine Kräfte und ſeine Aufgaben, das religiöſe Bekenntnis 
nach Wirkung und Geltung, die Frau vor und in der Ehe, und mancher andere. Die zugeſpitzte 
Form der Bemerkungen, die Neigung zu voreiliger Abſtraktion, das Beſtreben, ihre Erfahrung 
zu Leitſätzen von dogmatiſcher Kürze auszumünzen, die Umſchau nach kleinen Funden verraten 
überall die Frau, eine Franzöſin von temperamentvoller Lernfreudigkeit und unfranzöſiſch 
reichem Wiſſen. Wie zu erwarten, fehlt es nicht ganz an gewagten, mitunter gar unrichtigen 
Behauptungen, wozu ich die Überſchätzung franzöſiſcher Vorzüge und Leiſtungen, ſowie manche 
Anſicht über katholiſches Weſen rechne. Es find ihr auch ein paar Geſchmackloſigkeiten unter- 
laufen. Nirgends drängt ſich die lehrhafte Abſicht ſo weit vor, daß ſie den Leſer verſtimmen 
könnte. Die erzählende Form bewahrt die Verfaſſerin davor, je eintönig und langweilig zu wer- 
den; ſie geſtattet es, ihre reiche Erfahrung zum Erlebnis der freierfundenen Perſonen, zum 
Stoff für Briefwechſel und Tiſchgeſpräch zu machen. Gleichniſſe und Bilder kommen ihr 
wie ungeſucht zu Hilfe, aber fie blenden oft mehr, als daß fie überzeugten; comparaison 
n'est pas raison. | 

Die Aufgabe dieſer Art von Literatur, des ethnographiſchen oder völtervergleichenden 
Romans, dürfte ebenſo ſchwierig und auch ebenſo undankbar fein wie die des hiſtoriſchen. Es 
iſt eine Doppelaufgabe: der Phantaſie die Weiten zu erſchließen und das Bedürfnis nach Wiſſen, 
nach Erkenntnis zu befriedigen. Ob bei Pierre de Coulevain der Gewinn aus der Belehrung 
erheblich größer iſt als das Vergnügen an der Erzählung, mag unentſchieden bleiben. Viel 
Neues und Eigenes war weder über die Engländer noch über die Amerikaner mehr zu ſagen, 
nachdem die obengenannten Franzoſen, ſowie Bourget, Demolins u. a. als Leute von Geſchmack 
und Ernſt beide Völker dargeſtellt hatten; auch brauchen die Darbietungen unſeres Polenz und 
Karl Peters oder des Schweden Steffen nicht notwendig jenſeits der Vogeſen unbekannt und 
ungeleſen zu bleiben. Pierre de Coulevain aber gar mit Mme de Staël, der Entdeckerin des 
geiſtigen Deutſchlands, auf eine Stufe zu heben, verrät eine unzulängliche Fähigkeit zu tri- 
tiſchem Wägen; es genügt bereits, an die Verſchiedenheit der Zeitlage vor hundert Jahren 
und an die Verſchiedenheit des Kreiſes zu denken, in den die bewegliche Genferin bei uns ein- 
getreten ift. Als Roman verkleidet, hatte das Buch De P Allemagne den erſten Napoleon nicht 
ſo heftig aufgebracht. In einer Hinſicht erreicht Pierre de Coulevain die ältere Schriftſtellerin, 
im äußeren Erfolge. Es ſcheint auf den erſten Blick kaum möglich, mein Gutachten über die 
vorhin beſprochenen Werke mit ihrem ungewöhnlichen Abſatze in Einklang zu bringen. Meines 
Bedünkens erklärt ſich dieſer zunächſt aus dem Verlangen der franzöſiſchen Gebildeten, Ober 
die anglo-amerikaniſche Raſſe immer wieder von einem Kundigen Auskunft zu erhalten, aus- 
führliche und zuverläſſige. Wer jenes Ausland zuletzt beſucht hat und das Neuefte, Intimſte von 
ihm zu melden weiß, darf feines Publikums gewiß fein. Und welches Intereſſe an dem Schrift- 
ſteller gar erſt, wenn er die Oberſchicht jenſeits wie diesſeits des Ozeans ſchildert! Was die 
Tageszeitungen über die Ehen der Marlborough und Dufferin, der Rochefoucault und Chimay, 
der Colonna und Ruspoli mit reichen Amerikanerinnen klatſchen und mutmaßen, hofft der 
Snob aus dieſer Art von Verken zu ergänzen. Aus Neugier für das Perſönliche hat er auch 
die ch Erzählung Sur la Branche freudig begrüßt, weil er daraus ein halbwegs treues Konterfei 
von Pierre de Coulevain zu gewinnen meinte. Als könnte nicht auch eine ſogenannte Auto- 
biographie erdichtet ſein und irreführen! Und ſchließlich bringen es wirkliche Vorzüge meiſtens 
auch zu einem Erfolge. Was an dieſer Schriftſtellerin tüchtig und der Anerkennung wert iſt, 
habe ich nicht überſehen. Oder ſollte mir jemand das nachſagen wollen? 


Dr. Sofeph Hengesbach 
* | 


Neue Bücher 543 


Neue Bücher 


Die ſieben Wochentage und andere Erzählungen von Adolf 
Schmitthenner. Stuttgart und Leipzig 1909, Oeutſche Verlags⸗-Anſtalt. 

Acht Stücke, die bislang in verſchiedenen Zeitſchriften und Sammelwerken verftreut 
gewefen find, und ein überhaupt ungedrucktes („Die vier Fichten“) haben ſich zu einem weite- 
ren Nachlaßbande gufammengefiigt, der noch einmal ein getreues Abbild von Schmitthenners 
kuͤnſtleriſcher Eigenart darbietet. Einen beſonders ſtarken Eindruck empfangen wir von feiner 
Phantaſie, die nun doch einmal das Urelement jeglicher Poeſie ijt und bleibt. Seine mitunter 
faſt überreiche Erfindungsgabe entfaltet fih gleichermaßen in der Richtung der hiſtoriſch - roman 
tiſchen Novelle und des reinen Märchens. Dazwiſchen liegen ein paar Skizzen, die wehmütig- 
rührende Wirkungen auslöſen, ſo vor allem die halb in Märchenſtimmung getauchte Geſchichte 
von der kleinen Helene, die dem geliebten Vater ihren Schlaf und damit zugleich ihr junges 
Leben zum Opfer darbringt. Aber auch der Humor iſt in dem Buche nicht unvertreten. Ganz 
übermuͤtiger Laune voll ift „Oer Pfarrkranz“, worin die luſtigen Streiche der an dieſem ebr- 
würdigen Inſtitut beteiligten Theologenkinder mit Behagen geſchildert find. Eine humoriſtiſche 
Nebenſtrömung geht reſtlos in dem ernſten Hauptſtrom der ans Tragiſche ſtreifenden geſchicht⸗ 
lichen Novelle „Die Frühglocke“ auf. Sie bedeutet den Höhepunkt der Sammlung und hätte 
auf Titelverleihung beſſeren Anſpruch gehabt als das phantaſievolle, aber etwas überladene 
Märchen „Oie ſieben Wochentage“. Wie ein tapferes Heidelberger Mägdelein ihren zum Tod 
verurteilten Liebſten dadurch rettet, daß ſie bei nächtlicher Weile die Glocken, die ſeine Hinrichtung 
einläuten follen, der Schwengel beraubt, und wie ihr ſchließlich gar der wohlwollende Pfalz- 
graf Ottheinrich ſelbſt bei der unheimlichen Arbeit helfen muß, ift mit gluͤcklicher Einfühlung in 
den Geiſt jener Kulturepoche aufs lebendigſte erzählt. Hier und auch ſonſt kommt dem Dichter 
feine knappe und gedrängte Oarſtellungsweiſe zuſtatten, die in hohem Grade ſtimmungerzeugend 
wirkt. Ein paar Redewendungen, die uns altmodiſch anmuten, aus dieſer köſtlichen Novellen“ 
ſammlung auszumerzen, wäre kaum Pietätloſigkeit wider den heimgegangenen Autor. Daß 
ſich z. B. mitten in einer realen Erzählung ein Aprikoſenbäumchen und eine Spargelſtaude 
miteinander unterreden ſollen (S. 73), will uns heute nicht mehr recht in den Sinn. 

R. Krauß 


* 


Lorenz Terentius (Felix Lorenz): Die Paddenpuhler. (Berlin, Har- 
monie, A 2.50, geb. M 3.50.) 

Oer Verfaſſer iſt unverkennbar ein ſatiriſches Talent. Aber hier hat er ſich in geiſtiger 
und ſeeliſcher Beziehung die Arbeit zu leicht gemacht. Bei der Verhöhnung von Vorrechten der 
Geburt iſt auch der Gedanke nicht mehr neu, daß es mit der Reinerhaltung des blauen Blutes 
manchmal recht bedenklich ausſehen mag. Nicht viel mehr hat ſich der Verfaſſer bei der Form- 
gebung angeſtrengt. So haftet dem Ganzen etwas Zournaliſtiſches im üblen Sinne des 


Wortes an. 
* 


Detleff Vanfelow: Kaleidoſkop. Satiren. (Berlin, Modernes Verlags“ 
bureau.) 
Unverkennbar ein ſatiriſches Talent, wie vor allem das letzte Stück zeigt. Wenn fih der 
Verfaſſer feine Aufgabe nicht zu journaliſtiſch ſtellt, dürfte er auf dem bei uns nicht allzu reich 
angebauten Gebiete noch gehaltvollere Früchte pflücken, als in dieſen allzu leicht hingeworfenen 


Stücken. 
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In der Stadt Correggios 


Aus meinem italieniſchen Reiſetagebuche (18. und 19. Mai) 
Von i 


Dr. Rarl Stord 


— — aber ich verſpüre ſelbſt die Notwendigkeit, mich einmal nicht mit den kurzen 
Notizen zu begnügen, ſondern die Überfülle der Eindrücke dieſer glücklichen Stun- 
den in geſchloſſener Form mitzuteilen, bevor ſie von neuen abgelöſt werden. Denn 
es wirkt berauſchend, ſo von Ort zu Ort zu ziehen und ſich überall das Schönſte 
herauszuſuchen, was ein glückliches Zeitalter in unbegreiflicher Fülle geſchaffen 
hat. Ein bacchantiſcher Rauſch — man wird nicht müde, verlangt ſtets nach mehr; 
die Augen ſcheinen klarer, die Empfindungsnerven feiner zu werden. Ein inneres 
Jauchzen ijt in uns, eine Seligkeit, deren Art jener himmliſchen der Anſchauung 
Gottes verwandt ſein muß, ſo wie das geniale künſtleriſche Schaffen in ſeiner 
Schöpfergewalt dem Göttlichen verwandt iſt. 

Man mag vieles an den italieniſchen Bahnen auszuſetzen haben, — ihre 
Fahrpläne ſind für einen leiſtungsfähigen Reiſenden ganz muſterhaft. So habe 
ich geſtern vormittag den Schönheitstraum der Certoſa als Wahrheit geſehen — 
jetzt ift mir, als fei es ſchon viel länger her, und wird mir nun ſelber zum Phantaſie- 
geſicht; — die Nachmittagsſtunden reichten völlig für Piacenza, und es war erſt 
ſechs Uhr, als der Zug in Parma eintraf. 

Hier feierlicher Empfang mit Muſik. Es iſt eine Art von Schützenfeſt und der 
Platz am Bahnhof voller Buden, darunter auch ein Zirkus. Seine Kapelle — vier 
kardinalrot gekleidete Muſiker, eine hell quiekende Klarinette an der Spitze — fahren 
in einer Oroſchke, dahinter in einem großen Wagen die acht weiblichen Schönheiten, 
über die der Zirkus verfügt. So ziehen ſie durch die Stadt. So war's einſt daheim 
im Oörfchen, aber Parma hat fünfzigtauſend Einwohner. Von dieſen zogen ein 
gut Teil, nicht etwa bloß Kinder, hinterdrein. Da war mir der Weg gewieſen, 
und auf einmal fab ich mich vor meinem Gafthof. — — — 

Gern kehrte ich ein, denn ſo alt Parma iſt, jezt trägt es einen neuen Cha- 
rakter, d. h. es iſt charakterlos, wäre es wenigſtens, wenn nicht überall wieder in 


Stord: Gn ber Stabt Correggios 545 


ftolger Suriidbaltung ein alter Palazzo ſtände. Sie wirken in ihrer Raumverſchwen- 
dung doppelt groß gegenüber der ſonſtigen Enge und in ihrer durch die Klarheit 
halb anziehenden, halb ſtolz zurückhaltenden Schönheit doppelt feierlich, ariſtokratiſch 
bei dem pöbelhaften Gewimmel rundum. 

Inzwiſchen war es ſieben Uhr geworden. Dem Dom wenigitens wollte ich 
einen Antrittsbeſuch machen, einen Blick noch hinaufſenden in die Kuppel, die 
des längjt geliebten Correggio Wunderwerk auf Erden zu behalten ſucht. Denn es 
ſelber ſtrebt ja ſo gen Himmel, daß es den Bau zu ſprengen ſcheint. 

Ich erhoffte nicht eben viel zu ſehen. Die Reiſeführer beklagen neben dem 
traurigen Zuſtand der Freske das ſchlechte Licht: beſte Beleuchtung mittags um 
zwölf Uhr, heißt es im Baedecker. Indes, ich konnte und wollte morgen ja wieder- 
kehren. 

Sn den Stadtanlagen der Staliener bleibt das Bewundernswerteſte das 
„Platz“ - Empfinden. Plätze, wie fie z. B. in Berlin faſt alle find, zerſchnitten 
von Straßen, die — wenn ſie an ſich ſchön ſind — ruiniert werden durch einen 
wildgewordenen Verkehr, gibt es hier nicht. Der Mailänder Domplatz ebenſo 
wie die dortige Piazza Carduſio beweiſen in der Hinſicht nur Mailands nach Nor- 
den gehende Natur. Andere Städte aber, z. B. Bologna, wiſſen auch gegenüber 
dem ſtärkſten Verkehr den Plätzen den Charakter ſicherer Rubeftellen zu wahren. 
Was der Hof dem einzelnen Palazzo, iſt der Platz für die Stadt: Schauplatz des 
Lebens, aber des gefelligen, beſchaulichen, nicht des haſtenden oder gar ängſtlichen. 
Mit Vorliebe ſind die Plätze ſo angelegt, daß man durch kleine Seitengaſſen von 
der Hauptverkehrsſtraße darauf gelangt. In wenigen Schritten aus der Haſt der 
Straße und des Verkehrs eben in den Hof, wo man ſicher iſt. Auch der freie 
Raum wird möglichſt gewahrt. Ein Denkmal oder Brunnen, eine Säule ſtört nicht 
viel, — aber die Dome ſtellen ſich mit ihrer Front in die allgemein gezogene Linie, 
ſie ſtehen — wieder macht der Mailänder eine Ausnahme — nicht von allen Seiten 
frei, obwohl die bei uns graffierende Freilegungsſucht auch in Italien manche er- 
faßt hat. Immerhin, die meiſten Plätze ſind eben von vornherein ſo angelegt, 
daß es da nichts freizulegen gibt. 

So ſteht man auch in Parma in kurzer Abwendung von der verkehrsreichen 
Strada Garibaldi faſt plötzlich auf dem Domplatz, deffen Schönheit um fo über- 
raſchender wirkt, als der Zugang fo ſchmal ijt, daß man nichts im Vorblick vorweg- 
genoſſen hat. Man ſteht gebannt vor den im Winkel zueinander ſtehenden, für die 
Erinnerung nun dauernd untrennbaren und doch durchaus organiſch fiir fic felb- 
ſtändigen Dom und Baptiſterium, die der kräftige Campanile in den Formen durch 
Vermengung der beiden Gegenfäße des Breit- und Rundbaus und ihre Auflöſung 
ins Hohe vermittelnd verbindet. Die breite Faſſade des Domes mit ihren drei 
von rötlich ſchillernden Marmorlöwen bewachten Toren bekommt durch die drei- 
fache Säulengalerie etwas Leichtes, ſo daß man dann beim Eintritt erſtaunt vor 
der weiten Größe und der ſchweren Feierlichkeit dieſes romaniſchen Dreiſchiffes 
ſteht. Aber wie in allen dieſen Kreuzbauten zieht es einen hin zur Kuppel, hier 
um ſo mehr, weil ſie ihr erhöhtes Licht auf die zum Chorraum hinaufführende 
Treppe fallen läßt. Alſo hinan und hinaufgeſchaut in den achtſeitigen Raum! 

Ser Tuüͤrmer XI, 10 35 


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546 Storck: Zn der Stadt Correggios 


Und dieſer Raum wird lebendig; es ift, als finge es droben an, fih zu bewegen; 
Beine, Gewänder, Körper, alles ſchwebt hinauf, weiter; die Heiligen in den Bogen- 
zwickeln ſchauen hinauf, ſehnſuchtsvoll der himmliſchen Jugend nach, die hinab- 
geſtiegen war und jetzt jauchzend mit dem ſeligen Leibe der Jungfrau hinauffliegt 
zur Verklärung. Fe länger man hinaufſieht, um fo größer wird der Raum, bis ſich 
überhaupt der Begriff des Geſchloſſenen auflöſt: frei führt hier ein ungeheurer 
Luft- und Lichtſtrom hinauf in den Himmel. 

Das werden immer die beiden großen Richtungen der Raumbehandlung 
bleiben: einerſeits Bändigung des Unendlichen unter die volle Beherrſchung der 
Hand des Künſtlers, fo daß dieſer das Gefühl erhält, geſtalten zu können, was vor- 
her formlos war; — andererſeits Uberwindung dieſes begrenzten Raumempfindens 
und dadurch Wecken des Gefühls für das Weſen des Unendlichen. Nur aus jtärt- 
Hem Bewußtſein der Form erwächſt diefe echte Sehnſucht nach Überwindung 
ihres ſchärfſten Ausdrucks, der eben in jener völligen Beherrſchung der Beugung 
des an fih Feſſelloſen unter die [harf feſtgelegte Regel beruht. So ijt es bei Beet- 
hoven, während ein Bach in feiner ungeheuren H·Moll-Meſſe die gewaltigſten 
Eindrücke dadurch erreicht, daß die ſtrengſten Formgeſetze auf die größten Maße 
angewendet werden, obſchon fie urſprünglich nur für ganz kleine Gebilde ge- 
wonnen waren. 

In der Freskomalerei haben wir immer dieſe beiden Beſtrebungen, deren 
eine jagt: Dein Bild darf kein Loch in die Wand machen, ſondern muß dein Bewußt 
ſein, daß du in einem geſchloſſenen Naum biſt, noch erhöhen; dein Gefühl der Frei- 
heit, das ein Weſentliches ijt für allen Kunſtgenuß, erwächſt hier aus dem Bewußt 
fein, daß nichts da ift, was nicht im Tatbereich deiner Sinne liegt: alles ift gewiffer- 
maßen dein Werk. 

Im andern Falle aber bringt dir der Künſtler jenes Gefühl der Freiheit 
bei, das im Anbegrenztſein liegt. Da wölbt fidh keine Dede, ſondern Himmel, da 
hemmen keine Wände, ſondern dein Blick ſchweift in Fernen, die die perſpektiviſche 
Kunſt über alle Naturmöglichkeit hinaus dir in die Bannmeile deines Auges bringt. 
gn Lionardos Abendmahl zeigt fih zum erſten Male ſtark dieſes Beſtreben; es ift 
das Weſentlichſte der Kunſt Correggios, deren kühnſtes Ergebnis die Ausmalung 
dieſer Kuppel ift. Droben in der Kuppel flutet das durch die Bogenfenſter herein- 
ſtrömende Licht der Abendſonne wie flüſſiges Gold. Ich ſtehe gebannt im Schauen; 
die erſt geblendeten Augen erkennen immer reicher das gewaltige Werk. Da redet 
mich auf einmal einer an: es iſt der Küſter, der fragt, ob ich nicht oben in die Rup- 
pel ſteigen wolle. Das hatte ich mir vorgenommen für morgen beim Mittagslicht, 
das am günſtigſten ſein ſollte. Ach wo, meint der Alte, ſchöner könne es überhaupt 
nicht fein, und dann fei jetzt der Blick von draußen, daß er ſicher fo bald nicht wieder- 
käme, wie an dieſem hellen Abend. Das entſcheidet. Der Baedecker ſchreibt von 
der Kuppel: „Beſchwerlich aber lohnend“, vom äußeren Umgang: „Nur für Schwin- 
delfreie“. Ich möchte diefe Worte geändert wiſſen, denn fie wirken offenbar febr 
abſchreckend, wie daraus hervorgeht, daß die Treppe hinauf von Spinngeweben 
verſperrt war. „Kein Menſch ſcheue die Mühe, in die Kuppel hinaufzuſteigen“, 
ſollte es heißen; „er wird ſich überreich belohnt fühlen.“ Ob der äußere Umgang 


Stord: In der Stadt Correggtos 547 


für zum Schwindel Neigende gefährlich ift, kann ich nicht entſcheiden; jedenfalls 
ließe ſich dem dann leicht dadurch abhelfen, daß der Führer immer von einer zur 
andern Bogenſäule ein kleines Seil ſpannte. Denn auch dieſer Blick ift überwälti- 
gend ſchön, einmal durch die ſchier unbegrenzte Weite, dann faſt noch mehr durch 
den Überblick über das Gewimmel der Dächer der unten dicht herandrängenden 
Stadt, mit den herausragenden Kuppeln und Türmen. Vor allem aber iſt nur von 
hier aus die ganze Gewalt des dicht vor uns emporſteigenden Baptiſteriums 
zu erfühlen. Die fünf Stockwerke mit ihren luftigen Säulenſtellungen ſcheinen aus- 
einander zu wachſen. Ungeheuer faſt und von einem titaniſchen Sturmgeiſte be- 
lebt türmt ſich der achteckige Bau, daß man an das Streben der Turmerbauer von 
Babel denken möchte, wäre nicht oben die Krönung des Ganzen mit den Pyra- 
miden und dem Türmchen ſo von Gott- und Weltſeligkeit erfüllt, ſo freudig und 
in Harmonie mit dem Weltall. Und treten wir nun hinein zum inneren Rundgang 
um die Kuppel, in deren Bemalung ſich jetzt durch vier Bogenfenſter ein naher 
Blick bietet, fo erſchließt fih uns auch das Weſen der Natur Correggios. 

Als Meifter der Anmut, der ſüßen Grazie hat man ihn geprieſen oder ge- 
ſcholten, je nach der Geſchmacksrichtung, die wechſelt, während die Kunſtwerke 
ſich gleichbleiben. Andere haben bei ihm vor allem die unvergleichliche Technik ge- 
prieſen oder geſcholten, je nachdem ſie mehr auf die erſtaunliche Leichtigkeit ſahen, 
mit der er die größten Schwierigkeiten überwand, oder auf die üblen Folgen, die 
ſeine Art bei den zahlloſen Nachahmern hervorrief. Aber auch manche der Lob- 
preiſer ſchelten ihn wenigſtens einen Virtuoſen, der die Schwierigkeiten nach Mög- 
lichkeit gehäuft habe, um in ihrer ſpielenden Überwindung den Genuß eines immer 
ſiegreichen Könnens voll auszukoſten. 

Was zunächſt die Virtuoſität betrifft, ſo iſt ſie ein höchſter Wert aller Kunſt, 
ſolange ſie nicht inhaltlos wird. Wenn 


Kunſt und Können 


zuſammenhängen, ſo muß doch im möglichſt hoch geſteigerten Können ein Wert 
liegen, der nur dadurch abgeſchwächt werden kann, daß wir die Empfindung er- 
halten, dieſes Können werde an unwürdige Dinge verſchwendet oder ſchädige Wich- 
tigeres. Wenn aber der Inhalt groß und kühn iſt, kann das Können gar nicht zu 
groß ſein, denn es wird auch ſo kaum möglich, daß die körperliche Formgebung zur 
überzeugenden Geſtaltung des in ſchrankenloſer Phantaſie Erſchauten ausreicht. 

Unjerer deutſchen Kunſt iſt für das in ihr beſonders häufige ſehr große 
Wollen ein völlig ausreichendes Können leider ſo ſelten vergönnt geweſen, daß 
es nicht wundernehmen kann, wenn uns ein geſundes Verhältnis auch zur 
echten Virtuoſität fehlt, beziehungsweiſe wenn wir zu leicht gegenüber virtuos 
gearbeiteten Werken deren tiefen Gehalt, ihre wunderbare Einheitlichkeit über- 
ſehen. Und wenn niemand bei einem Gedichte Goethes oder einem Liede 
Schuberts an dem reſtloſen Zuſammengehn von Inhalt und Form zu tadeln 
findet, ſo verſagen doch ſchon viele gegenüber der Formſchönheit des „Taſſo“, die 
Goethe doch erſt in wiederholtem Anlaufe gewann. Er erſcheint ihnen leicht kalt, 
ſie fühlen nicht die Slut des Empfindens, die heiße Leidenſchaft des Erlebens, die 


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548 Storck: In der Stadt Correggios 


in dieſe Marmorpracht der wie von ſelbſt hinfließenden Verſe hineingehämmert 
iſt. Genau wie bei der Muſik Mozarts nur wenige das ungeheure perſönliche 
Ringen des Komponiſten fühlen, der uns nichts mehr von den Kämpfen zeigt, die 
es ihn gekoſtet hat, in dieſe Welt reiner Schönheit zu gelangen. 

Das iſt es: unſere deutſche Kunſt iſt ſo ſehr aus Kämpfen und Krämpfen ge- 
boren worden, daß wir vermeinen, etwas von dieſen Kämpfen im Kunſtwerk finden 
zu müſſen, wenn wir es als lebensvoll und lebenswahr empfinden ſollen. Das muß 
bei der bildenden Kunſt die beſondere Geſtalt des Kampfes zwiſchen Inhalt und 
Form annehmen. Denn die bildende Kunſt wächſt am natürlichſten als Erhöhung 
ſchöner Lebensform. Gerade diefe aber ijt unſerem Volke mit dem Oreißigjähri- 
gen Kriege verloren gegangen und noch lange nicht — das merkt man gerade in 
Stalien auf Schritt und Tritt — wiedergewonnen worden. Im Bürgertum des 
ausgehenden Mittelalters und der Reformationszeit war dieſe natürlich gewachſene 
Lebenskultur vorhanden. Darum auch die damalige deutſche Kunſt in ſich geſchloſ⸗ 
ſen und einheitlich iſt, wie nur eine. Und wenn ſie unſerer Natur entſprechend nicht 
ſo ſüß und ſinnlich ſein kann wie die ſüdliche, ſo iſt ſie nicht minder zuverſichtlich und 
ſieghaft. Darauf kommt es an. Gott bewahre uns vor einer an Problemen armen 
Kunſt; nicht der Kampf bleibe uns erſpart, der allein erfriſcht und vorwärts treibt. 
Aber ein Elend ift es, wenn das Problem immer zwiſchen dem Wollen der Phan- 
taſie oder des Geiſtes und dem Können der Hand und des Auges liegt. Dürer iſt 
gewiß an Problemen überreich und hat, wie kaum ein anderer, aus dem Reiche der 
Phantaſtik und des inneren Schauens Stoffe für die körperliche Darſtellung in der 
Welt des Sehens ſich geholt. Und doch ſpricht er das troſtreiche und ſelbſtbewußte 
Wort: „Alle Kunſt ijt in der Natur; wer fie daraus kann reißen, der hat fie.“ Za, 
wer es eben kann! Oarauf kommt es an. Daß es ein Kampf iſt, ſteht in dieſem 
Satze. Die Waffe aber, die zum Siege zu verhelfen vermag, ift das Können. Alle 
großen Künſtler ſind darum auch große Könner geweſen und haben ſich unabläſſig 
um die Steigerung des Könnens gemüht; das iſt ja eigentlich ſelbſtverſtändlich: 
denn mit je beſſeren Waffen ich in den Kampf ziehe, um ſo größer iſt die Ausſicht 
auf Sieg. Es iſt zum guten Teil ſicher die Folge der Zerſtörung unſerer äußeren 
Lebenskultur, wenn bei uns in Oeutſchland diefe Dinge nicht fo ſelbſtverſtändlich 
find, wie fie es fein ſollten. Freilich wirkt auch unfer Einſpännertum und der Cha- 
rakter unſerer Kunſt als Ausdruck des Innenlebens dazu mit, daß wir in der Kunſt 
fo wenig Schultradition haben. Freilich könnte ſich dieſe Überlieferung nur aufs 
Techniſche beziehen, aber da wäre ſie unbedingte Notwendigkeit für ein glückliches 
Gedeihen. And je ſchulmäßiger, fagen wir ruhig: je handwerksmäßiger dieſes 
rein Techniſche übermittelt würde, um fo beffer. Dieſelbe Grundlage fpradlid- 
grammatiſcher, ja orthographiſcher Kenntniſſe, die wir bei jedem Schriftſteller als 
jelbftverjtändliche Vorausſetzung feines Berufes annehmen, muß es auch bei den 
andern Künſten geben. Wie ſpäter ſich einer den eigenen Stil ſchafft, feinen Wort- 
ſchatz mehrt, das iſt feine Sache. Aber man ſoll den Gaul nicht beim Schwanze auf- 
zäumen und nicht dort anfangen wollen, wo man aufhören ſollte. Das iſt aber 
in unſerem heutigen Kunſtleben immer öfter der Fall. Unſere Opernkomponiſten 
ſchließen an „Triſtan und Fſolde“ an, die jüngſten Symphoniker an Richard Strauß 


Stord: In der Stadt Correggios 549 


letztes Werk. Es gehört aber nicht nur viel Erleben zu dem Snhalt folder Werke, 
ſondern auch zur For m. Sonſt ift diefe niemals wahrhaft, auch niemals natür- 
lich. In der bildenden Kunſt iſt es noch ſchlimmer, zumal in der Malerei. Aber auch 
in der Bildhauerei iſt Rodins Art, die bei ihm geworden iſt, bei denen, die ſie als 
fertig übernehmen, oft ein Deckmantel für die ſchlimmſte Unfähigkeit, einen Körper 
in allen anatomiſchen Linien richtig zu modellieren. Und nun gar in der Malerei, 
wo die natürlich gewachſene und in vielen Fällen durchaus notwendige Technik des 
Impreſſionismus als das zunächſt ſich Darbietende übernommen wird. Da ſind 
dann die Leute, die wirklich zeichnen, die durch Linie oder Farbe komponieren können, 
außerordentlich felten. Dafür wird dann unendlich viel geredet, aber wenig Brauch- 
bares geſchaffen, weil eben wenig gekonnt wird. Die Kunſtkritik hat diefe Entwick- 
lung mitgemacht, ja trägt ein gut Teil Schuld daran. Das kommt daher, daß ſie 
immer mehr das Gefühl für ihre eigentliche Aufgabe verloren hat. Sie will nicht 
mehr dienen: der Kunſt durch ein ſtarkes Nacherleben, dem Publikum 
durch ein Hinführen zur Kunſt durch dieſes Vorerleben derſelben, durch Auf- 
weiſen der Art des Künſtlers und ſeiner Arbeit, durch ein Nachſpüren der Kräfte, 
auf denen die Wirkung eines Kunſtwerkes beruht — das alles iſt ihr nicht genug, 
trotzdem es ſo viel iſt —, nein, ſie will um ihrer ſelbſt willen daſein. 
Und doch, wie wenig iſt das im Grunde, wie unfruchtbar muß es ſein, zum 
Selbſtzweck zu machen, was doch immer nur ein Mittel zu einem Höheren 
ſein dürfte! 

Nun ift es aber leicht erklärlich, daß gerade geſchloſſenen, vollkommenen Wer- 
ken und Kunſterſcheinungen gegenüber die kritiſche Betrachtung naturgemäß aufs 
Dienen angewieſen iſt. Viel ergiebiger für eine ſich ſelbſt in all ihrer Herrlichkeit 
ſpiegelnde Kritik find die problematiſchen Erſcheinungen, die unfertigen, die Ge- 
ſcheiterten, die „Intereſſanten“. Nun leugne ich keineswegs die außerordentliche 
Wichtigkeit dieſer Erſcheinungen, gebe auch gern zu, daß künſtleriſche Beſtrebungen 
und Abſichten fidh hier oft beffer nachweiſen und analyſieren laffen als bei Werken, 
bei denen es dem Riinjtler gelungen ift, die Spuren feiner Mühe ganz zu verwiſchen. 
Aber daran laſſen es ſich jene vielberufenen „intereſſanten“ Kunſtſchriftſteller nicht 
genügen. Sn ihrem Beſtreben, immer neu und verblüffend gu fein, erheben fie 
die Anfertigen und Problematiſchen auf Koſten der Vollendeten. Fene werden zu 
den wirklich Großen geſtempelt, während man ſich an dieſen für ihre erhabene 
Unnahbarkeit, für ihr Höhenmenſchentum durch ein leichtfertiges Abtun oder über- 
legenes Herabziehen ihrer Vorzüge rächt. Wir erleben das gerade wieder mit 
Marées. Ich gebe von vornherein zu, daß dieſer ein großer Anreger geweſen ift 
und in noch höherem Maße ſein kann. Durch das, was er gewollt hat, durch 
die Unterſuchung der Urſachen, weshalb er feine Ziele nicht erreicht hat. Aber 
verhängnisvoll muß es fein, aus einem Manne, der nicht ein einziges 
Mal gekonnt hat, was er wollte, einen übergroßen Künſtler machen 
zu wollen. Und ein Verbrechen iſt es, um die Folie zu gewinnen, andere viel 
Größere herabzuſetzen, wie in dieſem Falle den urgewaltigen Schöpfer und ge- 
waltigen Könner Arnold Böcklin. 


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550 Storck: In ber Stadt Correggios 
Dieſe Betrachtung hat mich weit hinweggeführt vom Meifter 
Antonio Allegri da Correggio. 


Aber gerade ſein Schickſal iſt bezeichnend für den Wechſel der kunſtäſthetiſchen 
Einſchätzung. Zu feinen Lebzeiten (1494—1554) an kleinem Orte wirkend und 
nur wenigen bekannt, ſetzte ihn ein Jahrzehnt nach feinem Tode der große Ge- 
ſchichtſchreiber Vaſari an die verdiente Ehrenſtelle zu den Begründern der 
klaſſiſchen Kunſt; am Ende dieſes 16. Jahrhunderts war er dann dank den 
Bemühungen der ihm nacheifernden Carracci der meiſtnachgeahmte Künſtler 
bei der allgemein um ſich greifenden Gewölbemalerei. Das 17. und 18. Jahr- 
hundert feierte ihn mehr um ſeiner Anmut und der ſüßen Schönheit ſeiner 
Geſtalten, um des Zaubers ſeiner Farben willen ſchließlich als eine Art Ahnherrn 
des Rokoko. Im 19. Jahrhundert iſt ſein Ruhm immer mehr verblaßt, obwohl ich 
nicht glaube, daß ſich ein Ehrlicher dem Zauber der Anmut, den ſeine Gemälde in 
unſeren Galerien ausſtrahlen, entziehen kann. Ihn in ſeiner Größe erkennen kann 
man aber nur in Parma angeſichts der Fresken in den Kuppeln des Domes und 
von S. Giovanni Evangeliſta, ſowie des Zimmers im Convento di S. Paolo. 

Gerade aus den Kuppelfresken freilich ift der Vorwurf der Virtuoſität ge- 
folgert worden, und auch des Künſtlers neueſter Biograph, Georg Gronau, ſieht 
in der ſpäteren Domfreske inſofern einen künſtleriſchen Abſtieg von der Höhe der 
Kuppel in S. Giovanni, als ein Abermaß der Beweglichkeit und der Empfindung 
die Geſtalten zu ſehr verzerre, „daß er für den Stolz, zeigen zu können, daß es für 
ihn kein Hemmnis mehr gab, die Klarheit und den Adel der Form preisgegeben habe“. 
Selbſt wenn dieſes Werturteil über die Werke an ſich beſtehen bleiben ſollte, müßte 
es heißen: daß Correggio einem unerhört großen Gedanken all ſeine Kunſt dienſtbar 
gemacht und ſelbſt jene alle beſtrickende Eigenſchaft der lichtvoll klaren Anmut der 
Wahrhaftigkeit zum Opfer gebracht habe. Oder glaubt man etwa, daß es 
ihm leicht gefallen ſei, auf jene Schönheit der Form zu verzichten, die er ſich in ſo 
unvergleichlicher Weiſe zu eigen gemacht hatte? Kann man daran zweifeln, daß es 
ihn, den doch wenig bekannten, von keinem Fürſten, keinem Papſte geſtützten 
Künſtler, ſchwere Kämpfe gekoſtet hat, ſeinen ungeheuerlich neuartigen Plan ins 
Werk zu ſetzen? Jener Kanonikus, der, über das Fresko befragt, es als ein Ragout 
aus Froſchſchenkeln bezeichnete, hat ſicher viele Urteilsgenoffen gehabt; und dem 
Künſtler, der ſich an keine Vorbilder halten konnte, der auf einem neuen Gebiet 
gleich das Unerhörteſte wagte, mag oft vor den Schwierigkeiten feines Unterneh- 
mens, vor den Konſequenzen ſeines Grundgedankens geſchwindelt haben. 

Es fällt uns, die wir Hunderte gemalter Kuppeln geſehen haben, ſchwer, 
uns in die ganz ſeltſamen Schwierigkeiten hineinzudenken, die dieſes Unterfangen 
für den erſten Verſucher gehabt hat. Denn, da er die Aufgabe auch gleich am beſten 
gelöſt hat, hat er für alle Späteren die im Weſen der Sache beruhenden Schwierig- 
keiten behoben. Correggio aber wagte ganz Neues, ſelbſt wenn er Mantegnas 
Deckenmalerei in der Camera degli Spoſi zu Mantua und Melozzo da Forlis 
Ausmalung der Halbkuppel der Cribuna in der Apoſtelkirche zu Rom gekannt 
haben ſollte. | 


Stord: Zn der Stadt Correggios 551 


Correggios Kuppelmalerei ift aus einem tiefen Erfaſſen dieſer Bauweiſe 
erwachſen. Die Kuppel iſt, ein Seitenſtück zum Turmbau des Nordens, zunächſt 
als Außenarchitektur zu betrachten. Im Gegenſatz zum himmelragenden Turme 
ſtrebt ſie nicht dem Blick des Beſchauers gewiſſermaßen zu entwachſen, ſondern 
ſucht ihm in freier Höhe, ſcharf abgezeichnet von der Luft, das ſchönſte Gebilde 
einer idealen Linienführung vor Augen zu ſtellen. So haben alle Kuppeln, von 
außen betrachtet, etwas zur Erde Niederkommendes; es gibt eigentlich kein klareres, 
fo ſtark das Gefühl architektoniſcher Kunſt weckendes Bauwerk. Darum auch die 
Baumeiſter immer wieder gern Kuppeln auf ganz niederen Grundmauern aus- 
geführt haben. — Ganz anders wirkt die Innenanſicht der Kuppel. Die 
Notwendigkeit, beim Hinaufſehen den Kopf weit zurückzulehnen, erweckt ein Ge- 
fühl außerordentlicher Höhe, das — gerade bei unbemalten Kuppeln — durch die 
Wirkungen des Lichtes noch geſteigert wird. Denn die von den verſchiedenen Seiten, 
von oben und unten her durcheinanderflutenden Lichtſtröme löſen die feſten For- 
men auf. Kommt noch hinzu, daß die Weihrauchwolken ſich droben ſammeln. 
So verſchwindet alles, der Raum löſt ſich auf. Man kann bei vielen Kuppeln, 
z. B. der des Mailänder Domes, nachweiſen, wie die Baumeiſter dieſen Wirkungen 
entgegengearbeitet und in uns das Gefühl der Raumbeherrſchung bis in die höchſten 
Höhen wachgehalten haben. Andererſeits liegt etwas berauſchend Phantaſtiſches 
in dieſem ſchwimmenden Raume hoch droben. Es kann einem werden, als ob 
man auf einer Halde liege und in die gewaltige blaue Himmelskuppel hinaufſchaue. 

Phantaſtiſch iſt es und die Phantaſie weckend: Die Kuppel iſt der geſchaffene 
Raum für Geſichte. Wir befinden uns ja in der Kirche, im irdiſchen Wohnhauſe 
Gottes. Die Kuppel ſchwebt über den Betern drunten, wie der Himmel, und — 
„es ift, als wollt' er öffnen ſich“ und unſern irdiſchen Augen einen Blick eröffnen 
in ſeine Herrlichkeit. 

Correggio fordert ſelbſt dieſe Art der Betrachtungsweiſe ganz deutlich beim 
erſten der beiden Ruppelfresten in San Giovanni. Man pflegt das Werk als 
„Himmelfahrt Chriſti“ zu bezeichnen, wodurch der Beſchauer an die in 
den Evangelien erzählte Auffahrt Chriſti vor ſeinen Füngern, wie ſie ja auch in 
der Kunſt zahlloſe Male dargeſtellt worden iſt, erinnert wird. So allgemein 
dieſe Bezeichnung und Auffaſſung des Bildes iſt, ſo iſt 
ſie doch entſchieden falſch. Es handelt ſich hier gar nicht um den auf 
Erden ſpielenden Vorgang der Himmelfahrt Chriſti, ſondern um eine „Viſion“ 
des greifen Johannes auf Patmos, Die hier vorgeführte Szene 
ſpielt gar nicht auf Erden, ſondern im Himmel. In himmliſcher Seligkeit lagern die 
Apoftel auf dem Gewölk, völlig heimiſch in dieſer Welt, wie das vertraute Ge- 
bahren der Engel zeigt, und genießen jene höchſte Seligkeit des Verzücktſeins in 
der Anſchauung Gottes, Feju Chrifti, ihres Herrn, der hier in höchſter Verklärung 
ſchwebt. Aber es lagern — und hier liegt der Beweis für meine Auffaſſung — 
nur elf Apoſtel im Kreiſe. Es fehlt aber nicht etwa Paulus, der jenem Vorgange 
nicht beigewohnt hatte; er lagert mit nach innen gekehrtem Blick, der ruhigſte von 
allen, neben dem aufgeregt den Arm gen Himmel reckenden Petrus und preßt die 
Hände auf das übervolle Herz. Nein, unter dieſen ſeligen Himmelsfürſten fehlt — 


552 Storck: In der Stabt Eorreggios 


Johannes, er, der als Füngſter einſt den Vorgang der Himmelfahrt feines. geliebten 
Herrn auf Erden miterlebt. Er aber wurde weitaus der Alteſte von allen und 
mußte noch auf Erden weilen, als alle ſeine Genoſſen längſt mit ihrem Heiland 
vereint waren; die Sehnſucht zehrte an ihm, die Sehnſucht nach dem himmliſchen 
Lande; und fie machte ihn zum Dichter: in kühnen Geſichten erblickte er die größten 
Dinge ferner Zeiten. Seinem Sehnen eröffnet ſich auch der Blick in den Himmel, 
wo er ſeine einſtigen Genoſſen in Herrlichkeit thronen ſieht, der Herr aber ſo in 
ihrer Mitte ſchwebt, wie einſt in jenem glorreichſten Augenblicke, da er vor ihren 
Augen hinauffuhr in die Welt des ewigen Lichtes. 

Dieſe Viſion des Heiligen, deſſen Namen die Kirche trägt, hat Correggio 
darſtellen wollen. Er hat es ſo deutlich gemacht, daß er den Seher ſelber zeigt, 
wie er in einer Verzückung von unwiderſtehlich hinreißender Gewalt das himmliſche 
Geſicht genießt. Der gewaltige Greis ſitzt als einzige Figur, ſo von allen übrigen 
geſchieden, auf einem Felſen am Rande der Kuppel; auf gebreiteten Schwingen 
trägt ihm der Adler das Buch; aber jetzt vermag der Greis nicht zu ſchreiben: ſein 
halboffener Mund ſtammelt Liebe und Anbetung, feine Arme möchten die Herr- 
lichkeit ſehnend umfaſſen. 

So aufgefaßt, bildet das Bild auch die rechte gedankliche Ergänzung zu dem 
Fresko, das einſt die Halbkuppel über dem Chore ſchmückte und die Krönung Mariä 
darſtellte. Hier die Verherrlichung der Mutter durch den göttlichen Sohn; in der 
Kuppel dann er ſelber in ſeinem göttlichen Glanze. Und auch das dritte Fresko 
dieſer Kirche ſchloß ſich mit beiden zu einem großen Gedankenkreiſe zuſammen: 
neben den greifen Seher Johannes tritt der jugendliche Evangeliſt. Er ift in die 
Lünette über einer Seitentür des linken Querſchiffes hineingemalt, für mich die 
ſchönſte Raumfüllung eines halben Bogens, die ich überhaupt kenne. Der fraft- 
volle Jüngling lauſcht der Inſpiration, während die Hand wie von ſelber die er- 
lauſchten Worte niederſchreibt. Schon entreißt der Adler eine neue Feder ſeinem 
Gefieder, auf daß kein Aufenthalt entſtehe. 

Aber auch das Gemälde der Domkuppel iſt eine Viſion: ein Bild, wie es 
wohl ein Dante erſchauen mochte. Dargeſtellt iſt der Augenblick, in dem Maria 
im Himmel anlangt, zu deſſen Königin ſie berufen iſt. Eine unendliche Schar von 
Engeln war zur Erde hinabgeſchwebt, den heiligen Leib der entſchlafenen Gottes- 
mutter hinaufzuholen. Voll jauchzender Luft bringen fie nun die Herrliche empor- 
getragen. Mit weitgefpannten Armen ſchwebt die Reine in das ihr zukommende 
Reich. Die Bewohner des Himmels aber ſtürmen ihr entgegen, voran ein Erzengel, 
der ſich förmlich niederſtürzt, hinter ihm zu unzählbaren Scharen gedrängt die 
Geſtalten des Alten Bundes und Engel, unabſehbare Maſſen von Engeln. Dort 
droben in äußerſter Höhe, nur zu ahnen, der Urquell alles Lichtes, vor dem auch 
Dante auf ſeiner Wanderung geblendet die Augen ſchloß. 

Man muß bedenken, daß immer nur das Gemälde in der eigentlichen Kuppel 
als Ganzes zu ſehen iſt, daß alſo auch dieſes für ſich ſeinen geſchloſſenen Inhalt 
haben darf. Hier ſtehen die Apoſtel auf dem Tambour, gewiſſermaßen noch auf 
der Erde; die Heiligen in den Zwickeln darunter ſtellen dann die Verbindung mit 
der Kirche her. 


* *. 
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Storck: Zn der Stadt Correggios 553 


Ich bin in der glücklichen Stimmung des Reijenden, genußfreudig und genuß- 
fähig. Die kritiſchen Bedenken, die daheim in der Arbeitsſtube ſich wohl auch ein- 
ſtellen würden, können hier im halbtrunkenen Sehen all dieſer Herrlichkeiten gar 
nicht erſt aufkommen. Gewiß, ein fliegender Menſchenkörper behält immer etwas 
Befremdendes; mag fein, daß die Verzücktheit der Apoſtel fih in übertrieben ton- 
vulſiviſchen Bewegungen äußert. Andererſeits wollen wir doch nicht vergeſſen: 
dieſe Bilder ſind für gläubige Menſchen geſchaffen, die den dargeſtellten Vorgang 
glauben, die ihn in religiöſer Sehnſucht geradezu miterleben können. Daß denen 
gegenüber dieſen hehrſten Offenbarungen überhaupt eine Verzückung zu groß 
erſcheinen kann, dürfte fic) ſchwerlich bejahen laffen. 

Mir wird als das unvergeßliche Erlebnis von der Geſamtwirkung der 
Domkuppel bleiben: ein zuletzt körperlich fühlbares Hinaufgeriſſenwerden in 
uͤberweltliche Höhen. Ein Gefühl, wie ich es bis heute nur bei der ſchönſten Auf- 
führung von Beethovens Neunter gehabt habe, wurde mir hier viel körperlicher, 
ſinnlicher zuteil. Unter den Blicken aber durch die Kuppelfenſter droben wirkt 
der auf die Maria emportragende Engelsgruppe beglüdend, wie es eben der An- 
blick einer Schar herrlich geſunder, überſeliger Kinder vermöchte. Ja, dieſes Hundert 
ſtrampelnder Beinchen, die wohl ſeinerzeit in dem etwas maſſiv veranlagten Dom- 
herrn die Erinnerung an ein Ragout von Froſchſchenkeln wachgerufen haben, ſind 
der Inbegriff jener unſchuldigen Fleiſchesluſt, die die Mutter für die Frucht ihres 
Leibes empfindet. 

Überhaupt die Engel und Amoretten bei Correggio! Pas ift eine Welt für fid. 
Die Engel ſind die Buben und Mädels des Himmels, ſo wie wir es uns als Kinder 
ſelber gedacht haben, daß es den in Unſchuld verſtorbenen Kindlein im Himmel 
ergehe. Ich kenne nur noch einen Künſtler, der mit ſolcher Geiſtesfülle, einem 
ſolchen Reichtum an ſprühenden Einfällen dieſe beglückende Naivität verbindet, 
wie Correggio: das iſt Mozart. Aberreich an köſtlichen Einzelzügen und doch 
in allem einem beherrſchenden Geſamtgedanken untergeordnet, wie eine Orcheſter- 
partitur dieſes Meiſters wirkt die Ausmalung jenes Schlafgemaches der Abtiſſin 
des Convento S. Paolo, in dem alle entzückende Anmut des liebenswürdigſten 
Rokoko mit einem tiefen Empfinden verbunden iſt, das dem bloßen esprit ſtets 
unerreichbar blieb. Dieſe einzigartige Gartenlaube, die die Mondgöttin ſelber 
zum Heim ihrer ſchönſten Träume erkor, birgt jenen von Amoretten gebildeten 
Sagdgug der Diana, in dem die Kinderliebe des Meiſters fih am packendſten aus- 
lebt. Und dasſelbe inſtinktive Stilgefühl, wie es Mozart auszeichnete, eignete 
dieſem 25jährigen, als er die fechgehn Lünetten grau in grau mit mythologiſchen 
Szenen fo ausmalte, daß diefe wie Rundplaſtik wirken und fo den Übergang von der 
durch Malerei vorgetäuſchten Laube in den wirklichen Raum zwanglos vermitteln. 

Mozart gleicht er auch darin, daß, obzwar ihm der Ausdruck der Gewalt 
und Größe nicht verſagt iſt — die neben Michelangelo beſtehenden Apoſtelgeſtalten 
in der Kuppel von S. Giovanni beweiſen es — er doch ſein Eigenſtes gibt in der 
Darſtellung eines ruhigen Sichauslebens ſchöner Empfindungen. Das erleben 
wir in der Galerie vor den Gemälden. Insbeſondere feſſeln hier die „Madonna 
della Scodella“, fo genannt nach dem Schüſſelchen, das Maria in der Hand hält, 


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554 Storck: In der Stadt Correggios 


und die „Madonna des heiligen Hieronymus“, die gemeinhin im Gegenſatz zu der 
die Dresdener Galerie zierenden „Nacht“ als „Tag“ bezeichnet wird. An dem legte- 
ren Bilde läßt ſich vor allem auch Correggios Kunſt der Kompoſition ſtudieren. 
Sie arbeitet zunächſt architektoniſch mit Linien. In freier Landſchaft ijt die Ma- 
donna ſamt ihrem Knaben zu einer „heiligen Unterhaltung“ vereinigt mit der hei- 
ligen Magdalena und dem heiligen Hieronymus. In rieſenhafter Größe ragt dieſer 
zur Linken. Eine ſcharfe Linie geht von ſeinem vorgeſtreckten rechten Beine durch 
den Kopf und wird hier fortgeſetzt von einem Baumſtamme, der die linke Ecke oben 
erreicht. Nach dieſer Ecke zielen noch zwei andere Linien, deren eine von dem 
zum Schutze gegen die Sonne aufgeſpannten Vorhange gezogen wird, während 
die mittlere, wichtigſte die drei ſchönſten Köpfe der Gruppe zuſammenbringt. 
Von dem unausſprechlich ſüß hingeneigten Kopfe der heiligen Magdalena führt 
fie über den Jeſusknaben zur Madonna. Daß fie hier abbricht, ja durch das liebe 
Engelsgeſicht zur Seite abgezogen wird, erhöht noch die Aufmerkſamkeit für dieſen 
Mittelpunkt des Bildes, zumal dahinter die ganz im Sonnenlicht ſchwimmende 
Landſchaft ſich öffnet. — Als zweites Mittel des Aufbaus, dieſes Mal mehr zum 
Zuſammenbringen, dient die Farbe: rot ſind rechts oben der Vorhang, links unten 
der Mantel des Hieronymus, fowie in der Mitte links zur Seite derſelbe Mantel 
und Marias Untergewand. Gelb ein Dreieck vom Löwenkopf zum Gewand des 
Engels und hinüber zu der heiligen Magdalena. Der dritte ſtarke Ton iſt blau, 
der von des Hieronymus Lendentuche ſich faſt unmittelbar fortſetzt zum Ubertleide 
Marias und in ihrem Kopftuche gipfelt. Wie einfach und zwanglos ordnet ſich das 
alles an und doch wie fein und tief durchdacht! Wunderbar iſt der Reichtum des 
Lebens in dieſem Bilde. Von den Hauptperſonen wagt man es kaum erft aus- 
zuführen. Ich empfinde es als beſonders fein, wie das Feſuskind, das hier fo gar 
nicht mehr iſt als ein Kind, trotzdem der geiſtige Mittelpunkt des Ganzen iſt. Da- 
durch daß es in kindlichem Begehren nach dem Buche des Engels langt, iſt dieſer 
damit verbunden; der große Hieronymus ſchaut etwas verlegen anf das kleine 
Geſchöpf, das doch den Inhalt feines Lebens bildet; Marias beſeligtes Mutter- 
lächeln und dann dieſe unvergeßlich ſüße Zärtlichkeit, mit der Magdalena in feinſter 
weiblicher Sinnlichkeit ihr Antlitz an das Beinchen ſchmiegt und das Füßchen zum 
Kuſſe greift. Links unten ſitzt feierlich ernſt der Löwe, rechts aber hat ſolch ein 
himmliſcher Schlingel — Verzeihung! es iſt ein Engel — die Naſe fürwitzig in 
Magdalenas Salbengefäß geſteckt, ſeinen Inhalt genauer zu unterſuchen. 

Kaum minder anregungsreich ift die „Madonna della Scodella“. Hier ſchnei⸗— 
det die eine große Schräglinie das Bild in zwei faſt gleiche Teile, wodurch reid- 
lich Raum für die wunderbar ruhige Landſchaft gewonnen wird. Der Fefustnabe 
iſt hier etwas älter, in der ſchönſten Kinderzeit, wo ſie allen gern Liebes erzeigen 
möchten. So hängt er hier an der Mutter, die ihn mit einem jener unbefchreib- 
lichen Blicke umfängt, die das höchſte Ausdrucksmittel der tiefſchwarzen Augen 
Correggios find; aber auch Zofeph erhält ein Händchen, nicht bloß, um die Datteln 
zu empfangen, die er vom Baum gepflückt hat. Wo die heilige Familie Raſt hält, 
können natürlich Engel nicht fehlen. Auf einer Wolke ſind ſie herabgeſchwebt, 
und während die einen den Aft der Palme niederbeugen, daß Fofeph leicht die 


Storck: Zn der Stadt Correggios 555 


Früchte pflücken könne, hat der eine Bube rechts den Eſel am Pflocke feſtgebunden, 
der links aber hat im Krug friſches Quellwaſſer geholt, mit dem er nun Marias 
Schüſſelchen füllt. 

Im Vergleich zu dieſen beiden vermögen die beiden andern großen Tafel- 
bilder der Galerie keinen ſo ungemiſcht günſtigen Eindruck zu machen. Auf der 
„Kreuzabnahme“ iſt der Leichnam Chriſti von erſchütternder und doch vornehmer 
Realiftit, wogegen für mein Gefühl der Schmerzensausdruck der Frauen nicht 
recht überzeugt. Beim „Martyrium der Heiligen Plazidus und Flavia“ komme 
ich über den Stoff nicht weg. Pſychologiſch intereſſant iſt, daß Correggio offenbar die 
Wonnen des Martyriums darſtellen wollte, was ihm zumal bei der Frau gelungen 
ijt, die in einem Zuſtand beſeligter Entrüdtheit den Todesſtoß empfängt. Ganz herr- 
lich ift die Waldlandſchaft, in deren geheimnisvolles Dunkel die Szene verlegt ift. 

So bietet das kleine Parma wie kein anderer Ort die Gelegenheit, Correggios 
Lebenswerk nach allen Richtungen kennen zu lernen. Nur jene Mythologien ſind 
nicht vertreten, in denen Correggio mit feiner ſchönſten Formenkunſt und feiner 
zarteſten Malerei die höchſte Sinnenfreude gefeiert hat, auch hier durch natürliche 
Naivität und die vornehme Empfindungsweiſe alles Heikle glücklich umgehend. 
Erinnert nicht auch dieſe Fähigkeit an Mozart? Wie dieſer, iſt Correggio jung ge- 
ſtorben; kaum vierzig Jahre alt iſt er geworden und hat in ſorgfältigſter techniſcher 
Arbeit eine ſolche Fülle geſchaffen, daß man wohl denken möchte, er habe ſich im 
Schaffen verzehrt. Geheimnisvoll ift fein Leben. Wie Mozart muß er die Fähig- 
keit beſeſſen haben, anderswo gewonnene Eindrücke ſich ſo zu eigen zu machen, 
daß alles den Stempel der eigenen Perſönlichkeit trägt; wie Mozart ſtand er zu 
Anfang der Zwanziger, wo andere unſicher tappen, als ein völlig Fertiger da. 
Woher er im kleinen Parma dieſe Anregungen gewonnen, wo er auch nur dieſe be- 
rüdend ſchönen Modelle gefunden haben mag, das ift eines jener tiefen Geheim 
niſſe im Leben der Kunſt, die unerklärbar bleiben. Dafür bleibt uns die dauernde 
Freude am Wirken eines ſolchen „Licht- und Liebesgenius“, — wie ſchön paßt 
Richard Wagners Bezeichnung für Mozart auf den ihm wahlverwandten Maler! 

* * 


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Die Kunſt und Perſönlichkeit Correggios beherrſcht einen fo völlig in Parma 
— man verſucht immer wieder, ſich den ſo denkbar unphiliſtröſen Mann in dieſe 
Verhältniſſe einer kleinbürgerlichen Stadt hineinzudenken —, daß es wohl jeden 
der Kunſt in Praxis oder Wiſſenſchaft Befliſſenen dazu drängen muß, gerade an 
dieſer Stelle fih ein klares Verhältnis zu dem Weijter zu gewinnen. 

ich bin dadurch den Geſchehniſſen, wie fie für mich folgten, vorausgeeilt. — 

Schwer nur vermochte ich mich von der Kuppel droben loszureißen, von 
dieſem weiten Blick, der einem im Norden noch die Alpenkette vorſpiegelte. Der 
Sakriſtan war ganz laute Begeiſterung; ich glaube, er hatte mir nur deshalb ſo 
lebhaft zur Beſteigung der Kuppel geraten, weil er ſelber wieder einmal hinauf- 
gewollt hatte. Jetzt ſtieg er, mit dem Wachsſtock die leicht zu verfehlenden Tritte 
ſorgſam ableuchtend, voraus in die Tiefe. In den mächtigen romaniſchen Bogen- 
hallen ſchwimmt bereits dämmernde Dunkelheit. Aber mein Führer will mir doch 
noch einiges zeigen. So leuchtet er mit Kerzen Antelamis „Kreuzabnahme“ 


556 Storck: In ber Stadt Eorreggios 


ab und führt mich dann mit befonderem Eifer vor eine Freske zur Linken des 
Cingangsportales. Zunächſt vermag ich kaum etwas zu ſehen, dann unterſcheide 
ich, dem Lichtſchein nachgehend, die vor der Madonna kniende Geſtalt eines älte- 
ren Mannes. Jetzt löſcht der Sakriſtan das Licht — da leuchten mich groß die Augen 
des betenden Mannes an. Und ſooft ich jetzt aus dem Dunkel hinſah, glänzten aus 
der Finſternis ringsum die Augen. Das im Führer nicht erwähnte Fresko ſoll ein 
Werk des Criſtofero Caſelli gen. da Temperelli (1450—1520) fein, von dem auch 
mehrere Bilder in der Galerie hängen. Darunter eine Madonna als reife, ja 
durch Schmerz herb gewordene Frau und eine andere Madonna mit zwei Heiligen 
und ſechs köſtlich naiven Muſikantenengeln. 

Antelamis 1178 entſtandene Kreuzigungsgruppe, wohl das bedeutendſte 
Werk der italieniſchen Plaſtik vor Niccolo Piſano, habe ich erft am nächſten Morgen 
in ſeiner faſt miniaturhaften Sinnigkeit bewundern können; der betende Alte aber 
hatte bei Tageslicht viel von ſeiner Macht eingebüßt, obwohl er SS jetzt als tid- 
tiges Kunſtwerk beſtand. 

Die frühen Morgenſtunden dienen den Kirchenbeſuchen. San Giovanni 
liegt gleich hinter dem Dom und birgt die wunderbaren oben beſchriebenen Fres- 
ken Correggios, der außerdem die Entwürfe für die von Erfindungskraft und An- 
mut ſtrotzenden Frieſe und Faszien der Bogen lieferte. — Nur wenige Schritte 
zurück zum Baptiſterium (von 1196—1302 gebaut), das in feiner Wiſchung 
von gedrungener Kraft mit Eleganz der Bewegung durch die Säulenſtellungen 
einen Eindruck ſtolzer männlicher Vollreife macht, geradezu als Erklärung wirkt 
für die Kraftmenſchen der Renaiſſance. Die Plaſtik in den Portalen — ſie ſoll 
auch von Antelami fein — hat etwas vom Mönchtum in der Überfülle gedanten- 
hafter Beziehungen und der Unbeholfenheit in allem Körperlichen. — Die Küſter 
verweiſen immer zunächſt auf das Seltſame, das ja immer auf das Volk den ftart- 
ſten Eindruck macht. So hier der große achteckige Taufbrunnen, der aus einem 
einzigen rieſigen Marmorblock gearbeitet ift. Zn deffen Mitte der erhöhte Platz 
für vier gleichzeitig taufende Prieſter; denn da nur zweimal im Fahre getauft 
wurde, war bei der Fruchtbarkeit des Volkes reichliche Arbeit. Für die Raum- 
wirkung der ſechzehn Seiten des Innern ift eine fein abgeſtimmte Unregelmäßig- 
keit der Breite der Flächen und der Stärke der Säulen ſehr geſchickt ausgenützt. 
| Nun nod zu der über einem griechiſchen Kreuz aufgebauten Kirche Madonna 
della Steccata, dann bleiben noch eine Reihe von Stunden für die Galerie. Herrlich 
ſchwebt hier wieder die Kuppel. Drei Grabmäler wecken Erinnerungen an die 
wechſelvolle Geſchichte der Stadt Parma und des zugehörigen Herzogtums. Da 
ruht ein Sforzino Sforza; das prachtvolle Werk Giovanni Franc. da Grados zeigt 
den Mann ſchlafend auf Helm und Buch — ganz echt hohe Renaiſſance: ſchwert⸗ 
geübt die Hand, ſcharf der Geift; der Waffe und dem Buch mit gleicher Leiden- 
ſchaft ergeben; machtgierig, grauſam, hart und dabei von zarteſter Empfanglid- 
keit für alle Schönheiten in Kunſt und Leben. Gegenüber einer der berüchtigten 
Farneſe, die ſich gegen Haß und Aufruhr zweihundert Jahre als Herrſcher zu be- 
haupten wußten. Man behält für dieſe Ufurpatoren und Oeſpoten der Renaiffance 
trotz ihrer Grauſamkeit und Wildheit immer die Sympathie, daß fie ſich auf ihre 


Gtord: In der Stadt Correggios 557 


eigene Kraft ſtellten, daß ſie eigentlich ſtets die Hand am Schwerte ihre Stellung ver- 
teidigen mußten. Und daß ſie in dieſer Lage dieſe Genußſtimmung aufbrachten, ſo 
den Orang fühlten, ihr vielleicht bald gewaltſam beendetes Dafein in rieſigen Bau- 
werken hiſtoriſch zu monumentaliſieren, — das verleiht dieſen kleinen Stadttyrannen 
eine perſönliche Größe, die kaum einer der mächtigen Vertreter des ſpäteren Ab- 
ſolutismus aufbringt. Was einem dieſen Abſolutismus ſo verhaßt macht, iſt die 
gerrſchaft einer kalten Diplomatie, die mit dem Schickſal der Völker umgeht, als 
handle es ſich um das Miſchen eines Kartenſpiels. Auch daran werden wir hier 
lebhaft erinnert durch das Grabmal des Feldmarſchalls Grafen Neipperg ( 1829) 
— übrigens eine tüchtige klaſſiziſtiſche Arbeit von Bartolini —, der die Aufgabe 
hatte, nach Napoleons I. Tode die Herzogin Maria Luiſe in morganatiſcher Ehe 
zu tröſten. Ihr hatte 1815 der Wiener Kongreß das Herzogtum Parma in ſeiner 
Beſorgtheit um das Wohlergehen alles ſouveränen Blutes kurzerhand überwieſen. 
Rach ihrem Tode (1847) fiel Parma dann wieder an die Bourbonen. Schon ein 
gahr ſpäter wurde Karl II. vertrieben, feds Fabre darauf ſein Nachfolger auf der 
Straße erdolcht, bis endlich 1859 die Befreiungsſtunde ſchlug. 

O, man kann es den Italienern wohl nachfühlen, wie nach ihrer Rleinitaate- 
rei, die unvergleichlich tragiſcher und drückender war als die deutſche, die Jahre 
1859 und 1870 wirken mußten, und nimmt die Maſſe der Garibaldi- und Viktor 
Emanuel-Dentmaler gern in Kauf, trotzdem an ihnen künſtleriſche Freude kaum 
zu erleben iſt. Der Kunſt ſcheint es bei der Herrſchaft der Wenigen doch beſſer zu 
gehen, als unter der Demokratie. 

Die Galerie iſt in dem rieſigen, von den Farneſe aufgeführten Palazzo della 
Pilotta untergebracht, der, düſter nach außen, mit anderthalb Meter dickem Mauer- 
werk — man kann es in einigen der gegen das Flüßchen Parma gelegenen Sãle gut 
ſehen — eine Feſtung, im Inneren ein prachtvolles Treppenhaus, ſchöne Prunkräume, 
aber auch wohnliche Zimmer birgt. In der antiken Sammlung ergötzt durch toft- 
liche Haltung der ſelig „trunkene Herkules“, und man ſteht überraſcht vor dem 
Figürchen von 25 cm Höhe, das fo monumental erfaßt iſt, daß es ohne Schaden die 
Vergrößerung ins Zehnfache ertragen würde. Wundervolle Intarſien aus der 
Abtei Torrechieſa und ein Nokokoſchreibtiſch mit ganz prächtig eingelegten Szenen 
aus Reinecke Fuchs feſſeln die Aufmerkſamkeit beim raſchen Durchſchreiten. In 
der Gemäldegalerie iſt die Spannung auf Correggio ſo groß, daß manches andere 
darüber zu kurz abgetan wird. Auch ſoll ja hier teine Aufzählung verſucht, nur 
das irgendwie beſonders Auffallende erwähnt werden. Dazu gehört eine im 
Himmel thronende Madonna aus der Schule Botticellis wegen der ſehr vereinzel- 
ten Auffaffung der Himmelskönigin als alter Frau. In der Sammlung der Bild- 
niſſe packt Gebaſtiand del Piombos Bildnis des Papſtes Clemens VII. Das 
aſchfahle Geſicht zwingt ſich ſchwer zur Milde. Wan fühlt, dieſe Renaiſſancepäpſte 
waren aus demſelben Holze, wie die Fürſten der Zeit. Nochmals erleben wir an 
Toschis zahlloſen Aquarellen, das gewonnene Geſamtbild durch die Nachbetrachtung 
der Einzelheiten vertiefend, die Fresken des Domes und von San Giovanni. 

Und in dieſer Stimmung, übervoll durch die Gaben dieſes reichen Geiſtes, 
verlaſſen wir die Stadt Correggios. 

Së. 


558 Neue Bücher 


Neue Bücher 


Correggio. Des Meiſters Gemälde in 196 Abbildungen. Herausgegeben von Georg 
Gronau. Stuttgart, Deutfhe Verlagsanſtalt. Geb. 8 M. 

ich hoffe, durch meine Ausführungen über Correggio wie durch die dem vorliegenden 
Hefte beigegebenen Abbildungen in manchem Lefer das Verlangen nach eingehenderer Kennt- 
nis des Lebenswerkes dieſes Meiſters wachgerufen zu haben. Dazu bietet vorzũgliche Gelegen- 
heit einer der Bände der „Klaſſiker der Kunſt“, die in ihrem roten Gewande bald überall be- 
kannt und damit auch beliebt geworden ſind. Die Lebensarbeit Correggios wird hier in einer 
ſonſt nirgends erreichten Vollſtändigkeit geboten. Bei der Art feiner Hauptwerke ift es befon- 
ders wichtig, daß fo viele Einzelſtücke daraus gezeigt werden. — Georg Gronaus Text gibt eine 
gute Überſicht über die geſchichtlichen und perſönlichen Zuſammenhänge ber Kunſt Correggios, 
für die der Verfaſſer ein warmes Empfinden hat. Daß ich nicht in allem übereinftimme, ergibt 
ſich aus meinen vorliegenden Ausführungen. Bedauert habe ich, daß Gronau ſo gut wie gar 
nichts Kulturgeſchichtliches beibringt und auch von Correggios Leben nichts mitteilt. Ich weiß, 
daß hier faſt alles Legende iſt. Aber es konnte ja auch als Legende mitgeteilt werden. Denn 
diefe hat außerordentlichen pſychologiſchen Wert für die Art, wie die Zeit ſich mit dem Rätſel 
dieſes Mannes abgefunden hat. St. 
„Meiſter der Farbe.“ Europäiſche Kunſt der Gegenwart. (Abonne- 

mentspreis für zwölf Monatshefte 24 %, Einzelheft 3 M, Cingelblatt 1 K.) 

Der Beginn eines neuen Jahrgangs gibt willkommene Gelegenheit, den Bezug dieſer 
vorzüglich geleiteten Kunſtſammlung aufs neue angelegentlichſt zu empfehlen. Die gewählte 
Form der Zeitſchrift iſt eigentlich nur äußerlich, bedeutet aber inſofern eine Bereicherung der 
anderen ähnlich geſtalteten Veröffentlichungen des Verlags, als in jedem Heft auch einige 
textliche Beiträge gebracht werden. Im ſoeben abgeſchloſſenen Jahrgang find das insbeſond ere 
Künſtlerbriefe und erinnerungen. Den Schwerpunkt aber bildet die immer großartiger ſich 
entwickelnde Sammlung farbiger Kunſtblätter, deren jedes Heft feds bringt. Die Oreifarben- 
drucke find techniſch einwandfrei, einem jeden ift aus fachmänniſcher Feder ein Erklärungs- 
blatt beigegeben, das das Wichtigſte für den Künſtler und das Bild enthält. Die Auswahl der 
Bilder erfolgt mit der Objektivität des echten Muſeumsleiters, der nicht perſönlichen Lieb- 
habereien nachgeht, ſondern ein Geſamtbild des allgemeinen Kunſtſchaffens veranſchaulichen 
will. Ein beſonderer Vorzug der Sammlung liegt in dem Bemühen, auf Ausſtellungen auf- 
tauchende bedeutendere Werke gleich dieſer Sammlung einzuverleiben, bevor fie in Privat- 
beſitz übergehen und damit der Öffentlichkeit ſehr oft ganz aus den Augen kommen. 

| * 
Hens „Fünfzig Fabeln für Kinder“ und desſelben „Noch fünfzig 
Fabeln für Kinder“ in Bildern, gezeichnet von Otto Speckter. 

So echt kindlich zu dichten, wie der alte Hey, iſt ſeither kaum mehr einem gelungen, 
und Speckters Bilder ſind von köſtlicher Naturfriſche und vollendeter Naturbeobachtung. In 
dieſer Neuausgabe find dabei die Bilder in ihrer urſprünglichen, für die Lithographie berech- 
neten Geſtalt neu wiedergegeben. Dieſe urſprüngliche Form iſt durchweg beſſer als die ſpätere, 
für den Holzſchnitt gelieferte Bearbeitung, welch letztere nicht einmal immer von Speckters 
Hand ſtammt. Die beiden ſchmucken Bändchen find bei Alfred Zangen in Hamburg 
erſchienen und koſten nur je 60 9. 


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Meiſter der Vokal⸗ und Inſtrumentalmuſik 
des 15. und 16. Jahrhunderts 
Ein praktiſcher Beitrag 


von 


H. Oehlerking 
N JK den letzten Jahren iſt nicht nur durch Neuausgabe längſt vergeſſener 


€ N Werke früherer Zeiten die notwendigſte Bedingung zu deren Wie- 
derbelebung erfüllt, tüchtige Chor- und Orchefterleiter boten uns 
=> auf ihren Konzertveranſtaltungen häufiger aus den wieder fließen- 
den alten Quellen gar köſtliche Proben, vokaler ſowohl wie inſtrumentaler Art. 
Mag die vor drei bis vier Jahrhunderten entſtandene Inſtrumentalmuſik oftmals 
mehr den Hiſtoriker intereſſieren als dem modernen Ohr künſtleriſchen Genuß 
gewähren: die Vokalmuſik, vor allem das weltliche Volkslied des 15. und 16. Jahr- 
hunderts, ſtand auf hoher Stufe der Entwicklung und Vollendung, fie ift an Klang- 
ſchönheit und Formvollendung den zeitgenöſſiſchen Erzeugniſſen ebenbürtig, viel- 
fach ſogar überlegen. Die folgenden Ausführungen ſtellen ſich die Aufgabe, auf 
diejenigen Quellen, Meiſter und Meiſterwerke des 15. und 16. Jahrhunderts hin- 
zuweiſen, welche fih auf Grund mehrfacher praktiſcher Verſuche für die ,, Mufita- 
liſche Renaiſſancebewegung“ ſowohl wie auch für die Neubelebung unſerer Konzert- 
programme als ganz beſonders wertvoll erwieſen haben. SS, 

Die im Jahre 1452 verfaßte Handſchrift des „Lochheimer Liederbuches“ ift 
die älteſte Quelle dreiſtimmigen Kunſtgeſanges. Niedergeſchrieben wurde diefe 
Sammlung von einem Dilettanten „Wolflein von Lochhame“ im niederbayeriſchen 
Dorfe Lochheim. Das Original lag lange in der Bibliothek zu Wernigerode a. Harz. 
Die Wiederherausgabe erfolgte 1867 durch einen Elberfelder Kunſtfreund, Wil- 
helm Arnold, und den bekannten Muſikgelehrten H. Bellermann. Es enthält 
42 weltliche Lieder, worunter 5 dreiſtimmige, 2 zweiſtimmige, die übrigen einftim- 
mige Sätze. Die bekannteſten und ſchönſten Sachen aus dieſem „Gesennspuch““ 


560 Oeyhlerting: Melſter der Vokal- und Inſtrumentalmuſik des 15. und 16. sapepmbests 


find folgende: „Der walt hat sich entlaubet“. Dieſes Liedlein jtellt in der Snnig- 
keit und Zartheit des Wortausdruds, der Reinheit und Klangſchönheit des Ton- 
ſatzes das Ausgezeichnetſte dar, was wir an mehrſtimmiger Vokalmuſik aus der 
Mitte des 15. Jahrhunderts beſitzen. Nach damals üblichem Brauch liegt die Melo- 
die im Tenor. Ein ebenſo ausdrucksvolles wie keuſches und inniges Liebeslied ift. 
die herzige Weiſe „All mein gedenken, die ich han“. Beſonders hübſch und ein- 
dringlich geſtaltet ſich der Vortrag dieſes Liedes mit Begleitung des damals üblichen 
Lieblingsinſtrumentes, der Laute. (Neuausgabe u. a. in den von H. Scherrer 
im Verlag G. D. Callwey - München herausgegebenen Heften „Deutſche Volks- 
lieder und Balladen zur Guitarre. Preis à Heft 1 M.) Voll köſtlichen Humors ift 
das ſiebenſtrophige Bänkelſängerlied „Ich spring an diesem ringe“: die frewelein 
von franken ſind die feinſten Dirnen, denen zuliebe der humorvolle Verfaſſer 
ſogar das Spinnen noch erlernen will; die „frewelein vom Reine sind hübsch und 
feine, die können seiden spinnen, die newen liedlein singen“. Reſigniert klingt 
der Schluß aus: 


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Den frewelein soll man hofieren | 
alzeit und weil man mag 

Die Zeit | die kommet schiere | 
es wirt sich alle tag. 

Nun bin ich worden alte | 

zum wein muß ich mich halten 
all dieweil ich vermag. 


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Der Herausgeber dieſes Liedes, deſſen Melodie ein moderner Komponiſt nicht 
leichter, volksliedmäßiger und einſchmeichelnder hätte ſetzen können, fügt die Fuß- 
note hinzu: 


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„Do halt ich’s auch mit.“ 


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Keückens allbekanntes Soldatenlied für Kinder „Wer will unter die Soldaten?“ 
hören wir vierhundert Jahre vorausklingen in dem altdeutſchen Wanderliede „Wohl 
auf, wer baß will wandern, wohlauf zum Vaterland! Der ſäum ſich hier nicht 
lange, dieweil er mag von dannen, mach ſich dort baß bekannt, mach ſich dort baß 
bekannt“. Es entſtammt einer Handſchrift „geiſtlicher Lieder in weltlichen Weiſen“ 
des Kloſters Hohenfurth aus dem 15. Jahrhundert. Unſer fröhliches Wanderlied 
zählt zu der Reihe derjenigen weltlichen Geſänge welchen die Kirche, nach vergeb- 
licher Bekämpfung geiſtliche Texte (hier die auf das himmliſche Vaterland gerichtete 
Wanderſchaft) unterlegte und fie in dieſer neuen Geſtalt zum Oienſt des religiöſen 
Lebens heranzog. (Das Wanderlied findet fih in „Bunte Bühne“, 2. Folge Nr. 1 
Geſammelt von R. Batka, herausgegeben vom Kunſtwart.) | 

Neben dem dreiſtimmigen Kunſtgeſang begegnen wir dann auch „Geseng 
mit vieren“, nämlich für Diskant, Alt, Tenor und Baß. Der Nürnberger Arzt und 
Komponiſt Georg Forſter charakteriſiert in ſeiner Liederſammlung „Ein außzug 
guter alter vn newer Teutscher liedlein, einer rechten Teutschen art, auf allerley 
Instrumenten zu brauchen, auBerlesen“ nach der Anſchauungsweiſe des 16. Jahr- 
hunderts auf den Titelblättern der einzelnen Stimmen die Singſtimmen alfo: 


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Oehlerking: Melſter der Vokal- und Inſtrumentalmuſik bes 15. und 16. Sahrhunberts 561 


Im Discantus: 
Ir Kneblin vnd ir Meidlein vein 
Ewer Stimlein schellen also fein. 
Den Discant lernent vnbeschwert, 
kein andrer stim euch zugehört. 
Im Altus: 
Der Alt gehört Jungsellen zu. 
Die lauffen auf vnd ab on rhu. 
Also ist auch des Altes weiß. 
Drumb lerne mich mit allem fleiß. 


Der Alt wurde alfo von Männerſtimmen mit gut ausgebildetem Faljett 
geſungen. 
Im Tenor: 
Mein art und weiß in mittelsmaB, 
gen andern stimmen ist mein straß. 
Die habent acht auf meine stimmen. 
Den Mennern ich für andern zim. 


Der Baß muß fih folgendes Verslein gefallen laffen: 


Mein ampte ist im niedern stat. 
Drumb wer ein bstanden alter hat 
Und brommet wie ein Ber, 

Der komm zu meiner stimme her. 


Etwa vom Jahre 1500 an wurde meiſt vierſtimmig, hier und da auch ſchon 
fünf- und ſechsſtimmig geſungen. Der cantus firmus liegt noch immer im Tenor. 
Tätigen Anteil an der fortſchreitenden Entwicklung des Kunſtgeſanges hatte u. a. 
Heinrich Finck, der von 1480—1506 bei den polniſchen Königen Johann Albert 
und Alexander in Dienſten ſtand. Über das Verhältnis des Rünftlers zu feinen 
hohen Herren berichtet eine Anekdote, in welcher ſich Alexander ſcherzweiſe über 
Fincks Beſoldung ausläßt: „Wenn ich einen Finken in einen Käfig ſetze, ſo koſtet 
er mir jahrüber kaum einen Dukaten und fingt mir auch.“ Ambros ſagt in ſeiner 
Geſchichte der Muſik über unſern Meiſter: „Finck ift in feiner reckenhaften Tüchtig⸗ 
keit, in ſeiner anſpruchsloſen Güte, in ſeinem treuen, innig empfindenden Gemüte, 
fogar in feinen gelegentlichen Schroffheiten und Härten ein echter, deutſcher Meiſter“. 
1536 gab der Großneffe zu Nürnberg Finds Werke heraus, von denen das wunder- 
volle „Ach herzigs Herz“ zu den ſchönſten Perlen lyriſcher Vokalmuſik gehört. 
Beſagte, von Hieronymus Formſchneider beſorgte Sammlung hat den Titel: 
„Schöne auserlesene Lieder des hochberümpten Heinrici Finckens sampt andern 
neuen liedern, von fürnemsten dieser kunst gesetzt lustig zu singen, und auff 
die Instrument dienstlich, vor nie in druck ausgegangen.“ Unter Finds Beit- 
genoſſen prangt Paul Hoffheimer, der Organiſtmeiſter Kaiſer Maximilians I., jener 
vortreffliche Sänger, den der König von Ungarn zum Ritter des goldenen Spornes 
ernannte, den der Kaiſer in den Adelsſtand erhob und deſſen Lob er nach des 


Künftlers Tode in lateiniſchen Verſen fang. Das Lied „Ich hab' heimlich ergeben 
Der Zürmer XI, 10 36 


562 Oehlerking: Meifter der Vokal- und Inftrumentalmufit des 15. und 16. Jahrhunderts 


mich eim schönen Helden“, in welchem ein Hoffräulein ihre heimliche Liebe zu 
einem Ritter beſingt, iſt, wie alle Lieder Hoffheimers, voll Kraft und Klang, klingt 
hier und da wohl etwas antik, iſt aber immer warm und zu Herzen gehend. 

Einer der bedeutendften Bearbeiter von Volksliedern ift Heinrich Ffaac 
(1450—1517), der Symphoniſtiker an Kaiſer Maximilians Hofe, einer der größten 
Meiſter aller Tonkunſt. Das angeblich vom Kaiſer ſelbſt gedichtete „Innsbruck, ich 
muß dich laſſen“, iſt eines der ſchönſten Lieder aller Zeiten; die Melodie liegt nicht 
im Tenor, ſondern im Sopran. Dieſes einzig hübſche Lied wurde bald allgemein 
bekannt und beliebt. Die Melodie legte man geiſtlichen Liedern — O Welt, ich 
muß dich laffen, Nun ruhen alle Wälder — unter. Über Ffaacs Kunſt find alle 
Zeitgenoſſen voller Verwunderung. Er ſelber war Kapellmeiſter an der Kirche 
San Giovanni und Lehrer der Kinder des Fürſten Lorenzo von Medici zu Florenz, 
daſelbſt zugleich Geſchäftsträger Maximilians I., wofür er jährlich 150 Gulden 
bezog. Wie ſeine „Feſt- und Maskenlieder für den Karneval“ in echt italieniſcher 
Anmut und Leichtigkeit erſtrahlen, ſo leuchtet er uns in ſeinen Meſſen und Motetten 
in aller Meiſterſchaft als Kirchenkomponiſt entgegen. Unſer vielſeitiger Künſtler 
hat auch ſchon erfolgreich die Tanzmuſik kultiviert. Unter den Inſtrumentalſtücken 
dieſer Art iſt beſonders die „Padovana“ zu erwähnen: ein reizender, anmutiger Tanz 
zu „fünffen auff kleine und grosse geygen“, ſo formvollendet, daß er als eine moderne 
Kompoſition angeſehen werden könnte. Der Tanz kam in zwei Hauptformen als 
Schreit- oder Schleif- und Sprungtanz vor. Bei der erſten Art faßte der Tänzer 
eine der zwei Tänzerinnen an der Hand und nahm mit langſamen, ſchleifenden 
Schritten einen Umgang durch den Saal, während Lauten und andere Gaiten- 
inſtrumente dazu ertönten. Der Vortänzer oder die Vortänzerin ſtimmte zu der 
Muſik auch wohl ein friſches Tanzlied an. Wegen der langen herabwallenden 
Gewänder (swanz, swänzelin) war eine ſchnelle Bewegung oder ein Drehen wie 
bei unſeren Rundtänzen (Walzer) ausgeſchloſſen. Die Geiſtlichkeit eiferte gegen 
dieſe weltlichen Vergnügungen in ſtrengen Sittenpredigten, worin die Tanz- 
ſchleifen Pfauenſchweifen verglichen werden, auf denen die Teufelchen tanzen. 
Sn den Strafreden heißt es u. a.: bedürfen die Frauen ſolcher Schwänze, fo würde 
Gott fie ſicher mit etwas Derartigem verfehen haben. Hinſichtlich des Schleppen 
unfuges ſchrieb eine Frankfurter Kleiderordnung vor, daß auf vornehmen Hoch- 
zeiten „über 5 Paar nit dantzen, wegen der langen Schleif oder Schweif, so die 
Frauen an den Röcken tragen, etlich Ellen lang“. =— Zhrer eigenen Ausführung 
wegen wurden die Sprungtänze in der Regel draußen getanzt. Ein altes Gedicht 
erzählt von einer Tänzerin: „Sie sprank mer danne eines klafters lank unt noch 
höher“. 

Wie Kraniche, Löwen, Bären fei, fo wird berichtet, dudcheinandergeſprungen 
worden. Eine edlere Ausbildung der Tanzmuſik war daher ur im Anſchluß an 
die ruhigere und gemeſſenere Bewegungsart der Za Deene Paſſe- 
mezzo, Courante) möglich. — Im Anſchluß hieran ift der „Fuggerin Dantz“ für zwei 
Lauten, komponiert von dem Sohn des berühmten, im Dienfte des Grafen Fugger 
zu Augsburg ſtehenden Hans Newſiedler namhaft zu machen. Gedruckt findet ſich 
der „Fuggerin Dantz“, für zwei Lauten geſchrieben, in einem Laiitenbud des 


Oehlerting: Meiſter der Botal- und Inſtrumentalmuſik des 15. und 16. Jahrhunderts 563 


Melchior Newſiedler 1574 zu Straßburg. Der erſte Teil begleitet in geradem Takt- 
teil den Schrittanz; der andere Teil heißt „Hupauff“ und hat dreiteiligen Takt. — 
Die heitere Vokalmuſik jener Zeit findet würdige Pflege durch den Kapellmeiſter 
Sr. Römiſchen Königlichen Hoheit Arnold von Bruck (wahrſcheinlich aus Bruck in 
Aargau gebürtig). Von den elf in der Sammlung von H. Formſchneider enthaltenen 
weltlichen Liedern find vor allem drei „frische Geseng“ unſern Chören für Auf- 
führungen ſehr zu empfehlen. In dem launigen und kraftvollen, ſelbſtgedichteten 
Trinkliede „So trinken wir alle diesen Wein mit schalle“ muntert der Romponift 
feinen Freund Theoderich Schwarz von Haſelbach und Ebermaßdorf alfo auf: 


„Trink, mein liebes Dieterlein, 
so wird dich nimmer dürsten!“ 


Durch den Refrain „Trinks gar aus!“ wiſſen die fünf Stimmen dem Trinker gar 
nicht eindringlich genug zuzurufen, er möge das edle Getränk ſich herrlich munden 
laffen. — Wunderlieblich und hochpoetiſch ift „Der gutzgauch (Kuckuck) auf dem 
Zaune saß‘, eine reizende Spielerei des Kuckucksrufes. Von dem Autor dieſes in 
ſeinen techniſchen und rhythmiſchen Verhältniſſen echt volkstümlichen Liedes ſagt 
Ambros: „Lorenz Lemblin (zu deutſch Lämmlein) senger und capellmeister des 
Pfalzgrafen und Kurfürſten Ludwig zu Heidelberg — zeigt vor allem in ſeinen 
Liebesliedern den warmen, treuen Schlag des deutſchen Herzens“. — Voll Snnig- 
keit und Gemütstiefe, urſprünglichem, wenn auch manchmal etwas derbem Humor, 
iſt das Lied „Ich soll und muß einen bulen haben“, worin ſich das verliebte Maid- 
lein um jeden Preis einen Schatz wünſcht, ſelbſt wenn ſie ihn ſich aus der Erde 
graben müßte. Der Tonſetzer Ludwig Senfl, welcher am Hofe Kaiſer Maximilians 
aufwuchs, ein Schüler Zjaacs wurde, Muſikus des Herzogs Wilhelm von Bayern 
ward, von Luther und feinem Freunde, Kapellmeiſter Johann Walter, gleich hoch 
geſchätzt ift, hat auf dem Gebiete des deutſch- weltlichen Liedes Unvergängliches 
geſchaffen und muß als der letzte Vertreter der von fremdem Einfluß ganz unberührt 
gebliebenen deutſchen Liedkompoſition angeſehen werden; bald nach ſeinem Tode 
(1555 in München) hält von Stalien her das Madrigal ſeinen Einzug. Zu den 
ſchönſten Kompoſitionen Senfls gehört eine Kantate auf den Tod Maximilians, für 
die katholiſche Kirche mehrſtimmige Lieder, Motetten, Magnifikate, Pjalmen, Metten, 
Intraden; für die proteſtantiſche Kirche Choräle (Ach Gott vom Himmel — Durch 
Adams Fall — Jefus Chriftus, unfer Herr). Sehr hoch ſtand Senfl in der Gunſt 
des Markgrafen Albrecht von Brandenburg, dem er verſchiedene Werke dedizierte. 
Von ihm erhielt er für die damalige Zeit koſtbare Geſchenke, „zweiundzwantzigk 
Ellen preiBischen Tamast“, einen goldenen Pokal u. dgl. Ambros ſtellt L. Senfl 
fogar mit Mozart auf eine Rangſtufe. — Die ausgiebigſte Quelle alter Volkslied⸗ 
ſammlungen ift die des Arztes Georg Forſter, 1539—56 entſtanden. 

Eine köſtliche Perle lyriſcher Poeſie ift das Echolied: „Hallo! Welch ein ſchö⸗ 
nes Echo!“ des berühmten Orlandus Laſſus, der hier mit einfachen Mitteln ein 
bezauberndes muſikaliſches Unterhaltungsſtück (Eccho zu zween Kören) entwirft. 
(Enthalten in der zweiten Folge der „Bunten Bühne“, Nr. 8). O. Laſſus ift der 
letzte Meiſter und Vollender der niederländiſchen Schule, einer der allerbedeutendſten 


564 Oehlerting: Meifter der Vokal- und Inſtrumentalmuſik des 15. und 16. Jahrhunderts 


Meiſter. 1557 berief ihn Herzog Albert V. als Kapellmeiſter nach München, 1570 
gab ihm auf dem Reichstage zu Speier Kaiſer Maximilian II. den Reichsadel, 
1571 ernannte ihn der Papſt zum Ritter des goldenen Sporns. Im ſelben Jahre 
lud König Karl IX. von Frankreich den bayeriſchen Hofkapellmeiſter mit ſeiner 
aus 90 auserleſenen Künſtlern beſtehenden Kapelle nach Paris ein und überſchüttete 
ihn mit Ehren und Auszeichnungen aller Art. Nach drei Jahren kehrte Laſſus nach 
München zurück, wo er feine unſterblichen Meiſterwerke (2337 Nummern) ſchuf. 
Am 14. Zuni 1594 erlöſte ihn der Tod von wahnſinnähnlicher Schwermut, die in- 
folge großer Überanftrengung ihn zuletzt umnachtete. Zm Münchener National- 
muſeum ſteht ſein Leichenſtein, das Standbild ſeit 1850 auf dem Promenadenplatz 
daſelbſt. Hervorragend iſt Laſſus in allen Ausdrucksformen; wunderbar tiefernſt 
und tragisch in den Bußpſalmen und Motetten, lieblich ſcherzend in den köſtlichen, 
hübſchen Chanſons. Unſern Männerchören kann u. a. das febr dankbare „Land- 
knechtsſtändchen“ (Herzallerliebſtes Mädel) aufs wärmſte empfohlen werden. 
(Bunte Bühne, erſte Folge, Seite 51.) 

Satoh Regnart, um 1580 Sänger der Kapelle Rudolfs II., machte zuerſt den 
Verſuch, das Madrigal (Schäfergedicht) in Deutſchland einzubürgern. Das Madrigal 
hatte eine feine, dichteriſche Form, und fo mußte ſich auch die muſikaliſche Behand- 
lung vielſeitig entwickeln. Manche Madrigale haben in der Oberſtimme den leicht 
verſtändlichen Cantus firmus; andere bringen entſprechend dem gedanklichen In- 
halt verſchiedene Themen, noch andere führen ein gewiſſes Motiv kontrapunktiſch 
durch. Ein weſentlicher Anterſchied von dem echt deutſchen Lied des 15. und 
16. Jahrhunderts beſteht in dem Fehlen eines dem Volksliede angehörigen Cantus 
firmus. Nach Form und Inhalt waren die Madrigale für feine, gebildete Kreiſe, für 
den Salon als beſſere „Hausmuſik“ berechnet. In einfachen Bürger- und Bauern- 
häuſern hielten die „Villanellen“ (Frottole) Einzug. Prätorius ſchildert die Villa- 
nellen alfo: „Bawerliedlein, welche die Bawern und gemeine Hand werksleut singen: 
daher denn auch die Komponisten offt mit sonderem fleiB ein 4, oder 5 Quinten, 
gleich wohl gar selten hintereinander her setzen contra regulas Musicorum: gleich- 
wie die Bawern nach der Kunst nicht singen, sondern nach dem es ihnen ein- 
fallet: Und ist ein Bawrisch Musik zu einer Bawrischen Matery“. Die Texte 
dieſer „Bawrischen Musik“ waren nach heutigen Begriffen nicht immer von un- 
antaftbarer Ehrbarkeit und Schlichtheit. Regnart gab 1576 „kurtzweilige teutsche 
Lieder nach der art der Neapolitanen oder Welschen Villanellen“ heraus, die bis 
1611 mehrere Auflagen erlebten. Auf der Rüdfeite des Titelblattes widmet Reg- 
nart „Jedem der Music verständigen Leser“ dieſe Verſe: 


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Laß dich darumb nit wenden ab, 
daß ich hierin nit brauchet hab, 

Vil Zierlichkeit der Music. 

Wiß, daß es sich durchaus nit schick 
Mit Villanellen hoch zu prangen; 
Und wöllen dadurch preiß erlangen, 
Wird sein vergebens vndt umbsunst, 
An andre ort gehört die Kunst. 


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Oehlerling: Meiſter der Botal- und Fnftrumentalmufit des 15. und 16. Zahrhunberts 565 


Eines der bekannteſten und dankbarſten Lieder aus der vorhin erwähnten 
Sammlung ift „Schabab zu dreyen stimmen‘; es beſchreibt den Galgenhumor 
eines verſtoßenen Liebhabers; zugleich bietet es ein treffliches Beiſpiel der von 
Prätorius bezeichneten fehlerhaften Quinten, die jedoch beim geſanglichen Vor- 
trag die Situation ungemein anſchaulich und draſtiſch malen. — Ein Meiſter des 
Humors iſt auch Anton Scandellus, erſt Zinkbläſer der kurſächſiſchen Kapelle, dann 
Kapellmeiſter, t 1580. Das Lied „ein henlein weiß“ zu vieren läßt in drolliger 
Weile das Gackern der Hühner vernehmen. — Als eine köſtlich duftende Nachblũte des 
mittelalterlichen deutſchen Liedes muß das ſchöne Abſchiedslied „Gott behüt dich“ 
von Lenhard Lechner angeſehen werden, in der ſich großer Beliebtheit erfreuenden 
Sammlung „Neue lustige Teutsche Lieder, nach der art der Welschen Canzonen“. 
Lechner, ein Nürnberger Schullehrer, veröffentlichte dieſes Werk 1570; fpdter wurde 
er wohlbeſtallter Kapellmeiſter des Grafen Eitel Friedrich von Hohenzollern; ſchon 
nach einem Jahre entflieht er nachts mit ganzer Familie zu ſeinem Gönner, dem 
Herzog von Württemberg in Tübingen. — Einer der glänzendſten Meiſter iſt der 
Autor des zarten, innigen Liebesliedes „Jungfrau dein schön Gestalt“, Leo Haßler, 
geboren 1564 in Nürnberg, Schüler von Andreas Gabrieli in Venedig, deſſen Kunſt 
er in die Heimat mitbrachte und in ſeinen herrlichen Motetten ſelbſtändig weiter 
bildete. Aus innerem Drange ſchuf er ein neues einheitliches Kunſtwerk. Zeugen 
davon find (1596): „Neue teutsche Gesäng, nach art der welschen Madrigalien 
und Chansonetten‘ (zu welch letzteren auch obiges Lied gehört) und „Lustgarten 
deutscher Gesäng, Balletti, Galliarden und Intraden, 1601“. Die evangeliſche 
Kirche verdankt unſerem Meiſter eine Anzahl herrlicher Choralmelodien, z. B. das 
der Oberſtimme des fünfſtimmigen Liebesliedes „Mein Gemüt iſt mir verwirret“ 
entlehnte geiſtliche Lied „Herzlich tut mich verlangen“, welchem S. Bach in der 
Matthäuspaſſion in dem erſchütternden Choral „Wenn ich einmal ſoll ſcheiden“ 
einen Ehrenplatz gegeben hat. Leo Haßler war von 1585 an in der Kapelle des 
berühmten Augsburger Handelsherren Fugger tätig, von 1601 an iſt er Organiſt 
und Kapellmeiſter in der Vaterſtadt Nürnberg. Kaiſer Rudolf II. adelte den hoch- 
angeſehenen Komponiſten, von welchem die Zeitgenoſſen ſagten, „daß dieser Zeit 
seines gleichen in Teutschland nit ist, vnd auch vnter den Teutschen bis auf diese 
Zeit kein solcher Componist gefunden worden“. 1608 nahm er kurſächſiſche Dienſte, 
er ſtarb 8. Suni 1612 zu „Frankfurt am Meyen“, wohin er feinen Herrn zum Reichs- 
tag begleitete. — Ein drolliges, derbes Wirtshauslied „Wolauf, jr lieben geste“ 
hat uns Thom. Sartorius hinterlaſſen; es findet ſich vor in einem Manuſkript der 
berühmten biſchöflichen Bibliothek in Regensburg und iſt neu aufgenommen in 
Renners Madrigalienſammlung. Ums Jahr 1640, nachdem der SOjährige Krieg 
ſchwer auf Deutſchland laſtete, ſchweigt für die Folge das unbegleitete weltliche 
Lied ganz. — Bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts war es üblich, die Gefang- 
ſtimmen ganz oder teilweiſe auf Inſtrumenten ausführen zu laſſen, deren Wahl 
meiſt ins Belieben der Ausführenden geftellt ift. Die ſeltſamſten Bufammenftel- 
lungen kommen dabei vor, wie M. Prätorius in ſeinem „Syntagma musicum“ 
wörtlich anführt: „Immaßen ich denn einsmals die herrliche aus der maßen 
schöne Motetame des trefflichen Komponisten Jaches de Werth, Egressus Jesus; 


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566 Das 45. Tonkünſtlerfeſt des Allgemeinen Deutſchen Mufitvereins in Stuttgart 


& 7 vocum mit 2 Theorben, 3 Lauten, 2 Cithern, 4 Clavicymbeln und Spinetten, 
7 Violen de Gamba, 2 Querflötten, 2 Knaben, 1 Altisten und einer grossen Violen 
(Baßgeige) ohne Orgel oder Regal musicieren lassen. Welches ein trefflich- 
prechtigen, herrlichen Resonnantz von sich geben, also, dass es in der Kirchen 
wegen des Lauts der gar vielen Saiten fast alles geknittert hat“. Andreas Gabrieli 
und ſein Neffe und Schüler Johannes Gabrieli, dieſe beiden Meiſter der von den 
Niederländern begründeten venetianiſchen Schule, befreiten die Taſten- Streich- 
und Blasinſtrumente von der Vormundſchaft der Vokalmuſik und benutzten zur 
Chorbegleitung ein obligates Orcheſter als ſelbſtändigen Klangkörper, deſſen einzelne 
Inſtrumente ihren Klangfarben gemäß behandelt wurden. Als intereſſante Proben 
aus der erſten größeren Entwicklungsperiode der Inſtrumentalmuſik ſind folgende 
Sachen anzuführen: eine Canzone für 8 Streichinſtrumente von Johannes Gabrieli; 
Intrada (beſtehend aus mehreren kurzen Sätzen, feſtlichen, elegiſchen oder leiden- 
ſchaftlichen Inhaltes) auff 6 Linken von H. L. Haßler; eine gravitätiſche Padovana für 
A Krummhörner von dem Thomaskantor J. H. Schein (1586—1630); endlich von 
Ph. Simpſon eine Allemande (deutſcher Tanz) auff kleine und grosse geygen, die 
aber in melodiſcher und rhythmiſcher Arbeit ſchon größere Fortſchritte aufweiſt und 
verheißungsvoll das allmähliche Nahen einer Zeit ankündigt, wo fih auch die In- 
ſtrumentalmuſik zu höchſter Vollkommenheit entwickeln ſollte. 


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Das 45. Tonkünſtlerfeſt des Allgemeinen Deutſchen 
Muſikvereins in Stuttgart 


Mum erſten Male haben fih die deutſchen Tonkünſtler in der ſchwäbiſchen Haupt- 
ſtadt zur alljährlichen Revue verſammelt. Das Muſikleben in Stuttgart floß bis 
vor nicht allzu langer Zeit in patriarchaliſcher Beſchaulichkeit dahin. Oas ift nicht 
immer ſo geweſen, denn weiter zurückliegende Epochen zeigen Namen, die auf ein reges und 
künſtleriſch hochſtehendes muſikaliſches Treiben ſchließen laffen. Beſonders die Oper fand unter 
der Regierung des prunkliebenden und großzügigen Herzogs Karl Eugen (1744—93) forg- 
liche Pflege. Männer wie Jommelli, Nardini und in ſpäteren Zeiten Daniel Schubart, R Zum- 
ſteeg, Konradin Kreutzer und Lindpaintner ſtanden mit an der Spitze des Hoftheaters. In 
jüngſter Zeit nun hat man dem Stuttgarter Muſikleben durch die Berufung und Ernennung 
Max Schillings zum Generalmuſikdirektor einen neuen Impuls gegeben. Die Wirkfam- 
keit Schillings“ erſtreckt ſich naturgemäß in erſter Linie auf die Oper, die ſchon vorher in Ma x 
Pohlig und Alois Obriſt verſtändnisvolle Reorganiſatoren aufzuweiſen hatte, und auf 
die künſtleriſche Ausgeſtaltung der ſinfoniſchen Konzerte der Hofkapelle. 

Die in Stuttgart vorhandenen Kräfte waren jedenfalls ſolcher Art, daß Schillings es 
bereits bei Antritt ſeiner Tätigkeit ohne Beſorgniſſe wagen konnte, den Allgemeinen Oeutſchen 
Muſikverein für 1909 zu Gaſt zu laden. Nicht fo zahlreich wie im Vorjahre in München, wo 
von den 1100 Mitgliedern des Vereins faſt die Hälfte verſammelt war, aber doch in ſtattlicher 
Zahl hatten fih die Tonkünſtler in der erſten Zuniwoche in der württembergifchen Refideng 
verſammelt. Unter ihnen zählte man eine Reihe der beſten Namen, wie Richard Strauß, S. von 
Hausegger, Engelbert Humperdinck, Hans Sommer, Wilhelm Kienzl u. a. Es waren fiir dieſes 


Das 45. Tonkünſtlerfeſt des Allgemeinen Oeutſchen Mufitvereins in Stuttgart 567 


Jahr nur ein Ordefter- und Chorkonzert, dagegen zwei Kammermuſikkonzerte und drei Opern- 
vorſtellungen vorgeſehen. Bei letzteren handelte es ſich nicht um Uraufführungen, ſondern 
um die Darbietung der drei Opernwerke, die im Laufe des letzten Jahres an der Stuttgarter 
Hofoper ihre überhaupt erſte Aufführung erlebt hatten, und die das Gros der Feſtbeſucher 
noch nicht kannte. Es waren dies die Opern „Maja“ von Adolf Vogl, „Miſs Brun“ von Pierre 
Maurice und „Prinzeſſin Brambilla” von Walter Braunfels. Ferner verzeichnete das Pro- 
gramm einen von praktiſchen Vorführungen begleiteten Vortrag des bekannten Genfer Pro- 
feſſors E. Jaques Dalcroze über „Muſikaliſch-rhythmiſche und äſthetiſche Gymnaſtit“. 

Das Set wurde eingeleitet mit einem Empfang der Feſtteilnehmer feitens des würt- 
tembergiſchen Königspaares im königlichen Schloß Wilhelma. Dieſer reizvolle Empfang ſpielte 
ſich in dem wundervollen Gartenhof des ganz im mauriſchen Stil gehaltenen Sommerſchloſſes 
ab, und zwar in ganz zwangloſer Weiſe. Dieſem einleitenden offiziellen Akt ſchloß ſich ſpäter 
auch ein ſolcher ſeitens der Stadt Stuttgart im neuerbauten Rathaus an. Hier waren es die 
von der Stadtverwaltung in eigener Regie geführten ſchwäbiſchen Weine, die, von anmutigen 
Töchtern der Stadt kredenzt, unter den Tonkünſtlern eine überſprudelnde Feſteslaune auslöſten. 

Mißgünſtige Seelen haben dem Allgemeinen Deutſchen Muſikverein gelegentlich zu- 
gerufen, daß bei dem enormen Muſikgetriebe unſerer Tage ſeine Miſſion längſt erfüllt ſei, 
und daß ſeine Tendenz, in erſter Linie junge Talente ans Tageslicht zu fördern, heute keinen 
erkennbaren Wert mehr beſäße. Demgegenüber kann nur immer wieder betont werden, daß 
der Verein mit ſeinen rein idealen Tendenzen gerade in unſerem heutigen, ausſchließlich nach 
materiellen Geſichtspunkten ſich regelnden Muſikleben ein viel wichtigerer Faktor als früher 
geworden ift. Welcher Konzertunternehmer oder -veranftalter übernähme wohl das Riſiko 
der Manuſkript- Uraufführung eines größeren ſinfoniſchen Werkes, beſonders wenn es ſich um 
die Schöpfung eines bisher Unbekannten handelt? Und geſchieht dann eine ſolche Aufführung 
nicht an einer ganz exzeptionellen Stelle, fo bleibt fie im günſtigſten Falle ein lokales Ereig- 
nis, deſſen Erfolg weder für die weitere Verbreitung des Werkes noch für eine Verlags verwertung 
von nennenswerter Bedeutung iſt. Anders wenn der Allgemeine Deutſche Muſikverein für 
ein neues Werk, für einen bisher unbekannten Namen eintritt! Bei ſeinen alljährlichen Tagungen 
iſt ein großer Teil der Konzertveranſtalter, Dirigenten und Muſikalienverleger anweſend. Der 
Erfolg eines Wertes vor einem Parkett von Fachleuten iſt hier von weittragender Bedeutung, 
zumal auch die maßgebende Fach- und Tagespreſſe in eingehender Weiſe von den künſtleri- 
ſchen Refultaten der Tonkünſtlerfeſte Notiz nimmt. Erwieſen iſt es jedenfalls, daß die Novi- 
täten eines jeden Konzertwinters ſich in erſter Linie aus denjenigen Werken rekrutieren, die 
ihre Feuerprobe in den Aufführungen des jeweilig vorhergegangenen Tonkünſtlerfeſtes be- 
ſtanden haben. So iſt es in den letzten Fahren ſtets geweſen. Man wird daher nicht behaupten 
können, daß der vom edlen Franz Liſzt begründete und auch heute noch in demſelben fort{dritt- 
lichen Geiſte ſich betätigende Allgemeine Deutſche Muſikverein eine überflüf- 
ſige Inſtitution geworden ſei; auch dann nicht, wenn die Aufführungen einmal weniger epochale 
Refultate zutage fördern, wie beiſpielsweiſe in dieſem Fahr. 

Es war diesmal in der Tat ein ſchlechtes Erntejahr. Die Muſikkommiſſion verſicherte, 
die Einſendungen feien kaum je fo dürftig geweſen (freilich nicht der Zahl nach). Man mußte 
— entgegen der üblichen Tendenz — zu einer Anzahl von Werken greifen, die bereits vorher 
Aufführungen erlebt hatten, nur um die Programme nicht allzu farblos zu geſtalten. Am 
ſchwächſten war es um die beiden Rammermufittongerte beſtellt. Es kam mancherlei Annehm- 
bares, aber nichts eigentlich Bedeutendes heraus. Als das namhafteſte Werk muß immerhin 
das Klavierquintett von Hans Pfitzner bezeichnet werden, trotz ſeiner inneren 
Unklarheiten und der formellen Zerfahrenheit. Man fpürt aber doch allenthalben den Hauch 
einer vollen Rünftlerfeele und ſieht die Hand des ſelbſtändig geſtaltenden Schöpfers. Der erfte 
Satz mit ſeinem ſtraffen, machtvollen Aufbau trägt etwas von monumentalem Charakter in 


568 Das 45. Tonkünſtlerfeſt des Allgemeinen Oeutſchen Mufitvereins in Stuttgart 


ſich. Im ausgedehnten Schlußſatz verliert ſich der Komponiſt dagegen in nebelhafte Fernen, 
die bereits außerhalb der Grenzen des mit den Mitteln des Kammermuſikſtils Erreichbaren 
zu liegen ſcheinen. In dem jungen Knud Harder, der mit einem Streichquartett op. 4 
vertreten war, tritt uns ein noch Werdender entgegen. Knud Harder ſteht noch nicht über der 
Materie, feine Gedanken find vorläufig nicht bedeutend, fein Ausdruck ift nicht genügend ton- 
zentriert. Aber warme, echte Gefühlstöne zeigen ſich hier und da. Man ſteht ſchließlich von 
dieſer Muſik mit hungrigem Magen auf, ohne freilich die Hoffnung aufgegeben zu haben, in 
fernerer Zeit aus dieſer Feder vielleicht noch Wertvolles zu empfangen. Poſitiveres weiß 
S8oſeph Haas in feiner H Moll-Sonate für Violine und Klavier dem Hörer zu fagen. 
Dieſe Sonate hat Geſicht und Geſtalt. Letzteres allerdings mehr als erſteres. Haas iſt ganz 
gewiß kein Himmelsſtürmer, er iſt kaum zu den Modernen gemäßigter Couleur zu zählen. 
Seine Muſik trägt Züge von Brahms und läßt nur gelegentlich Wagnerſche Einflüſſe erkennen. 
Der Komponiſt liebt es, ſich knapp und klar auszudrücken; das iſt ein unleugbarer Vorzug. 
Alles in allem: Dieſe Sonate iſt ganz erfreulich, ohne jedoch irgendwie bedeutend zu ſein. 
Als eine ernſte, vom rein fachtechniſchen Standpunkt aus beachtenswerte Schöpfung erwies 
fich die Sonata eroica in Cis- Moll für Klavier von Waldemar von Baußnern. Der 
Komponiſt bietet hier freilich mehr gedachte als empfundene Muſik. Aber man kann wohl ſeine 
Freude haben an der klar gegliederten Architektonik und dem kraftvoll männlichen Charakter 
dieſer Kunſt, die zwar des ſinnlichen Reizes entbehrt, jedoch niemals in toten Formalismus 
verſinkt. Schade nur, daß ſo gar keine perſönliche Note aus dieſen Tönen ſpricht. 

Ein übermäßig breiter Raum war der Liedproduktion eingeräumt. Eine ganze Reihe 
von bekannten und unbekannten Namen traten auf den Plan. Die originellſten Gaben ſpendete 
hier der Schweizer Volkmar Andrea, dem jedoch der Vorwurf nicht erſpart werden 
kann, daß er die Grenzen der Gattung mehrfach erheblich überſchreitet. Ein anderer ſchweize⸗ 
riſcher Tonſetzer, der noch febr junge Othmar Schoeck, entpuppte fih als ein echtes lyri- 
ſches Talent, dem nur noch die volle Selbſtändigkeit der Sprache fehlt, um ganz Eigenes und 
ſeeliſch tief Ergreifendes ſchaffen zu können. Formenſinn und melodiſche Phantaſie — welch 
feltne Gaben! — paaren fih bei ihm in erfreulicher Weiſe. Geringeres Intereſſe riefen Ge- 
ſänge des bisher gänzlich unbekannten Kurt von Wolff wach. Es ſind Erſtlingsgaben 
einer ſympathiſchen, gefunden, aber zu wenig differenzierten, zu gefüͤhlsſchwachen Perſönlich⸗ 
keit. Auch Ron rad Anſorge war mit einer Gruppe Lieder vertreten, die den zart emp- 
findenden Poeten und ſinnigen Naturſchilderer erkennen ließen. Fehl am Ort waren die OQuette 
für Sopran, Alt, Violine und Pianoforte von Rob. Wiemann. Das Publikum der Ton- 
künſtlerfeſt- Konzerte bedarf keiner liebenswürdig-gefälligen Konzeſſionen. 

Die fih nach den geringen Ergebniſſen der beiden Kammermuſikmatineen bei der Mehr- 
zahl der Feſtteilnehmer einſtellende flaue Stimmung wich erſt nach dem Orcheſterkonzert einer 
roſigeren Feſteslaune. Paul Scheinpflug aus Bremen, der hier den Reigen mit ſeiner 
„Ouvertüre zu einem Luſtſpiel von Shakeſpeare“ eröffnete, hat mit dieſem keck hingezeichneten, 
launig inſpirierten Stück einen guten Wurf getan. Es fehlte nicht viel daran, fo mußte die Ouver- 
türe wiederholt werden. Scheinpflug geht diesmal, entgegen ſeinen früheren Neigungen, 
keine abſonderlichen, gewaltſam gebahnten Wege, ſondern er tummelt ſich auf ſicherem Boden. 
Man machte ihm ſonſt mit Recht den Vorwurf, daß er es nicht verſtände, Maß zu halten und 
feine Zdeen in deutlich erkennbare, logiſch entwickelte Formen zu kleiden. Hier zeigt er nun, 
daß er das, was ihm bisher fehlte, gelernt hat. Diefem Gewinn gegenüber, der bei der phantafie- 
reichen und empfindungsſtarken Schöpfernatur Scheinpflugs in Zukunft wertvolle Reſultate 
zeitigen dürfte, verſchlägt es nichts, daß in der Luſtſpiel- Ouvertüre die Tonſprache und das 
gedankliche Material keineswegs himmelſtürmend ſind. Erfreuliche Eindrücke hinterließ auch 
der an zweiter Stelle ſtehende „Apoſtatenmarſch“ für Männerchor und Orcheſter von Rudolf 
Siegel, der den bizarren Humor der zugrunde liegenden Gottfried Kellerſchen Dichtung 


Das 45, Tonkünſtlerfeſt bes Allgemeinen Oeutſchen Muſilvereins in Stuttgart 569 


prächtig widerſpiegelt. Ein zweites Männerchorwerk „Bismarck“ (Text von E. Scherenberg) 
von dem jetzt in Mainz lebenden Otto Naumann büßte an Wirkung durch die nicht ge- 
nügend ausgefeilte Wiedergabe ein. Es iſt ein in edlem Pathos gehaltenes, muſikaliſch fein 
gegliedertes Tonſtück, das den Ausführenden keinesfalls leichte, dafür aber künftlerifch inter- 
effante Aufgaben ſtellt. Mit der üblichen Männerchorliteratur hat dieſer ganz in fortſchritt- 
lichem Geiſte gehaltene Chorſatz nicht das mindeſte zu tun. Man wird vielleicht nicht fehlgehen, 
wenn man dieſe Bismarck-Kompoſition als eine der bemerkenswerteſten Gaben des Konzerts 
(wenigſtens in fortſchrittlich-tendenziöſem Sinne!) bezeichnet. 

Der „Symphoniſche Epilog zu einer Tragödie“ von dem Münchener Ern ft Böhe 
leidet an dem Übermaß der Länge. Das vom Romponiften benutzte Gedankenmaterial reicht 
für die geſchaffene Form nicht aus, es müßte denn in viel plaftifcherer Weiſe verarbeitet wer- 
den. Böhe iſt kein großer Geſtalter. Seine Stärke liegt in der Gewandtheit der Farbengebung, 
in der meiſterlichen Beherrſchung des rein Inſtrumentalen. Seine Kunſt wirkt diſtinguiert, 
farbenſatt, aber es fehlt ihr der eigentliche Nerv. Der wohnt der Muſik des Tübinger Univer- 
ſitäts-Muſikdirektors Fritz Volbach zwar ebenfalls nicht im Übermaß inne, aber letzterer 
hat das Glück, ſinnfällige, gut profilierte Ideen zu produzieren, und dann weiß er dieſelben in 
konkrete, unmittelbar in die Augen ſpringende Formen zu gießen. Volbach iſt kein Neutöner, 
er ift vielleicht nicht einmal ein Kompromißmuſiker. Nein, er macht in feiner H Moll- Sym- 
phonie gar kein Hehl daraus, daß er fih in den überlieferten ſymphoniſchen Formen außer- 
ordentlich wohl fühlt, und daß ihm auch die Ausdruckstechnik verfloſſener Epochen für ſeine 
Zwecke vollauf genügt. Trotz der unverkennbaren konſervativen Tendenz ſeiner Symphonien 
hatte er — wenigſtens mit den drei erſten Sätzen derſelben — einen ſtarken Erfolg. Und das 
nicht etwa, weil man ſich in mehr reaktionär geſinnten Kreiſen über die Offenherzigkeit dieſes 
künſtleriſchen Bekenntniſſes beſonders freute, ſondern ganz einfach, weil Fritz Volbach „etwas 
Handgreifliches“ eingefallen ift. Schöner wäre es freilich noch, wenn diefe Einfälle nicht nur 
Tages-, ſondern auch Zukunftswert beſäßen. Das freilich wird man abſtreiten müſſen. — 
Schließlich gab es noch eine muſikdramatiſche Koſtprobe: die Schlußfzene aus dem Myſterium 
„Mahadeva“ von dem in Wien anſäſſigen Felix Gotthelf. Den Stoff zu dieſem in 
religiös ethiſche Nebel gehüllten Muſikdrama hat der Autor in Anlehnung an Goethes „Der 
Gott und die Bajadere“ dem Sagengebiet der buddhiſtiſchen Myſtik entnommen. Natürlich 
kann man aus dem dargebotenen winzigen Torſo keinerlei Schluß auf die Wirkung des Ganzen 
ziehen. So viel war freilich zu erkennen, daß Gotthelf als Muſiker ſtark unter dem Einfluß 
Richard Wagners (Triſtan, Parſifal) ſteht. Der breit ausgeſponnene, rein inſtrumentale Ab- 
ſchluß wirkte in ſeinem apotheoſenhaft verklärenden Kolorit immerhin recht ſtimmungsvoll. 
Als Schlußſtein hatte man dem Orcheſterabend Liſzts „Feſtgeſang an die Künſtler“ angefügt. 
Das felten genug aufgeführte, edel intentionierte, inhaltlich aber ſtark zerbröckelnde Werk kam 
in muſterhafter Wiedergabe (Orcheſter, Männerchor und Doppelquartett) trotz feiner Schwächen 
zu glanzvoller Wirkung. 

3h hätte nun wohl noch mancherlei über die drei Opernaufführungen zu fagen. Aber 
der zur Verfügung ſtehende Naum verlangt gedrängte Kürze, und da will ich mich auf die not- 
wendigſten Andeutungen beſchränken. Es handelt ſich ja ſchließlich auch nicht um Urauffibrun- 
gen, ſondern um Wiederholungen. Allerdings find die betreffenden Werke außerhalb Stutt- 
garts bislang ſo gut wie unbekannt geblieben. Die „Maja“ von dem Münchner Adolf 
Vogl bedeutete eine merkliche Enttäͤuſchung. Das Werk leidet an einem ungeſchickt gearbeite- 
ten Textbuch und iſt muſikaliſch, trotz einzelner aparter Momente, noch unſelbſtändig. Zieht 
man freilich in Betracht, daß der Dichterkomponiſt kaum über 23 Jahre war, als er diefe eben- 
falls ein antikes indiſches Motiv behandelnde Oper ſchuf, dann erſcheint die Begabung Vogls 
in einem weſentlich günſtigeren Lichte. Ob fie je ausreichen wird, Bũhnenwerke mit lebens- 
kräftigem Atem zu ſchaffen, das muß die Zukunft lehren. 


y 


570 Das 45. Tonkünſtlerfeſt des Allgemeinen Oeutſchen Mufitvereins in Stuttgart 


Pierre Maurice dagegen, der Komponiſt von Miſé Brun, hat echtes Theater- 
blut in den Adern. Ihm iſt ein ganz unterhaltſames Opernbuch in die Hände geraten, das 
zwar ein bißchen ſtark nach Gartenlauberomantik duftet und im weſentlichen nach den bewähr- 
ten Rezepten der großen franzöſiſchen Oper älteren Stils zurechtgemacht ift, aber feine Wir- 
kung ſelbſt auf ein anſpruchsvoller geſtimmtes Publikum nicht verfehlt. Die Muſik ijt ein ge- 
ſchickt gemiſchter Extrakt von Puccini und Maſſenet und mit manch pikanten eigenen Zutaten 
verſehen. In den Rahmen einer fortſchrittlichen Tonkünſtlerverſammlung paßte dieſer Abend 
kaum hinein, aber er verlief ſchließlich — zumal bei der prächtigen Aufführung — ganz unter- 
haltſam. Bei weitem das ausgeprägteſte Profil trägt die „Prinzeſſin Brambilla“ des hoch- 
begabten, ebenfalls noch jungen Walter Braunfels. Die erſten Berichte über die Stutt- 
garter und Münchener Aufführung des Werkes klangen nicht ſonderlich empfehlend. Es iſt gut, 
daß hier das Tonkünſtlerfeſt Gelegenheit zu einer erheblichen Reviſion der kritiſchen Meinungen 
gab, und daß das Reſultat derſelben die bedeutenden, jedoch nicht ohne weiteres in die Augen 
ſpringenden künſtleriſchen Qualitäten dieſer Opernſchöpfung in ein beſſeres Licht ſetzte. In 
Braunfels ſteckt eine ganze Perſönlichkeit. Daß er den Wagemut und die Fähigkeit bewies, 
den äußerlich zwar belebten, aber innerlich toten Brambilla-Stoff Th. Arn. Hoffmanns mufit- 
dramatiſch zu verwerten und bis zu einem gewiſſen Grade auch zu geſtalten, das allein be- 
weiſt ſchon viel für Braunfels’ Begabung. Stärker als der Bühnendichter iſt unſtreitig der 
Muſiker in ihm. Die Partitur trägt eine eigene Note. Was der Muſik fehlt, das iſt die ſinnliche 
Ausdruckskraft in den Momenten ſeeliſchen Affekts. Der Stoff gibt ja allerdings kaum Gelegen- 
heit, in wirkliche Tiefen zu ſteigen. Die Wiedergabe des ſpeziell an die Chorkräfte und an die 
Regie außerordentliche Anforderungen ſtellenden Werkes bildet ein Ruhmesblatt für die Stutt- 
garter Hofoper. In Punkto Regieführung und Inſzenierung ließen übrigens alle drei Auf- 
führungen die künſtleriſch geſtaltende Hand Emil Gerhäuſers, den Schillings von Mün- 
chen mit nach Stuttgart geführt hat, erkennen. Ebenſo könnten die ins Treffen geführten 
Solokräfte, ſpeziell die Vertreter der männlichen Partien, den Neid manch anderer Bühne 
erwecken. Nicht immer auf der gleichen Höhe ſtand dagegen das Orcheſter. Bei Schillings“ 
feinfühliger Direktion machte ſich doch zuweilen der Mangel einer nur durch die Länge der 
Zeit zu erlangenden kapellmeiſterlichen Routine bemerkbar. 

ich bin am Ende meines Berichts. Als ergänzend wäre hinzuzufügen, daß in der ziem- 
lich ſtürmiſch verlaufenen Hauptverſammlung des „Allgemeinen Deutſchen Muſikvereins“ 
Richard Strauß, der eine abermalige Neuwahl als Präſident aus zwingenden privaten 
Gründen ablehnte, einſtimmig zum Ehrenvorſitzenden gewählt wurde und an feine Stelle Ma x 
Schillings rückte. Auch ſonſt gab es noch mancherlei Veränderungen innerhalb der leiten- 
den Kreiſe, ſo vor allem den faſt vollſtändigen Erſatz des bisherigen Muſikausſchuſſes durch 
jüngere, ſezeſſioniſtiſcher gefärbte Kräfte. Es ſteht daher zu erwarten, daß das Programm der 
nächſtjährigen, in Zürich ſtattfindenden Tonkünſtlerverſammlung ein weſentlich anderes, 
fortſchrittlich entſchiedeneres Gepräge tragen wird. 

Paul Schwers 


Unfere Nationalbühne 
Ein Weckruf ans deutſche Volk 


ON N n den erſten Tagen unſeres Jahres brachten unſere Tageszeitungen gewiſſenhaft, 


1 fie es nun mal bei — ausländiſchen Dingen find, folgenden Bericht: „Das 
Cs 2 engliſche Nationaltheater. Aus London wird mitgeteilt: Die Aus- 
führung des vielbeſprochenen Planes des Shakeſpeare Memorial-Komitees, die Errichtung 
eines großen engliſchen Nationaltheaters in London, iſt nunmehr beſchloſſene Sache: in der 
letzten Sitzung des Komitees hat der Plan einſtimmige Billigung gefunden. Die Kommunal- 
verwaltungen Londons und der größeren Städte werden fih vorausſichtlich an dem Unter- 
nehmen beteiligen und Subſkriptionsliſten auflegen, fo daß das neue Theater in erſter Linie 
aus freiwilligen Spenden der Nation errichtet wird. Das neue Nationaltheater wird fic keines 
wegs auf die Aufführung der Shakeſpeareſchen Meiſterwerke beſchränken, wenngleich alljährlich 
eine Reihe von Shakeſpeare-Zyklen vorgeſehen ſind. Auch moderne engliſche Autoren ſollen 
zu Worte kommen. Eine beſondere Körperſchaft wird gebildet, der anerkannte Vertreter der 
Literatur, der Muſik, der Kunſt und der Wiſſenſchaft angehören, die berufen find, die Ober- 
aufſicht über die Theaterleitung zu übernehmen.“ Und war die Zeitung gar ein Blatt für 
„Gebildete“, oder ſtand auf ihrem Programm „deutſche Kultur“, ſo erweiterte ſie ihre 
Mitteilung zu einem langen Aufſatz in liebevollſtem Eingehen auf den „überaus wichtigen 
Kulturplan“. 

Deutſche Kulturpläne ſind immer noch nicht „ſpruchreif“, wenn ſie nicht gerade den 
Geldſack berühren. Und fo ſchweigt man denn auch gründlich über deutſche Pläne zur 
Gründung einer deutſchen Nationalbühne. Gegen ihr eigenes geiſtiges Vaterland haben 
natürlich all die Zeitungen und Zeitſchriften keine Kulturpflicht. 

Ehe denn der allererſte Gedanke eines engliſchen Nationaltheaters auch nur geahnt 
werden konnte, war ein Jahrhundert bereits in Oeutſchland der allgemeine Gedanke an eine 
Nationalbühne Wort und Fleiſch, ich meine den Plan zu einem „deutſchen Nationaltheater“ 
in Hamburg. Johann Friedrich Löwen, der künſtleriſche Leiter des Hamburger Theaters, 
gewann einen Leſſing, um mit ihm feine Kunſtſtätte zu einer deutſchen Muſterbühne zu 
geſtalten. Was Leſſing wirkte, ift bekannt. Auch wie ſchnell der Traum eines „National- 
theaters“ für die Kunſterziehung des deutſchen Publikums und zur ſittlichen und künſtleriſchen 
Hebung des Schauſpielerſtandes ausgeträumt war. 

„Über den gutherzigen Einfall, den Deutfchen ein Nationaltheater zu verſchaffen, da 
wir Oeutſchen noch keine Nation find!“ fo klagte Leſſing am Schluß feiner „Hamburgiſchen 
Dramaturgie“, die ein einziges großes Mahnwort an Oeutſchland iſt. Leſſings Gedankenerbe 
trat Schiller an. Er betonte wie noch kein deutſcher Dichter vor und nach ihm die Kulturmiſſion 


En 


$72 Auf der Warte 


unſerer Dichtkunſt, er glaubte an die „Schaubühne als eine moraliſche Anftalt“, weil ſich bei 
ihm die äſthetiſchen, ſittlichen und kunſterzieheriſchen Anſichten in lebensvollem Einklang be- 
fanden, weil er ein inniges Hand- in-Hand-Arbeiten von Dichter, Publikum und Schauſpieler 
— das Bühnenideal! — annahm. Er wandelte Leſſings klagenden Verzicht in eine mutige, 
zukunftsvolle Prophezeiung um: „Wenn in allen unſeren Stücken ein Hauptzug herrſchte, 
wenn unſere Dichter unter ſich einig werden und einen feſten Bund zu dieſem Endzweck errich- 
ten wollten, wenn ſtrenge Auswahl ihre Arbeiten leitete, ihr Pinſel nur Volksgegenſtänden 
ſich weihte, mit einem Wort, wenn wir es erlebten, eine Nationalbühne zu haben, ſo wurden 
wir auch eine Nation.“ 

Wie man unſern großen „Patrioten“ im 19. Jahrhundert behandelt hat! Hätte man 
fidh, ſtatt ihn unwürdig phraſenhaft zu verhimmeln, in feine philoſophiſchen und äſthetiſchen 
Schriften vertieft, man hätte beim Auftauchen der Feſtſpiel- Zdee aufmerkſam werden müſſen. 
Nichts geſchah! Das große Jahr 1870/71 konnte nicht bringen, was aus der Rultureinheit 
erwachfen muß. Das letzte Viertel des 19. Jahrhunderts hatte zuviel mit „Programmen“ zu 
tun, um ans — Oeutſche zu denken. Auch wurde die ganze Bühnenenergie ans Ausland ver- 
wendet, ich denke auch an Ibſen, wenn ich ihn auch ohne Scheu unfer nenne. 

Die Frage der deutſchen Nationalbühne als eine nationale Angelegenheit brachte dann 
erft wieder der vielverläſterte Ad olf Bartels in Fluß, als er 1905 feine Oenkſchrift „Das 
Weimarer Hoftheater als Nationalbühne für die deutſche Zugend“ ins deutſche Land ſandte. 
Im Widerſpruch mit ihm und auf eigenem Pfad erſchien endlich Paul Schulze - Berg- 
bofs Weckruf in feinem tiefgründigen, wichtigen Werk „Die Kulturmiſſion unſerer Dicht- 
kunſt“ (1908 bei Fritz Eckardt in Leipzig erſchienen). Sein großer Gedanke ift „nie Natio- 
nalbühne als Volks- und Reichstagsſache“. 

„Den großen Gedanken an eine Nationalbühne, um den die Sehnſucht und Hoffnung 
länger als ein Jahrhundert ihre grünen Ranken gewunden hat, den großen Gedanken nach 
einer nationalen Muſterbühne, nach einem dramatiſchen Feſtſpielhaus haben wir uns durch 
die pädagogiſchen Sentimentalitäten unſeres zerfahrenen Zeitalters zerpflüden und zerſtuͤckeln 
laſſen. Alle Vorkämpfer der Nationalbühnenidee wollten eine Pflegeſtätte für die vollendet- 
ſten Formen der dramatiſchen Dichtung, wo dem Schönheitsſinn in praktiſcher Tagesarbeit 
lauter und rein gedient wird, wollten einen durch die Tradition geweihten Kunſttempel, wo 
der Lebensodem in dem befreienden Rhythmus reinerer Sphären durch die Bruſt aller wogt, 
die danach verlangen, und wo das Gemüt des welterfahrenen Mannes, des in der Lebenseſſe 
durchglühten Menſchen Erbauung, Erhebung finden und der geläutertſte Geſchmack feine Feſte 
feiern kann. — Nun ruft man auf einmal nach einer Nationalbühne für die Jugend.“ Mit Recht 
weiſt Paul Schulze-Berghof auf die gefährliche äſthetiſche Überpäppelung der unerfahrenen 
Unmündigen, nennt auch eine Anzahl begründeter Bedenken gegen den Bartelſchen Plan, 
der ja nunmehr zum erſten Male Wirklichkeit wird. Man ſoll den guten Grundgedanken nicht 
allein auf Weimar einſtellen. Man veranftalte nationale Feſtſpiele für die Jugend über ganz 
Deutſchland. Außerdem bilde überhaupt mehr als bisher die Kunſtwallfahrt einen wichtigen 
Teil der Erziehungsarbeit. 

Weimar wird ſich jedenfalls nicht zur „ſtändigen Nationalbühne“ entfalten, wie 
Adolf Bartels hofft. Das Weſen der Nationalbiihne läßt ſich nicht an den Charakter einer Hof- 
bühne feſſeln. Sind nicht Goethes ſchlechte Erfahrungen am Weimarer Hoftheater vielſagend 
genug? Das Nationaltheater darf nicht vom perſönlichen Geſchmack eines Füͤrſten oder feiner 
Höflinge abhängen, auch nicht durch höfiſche Repräſentationspflichten beengt werden. Hier 
hat Richard Wagner in ſeinem „Entwurf zur Organiſation eines deutſchen National- 
theaters“ ſchon das Richtige gefühlt. „Eine Nationalbühne — das liegt ſchon im Worte — kann 
nur aus dem Geiſte der Nation hervorgehen und muß von ihm getragen und erhalten wer- 
den .. , muß eine Angelegenheit des ganzen Volkes werden, ein Staatsinftitut, deffen Exiſtenz 


Auf der Warte 573 


mit der Nationalidee ſelbſt untrennbar verbunden ift. Sie darf von keinem perſönlichen Macht- 
willen, keinem Regierungsſyſtem ihre Lebensbedingungen empfangen, ſondern allein von 
der Körperſchaft, die den Volkswillen, den Geiſt der Nation verkörpert und unmittelbar zum 
Ausdruck bringt: alſo vom 

Deutſchen Reichstag. 

Der Reichstag muß Geſetzgeber und Geſetzeshüter fein, ſoweit der äußere Bau und die 
Organifation der Verwaltung in Betracht kommen. Er müßte alfo zunächſt den von einer Kom- 
miſſion, einem Nationalausſchuß — der ſich aus Mitgliedern des Reichstags, Vertretern der 
Regierung und der Künſte zuſammenſetzt, wobei ich beſonders an ſolche Köpfe denke, die bereits 
Belege für ihre Initiative auf dem Gebiete der Runft- und Kulturpolitik erbracht haben — 
entworfenen Plan der Gründung, des Ausbaus und der Leitung geſetzlich feſtlegen.“ 

„Im Anſchluß an dieſe Forderung muß ich gleich noch einem Einwurf begegnen, der 
febr wenig ſtichhaltig ift, aber von allen bequemen, müden und bedenklichen Geiſtern als Gegen- 
argument vorgebracht wird, nämlich dem Einwande, daß es Naivität oder vertrauensſeliger 
Dunft wäre, vom Reichstage in dieſer Sache irgend etwas zu erwarten. 

Wohlan, vielleicht jetzt. 

Aber ſind wir es nicht geweſen, die die Abgeordneten aufſtellten und wählten? — Alſo 
laßt uns beſſer werden, und bald wird's beſſer ſein! — 

Laßt uns nur in der Angelegenheit der Nationalbühne einen Willen bekunden, der ſich 
mit Recht als Volkswille bezeichnen darf, und die politiſchen Vertreter des Volkswillens wer- 
den auch den Weg finden; werden ihn um ſo leichter finden, als ſich von der Regierung her 
ſicherlich ein gleiches Empfinden und Streben zu ihnen geſellen wird. 

Laßt uns nur ſchöpferiſch geſonnen und zur Tat bereit ſein, und die heute vielleicht 
noch nicht febr zur Initiative geſtimmte Volksvertretung wird ſchöpferiſch handeln und die 
Möglichkeit einer nationalen Kulturtat als Ausdruck des einheitlichen Volksempfindens ſchaffen.“ 

Gleich hier fei geſagt, daß in der Parlamentsrede des Abgeordneten Müller -Meiningen 
bei der Theaterdebatte vor kurzem fo etwas wie das verheißungsvolle Erwachen zum Kultur- 
oder wenn man will Kunſtgewiſſen zu ſpüren war. — 

Auf zur Tat! Wir haben für unſeren Zeppelin und für — Meſſina, in wenigen Tagen 
beinahe, Millionen durch freiwillige Beiträge zuſammengetragen, wir ſollten für ein National- 
heiligtum nicht auch das erforderliche Grundkapital aufbringen können?! Oder ſollten wir 
ſchon ganz verkrämert fein? Dann würde unſerem Goethedienſt und unfrer pomphaften Schiller- 
feier von 1905 auf einmal das Urteil geſprochen ſein. Wenn dagegen die Rede vom großen 
„Erbe“ unſerer großen Geiſter Schiller und Goethe mehr als eitle hohle Phraſe iſt, wann wäre 
eine beſſere Gelegenheit als eben hier, uns ihrer würdig zu erweiſen! 

Auf zur Tat! 

„Ja, hier wäre einmal neutraler Boden, auf dem fidh alle Parteien zu einem gemein- 
ſamen Werk vereinigen könnten, zu einer Schöpfung, die berufen wäre, den Geiſt des edlen, 
rein menſchlichen Empfindens, den brüderlichen Geiſt der nationalen Einheit, das Licht der 
Erkenntnis und des gegenſeitigen Verſtehens, das mit ſeinem verſöhnlichen Schimmer die 
ſchroffen Gegenſätze der äußeren Formen mildert, ins Land hinauszutragen. — 

„Die Nationalbühne, herausgeboren aus dem praktiſchen Kulturſinn des Volkes, und 
als ein Wahrzeichen für den einheitlichen Rhythmus des völkiſchen Herzſchlages“, gehört dann 
„als die Burg der deutſchen Dichtung und Volksſeele mitten in und hoch über der Brandung 
der politiſchen Parteien und den Untiefen der praktiſchen Tagesintereſſen und ſozialen Kämpfe“ 
nach Berlin, in „die Theaterſtadt Deutſchlands“, den Herzmuskel des modernen Lebens. 
Vom „Krankheitsherd für unſere jetzigen Theaterzuſtände in Oeutſchland“ könnte auch wieder 
eine geſunde und vernünftige Theaterpolitik ausgehen. 

Die Nationalbühne hat „das Amt des dramatiſchen Erziehers“ zu übernehmen, dazu 


574 Auf ber Warte 


die Talentſuche und Talentprüfung; die „neue Schauſpielkunſt, die ſich wieder auf die Macht 
des Wortes beſinnt“, zu ſchaffen, großzügige Feſtſpiele und Zyklen zu veranſtalten; die Natio- 
nalbühne wird ihrer hohen Pflicht genügen „als der literariſche Führer und Berater der 
Bühnen bei dem Vordringen in das Zukunftsland, als Hochſchule der dramatiſchen Dichtung 
und Schauſpielkunſt, als Volksſchule für die Bildung des Geſchmacks und des poetiſchen 
Gefühls“. 

Der aus heiligem Gefühl und aus großen Gedanken hervorquellende Weckruf muß wie 
ein Echo von ganz Deutſchland aufgenommen und immer mächtiger anſchwellend weitergetra- 
gen werden, hin zum Gewiſſen der Preſſe, der großen Kultur- und Kunſtvereine wie der ein- 
zelnen, hin zum Enthuſiasmus der akademiſchen Jugend, der Führer, Erzieher und Lehrer des 
deutſchen Volkes, hin zu allen, denen ihr Deutſchtum ein großangelegtes Kulturprogramm, 
eine heilige Verpflichtung allen anderen Völkern gegenüber und — ſich ſelbſt bedeutet. 

Die Tat gilt, die Tat, ihr Deutſchen! 

Auf denn zur Tat! Friedrich Schönemann 


W. 


Zur Kulturgeſchichte des Ringes 


<i ehr feſſelnde, lebendige Illuſtrationen zur Kulturgeſchichte des Ringes bot die auber- 
ordentliche Sammlung eines Frankfurter Kunſtfreundes und Juweliers, Robert 

ee Rod, die für kurze Zeit von dem Salon Friedmann und Weber zu einem Gaſtſpiel 
im Rahmen der Ausſtellung „Die Dame in Kunſt und Mode“ gewonnen und der Öffentlid- 
keit zugänglich gemacht wurde. 

Die Ausftellung des Mode-Geſamtkunſtwerkes bot vom Interieur des Schlaf⸗, Toilette- 
und Badezimmers an über die Exterieure der langfließenden Statuenkleider bis wieder zuruck 
zu den intimeren Interieurs der Spitzen- und Battiſtdeſſous viel Geſchmackvolles, an alles war 
gedacht, an die Requiſiten der Reife mit der Bahn und vor allem mit dem Auto, an die ftil- 
gerechte Aufmachung für Wagen, Pferd und für das Genre Trotteur. Dazu die ſchillernde 
Fülle der Bibelots, der Fächer, Flacons, Pompadoure, der Gürtelſchließer, Filigranketten, 
emailverzierten Schmuckkämme und Spangen ... eine Trophäenſchau, ein Triomfo der Frau. 

Das Wertvollſte aber blieb jene Serie zierlich kleiner Käſtchen, die mit ihrem Inhalt 
der Ringe eine erleſene Kulturbeute darboten, Schauſpiele jahrtauſend alten Erbteils. 

Aus ägyptiſchen Pyramiden, aus pharaoniſchen Königsgräbern erſcheinen vergrabene 
Schätze. Fürſtenfingerreife find es aus mannigfaltigem Material, aus Bronze, Ton, Glas- 
fluß. Und fürſtlich find auch die aus mattem gelben Gold gebogenen Ringe mykeniſcher 
Frühzeit. Sie wecken Schickſalsſtimmung, die Unheilsatmoſphäre der Atridengräber, wie man 
fie in der Szene von d' Annunzios Citta morte empfindet, in der die Kleinodien der erlauchten 
Grüfte von verwegener Hand ihren heiligen Orten entführt werden und nun ihren alten Fa- 
tumsfluch neu wirken für die vermeſſenen Hände, die ihren Frieden geſtört. 

In alten Kulturen find die Ringe niemals bloßes Ornament, Eitelkeits- und Zierſchmuck. 
Sie dienen vielmehr ſtets als Ausdruck einer hohen Macht und Würde, Amtsinſignien ſtellen 
ſie dar und als Wahrzeichen tragen ſie auf der ſteinernen oder metallenen Platte geſchnitten, 
graviert das Wappen zur Beſiegelung feierlicher Dokumente. 

Man kann an ſolchen alten Petſchierreifen intereſſante Beobachtungen machen, wie 
konſtruktiv und ausdrucksſtark die Kompoſition und der Bau, die zuſammenhangsvolle Gliede- 
rung der Teile, des eigentlichen Reifens und der Mittel platte ift. 

Außerordentlich organiſch, wie wir es heut wieder lieben, ift diefe Bindung, und gleich- 
ſam lebendig bewußt die Führung und Zuſammenſchließung. Häufig iſt der Reif zweifach, 


Auf ber Warte 575 


der obere biegt ſich dann halbkreisförmig um den oberen Teil des Siegelſteins, der untere ent- 
ſprechend um den unteren. Oder der Ring gabelt ſich kurz vor dem Erreichen feines Mittel- 
ftids und die Verzweigungen funktionieren dann in gleicher Weiſe. 

Statt ſolcher zuſammengeſchloſſenen Gliederung der Einzelteile gibt es auch eine ge- 
wiffe Ganzheit und Unität der Kompoſition. Dann entwickelt fih der Rundreif allmählich 
von beiden Seiten zum breiten Bande, in das an der breiteſten Stelle der Stein, meiſt ein 
Karneol, eingebettet ruht. Dieſe breiteren Umrahmungsteile werden oft, ihrer ſtärkeren Bedeu- 
tung halber, ornamental akzentuiert, mit Gravier- und Treibarbeit, oder, was beſonders reiz- 
voll iſt, ſie werden gitterförmig durchbrochen. Und dies Motiv haben die geſchmacksgelehrigen 
Pariſer Juweliere mit Vorliebe aufgenommen. 

Ahnlich konſtruktive Löſungen bemerkt man ferner bei den merovingiſchen, gotiſchen, 
fränkiſchen Ringen. Spiralflechtwerk findet fidh hier und darin eingefaßt die wuchtige Metall- 
Siegelplatte. Oft iſt darin als Signet das Kreuzmonogramm Chriſti eingraviert. 

Großes, kulturelles Intereſſe, mehr hiſtoriſchen als geſchmacksanregenden Charakters, 
beanſpruchen die Zeremonialringe, Petri Fiſcherring, das Wahrzeichen des Papſtes, der Dogen- 
ring, mit dem ſich der Herr Venezias dem Meere vermählte, die jüdiſchen Trauringe des fed- 
zehnten Jahrhunderts, fie find pompös repräſentatives Rüſtzeug, ſakraler Prunkzierat. Es 
iſt bei ihm kaum auf das Verhältnis vom Schmuck zum Finger gedacht, der Finger wird zur 
Nebenſache, zum Mittel lediglich, um ein Symbol zu tragen, zum Werkzeug, die majorem 
gloriam einer heiligen Verkündigung ſichtbar anzuzeigen. 

Das ſind Architekturen aus Gold und Steinen von wuchtiger Bildung; nur der Rundreif 
erinnert noch an das Weſen des Ringes, das Mittelſtück ift maſſiges Emblem, im Hochrelief 
und ftulptural, Bei den katholiſchen Kultringen ift es Nachbildung der Formen von Mitra 
und Tiara, bei den jüdifchen ſtellt es Miniaturen der Stiftshütte in grünem Email mit 
Steinen dar. 

Symbolik ſpielt zu allen Zeiten beim Ring eine Rolle. Sehr bemerkenswert bei den 
bäuerlichen, die heut von neuem febr geſchätzt und z. B. noch als Agraffenſchließen der Krawatten 
getragen werden. 

Die Verlöbnisreifen bildet man aus verſchlungenen Händen, ſie faſſen einander oder 
jie halten ein brennendes Herz als Mittelſtück. Todesringe kommen vor als Giftbehälter mit 
Schädel und Kreuzknochen als Mittelftüd. 

Die berühmten auch ſymboliſchen ehernen Tauſchringe der Freiheitskriege fehlen nicht, 
die zum ehrenvollen Zeichen des Opfers auf dem Altar des Vaterlandes getragen wurden 
und die Oeviſe zeigen: „Gold gab ich für Eiſen“. 

Dieſem ſtreng katoniſchen Emblem der Bürgertugend ſtehen Grazienkünſte gegenüber: 
Z. B. die gracilen Filigranſpiele der Giardinetti. Sie haben als Schmuckſtück eine Blumen- 
korbvignette, zierlich aus Silberdraht geflochten, und in ihren Maſchen blitzen als Blüten und 
Früchte grüne, rote und blaue Steinchen auf. Und durch die mattſchimmernde, bleiche Gilber- 
faſſung wird die Koloriſtik der Steine noch gehoben, eine Erfahrung, die man ſich auch 
heut wieder zunutze gemacht hat, nur daß man für bieten Mondſcheinton jetzt Platin ver- 
wendet. 

Ein großes Kapitel für ſich nehmen die Ringe der Empfindſamkeitsperiode ein. Bei 
ihnen erſcheint das Mittelſtück meiſt in der Art der Stammbuchſymbole oder als Diminutivum 
der Freundſchaftsdenkmale in Gefühlslandſchaften. Ein verglaſtes Viereck oder Oval bildet 
den Rahmen, und darin ſieht man in zierlicher Elfenbeinſchnitzerei Urnen, Vaſen auf Pofta- 
menten mit Genien und Liebesgöttern. Häufig fiken fie — was man auch von den Rüdfeiten 
der Miniaturen her kennt — auf einem aus Haaren in Mattenmuſterung geflochtenen Hinter- 
grund. Ferner gibt es auch unter dieſer Verglaſung kleine Bildniſſe, auf Elfenbein EE 
oder als Silhouette. 


576 Auf der Warte 


Nach dem Okzident der Orient. Viel Phantaſie erweiſen gerade die exotiſchen Ringe. 
Häufig haben ſie Amulettcharakter. 

Große Türkiſen, in Cabodon- oder Plattenform, durch Sprunglinien geddert, erhalten 
diefe Zeichnungen mit Gold ausgefüllt, dazu ebenfalls mit Gold ſozuſagen plombierte Gravie- 
rungen kabbaliſtiſcher Ornamente. 

Syriſcher Herkunft find breite Silberbänder, auf denen in Draht aufgelötete Spiralen 
liegen, und von ihnen klirrt herab dreifacher Plättchenbehang. Chineſiſche Reifen gibt es aus 
reinem Gold, weich und biegſam. Ihre Enden find nicht geſchloſſen, ſondern übereinander- 
gelegt, und fie werden nach dem Fingermaß dehnbar gemacht. Ihr Schmuckſtück ift ein Schrift 
ornament, vertieft in einem Viereck eingeſchloſſen. 

Anerſchöpfliche Variationen, unendlich wie der Ring ſelbſt in ſeiner uralten Symbolik. 


Felix Poppenberg 
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Das neue Frauenideal 


Die alles auf dieſer Welt, iſt auch der Begriff der Weiblichkeit etwas Fließendes 
{ und Wandelbares. Denn — was ift Weiblichkeit? fragt Adele Schreiber in 

SAG: der „Umfchau“. Wenn es unweiblich ift, an Stelle des Hilfsbedürftigſeins das 
Helfentönnen zu ſetzen, an Stelle des Schutzbrauchens das Schutzgewähren, dann ift unfer 
neues Frauenideal unweiblich. Wenn es unweiblich iſt, nicht mehr zuſammenzubrechen, fon- 
dern mit der Kraft des Uberwindens aus alten Trümmern fih neues Leben aufzubauen, dann 
ſind die neuen Frauen unweiblich. Und in demſelben Sinne unweiblich iſt es wohl, an die 
Stelle des Nichtwiſſens das bewußte Handeln zu ſetzen, an die Stelle des Opferlamms die 
ſtarke, ſichere Perſönlichkeit, an die Stelle der Entſagung den Kampf, an die Stelle der paf- 
fiven Geduld den aktiven Mut, die handelnde Tugend, denn Tugend ift Glückgeben, und 
Geben ift Handeln (Multatuli), und fo ift denn das neue Frauenideal nicht das der Gelbft- 
entäußerung, ſondern das der Sel b ſt be haupt ung 

Und wenn ehedem das Frauenideal ſich immer im Extrem verkörperte, dem einen 
als Dämon, Weib, Sphinx, Rätfel, dem andern als lichter Engel, als Gottheit, der man Altäre 
baute, dem dritten als willfährige Sklavin und dienende Magd, ſo ſoll ſich heute aus all dieſen 
Übertreibungen das Zdeal herauskriſtalliſieren der Frau als Mitmenſch und Mittämpfer. 
Der Rampf der Geſchlechter gegeneinander wandelt fid zum gemeinſamen Kampf der beiden 
Geſchlechter gegen zerſtörende und hemmende Kräfte der Aufwärtsentwicklung, ein Kampf, in 
dem es nicht heißen darf: Hie Mann, hie Weib, ſondern: Hie Fortſchritt, hie Reaktion! Zn 
je mehr Punkten Mann und Weib fic ergänzen, um fo vollendeter kann über Zeit und phy- 
ſiſchen Wandel hinweg die Anziehungskraft bleiben, können neue Ekſtaſen erblühen zwiſchen 
Menſchen, die ſich ſo vollkommen verſtehen und begreifen, wie wir es bisher nur in Ausnahme- 
fällen berühmt gewordener Liebespaare kennen. Durch die Freiheit der Frau und die Achtung b 
ihrer Perſönlichkeit gewinnt der Mann ebenfoviel an Glüdsmöglichkeiten. Und wenn ein altes 
Wort lautet: ‚Die befte Frau ift die, von der man nicht ſpricht“, jo wollen wir dem nun frei- 
lich nicht das Wort entgegenſtellen: ‚Die befte Frau ift die, von der man am m e i ft e ſpricht“, 
wohl aber dürfen wir behaupten: ‚Die befte Frau ift diejenige, die nach ihrer Abe rz eju- 
gung handelt, gleichviel, ob man darüber ſpricht oder nicht.“ 


Verantwortlicher und Chefredakteur: Zeannot Emil Freiherr von Grotthuß, Bad Oeynhauſen in Weſtfalen. 
Literatur, Bilbende Kunſt, WMufit und Auf der Warte: Dr. Gart Storck, Berlin W., Landshuterſtraße 3. 
Druck und Verlag: Greiner & Pfeiffer, Stuttgart. 


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Die heilige Magdalena (Ausschnitt aus dem „Tag“) Correggio 


Madonna della Scodella (Ausschnitt) Correggio 


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Johannes der Evangelist Correggio 


Aus dem in der Deutschen Verlags-Anstalt in Stuttgart erschienenen Werke „Correggio“ 


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Die Himmelfahrt Christi 


Aus dem in der Deutschen Verlags-Anstalt in Stuttgart erschienenen Werke „Correggio“ 


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Wandgemälde an der Kuppel (Ausschnitt) 


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Die Wiſſenſchaft vom Leben 


Von 


Wilhelm von Schnehen 


Inter den mannigfaltigen Erſcheinungen der Natur, fo wunderbar fie 
auch alle ohne Ausnahme fein mögen, iſt doch ſonſt keine, die uns fo 
mit immer neuem Staunen erfüllt, ſo immer wieder zu ſich hinlockt 

ANS und unfer ganzes Sinnen fo gefangennimmt, wie jene eigenartigen 
Gebilde, die wir Organismen oder Lebeweſen nennen. Und wenn 
fih unfer Geiſt auch ſtaunend eine Zeitlang in die unermeßlichen Tiefen des Him- 
melsraumes und ſeine kreiſenden Sternenheere verloren oder ſinnend über den 
geheimnisvollen chemiſchen Eigenſchaften jener kleinſten Bauſteine der Natur, 
der Atome oder Moleküle der Materie, gebrütet hat, — er kehrt doch ſchließlich immer 
wieder zur Betrachtung jener lebenden Gebilde zurück. Gleichſam als ob er hier 
allein aller anderen Wunder Löfung finden müßte! Und in der Tat: ſcheint es nicht, 
als wenn in ihnen wirklich alle Rätſelhaftigkeit der Welt in eins zuſammengefaßt 
wäre und der ganze Wert aller übrigen Dinge am letzten Ende nur an dieſen ge- 
meſſen werden könnte und gemeſſen werden dürfte? Ja, wenn man von dem Men- 
iden oft und mit Recht ſchon bemerkt hat, daß er ein kleines Abbild der Welt im 
ganzen, ein Mikrokosmos, ſei, ſo gilt dasſelbe doch im Grunde ſchon von 
jedem Lebeweſen, wie klein und gering es auch an fih fein möge. Und um- 


gekehrt auch: wenn wir den einheitlichen harmoniſchen Zuſammenhang der Welt 
Ser Türmer XI, 11 37 


578 Schnehen: Die Wiſſenſchaft vom Leben 


und das ſtete geheimnisvolle Widerſpiel ihrer Kräfte mit einem Worte tenn- 
zeichnen wollen, ſo ſagen wir von ihr, auch ſie ſei ein einziger großer Organismus: 
ein Kosmoorganismus oder ein lebendiges All! So werden tatſächlich 
und ganz unwillkürlich uns die lebenden Gebilde der Natur, obwohl äußerlich be— 
trachtet ſo winzig im Vergleich mit vielen anderen, doch zu einem Symbol oder 
Maßſtab des Ganzen. Und wenn die Naturwiſſenſchaften heute in gewiſſem Sinne 
unſere ganze Weltanſchauung beſtimmen und inſoweit auch mit Recht beſtimmen, 
als wir nichts, was ihren geſicherten Ergebniſſen widerſtreitet, noch als wahr an- 
erkennen dürfen, ſo wird das im beſonderen Maße von der Biologie oder 
Wiſſenſchaft vom Leben gelten müſſen. Ze nachdem, welche Stel- 
lung wir zu den biologiſchen Grundfragen einnehmen, je nachdem wird ſich unſere 
Anſicht von der Natur auch im ganzen geſtalten. Und je nachdem, ob wir dort an 
der Außenſeite der ſinnlichen Erſcheinungen haften oder mit dem Geiſte in ihr 
Inneres, ihr eigentliches Weſen hinabtauchen, je nachdem wird man auch ſagen 
dürfen, ob wir in das Wefen der Welt ſelbſt eingedrungen find oder nicht. 
Nun vollzieht ſich aber gerade in dieſer Wiſſenſchaft vom Leben ſeit etwa 
zehn Jahren ein bedeutſamer Umſchwung: ein Umſchwung, der, 
zuerſt ſchwach und kaum beachtet, aber nun mit jedem neuen Monde dieſes zwan- 
zigſten Jahrhunderts immer weitere und tiefere Kreiſe ziehend, über kurz oder 
lang das ganze jüngere Geſchlecht der Naturforſcher in eine völlig neue Richtung 
hineindrängen und ihre Anſichten über das Weſen und die Urſachen der Lebens- 
erſcheinungen von Grund aus umgeſtalten muß. Zwar wogen augenblicklich die 
Meinungen noch wirr durcheinander. Das Alte wehrt fih mit der Macht der Ge- 
wohnheit überall noch gegen das Neue. Hier werden dieſe, dort wieder jene Lehren 
aufgeſtellt. Die eine Richtung bekämpft die andere. Und dem oberflächlichen 
Blick könnte es ſcheinen, als ob bisher aus all dieſen Kämpfen noch nichts Bleiben- 
des und Sicheres herausgekommen wäre. Aber bei näherem Zuſehen offenbaren 
fih dem Auge des unbefangenen Betrachters doch in all den ſcheinbar fo verſchie— 
denen Anſichten ſchon gewiſſe gemeinſame Züge. Ja, aus dem Wirrwar durd- 
einanderflutender Meinungen hebt ſich immer deutlicher ein klar erkennbares 
Ziel heraus, dem fie alleſamt bewußt oder unbewußt zuſtreben. Und es dürfte dar- 
um — bei der erwähnten Bedeutung gerade dieſer Fragen für unſere allgemeine 
Weltanſchauung — den Leſern des Türmers nicht unwillkommen ſein, wenn wir 
dieſe ganze neuere Entwickelung der Wiſſenſchaft vom Leben kurz an ihren Augen 
vorüberziehen laſſen, die wichtigſten Strömungen aus den minder wichtigen heraus“ 
heben und jenes Ziel, dem ſie alle zuſtreben, näher zu beſtimmen ſuchen. — 
Der Mann, der mehr als alle anderen vor oder nach ihm der Wiſſenſchaft 
vom Leben während dieſer letzten vier bis fünf Jahrzehnte ſeinen Stempel auf- 
gedrückt und mittelbar durch ſie auch die weiteren Kreiſe der Gebildeten in ſeinen 
Bann gezogen hat, iſt, wie bekannt, Charles Darwin. Und was man auch 
über ſeine einzelnen Annahmen, Lehren und Erklärungsverſuche denken mag, 
im ganzen wird Darwin immer als ein großer Bahnbrecher und ein Forſcher erſten 
Ranges geſchätzt werden müſſen. Sein bleibendes Verdienſt beſteht darin, daß er 
den alten Glauben an die Beſtändigkeit der Arten widerlegte, durch eine Fülle 


Schnehen: Die Wiſſenſchaft vom Leben 579 


von Beiſpielen die große Wandelbarkeit der Lebeweſen über allen Zweifel erhob, 
uns die heute feſten Arten als ehedem flüſſige, aber mit der Zeit feſt gewordene 
verſtehen lehrte und fo der Deſzendenztheorie oder Abſtammungs- 
lehre den erfahrungsmäßigen Boden gab, deffen fie bei feinen beiden Vorgän⸗ 
gern Geoffroy St. Hilaire und Lamarck noch entbehrt hatte. Darwin iſt alſo, 
wenn auch nicht der eigentliche Begründer oder Urheber der Abſtammungslehre, 
fo doch jedenfalls der, der fie endgültig zum Siege geführt und damit auch die Cin- 
ſicht in die wahre Stellung des Menſchen in der Natur mächtig gefördert hat. — 
Aber Darwin wollte mit feinem großen, bahnbrechenden Werke über „Die Ent- 
ſtehung der Arten“ keineswegs nur die T a tf ach e eines ſolchen ftammesgefchicht- 
lichen Zuſammenhanges der Lebewelt unſerer Erde erweiſen. Er wollte auch 
die Wege, die Geſetze und die Urſachen klarlegen, nach denen ſich die von- 
einander abſtammenden Lebeweſen im Laufe der Zeiten umgewandelt haben. 
Die übergroße Vermehrung einer jeden Art, fo erklärte er, muß bei den be- 
ſchränkten Raumverhältniſſen unſerer Erde unvermeidlich zu einem unaufhör⸗ 
lichen ſcharfen Wettbewerb um Raum, Nahrung, Licht, Luft, Waſſer und alle 
anderen notwendigen Lebensbedingungen führen. Dabei werden die Indivi- 
duen, die durch kleine zufällige Abweichungen in Geſtalt, Bau, Farbe oder ande- 
ren Eigenſchaften den jeweils gegebenen äußeren Umſtänden beffer als ihre Art- 
genoſſen angepaßt find, dieſe nicht fo begünſtigten Mitbewerber überleben. And 
indem ſie nun ihre nützlichen Eigenſchaften auf ihre Nachkommen übertragen, 
wird fich, fo meinte Darwin, bei einem andauernden Wechſel der äußeren Ver- 
hältniſſe im Laufe der Zeit durch allmähliche Steigerung ſolcher kleiner nützlicher 
Abweichungen ſchließlich eine ganz neue, der Außenwelt beſſer als die frühere 
angepaßte Art herausbilden: und zwar ohne irgendeine abſichtlich ſolche Zweck- 
mäßigkeiten ihres Baues hervorbringende Vernunft, allein aus der rein mechani- 
ſchen Wirkung der fortgeſetzten Ausleſe in jenem äußeren Kampfe ums Oaſein. 
Daß diefe fo nur mit wenigen Worten kurz angedeutete Selektions- 
theorie oder Lehre von der natürlichen Zuchtwahl als ein 
vermeintlich unausſcheidbarer Beſtandteil der Abſtammungslehre von der großen 
Mehrzahl aller damaligen Biologen mit Jubel begrüßt wurde und trotz des Wider- 
ſpruches einzelner älterer Kollegen bald zur allgemeinen Anerkennung gelangte, 
das ift heute leicht zu begreifen. Schwamm doch das damalige Geſchlecht der Natur- 
forſcher ganz in dem materialiſtiſchen oder mechaniſtiſchen Fahrwaſſer; waren ſie 
doch alle (ſelbſt jene Gegner der Abſtammungslehre) mit Du Bois-Reymond über- 
zeugt, daß im Grunde die naturwiſſenſchaftliche (mechaniſtiſche) Erkenntnis die 
einzige wiſſenſchaftliche Erkenntnis, der Gedanke an Naturzwecke aber eine 
kindliche Vermenſchlichung der Naturkräfte fei und darum auch die Lebensvor- 
gänge ohne irgendwelche zwecktätigen Lebenskräfte aus dem bloßen Zuſammen⸗ 
wirken der phyſikochemiſchen Kräfte und Geſetze erklärbar fein müßten. und nun 
bot ſich ihnen hier in dieſer Zuchtwahllehre des großen engliſchen Naturforſchers 
ſcheinbar eine ſolche völlig ausreichende Erklärung, bot ſich ihnen in dieſer vermeint- 
lich ſo einfachen und einleuchtenden Lehre der erhoffte und bisher doch immer 
noch vergeblich geſuchte Zauberſchlüſſel, um die Rätſel des Lebens ohne Ausnahme 


580 Schnehen: Die Wiſſenſchaft vom Leben 


zu löfen und zugleich mit der ganzen Mannigfaltigkeit der Lebensformen auch ihre 
wunderbaren Zweckmäßigkeiten in Bau und Verrichtungen aus rein materiellen 
Urſachen oder mechaniſchen, blind und ohne Zweck wirkenden Naturkräften zu 
erklären. 

Indes, als der erſte Rauſch der Begeiſterung vorüber war und man die ein- 
zelnen Behauptungen und Beweiſe Darwins näher nachzuprüfen anfing, da ftell- 
ten ſich den ſchärfer Blickenden auch mehr und mehr die vielen, vorher nur im 
Eifer überſehenen Lücken und Mängel ſeiner Zuchtwahllehre 
heraus. Zunächſt nämlich zeigte ſchon die einfachſte Aberlegung, daß die Ausleſe 
im Kampfe ums Dafein doch immer nur die Ausſcheidung der ſchlechter ange- 
paßten oder unzweckmäßigen Formen bewirken und erklären kann, aber nicht die 
Entſtehung zweckmäßiger Formen. Und ebenſowenig deren Übertragung von 
den Eltern auf die Nachkommen. Denn wenn die Variabilität oder das 
Abänderungs vermögen der Organismen nicht individuell verſchiedene, 
mehr oder weniger der Außenwelt angepaßte Formen ergäbe, fo würde ja die Zucht; 
wahl unter ihnen gar keine zweckmäßige Ausleſe treffen können. Und wenn nicht 
außerdem die nützlichen oder zweckmäßigen Eigenſchaften der ſieghaften Indivi- 
duen durch Vererbung auf ihre Nachkommen übertragen würden, ſo hätte 
jedenfalls die Ausleſe keinen dauernden Erfolg, ſondern würde ohne Zunahme der 
Zweckmäßigkeit oder Anpaſſungshöhe immer auf derſelben Fläche ſich bewegen. 
Die ganze poſitive Leiſtung bei der fortſchreitenden Anpaſſung und Höher- 
bildung der Lebeweſen fällt alfo nicht der Ausleſe im Kampfe ums Oaſein, ſondern 
vielmehr dem Abänderungsvermögen der Lebeweſen ſowie ihrer Fähigkeit zur 
Vererbung anheim. Und da dieſe beiden Grundeigenſchaften der Lebeweſen von 
Darwin einfach als unerklärte und auch durch ihn nicht verſtändlicher gemachte 
„Erfahrungstatſachen“ hingenommen worden waren, ſo war es auch ein Irrtum 
zu meinen, daß die aufſteigende Entwicklung der Lebewelt durch die Lehre von 
der natürlichen Zuchtwahl mechaniſch wirklich erklärt oder ihrer Erklärung auch 
nur irgendwie ndbergeriidt fei. 

Nun hatte Darwin freilich anfangs gemeint, die individuellen Ab- 
weichungen als ganz unbeſtimmt, allſeitig und nach allen Richtungen hin 
gleichmäßig verteilt anſehen zu können, fo daß das gelegentliche Vorkommen ein- 
zelner, bei dieſem oder jenem Wechſel äußerer Verhältniſſe nützlicher Abände- 
rungen fih gewiſſermaßen als ein Spiel des Zufalls darſtellte und keiner weite- 
ren Erklärung zu bedürfen ſchien. Aber er ſelbſt hatte diefe notwendige Voraus- 
ſetzung einer rein mechaniſchen Zuchtwahllehre, die unbeſtimmte all— 
ſeitige Variabilität gegen Ende feines Lebens ſchon wieder preis- 
gegeben und offen eingeräumt, daß nur häufig wiederkehrende oder gleichzeitig 
in großer Anzahl auftretende nützliche Abweichungen wirklich zur Bildung einer 
neuen Art führen können. Und die ſeitherige Entwickelung der Biologie hat mit 
jenem Glauben an das Spiel des Zufalls als ausreichende Erklärung der jeweils 
nützlichen Abänderungen völlig aufgeräumt. Einmal nämlich zeigten alle nähe- 
ren Unterſuchungen, daß die individuellen Abweichungen keineswegs nach allen 
Seiten hin erfolgen, ſondern wenige ganz beſtimmte Richtungen einhalten, alſo 


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Schnehen: Die Wiſſenſchaft vom Leben 581 


auch auf ganz beſtimmte Urſachen zurückweiſen. Und zum anderen erkannte man 
mehr und mehr, daß jene kleinen individuellen Unterſchiede, die Darwin ſeiner 
Theorie zugrunde gelegt hatte, ſelbſt bei künſtlich durch den Züchter herbeigeführ- 
ter Inzucht ſehr bald eine gewiſſe unüberſchreitbare Grenze erreichen, und wenn 
ſich ſelbſt überlaſſen, raſch wieder durch Kreuzung verloren gehen. Sie ſchwanken 
eben, wie es 3. Reinke treffend ausgedrückt hat, gleich einem Pendel um einen 
feften Mittelpunkt herum: um einen Mittelpunkt, der durch die beſtändigen Mert- 
male der Art oder Raſſe beſtimmt wird. Darum können diefe gewöhnlichen klei- 
nen Anterſchiede der einzelnen Artgenoſſen voneinander in der Natur offenbar 
nicht zur Bildung einer neuen Art führen. Und auch bei der künſtlichen Züchtung 
läßt ſich beobachten, daß die fo erzielten neuen Abarten oder Raffen ſich meiſt nur 
in äußeren, nebenſächlichen Merkmalen von der Stammform unterſcheiden. Wo 
ſich dagegen die Abweichung von dieſer urſprünglichen Form auf innere, wefent- 
liche Merkmale erſtreckt, da iſt auch bei der künſtlichen Züchtung die neue Form 
faſt immer plötzlich erſchienen. Den Gärtnern und Züchtern waren ſolche Fälle 
ſprunghafter Raſſenbildung längſt ſchon bekannt, und nachdem fie 
durch verſchiedene Forſcher, wie z. B. Eimer, Standfusz, Hofmeiſter, Korſchinsky 
und vor allem Hugo de Vries eingehend unterſucht und als tatſächliche Bortomm- 
niſſe über allen Zweifel erhoben ſind, neigen ſich die Biologen mehr und mehr der 
Anſicht zu, daß die aufſteigende Entwicklung der Lebewelt nicht durch allmäh- 
liche Umbildungsvorgänge im Sinne Darwins, ſondern nur durch eine Reihe 
plötzlicher Übergänge oder ,heterogener Zeugungen“ (nach Kölliker) 
erfolgt fein könne. Um fo mehr, da uns die Paläontologie oder Vorwefen- 
kunde in den von ihr zutage geförderten Verſteinerungen früherer Lebeweſen 
faſt immer nur ſcharf voneinander geſchiedene Formen ohne irgendwelche fließende 
Übergänge kennen lehrt und endlich auch die Embryologie darauf hinführt, 
daß alle neu auftretenden wichtigeren Organe eines Lebeweſens von ihm nicht 
erft nachträglich im Laufe feines ſelbſtändigen Daſeins unter dem Einfluſſe äuße- 
rer Umftände erworben, ſondern ſchon in der allererſten Zeit feiner Reimesentwid- 
lung durch freiwillige, von innen heraus erfolgende Zellenteilung angelegt werden. 

Entſcheidender aber ift es, daß fic die natürliche Zuchtwahl, die nach Dar- 
win ja die allmähliche Anhäufung jener kleinen zufälligen Abänderungen bewir- 
ken ſollte — ſelbſt wenn man dieſe Wirkung anerkennt —, doch jedenfalls nur auf 
nützlich e Eigenſchaften oder Merkmale der Lebeweſen richten kann, nicht aber 
auf ſolche, von denen ein Nutzen im Kampfe ums Daſein in keiner Weife zu er- 
ſehen ijt. Und gerade ſolche für die Wohlfahrt des einzelnen Lebeweſens nutz- 
loſe Eigenſchaften (wie z. B. die Zahl der Blätter, Zähne oder Wirbelknochen) 
ſind es, durch die ſich die verſchiedenen Klaſſen, Gattungen, Familien und Arten 
der Pflanzen und (mit gewiſſen Einſchränkungen) auch die Tiere voneinander 
unterſcheiden. Darwin ſelbſt hat das gegen Ende ſeines Lebens anerkennen müſſen 
und daher in der fünften Auflage ſeines erſten Werkes die Wirkung der 
natürlichen Zuchtwahl auf die äußeren Anpaffungs 
merkmale oder „phyſiologiſchen Charaktere“ ein geſchränkt. Auch wirft 
er ſelbſt ſchon die Frage auf, „welchen Vorteil ein Infuſorium, ein Eingeweide 


582 Schnehen: Die Wiſſenſchaft vom Leben 


wurm oder ſelbſt ein Regenwurm davon haben könne, hoch organifiert zu fein“ 
(N. Z. 139), und vergißt nur, daraus den Schluß zu ziehen, daß der ganze Fort- 
ſchritt von niederen zu höheren Stufen der Organiſation fih aus bloßen Nützlich 
keitsrückſichten oder aus dem Vorteil eines hoch entwickelten Baues für die einzel- 
nen Lebeweſen oder Arten ſelber niemals erklären läßt. Im Gegenteil, die nie d- 
rig ſtehenden, einfach gebauten Lebeweſen find, was den Kampf mit der Außen- 
welt und die Anpaſſungsfähigkeit an die mannigfachſten äußeren Verhältniſſe an- 
belangt, den höheren entſchieden überlegen. Und wenn die Entwicklung 
der Lebewelt trotzdem über ſie hinaus zu höheren, weniger anpaſſungsfähigen 
Formen fortgeſchritten iſt, ſo muß der Grund dafür ganz wo anders geſucht werden 
als in irgendwelchen gar nicht vorhandenen Vorteilen einer höheren Organiſation 
für den Kampf um das Oaſein. 

Aus dieſen und vielen anderen Gründen, deren Aufzählung wir uns hier 
erſparen können, haben ſich die neueren Biologen mehr und mehr von Darwin 
abgewendet. Die Abſtammungslehre freilich darf (wenige kaum nennenswerte 
Ausnahmen abgerechnet) allgemein als anerkannt gelten; die Lehre von der 
natürlichen Zuchtwahl dagegen mit ihrem Anſpruch auf ausreichende 
Erklärung der zweckmäßigen organiſchen Gebilde rein aus mechaniſchen Urſachen 
begegnet immer lauteren Zweifeln, immer entſchiedenerem Widerſpruch. Und 
auch die, die aus Angſt vor der ſonſt unvermeidlich werdenden Annahme zweck- 
mäßig wirkender Kräfte noch an ihr feſthalten, verſchließen ſich doch meiſt nicht 
mehr der Einſicht, daß ſie in der von Darwin ſelbſt ihr gegebenen Form nur die 
Ausſcheidung unzweckmäßiger, aber nicht die Entſtehung zweckmäßiger Formen 
oder gar deren Vererbung auf die Nachkommen erklären kann. Nur meinen ſie, 
diefe zweifelloſen Lücken dadurch im Sinne der mechaniſchen Naturbetrachtung 
ausfüllen zu können, daß fie den Gedanken der Auslefe im Kampfe um das Dafein 
weiter ausdehnen, als es Darwin getan hatte. Die namhafteſten Vertreter dieſes 
ſogenannten Neudarwinismus find W. Roux und A. Weis mann. 

Ro ux ging zunächſt von dem richtigen Gedanken aus, daß die einzelnen 
Organe und Zellen aller vielzelligen, höher organiſierten Individuen ſelbſt wieder 
Individuen niederer Stufe oder kleine, relativ ſelbſtändige Lebeweſen darſtellen, 
und er glaubte nun, auch zwiſchen ihnen einen Kampf um Nahrung und Raum 
annehmen zu können: alſo einen Rampf der Gewebeteile oder Zellen 
jedes höheren Organismus als die eigentliche Urſache der zweckmäßigen Anpaſſung 
ſeiner Organe an die ihnen von der Außenwelt abgeforderten Tätigkeiten. Aber 
leider fehlt hier die eine unentbehrliche Vorausſetzung einer wirklichen Ausleſe 
im Kampfe ums Oaſein, nämlich die überzählige Vermehrung der miteinander 
in Wettbewerb tretenden Kämpfer. Und wenn Roux fic ftatt deffen darauf beruft, 
daß die ſtärkere Inanſpruchnahme ihrer Tätigkeit auf die einzelnen Gewebe als 
Ernährungsreiz wirke und ſo zu ihrer weiteren Ausbildung führe, während ſie bei 
mangelnder Tätigkeit verkümmern, ſo iſt das in gewiſſem Umfange richtig. Man 
denke z. B. an die Muskeln des Ringkämpfers. Aber dieſe Wirkungen des ver- 
mehrten Gebrauchs oder Nichtgebrauchs erſtrecken ſich doch nur auf Länge, Gewicht 
und inneren Bau der betreffenden Organe, aber nicht auf ihre Form. Auch iſt 


Schnehen: Die Wiſſenſchaft vom Leben 583 


dabei ihr Dafein immer Iden vorausgeſetzt, ihre erte Entſtehung aljo nicht er- 
klärt. Und noch weniger ift dies ihre Fähigkeit, fih den an fie geſtellten Anforde- 
rungen durch Verſtärkung oder Umlagerung ihrer Teile in eben dieſer Weiſe zweck- 
mäßig anzupaſſen: eine Fähigkeit, die wir doch bei unorganiſchen Gebilden (z. B. 
bei Wagenachſen) keineswegs finden und alfo als eine eigentümliche Grundeigen- 
ſchaft alles Lebens anerkennen müſſen. Der Reiz iſt eben immer nur der äußere 
Anlaß zur Ernährung, dieſe ſelbſt aber ohne allen Zweifel eine aktive Leiſtung 
oder zweckmäßige Selbſttätigkeit jeder Zelle. Und daß normale Reize diefe Tätig- 
keit der Zelle anregen, während zu ſtarke Reize fie beeinträchtigen, das ift eben- 
falls eine zweckmäßige Einrichtung, die keinerlei Gegenſtück in der unorganiſchen 
Natur hat und jeder rein mechaniſchen Erklärung ſpottet. Vor allem aber bleibt 
auch bei Roux genau wie bei Darwin jenes große, mechaniſch unerklärte Nätſel 
der Vererbung, ohne die keine Zuchtwahl, auch die der Teile nicht, je die Wun- 
derwelt des Lebens hätte ſchaffen können. 

Dem ſuchte Aug. Weis mann durch die Annahme einer Germinal- 
ſelektion“ oder Zuchtwahl zwiſchen den verſchiedenen Keimteilchen abgubel- 
fen. Alle ſpäteren Entwicklungsvorgänge ſollen danach ſchon in der Keimzelle 
eines jeden Lebeweſens als ein Moſaik von Sonderanlagen oder „Determinanten“ 
materiell vorgebildet fein und alle individuellen Unterfchiede nur von der ungleich- 
mäßigen Ernährung dieſer unſichtbaren Träger aller einzelnen Sondermerkmale 
herrühren. Mit anderen Worten: Weismann denkt ſich die verſchiedenen Anlagen 
zu den einzelnen Körperteilen räumlich nebeneinander auf die einzelnen materiel- 
len Teile der Keimzelle verteilt und will nun alle im Laufe der Stammesgeſchichte 
eingetretenen Formwandlungen und das Snnehalten der jeweils dabei eingefchla- 
genen Richtung aus dem Kampf ums Daſein oder Kampf um die Nahrung zwiſchen 
jenen unſichtbaren Keimteilchen erklären: da, wie er meint, beſſer genährte Zeile, 
weil fie kräftiger feien, auch dauernd mehr Nährſtoffe an fih ziehen (27) und fo 
ihr einmal erlangtes Übergewicht über ihre Nachbarn bewahren müßten. Aber 
dabei iſt einmal jene wunderſame Fähigkeit der Ernährung, des Wachstums und 
der Selbſtteilung, die gerade an den Zellen erklärt werden foll, einfach als ſelbſt⸗ 
verſtändliche Eigenſchaft ihrer unſichtbaren Teile ſchon vorausgeſetzt. Das heißt 
die Frage nach dem Weſen des Lebens ift nur zurüͤckgeſchoben, aber nicht gelöſt. 
Und zum anderen iſt der ganze Verſuch, die Vererbung durch ein ſolches Moſaik 
von Sonderanlagen zu erklären, auf fo unhaltbaren, grob materialiſtiſchen Vor- 
ausſetzungen aufgebaut, daß er notwendig fehlſchlagen muß und tatſächlich auch 
feinem eigenen Urheber unter den Händen fehlſchlägt. Denn wer foll den eigen- 
tümlichen inneren Bau jener Keimteilchen bei ihrer Vermehrung durch SGelbjt- 
teilung aufrechterhalten? Wer das angebliche Nebeneinander aller Sonderanlagen 
in der Keimzelle zu dem ganz andersartigen Nebeneinander von Organen und 
Geweben in dem fertigen Organismus entfalten oder die in zerſtreuter Ordnung 
in die einzelnen Körperteile gelangenden Sonderanlagen des Reimes wieder rich- 
tig zuſammenfügen? Zu alledem ſind offenbar ordnende und leitende 
Kräfte über den materiellen Anlagen unbedingt erforderlich, und Weismann 
ſelbſt ſieht ſich ſchließlich wider ſeinen Willen genötigt, ſolche leitende Oberkräfte 


584 Schnehen: Die Wiſſenſchaft vom Leben 


unter dem Namen „vitaler Affinitäten“ einzuführen. Das heißt: er geſteht am 
Ende ſelbſt zu, daß die von ihm für „allmächtig“ ausgegebene natürliche Zucht 
wahl ſelbſt bei ihrer an ſich ſchon ſehr zweifelhaften Ausdehnung auf gewiſſe un- 
ſichtbare Keimteilchen mit beſtimmten Sonderanlagen nicht imſtande iſt, die 
zweckmäßigen Gebilde und Vorgänge der organiſchen Natur auf mechaniſche Weiſe 
zu erklären. 

Unter ſolchen Umſtänden ift es nicht zu verwundern, daß, wie bereits er- 
wähnt, die meiſten anderen Naturforſcher ſich von dem Glauben an die artſchaffende 
Bedeutung der Auslefe im Kampfe ums Dafein mehr und mehr abwenden und 
nach einer anderen Erklärung umſehen. Dabei greifen fie denn meiſt auf jene 
beiden älteren franzöſiſchen Forſcher zurück, die lange vor Darwin ſchon für die 
Abſtammungslehre eingetreten waren: nämlich auf Geoffroy St. Hilaire 
und Zgean Lamarck. Und man bezeichnet daher diefe Richtung der modernen 
Biologie auch als Neulamarckis mus. Ihr richtiger Grundgedanke ift der, 
daß in den einzelnen Lebeweſen ſelbſt die Fähigkeit ruhen muß, ſich zur Erhaltung 
ihres Daſeins unmittelbar den veränderten Verhältniſſen der Umgebung anzu- 
paffen oder neue, von außen an fie herantretende Anforderungen durch eine zweck 
mäßige Abänderung ihrer Tätigkeiten oder ihrer Formen zu beantworten. Auf 
die Annahme einer ſolchen Anpaſſungsfähigkeit als der Grundeigen- 
ſchaft alles Lebens lief, wie wir ſahen, auch die urſprünglich nur als Erweiterung 
der Zuchtwahllehre gedachte Gewebeſelektion W. Roux' ſchon hinaus. Und die 
Tatſache ſolcher unmittelbaren Anpaſſungen an die Außenwelt läßt ſich nach den 
zahlreichen Beobachtungen der letzten Jahrzehnte heute nicht mehr in Abrede 
ſtellen. Ebenſowenig wie die, namentlich von Weismann, lange Zeit hindurch be- 
ſtrittene Vererbung dieſer ſo durch Anpaſſung neu erworbenen Merkmale. 
Schon Darwin ſelbſt hatte u. a. darauf hingewieſen, wie die europäiſchen Hunde 
in Neuguinea ihre Ohrform, ihre Stimme, ihr Haar u. a. in auffallender Weiſe 
verändern. Ahnlich verlieren unſere Schafe in tropiſchen Gegenden in wenigen 
Generationen ihre Wolle. Aus den gefiederten Akazien ſind in der trockenen Luft 
Neuhollands ſolche mit ungefiederten Blättern entſtanden, die nur in den erſten 
Blättern des Reimes die Neigung zur Fiederung noch bewahren. Auch die Alpen 
blumen weiſen uns mit ihren Anterjchieden von den nah verwandten Arten niede- 
rer Höhenlagen unzweideutig auf eine mit ihnen unter dem Einfluſſe äußerer 
Umſtände vorgegangene Wandlung zurück. Und das gleiche tun die Getreide- 
arten und Waldblumen, die ſich z. B. in ihrer Vegetationsdauer den verſchiedenen 
Klimaten und Höhenlagen erblich angepaßt zeigen. Ja, Bonnier hat an verjdiede- 
nen Pflanzen eine ſolche unmittelbare Anpaſſung direkt nachgewieſen, indem er 
Teilſtücke eines und desſelben Stockes verſchiedenen Kulturbedingungen ausſetzte 
und auf dieſe Weiſe mehrere verſchiedene Abarten erhielt. Ob man dabei mit 
Geoffroy St. Hilaire den Einfluß der äußeren Umſtände oder mit L a- 
m ar d die Wirkung des Gebrauchs oder Nichtgebrauchs der Organe in den Vorder- 
grund ſtellt, iſt im Grunde einerlei. Denn die veränderte Gebrauchsweiſe ſetzt 
immer ſchon als deren Anlaß irgendwelche Anderung der äußeren Umſtände vor- 
aus und die Veränderung der äußeren Umſtände kann immer nur durch die ver- 


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Schnehen: Die Wiſſenſchaft vom Leben 585 


änderte Rückwirkung der Organismen ſelber an dieſen irgendwelche neue awed- 
mäßige Erſcheinungen hervorrufen. In beiden Fällen handelt es ſich alſo um eine 
ſelbſttätige Anpaſſung oder reaktive Zwecktätigkeit des 
Organismus, die ſich zunächſt in einer zweckmäßigen Änderung der gewohn- 
ten Verrichtungen und dann weiterhin auch in zweckmäßigen Anderungen des 
Baues äußert. 

Daß es ſich aber in den angeführten und vielen anderen ähnlichen Fällen 
unmittelbarer Anpaſſung nicht bloß um ein untätiges Erleiden, ſondern eben um 
eine zweckmäßige eigentätigkeit der Organismen ſelber handelt, kann um 
fo weniger zweifelhaft erſcheinen, als wir bei ihnen ein ſolches eigentätig zweck- 
mäßiges Verhalten auch ſonſt deutlich beobachten können. So richtet ſich z. B. an 
einer Fichte, die den Gipfeltrieb verloren hat, ein Seitenſproß empor und führt 
das Wachstum des Baumes weiter. So läßt die Miere an ſteilen Felswänden 
einige ihrer äußeren Blätter herabfallen und verkümmern, um ihre Stile dann als 
Stützen zu gebrauchen. So bilden ſich zerſchnittene Regenwürmer zuerſt das 
Kopfende neu, das wegen ſeiner Ganglienknoten am wichtigſten für ſie iſt, und 
ſchieben erſt nachträglich andere Ringe zwiſchen neuen Kopf und alten Stamm 
ein. Za, es entſteht ſelbſt aus einem Froſchembryo, dem auf einer frühen Stufe 
ſeiner Keimesentwicklung eine ganze Hälfte ſeiner Zellen künſtlich weggeſchnitten 
wird, nicht etwa eine Mißgeburt, ſondern vielmehr ein ganzer Froſch, nur halb ſo 
groß, als er eigentlich hätte fein ſollen. Und wenn man einem Salamander die 
Augenlinſe herausſchneidet, ſo wird dieſe von den urſprünglich zu ganz anderen 
Tätigkeiten beſtimmten und ausgebildeten Nachbarteilen durch zweckmäßige Um- 
bildung einiger Zellen wiederhergeſtellt. 

Aber wenn die Tatſache ſolcher unmittelbar zweckmäßigen Anpaſſungen 
ſchlechterdings nicht mehr zu beſtreiten iſt, und wenn wir namentlich im Hinblick 
auf fo wunderbare Vorgänge wie die letzterwähnten nicht an einer fie hervor- 
bringenden Eigentätigkeit der Organismen zweifeln können, fo ſehen wir uns da- 
mit doch nur vor der neuen Frage, was die Lebeweſen zu einer ſo 
unverkennbar zweckmäßigen Geftaltung und Umgeftal 
tung ihres Baues befähigt. Dah es fih dabei nur um eine Art von 
mechaniſcher Selbſtregulation, wie bei materiellen Syſtemen (3. B. Maſchinen) 
handele, kann nur der behaupten, der ſich die eigentlichen Schwierigkeiten gar nicht 
zum Bewußtſein gebracht hat. Aber wer ift es dann, der durch eine gwedent- 
ſprechende Leitung die Stoffwechſel- und die Formbildungsvorgänge des Organis- 
mus fo beeinflußt, daß trotz aller äußeren Störungen das typiſche Ziel der Ent- 
wicklung erreicht wird, und wo das zur Erhaltung des Lebens nicht genügen würde, 
eben eine neue, den veränderten Verhältniſſen der Außenwelt beſſer angepaßte 
Form in die Erſcheinung tritt? — Manche Neulamarckiſten, beſonders einige 
Zoologen unter ihnen, haben wohl an eine bewußte Zwecktätigkeit 
der fih anpaſſenden Individuen gedacht und gemeint, daß die einzelnen Lebe- 
melen mit bewußter Abſicht die Verrichtungen ihres Leibes ihren jeweiligen Be- 
dürfniſſen gemäß einrichten und fo auch allen neuen, von außen an fie herantreten 
den Anforderungen entſprechend abändern könnten. Aber das iſt offenbar eine 


586 Schnehen: Die Wiſſenſchaft vom Leben 


ganz unhaltbare Annahme. Man bedenke doch nur, wie wenig ſogar wir Menſchen 
einen unmittelbaren Einblick in die geheimnisvolle Werkſtatt unſeres Leibes be- 
ſitzen, geſchweige denn einen wirklichen Einfluß auf die darin ſich unaufhörlich, 
auch während unſeres Schlafes abſpielenden, tauſendfach verſchiedenen und ganz 
unüberſehbar verwickelten Lebensvorgänge. Und nun ſollten wir eine ſolche uns 
ſelber fehlende Kenntnis und Fähigkeit zur bewußten Leitung aller dieſer inneren 
organiſchen Vorgänge nicht nur den Tieren, ſondern auch den Pflanzen andichten: 
den Pflanzen, bei denen wir im Hinblick auf den Mangel eines jeden Nervenſyſtems 
doch nicht einmal ein einheitliches Bewußtſein für das ganze Individuum voraus- 
ſetzen dürfen!? Nein, das iſt offenbar unmöglich. Und ebenſo unmöglich iſt es, 
die einheitlich zweckmäßige Anpaſſung eines höheren Organismus etwa aus der 
vernünftigen Überlegung oder dem bewußt zweckmäßigen Zuſammenwirken fei- 
ner einzelnen Teile oder Zellen zu erklären. Denn dieſe Teile haben ſicher von 
den wechſelnden Bedürfniſſen des Geſamtorganismus, denen fie mit ihrer Tätig- 
keit dienen, keine bewußte Kenntnis; und wenn ſie ſie hätten, dann doch jedenfalls 
nicht die Neigung, ihre einzelnen Sonderzwecke und Tätigkeiten als Teile denen 
jenes höheren Ganzen freiwillig unterzuordnen! 

Und wie ſchon die unmittelbare Anpaſſung des einzelnen Lebeweſens nicht 
aus dem ungeleiteten, rein nach mechaniſchen Geſetzen erfolgenden Tanz feiner 
Atome oder Moleküle und auch nicht aus bewußter Zwecktätigkeit des ganzen 
Organismus oder ſeiner lebendigen Teile zu erklären iſt, ſo iſt es noch weniger die 
Vererbung der ſo durch Anpaſſung neu erworbenen Eigenſchaften, ohne die 
doch die ganze aufſteigende Entwicklung des Lebens unmöglich geweſen wäre. 
Gewiß wird ja bei dem materiellen Zuſammenhange aller Teile des Organis- 
mus jede äußere Anpaſſung dieſes oder jenes Körperteiles durch chemiſche 
und dynamiſche Reize mannigfacher Art umbildend auch auf die im Inneren 
verborgen liegenden Keimzellen zurückwirken müſſen. Aber daß die fo veranlaß- 
ten reaktiven Abänderungen der Keimzellen derart find, daß fie den künftigen Lebe- 
weſen ohne ihr Zutun gerade jene von den Eltern erſt mühſam durch Anpaſſung 
erworbenen neuen Eigenſchaften ſchon mit auf ihren Lebensweg geben, das ift 
das Wunderbare, mechaniſch Unerklärliche an dem ganzen 
Vorgange der Vererbung von Anpaſſungsmerkmalen. Und 
diefe auf die künftigen Bedürfniſſe der neuen, erft werdenden Lebeweſen berech- 
nete zweckmäßige Abänderung der Keimanlagen kann man offenbar auf die be- 
wußte, für ihre Nachkommen ſorgende Zwecktätigkeit der elterlichen Lebeweſen 
ebenſowenig zurückführen, wie etwa auf die vorausſchauende Klugheit der Reim” 
zellen ſelber. Vollends nicht in jenen Fällen ſprunghafter Höherbildung des Typus, 
wo aus dem Schoße einer mütterlichen Pflanzen- oder Tierart durch ſogenannte 
„heterogene Zeugung“ mit einem Schlage in weiter Abweichung von der Stamm- 
form eine ganz neue, höher organiſierte Art hervorgeht. Es bleibt alſo als einzige 
Erklärungsmöglichkeit nur die An nahme unbewußt geiſtiger Kräfte 
oder zweckmäßiger Tätigkeiten: eine Annahme, zu der fich denn auch 
die klarer blickenden und von den materialiſtiſchen Vorurteilen der Vergangen- 
heit nicht mehr befangenen Vertreter des Neulamarckismus zum Teil ſchon be- 


Schnehen: Die Wiſſenſchaft vom Leben 587 


kannt haben. So, um nur einige zu nennen, z. B. Joh. Reinke, Fr. Reinke, G. 
Wolff, H. Drieſch, O. Hamann, R. H. France, Ad. Wagner u. a. 

And ſo ſehen wir denn, wie ſich bei der Frage nach den Wegen und den 
Urſachen der aufſteigenden Entwicklung des Lebens die verſchiedenen heute ein- 
ander noch gegenüberſtehenden Richtungen der modernen Biologie tatſächlich ein 
und demſelben deutlich erkennbaren Ziele nähern. Die Vertreter der Mut a- 
tionstheorie (de Vries) oder Theorie der „heterogenen Zeugung“ (Röl- 
liter), die gegenüber den allmählichen Umwandlungsvorgängen des Darwinis- 
mus mit Recht die plötzliche Entſtehung neuer Arten betonen, müſſen dieſe 
ſprunghaften Umgeftaltungen der organiſchen Formen entweder ganz unerklärt 
laffen oder fih zu der Annahme innerer zweckmäßig wirkender Kräfte be- 
quemen. Die Neulamarckiſten, die im Gegenſatze zu der indirekten, 
pajjiven Anpaſſung durch natürliche Zuchtwahl ebenſo mit Recht eine direkte, 
aktive Anpaſſung der einzelnen Organismen ſelber behaupten und tatſächlich nach- 
gewieſen haben, ſtehen damit vor der Wahl, diefe unmittelbare, ſelbſttätige UAn- 
paſſung entweder im Widerſpruche mit allen pſychologiſchen Erfahrungen auf 
bewußte Zwecktätigkeit der Lebeweſen ſelbſt oder aber auf unbewußte, zweckmäßig 
wirkende Kräfte zurückzuführen. Und der Hauptvertreter des Neudarwinis-⸗ 
mus, Aug. Weismann, der dieſe unvermeidlichen Folgen des lamarckiſtiſchen 
Grundgedankens richtig erkannt und, um ihnen zu entgehen, eben ſeine Lehre von 
der „Germinalſelektion“ aufgeftellt hatte, — A. Weismann ſelbſt fieht ſich am 
Ende doch gezwungen, die Unzulänglichkeit bieles feines eigenen Erklärungsver- 
ſuches einzugeſtehen und über den materiellen Sonderanlagen ſeiner Keime 
noch beſondere „vitale Affinitäten“ anzunehmen: d. h. leitende und ordnende 
Kräfte immaterieller Art, die ſich nur noch durch ihr verſchämteres Auf- 
treten von den unbewußt geiſtigen „Lebenskräften“ jener eigentlichen Neo- 
vitaliſten unterſcheiden. Damit aber lenkt die Wiſſenſchaft vom Leben un- 
verkennbar in die Bahnen ein, die ihr Edu ard v. Hartmann ſchon vor 
dreißig Jahren in feiner Schrift Wahrheit und Irrtum im Dar 
winis mus“ gezogen hat. Und wenn das letzte Werk des großen Denters, das 
wenige Wochen vor ſeinem Tode noch erſchienene „Problem des Lebens“ 
(Verlag von H. Haacke, Sachſa) erſt in weitere Kreiſe hineindringt, dann wird der 
Sieg der Hartmannſchen Naturanſchauung auch entſchieden ſein: dann wird der 
Geiſt, den eine mechaniſtiſch geſinnte Naturwiſſenſchaft ſo lange für ein bloßes 
Anhängſel oder nachträgliches Erzeugnis der Natur angeſehen hat, wieder als 
deren beſtimmender Grund, als ihr Herr und Meiſter anerkannt werden und der 
Materialismus in dem geiſtigen Leben unſeres Volkes keine Stätte mehr haben. — 


San SC 


Die Briefe des alten Joſias Köppen 


Von 
Marie Diers 


(Schluß) | 

= 3m November. 
eine liebe Tochter Elfe, wenn ich doch nur den alten Paſtor Friedrichs 

noch hätte oder wenigſtens meine gute Madame Ricke, dann ware 
doch mal einer, mit dem ich ſprechen könnte. Mit Kolling Möhrs 

5 geht das nicht, was der wohl dazu fagen würde, dak id) mit dem 

ewehr nach dem Tannenſchlag wollte. Für den ift fo was nicht. 

Ich habe ſchon gedacht, wenn es gegangen wäre, wie es ſollte, und der lütte 
Heinz wäre mir nicht dazwiſchengelaufen, wo ich dann wohl hingekommen wäre? 
Liebe Elfe, ich glaube, ich habe keinen Raum, weder hier noch dort. 

* 


* 


J 


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* 


Im Januar 1897, 

Liebe Elfe, das Weihnachtsfeſt ift vorbei. Ob Du wohl einmal zu uns her- 
niedergeſehen haſt? Der Baum ſteht wieder in der guten Stube wie damals, 
als Ihr noch Kinder wart und hier alles froh und leicht herging. Dein kleiner Jung 
hat fih auch recht gefreut. Ich habe ihm einen ganzen Haufen Kinderzeugs ein- 
gekauft, eine Mühle, die Sand mahlt, eine Trompete, Bleiſoldaten, einen Schub- 
karren und alles ſolche Sachen. Mamſell meinte aber, das wäre zu viel auf einmal, 
das verdürbe die Kinder, wenn ſie ſo viel kriegten, und weil ſie ſonſt gut iſt mit 
Heinz, dachte ich, fie möge recht haben. Aber nun hat der Sung’ doch fo bei und bei 
alles nachbekommen. Wenn ich vom Feld kam, und er mir entgegenlief, dachte ich: 
Was hat er denn an mir altem Knaſt zu ſehen? und bin heimlich mit ihm in die 
Kammer gegangen, habe mir den Schlüſſel vom Bord gelangt, und er mußte ſich 
die Augen zuhalten. So hat er nun alles gekriegt. Na, laß man, das ſchadet 
ihm nichts. 

Einmal im Feſt hat er zu mir geſagt: „Großvater, wo iſt Vaters Klavier?“ 

Das hat mir ordentlich einen Schreck gegeben, ich habe geſagt: „Das iſt ver- 
kauft“, und bin fortgegangen, daß er nicht weiter fragen foll, Was will der Zunge 


Oilers: Die Briefe des alten Zoflas Köppen 589 


mit Vaters Klavier? Was jollte das hier noch herumſtehn? Er hat doch hier den 
ganzen Hof und das Vieh und ſein Spielzeug, was denkt er an ſo alte Sachen? 


* * 
* 


Am heiligen Ofterfonnabend 1897. 

Ich ſchreibe, Elfe, und ſchreibe Dir, und manchmal denke ich, ich bin wohl 
ſchon ein Narr und ein Halbverrückter, daß ich das tue. Aber dann iſt mir wieder ſo, 
als ob mir Gott ſelber die Feder in die Hand gäbe und ſagte: „Schreibe du nur!“ 
und als ob es ſeine Gnade und Barmherzigkeit wäre, daß ich das täte. Denn ſonſt 
iſt die Erde für mich öde und leer, und ich gehe herum, habe keine Stätte, wo ich 
Ruhe finde, und keinen Ort, das ſchwere Herz zu entlajten, als bei Dir, mein liebes, 
teures Kind im Himmelreich. 

Dein kleiner Zung' ift geſund und ift auch fchon ein Stück gewachſen. Er 
läuft herum, und alle Leute haben ihn gern. Ja, ſolange der noch unmündig iſt, 
muß ich auch noch auf dem Poſten fein. Dann kriegt er die Pachtung von Greefden- 
bock und macht ſo weiter. Viel Vergnügen gibt's ja bei der Landwirtſchaft nicht, 
und die Sorgen muß man ja mit jedem Butterbrot eſſen. Das tut mir oft leid, 
wenn ich den ſorgloſen kleinen Kerl ſo umherſpringen ſehe, aber was ſoll ich dabei 
machen? Ich kann's nicht beffer geben, als ich's habe, und ein ſichres Dach über 
dem Kopf, gute Nahrung und ehrliche Arbeit hat er hier wie nirgends. 

Aber bis ſo weit iſt's noch lang. Er iſt knapp ſechs Jahr alt. Und alles in allem 
muß ich noch an die zwanzig Jahr aushalten. Dann bin ich über die achtzig fort! 
Ach, Dirning, ich denk' oft, das iſt doch zu lange Zeit! Wie ſoll ich die hinkriegen? 
Denke: Jahr für Jahr, Jahr für Fahr. Noch zwanzigmal das heilige Oſterfeſt 
begehen, noch zwanzigmal ſäen und wieder ernten. Es wird einem beinah fchwind- 
lig dabei. 

Aber was gehn muß, das muß. Was ſoll der litte Fung’ machen, wenn der 
Großvater auch weg iſt? Tante Calla ſchreibt ja öfter an ihn und ſchickt ihm kleine 
Geſchenke, aber fie ift auch ſchon über die ſechzig. Was foll ſolche alte kränkliche 
Perſon in der Stadt mit ſolchem lebendigen kleinen Bengel? Nein, nein, der 
gehört ſchon mal hierher, und die Zeit wird auch vergehn, und dann wird ja auch 
mein irdiſch Teil geläutert und gereinigt ſein, daß wir uns alle wiederſehn in Freu- 
den: Mutter, Willi, ich und Ou, mein Oirning. So lang muß das alte Zeug eben 
noch aushalten. | 


* * 
* 


Sonntag, den 23. Mai 1897. 

Heute ift ein großer, ſtiller Tag. Heute ift Dein Geburtstag, mein þeim- 
gegangenes Kind. Ich habe es Deinem Jungen gejagt, und wir find im Feld ge- 
weſen, und er hat einen großen, mächtigen Strauß gepflückt. 

Elſing — heut' vor einem Jahr kamſt Ou nach Haus. Als wenn es fo fein ſollte, 
grade an Deinem Geburtstage. Aber es war an einem Sonnabend, und der Tag 
vor Pfingſten. Wie wir um den See fuhren, da gingen die Glocken in Friedenſee, 
die das Feſt einläuteten. Da habe ich gedacht: Gingen ſie doch für mich! Gingen 
ſie doch für mich! Aber, Elſing, der Tod läßt ſich nicht rufen. 


590 Diers: Die Briefe des alten Zoſias Röppen 


Ich ſchicke Dir tauſend und tauſend Grüße. Ich habe Heinz geſagt: Ich 
ſchreibe heute an Mutting im Himmel, foll ich fie grüßen? Fa, das foll ich tun. 
Wenn er aufgeregt iſt, dann haben ſeine Augen ſolche blaue Tiefe wie der Himmel 
im Sommer. Er kann ſo hell ſingen wie ein kleiner Vogel. Ob Du das auch wohl 
gewußt haſt? Manchmal, wenn ich ihn ſuche, ſteckt er im Stall, wo Siegfried die 
Harmonika ſpielt. Er kann ſchon ſelbſt darauf ſpielen, ganze Melodien, das hört 
ſich niedlich an. 

* * * 
Montag, den 4. Oktober 1897. 

Heute der Hauslehrer für Heinz angekommen. Heißt Herr Windſchläger, 
ſieht ganz freundlich aus. Ich habe ihm geſagt: „Oer Jung' iſt zart, überanſtrengt 
ſoll er nicht werden.“ Er iſt natürlich nur ein Elementarlehrer, kein Studierter, 
das hat der Paſtor mir geraten für den Anfang. Sparen will ich nicht an dem 


Jungen, er ſoll kriegen, was er braucht. 


* * 
* 


Im Dezember 1897, 

Rolling Möhrs muß mal wieder klöhnen. „Der Fung’ hat die Krankheit feiner 
Eltern, der Sung’ hat die Anlage ſeines Vaters. Paß mal auf, Fofias, was du an 
dem erlebſt. Muſikant und ſchwindſüchtig.“ 

„Na“, fage ich. Ich fike da und weiß erft nichts, dann geht's los. Alles durch- 
einander. 

Mit Frau Möhrs ift auch reine nichts. Die ſagt die eine Minute fo, die nächſte 
anders. Das macht, fie iſt von ihrem Rolling ganz verdröhnt, und nun iſt fie ent- 
wurzelt und hat alle Sicherheit verloren. 

Ich bin von Dreejow aus gar nicht gleich nach Haufe gefahren, ſondern erft 
über Pöpplitz und zu Doktor Malte. Habe ſonſt nichts mit Doktoren zu tun, hatte 
Malte zuletzt bei Mutters Tod im Haus. Der iſt auch unterdes grau geworden 
und noch hagerer, als er ſchon war. Sagt': „Ich muß den Jungen ſehen. Möglich 
ja, möglich nein. Wie lange hat der Vater die Krankheit gehabt?“ Ich wußte 
es nicht. 

+ m % 
Am erſten heiligen Weihnachtsfeiertag. 
Abends. 

Meine liebe gute Diern! Nun ift das auch wieder einmal vorüber. Vorher 
ängſtigt man ſich davor, weil es ſo viel Angreifendes für das Herz hat, und dann 
plötzlich iſt's wieder herum. So komme ich Dir immer näher, Schritt für Schritt. 

Dein Zung’ ijt doch ein ſchnurriger Jung’. Er ift anders, als ihr alle wart 
und als ich als Kind geweſen bin. Er hat alle ſeine Spielſachen heute unter dem 
Baum ſtehen laſſen und iſt im Saal geweſen und hat auf dem alten Klavier getippt. 

Weißt Du noch, Du haft ja mal bei Deiner Erzieherin ein Jahr lang oder 
noch länger Stunden darauf gehabt, konnteſt ſchon ganz niedlich ſpielen. Zu mei- 
nem Geburtstag haft Du mal einen ganz feinen Walzer darauf geſpielt. Ich ſagte 
noch zu Mutting: „Na, dann kann das Tanzen ja gleich losgehen mit uns zwei“, 
aber ſie lachte mich aus und wollte nicht mehr. Nachher haben wir das Klavier ganz 


Oiers: Die Briefe des alten Zoſias Röppen 591 


vergeſſen, es war auch immer zu viel zu tun. Nun hat es Herr Windſchläger eines 
Tages in der Kleiderkammer entdeckt, wo es zugedeckt ſtand. Er fragte mich, ob 
er's in den Saal ſtellen laffen könnte. „Das müſſen wir ſtimmen,“ ſagte er. „Das 
iſt ja fein. Da klingt ja die ganze Chriſtfeier beſſer, wenn dazu geſpielt wird.“ — 
„ga, meinetwegen, wenn Sie ſich das übernehmen wollen,“ ſage ich, „denn man 
zu.“ Er wollte das auch. 

Kriegt mein Heinz doch die größten Augen, wie am heiligen Abend das 
Spielen losgeht. So heiße Baden, daß ich denke, er hat Fieber. Na ja, Weih- 
nachten iſt für Kinder ja auch das höchſte auf der Welt. 

Ach, mein Elſing, weißt Du noch: 


Schönſtes Kindlein in dem Stalle 
Sei uns freundlich, bring uns alle 

S Dahin, da mit ſüßem Schalle 
Dich der Engel Heer erhöht! 


Es war eine ſchwere Stunde. Mir find die Tränen nur immer fo runter- 
gelaufen und die Leute haben geguckt. Aber was hilft das all. Was man nicht 
mehr tragen kann, da bricht man eben drunter zuſammen. Unſer Herr Jefus ift 
auch mit ſeinem Kreuz hingefallen. Man ſteht dann ja auch wieder auf. 

Ach, bitterlich hab' ich auch vermißt die liebe, gute Stimme von unſerem 
alten Paftor Friedrichs. Der neue ſpricht fo forſch. Aber es kann ja nichts ewiglich 
dauern. 

Heute hat nun der Heinz den ganzen Tag im Saal geſeſſen und getippt. 
ich ſagte zu Mamſell, fie ſollte ihn laffen, im Saal war ja auch geheizt. Aber zum 
Wundern war's doch. Schöner Schnee draußen, und er hatte einen Schlitten 
gekriegt. 

Na, Kinder ſind Kinder. Die können wir Große oft nicht berechnen. 


* * 


* 
Sonntag, den 17. April 1898. 

Elſing, mein Kind, mir iſt immer ſo, als müßte ich Dich zu Hilfe rufen. Es 
geht ja ganz gut mit Deinem lütten Jungen, er wächſt doll und ißt auch ganz ſchön. 
Ich hab' ihn auch gern, und er faßt mich an die Hand und läuft mit mir, wohin 
ich gehe, und redet, was er will. Darum iſt es nicht. 

Aber er hat's ſo mit dem ollen Klavier. Da habe ich neulich einen ſolchen 
großen Schreck gekriegt. Mir fiel ein: Er wird am Ende auch Muſikant, und das 
hat er von ſeinem Vater. Darum iſt er auch ganz anders wie ich als Junge war 
und wie Willi war. Fd will ja gar nicht über ihn klagen, Elſing, habe auch gar 
keinen Grund, es ift ein lieber, feiner Fung’. Aber wenn er nun auch Muſikant 
wird, dann fängt ja das alte Elend von neuem an. 

Ach, Kind, mir iſt ſo angſt und heiß, ich weiß nicht, was das werden ſoll. Der 
lütte Fung’ ift fo unſchuldig und fo freundlich, ich mag ihn nicht kränken. Wenn 
Du mir doch antworten könnteſt! Aber da iſt keine Stimme, die vom Himmel 
kommt. 


* * 
* 


592 Olers: Die Briefe des alten Foflas Röppen 


Am nächſten Tag. 

Sch habe heimlich das Klavier zugeſchloſſen, den Schlũſſel abgezogen und 
ihn in den Teich bei der Schmiede geworfen. Nun kann ich ſagen, wenn Heinz 
fragt, ich weiß nicht, wo er iſt. Woher ſoll ich wiſſen, wie es da unten ausſieht, 
wo er liegt, und an welche Stelle er gefallen iſt. 


* * 
* 


Zwei Tage jpäter. 
Heinz ſucht und ſucht. Ich habe geſagt, ich wüßte nicht, wo er liegt. Dabei 
bin ich rot geworden, aber der Jung’ hat's nicht gemerkt. Ich habe doch nicht 
gelogen. Wenn ich ihn ſuchen ſollte, wüßte ich wirklich nicht an welcher Seite. 
Laß man, er wird's vergeſſen, iſt ja noch ein kleines Kind. 
Nicht, Elſing, ich habe doch eigentlich nicht gelogen? 


* * 0 
* 


Den Sonntag darauf. 

Das Klavier geht wieder. Das war nicht mit anzuſehen mit dem Jung’. 
Herr Windſchläger fagte, in keiner Stunde paßte er mehr auf. Er lief rum und 
ſuchte und fragte alle Leute. Und ich quälte mich auch. Wenn ich ihn unter meinem 
Fenſter fragen hörte, ſtieg mir alles Blut ins Geſicht, und bei Tiſch konnte ich 
ihn kaum anſehen. Das machte: ich hatte ihm doch eigentlich was vorgelogen. 
gebt bei der ſchönen Witterung haben wir ja auch wieder angefangen, im Saal 
zu eſſen. Da ſtand nun das alte Ding, ſtumm und dumm und glotzte mich an. 
Grade an der Wand, daß ich es immer ſehen mußte. Mir wurde ſchon ganz ſchlecht 
davon, und jeden Tag wurde es ſchlimmer ſtatt beſſer. Da habe ich zu Schmied 
Kehrhahn geſchickt, er ſoll das Schloß man aufbrechen. Nun iſt mir ordentlich 
wohl, nun ich das Getippe wieder bis hierher höre. Und der Fung’ hat feit geftern 
wieder dickere Backen gekriegt, kommt mir vor. 

Der olle Lügenſchlüſſel kann da ja bei den Fröſchen und Unken verfaulen. 


** $ 
* 


31. Juli 98. 

Heute war hier Erntegottesdienſt, und Paſtor Heilemann predigte im Saal. 
Der war geſchmückt mit Grün und Blumen wie alle Jahr und der neuen Ernte- 
krone in der Mitte. Und dann hat Heinz den Choral geſpielt. Mit beiden Händen, 
ganz allein! Und ſo richtig wie ein Großer. Wir haben dazu geſungen. Ich habe 
immer nach dem lütten Kerl hingucken müſſen, Mamſell hat ihm drei Sofakiſſen 
untergelegt, und die Sonne ſchien grade auf ſeinen kleinen blonden Kopf. Mit 
einem Male mußte ich denken: „Das iſt unſer kleiner Küſter“, und dabei kriege 
ich mitten im Geſang das Lachen, weil ich an den alten Wendland in Friedenſee 
denke, wie der immer mit der ſpitzen Naſe in dem Notenbuch ſteckt beim Orgel- 
ſpielen. Und zu gleicher Zeit wird mir ſo weich, daß mir die Tränen runterlaufen. 
And da höre ich's auch ſchon unter den Leuten ſchluchzen. Es ift ihnen allen fo nah- 
gegangen, ſagt Mamſell, der kleine vater- und mutterlofe Fung’, und ſpielt da 
ſo ſchön mit beiden Händen. Ganz genau und deutlich hat man den Choral gehört: 
Sei Lob und Ehr' dem höchſten Gut, dem Vater aller Güter. 


Diers: Die Briefe des alten Fofias Röppen 593 


Nachher kam der Paſtor und drückte mir die Hand und gratulierte mir zu 
unſerem kleinen Küſter. So ſagte er auch. Es iſt doch im Grunde ein netter Mann, 
wenn er auch nicht viel Intereſſe für einen einfachen alten Landmann und ſeine 
Sorgen hat. 

Das war ein ſchöner Sonntag, und ich grüße Dich, mein liebes Kind im 


Himmelreich. 


& ® 
* 


13. September 1898. 

Der Klavierſpieler aus Pöpplitz hier, hat 5.50 Mark berechnet, ift ſehr viel. 
Heinz wollte es, er lachte über mich, daß ich nicht hörte, daß die Töne falſch wären. 
Ich fand, fie ſtimmten ganz ſchön. Der Stimmer jagt, es ift ein gutes Inſtrument, 
aber es hat zuviel kalt geſtanden, da haben die Saiten ſich zuſammengezogen. 
Nun meint Herr Windſchläger, wir wollen es in die blaue Stube ſtellen, wo Heinz 
Schule hat. Er würde gut lernen, wenn er es vor fich ſähe. Heinz jagt auch fo. 

Liebes Elſing, Dein Sung’ ſpielt fo ſchöne Choräle. So recht langſam und 
feierlich, daß einem ordentlich das Herz bewegt wird. Ich meine TIER Du mußt 
fie hören können in Deiner Herrlichkeit. 

Die blaue Stube ift ja ganz gut fürs Klavier. Aber fie ift doch weiter ab 
und ich kann's nicht ſo ſchön hören, ich muß die Tür immer ein Ritzchen aufmachen 
nach dem Flur. Wo der Fung’ doch bloß dieſe ſtille, feierliche Muſik her hat? 

Daß er noch mal ſo ſchöne Choräle ſpielen könnte, haſt Du gewiß auch nie 
gedacht. Ich habe mir ſchon gejagt: Er wird gewiß noch einmal Paftor. Dann 
wäre es mir ja auch recht. Zch bin nicht fo einſeitig wie mein alter Rolling, der 
ſich nichts andres denken konnte, als daß ſein Ferdinand auch Landwirt werden muß. 

Mit dem Küſter, das war ja man ein Spaß. Küſter braucht der kleine feine 
Sung’ nicht werden. Müßte ſich ja viel zu viel über die ungezogenen Zören ärgern. 
Aber Paſtor, das wäre ſchön. Ach, mein Elſing, das hätteſt Du auch noch erleben 
müſſen: Dein lütter Zung’ auf der Kanzel! Wie Dein Herz wohl gehüpft hätte. 

Und der würde auch einen anderen Kirchengeſang einführen als der olle 
bödelige Wendland. 

Ach ſo, ich denke gleich an Friedenſee. Es kann ja auch wo anders ſein. Aber 
Friedenſee iſt ſonſt eine ſchöne Pfarre. Der Herr Paſtor will ihn nächſtens mal 
da auf die Orgel mitnehmen. Da wird der Zung’ Augen machen! 


8 * 
* 


Am dritten Pfingſtfeiertag 1899, den 23. Mai. 
Meine liebe, gute Elſe! 

Heute ijt wieder Dein Geburtstag, und drei Jahre biſt Ou nun ſchon nicht 
mehr auf Erden. Ach, Kind, die Zeit geht dahin, als flögen wir davon. Die Glocken 
läuten die Feſte ein und die Menſchen zu Grabe. Und ein neues Geſchlecht kommt 
auf und geht in unſeren Spuren. 

Heinz wächſt tüchtig, er ſchießt ordentlich in die Höhe. Er iſt ein ganz heller 
Bengel, aber er hat manchmal fo etwas Träumeriſches in den Augen, daß ich 


ſchon Angſt hatte, er lebt nicht lange. Aber Malte jagt, das wäre Unſinn, das 
Der Türmer XI, 11 38 


594 Olers: Die Briefe des alten Zoſias Röppen 


hätte damit gar nichts zu tun, und er könne ebenſo alt werden wie alle wir Röp- 
pens, die wir nie geträumt hätten. 

Er ſieht auch anders aus als unſere Familie. Er iſt feiner in den Knochen 
und hat ſchmalere Schultern, und ſein Kopf iſt lang und blond. Neulich hat es mich 
mal ordentlich getroffen: Er ſieht ja aus, wie Kurt Harring ausſah, als er hier 
bei mir in meiner Stube ſtand, in einer der bitterſten Stunden meines Lebens. 

Ich habe damit zu tun gehabt, aber dann kriegte ich es unter. Zch ſagte 
mir: Wenn Du es nicht unterkriegſt, dann darfſt Du nicht an Elfe an ihrem Ge- 
burtstage ſchreiben. Sie ſind jetzt alle beide in einer beſſeren Welt, und es kommt 
Dir nicht zu, Dir, der Du noch hier unten biſt, Groll und Hader mit hinaufzutragen 
in jene Welt. Aber nun iſt's auch gut. Und er ift ja auch des Zungen Vater, was 
foll der Junge ihm nicht ähnlich fein? Sh habe ſchon gedacht, Elſing, wenn Dein 
Mann in ſeiner Jugend in einem ſoliden, gottesfürchtigen Hauſe erzogen wäre, 
ob er da nicht am Ende auch Choräle geſpielt und Paſtor oder ſo was geworden 
wäre, ftatt der wilden, wirrſinnigen, haltloſen Muſik zu verfallen, die kein Glück 
und keinen Segen bringt? 


* * 
* 


31. Dezember 1899. 

Nun geht das alte Jahrhundert zu Grabe. Ach, wer hätte gedacht, daß ich 
alter Rnaft, ich alter, morſcher Pfahl noch daſtehen würde, wenn das neue herein 
brauſt, während rings um mich her alle meine Lieben geſtorben ſind. Meine Frau, 
meine Kinder, mir iſt es, als ließe ich euch zurück im alten und ging ohne euch ins 
neue. Was hilft's, ob ich will oder nicht will, Gott hat geſprochen. 

Mein kleiner Fung’, der kommt ja nun mit mir. Der wird im neuen Jahr- 
hundert ſein Leben und Treiben finden. Als Kind verläßt er das alte, im neuen 
wird er ein Mann werden. Das neue gehört dem kommenden Geſchlecht, nicht uns. 

Ich bin jetzt ſechsundſechzig Jahre alt. Alt genug, um bald abgewirtſchaftet 
zu haben. Aber Heinz muß erſt im Amte ſein und feſten Boden unter ſich haben. 

Jetzt ſchläft er, der kleine Fung’. Ich war drüben und habe ihm leiſe die Hand 
auf die Bettdecke gelegt, zum Abſchiedsgruß im alten Jahr, im alten Jahrhundert. 
Werde du nur ein tüchtiger Menſch, dann ſoll ſchon alles recht ſein. 

Wenn ich zurückblicke auf mein vergangenes Leben, ſo muß ich erzittern. 
Ich war auserleſen zu viel Glück und viel Kummer. Bald ſteht das Uhrwerk ſtill. 

Meine Elſe, ſieh herab auf Deinen jungen Sohn! Leite ihn mit Deinen 
verklärten Augen, wenn ich armer irdiſcher Menſch zu ſchwach und zu kurzſichtig 
bin. Er hat ſchöͤne Gaben, laß fie ihn gebrauchen zu Gottes Ehre und der Menſchen 
Wohlgefallen. 

— — Es fängt an zu ſchießen. Die Glocken von Friedenſee kommen in ab- 
geriſſenen Tönen durch den Wind. Zch habe das Fenſter aufgemacht. 

Mein Weib, mein Willi, meine Elſe! Lebt wohl, und tauſendmal wohl in 
der alten Zeit. Ihr wart mein Glück und mein Leben. 

Und nun mutig voran, weil Gott es will. Als Dein Stellvertreter, mein 
Elſing, an Deinem Kinde! 


* + 
* 


Diers: Die Briefe bes alten Zoflas Röppen 595 


Februar 1900. 
Herr Windſchläger muß leider zu Oftern abgehen. Er rät mir, ich ſoll Heinz 
nach Pöpplitz aufs Gymnaſium geben. Du lieber Gott, den kleinen, kleinen Kerl! 
Was foll der wohl da draußen in der fremden, kalten Welt, fo weit weg von Groß- 
vater. Wie er wohl weinen müßte jeden Abend! Nein, da wird nichts draus. 
Kriegt er eben einen neuen gis 
xk 
Sonnabend, 21. April 1900. 
Heute der neue Hauslehrer eingetroffen. Heißt Herr Max. Sieht lange 
nicht ſo nett und gemütlich wie Herr Windſchläger aus. Na, ran darf er aber nicht 


an den Jungen, tun darf er dem nichts! Dafür bin ich auch noch da. 


* * 
* 


* 


Im Juni. 

Mir iſt noch ganz heiß. Aber mir iſt alles egal. Mag er ſeine Sachen packen, 
wenn er meint, daß ich ihm zu grob gekommen bin. Zt mir ganz egal. 

Was er alles von dem Jungen verlangt! 20 ja wohl rein mall! Und dann 
ſoll Heinz nicht Klavier ſpielen, weil „ihn das zerſtreut“. Nun möchte ich wiſſen, 
warum der Zunge nicht Klavier ſpielen ſoll! Alle die ſchönen Choräle, als ob 
das gar nichts wert wäre. Ich habe doch innerlich gelacht. Herr Max hat nach 
dem Schlüſſel geſucht und wollte das Klavier abſchließen. Ja, da ſuche du nur bei 
den Unken im Teich. Dir iſt ſchon ein klügerer zuvorkommen, mein Herr von der 
Brille. 

Dann hat er, bloß weil der Zung' ſo recht langſam und ergreifend ſpielte: 

Wer nur den lieben Gott läßt walten, 
ihn auf ſeine kleinen Finger gehauen mit dem Lineal, daß ſie anſchwollen. Der 
Heinz iſt ja ſo ſchrecklich ſtolz, er hätte kein Wort geſagt, aber die Mamſell hat's 
mit angehört und kam zu mir gerannt. 

Sah? na, ich puſte noch davon. Zwei Stühle hab’ ich umgerannt. Mag er 
doch packen, der Lump, mag er doch. Soll mir nur lieb ſein. 

Da möchte ich doch wirklich fragen, warum ſolch ein kleiner Kerl nicht Klavier 


ſpielen ſoll, wenn es ihn freut. 


* * 
* 


21. September 1900. 

Heute ijt der neue Hauslehrer eingetroffen, heißt Herr Beerlein. Komiſcher 
Name. Hoffentlich fällt's dem Heinz nicht auf, wenn die Jungens erſt mal lachen, 
dann iſt's alle. Sieht ſonſt ganz nett und luſtig aus. Heinz hat nun drei Monate 
Ferien gehabt, wird ihm wohl nicht ſchaden. Er iſt ja ſo klug. Er hat immerfort 
geſpielt, nicht nur Choräle, auch anderes. Zum Erntefeſt haben die Knechte das 
Klavier in die Scheune getragen, da hat er bis elf Uhr mit Siegfrieds Harmonika 
zur Begleitung Tänze geſpielt. Ich war auch da, es klang fein. 

* He 
* 


4. Auguſt 1901. 
Heute iſt Heinz zehn Jahre alt geworden. Und der Tag brachte ein großes 
Ereignis. 


596 Piers: Die Briefe des alten Zoflas Röppen 


Er hatte gefagt, er wolle nichts geſchenkt haben, aber er wolle mir an feinem 
Geburtstag einen Wunſch ſagen. 

Es war ein ſchöner, heißer Tag, und ich war früh in der Ernte geweſen. 
Wie ich zur Veſper nach Hauſe komme, ſteht Heinz in meiner Stube und wartet. 
Sc) denke noch: Was hat der Jung’ bloß für eine klare Haut! gar nicht fo grob 
und braun wie die von uns andern. Und dann ſah er heute noch ſo ganz beſonders 
aus, als wenn er einen Glanz um ſich hätte, und ſeine Augen waren ſo blau, ſo 
daß ich noch bei mir dachte: Wie ein verlaufener Prinz! 

„Na, Heinz,“ fage ich zu ihm, „guten Morgen. Haft in dein neues Jahr 
reingeſchlafen? Ich gratulier dir auch, mein Jung'.“ 

„Danke, Großvater. Kann ich jetzt?“ fragt er. Er geht immer gerade drauf 
los, wenn er was will. 

Sch tu' erft, als verſtehe ich nicht, und bödele fo ein bißchen damit hin. Aber 
er läßt nicht locker. „Du weißt's doch, Großvater!“ ſagt er und kriegt vor Un- 
geduld ganz ſchwarzblaue Augen. „Du haſt's mir doch verſprochen.“ 

„Ja, das hab' ich wohl. Dann nur heraus damit.“ 

Es war alfo das: Heinz will Muſikſtunden haben, ganz ordentliche, regel- 
rechte. Iſt ja auch wohl ganz natürlich, ſoll er auch haben, ſogar Frida Möhrs hat 
welche gehabt. „Aber wer ſoll ſie dir geben? Herr Beerlein verſteht's doch nicht.“ 

Der Sung’ lacht mir ins Geſicht. „Der Organiſt in Pöpplitz. Herr Beerlein 
ſagt, das iſt ein Künſtler.“ 

„Aber Sung’, der fährt doch nicht bis hier heraus.“ 

„Nein, Großvater. Dazu muß ich nach Pöpplitz auf die Schule.“ 

Das ſagt er ſo ſchlank heraus, als müßte es nur ſo ſein. 

Ich bin ordentlich erſchrocken geweſen. „Aber Fung’, du willſt von Grof- 
vater fort? Ganz allein in die fremde Stadt?“ 

Za, er wollte. 

Ich habe noch nichts dazu gejagt. Es ift mir doch ſchnurrig. Nun kriegt der 
lütte Kerl auch ſchon Flügel. Den ganzen Tag bin ich herumgegangen wie dumm. 
Ach, Elſing, ob's wohl richtig iſt? 

Li * 
Sonnabend, den 5. Oktober 01. 
Heute iſt Heinz nach Pöpplitz fort. 
® 


| 8. Oktober. 
Heinz ijt in die Serta aufgenommen. 
* 
* 
21. Dezember, morgens, 
Der Wagen iſt vom Hof, heute kommt Heinz zu den Ferien. 


8. Februar 1902. 
Ach, der Winter nimmt diesmal wohl gar kein Ende, und die Zeit wird einem 
ſo lang. Es iſt alles ſo ſtumm und leer im Haus. Kein Schritt, der ſpringt, und 
kein Rlavierton von drüben her. Was kann einem das bißchen Aufſtehen und Zu- 


Piers: Die Briefe des alten Zoflas Röppen 597 


bettgehen oft fauer und langweilig fein. Ich will man morgen nachmittag nach 
Pöpplitz fahren und nach dem Jung’ ſehen. Die Frau Räim meint ja, er fühle 
ſich wohl bei ihr. Sie hat ihn auch lieb. Aber mit der Schule geht's man ſchlecht. 
Na, er iſt ja auch noch jung und ſo klug! Was braucht der ſich anzuſtrengen. Der 
weiß mal mehr als alle Gelehrten, wenn er erſt auf der Kanzel ſteht. 


* * 
* 


6. September 1903. 

Heute bin ich fiebzig Sabre alt geworden. Im Haufe weiß es keiner und 
braucht's auch nicht zu wiſſen. Ich weiß doch, daß jemand an mich denkt und mir 
feine Grüße fendet, und ich fühle mich Dir, mein Elſing, wieder ganz nah. Ich 
habe auch Deine geſtickte Weſte an, die Du mir in der ſchönen Zeit geſchenkt haſt, 
aber ich habe den Rock zugeknöpft, daß niemand es ſieht. Heinz hat mir auch ge- 
ſchrieben, einen lütten, fahrigen Brief, wie ſo Jungens ſchreiben. Das iſt ſchon gut. 

Die Muſikſtunden koſten viel Geld, und ich habe ihm geſagt, nun könnte es 
doch genug ſein. Mehr kann ja keiner. Die Orgel kann er ſchon ſpielen mit ſeinen 
kleinen Händen. Aber er ſagt, nein, es wäre noch nicht genug. Na, dann meinet- 
wegen noch ein Weilchen. Aber nach der Schule fragt er nichts. Die Frau Ratin 
ſagt, er wird wohl ſitzen bleiben. Das wäre ſchlimm. Zch habe es ihm geſagt. 
Ach, Elſing, wenn er einen ſo anguckt mit ſeinen himmelblauen Augen, Du könnteſt 
auf den Jungen nicht lange böſe ſein. Laß ihn man, er wird ſchon zurechtkommen. 

Es iſt heute eine drückende Hitze geweſen, und jetzt ſcheint der Vollmond 
gerade in meine Stube. Ach, mein Kind, wie gehen wir alle im Kreiſe herum, 
denken, wir bringen was vor uns, und am Ende iſt es nichts. Wie habe ich gedacht, 
als Du und Willi noch Kinder wart, was ich alles könnte, und wie ich Euch leiten 
könnte nach meinem Willen. Ja, Gott im Himmel, was iſt draus geworden! 

Und jetztiſtehe ich da, und der kleine Jung’, den ich fo ins Herz geſchloſſen 
habe, der geht auch, wie er will. Er iſt zwölf und ich bin ſiebzig. Er geht bergauf 
und ich gehe bergab. Ich wundere mich nur, daß ich früher immer dachte, wir tönn- 
ten die Menſchen lenken wie Kutſchpferde, und jeden Weg, den man wollte, mit 
ihnen fahren. 

Sa, Dirning, es gibt Leute, die find nicht beffer als Kutſchpferde. Ausgewach⸗ 
fene Männer, denke an Ferdinand Möhrs. Ach, und da gibt's Menſchen, die ler- 
nen ihr Lebtag nicht ohne Sielzeug gehen. Na, die laß man, die können ſich ja ein- 
ſpannen laſſen. Aber die beſten ſind's nicht. 

Als ich Deinen Jung' neulich fo recht gründlich ausgebüttelt habe wegen des 
ſchlechten Lernens und er mich anguckte, halb mit ſchlechtem Gewiſſen und halb 
trotzig, da iſt's in mich reingefahren wie ein Blitz. Ich weiß nicht was. So das 
Gefühl, ich müßte ihn wohl beſſer zufrieden laſſen. Er wird ja doch nicht der alte 
Joſias Köppen, und wenn der noch fo vortrefflich wäre. 

Weißt Du, mein Elſing, was haben mir bei Dir alle meine Briefe und Reden, 
mein Schelten und Bitten und alles geholfen? Keinen Muck. Du bliebſt, wie 
Du warſt, und tatſt, was Du wollteſt. Haſt Deinen Kurt nicht verlaſſen, weder im 
Leben noch nach dem Tode. Jetzt geht's mir auf, wie das wohl alles hat kommen 
müffen. Aber nun bin ich ſiebzig Jahr, mit dem einen Fuß ſchon in der Grube, 


598 Piers: Die Briefe des alten Zoflas Röppen 


und verdiene kaum mein bißchen Eſſen mehr — und Du biſt tot und hörſt nicht 
mehr, was ich Dir zu ſagen habe. 

Was ſind wir doch für Toren, die ſich ihr Schulgeld wieder rausgeben laſſen 
ſollten! Nun ſitze ich da mit wackligem Kopf und kriege mit ſiebzig Jahren noch 
eine Lektion. Aber jetzt hat niemand mehr einen Profit davon. Ach, Dirning, 
mein Dirning, das ſchmeckt bitter. 

de 


* 
* 


Im November 1904. 

Meine liebe Elfe! In dieſem letzten Jahr habe ich etwas Neues dazugelernt, 
und ich komme zu Dit, es Dir zu ſagen. Ich habe das Wort, das ich Dir ſagen will, 
Iden manchmal gedacht, fo vor mir hergetragen wie eine Fahne, aber ich habe es 
nie zu einem Menſchen geſagt. Zetzt ſchreibe ich es für Dich auf: 

Sh habe Refpekt vor Deinem Sohne Heinz. 

Das iſt nichts zum Lachen, das iſt ſo ernſthaft und wahr wie die Bibel. 

Meine liebe Tochter, es iſt das Schönſte auf der Welt, das man ſich leiſten 
kann: ſo recht tiefen, ſtarken Reſpekt zu haben vor einem andern. Das macht das 
Herz ſo weit und froh, ordentlich als ob man flöge. All mein Lebtag habe ich das 
zu wenig gehabt, Reſpekt vor einem Menſchen. 

Heinz iſt erſt dreizehn Jahr, aber das macht es doch gar nicht. Ich ſage ja 
nicht, daß er fehlerlos iſt und keine Dummheiten machte. Elſing, ich habe ihm noch 
in den Herbſtferien eine rieſige Maulſchelle gegeben, weil er das geladene Gewehr 
im Flur hat ſtehen laſſen. Was hätte da draus paſſieren können! Nein, parieren 
und fo, das muß er, und ich geniere mich auch nicht vor ihm, wie manchmal früher, 
als er noch ſo ganz, ganz lütt war, wo ich mir kaum traute, ihn anzufaſſen oder 
mit ihm zu reden. 

Elſing, das verſtehſt Du doch, das iſt alles anders gemeint. Das hat mit 
Gewehr und Maulſchellen und ſolchem Kram gar nichts zu tun. Das ift drüber 
weg, ſo hoch, wie die Wolken über die Erde gehn. 

Sch meine fo: der Heinz Harring ift eben der Heinz Harring. Er ift, was er 
ijt. Und aus dem, was er ift, kommt hervor, was er tut und was er will. Da kann 
man nicht fo einfach mit Rnütteln dazwiſchenſchlagen. 

Man denkt ja erſt, man kann's. Keiner wird klug geboren. Aber wir können 
Gott danken, wenn wir noch mit weißen Haaren mal im Leben klug werden. 

Ich fehe jetzt den Zungen fo froh an. Er fehlt mir auch nicht, wenn er weg 
iſt, weil ich dann an ihn und ſeine Wege denke. 

Das heißt, ich weiß ja noch gar nicht, was ſeine Wege ſind. Das ſind die 
dammligen Väter, die nicht über ihre Scheunen weggucken können. Fd) dachte 
mir ja dann, er ſollte Paſtor werden, aber ich glaube, es wird nichts draus. Ich 
frage ihn noch nicht, er iſt noch viel zu jung und zu dumm. Es wird ſchon kommen. 

Aber, liebes Elſing, wenn man weiß, daß jeder Menſch geht, wie er muß, 
und wie es der liebe Gott ihm mitgegeben hat, dann kriegt man eben den ſchönen, 
tiefen Reſpekt. Denn dann ſagt man ſich: Das iſt Gottes Kreatur, nicht deine. 
Da haſt du gar nichts dran zu zwiebeln. Laß du nur die Hände davon und ſchaue 
ſtill zu bei Gottes Werk. 


Diers: Die Briefe des alten Zoflas Röppen 599 


Man ſollte nicht denken, wie das leicht macht, Elſing. Man iſt dann plötzlich 
alle Erdenlaſt los, wenn man feinen eigenen plumpen Körper nicht überall mit 
hineinmiſchen muß. 


* * 
* 


1. März 1905. 

Nun iſt der Winter auch wieder vorbei. Mein Kind, mir iſt, als wäre mein 
alter Leib gewachſen, als könnte ich gerader und ſtraffer gehn. Und doch iſt mir 
in dieſem Winter zur heiligen Weihnacht etwas geſchehen, was ich früher nicht 
hätte ertragen können. Euer Sohn, Elſe und Kurt Harring, wird, was fein Vater war. 

ach will mich nicht verſtellen, auch nicht vor Euch verklärten Toten, als wäre 
ich ein Held und ein Heiliger. Ich bin ein armer irdiſcher Menſch mit langſamem 
Schritt, der ſein Lebtag in ſchwerem Ackerboden gegangen iſt. 

3m hab's nicht gewollt. Ich hab' alles vergeſſen, was ich gelernt hatte, 
und habe um mich geſchlagen wie ein Wütender und mit Geſpenſtern um den 
Zungen gekämpft. Ich fagte und brüllte: „Alles, aber das nicht!“ Ich habe ins 
Feld geführt, daß das mir ſchon einmal mein Leben zerſtört hätte. Und der Zunge 
ſtand da und ſagte nicht: „Ou alter Narr, was geht mich das an, was hat das mit 
meinem Leben zu tun?“ 

Nein, er ſagte es nicht. Aber Gott erleuchtete ſeinen tölpeligen Knecht doch 
noch zur rechten Zeit, daß er ſich an ſeinen Kopf ſchlug und es ſich ſelber ſagte. 

Kurt und Elſe Harring, ich kann heute zu Euch beiden emporblicken und 
zittre und gage nicht. Ich habe obgeſiegt über das alte widerſpenſtige Fleiſch. Ich 
kann Euch dermaleinſt Euren Sohn in Ehren zuführen. 

Nun iſt es ſo ſtill und groß in mir. Kinder, ich ſehe jetzt auf Euer Leben und 
Treiben, das ich fo verachtete, als Ihr noch auf Erden wart. Ich ſtelle es mir jetzt 
oft vor. Ihr habt in engen, armen Verhältniſſen gelebt, und ich trotziger alter Narr 
habe Euch keine Laft abgenommen, keine Stunde verſchönt. Das ift meine 
Sache jetzt. 

Aber Eure Sache war die Liebe, die Euch aneinander hielt. Hätte ich meine 
Liſa verlaſſen? Elſing, und von Oir forderte ich es, als ob Du ein Spiel Karten 
aus der Hand werfen ſollteſt. O, über meine blinden Augen! 

Gott hat auch die Muſik erſchaffen. Habe ich nicht beten müſſen mit gefalte- 
ten Händen, wenn Heinz am Klavier ſaß und ſpielte? 

Ich habe mir viel eingebildet, daß ich mehr war als Kolling Möhrs. Elſing, 
das war auch eine von den ſüßen Einbildungen, die wir uns aus der Zuckerdoſe 
ſtehlen wie naſchige Foren. Er war ein bißchen mehr Klotz, das ift am Ende alles. 

Sa, der Winter ijt vorbei. Wenn jetzt der Sommer kommt, geht die Arbeit 
wieder los. Aber ich bin auch der Alte wie früher nicht mehr. Meine Knie ſind 
oft ſo ſchwach, daß ich mich mitten drin hinſetzen muß. Sonſt iſt mir aber ſehr wohl. 

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Freitag, den 7. Juli 1905. 

Eben iſt der Wagen vom Hof, und nun keine drei Stunden mehr, und Heinz 
iſt wieder auf fünf ganze Wochen hier. 

Ich freue mich diesmal fo febr, wie wohl noch nie. Am 4. Auguft wird der 


600 Oiers: Die Briefe bes alten Zoflas Röppen 


Sung’ vierzehn Jahre. Solch ein großer Menſch! Er geht ins Leben, ich hinaus. 
Wer weiß auch, wie lange ich es noch mache. 

Da habe ich mir geſagt: Jetzt behandelſt du ihn nicht mehr als Kind. Kannſt 
du wiſſen, ob Gott dir noch lange Zeit läßt, mit ihm zu reden von allem, das dich 
bewegt und dir das Leben wert gemacht hat? Wenn er jetzt kommt und bei dir 
in deiner alten Stube ſitzt, wo ſo viel Jahrzehnte in Luſt und Leid hindurchgegangen 
ſind, dann ſag du ihm: Heinz, ſo iſt's geweſen und ſo iſt's jetzt. Und das Leben, 
Sung’, das ijt von Gott geheiligt. 

Wie er gucken wird, der Jung', mit ſeinen lebendigen blauen Augen! Wir 
werden uns ſchon was zu erzählen wiſſen, der Heinz und ich. Wir iſt's fo ungedul- 
dig auf ſein Kommen, ich kann's gar nicht erwarten. Es iſt halb zwölf. Vor zwei 
iſt er nicht hier. 

So ein ſeltſam geſpanntes Gefühl habe ich in mir, beinahe wie ein Schwin- 
del. Aber es iſt nur die Freude. Mir iſt, als finge mein eigentliches Leben jetzt 
erſt an. Nun werde ich haben, was ich nie gehabt habe: ein Kind und einen Freund 
in einer Perſon. 

(Zwei Stunden ſpäter.) Ich war draußen bis am alten Steinbruch, wo die 
Lupinen ſtehn. Es iſt doch mächtig heiß heute, und der ſtarke Geruch hat mich ganz 
taumelig gemacht. Ich hatte Mühe, nach Haus zu kommen. Hier iſt's kühler, 
hier will ich warten. In einer knappen halben Stunde ift er da. Dann wollen wir — 

* * 


Hier waren die Briefe zu Ende. 
* * 

Der Knabe erwachte wie aus einem tiefen, langen Traum. Er fuhr empor 
und ſah ſich um. 

Die kurze Sommernacht war vorüber, ſchon drang die erſte Morgenhelle 
durch das Fenſter. Im Gebüſch vor der Haustür zwitſcherten die Vögel. Heinz 
löſchte die Lampe und ſtellte ſich an das Fenſter. Am Himmel flogen zerriſſene 
eilige Wolkenfetzen vor dem lichten Hintergrund. Friſch wehte die Luft des jungen 
Tages, der heraufgezogen kam. 

Dann ging der Knabe in das Nebengemach. 

Still unter den ſtillen Lichtern lag der alte Zojias Köppen. Sein Enkel 
löſchte die Lichter und ſtieß weit das Fenſter auf, daß die Schauer der Frühe über 
das letzte Lager gingen. Dann ſetzte er ſich zu ihm und faßte ſeine Hand. 

Keine Spur von dem Grauen, das Karl Möhrs ihm prophezeit hatte, war 
in ihm. Er ſaß auch nicht mehr da wie am Abend zuvor, ein faſſungsloſes, tind- 
junges, flatteriges Herz. In ihm hatte ſich die Seele geweitet und gedehnt und 
ihre Flügel ausgeſpannt. — 

Er ließ ſeine Hand auf der ſtillen, kalten ruhn. Heilige Andacht füllte den 
ganzen Raum um ihn her. „Großvater, du haſt zu mir geſprochen. Von jetzt ab 


rede ich zu dir.“ 


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Zentrum und Ronfervative 
Eine Betrachtung 


Lothar Engelbert Schücking 


enn man die Geſchichte des preußiſchen Parlamentarismus ver- 
v R SW, folgt, kann man leicht konſtatieren, daß die Macht des Zentrums 
CN AG im engften Zuſammenhang damit ſteht, wie Preußen regiert 
wird und ob in dem Kampf zwiſchen Konſervativen und Libera- 
len dieſe oder jene erfolgreicher ſind. Ein Kampf der Konſervativen gegen das 
Zentrum ift ausſichtslos. Das haben die letzten Reichstagswahlen von 1907 deut- 
lich gezeigt. Es iſt ſehr intereſſant, zu unterſuchen, weshalb ein ſolcher Kampf 
immer ausſichtslos ſein muß, und weshalb die Konſervativen immer gut tun, ſich 
an das Zentrum zu halten und mit ihm einen großen Parteiblock zu bilden. Man 
kann in den katholiſchen Provinzen Preußens am eingehendſten die Gründe ftudie- 
ren. Dort herrſcht die Kirche. Nicht ſo, wie der Proteſtant anzunehmen pflegt, 
daß zu jedem wichtigen Stadtverordnetenbeſchluß das Plazet der Kirchenbehörde 
offiziös eingeholt werden müßte. Im Gegenteil, die Herrſchaft der Geiſtlichkeit 
iſt den Katholiken oft am läſtigſten und ſie wehren ſich nicht ſelten in Einzelheiten 
mit ſtaunenswerter Unabhängigkeit. Aber die Kultur ift katholiſch und klerikal. 
Die Pfarrgemeinden bauen auf dem Lande die Krankenhäuſer, die geiſtlichen 
Orden haben die Krankenpflege geradezu gepachtet. Die Feſte ſind zum großen 
Teil kirchliche Feſte. Theater ſpielen die von Kaplänen geleiteten Geſellenvereine. 
Die beiten Muſikchöre find die Domchöre. Die wiſſenſchaftlichen öffentlichen Vor- 
träge halten Patres oder durchaus von der Kirche beeinflußte Gelehrte. Unter 
Kontrolle von Geiſtlichen ſtehen vielfach Arbeitsnachweiſe und Volksunterhaltungen. 
Geiſtliche leiten das Volksbibliotheksweſen. Geiſtliche treten für das Arbeiterwohl 
ein durch Gründung von Vereinen, chriſtlichen Gewerkſchaften. Windthorſtbünde 
organiſieren die akademiſch gebildete Zugend. Volksvereine und Ratholitenverfamm- 
lungen kommen den demokratiſchen Bedürfniſſen' auf öffentliche Verſammlungen 
und Vereinsleben entgegen, gar nicht zu reden von den vielen Sodalitäten und 
Sungfrauenvereinen. Geiſtliche Orden, wie die Arſulinenſchweſtern, beſchäftigen fidh 
mit dem Mädchenſchulweſen. Kurz, in der katholiſchen Familie ift zuweilen faſt jedes 
erwachſene Mitglied auf irgendeine Weiſe klerikal organiſiert. Und der Staat, die 
fonfervative preußiſche Regierung? Sie hat ihre konſervative Rriegervereinsorgani- 


602 Schücking: Zentrum und Ronfervative 


ſation, die aber in katholiſchen Gegenden niemals antitlerifal funktionieren kann, 
da ſie dort nur aus ſonſt ſorgſam klerikal geleiteten Katholiken beſteht. 

Die preußiſchen Hofhiſtoriographen pflegen immer wieder zu behaupten, 
die preußiſche Verwaltung habe Glänzendes geleiſtet in der Angliederung der neu 
erworbenen Provinzen Preußens. Das gerade Gegenteil ijt der Fall. Die ton- 
ſervative Verwaltungspolitik mußte ihrer ganzen Natur nach ſtets eine Politik 
der verfehlten Gelegenheiten ſein. Sie hat wenig geleiſtet. Sie hat niemals 
ein Programm gehabt, das den Katholiken irgendwie imponieren konnte. Und 
ihr einziger liberaler Vorſtoß im Kulturkampf war fo ungeſchickt und ungerecht, 
daß er mit dem großen Fiasko enden mußte. Der Katholik, deſſen Leben, deſſen 
Kultur mit den halboffiziöſen Einrichtungen der Kirche eng verwachſen iſt, fragt 
der konſervativen Regierung gegenüber immer wieder: Welche Wohltaten erweiſt 
der konſervative preußiſche ZJunkerſtaat dem Volke? Welche Fürſorge erweiſt er 
den breiten Maſſen? And er geht in ſeiner Erinnerung zurück und konſtatiert, 
daß alles Gute von der Gemeinde, den andern Selbſtverwaltungskörpern und 
der Kirche kommt. Als vor einigen Jahren einer weſtfäliſchen Gemeinde 20 000 
Mark zur Urbarmachung eines Moores zugewieſen werden ſollten, lehnte die Ge- 
meinde dies Geſchenk ſchleunigſt ab. Die älteſten Leute konnten ſich nicht erinnern, 
daß der preußiſche Staat jemals etwas hatte ſchenken wollen. Das Angebot des 
Oberpräſidenten erſchien deshalb allen fo unheimlich, daß man es nicht akzeptieren 
wollte. Eine ſolche Tatſache redet Bände. Der Konſervatismus hat überhaupt 
kein Programm, das dem Inhaber eines klerikalen Kulturprogramms imponieren 
könnte. Hat jemals ein Regierungspräfident Arbeitervereine und Frauenbünde 
begründet, Vortragskurſe und Gemäldegalerien eingerichtet? Hat der Konſerva- 
tismus jemals etwas getan, um demokratiſchen Neigungen gerecht zu werden, 
ſtaatsbürgerlichen Bedürfniſſen, konſtitutionellen Anforderungen? 

Es ſoll nun allerdings durchaus nicht behauptet werden, daß die klerikale 
Kultur wirkliche Werte habe, abgeſehen von ſozialen Zeitungen, Es ift zweifel- 
haft, ob es beffer ift, keine VBolksverſammlungen abzuhalten oder ſolche, in denen 
man vorträgt, daß der Papſt ein Gefangener fei. Die katholiſchen Raplansbiblio- 
theken find abſolut keine wünſchenswerten Volksbibliotheken. Der katholiſche Frauen- 
bund wird unmöglich die Frauenemanzipation in die richtigen Wege leiten. Was 
katholiſche Geiſtliche als Wiſſenſchaft vortragen, iſt nie „vorausſetzungslos“. Aber 
alles in allem handelt es ſich im Katholizismus um ein geſchloſſenes Syſtem mit 
viel Idealismus, im Konſervatismus um nackte Machtfragen. Was Zdealität des 
Lebens und der Weltanſchauung angeht, ſtehen die Tendenzen des Zentrums zweifel- 
los ſehr viel höher als die des gegenwärtigen Konſervatismus, der beſtenfalls mit 
dem Abhub liberaler Ideen wirtſchaftet. 

Beide, Zentrum und Konſervatismus, ſtehen dem Liberalismus feindlich 
gegenüber. Er will Kultur, ein Programm, dem die Konſervativen allerdings 
wenig entgegenzuſetzen haben, das Zentrum aber ſeine niedere klerikale Kultur. 
Es verſteht ſich von ſelbſt, daß das Zentrum vom Liberalismus und Sozialismus 
alles, vom Konſervatismus nichts zu fürchten hat, es iſt ſelbſtverſtändlich, daß 
Zentrum und Konſervatismus Bundesgenoſſen werden. 


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Die Bluthunde der Ronquiftadoren 


Ein Beitrag zur Entdeckungs⸗ und Eroberungsgeſchichte Amerikas 
Von 


A. Theinert 


Nach alten ſpaniſchen Chroniken 


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(es A og genaue Jahr, in dem die Spanier die erſten Bluthunde mit fid 

yy nad Amerika genommen haben, geben die alten Geſchichtſchreiber 
f 4 6 nicht an, es läßt ſich aber aus beiläufigen Bemerkungen der Schluß 
S ziehen, daß Bluthunde, wenn nicht die erſte, fo doch gewiß die 
zweite Expedition des Kolumbus begleitet haben. In den Berichten iſt zu leſen, 
daß Eingeborene mit dem „apereado“ beſtraft, d. h. den Hunden vorgeworfen 
worden ſind. 

Mut und Tapferkeit läßt ſich den Konquiſtadoren nicht abſprechen; mit toll- 
kühnem Selbſtvertrauen griffen kleine Abteilungen hundert- und tauſendfach mehr 
Köpfe zählende Maſſen an, nur muß man ſich dabei immer vergegenwärtigen, 
durch welche enorme phyſiſche und geiſtige Überlegenheit die Spanier das nume⸗ 
riſche Mißverhältnis ausgleichen konnten. Die Eingeborenen Haitis hatten nicht 
einmal ihre Armmuskeln gehörig entwickelt, ihnen mangelte es an der einfachen 
natürlichen Kraft. Von einer den Körper ſtählenden Arbeit wußten ſie nichts; 
ſie „kitzelten“ die Erde mit einem zugeſpitzten Stecken, und die Erde „lachte“ Jams, 
Mais und tropiſche Früchte im Überfluß. Große Raubtiere, die den Menſchen hätten 
gefährlich werden können, gab's auf der Inſel nicht. Die einzige auf Nahrungs- 
erwerb abzielende Tätigkeit, die den Haitiern Mühe verurſachte, ſie zur Findigkeit 
anſpornte und einigermaßen mit der ernſten Seite des Lebens bekannt machte, 
war der Fiſchfang auf dem Meere. Allerdings brachen durch gelegentliche Lan- 
dungen der Karaiben die Schrecken des Krieges über die Inſel herein; die Wild- 
heit und Grauſamkeit jener braunhäutigen weſtindiſchen Piraten ſind aber ſehr 
wahrſcheinlich von den Spaniern ſtark übertrieben geſchildert worden, in der Ab- 
ſicht, daraus die eigenen, an Karaiben und anderen Stämmen verübten Scheuß- 
lichkeiten zu entſchuldigen. 

Den körperlich zarten, buchſtäblich ganz nackten, nur mit hölzernen Schwer- 
tern und Keulen bewaffneten Indianern der Antillen (Bogen und Pfeile waren 


604 Shelnert: Die Bluthunde ber Konquiſtadoren 


nur auf wenigen der Inſeln im Gebrauch) traten urplötzlich ſtarke, durch dicke 
Lederkoller, Eiſenharniſche und Helme geſchützte Männer gegenüber, die Hieb- 
und Stoßwaffen von gutem Stahl führten, Musketen und Kanonen hatten und 
außerdem noch über Tiere verfügten, die den Eingeborenen als veritable Ungetüme 
erſcheinen mußten: Pferde und große Hunde, dieſe eigens darauf abgerichtet, 
den Menſchen, auf die ſie gehetzt wurden, Hals oder Unterleib zu zerfleiſchen. 

; * * 


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Zunächſt will ich aus dem Inhalt der Chroniken ein paar Epiſoden heraus- 
greifen, die als charakteriſtiſch gelten können für die oft willkürlich grauſame oder 
übermütige Verwendung von Bluthunden, und dann eine Hiftorie aus den Tagen 
des Ferdinand Cortez niederſchreiben. 
* 


A 

Als die ſpaniſche Herrſchaft auf der in Hiſpaniola umgetauften Inſel Haiti 
bereits feſt etabliert war, ſandte Bartholomäus Kolumbus eines Tages zwei fei- 
ner Soldaten nach einem entlegenen Oiſtrikte, die Verladung des von den dorti- 
gen Eingeborenen als Tribut abzuliefernden Kaſſavabrotes zu überwachen. 

Die beiden Spanier ließen ſich im Schatten des Waldrandes nieder, und 
die Indianer ſchleppten im Sonnenbrande, unter Leitung ihres Kaziken, die ge- 
füllten Baſtkörbe nach den Booten, die den Verkehr zwiſchen dem Strande und dem 
einen Büchſenſchuß von dieſem entfernt im Meere draußen verankerten Fracht- 
ſchiffe vermittelten. 

Der Kazike, ein phantaſtiſch mit Federnſchmuck herausgeputzter Mann, 
rannte geſchäftig hin und her, ſein Völkchen aufmunternd und antreibend. Er 
gab ſich, Anerkennung und Lob erwartend, große Mühe, den beſten Willen zu 
bekunden. 

Der eine Spanier hatte feinen Bluthund bei ſich und hielt das jeder Be- 
wegung der auffallenden Erſcheinung des Kaziken folgende Tier feſt an der Leine; 
den andern Spanier aber fing, nachdem er die Situation eine Weile ruhig über- 
ſchaut hatte, der Übermut zu plagen an. 

„Meinſt du nicht auch, Kamerad,“ fragte er, auf den Hund deutend, „daß 
es einen köſtlichen Spaß abgeben würde, ihn auf den bunten, wichtigtuenden 
Kerl dort loszulaſſen? — Soll ich ihn hetzen?“ 

„Heilige Jungfrau! — Mach keine Dummheiten! Siehft du nicht, daß ich 
ihn kaum noch bändigen kann?“ 

„Um ſo beſſer; ich möchte fürs Leben gern ſehen, was der herumſtolzierende 
Pfau für ein Geſicht ſchneidet, wenn er den Hund kommen ſieht. — Pack ihn, 
Almanzor, pack!“ 

Der Hund, der ſchon während des Zwiegeſpräches der Männer wie raſend 
ſich gebärdet hatte, ſchoß auf das gegebene Wort mit aller Kraft vorwärts, ſeinen 
Herrn mitreißend. 

Ob nun dieſer von der grauſamen Sportluſt des Kameraden angeſteckt wurde, 
oder ob er wirklich die Beſtie nicht mehr halten konnte, item er ließ die Leine fahren, 
und in der nächſten Minute wühlte Almanzors blutige Schnauze in den Eingewei— 
den des unglücklichen Kaziken. 


Theinert: Die Bluthunde der Ronquiftaboren | 605 


Die entſetzten Indianer nahmen Reißaus; mit dem Brotladen war's vorbei. 
Eine Abteilung der Schiffsbeſatzung, die ans Land kam und nach dem eine halbe 
Stunde entfernten Dorfe marſchierte, fand alle Hütten verlaſſen. Die Bevölke- 
rung war in die Bergwildniſſe geflohen. 

Die Folge dieſer Affäre war ein Aufſtand. Der in ſeinem Häuptling ſo ſchwer 
beleidigte Stamm griff, von den Nachbarſtämmen unterſtützt, zu den Vaffen. 
Zwölf Spanier gerieten in einen Hinterhalt und wurden getötet; der erſte größere, 
und zwar diesmal mit Energie und Ausdauer von den Haitiern geführte Unab- 
hängigkeitskampf nahm damit feinen Anfang. Erft nachdem Tauſende der Auf- 
ſtändiſchen erſchlagen und erſchoſſen, zu Tode gehetzt und verbrannt worden waren, 


beugten die Überlebenden ſich wieder unter das ſchwere Joch der Eroberer. 
* 


* 
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In San Juan, dem heutigen Portoriko, war ein Bluthund unter dem Namen 
Bercerrillo (Kälblein) weit und breit berühmt und berüchtigt. Dieſer Hund hatte 
durch ſeine in den Kämpfen mit den Inſulanern bewieſene unbändige Wut große 
Verdienſte um die ſpaniſche Sache ſich erworben, ſo daß ihm offiziell, zugunſten 
ſeines Herrn, der Rang eines Kavallerieſergeanten mit entſprechendem Sold und 
Anteil an der gemachten Beute zuerkannt wurde. 

Verglichen mit den Haitiern waren die San-ZJuan-Indianer weniger ver- 
ächtliche Krieger, aber auch fie erſchraken, wenn fie nur den Namen jenes Hundes 
ausſprechen hörten. Der Chroniſt ſchreibt, zehn Männer mit Bercerrillo ſeien im 
Gefecht ſo viel wert geweſen wie fünfzig ohne ihn. Der Hund erreichte ein hohes 
Alter, fand feinen Tod auf dem Schlachtfelde und wurde mit militäriſchem Schau- 
gepränge begraben. 

Eine kleine Anekdote, die ich verzeichnet gefunden, beweiſt, daß Bercerrillo 
bei aller Wildheit gelegentlich auch einer milderen Regung folgte. 

Don Juan Ponce de Lern, Gouverneur von Portoriko, wollte einmal Brief- 
ſchaften an einen mehrere Meilen von der Hauptſtadt entfernt wohnenden Ritter 
gelangen laſſen und beauftragte eine alte Indianerin mit dem Botendienſt. Die 
Frau mußte die Kathedrale von San Juan paſſieren, vor deren Portal die jungen 
Hidalgos, den Beginn der Meſſe erwartend, herumlungerten und ſchmerzlich den 
Mangel ſchöner „Ninas“ empfanden, auf deren empfängliche Herzen fie fo gern 
Eindruck gemacht haben würden mit ihren wallenden Barettfedern, prächtigen Wehr- 
gehängen und zierlich gezwirbelten Bärten. Der glückliche Beſitzer oder richtiger 
Kriegskamerad Bercerrillos war mit dieſem ebenfalls zur Stelle, und einer der 
übermütigen Gecken machte den Vorſchlag, der alten Indianerin durch den Hund 
den Weg verlegen zu laſſen. Sollte der auch die Sache ernſt nehmen und zupacken. 
ſo wär's ja weiter nicht ſchade um die braune Hexe. 

Ser Vorſchlag fand allgemeinen Beifall, und das arme Weib ſah ſich dem 
gefürchteten, zähnefletſchenden Tiere gegenüber. In ihrer Angſt und Hilflofig- 
keit kniete fie nieder und redete Bercerrillo, ihm die Papiere vorhaltend, mit zit- 
ternder Stimme an: „Mein Herr Hund, ich, deine Dienerin, ſoll dieſe Briefe der 
chriſtlichen Exzellenz auf der anderen Seite des Fluſſes bringen. Laß mich gehen 
und tu mir nichts zuleide, Hund, mein Herr!“ 


606 Theinert: Die Bluthunde der Nonquiſtaboren 


(Der Chroniſt weiſt hier beſonders auf die bei den Eingeborenen der Antillen 
übliche Etikette hin, nach der die Eingangsworte einer Anrede am Schluſſe in um- 
gekehrter Reihenfolge wiederholt wurden.) 

Bercerrillo erwies ſich gnädig; er begnügte ſich damit, ſeiner Verachtung der 
roten Raſſe in zwar etwas draſtiſcher, aber doch harmloſer Weiſe Ausdruck zu geben: 
er beſchnupperte die Alte von allen Seiten, hob, nach bekannter Hundemanier, ein 
Hinterbein und ſchritt dann langſam in den Kreis feiner ſpaniſchen Freunde zurück. 

* * 


* 

Ahnlich wie auf bieten Inſeln trieben's die Spanier auch auf dem ameri- 

kaniſchen Feſtlande, nur daß ſie dort weniger leichtes Spiel hatten. Die Azteken 

verfügten über ein geordnetes, mit beſſeren Waffen ausgerüſtetes Heerweſen, 

und in ihrem Lande gab's große Raubtiere: Bären, Jaguare, Pumas, mit deren 

Gefährlichkeit zu rechnen man gewöhnt war; aber auch von den Feftlandsindianern 
wurden die Bluthunde bald über alles gefürchtet. 

* * 


* 

Nach langem, ſchwerem Ringen hatte Cortez, der größte der in jener großen 
Zeit auftretenden Capitanos, ſich endlich zum Herrn von Mexiko gemacht und 
ruhte nun mit feinen tapferen Mannen in der eroberten Hauptſtadt von den Stra- 
pazen der Kampagne aus. 

Um diefe Zeit kamen ihm Gerüchte zu Ohren von einem im Weiten Meri- 
tos gelegenen mächtigen Reiche, Michoakan genannt, deffen Könige von jeher 
Erbfeinde der Montezumas geweſen. 

Über bieles Reich wünſchte der ſpaniſche Feldherr genauere Kunde zu erhal- 
ten, und es ſollte eine Geſandtſchaft dahin abgehen, deren Führung dem Mon- 
tao, einem erprobten, auch in Diplo matenkünſten wohlerfahrenen Haudegen, 
übertragen wurde. Dieſem unterſtellt wurde ein gewiſſer Peñaboſa und noch 
zwei andere Spanier, alle geſcheite, kriegstüchtige Männer. 

Montaño muß einen für die damalige Zeit nicht geringen Bildungsgrad be- 
ſeſſen haben, da er eigenhändig den ausführlichen, von ſcharfer Beobachtungs- 
gabe zeugenden Bericht über die Expedition nach Michoakan verfaßt hat. Was den 
Peñaboſa anbelangt, fo war dieſer der Herr Lobos, eines Bluthundes, der feines- 
gleichen nicht hatte in ganz Neuſpanien. „So groß und ſtark war er,“ ſchreibt der 
Chroniſt, „ſo mutig und gewandt im Kampfe, ſo ſehr gefürchtet von den Heiden, 
daß Scharen von Hunderten ihm nicht ſtandzuhalten wagten.“ 

Die vier Kaſtilianer wurden begleitet von zwanzig aztekiſchen Edelleuten, 
von einem Dolmetſch, der neben Azteka auch etwas Spaniſch ſowie Taraska und 
Otomi, die beiden in Michoakan geſprochenen Zdiome, verſtand, und von zwei 
land- und wegkundigen Hauſierern. Ein Troß eingeborener Träger war mit Pro- 
viant für die Geſandtſchaft und mit Geſchenken für den zu beſuchenden Herrſcher 
beladen. 

Die erwähnten Hauſierer gehörten einer privilegierten Rafte an, deren Mit- 
glieder mit ihren Waren das alte Kulturamerika von Peru bis Kalifornien bereiſten 
und in Friedens- und Kriegszeiten als allgemein anerkannte Neutrale internatio- 
nalen Schutz genoſſen. 


Theinert: Die Bluthunde der Nonquiſtadoren 607 


Nachdem alles beſtens geordnet war, trat man in der Frühe eines ſchönen 
Oktobermorgens den Marſch an: die Spanier begierig, neue Länder und Völker 
kennen zu lernen; die mexikaniſchen Edlen froh, dem gedemütigten Vaterlande 
eine Weile den Rücken kehren zu können, und die beiden Hauſierer ſtolz auf die 
Ehre, einer ſo vornehmen Geſellſchaft als Führer dienen zu dürfen. Einzig die 
Gefühle der geplagten Träger waren keine gehobenen; apathiſch marſchierten ſie, 
gebeugt unter der Schwere ihrer Bürden, inmitten des nach indianiſcher Manier 
in langer Einzelreihe ſich fortbewegenden Zuges. 

Auf der mexikaniſchen Hochebene ift der Herbſt die ſchönſte Jahreszeit. Auen 
und Wälder prangten in der Umgegend des ſpaniſchen Hauptquartiers im herr- 
lichſten Schmuck der Natur. Die Felder aber lagen brach, die Adobehütten waren 
verödet, viele zuſammengeſtürzt. Was Menſchenhände geſchaffen, trug im Bereich 
der alten Reſidenz der Montezumas den Stempel des Verfalls. Die wenigen 
Eingeborenen, die auf ihren Heimſtätten geblieben waren, flohen beim Heran- 
nahen der landeinwärts ziehenden Karawane und verbargen ſich in der Wildnis. 

Als Montaño mit feinem Gefolge am Fuße der erſten weſtlichen Bergkette 
angelangt war, nahm die Landſchaft einen anderen, Frieden atmenden Charak- 
ter an; bis hierher waren die Spanier verwüjtend noch nicht vorgedrungen. Dörfer 
tauchten auf, in Maisfelder eingebettet; Fruchtbãume ſäumten den Pfad; Scharen 
kleiner bunter Vögelchen zirpten und zwitſcherten um die Wette; Reiher und Rra- 
niche ſtolzierten gravitätiſch an den Ufern der Teiche und Bäche; aus dem Didicht 
ſchallte der Geſang der Spottdroſſel; wie lebende Brillanten und Smaragden 
ſchoſſen Kolibris von Blüte zu Blüte, wetteifernd mit großen blau- und goldfchillern- 
den Faltern. 

Höher und höher wand fidh der Zug an der Berglehne empor. Die immer- 
grünen, mit langen grauen Flechtenfeſtons behangenen Lebenseichen und andere 
Laubbdume wurden felten und feltener; ſtattliche Koniferen: Tannen, Fichten und 
Zedern bildeten jetzt den Hauptbeſtand des Waldes. Eichhörnchen huſchten um die 
Stämme und jagten fih auf den Aſten; Fife und Coyoten (Präriewölfe) ſchlichen 
über den Weg; Hirſche äſten in den Lichtungen. 

Erſt gegen Sonnenuntergang wurde die Paßhöhe erreicht, und fröſtelnd in 
der Abendkühle ſtiegen die Wanderer abwärts, herzlich froh, als die Führer vom 
Pfade abſchwenkten, einer unter überhängenden Felſen wohlgeſchützten Anfiede- 
lung zu, wo Nachtraſt gehalten werden ſollte. Mächtige Feuer flackerten bald zum 
dunklen Himmel auf, und nach Einnahme einer tüchtigen Mahlzeit ſuchte jeder 
das ihm in einer der Hütten angewieſene Nachtquartier auf, die müden Glieder 
zu ſtrecken. 

So vergingen drei Tage ohne ein bemerkenswertes Ereignis, am vierten aber 
kam, nach beſchwerlicher Kletterei über wild zerklüftetes Terrain, die michoakaniſche 
Grenzſtadt Tajimarra in Sicht, tief unten in einem fruchtbaren Tale gelegen. 

Die Stadt exiſtiert heute noch, aber fernab von den modernen Verkehrs- 
wegen bat fie längſt ihre frühere Bedeutung verloren. 

Die Herrſcher der damaligen indianiſchen Kulturreiche in Nord- und Süd- 
amerika verfügten über einen gut organifierten Poft- und Kundſchafterdienſt; 


608 Thelnert: Die Gluthunde der Ronquiftadoren 


fie erfuhren ſtets rechtzeitig, was in ihren eigenen und den benachbarten Staaten 
vorging, und fo hatten denn Montaño und feine Leute die Grenze von Michoakan 
kaum überſchritten, als ihnen ſchon der Kazike von Tajimarra, von ihrem Kommen 
unterrichtet, mit großem Gefolge entgegenkam, fie im Namen ſeines Königs be- 
grüßte und als geehrte Gäſte nach der Stadt geleitete. 

Dieſe war von einem ſtarken Walle umgeben, ſechs Fuß dick und zwölf Fuß 
hoch, aus maſſiven, glatt behauenen und genau gefügten eichenen Blöcken zu- 
ſammengezimmert, mit dominierenden Türmen und einer Bruſtwehr. Ein groß 
artiges Werk, wenn man bedenkt, daß die Michoakaner ebenſo wie die Azteken 
keine eiſernen Werkzeuge hatten, das Eiſen überhaupt nicht kannten, bis ſie mit 
Europäern in Berührung kamen. 

Auf dem Hauptplage Tajimarras umringten Jünglinge und Mädchen die 
Geſandten. Geſangsvorträge in hohen Fiſtelſtimmen wechſelten ab mit dem ohren 
betäubenden Lärm von Flöten, Hörnern und Trommeln. Im Vorhofe des Tem- 
pels hieß man die Träger ihre Laften ablegen; den Spaniern und aztekiſchen Edel- 
leuten wurden freundliche, mit Schemeln und Tiſchen möblierte Gemächer an- 
gewieſen, an deren Wänden breite Bänke hinliefen, mit ſauberen, fein geflochte- 
nen Matten und künſtleriſch gewobenen Baumwolldecken belegt und dazu beſtimmt, 
als Schlafſtätten zu dienen. Die Gäſte wurden gebeten, ſich's bequem zu machen, 
Waſſer zum Waſchen wurde ihnen gebracht, und nach einer Weile trugen Diener 
verſchiedene Fleiſch- und Fruchtgerichte auf und Gefäße mit ſtarken, aus Mais 
und dem Safte der Agave gebrauten Getränken. 

Montaño und feine weißen Gefährten waren ob folder Aufnahme höchlichſt 
vergnügt, die Azteken aber ſtimmten die Fröhlichkeit herab durch Aufzählung ver⸗ 
ſchiedener Beiſpiele von der Treuloſigkeit und Grauſamkeit der Michoakaner. Sie 
ließen Andeutungen fallen, daß alle Liebenswürdigkeit wahrſcheinlich nur Maske 
ſei, daß man die Fremden ſorglos machen wolle, um fie ſpäter deſto leichter über- 
wältigen und abſchlachten zu können. Die gute Verpflegung, meinten fie, dürfte 
der Anfang eines Mäſtungsprozeſſes fein, durch den die für ein Opfermahl Be- 
ſtimmten den Göttern wohlgefälliger gemacht werden ſollten. 

Dieſen Warnungen der Freunde ſchenkten die Spanier gebührende Beachtung. 
Sie unterſuchten ihre Arkebuſen und anderen Waffen aufs ſorgfältigſte; Peñaloſa 
nahm Lobo den Maulkorb ab, und ein regelmäßiger Wachtdienſt wurde organi- 
ſiert, wie man's in Feindesland zu tun gewohnt war. 

Doch die Nacht verlief ruhig, und am Morgen kam der Kazike, begleitet von 
einem Trupp feiner Untergebenen, die er, mit Proviant beladen, der Geſellſchaft 
zur Verfügung ſtellte. Er habe Auftrag von ſeinem Monarchen, ſo erklärte er, 
die Fremdlinge mit der größten Achtung und Aufmerkſamkeit zu behandeln und ſie 
nach ihrem nächſten Raſtort eskortieren zu laſſen. 

So ſchickte denn Montaño feine mexikaniſchen Träger mit einem Briefe an 
Cortez heimwärts und trat wohlgemut den Weitermarſch nach der Hauptſtadt 
Michoakans an. Zuvor aber wurden von eingeborenen Künſtlern farbige Skizzen 
angefertigt, welche die Spanier gehend, liegend und eſſend in grotesker Manier 
darſtellten. Auch Lobo, die fürchterliche Beſtie, über deren Kraft und Wildheit 


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Theinert: Die Bluthunde der Ronquiftaboren 609 


die ungeheuerlichſten Geſchichten unter den Indianern zirkulierten, wurde por- 
trätiert und die Bilder durch Expreßboten an König Sinziecha befördert, ihn vor- 
zubereiten auf den Anblick der weißen Männer und ihres vierbeinigen Gefährten. 

Die weitere Reife der Geſandten ins Innere des Landes glich einem Criumph- 
zuge. Von den Notablen jeder Stadt, in der fie Raft hielten, wurden fie bis zur 
nächſten Station begleitet und den dortigen Behörden feierlichſt übergeben. Die 
Bevölkerung der am Wege gelegenen Oörfer ſtrömte in hellen Haufen herbei 
und konnte fic) nicht ſattſehen an den Fremdlingen mit den großen Bärten, wunder- 
lichen Kleidern und fürchterlichen Waffen. 

Angeſichts der ihnen überall entgegengebrachten Freundlichkeit entſchlugen 
ſich die Spanier nach und nach, trotz der öfters noch wiederholten Warnungen 


ihrer aztekiſchen Anhänger, jedes Gedankens an drohende Gefahr, und in heller 


Freude jubelten ſie auf, als ſie um Mittag des ſechſten Tages nach dem Abmarſche 
von Tajimarra den herrlichen Waſſerſpiegel des Patzkuaroſees vor fih ausgebrei- 
tet ſahen und die Wälle und Türme der in lieblichen Hainen und Gärten halb- 
verſteckten michoakaniſchen Hauptſtadt Tzintzontzan erblickten. 

Eine ungeheure Menſchenmenge, die, wie der Chroniſt berichtet, die ganze 
weite Ebene am Seeufer bedeckte, kam den Sendboten des Cortez entgegen. Allen 
voran Sinziecha, der große „Caltzontzin“, umgeben von achthundert Edelleuten, 
der Elite der Nation, und begleitet von zehntauſend Kriegern. Einer der michoa⸗ 
kaniſchen Granden umarmte den Montaño und ſeine weißen Gefährten im Namen 
des Monarchen, überreichte ihnen prächtige Blumenſträuße und hieß fie will- 
kommen. 

Mit Muſik und fliegenden Bannern, deren Gold- und Federnſchmuck die 
ſchrägen Strahlen der niedergehenden Sonne verklärten, bewegte die Prozeſſion 
ſich nach der Stadt und vor den Herrſcherpalaſt, in deſſen Innern den Ankömmlingen 
luftige, phantaſtiſch dekorierte Zimmer angewieſen wurden. Diener ſchleppten 
Gefäße voll Waſſer herbei, und nachdem die beſtaubten Reiſenden ſich gründlich 
gereinigt und einen Imbiß verzehrt hatten, erſchien Sinziecha in ihrer Mitte. Er 
wollte fich perfinlid davon überzeugen, wie man feine Gäſte untergebracht. Im 
Verlaufe des Austauſches von Höflichkeitsformalitäten glaubte Montaño die Hand 
des Monarchen küſſen zu ſollen, der aber trat, als er den Spanier auf ſich zukommen 
ſah, ein paar Schritte zurück, und zwei Höflinge ſprangen raſch dazwiſchen, eine 
profane Berührung der geheiligten Perſönlichkeit zu verhindern. Der König ſprach 
längere Zeit zu einem ſeiner Großwürdenträger, der einen Satz um den andern 
dem vornehmſten der Azteken verdolmetſchen ließ, und dieſer machte dann feiner- 
ſeits die Spanier mit dem durchaus freundlichen Inhalt der Rede bekannt. 

Nachdem die Audienz etwa eine halbe Stunde gedauert hatte, empfahl ſich 
Seine Majeftät, kam aber ſpät am Abend, umgeben von Fackelträgern, wieder, 
gerade als die Spanier mit einem für fie aufgetiſchten opulenten Mahle fertig ge- 


> — 


worden waren. Diesmal zeigten die Züge des Königs einen ernſten, finftern Aus- 


druck. Eine Abteilung Bewaffneter nahm Montaño und den Seinen gegenüber 

Aufſtellung, Barriere bildend zwiſchen dem Herrſcher und der Geſandtſchaft. 

Sener ſagte etwas in ſtrengem Tone, was dieſer folgendermaßen üͤberſetzt wurde: 
Der Türmer XI, 11 39 


610 Fheinert: Die Bluthunde der Konquiſtadoren 


„Wer ſeid ihr? Wo kommt ihr her? Was ſuchet ihr? Warum ſeid ihr aus 
fernem Lande hierhergekommen? Gibt's in eurer Heimat keine Speiſe, keinen 
Trank? Was hat Montezuma euch zuleide getan, daß ihr fein Land erobert und ver- 
wilftet habt? Glaubt ihr mit mir es ebenſo machen zu können? Seht euch vor, 
es könnte euch anders ergehen hier als in Mexiko, deſſen Los ich beklage, obwohl 
ſein Herrſcher und ich bittere Feinde geweſen ſind.“ 

Dieſer plötzliche, ganz unerwartete Umfchwung in der Geſinnung des könig⸗ 
lichen Gaſtfreundes verurſachte den Spaniern großes Unbehagen, fie kamen fic 
vor wie in die Falle gegangene Mäuſe; doch ließen fie fic von der fie befchleichen- 
den Sorge nichts anmerken, und mit erhobener, furchtloſer Stimme hielt Montaño 
eine Gegenrede. Er ſprach von der Macht und Gewalt, aber auch von der Guͤte 
und dem Edelſinn des Cortez; er erwähnte des großen Kaiſers, der ſeine Capitanos 
über das weite Meer geſchickt habe, den Völkern dieſer entlegenen Gegenden 
Vohltaten zu erweiſen, vorab die Seelen der im Heidentum Befangenen vor der 
ewigen Verdammnis zu erretten. Zum Schluß berief er ſich auf das Zeugnis fei- 
ner mexikaniſchen Begleiter, die gewiß alle ſeine Ausſagen nur beſtätigen könnten. 

Diefe vom Dolmetfd mit blumenreichen Redewendungen ausgeſchmückte 
Erwiderung ſchien auf Sinziecha Eindruck zu machen. Eine Weile verharrte er 
ſchweigend in Nachdenken verſunken, dann erklärte er, mit ſich ſelber zu Rate gehen 
zu wollen. Inzwiſchen möchten die Fremdlinge, feines Schutzes ſicher, in Szin- 
tzontzan verweilen; ſpäter werde er ihnen feine Entſcheidung verkünden. 

Nachdem der König und fein Gefolge fic) entfernt hatten, hielten die Gpa- 
nier Kriegsrat. Sie unterſchätzten jetzt nicht mehr das Kritiſche ihrer Lage, befdlof- 
fen aber, Dreift und unerſchrocken aufzutreten und ihrem Rufe als „unüberwind- 
liche Kinder der Sonne“ Ehre zu machen. Die Azteken ſollten wie ebenbürtige Ber- 
bündete und gute Kameraden behandelt, ein regelmäßiger Sicherheitsdienſt mit 
ihnen vereinbart, alle Waffen im beſten Zuſtande und parat gehalten und Lobo 
zur Steigerung ſeiner Wildheit auf halbe Ration geſetzt werden. 

Vor dem Quartiere der Geſandtſchaft gab's die ganze Nacht keine Ruhe; 
Leute kamen und gingen fortwährend da draußen, und der dadurch aufgeregte 
Bluthund hörte drinnen nicht auf zu knurren und zu bellen, fo daß, trotz Müdigkeit 
und Abſpannung, niemand ordentlich ſchlafen konnte. 

Als die Spanier bei Tagesanbruch die Türe öffneten und ins Freie traten, 
fanden ſie den Hof von etwa zweihundert Kriegern beſetzt, eine Wachmannſchaft, 
die ſtündlich abgelöſt wurde. Gleich nach dem Morgeneſſen kamen zwei königliche 
Beamte, ſteckten mit Pflöcken eine Linie quer durch den Hof ab und bedeuteten die 
Fremden, dieſe Linie bei Todesſtrafe nicht zu überſchreiten. 

Eine fo willkürliche, ſtrenge Verordnung ſteigerte natürlich das Mißtrauen 
der Männer, die nun unverkennbar Gefangene waren; Montaño aber bewahrte 
unentwegt feine Raltblitigteit und erſuchte die Höflinge, ihrem Herrn und Ge- 
bieter die Verſicherung zu überbringen, daß alle Mitglieder der Geſandtſchaft 
dem Befehle willig Folge leiſten würden, wennſchon deſſen Zweck ihnen unerfind- 
lich. Als friedliche Sendboten feien fie nach Michoakan gekommen und in dieſer 
Eigenſchaft erwarteten ſie, im beiderſeitigen Intereſſe, das Land wieder zu verlaſſen. 


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Sheinert: Die Bluthunde der Ronquiftadoren 611 


Der Tag war voriibergegangen, die Abendmahlzeit eingenommen. Mon- 
tano und feine Gefährten faken auf der Schwelle ihres Gemaches, die wohltuende 
Kühle der Nachtluft genießend. Da rötete fih der Himmel über ihnen, heller Feuer- 
ſchein fiel auf die weißen Gewänder und Bronzeornamente der jenſeits der ab- 
geſteckten Grenze lagernden Indianer; der Tempelturm aber, von deſſen Zinne die 
Beleuchtung ausging, war diesſeits der Grenze unſichtbar. Wilde, unheimliche 
Muſik erſchallte, zeitweiſe übertönt vom dumpfen Dröhnen der gigantifchen, aus 
Goldblech und Schlangenhaut gefertigten Opfertrommel. 

Das Geräuſch der Tritte einer zahlreichen barfüßigen oder nur mit leichten, 
ſchmiegſamen Sandalen beſchuhten Menge war vernehmbar: das Volk marſchierte 
nach den Klängen ſchriller Pfeifen durch die Straßen Tzintzontzans und umtanzte 
die Götzenbilder. Bald wurden auch menſchliche Stimmen laut; ſcheußliches Ge- 
heul, Wehſchreie und Gebrüll vereinigten fic) mit den inſtrumentalen Diſſonan- 
zen zu einem ſo diaboliſchen Chorus, daß den aufhorchenden Spaniern das Blut 
in den Adern ſtockte und die Haare auf den Köpfen ſich ſträubten. 

Die Mexikaner, um die Bedeutung dieſer Geſchehniſſe befragt, wußten keine 
tröſtliche Auskunft zu geben. Das ſei, ſo erklärten ſie, der Beginn der Herbſtfeſte, 
deren Schlußakt wahrſcheinlich die Abſchlachtung und Opferung der Fremdlinge 
bilden würde, der Spanier und der Azteken. Montaßño ſchreibt, ihm fei ſpäter auf 
das beſtimmteſte von wohlunterrichteter Seite verſichert worden, König Sinziecha 
hätte wirklich, den Einflüſterungen der Prieſter Gehör ſchenkend, den Opfertod 
aller Mitglieder der Geſandtſchaft gewollt und erſt nach langem Widerſtreben 
durch die Gegenvorſtellungen eines am Hofe hochangeſehenen Ratgebers fih um- 
ſtimmen laſſen. | 

Sei dem wie ihm wolle, jedenfalls blieben die Spanier und ihr Anhang ſtrikte 


auf die ihnen angewieſenen Quartiere beſchränkt und der Tortur unterworfen, 


Tag und Nacht, und beſonders in der Nacht, den markerſchütternden Tönen zu 
lauſchen, den Widerſchein der Altarfeuer zu beobachten und in ihrer Phantaſie 
die fürchterlichſten Bilder ſich auszumalen von den Vorgängen in der Stadt, wo, 
begleitet von grauſigem Zeremoniell, den für diefe Feſte aufgeſparten Kriegs- 
gefangenen auf den Tempelzinnen durch Prieſterhände die Herzen aus der Bruſt 
geriſſen und die noch zuckenden Leiber der unten harrenden Volksmenge zur Be- 
friedigung ihrer kannibaliſchen Gelüſte zugeworfen wurden. 

Solche ſeeliſchen Qualen mußten Montafio und ſeine Gefährten achtzehn 
Tage erdulden. Sie gaben fih alle Mühe, die Diener auszuforſchen, die die Mahl- 
zeiten auftrugen, diefe Leute aber ließen bei aller Höflichkeit und Zuvorkommen- 
heit des Benehmens kein Wort über die Lippen. Auch das Effen war den Spa- 
niern verleidet, ſie konnten nie den Argwohn verbannen, das eine oder andere 
Gericht ſei aus Menſchenfleiſch zubereitet. 

Endlich nach einer Nacht, in bere, dem Lärm nach zu urteilen, toller her- 
gegangen ſein mußte denn je zuvor, kam ein Tag unheimlicher Stille. Auch in der 
folgenden Nacht regte ſich nichts; die Stadt ſchien ausgeſtorben, aber am nächſten 
Morgen erſchienen vier Höflinge, die vier vornehmſten Azteken abzuholen und dem 
Könige vorzuführen, der ſie zu ſprechen wünſchte. 


612 Theinert: Ole Bluthunde der Nonqutftaboren 


Ehe er fie gehen ließ, nahm Montaño die zur Audienz Befohlenen abſeits 
und ſchärfte ihnen ein, als Vertreter der Geſandtſchaft dem Sinziecha mit Un- 
erſchrockenheit und Würde gegenüberzutreten. „Schildert in lebhaften Farben“, 
fo inftruierte er fie, „die unwiderſtehliche Macht des Cortez, feine dem Donner und 
Blitz des Himmels entlehnte Artillerie, ſeine Menſchen tragenden Pferde, ſeine 
Hunde, von denen jeder einzelne Hunderten von Indianern gewachſen ift. Ber- 
meldet dem Könige,“ ſo ſchloß er, „daß wir vier weißen Männer hier mit unſerem 
Lobo die ganze michoakaniſche Kriegsmacht nicht fürchten. Haben wir bisher 
jeder Feindſeligkeit uns enthalten, fo iſt's geſchehen, weil der große Capitano be- 
fohlen hat, dem Herrſcher dieſes Reiches freundlich zu begegnen.“ 

Die mexikaniſchen Edlen verſprachen, genau Folge zu leiſten, und machten 
ſich, den Dolmetſch mitnehmend, auf den Weg zum Könige. 

Der Tag verging, und ſie kehrten nicht zurück, was die Spanier nicht wenig 
beunruhigte. 

Der nächſte Tag brach an, und immer noch waren die Fünfe nicht da, aber 
bald nach Mittag kamen ſie mit fröhlichen Geſichtern und berichteten, ſie hätten 
zu Sinziecha geſprochen, wie wenn Cortez mit ſeinem ganzen Heere vor den Toren 
der Stadt ſtände. Der König habe ihren Reden große Aufmerkſamkeit geſchenkt, 
fie bewirtet und verſprochen, Montaño und feine Gefährten zu beſuchen und die 
Geſandtſchaft mit reichen Geſchenken zu entlaſſen. 

Eine Stunde ſpäter erſchien dann auch wirklich der Monarch, umgeben von 
einer Schar feſtlich gekleideter Jünglinge. Vierzig feiner Granden folgten ihm 
und eine ungeheure Menſchenmenge, von der Montaño ſagt, daß ſie zwanzigtauſend 
Köpfe gezählt habe. Alle Männer waren bewaffnet, ſchwenkten mit wilden Geſten 
Bogen, Pfeile und Wurfſpeere und ſchrien und lärmten wie befeffen. 

Die Spanier hielten ſich für verraten. Im Glauben, der Augenblick der 
Kataſtrophe ſei gekommen, machten ſie Musketen und Armbrüſte ſchußfertig, und 
Pefialofa nahm Lobo den Maulkorb ab, ſich gelobend, den Bluthund zuallererſt 
auf den König zu hetzen. 

Doch die nervenſpannende Ungewißheit dauerte nur kurze Zeit. Sinziecha 
ſchritt in die Mitte des Hofes, ſeinen mit Gold und Edelſteinen reichverzierten 
Bogen geſenkt und aus dem ebenſo koſtbaren Köcher alle Pfeile auf den Boden 
ſchüttelnd. Freundlich lächelnd winkte er den Spaniern, die, ſolcher Aufforderung 
folgend, dicht an die Grenzlinie herantraten, dem Monarchen ihre Reverenz mad- 
ten und ſich den Anſchein gaben, als wenn Mißtrauen nie in ihrer Seele ge- 
wohnt hätte. 

Der König winkte nach rückwärts, und ein Trupp Indianer ſchleppte lebendes 
und totes Wild aller Art herbei, es vor der Türe des Geſandtſchaftsquartiers ab- 
zulegen. 

„Achtzehn Tage bin ich“, ließ Sinziecha ſich vernehmen, „durch Pflichten 
gegen die Götter, die uns eine gute Ernte beſchert haben, abgehalten worden, 
euch, meinen Gäſten, mich zu widmen, aber zum Zeichen, wie febr ich euch achte 
und hochſchätze, habe ich geſtern mit meinen eigenen königlichen Händen diefe Tiere 
erlegt und gefangen, die ich euch zum Geſchenk anbiete. Noch weiter der ſinkenden 


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Theinert: Die Bluthunde der Ronquiftadoren 615 


Sonne zu mag ich euch nicht ziehen laffen, denn dort haufen Stämme, die euch nicht 
jo freundlich aufnehmen würden wie ich. Reiſet alfo morgen nach Mexiko zurück 
mit den Gaben, die ich, für Cortez und den mächtigen Kaiſer jenſeits des Meeres 
beſtimmt, noch ſenden werde. Die vornehmſten meiner Vaſallen ſollen euch be- 
gleiten und dem Cortez eine Botſchaft von mir verkünden. 

Das Verbot, die abgeſteckte Grenze zu überſchreiten, wurde aufgehoben, 
die Wachtmannſchaft zurückgezogen; keiner der Spanier aber verſpürte Luſt, in 
der Stadt Umfchau zu halten. Immerhin ſtreckten fie fih bei einbrechender Nacht 
ruhigeren Herzens als bisher auf ihren Lagerſtätten aus, und auch die Azteken 
gaben zu, daß die Möglichkeit einer glücklichen Rückkehr nach Mexiko jetzt nicht 
mehr ausgeſchloſſen ſei. 

Am folgenden Morgen marſchierten verſchiedene Trupps bündeltragender 
„Peons“ in den Hof. Die Laſten wurden abgelegt, die Hüllen entfernt und ihr 
Inhalt vor den ſtaunenden Spaniern ausgebreitet: feine Baumwollengewebe, 
mit Goldfäden durchwirkt; Federmäntel von wunderbarer Farbenpracht; weiße, 
gelbe und rote Sandalen; Mokaſſins aus weichgegerbtem Hirſchleder und eine 
Menge von Gold- und Silberornamenten. Alle diefe Koſtbarkeiten wurden auf 
untergelegten Matten in Partien abgeteilt: in der Mitte je eine große für Cortez 
und den Kaiſer, ringsum kleinere für die Mitglieder der Geſandtſchaft. 

Nachdem alles geordnet, kam Sinziecha, Abſchied zu nehmen von ſeinen 
Gäſten. Er wiederholte die Verſicherungen feiner Freundſchaft, empfahl die acht 
michoakaniſchen Edelleute, die mit nach Mexiko reiſen ſollten, dem Wohlwollen 
der Spanier und ftellte dieſen ein zahlreiches Gefolge von Jägern und Laſtträgern 
zur Verfügung. 

Kaſtilianer und Mexikaner ſprachen ihren Dank aus, und der König zog fidh 
zurück. Die Geſchenke wurden verpackt, und damit und mit reichlichem Proviant 
beladen, traten die Peons den Marſch nach Often an. Frohen Mutes wollten Mon- 
tano und feine Genoſſen folgen, als ihnen im letzten Augenblick noch von etlichen 
Granden Sinziechas der Weg vertreten und vermeldet wurde, es ſei der ſehnlichſte 
Wunſch ihres Gebieters, den berühmten Hund Lobo zu beſitzen. Der König hoffe, 
die großherzigen weißen Männer und Kinder der Sonne würden ſeinen Wunſch 
erfüllen und das Tier als Andenken zurücklaſſen. 

Durch ſolches Anfinnen wurden die Spanier ſchwer betroffen. Mit feds 
Tagemärſchen durch Wichoakan vor fid) ſollten fie von dem Hunde fic trennen, 
der ihnen eine ſo große Sicherheit gewährte durch die abergläubiſche Furcht, die 
er den Indianern einflößte. Die Lage ſchien ihnen kritiſcher denn je, fie argwöhn⸗ 
ten Verrat und falſches Spiel. Penaloſa war fo empört, daß er fic) nicht beherr⸗ 
ſchen konnte; im derbſten Kaſtilianiſch verfluchte er den König mitſamt ſeinem Lande 
und Volke und verſchwor ſich hoch und teuer, unter keinen Umftänden Lobo auf- 
geben zu wollen, den er aus ſeinem Heimatsdorfe mit in die Fremde gebracht hatte. 

Montaño beratſchlagte mit den beiden anderen Spaniern, dann auch mit 
den Azteken, und dieſe gaben ihre Meinung dahin ab, daß wahrſcheinlich die Göt- 
ter Michoakans dem Könige durch Prieſtermund ihre Mißbilligung der ungehin- 
derten Abreiſe der weißen Fremdlinge und der indianiſchen Erbfeinde verkündet 


614 Theinert: Die Bluthunde der Ronqulftaboren 


und als Erſatz für die vorenthaltenen Menſchenopfer die Opferung jener furdt- 
baren Beſtie verlangt hätten, die ſchon fo vielen Männern der roten Raffe den Tod 
gebracht. Der Hund müſſe ausgeliefert werden, wolle man nicht neuerdings die 
Lage verſchlimmern. 

Nach vielem Hin- und Herreden willigte Peũaloſa endlich ein, fih von Lobo 
zu trennen. Schweigend, in ingrimmiger Wut, führte er ihn nach einer Säule der 
Vorhalle und band ihn dort mit der Leitleine feſt. 

Dem Sinziecha ließ Montaño fagen, fie alle ſchätzten ſich glücklich, etwas zu 
beſitzen, das Gnade vor den Augen eines ſo mächtigen Monarchen gefunden, und 
er möge geruhen, Lobo als Geſchenk anzunehmen. Die Sendboten des Königs 
dankten in deſſen Namen, und die Geſandten verließen den Hof, dem laut auf- 
heulenden Bluthunde den Rücken kehrend. 

Als ſie die Stadt hinter ſich hatten und von der erſten Anhöhe im Oſten 
einen letzten Blick auf Tzintzontzan warfen, ſahen ſie von den Tempelzinnen dort 
Rauch und Flammen aufſteigen, und der Lärm der großen Opfertrommel klang 
gedämpft an ihre Ohren. 

Spanier und Mexikaner hielten zuſammen eng geſchloſſen; die acht midva- 
kaniſchen Abgeſandten nahmen fie in die Witte, gewiſſermaßen als Geiſeln, feſt 
entſchloſſen, fie beim erſten Anzeichen von Verrat niederzumachen. So marſchier⸗ 
ten ſie oſtwärts, die Schwerter locker in den Scheiden, die Harniſche feſtgeſchnallt 
und gute Wache haltend Tag und Nacht. 

Am dritten Tage wurden fie von einem Trupp Haufierer überholt, die Tzin⸗ 
tzontzan nach ihnen verlaſſen hatten. Die Leute erzählten den Spaniern, was 
bald nach deren Abreiſe in der Hauptſtadt fih zugetragen: 

Man hatte dem Lobo Schlingen übergeworfen, dem Rampfunfabiggemad- 
ten die Beine an den Füßen zuſammengefeſſelt und eine Stange zwiſchendurch⸗ 
geſchoben. So trugen vier Prieſter den Hund in feierlicher Prozeſſion, unter Be- 
obachtung von Zeremonien, wie fie nur der Opferung eines Gefangenen aller- 
höchſten Ranges voranzugehen pflegten, durch die menſchenwimmelnden Straßen 
nach dem Tempel. An den Stufen des Hochaltars nahm der Oberprieſter das mit 
zugeſchnürter Schnauze leiſe winſelnde Tier in Empfang und redete es folgender- 
maßen an: 

„König aller wilden Tiere, der du das Leben ſo vieler Männer eines uns 
feindlichen, aber bluts verwandten Stammes genommen haſt, deine Zeit ift ab- 
gelaufen; die Vergangenheit muß gefühnt werden. Ich bitte die Götter, dein Herz 
anzunehmen und zu verzeihen, daß wir ihnen nicht die Herzen deiner Herren dar- 
gebracht haben, die in unſerer Gewalt waren.“ 

Zwei Prieſter hatten Lobo inzwiſchen mit dem Rüden auf den konvexen 
Opferſtein gelegt; der Oberprieſter hob den Arm; die nie irrende Rechte ſtieß das 
haarſcharfe Obſidianmeſſer in die Bruſt des Tieres; die Linke griff raſch in den 
gemachten Einſchnitt und fuhr mit dem herausgeriſſenen Herzen über das Geſicht 
des grinſenden Götzenbildes. 

Schwerlich wird wohl jemals ein anderer Hund der Held eines mit ſo viel 
ſchauerlichem Pomp in Szene geſetzten Dramas geweſen fein. 


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Zig: Nacht | 615 


Der Bericht der Haufierer war nicht dazu angetan, beruhigend auf die Ner- 
ven des Montaño und feiner Gefährten zu wirken. Die herrliche Landſchaft, durch 
die ſie wanderten, erfreute ſie nicht; für die Geſchicklichkeit der michoakaniſchen 
Sager bezeugten fie kein Intereſſe; fie aßen und tranken mit Mißtrauen und großer 
Vorſicht; aus jedem Buſch am Wege erwarteten ſie im Hinterhalt liegende Feinde 
hervorbrechen zu ſehen. 

Als am ſiebenten Tage endlich Tajimarra erreicht war, weigerten ſie ſich, 
in der Stadt zu übernachten; ſie lagerten im Freien, und nicht eher atmeten ſie 
freier auf, bis ſie den See von Mexiko erblickten und eine Abteilung Reiter, die 
Cortez ausgeſandt hatte, die ſchon verloren Geglaubten zu begrüßen und in die 
Stadt zu geleiten. 


Aer e 
BIE cers: SU EGS CH 
Nacht 
Von 


Karl A. H. Ilg 


Ich horche ſchlaflos in die Nacht hinaus. 
Gleichmäßig rinnt der Regen durch die Schwärze, 
Gleich Ton um Ton, als wollt er nimmer enden, 
Als ſtrömte immer neue Nacht vom Himmel, 
Um Leben, Hoffnung, alles zu ertränken. 
Nun ſchwimmt ein wehes Kinderweinen 
Von irgendwo herüber durch das Dunkel 
So furchtbar einſam wie auf wüſten Waſſern; 
Es iſt, als wimmerte ein Sternlein leis 
Aus bodenloſer Finſternis des Weltalls. 
Sits Kinderweinen? jt es nicht der wehe, 
Hilfloſe Laut der bangen Menſchenſeele, l 
Die ringt und ſinkt in ungeheuren Nächten? 
Mir ift, mir ſelbſt entſtieg der Klagelaut. 
Doch horch! Nun redet eine Mutterſtimme. 
Die nimmt das Weinen ſanft in ihren Kahn 
Und trägt's dahin, bis es verſtummt. 

Mein Gott, 
Zch fühle deine Hand. Zch fab dih ſchreiten 
Licht durch die ſchwarze Tiefe und du nahmeſt 
Mich in die Arme deiner Gottesmacht. 


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Ein Charafterbild des Fürſten Bülow 


Line eigene Würdigung des Fürſten Bülow als Staatsmannes und Menſchen be- 
NG) halt fih der Türmer für eines der nächſten Hefte vor. Er hält dergleichen „Nekro 
loge“ weder auf Lager, noch läßt er fie im Fabrikbetrieb herſtellen. Inzwiſchen wird 
eine Studie des Freiherrn Alfred von Berger, des bekannten Leiters vom Hamburger Schau- 
ſpielhauſe, in der „Neuen Freien Preſſe“ intereſſieren. Daß fie die Gold- und Roſafarben etwas 
reichlich, etwas ſehr reichlich ſogar aufträgt, kann den Türmer um ſo weniger hindern, das Bild 
hier wiederzugeben, als er fich ja eine ſelbſtändige Charakteriſtik des Fürften ausdrücklich vorbehält. 
Von jedem Menſchen, der in der großen Öffentlichkeit ſteht, ſchreibt Herr von Berger, 
entwickelt ſich in den Köpfen der Zeitgenoſſen ein Bild ſeiner inneren Perſönlichkeit, welches 
von naiven Leuten für ein getreues, das Weſen des Menſchen erſchöpfendes Charatterportrat 
gehalten wird. Dieſes Bild läßt fih vergleichen den mehr oder minder karikierten phyſiognomi- 
ſchen Abbreviaturen feiner äußeren Erſcheinung — zeichneriſche Sigel möchte ich fie mit einem 
der Stenographie entlehnten Gleichnis nennen —, welche in den Witzblättern figurieren. 
Diefe werden der Hand des Zeichners ſchließlich fo geläufig, daß fie ſich, wie ein Namenszug, 
mit einem einzigen ſchnellen, ineinandergeſchlungenen Bleiſtiftſtrich aufs Papier werfen laſſen. 
Bismarck war mittels des Rundbogens der kahlen Schädelkuppel, der berühmten drei Haare, 
der Säcke unter den Augen, der dicken Brauen und des ſtruppigen Schnurrbartes von jedem 
Geũbten im Nu zum Sprechen ähnlich zu treffen — man denke: Bismarck, deffen von unerſchöpf⸗ 
licher Ausdrudsfülle beſeelte Züge Lenbach nur in jahrelangen, mit der Treue wahrer Begeiſte- 
rung gepflogenen Bemühungen zu entziffern und teilweiſe wiederzugeben vermochte! Auch 
das Charakteriſtiſche der Erſcheinung Bülows hat der journaliſtiſche Impreſſionismus längſt in 
einem zeichneriſchen Vonmot feſtzuhalten verſucht. Dieſes beruht auf dem geſcheitelten, an 
den Schläfen glatt anliegenden Haar, dem Lächelngrübchen in den vollen Wangen und der 
weichen Spaltung des rundlichen Kinns. Sieht Fürſt Bülow wirklich ſo aus? Gewiß iſt er in 
ſeinen Karikaturen auf den erſten Blick zu erkennen, wenn auch die Natur ſeinen Kopf nicht, 
wie den Bismarcks, in monumentalen Zügen, welche die Karikatur nur zu unterſtreichen brauchte, 
modelliert hat. Aber wer dem Reichskanzler jemals in angeregter Unterhaltung über nicht ganz 
gleichgültige Gegenftände gegenübergefeffen hat, der mußte gewahren, daß Geift und Tempera- 
ment in dieſem für gewöhnlich fo höflichen und verbindlichen Antlitz in gar eigenartiger Weife 
ſpielten und Ausdrucksnuancen darin hervorlockten, welche mit ein paar talentvollen Strichen 
nicht zu erhaſchen find; wenn ihn der Gegenſtand innerlich berührt, dann erlöſchen die freund- 
lichen Grüͤbchen, dann blinkt etwas Stählernes und Ourchdringendes in den Augen, das Geſicht, 
das ſonſt nur der Außenwelt zuzulächeln ſcheint, bekommt einen tiefernſten, nach innen getehr- 


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Ein Charakterbild des Fürften Bülow 617 


ten Ausdruck, und auch das ſonſt auf einſchmeichelndes Salongeplauder geſtimmte Sprech- 
organ hat auf einmal einen anderen Aang... Fürſt Bülow hat auch feinen mimiſchen Nerven- 
apparat zu ſehr in der Gewalt, als daß es bei ihm jemals, wie bei Bismarck, zu urdramatiſchen, 
wie von Shakeſpeare gedichteten Ausbrüchen kommen könnte; aber ein Moment wirklicher 
innerer Bewegung genügt dem nicht ganz ſtumpfen Beobachter, um die landesübliche Rari- 
katur Bülows Lügen zu ſtrafen. 

Für noch viel falſcher halte ich ſein im Publikum legendär gewordenes Charakterbild. 
Seine „geſchmeidigen Umgangsformen“, ſeine „Liebenswürdigkeit“, ſeine „geiſtige Kultur“, 
feine vielbeſprochenen Zitate, das alles find nur die Lächelgrübchen feines geiſtigen Antlitzes; 
keine Maske zwar, die er bewußt vornimmt, um die ihr hart widerſprechende Wahrheit dahinter 
zu verſtecken, denn ſeine angenehme, gewinnende Art, ſich zu geben, hängt, wie ſein lächelnder 
Ausdruck, mit ſeinem inneren Weſen lebendig zuſammen, aber doch etwas, was nur einen Teil 
deſſen, was in ihm iſt, offenbart. Fürſt Bülow iſt ein feiner und bedeutender Menſchenkenner, 
das weiß ich aus zahlreichen Beiſpielen, aber er ſelbſt ift febr ſchwer zu kennen. Obwohl er ge- 
ſprächig und mitteilſam ift, hatte ich von ihm immer den Eindruck, daß er ein großer, febr großer 
Schweiger iſt. Die größten Schweiger ſind überhaupt nicht die ſtummen, ſondern jene, die viel 
reden; denn denen merkt man es nicht an, wie tief ſie ſchweigen. Wer weiß, ob Fürſt Bülow in 
die innerſte Geheimwerkſtätte ſeiner Gedanken, wo er ſeine endgültigen Urteile bildet und ſeine 
Entſchließungen zuſchleift, überhaupt jemals einem fremden Auge Einblicke geſtattet? Es iſt 
etwas an ihm, was an den Turm ohne Fenſter und Pforte, deſſen Beſatzung Flügel haben müßte, 
erinnert, mit welchem Herzog Alba im „Egmont“ verglichen wird, wobei man freilich alle Ge- 
danken an das finſtere Weſen und die feierliche Verſchloſſenheit des Toledaners verbannen muß. 
So ein Turm muß nicht notwendigerweiſe düſter und unzugänglich ausſehen; er kann mit 
einladend blühenden Kletterroſen hoch hinauf überſponnen ſein, die gar nicht bemerken laſſen, 
daß er weder Türen noch Fenſter hat, wenigſtens keine, durch die man hineinſehen kann. Fürſt 
Bülow ſcheint ſtets geneigt, achtungsvoll und freundlich, ja beinahe zuſtimmend zuzuhören und 
ſeine eigenen Meinungen offen zu entwickeln. 

Er verſteht es, mit jenem Ausdruck intimſten Verſtändniſſes zuzuhören, der auch zurüde 
haltende Naturen zum Sprechen animiert, hin und wieder entwiſcht ihm, wie unwillkürlich, 
ein: „Das iſt ſehr fein, was Sie da bemerken“, und fein Lächeln ijt dann etwas anders als fein 
gewöhnliches Lächeln. Es iſt wie das eines Arztes, der bei der Unterfudung ſeine vorher im 
ſtillen gefaßte Diagnoſe beſtätigt findet. Es läßt ahnen, daß er nicht nur zugehört, ſondern über 
den, der zu ihm ſpricht, und die Gründe, warum er ſo und nicht anders ſpricht, ſich im Zuhören 
fein Urteil bildet. Mancher mag ihn ſchon verlaſſen haben mit dem Gefühl, den Reichskanzler 
überzeugt und gewonnen zu haben, ohne es ſich träumen zu laſſen, daß er ihm nur Stoff und 
Gründe zur Feſtigung feiner eigenen, gänzlich abweichenden Anſicht geliefert hat. Fürſt Bülow 
findet lebhafte Freude daran, geiſtreiche Worte zu hören und zu ſprechen, aber ich glaube nicht, 
daß er fein Urteil jemals durch das Blendende eines geiſtreichen Aperçus hat beirren laffen. 
Er hat eine Eigenſchaft, die mir, dem die Phantaſie, die mir in meinem Beruf dient, im Leben 
gelegentlich noch immer einen Streich ſpielt, ſtets beſonders imponiert hat: die Fähigkeit, beim 
Erfaſſen und Beurteilen einer Situation (und nicht nur einer politiſchen) die verfälſchenden, 
die Erkenntnis verwirrenden Einflüffe des Gefühls und des Widerſcheins, der Phantaſie, aus- 
zuſchalten und die Dinge vollkommen zu ſehen, wie ſie ſind, und vorherzuſagen, wie ſie kommen 
werden. Er weiß bei anſcheinend hochgeſpannten Situationen jene ebenſo unwahrſcheinlichen 
als, wenn fie eingetreten find, bis zur Banalität ſelbſtverſtändlichen Entwicklungen und Aus- 
gänge voraus, wie ſie nie ein Poet erſinnen würde, ſondern nur die proſaiſche Wirklichkeit 
dichtet. Man hat ihn oft einen belletriſtiſchen, feuilletoniſtiſch angehauchten Redner genannt. 
Der Anſchein davon entſpringt ſeinem ſtarken Bedürfnis nach gewählter Form. Im Weſen 
aber kann niemand die ſchwierige Kunſt, die Dinge, wenn er will, ganz illuſionsfrei in ſcharf 


618 Ein Charakterbilb des Flirften Bülow 


umriſſener Deutlichkeit zu gewahren, virtuoſer beherrſchen als er. Nüchtern zu fein, wenn man 
es nicht fein muß, weil einem die Geiſteskräfte fehlen, welche zur Fllufion nötig find, ift eine 
ſehr wertvolle Gabe, um das Weltweſen zu durchſchauen. Dieſe Gabe macht den Fiirjten zum 
geborenen Berater. Mehr als einmal habe ich, ermutigt durch ſeine immer gleiche Freundſchaft, 
den mit einer ungeheuren Verantwortung belafteten Staatsmann bei folgenſchweren Ent- 
ſchließungen in meinem eigenen kleinen Leben um feinen Rat gebeten. So vor zehn Jahren, 
als mir die Direktion des Deutſchen Schauſpielhauſes zu Hamburg angeboten wurde. Noch 
` entfinne ich mich der Sicherheit, mit welcher er alle Für und Wider ergriff und gegeneinander 
abwog und ſchließlich das Ergebnis herausfolgerte, daß ich, fo namenlos ſchwer mir die Lren- 
nung von der Heimat wurde, annehmen müſſe. Fürſt Bülow liebt es, fih nach dem Diner im 
Rauchfalon mit feinen Gäſten in zwangloſem Geplauder über alles mögliche zu verbreiten. 
Immer aber, wenn das Geſpräch einen Gegenſtand berührte, der den Staatsmann intereſſierte, 
bemerkte ich, wie Folge und Vortrag ſeiner Gedanken ſich zu unerbittlicher logiſcher Strenge 
zuſammenzog, gleich einer ſonſt heiteren Stirne, die fid in ſinnende Falten legt. Ich kann mir 
vorſtellen, daß Fürſt Bülow auch als treuer Berater durch die eiſig objektive Klarheit, mit welcher 
er die Bilanz einer verwickelten Situation zieht, unheimlich, ja grauſam erſcheinen kann. Oft 
hörte man von ihm ſagen, ihm fehle die gewaltige Bismarck-Energie, die eiſerne Hand. Fehlt 
fie ihm wirklich? Ich habe die feſte Überzeugung, daß er, wenn Notwendigkeit und Pflicht es 
von ihm heiſchte, vor nichts guriidbeben würde. Sch halte ihn für völlig furchtlos, wenn er dies 
auch weniger durch eine Heldengebärde als dadurch an den Tag legt, daß er auch in außergewöhn- 
lichen Situationen, welche höchſt geſunde Wangen erblaſſen und feſte Nerven ſchlottern machen 
könnten, ſo iſt wie immer. Oft wurden ſeine glatten und einnehmenden Eigenſchaften gerühmt, 
um ihm die ſtarke Perſönlichkeit abſprechen zu können. Naturen, deren Grundzug ſelbſtloſe 
Sachlichkeit ift, laufen häufig Gefahr, fo beurteilt zu werden. Wenn Fürſt Bülow jemals heftige 
Leidenſchaften gehabt haben ſollte, ſo hat er ſich dazu erzogen, ſie als Beweggründe ſeines 
Handelns unwirkſam zu machen. Erworbene Gelaſſenheit, dieſe koſtbarſte Eigenſchaft fuͤr jeden 
praktiſch Wirkenden, iſt die Grundfarbe ſeines Temperaments. Das Publikum, im Leben und 
im Theater, hat für jene Art Stärke, die fih in den Hemmungen kundgibt, weniger Derjtänd- 
nis und Vorliebe als für die Stärke, die ſich in den leidenſchaftlich ausbrechenden Naturkräften 
der Seele zu offenbaren ſcheint. Einen Athleten der Selbſtbezwingung wird es immer für 
ſchwächer halten als den von übermächtiger Leidenſchaft Hingeriſſenen. Fürſt Bülow hat fei- 
nen Ehrgeiz, wenn er je welchen hatte, ganz und gar zum Trieb veredelt, ſeine Pflicht voll zu 
erfüllen. Der Rauſch des Machtgefühls hat ihm nie den Kopf benebelt. Vor allem ijt er völlig 
frei von Haß und Rachſucht. Ich habe ihn febr oft von feinen ſchärfſten Gegnern und erbittert- 
ſten Feinden mit der gerechteſten Schätzung ihrer Eigenſchaften und mit der menſchlichen Zeil- 
nahme für ihre perſönlichen Schickſale ſprechen hören; und das ohne alle Affektion und Poſe, 
nur vor der Fürſtin und mir, ſo natürlich und unbefangen, wie er ſeinem ſchwarzen Pudel 
Mohrchen und dem Teckel Erdmännle ſchöntat. Und er ſprach nicht nur ſo, er handelte auch in 
dieſem Sinne. Die Kardinaltugend ſeines Charakters iſt vielleicht die Gerechtigkeit, dieſe faſt 
mehr dem zntellekt als dem Herzen entſtammende, der Mathematik verwandte, kalt geſcholtene, 
echt Kantſche Tugend, die aber ſeltener und wertvoller iſt als manche glänzende Eigenſchaft, 
deren Beſitz den Ruf eines tiefen Gemütes zu verſchaffen pflegt. Auf tauſend gefühlvolle Gee- 
len kommt kaum ein gerechter Geiſt. 

Die ſtarke, tief in der nährenden Scholle der deutſchen Erde ruhende Wurzel der ſelbſt⸗ 
loſen Sachlichkeit Bülows, die Kraftquelle feines geſamten Weſens iſt feine unbegrenzte Liebe 
zum Vaterland und zum deutſchen Volk und die durch nichts erfciitterbare Anhänglichkeit und 
Treue für den Kaiſer und das Haus Hohenzollern. Er äußert diefe Gefühle nur in den aller- 
ſeltenſten Fällen in großen Worten, aber fie find für ihn die ſelbſtverſtändliche, dem Bereich 
der in ihm fo mächtigen Reflexion entrüdte Vorausſetzung all feines Tuns und Laſſens; auch der 


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Die Reform unferer Strafgerichte und unferes Strafverfahrens 619 


Anpaſſungsfähigkeit feines beweglichen, diplomatiſch geſchulten Kopfes an „die Forderung des 
Tages“, wie Goethe die Pflicht mit ſchlichtem Namen nennt. Man könnte fragen, ob die nad- 
drüdlihe Betonung des deutſchen Patriotismus und der preußiſchen Königstreue beſonders 
geeignet ift, um Bülows Charakterbild von dem anderer Perſönlichkeiten eigentümlich abzu- 
heben. Denn patriotiſch und loyal find fie ja bekanntlich alle innerhalb der ſchwarz-weißen 
wie der ſchwarz- gelben Grenzpfähle. Freilich mit dem Unterſchied, daß bei manchen die Ge- 
ſinnung nicht viel tiefer ins Weſen reicht, als der Olfarbanſtrich in das Holz beſagter Pfähle 
eindringt. Bülows Vaterlandsliebe und Königstreue ift ſchon etwas, was man nicht alle Tage 
und nicht unter jedem beſternten Frack oder Uniformrod vorfindet. Dieſe Geſinnungen find 
bei ihm Weſenskern und Mark. Wie ein echter Jeſuit der Kirche, mit welchem Vergleich er 
nicht etwa beim Zentrum eingeſchmeichelt werden ſoll, gehört Fürſt Bülow mit Haut und 
Haar, mit jedem Pulsſchlag und Gedanken dem Kaiſer, dem deutſchen Volk und dem Reich. 
Die Empfindung, daß Fürjt Bülow fo ift, ift die Grundlage des Vertrauens, das er in breiten, 
von Parteileidenſchaften nicht erregten Schichten des Volkes genießt und das er ins Privat- 
leben mit fih nimmt. Für ſehr viele gute Oeutſche — ich weiß das aus zahlloſen Äußerungen, 
die ich ſelbſt gehört habe — war der Gedanke, daß Fuͤrſt Bülow Reichskanzler ift, eine Quelle 
der Beruhigung, und wenn er es nicht mehr iſt, wird es der Gedanke fein, daß in Rom, in Flott- 
beck oder in Norderney ein ſolcher Mann lebt, den man holen kann, wenn man ſeiner bedarf. 
Fürſt Bülow gehört zu jenen Perſönlichkeiten, deren Wert ſtärker empfunden wird, wenn fie 
fehlen, als wenn man ſie beſitzt. 

Wie wird der Fürſt ſich ins Privatleben finden? Ich glaube, gut. Die Wahrheit des 
Wortes, daß man von jedem Thron wie ins Grab ſteigt, wird auch er fühlen, wenn er das Haus 
in der Wilhelmſtraße endgültig verläßt; auch iſt die Trennung vom Amt, wenn Mann und Amt 
aus einem Stück find, etwas weſentlich anderes als der Abſchied von einer nur durch lebenslange 
Gewohnheit ſchier unentbehrlich gewordenen Tätigkeit. Aber ich glaube, die ſchwer erworbene 
Kunſt und Kraft der Entſagung, die Fürſt Bülow üben mußte, um zehn Fabre lang deutſcher 
Reichskanzler zu ſein, wird ihn nicht im Stiche laſſen, wenn es gilt, nicht mehr Reichskanzler 
zu ſein. Der Gefahr, welcher ſelbſt Bismarcks Genie nicht ganz entrinnen konnte, daß ſeine 
Kräfte, denen ihr Stoff und Gegenſtand weggekommen iſt, im Leeren arbeitend, ihm die Muße 
zur Pein machen, wird Fuͤrſt Bülow nicht erliegen. Wie er in den letzten Jahren mit der Fürftin 
den äußeren Rahmen der künftigen Lebensführung weiſe und ſorgfältig vorbereitet hat, jo be- 
ſitzt er gewiß auch ſchon heute den Inhalt, welchen er den geräumigen Tagen der Muße geben 
wird. Wenige Menſchen haben ſo viele Hilfsquellen edelſter Lebensfreude in ſich ſelbſt wie das 
Fuͤrſtenpaar Bülow. Ich habe den Fürften niemals beneidet, ſolange er Reichskanzler war, 
aber ich geſtehe, jetzt könnte ich ihn beneiden. Wie in feinen früheren Zeiten, in welchen er ſich 
ſeine gediegene geiſtige Kultur ſchuf, kann er jetzt wieder frei in der Welt des Geiſtes leben, 
aus der er als Reichskanzler nur hin und wieder eine duftige Blüte als Zitat im Knopfloch trug. 


* 


Die Reform unſerer Strafgerichte und unſeres 
Strafverfahrens 


as lang Erwartete, endlich iſt es Ereignis geworden, die verbündeten Regierungen 

veröffentlichten den Entwurf zur Abänderung des Gerichtsverfaſſungsgeſetzes und 
den fünfhundert Paragraphen umfaſſenden Entwurf einer neuen Strafprozeß- 
ordnung nebſt einer annähernd vierhundert Seiten Folio umfaſſenden amtlichen Begründung. 
Dieſe beginnt mit dem offenen und deshalb beſonders ſympathiſchen Eingeſtändniſſe, daß von 


620 Die Reform unferer Strafgeridte und unferes Strafverfahrens 


allen Reichsjuſtizgeſetzen des Jahres 1877 die Strafprozeßordnung am wenigſten befriedigt 
habe. In der Tat begannen die Klagen faſt mit dem Tage, an dem fie in das Leben trat, nab- 
men an Heftigkeit von Jahr zu Jahr zu und wollten bis auf den heutigen Tag nicht verſtummen. 
Den Hauptausgangspunkt der Reformbeſtrebungen bildete die Überzeugung von der unbeding- 
ten Notwendigkeit der Einführung der Berufung gegen die Urteile der mittleren Strafgerichte, 
d. h. der ausſchließlich mit gelehrten Berufsrichtern beſetzten Strafkammern an den Landgerid- 
ten. Heute können dieſe Urteile bekanntlich nur mit dem ſehr eingeſchränkten Rechtsbehelfe 
der Revifion beim Reichsgerichte angegriffen werden. Die Überzeugung von der Notwendig- 
keit der Berufung iſt niemals in den weiteſten Volkskreiſen geſchwunden, zurzeit hat ſie — ſo 
muß die erwähnte amtliche Begründung unumwunden einräumen — derart an Boden ge- 
wonnen, „daß man ihre Zulaſſung .. . als eine faſt allgemeine Forderung der öffentlichen Mei- 
nung bezeichnen muß“. Bald trat eine immer wachſende Zahl weiterer Reformvorſchlaͤge 
hervor: die Zuziehung der Laien zu allen Inſtanzen der Strafgerichte, alſo namentlich bei den 
Strafkammern, die Reform oder die gänzliche Beſeitigung der Vorunterſuchung wurde leb- 
haft erörtert, man verlangte Hebung der Stellung der Verteidigung, Einſchränkung des gefeb- 
lichen Zwanges zur Strafverfolgung, der Zeugnispflicht und der Eidesleiſtung namentlich in 
Bagatellſachen, ſchließlich das Problem der Behandlung der Zugendlichen erregten die öffent- 
liche Meinung lebhaft. Mit Rückſicht auf den Widerſtreit der Meinungen, der ſich bei vielen 
grundlegenden Fragen in der öffentlichen Diskuſſion bemerkbar machte, berief die Regierung 
im Jahre 1903 eine Rommiffion zur Beratung der Reform des Strafprozeſſes. Aus 2 Univerfi- 
tãtslehrern, 10 Richtern, 4 Staatsanwälten und 5 Rechtsanwälten beſtehend, begann fie ihre 
Beratungen am 10. Februar 1903 und beendete fie am 1. April 1905. Ihre Verhandlungen 
und Beſchlüſſe, niedergelegt in zwei ſtarken Bänden Protokolle, und die ſehr reiche Kritik, die 
diefe in der Tages- wie Fachpreſſe ſowie in juriſtiſchen Vereinigungen fanden, bilden die Grund- 
lage der jetzt veröffentlichten Entwürfe, 

Die wichtigſte Neuerung in der Organiſation der Strafgerichte wird 
die Zuziehung der Laien auch zu den Strafkammern bilden. Sie ſollen in der Beſetzung von 
2 Berufsrichtern und 3 Schöffen entſcheiden. Damit ift der dringlichſten Forderung der öffent- 
lichen Meinung über die Reform unſerer Strafgerichte Genüge getan. Die Mitwirkung der 
Laien bei der Strafrechtspflege bietet fo große und bei einer unbefangenen Prüfung als aus 
ſchlaggebend anzuerkennende Vorteile dar, daß alle etwaigen Bedenken gegen ihre Zuziehung 
verſtummen müffen. Auch die amtliche Begründung räumt denn unumwunden ein: „Nach 
den unter der Herrſchaft der Neichsjuſtizgeſetze gemachten Erfahrungen haben die Schöffen 
gerichte ihre Aufgabe in befriedigender Weiſe gelöſt. Sie haben außer Zweifel geſetzt, daß die 
Mitwirkung der Laien für die Aufklärung des Sachverhaltes wie für die Beurteilung der feft- 
geſtellten Straftat eine wertvolle Hilfe bietet .. Es ift anzuerkennen, daß die Schöffen auf 
dem Gebiete des täglichen Lebens Erfahrungen mitbringen, die dem Richter in gleichem Maße 
nicht immer eigen ſind. Sie können durch die Kenntnis perſönlicher und örtlicher Verhältniſſe, 
insbeſondere der Ausdrucksweiſe der Bevölkerung, mitunter auch durch ihre Bekanntſchaft mit 
örtlichen oder beruflichen Anſchauungen und Gewohnheiten den Richtern wertvolle Auftlä- 
rungen geben und bei der Urteilsfällung zu einer dem Volksempfinden entſprechenden Ent- 
ſcheidung beitragen.“ Hoffentlich wird dann in Zukunft zufolge der Beteiligung der Laien an 
den Strafkammern die vielverbreitete und in manchen Fällen gewiß nicht unberechtigte Mik- 
ſtimmung und das Mißtrauen gegen die mitunter weltfremde und zu harte Rechtſprechung 
der Strafkammern verſchwinden. Hält man ſich diefe unſtreitigen und von der amtlichen Be- 
gründung ſelber mit den oben wiedergegebenen Worten warm anerkannten Vorzüge einer 
Mitwirkung der Laien vor Augen, fo erſcheint es geradezu als befremdlich, daß in der Berufungs- 
inſtanz, die der Entwurf gegen die erſtinſtanzlichen Strafkammerurteile löblicherweiſe nach dem 
Vorgange der Militärftrafgerichtsordnung vom 1. Dezember 1898 einführen will, lediglich ge 


Die Reform unferer Strafgerichte und unſeres Strafverfahrens 621 


lehrte Berufsrichter entſcheiden ſollen. Eine leidige Halbheit und Inkonſequenz, was man mit 
der einen Hand ſpendet, nimmt man wieder mit der anderen. Schwerlich vermögen die zur 
Begründung hierfür von der Regierung angeführten Erwägungen, auch im Auslande ſei eine 
Mitwirkung der Laien in der Berufungsinſtanz im Strafverfahren unbekannt, fo namentlich 
in England, und weiter würden ſich namentlich in den öſtlichen Provinzen Preußens einfach 
nicht ausreichende Schöffen ausfindig machen laffen, zu überzeugen. Hat man einmal eine Maß- 
regel als heilſam und ſegensreich erkannt, ſo iſt nicht einzuſehen, weshalb der Umſtand, daß 
man im Auslande mit ihrer unumſchränkten Durchführung noch nicht Ernſt gemacht hat, ihrer 
völligen Verwirklichung im Wege ſtehen ſoll. Den zweiten Einwand, es fehle an geeignetem 
Materiale für die Schöffen in der Berufungsinſtanz in den öſtlichen Provinzen Preußens, 
können wir auf Grund unferer eigenen Erfahrungen im Often der Monarchie nicht für begrün- 
det erachten. Der Bezirk eines Landgerichts, an das grundſätzlich die Berufungsſenate ange- 
gliedert werden follen, ift gerade in der Oſtmark fo groß, daß ſehr wohl aus den im Durchſchnitt 
etwa reichlich eine Viertelmillion betragenden Gerichtseingeſeſſenen die zur Auswahl in Betracht 
kommenden geeigneten paar Dutzend Schöffen ausfindig gemacht werden könnten. So unter- 
liegt das Laienelemeni doch wieder der Kontrolle der Berufsrichter, und alle Urteile, die irgend- 
wie das Mißfallen der Anklagebehörde gefunden haben, können ohne weiteres an die nur mit 
Fachjuriſten beſetzten Berufungsſenate gebracht werden. So läßt ſich der Gedanke nicht ganz 
von der Hand weiſen, daß ſchließlich die Mitwirkung der Laien nicht viel mehr als eine Staffage 
und ſchöne Dekoration bilden werde. In dieſer Befürchtung verſtärkt den kritiſchen Beurteiler 
erheblich die Erwägung, daß über die Berufungen gegen die Urteile der Schöffengerichte ebenſo 
wie heute auch in Zukunft nur Berufsrichter entſcheiden ſollen. Der Entwurf bedeutet hier 
ſogar gegenüber dem bisherigen Zuſtande eine direkte Verſchlechterung inſofern, als in Zukunft 
die Berufungsſtrafkammer am Landgericht ſtets und nicht nur in Übertretungs- und Privat- 
klageſachen in der Beſetzung von 3 Richtern entſcheiden ſoll. Daß auf die Weiſe dem Angellag- 
ten zwei Richter entzogen werden follen, ift um fo bedenklicher, als nach dem Entwurfe die Zu- 
ſtändigkeit der Schöffengerichte durch Zuweiſung einer ganzen Reihe von Vergehen und ſelbſt 
der Verbrechen des Diebſtahls und des Betrugs in wiederholtem Rüdfalle, für deren Aburteilung 
bisher die Strafkammern zuſtändig waren, eine weſentliche Erweiterung erfahren foll. Es 
mag zugegeben werden, daß die Garantien einer guten Rechtſprechung nicht unbedingt in einer 
Häufung der Richterzahl zu beſtehen brauchen, aber mißlich in hohem Grade bleibt es immer, 
die Anzahl der Mitglieder eines Gerichtskörpers, an die das Volk ſeit Jahrzehnten gewöhnt iſt, 
ohne zwingenden Grund herabzuſetzen. Geradezu peinlich aber muß es wirken, wenn die amt- 
liche Begründung (S. 149) dieſe Neuerung nur mit fiskaliſchen Erwägungen, nämlich mit der 
Erſparnis von Richterkräften zu rechtfertigen ſucht. Solche Momente follten bei Geſtaltung der 
Rechtspflege, am meiſten aber in der Strafrechtspflege überhaupt gar nicht in Betracht gezogen 
werden dürfen. 

Die Vorſchriften über die Schöffengerichte bei den Amtsgerichten ſind im ganzen und 
großen unverändert geblieben. Nur ſoll zur Entlaſtung der Laienrichter von Bagatellſachen 
künftig der Amtsrichter ohne Zuziehung von Schöffen in allen Übertretungen, d. h. bei allen 
den Delitten, die nur mit Haft oder Geldſtrafe bis zu höchſtens 150 M bedroht find, und bei 
einigen leichten Vergehen Recht ſprechen. Man wird dieſem Vorſchlag unbedenklich zuſtimmen 
können, denn einmal empfinden die Schöffen ihre Mitwirkung bei ſolchen wenig wichtigen 
Sachen ſelber eher als Beläſtigung denn als Auszeichnung, und ferner bietet die Ermittelung 
des Sachverhaltes kaum irgendwie Schwierigkeiten, dieſe liegen faſt ſtets auf rein juriſtiſchem 
Gebiete und ſetzen ſehr häufig — man denke etwa an die Frage der Rechtsgültigkeit einer 
Polizeiverordnung — ſehr eingehende rechtliche Spezialkenntniſſe namentlich auf dem Ge⸗ 
biete des Staats- und Verwaltungsrechtes voraus. 

Faſt gänzlich unberührt ſind weiter die Schwurgerichte geblieben. Wir geſtehen auf die 


622 Die Reform unferer Strafgerichte und unferes Strafverfahrens 


Gefahr hin, vom Türmer oder feinem Leſerkreiſe deshalb herben Tadel zu empfangen, daß 
uns deren bisherige Organiſation dringend reformbedürftig erſcheint. Die bisherige völlige 
Zerſpaltung des Gerichts in die Geſchworenenbank, die lediglich auf die Feſtſtellung der Schuld- 
frage angewieſen iſt, und in den aus drei gelehrten Richtern beſtehenden Gerichtshof, der nur 
die Höhe der Strafe beſtimmt, hat zu fo vielen Mißverſtändniſſen und Mißgriffen der Gefchwore- 
nen geführt, daß uns die Ausgeſtaltung oder richtiger noch die Umwandelung der Schwurgerichte 
in große Schöffengerichte, wie ſie ſchon der Friedbergſche Entwurf im Jahre 1877 und 1904 
auch die Strafprozeßkommiſſion vorgeſehen hatten, unabweisbares Bedürfnis erſcheint. Die 
Schuldfragen, über welche die keinerlei rechtliche Schulung beſitzenden Geſchworenen urteilen 
follen, find oft fo ſchwerer Art — man denke etwa nur an den fo ſchwierigen „Urſachenbegriff“ 
und die „öffentliche Urkunde“ —, daß trotz eingehender Rechtsbelehrung des befähigteſten Bor- 
ſitzenden Fehlgriffe faſt unvermeidlich ſind. Eine gemeinſame Beratung der Geſchworenen, 
deren Zahl etwa auf 9 herabzuſetzen wäre, und der A Berufsrichter würde all dieſen Ungutrag- 
lichkeiten vorbeugen, und ein harmoniſches Zuſammenwirken von Laien und Berufsrichtern 
würde dem Zntereſſe des Angeklagten und der Allgemeinheit nur dienlich fein. All die Vorzüge 
der Beteiligung des Laienelementes an der Strafrechtſprechung, die wir oben geſchildert haben, 
würden jetzt erſt voll zur Geltung gelangen können. Dann entfiele auch die wahre Ungeheuer 
lichkeit, daß der Spruch der Geſchworenen, ſelbſt wenn er die Tat des Angeklagten als Mord 
charakteriſiert, niemals mit Gründen verſehen zu ſein braucht. Während bei einem Verſtoß 
gegen irgendeine gleihgültige Polizeiverordnung die deshalb ergehende Beſtrafung zu ein 
paar Mark Geldſtrafe einer oft ſehr eingehenden Begründung bedarf und eine ſolche auch 
erhält, fo vernimmt der wegen Mordes von den Geſchworenen verurteilte Verbrecher be- 
kanntlich weiter nichts von dem die Todesſtrafe verkündenden gelehrten Gerichtshof der 
3 Richter, als daß er zufolge des Wahrſpruches der Geſchworenen nach § 211 StGB. mit 
dem Tode beſtraft worden ſei. Schwerlich wird man dies rechtfertigen oder gar begründen 
können, es fel denn, daß man zwölf zufällig als Geſchworene zuſammengekommene Männer 
für unfehlbar und ihre Stimme als ungetrübtes Gottesurteil bezeichnen wolle, wozu 
man ſchwerlich Luft und Anlaß verſpüren wird. Auch dieſen ſchweren Übelftand würde 
eine Umgeſtaltung der Schwurgerichte in Schöffengerichte von Grund aus beſeitigen, 
erſt dann wird dem Verbrecher ſein Recht bei einer Verurteilung wahrhaft zuteil, d. h. 
er erfährt, weshalb und warum er verurteilt iſt; das heutige Verfahren prellt ihn darum. 
Selbſtredend hat dieſe Mitwirkung der Berufsrichter an dem Zuſtandekommen des Schuld- 
ſpruches zur Vorausſetzung wie zur Folge, daß die Geſchworenen nun ihrerſeits auch bei der 
Feſtſetzung der Strafe ſelbſt beteiligt ſind. Auch die politiſchen Gründe, die man — mit Recht 
oder Unrecht, das bleibe hier ganz dahingeſtellt — öfter für die Notwendigkeit der Schwurgerichte 
angeführt hat und wohl auch vereinzelt noch anführt, würden bei einem bedeutenden Vor- 
wiegen des Laienelementes bei den „großen Schöffengerichten“ (die an die Stelle der Schwur- 
gerichte zu treten hätten), ſo wie wir es hier vorſchlagen, wegfallen. Daß die Geſchworenen 
übrigens ſtets in der Geſchichte objektiv geurteilt und als unbefangene Hüter der Volksrechte 
ſich bewährt hätten, iſt eine durchaus irrige Vorſtellung. 

Die Vorſchriften über die Schöffen und Geſchworenen haben weſentliche Anderungen 
gegenũber dem bisherigen Rechte nicht erfahren. Freudig zu begrüßen iſt hier die eine ſehr 
wichtige Neuerung, daß endlich den Laienrichtern Tagegelder, deren Höhe zu beſtimmen dem 
Bundesrate überlaſſen bleibt, gewährt werden ſollen. Erſt ſo wird es möglich ſein, unſeren 
Schöffen - und Geſchworenengerichten den Charakter von Klaſſen- und Standesgerichten der 
wohlhabenden Volksſchichten, den fie bisher vorwiegend beſaßen, zu nehmen. Mit erfreu- 
licher Offenheit geſteht die amtliche Begründung es zu, „das bisherige Recht hat zu dem un- 
erwüͤnſchten Zuſtande geführt, daß wenig bemittelte Perſonen von dem Laienrichteramte aus- 
geſchloſſen wurden, obwohl fie an fih hierzu ſehr wohl geeignet waren. Es liegt aber im Inter- 


Die Reform unferer Strafgerichte und unferes Strafverfahrens 623 


effe des Anſehens der Rechtspflege, daß die Ausübung des Laienrichtertums allen dazu fähigen 
Perſonen ermöglicht wird, auch wenn fie nicht in der Lage find, eine Vermögenseinbuße dafür 
zu tragen.“ Hoffentlich werden nun auch in Beherzigung dieſer wahrhaft goldenen Worte 
die einzelnen Juſtizverwaltungsbehörden bei der Aufſtellung der Liften zu den Schöffen und 
Geſchworenenämtern — die Vorſchriften hierüber ſind im weſentlichen unverändert geblieben — 
alle Bevölkerungsſchichten ohne Rückſicht auf Konfeſſion und Partei in gleicher Weiſe be- 
denken und nicht etwa, wie leider bisher in vielen Gebietsteilen, die handarbeitenden Schichten 
ausſchließen. Als ſehr bedauerlich und im offenen Widerſpruche mit den obigen Auslaſſungen 
der amtlichen Begründung ſtehend muß es bezeichnet werden, daß nach wie vor von dem Amt 
eines Laienrichters die Volksſchullehrer ausgeſchloſſen bleiben ſollen. Man fragt ſich vergebens 
nach dem „Geſetze vom zureichenden Grunde“ für eine ſolche Degradierung eines ganzen höͤchſt 
achtenswerten und für die Volksbildung hoch verdienten Standes zu Staatsbürgern zweiter Klaſſe. 
Kaum ein anderer Beruf ſteht zufolge feines Rekrutierungsgebietes und feiner dienſtlichen Tätig- 
keit dem Volke ſo nahe als der Volksſchullehrer, durch deſſen Ausbildung der allergrößte Teil 
unferer Jugend hindurchwandert. Er fteht den Nöten des arbeitenden Mannes und den Trieb- 
federn, die ihn zu einem Fehltritt brachten, beſonders nahe, er kennt das häusliche Elend, den 
Schmutz und all die Häßlichkeiten, in denen und aus denen heraus die verbrecheriſche Tat reifte, 
beſonders gut, ſo gut wie, vom Arzte abgeſehen, wohl kein zweiter; ſollte er nicht deshalb ein 
ganz beſonders qualifizierter Laienrichter werden? Man fragt: Womit hat der Volksſchullehrer 
dieſe Zurückſetzung und Kränkung verdient? Die Antwort der amtlichen Begründung S. 177, 
die Intereſſen der Schulverwaltung forderten die Aufrechterhaltung dieſes Verbotes, kann 
unmöglich genügen; wie leicht kann ſelbſt in den Landſchulen vorher für einen Erfah ge- 
ſorgt werden, im ſchlimmſten Falle wäre es auch kein Unglück, wenn bei der vielleicht dreimal 


im ganzen Jahre erfolgenden Einberufung des einen Lehrers zum Amte eines Schöffen oder 


Geſchworenen der Unterricht eben ausfiele. 

In dieſem Zuſammenhange der Bildung der Strafgerichte fet auch gleich hervorgehoben, 
daß für die Vergehungen der Jugendlichen beſondere Gerichte, „Jugendgerichte“, und ein be- 
ſonderes Strafverfahren vorgeſehen werden. Damit find die Wünſche, die wir in unſerem Auf- 
jak über die Reform des Strafrechts im Julihefte des Türmers 1908 ausgeſprochen hatten, 
raſcher, als wir es gedacht hatten, in geſetzgeberiſche Vorſchläge umgearbeitet worden. Der 
heutige Zuſtand, wonach jeder Jugendliche, wenn er nur die zur Erkenntnis der Strafbarkeit 
feines Tuns erforderliche Einſicht beſeſſen hat, verurteilt werden muß, trägt dem Umſtande nicht 
Rechnung, daß Straftaten Jugendlicher ſehr oft nur auf mangelnde Erziehung zuruckzufuhren 
find, und daß dann durch ſtaatliche Einwirkung auf die Erziehung dem allgemeinen Zntereſſe 
meiſtens beffer gedient wird als durch Beſtrafung. Die Vorlage verfolgt mit Recht das Ziel, 
da, wo Erziehungsmaßregeln am Platze find, eine Beſtrafung der Jugendlichen ganz zu ver- 
meiden. Oer ſtraffällige Jugendliche foll in Zukunft, grundſätzlich wo dieſes der Fali ift, 
nicht vor den Strafrichter, ſondern vor den Vormundſchaftsrichter gebracht werden. um 
das zu ermöglichen, kann in Zukunft der Staatsanwalt bei allen Straftaten der Perſonen 
zwiſchen zwölf und achtzehn Jahren, alfo auch bei Verbrechen, von der Erhebung der 
öffentlichen Klage abſehen, wenn deſſen Beſtrafung nicht im öffentlichen Intereſſe liegt, er 
hat alsdann die Akten dem Vormundſchaftsgerichte vorzulegen. Erachtet dieſes den Jugend- 
lichen der ihm zur Laſt gelegten Tat für ſchuldig, ſo hat es entweder eine Mahnung gegen 
ihn auszuſprechen oder ihn der Zucht feines Vaters oder Vormundes oder einer Er- 
ziehungsbehörde oder der Schulbehörde zu überweiſen. Aber auch nach Erhebung der An- 
klage kann das Jugendgericht, wenn es nach der Beſchaffenheit der Tat, dem Charakter 
und der bisherigen Führung des Täters anſtatt einer Strafe Erziehungs- oder Beſſerungs⸗ 
maßregeln für ausreichend erachtet, diefe anordnen. In allen Strafſachen foll ferner dem Jugend- 
lichen ein Verteidiger oder Beiſtand beſtellt werden. Die Hauptverhandlung gegen ihn ſoll 


624 Die Reform unferer Strafgerichte und unferes Sttafverfahrens 


von den Verhandlungen gegen Erwachſene derart geſondert werden, daß eine Berührung mit 
den erwachſenen Angeklagten möglichit vermieden wird, die Öffentlichkeit kann nach dem Er- 
meſſen des Gerichts ganz oder teilweiſe aufgehoben werden, endlich foll eine Unterfuchungs- 
haft nur ganz ausnahmsweiſe vollſtreckt werden, wenn fih deren Zweck nicht durch andere Naß 
nahmen, namentlich durch Unterbringung in einer Erziehungsanſtalt, erreichen läßt. Gelangt 
fie zur Vollſtreckung, fo foll der Jugendliche nicht in demſelben Raume mit erwachſenen Ge- 
fangenen zuſammengebracht werden, es jet denn, daß fein geiſtiger oder körperlicher Suftand 
ein anderes erfordert. Aber die Str af vollftredung finden ſich leider entſprechende Bor- 
ſchriften in dem Entwurfe nicht. 

Die Novelle zum Gerichts-Verfaſſungs-Geſetz ſchafft weiter die Möglichkeit, daß an 
einzelnen (im Regelfalle den größeren) Amtsgerichten durch Anordnungen der Landesjuftiz- 
verwaltung beſondere Abteilungen, Zugendgerichte gebildet werden. Zu Schöffen ſollen in 
erſter Linie Lehrer, Lehrherren, Mitglieder von Fürſorgevereinen oder ſonſtige Perſonen ge- 
wählt werden, die auf dem Gebiete der Jugenderziehung beſondere Erfahrung beſitzen. Nach 
den Abänderungen des Bundesrats follen bei den Jugendgerichten auch Volksſchullehrer zum 
Amte eines Schöffen befähigt ſein. Hier werden die meiſten Verbrechen der Jugendlichen 
zur Aburteilung gelangen, denn der Staatsanwalt foll auch wegen der an ſich zur Zuſtändig⸗ 
keit der Strafkammern der Landgerichte gehörigen Verbrechen dort Anklage erheben können. 

Was nun die für das eigentliche Strafverfahren geplanten Neuerungen betrifft, ſo 

will im Gegenſatz zu dem heutigen Rechte, wonach der Staatsanwalt verpflichtet iſt, wegen 
aller und jeder ſtrafbaren Handlungen die Anklage zu erheben, fie mögen noch fo gering- 
fügig fein, fog. „Legalitätsprinzip“, und eine Ausnahme nur für die im Wege der Privat- 
klage zu verfolgenden Vergehen der Beleidigungen und leichten Körperverletzungen zugelaſſen 
ijt, der Entwurf grundſätzlich in allen unweſentlichen Strafſachen den Staatsanwalt von 
dieſer Anklagepflicht befreien. Im einzelnen ſoll er von einem Einſchreiten abſehen können, 
wenn dieſes nur zu einer unweſentlichen Erhöhung einer dem Täter bereits wegen 
anderer Straftaten auferlegten oder in Ausſicht ſtehenden Strafe führen würde. Vor allem 
aber ſoll in Zukunft in allen den Sachen, die vor den Amtsgerichten ohne Zuziehung von Schöf- 
fen verhandelt werden, alſo namentlich bei Übertretungen, nur dann der Staatsanwalt die 
öffentliche Anklage erheben, wenn die Verfolgung wegen Geringfügigkeit der Verfehlung 
nicht geboten erſcheint. Bei dem einfachen Hausfriedensbruch, der gefährlichen Körperverletzung, 
der Bedrohung mit der Begehung eines Verbrechens und endlich bei der einfachen Sachbeſchädi⸗ 
gung foll der Staatsanwalt nnr dann Anklage erheben, wenn dies im öffentlichen Intereſſe 
liegt, ſonſt iſt der Verletzte auf die Privatklage verwieſen. 

Mit Recht hat fih die Mehrheit der deutſchen Zuriſtenwelt auf das ſchärfſte hiergegen 
ausgeſprochen. So ſympathiſch es auch an ſich erſcheinen mag, die Staatsanwaltſchaften und 
Gerichte nicht mit Kleinigkeiten zu überlaſten, ſo kann doch dieſer ſehr geringfügige Vorteil 
gegenüber den außerordentlichen Gefahren und Nachteilen nicht im leiſeſten in das Gewicht 
fallen. Was heißt öffentliches Intereſſe? Eine abſtrakte, allgemeine Gültigkeit beanſpruchende 
Erläuterung dieſes Begriffes wird ſich nie aufſtellen laſſen, es würde alſo in letzter Linie die 
höchſt ſubjektive Anſicht des jeweiligen Staatsanwalts darüber entſcheiden, ob im öffentlichen 
Intereſſe die Anklageerhebung geboten fei oder nicht. Eine außerordentlich erſchreckende Rechts · 
unficherheit würde die unvermeidliche Folge fein, in der einen Provinz würde Staatsanwalt K. 
bei einer gefährlichen Körperverletzung das öffentliche Intereſſe für eine Strafverfolgung als 
gegeben anſehen, in der anderen Provinz wird es Staatsanwalt Y. mit derſelben Gewißheit 
verneinen. Man erwidere auch nicht, daß hier ebenſo wie in den wichtigſten anderen Fallen 
der Verletzte die Möglichkeit der Privatklage habe, der Fall Moltke-Harden beweiſt jedem, 
der überhaupt ſich belehren laſſen will, klar und deutlich, eine wie außerordentlich vorteilhafte 
Stellung der Verletzte einnimmt, wenn der Staatsanwalt die öffentliche Anklage erhebt; nut 


Die Reform unſerer Strafgerichte und unferes Strafverfahrens 625 


dann ift er in der Lage, die Richtigkeit feiner Angaben als Zeuge eidlich zu erhärten, der Aus- 
gang des ganzen Prozeſſes hängt oft davon ab. Sicher wird auch der Staatsanwalt die Ent- 
ſcheidung, ob ein öffentliches Intereſſe vorliege oder nicht, nach beſtem Wiſſen und Gewiſſen 
treffen, aber die Gefahr eines Mißbrauches, die Möglichkeit, daß bei ſeiner Stellungnahme 
politiſche, religiöfe, geſeilſchaftliche, kurz das ganze Heer der nicht ſtreng ſachlichen Erwägungen 
mitſpiele, ift nicht ausgeſchloſſen, und das erſcheint namentlich in bewegten Zeiten um fo bedent- 
licher, als der Staatsanwalt als abhängiger Verwaltungsbeamter zum unbedingten Gehorſam 
gegenüber allen Weiſungen feiner Vorgeſetzten verpflichtet ift. Wir können deshalb den Aus- 
führungen der beiden bekannten Strafprozeſſualiſten Gerland (Jena) und Köhler (München) 
nur beiſtimmen, wenn fie auf dem 29. Deutſchen Juriſtentag in Karlsruhe am 11. Septem- 
ber 1908 jede Ourchbrechung des Legalitätsprinzips als eine Herbeiführung der Möglichkeit 


einer Klaſſenjuſtiz bezeichneten. Es ſollte doch auch dem begeiſtertſten Anhänger des „Oppor⸗ 


tunitätsprinzips“ zu denken Anlaß geben, wenn auf ebenderſelben Verſammlung zwei unferer 
bekannteſten Staatsanwälte, der Oberſtaatsanwalt Högel in Wien und Staatsanwalt Feifen- 
berger in Magdeburg dringend vor der Durchlöcherung des Legalitätsprinzips warnten, mit 
der höchſt bemerkenswerten Begründung, man mache damit der Staatsanwaltſchaft ein wahres 
Danaergefchent und man laſte ihr eine Aufgabe auf, der fie nicht gewachſen fei. Das Legalitäts- 
prinzip beſeitigen oder auch nur, wie es der Entwurf vorſchlägt, zu durchlöchern, hieße eine der 
wichtigſten Garantien für eine gleichmäßige, unabhängige Rechtſprechung, eine Vorausſetzung 
für das Vertrauen des Volkes in die Rechtſprechung ernſtlich erſchüttern. 

Einen weſentlichen Punkt der Reform bildet die Umgeftaltung des Vorverfahrens. 
In ihm ift nach dem heutigen Rechte die Stellung des Angeſchuldigten und auch feines etwaigen 
Verteidigers eine durchaus unbefriedigende und wenig geſchützte. Zunächſt braucht, wenn nicht 
ſpãter die Vorunterſuchung eröffnet wird, eine verantwortliche Vernehmung des Befchuldig- 
ten überhaupt nicht ſtattzufinden, und auch während der Vorunterſuchung iſt ihr Zeitpunkt 
dem Ermeſſen des Unterſuchungsrichters überlaſſen. Auch iſt die volle Bekanntſchaft des Be- 
ſchuldigten mit allen ihn belaſtenden Umftänden durchaus nicht genügend geſichert. Von dem 
Stande der Ermittelungen erhält er nicht genügend Kenntnis, die Beweiserhebungen der 
Staatsanwaltſchaft finden regelmäßig in ſeiner Abweſenheit ſtatt, und ſetzt er ſelber, was mit 
Schwierigkeiten verbunden, die Vernehmung von Entlaſtungszeugen durch, ſo darf er hierbei 
gleichfalls in der Regel nicht zugegen ſein. Auch die Stellung des Verteidigers iſt heute im 
Vorbereitungsverfahren ſehr gedrückt und ſeine Tätigkeit ungemein erſchwert. Die Akteneinſicht 
darf ihm nur als Ausnahme gewährt werden, ſein mündlicher wie ſchriftlicher Verkehr mit dem 
in Unterſuchungshaft befindlichen Beſchuldigten wird in einer für ihn geradezu unwürdigen 
Weiſe durch untergeordnete Gefängnis- oder Gerichtsorgane auf das genaueſte kontrolliert. 
So erfahren heute, wie die amtliche Begründung ſelber zugeben muß, die meiſten Angeklagten 
die Geſamtheit der gegen ſie ſprechenden Anſchuldigungen und Verdachtsmomente erſt mit der 
Zuſtellung der Anklageſchrift oder im Verfahren vor den Schöffengerichten, wo eine ſolche nicht 
mitgeteilt wird, überhaupt erft in der Hauptverhandlung, unvorbereitet gehen fie in diefe bin- 
ein. Mit Rückſicht hierauf verlangt eine in der Zuriftenwelt ziemlich weit verbreitete Strömung 
die gänzliche Beſeitigung der ganzen Vorunterſuchung und damit auch des Unterfuchungs- 
richters. An ihre Stelle ſoll — dies ſchlägt namentlich der bekannte Strafrechtslehrer v. Liſzt 
vor — eine ſtreitige mündliche Vorverhandlung vor einem Einzelrichter treten, der die von 
jeder Partei, dem Angeſchuldigten wie dem Staatsanwalte, ſelbſtändig geſammelten Beweiſe 
erhebt, alſo namentlich die Zeugen vernimmt, den Angeklagten hört und über die Eröffnung 
des Hauptverfahrens entſcheidet. Wird bieles eröffnet, fo foll die ausführlich zu haltende An- 
klageſchrift die einzige Orientierung für den Vorſitzenden bilden, die Akten des vorbereitenden 
Verfahrens ſollen vom Gerichtstiſche verſchwinden. Dieſer Vorſchlag hat gewiß ſachlich ſehr 
viel für ſich. Ein gewandter Verteibiger iſt ihm kürzlich wieder in dem Straßburger . 

Des Türmer XI, 11 


626 Die Reform unferer Strafgerihte und unſeres Strafverfahrens 


lehrer van Kalker in der Frankfurter Zeitung (1. Morgenblatt vom 27. September 1908) er- 
ſtanden. Er weiſt mit Recht auf den ſchweren Übelftand hin, daß heute das Ermittelungsverfah- 
ren durch die Qagwifdentunft des Unterſuchungsrichters in zwei ſachlich nicht gebotene Ab- 
ſchnitte auseinandergeriſſen wird. „Der Staatsanwalt verſchwindet zunächſt, um erſt in der 
Hauptverhandlung, ausgeſtattet mit den Protokollen des Unterſuchungsrichters, wieder auf- 
zutauchen. So bekommt der in der Hauptverhandlung zur Vertretung der Anklage Berufene 
im Vorverfahren Belaſtungs- und Entlaftungsmaterial überhaupt nicht zu ſehen, und der mit 
dieſem Material Vertraute (der Unterſuchungsrichter nämlich) hat in der Hauptverhandlung 
überhaupt nichts zu ſagen. Der Staatsanwalt, der ſeiner ganzen beruflichen Ausbildung nach 
für die im Strafverfahren gegebenen Aufgaben gründlich vorbereitet iſt, muß den wichtigſten 
Seil dieſer Aufgaben an den Unterſuchungsrichter abgeben, der, nicht ſelten gegen ſeine Nei- 
gung in dieſe Stellung berufen, nach zwei oder drei Jahren, alfo gerade dann ausſcheidet, 
wenn er die beſonderen Schwierigkeiten ſeines Amtes zu beherrſchen gelernt hat.“ Leider ſieht 
der Entwurf von einer ſolchen grundlegenden Umgeſtaltung ab. Immerhin bedeuten auch ſo 
die Reformen des Entwurfs weſentliche Schutzmaßregeln für den Angeſchuldigten und eine 
erhebliche Stärkung der Verteidigung. Er führt nämlich im Vorverfahren grundſätzlich fuͤr alle 
Beweiserhebungen die ſog. „Parteiöffentlichkeit“ ein, d. h. ſie erfolgen in Anweſenheit des 
Anklägers, des Beſchuldigten und ſeines etwaigen Verteidigers. Weiter hat in allen widti- 
geren Sachen der Staatsanwalt und der Unterſuchungsrichter die Pflicht, dem Angefhuldig- 
ten in einer mündlichen Schlußverhandlung alle Belaſtungsmomente vor Augen zu führen. 
Der Verteidiger erhält ferner grundſätzlich ſchon im Ermittelungsverfahren das Recht der un- 
beſchränkten Akteneinſicht, fein mündlicher Verkehr mit dem Angeſchuldigten unterliegt teiner- 
lei Beſchränkung, ebenſowenig fein Briefwechſel mit ihm. Endlich foll dem Angeklagten im Ber- 
fahren vor den Schwurgerichten und vor dem Reichsgericht noch die Befugnis zuſtehen, in einem 
beſonderen mündlichen Vortermine dem Gerichte feine Einwendungen gegen die Anklage 
ſchrift und die Eröffnung des Hauptverfahrens mündlich vorzutragen. Die Notwendigkeit 
eines beſonderen gerichtlichen Eröffnungsbeſchluſſes ſoll in Zukunft fortfallen, auch damit 
wird, fo paradox dies auf den erſten Blick klingen mag, die Rechtslage des Angeſchuldigten ent- 
ſchieden gebeſſert, denn meiſtens wird er nur nach einer oberflächlichen Prüfung des Atten- 
inhalts erlaſſen und bildet leicht eine Präokkupierung der erkennenden Strafrichter in der 
Hauptverhandlung. 

In dankenswerter Weiſe ſollen weiter die Hauptmängel bei dem Erlaß von richterlichen 
Haftbefehlen beſeitigt werden. Geblieben ift zwar der ungemein elaſtiſche Begriff der Ber- 
dunkelung des Tatbeſtandes als Grund der Verhaftung, aber beſeitigt iſt die rein ſchematiſche 
Begründung des Fluchtverdachtes, die das heutige Recht zuläßt. Nach den jetzt geltenden Be- 
ſtimmungen genügt es nämlich zur Annahme des Fluchtverdachtes ohne weiteres, daß ein Ber- 
brechen den Gegenſtand der Unterſuchung bildet. Dieſe formale Art der Begründung iſt nach 
dem Entwurf unſtatthaft. Für eine gründliche Nachprüfung der Berechtigung des Haftbefehles 
iſt dadurch Sorge getragen, daß der Verhaftete das Recht erhält, ſeine Einwendungen gegen 
den Haftbefehl mündlich dem Richter vorzutragen, während ihm bisher nur ein ſchriftliches 
Beſchwerderecht zuſtand. Auch foll die Unterſuchungshaft nur ausnahmsweiſe, wenn kein ande- 
res Mittel der Sicherſtellung des Beſchuldigten zu Gebote fteht, angeordnet werden, insbefon- 
dere können gegen den Verdächtigten Aufenthaltsbeſchränkungen oder andere Auflagen an- 
geordnet werden. 

Sehr wichtige Neuerungen bringt der Entwurf über die Zeugnispflicht und die Eides 
form. Namentlich erfährt eine völlig neue Regelung der Zeugniszwang gegenüber der Preſſe. 
Das geltende Recht läßt hier bekanntlich keine Einſchränkung zu. „Die Erfahrung hat jedoch 
gelehrt, daß die gerichtliche Praxis bei dem Gebrauche ihrer Zwangsbefugnis ... zuweilen 
des richtigen Augenmaßes entbehrt und über den Zeugnispflichtigen Maßregeln verhängt, 


— Ti — 


‚Die Reform unſerer Strafgerichte und unferes Strafverfadrens 627 


die zu der Bedeutung der Strafſache nicht im richtigen Verhältnis ſtehen.“ (Amtl. Begrün- 
dung S. 159.) Deshalb ſollen nach dem Entwurfe Redakteure, Verleger und Drucker einer 
periodiſchen Zeitſchrift das Zeugnis über die Perſon des Verfaſſers oder Einſenders eines darin 
abgedruckten ſtrafbaren Aufſatzes unter der Vorausſetzung verweigern dürfen, daß die Be- 
ſtrafung des Redakteurs auf Grund des § 20 des Reichspreßgeſetzes, alſo wegen Fahrläſſigkeit 
bei der Aufnahme erfolgen kann, und weiter, daß nicht der fragliche Artikel den Tatbeſtand 
eines Verbrechens, alfo etwa Anftiftung zum Hoch- oder Landesverrat in ſich ſchließt. Man 
wird dieſer Regelung, die endlich einen feit Jahrzehnten ausgeſprochenen Wunſch der Preſſe 
und aller billig Denkenden erfüllt, nur zuſtimmen können. Man wird der amtlichen Be- 
gründung durchaus zugeben müfjen, daß bei dem Tatbeſtand eines Verbrechens das Zntereffe 
des Staates an der Verfolgung des Täters und an feiner Beſtrafung allen anderen Ridfidten 
unbedingt vorgehen muß. In weniger bedeutenden Sachen, namentlich im Brivatllagever- 
fahren, ſoll die Zeugniszwangshaft ganz ausgeſchloſſen, ihr Höchſtmaß weiter von 6 auf 3 Mo- 
nate herabgeſetzt werden. Zur Vermeidung unnötiger Bloßſtellung des Zeugen ſollen ver- 
fängliche Fragen, alfo ſolche, die ihm ſelber oder einem feiner Angehörigen zur Unehre gereichen, 
nur dann ihm vorgelegt werden, wenn das geſamte Gericht (nicht etwa nur der Vorſitzende) 
ſie für unerläßlich erachtet. Ebenſo dürfen Fragen nach etwaigen Vorſtrafen nur in Beziehung 
auf eine ganz beſtimmte Beſtrafung und nur dann geſtellt werden, wenn ſie das Gericht zur 
Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Zeugen für unerläßlich erachtet. Zur Verhütung un- 
nötiger Eidesleiſtungen ſollen weiter in allen Strafprozeſſen die Beeidigungen der Zeugen 
dann unterbleiben, wenn alle Prozeßbeteiligten damit einverſtanden ſind; weiter geſtattet der 
Entwurf die uneidliche Vernehmung ganz allgemein in betreff ſolcher Teile der Ausſage, die 
für den Zeugen verfänglich find. Gerade diefe Vorſchrift wird gewiß weſentlich zur Verhütung 
bedenklicher Eidesleiſtungen beitragen. Die religiöſe Form der Eidesleiſtung ift geblieben 
und damit auch eine ſtändig fließende Quelle des Konfliktes und der Gewiſſensbedrängnis der 
zahlreichen freigeiſtigen Schichten unſeres Volkes. An Stelle des Voreides wird der Nacheid 
geſetzt, d. h. die Beeidigung wird erſt nach der Vernehmung zur Sache erfolgen. 

Ein beſonderes Augenmerk richtet das neue Geſetz auch auf die Beſchleunigung des Ber- 
fahrens; ein ſchleuniges Verfahren ohne Erhebung einer beſonderen Anklage und ohne Zu- 
ziehung von Schöffen wird daher zugelaſſen werden, wenn der Beſchuldigte auf friſcher Tat 
betroffen iſt, denn hier können die Augenzeugen der Tat regelmäßig ſofort zur Gerichtsſtelle 
gebracht werden. Bei einer richterlichen Verhaftung des Beſchuldigten ift dagegen das ſchleunige 
Verfahren nur mit feiner Zuſtimmung geſtattet, es ijt endlich ſtets zuläſſig beim Antrag des 
Täters. 

Die Vorſchriften über die Hauptverhandlung ſind im ganzen und großen unverändert 
geblieben. Höchſt bedenklich erſcheint der Vorſchlag, in allen Beleidigungsprozeſſen dem Gericht 
dle Befugnis beizulegen, auf Antrag auch nur eines der Beteiligten die Offentlidteit ganz 
oder zum Teil auszuſchließen. Hierdurch können die anderen Prozeßbeteiligten, die ſehr haufig 
ein wohlbegründetes Intereſſe an der öffentlichen Verhandlung haben, ſchwer geſchädigt wer- 
den. Zeder möge eben ſo leben, daß er bei einer taktvollen und umſichtigen Prozeßleitung des 
Strafrichters zum mindeſten als Zeuge das Licht der Offentlichkeit nicht zu ſcheuen braucht. 
Mit Recht betont der berühmte Strafrechtslehrer Kahl am Schluß feines Aufſehen erregenden 
Vortrags im März 1908 vor dem Raifer: „Das allgemeine Wohl bedingt und erfordert die ganze 
Flut des Lichts der Öffentlichkeit. Die Öffentlichkeit ift berechtigt, notwendig und gut, weil 
und ſoweit ſie dem Zwecke dient, die beiden ewigen Grundſäulen aller Rechtspflege überhaupt 
zu tragen: die Gerechtigkeit und die Wahrheit.“ 

Nach alledem: eine erſchöpfende Reform an Haupt und Gliedern bringt der Entwurf 
nicht, er beſchränkt ſich auf Verbeſſerungen der Einzelheiten. Mag man auch gewiß manches 
an ihm tadeln und beffer wünfchen, eine ausgezeichnete Grundlage zur Weiterarbeit bietet 


628 Veesrgangenes unb Rünftiges aus der Chemie 


das mit einem erſtaunlichen Fleiß, großem Scharfſinne und, was zu betonen leider durchaus 
nicht ſelbſtverſtändlich ift, in einem muftergültigen Long und einer ſehr klaren, flüffigen 
Sprache abgefaßte ene en 

Dr. jur. et phil. Bovenſiepen 


2 


Vergangenes und Künftiges aus der Chemie 


3 A nter obigem Titel hat Wilhel m Oſtwald einen Band Eſſays von Sir William 

| Namfay in deutfcher Überjegung herausgegeben (Leipzig 1909, Akademiſche 
Verlagsgeſellſchaft). W. Ramſay ift der berühmte Entdecker der Edelgaſe in der 
Atmoſphäre und hervorragender Vertreter einer neuen Geſtaltung der Atomtheorie. Während 
im ganzen abgelaufenen Jahrhundert die chemiſchen Elemente und deren Atome in den Augen 
der Chemiker als die un veränderlichen Bauſteine des Weltgefüges galten, ift diefe Anſicht mit 
dem Beginn des zwanzigſten Jahrhunderts ins Wanken geraten. Auf der im Auguſt 1907 
ſtattgehabten Verſammlung der Britiſh Aſſociation zu Leiceſter ward von den bedeutendſten 
Phyſikern und Chemikern Englands die Frage erörtert, ob an der Lehre von der Beſtändig- 
keit der Elemente und ihrer Atome noch länger feſtgehalten werden könne, wobei die Anſchau- 
ungen der alten Zeit und der neuen Zeit kräftig aufeinanderſtießen. Im Vordergrund jener 
denkwürdigen Ausſprache ſtand die Elektronentheorie der Materie, nach der das Atom im 
bisher für die Chemie gültigen Sinne nicht die letzte Einheit des Stoffes iſt, ſondern gebildet 
wird aus viel kleineren, elektriſchen Einheiten, den Elektronen. Nach dieſer Theorie unter- 
ſcheiden ſich die Atome der verſchiedenen Elemente voneinander durch die Menge der ſie 
zuſammenſetzenden Elektronen; da diefe Menge veränderlich ijt, jo bildet die Umwandlung eines 
Elements in ein anderes fortan ein Problem, und man kann vielleicht die Erzeugung von Gold 
und Silber aus Waſſerſtoff und Sauerſtoff oder irgendeinem anderen Element als Zukunfts- 
traum chemiſcher Forſchung vor Augen ſehen. 

Auf jener Verſammlung ſprach Namſay über feine neueſten Entdeckungen mit der für 
jeden wahren Naturforſcher charakteriſtiſchen Vorſicht. Er ſagte, was auch die Konſtitution des 
Atoms ſein möge, ſicher wäre, daß es davon ablösbare Elektronen gäbe. Sei es auch vielleicht 
noch zweifelhaft, ob der Verluſt von Elektronen das Atom verändere, ſo ſei es zweifellos, daß 
der Gewinn an Elektronen dies tue. Ramſay teilte dann zwei wichtige neue Entdeckungen mit, 
deren Tragweite einleuchtet, ſobald man berückſichtigt, daß die Emanation der radioaktiven 
Subſtanzen im Ausſchleudern von Elektronen beſteht. Als er Radium in eine Glasröhre ein- 
ſchmolz und dicht daneben ein Stück Nickel legte, bedeckte fih die Oberfläche des Nickels unter 
dem Einfluſſe der vom Radium durch das Glas hindurchgeſchleuderten Elektronen mit einem 
Überzug von radioaktiver Subſtanz, der ſich durch chemiſche Behandlung vom Metall ablöfen 
ließ. Er ſchloß daraus, daß eine Art von Umwandlung eines Elements in ein anderes ftatt- 
gefunden habe, indem das Nickel in einen durch Radioaktivität charakteriſierten Stoff verwan- 
delt worden fel. Die zweite Entdeckung ift folgende. Ramſay hatte ſchon früher nachgewieſen, 
daß Radium, welches ſich durch feine Emanation erſchöpft hat, in das gasförmige Helium über- 
geht. Zfoliert man jene Emanation des Radiums, fo entſteht daraus neben Helium noch etwas 
anderes, das vielleicht Blei ift. Wird die Radium-Emanation in Rupferlöfung geleitet, fo er- 
zeugt ſie das Element Argon; wird ſie dagegen in Waſſer aufgefangen, und werden die dabei 
gebildeten Gaſe aus dem Waſſer herausgepumpt, ſo iſt das Endprodukt nicht Helium, ſondern 
das mit dieſem verwandte Element Neon. Das find in der Tat wichtige Anhaltspunkte für die 
Möglichkeit der Verwandlung chemiſcher Elemente ineinander. | 


Retfewerte 629 


Die von Oſtwald überſetzten Aufſätze Ramſays ſind teils geſchichtlichen und geographi- 
ſchen, teils chemiſchen Inhalts. Unter letzteren intereſſieren am meiſten diejenigen, die ſich auf 
das Radium und ſeine Erzeugniſſe beziehen, weil ſie dem eigenſten Arbeitsgebiete Ramſays 
angehören. Es ſind jedoch die letzten Entdeckungen Ramſays darin noch nicht enthalten, und 
darum ſchien es mir nützlich, gerade auf dieſe im Eingange hinzuweiſen; nur der Umwandlung 
der Radium-Emanation in Helium wird bereits gedacht. Ramſay wird auch nicht müde, hervor; 
zuheben, daß wir uns erſt in den Anfängen eines Wiſſens von der Materie befinden. „Nichts 
iſt ſicherer,“ ſagt er, „als daß wir nur eben begonnen haben, einiges von den Wundern der Welt 
zu erkennen, in der wir leben, weben und ſind.“ Schon die ungeheure Wärmemenge, die vom 
Radium in feiner Emanation entwickelt wird, ijt für uns ein erſtaunliches Rätjel; fie ift mehr 
als drei Millionen mal ſo groß als die Wärme, die ein gleich großes Volumen Knallgas bei 
der Exploſion entwickelt. 

Die Überſchriften der einzelnen chemiſchen Eſſays des leſenswerten Buches lauten: 
Wie Entdeckungen gemacht werden. — Die Becquerel- Strahlen. — Was ift ein Element? — 
Uber die periodiſche Anordnung der Elemente. — Radium und feine Produkte. — Was ijt Elet- 
trizität? — Sie Aurora borealis, — Sehr intereſſant ift auch die lediglich für die deutſche Aus- 
gabe niedergeſchriebene „autobiographiſche Skizze“ Ramſays. Aus den in dieſer Selbſtbio⸗ 
graphie mitgeteilten fachlichen Angaben erfahren wir noch, daß es Ramſay auch gelungen ift, 
durch Einwirkung der Radium- Emanation auf eine Kupferlöſung einen Teil des Kupfers in 
Lithium zu verwandeln. 

Die Überſetzung dürfte im allgemeinen dem engliſchen Original angemeſſen ausgefal- 
len fein; doch ift fie nicht frei von Flüchtigkeiten. So leſen wir S. 175: „Andererſeits verfolgte 
Langley mittels eines äußerft empfindlichen Apparats zum Nachweis von Wärmewellen, deren 
Lange bis 30 is ging“. S. 195: „Dieſes Gas war fo lange überſehen worden, weil es ſich neben 
etwa feinem hundertfachen Betrage eines andern Gaſes in der Luft befindet, das ihm ziemlich 
ähnlich ift, nämlich Stickſtoff.“ S. 246: Die Maſchine „wird durch den Unterjchied der beiden 
Dampfdrude aus den Löſungen in Betrieb geſetzt werden, indem der Dampf von der verdünn- 
ten Löſung zu konzentrieren geht“. Dabei glaubt der Überſetzer, wie er im Vorwort ausſpricht, 
„imftande geweſen zu fein, eine ſachlich und perſönlich treuere Wiedergabe der Außerungen 
des großen ſchottiſchen Forſchers zu bewerkſtelligen, als eine noch ſo genaue Wortüberſetzung 
es getan hätte. Vielleicht iſt es mir ſogar gelungen, jenes eigentümliche Reſonanzphänomen 
zu erzeugen, demzufolge denen, die den Autor perſönlich kennen, der Klang feiner Stimme 
aus dem gedruckten Buch entgegentönt“. Oieſer Anſpruch des Überſetzers ſcheint mir etwas 
übertrieben zu ſein. 5. Reinke 


Ar 
Reiſewerke 


Cat: H wanglos ſeien in nachfolgendem einige Schriften angezeigt, die, ohne Anſpruch auf 
) Ze ſtrenge Wiſſenſchaftlichkeit zu machen, neben reinen Reifeerlebniffen oder Natur- 
— ſchilderungen doch tiefere Einblicke in Land und Leute geben und Stellung zu man- 
chen geographiſchen oder volkswirtſchaftlichen Fragen nehmen wollen. 

Die Studienreiſe des Staatsſekretärs Oernburg nach Oeutſch-Oſtafrika hat Dr. O. Bon- 
gart, einer der Reiſeteilnehmer und Berichterftatter eines großen deutſchen Blattes, anfdau- 
lich geſchildert. Gute afrikaniſche Erfahrung ſpricht aus dem fideren Urteil, mit dem die Er- 
kurſion, ihre Abſichten und ihre Erfolge beſprochen werden. Bongart ift frei von Überſchätzung 
unſrer Kolonien, er ſieht aber die wirtſchaftlichen Möglichkeiten, die fie bergen. Leidenſchafts⸗ 
los erörtert er die Streitfragen: Eingebornenfrage, Eiſenbahnfrage, Geldfrage und die andern 


ff 


Ce 
E 


630 Neiſewerte 
fih aufdrängenden Probleme. Ob überall gut informiert, ift ja wohl zweifelhaft; das Entgegen- 
kommen amtlicher Kreiſe gegen Zeitungskorreſpondenten iſt nicht zu groß. Das ſelbſtändige 
Urteil, der klare Blick entſcheidet vielleicht gelegentlich am ſicherſten. Jedenfalls ift die Lektüre 
der Schrift dem zu empfehlen, der mühelos einen wenigſtens allgemeinen Eindruck von Oeutſch⸗ 
Oſtafrika und von den nächſten wirtſchaftspolitiſchen Maßnahmen erhalten will. 

Wer unſere Kolonien aus wundervollen farbigen Bildern kennen lernen will, der fub- 
ſtribiere auf das ſoeben im Erſcheinen begriffene Prachtwerk „Die deutſchen Kolonien“, 
das in 40 großen, außerordentlich ſchön ausgeführten Tafelbildern und über 210 ebenfalls 
künſtleriſchen farbigen Textbildern unter textlicher Mitarbeit von kolonialen Fachmännern, wie 
Major Bethe, Hauptmann Dominit, Stabsarzt Dr. Kuhn, Geheimrat Fritſch, Direktor Hup- 
feld, Prof. Paaſche, Prof. Krämer und Hauptmann Volkmann, von Major Kurd Schwabe 
in der Verlagsanſtalt für Farbenphotographie Weller & Hüttich, Berlin SW., Lindenſtr. 71/72 
herausgegeben wird. Freilich koſtet das Werk ſchon in der Vorzugsſubſkription 200 M, ein- 
ſchließlich der beiden von Künſtlerhand entworfenen Einbände. Aber da es in 10 Lieferungen 
zu je 20 M in ein- bis zweimonatigen Zwiſchenräumen zur Ausgabe gelangt (in einer Auf- 
lage von 1000 nummerierten Exemplaren), ſo dürfte ſich zu den Fürſtlichkeiten (der deutſche 
Kaiſer obenan), Miniſterien, Banken, Bibliotheken, Großinduſtriellen, die bisher auf der Gub- 
ſtriptionsliſte ſtehen, doch auch noch mancher ſchlichtere Rolonialfreund als Abnehmer geſellen. 

Alfred Meebold hat Skizzen zu einem ſtattlichen Bande vereinigt, die „möglichſt 
unabhängig von den Anſichten anderer nur aus der unmittelbaren Anſchauung gewonnene 
Einblicke in Fragen und Zuſtände des heutigen Indien“ wiedergeben follen. Das bei 
R. Piper in München verlegte Werk fällt ſchon äußerlich durch die ſorgfältige Ausſtattung, 
dann durch die Auswahl der Illuſtrationen auf, die nicht die allen Indienbüchern geläufigen 
photographiſchen Anſichten, ſondern Zeichnungen des Verfaſſers zum Gegenſtande haben. So 
liegt ein Skizzenbuch im eigentlichen Sinn vor uns, mit all der bunten Mannigfaltigkeit, dem 
Subjektivismus, der Anſchaulichkeit, die der eine mit lautem Lob, der andere nicht ganz ohne 
Tadel regiſtrieren wird. In jedem Fall: der Band ift in hohem Maße anregend geſchrieben. 
Er läßt ſehr ſtarke Schlaglichter auf kulturelle, ſoziale, politiſche Zuſtände fallen, die gerade 
augenblicklich zur Zeit der ſich ſteigernden Unruhen feſſeln. Der Band verrät den feingebildeten 
Beobachter, der über den Dingen ſteht und doch weiß, daß er in ſie hineingehen muß, um ſie 
ganz zu verſtehen. Ob dies Eindringen in indiſche Geiſteswelt dem Europäer möglich iſt, bleibt 
ja dahingeſtellt. Vielleicht war es dem Verfaſſer, der ein wenig ſpiritiſtiſch beeinflußt, vielleicht 
nur beeinflußbar zu ſein ſcheint, in mehr als einer Richtung möglich, dieſer abſeits liegenden 
Lebensanſchauung nahezukommen. „India mystioa“, das warm getönte zweite Kapitel, ſei 
hiefür genannt. — Der Geograph, der Botaniker werden vielleicht weniger die Entdeckungen 
als die anmutige Naturbeobachtung dieſes Reiſenden anerkennen, der ganz gewiß die wunder- 
bare Kunſt des Reiſens virtuos beherrſcht, der aber auch der Kunſt der Reiſebeſchreibung neue 
und wirkungsvolle Seiten abgewonnen hat. 

Ein intereſſantes Kapitel aus Indiens Geſchichte unter der Herrſchaft der europäi- 
ſchen Handelsgeſellſchaften ſtellt Severin Rotis „Fürſtentum Sardhana“ (Freiburg i. Br., 
gerderſche Verlagshandlung) dar. Ziemlich verworren erſchien bisher das Bild jenes Walter 
Rainhard, des deutſchen Abenteurers, der im achtzehnten Jahrhundert den verſchiedenſten 
indiſchen Fürſten Vaſallendienſte gegen die Engländer leiſtete, ſchließlich ſelbſt zum Fürſten⸗ 
range aufſtieg und feiner hochbegabten Witwe, der Begum Sumru, ein ſtarkes Reich hinter- 
ließ. Die nicht immer glückliche Darftellung ift in geringem Maße tendenziös, inſoferne als 
ſie den von den Forſchern recht unfreundlich betrachteten Charakter ihres Helden in manchem 
beſchönigt; es iſt ihr ein Bedürfnis, den raſtlos tätigen, energiſchen, aber maßlos brutalen Er- 
oberer am Ende ſeines Lebens als mit ſeiner (der katholiſchen) Kirche ausgeſöhnt darzuſtellen. 
Abgeſehen hiervon kann das Buch als eine ſelbſtändige Arbeit gelten; die beigegebenen Slluftra- 


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Relfewerte 631 


tionen haben nicht unmittelbar Bezug auf die wiedergegebenen Vorgänge, dienen aber wohl 
dazu, bei dieſem oder jenem den lebendigen Eindruck des Landes entſtehen zu laſſen, durch das 
die Geſchichte führt. 

Der Subjektivismus, dem das obengenannte Skizzenbuch Meebolds huldigt, kehrt wie- 
der bei dem eigenartigen Reiſewerke Rudolf Zabels: „Meine Hochzeitsreiſe 
durch Korea während des Ruſſiſch-Japaniſchen Krieges“ (Altenburg, Stephan Geibels 
Verlag). Es iſt nicht ganz leicht, ihm Gerechtigkeit widerfahren zu laffen. Rüdhaltslos muß 
die treffliche Schilderung anerkannt werden; ein durchaus ſelbſtändiger Stil zwingt Dinge unter 
die Feder, die nicht leicht darzuſtellen ſind. Aber das Urteil des Verfaſſers erſcheint — ob 
dies tatſächlich zutrifft, entzieht fih der Kritik — ſehr ſtark von den ſubjektiven Eindrücken 
einer entbehrungsreichen Reiſe beeinflußt; was unter andern Umſtänden nicht zu ſehr in die 
Wagichale fallen würde, ift hier, wo es ſich um Stellungnahme zum Zapaniſch-Ruſſiſchen Kriege 
handelt, mehr als ſtörend. Uns erſcheint es nicht ſo unbegreiflich wie dem Verfaſſer, wenn der 
japaniſche Generalſtab ein ſcharfes Auge auf die Kriegsberichterſtatter hat, wenn auch zugegeben 
werden mag, daß man hierin ſehr weit ging. Die Japaner, mit denen Zabel zu tun bekam, 
zeigen ſich alle von der gleichen abſcheulichen, fremdenfeindlichen, gehäſſigen Seite; es ſind 
ganz bösartige Menſchen; die Koreaner repräſentieren ſich nicht viel beſſer. Konnte nicht ver- 
ſucht werden, etwas von den gewiß febr unangenehmen Reiſeerinnerungen abzuſehen oder 
doch wenigſtens dem Hang, zu verallgemeinern, etwas weniger nachzugeben? Dann hätte auch 
die wenig ſympathiſche Oarſtellung der Differenzen mit dem deutſchen Geſandten, hätten die 
nicht ſeltenen Fälle ſtark handgreiflicher Selbſthilfe faulen Dienern gegenüber nicht den breiten 
Raum einnehmen dürfen, der die zahlreichen hochintereſſanten Zeichnungen von Land nud Leuten 
durchbricht. Dieſe, dann nicht zum wenigſten die tüchtigen Leiſtungen des Verfaſſers und ſeiner 
mutigen jungen Frau ſelbſt, werden dem ſehr gut ausgeſtatteten Band manchen Leſer gewinnen. 

Dem näheren Orient gehört das Werkchen Volksleben im Lande der Bibel 
von Max Löhr (Leipzig 1907, Verlag von Quelle & Meyer, IV u. 157 S. tl. 8°; geb. A 1,25) 
an. Eine gute Schilderung der ſyriſch-paläſtinenſiſchen Lande zuſammen mit den angrenzenden 
Gebieten von Arabien. Wer die Heilige Schrift mit Verſtändnis leſen will, muß ſich zunächſt 
eine gewiſſe Kenntnis des Bodens zu verſchaffen ſuchen, auf welchem die Erzählungen des 
Alten und Neuen Teſtamentes ſich abſpielen. Dieſem Zweck dient in ganz hervorragender Weiſe 
ein leider zu wenig bekannt gewordenes Büchlein des verſtorbenen Geographen Alfred Kirch- 
hoff, aber auch die vorliegende Schrift kann hiefür beſtens empfohlen werden. Der Titel ſcheint 
ja zunächſt nur ethnographiſche Belehrung in Ausficht zu ſtellen, allein es wird auch die Landes- 
kunde als ſolche keineswegs vernachläſſigt. Die Abbildungen dienen ebenfalls dazu, die ſterile 
Natur des Landes, „in dem Milch und Honig fließt“, welches aber auch vor dreitauſend Jahren 
kaum viel anders als heute ausſah, zu veranſchaulichen. 

Aus dem Weiten ins Engere, auf liebe vaterländiſche Erde führt das reizende Bänd- 
chen „Bodensee“ in Karl Krabbes Monographienverlag „Städte und Landſchaften“. Wil- 
beim v. Scholz hat der warmen Liebe für die grünen Geſtade an dem wechſelvollen See 
tiefen Ausdruck gegeben. Dieſe Skizzen ſollen an Ort und Stelle geleſen werden, ſie gehören 
in die Hand des Bodenſeebummlers und auch in die des Hiſtorikers oder des ernſten Reifen- 
den; ein kleines und anſpruchsloſes Gegenſtück zum wuchtigen Gemälde des Ekkehard. 

Von Alexander Baumgartner S. J. liegen Reiſebilder aus Schottland 
in dritter, vermehrter Auflage vor. (Mit zwei Bildern in Farbendruck, 85 Abbildungen und einer 
Karte. Freiburg i. Br., Herderſche Verlagsbuchhandlung. XIV u. 369 S. gr. 8°, 5.50 geb. 8 4) 
Die Reiſewerke dieſes Autors find bekannt; zumal feine isländiſche Reiſebeſchreibung hat viele 
Freunde gefunden. Auch diefe Charakteriſtik Nieder- und Hochſchottlands bekundet den fhar- 
fen Beobachter, der ſich Land und Leute genau betrachtet und auch den geſchichtlichen Hergängen 
ſeine Aufmerkſamkeit ſchenkt. Das naturwiſſenſchaftliche Element tritt allerdings etwas in den 


632 Relfewerte 


Hintergrund und wird nur gelegentlich, fo bei den Wundern der Hebriden, mehr beriidfidtigt. 
Die Ausſtattung ift die wohlbekannte vornehme der Verlagshandlung, und die Abbildungen 
ſpielen eine nicht unwichtige Rolle für die Erläuterung des Textes. 

Eine Eigenſchaft muß man allerdings hier wie ſonſt mit in Kauf nehmen: es ift die, 
welche ſich aus der Ordenszugehörigkeit des Verfaſſers ergibt. Alles, was mit der katholiſchen 
Kirche in Vergangenheit und Gegenwart zuſammenhängt, wird mit größter Ausführlichkeit 
abgehandelt. Selbſtverſtändlich ift gar manches auch für denjenigen Lefer, der für feine Per- 
ſon auf einem anderen Standpunkte ſteht, von wirklichem Intereſſe, aber im großen und ganzen 
wird doch auch mancher aufrichtige Katholik das Gefühl haben: weniger wäre mehr. So iſt 
z. B. die Auffaſſung der ſozialen Frage, welche da und dort zutage tritt, eine allzu ſubjektive, 
denn das menſchliche Elend und der organiſierte Kampf gegen dieſes fehlten auch in alten 
Zeiten nicht und finden ſich auch heute noch in Ländern, die von den religiöfen Umwälzungen 
unberührt geblieben ſind. 

Eine Art Anthologie auf dem Gebiete der Reifeliteratur ift die Sammlung: Aus fer- 
nen Zonen, Originalberichte berühmter Forſcher und Neifender, herausgegeben von 
Sobannes Hennigſen. (Mit zahlreichen Abbildungen. Leipzig, O. Spamer. 286 S. gr. 8°.) 
Aus einigen bekannten Reifewerten hat der Herausgeber mit Geſchick gewiſſe Kapitel ausge- 
wählt und zuſammengeſtellt, welche wohl in erſter Linie für die reifere Jugend beſtimmt ſind, 
aber auch weitere Kreiſe zu intereſſieren vermögen. Verhältnismäßig wenig geographiſchen 
Stoff bieten die Auszüge aus Peters“ Ourchzug durch das Maſai-Land und aus Ehlers“ Be- 
reiſung von Franzöſiſch-Hinterindien, indem da weſentlich das perſönliche Moment zur Gel- 
tung kommt. Die anderen ſechs Beſtandteile ſtammen aus Nanſen (Eiswanderung nach Tren- 
nung vom „Fram“), Wißmann (Innerafrika), Haeckel (Aufenthalt im Urwalde von Ceylon), 
Chun (Die Andamanen), Nein (Charakteriſtik des japaniſchen Volkscharakters) und F. Nau- 
mann (Paläſtinas Land und Volk). Das Buch wird ſich gewiß ſeinen Leſerkreis erwerben, 
denn weil es vieles bringt, kann es jedem etwas bringen. 

Ein anderes, zunächſt ebenfalls für die reifere Jugend beſtimmtes, aber auch fuͤr jeden 
Freund der Erdforſchung wertvolles Sammelwerk iſt das von Viktor Ottmann unter 
dem Titel „Die Eroberung des Erdballes“ herausgegebene, das aus den Be- 
obachtungen, Erlebniſſen und Taten der geographiſchen Forſcher und Weltreiſenden vom Alter- 
tum bis zur Gegenwart das Wichtigſte und Intereſſanteſte zuſammenträgt, von der Entwick- 
lung der Weltkarte bis zum Kampf um den Nordpol mit Polarſchiff und Luftballon. Beſon⸗ 
ders wertvoll find dabei auch die zahlreichen dokumentariſchen Illuſtrationen, die nach Mög- 
lichkeit den Büchern der betreffenden Zeitepochen entnommen wurden und fo die Anſchauungen 
der jeweiligen Zeit ebenſo widerſpiegeln, wie es der Text mit Erfolg verſucht. Weitere in ſich 
abgeſchloſſene Bände ſollen dieſem erſten zwanglos folgen und werden in gleicher Weiſe wie 
das ebenfalls von Ottmann im felben Verlage von W. Spemann, Berlin und Stuttgart, ſchon 
im 8. Jahrgange herausgegebene und ähnlich ausgeſtattete ,Gro ke Weltpanorama“ 
(Preis 7,50 4), das als ein Jahrbuch der Reifen, Abenteuer, Wunder, Entdeckungen und Kultur- 
taten in Wort und Bild vornehmlich auch Reiſeberichte aus fernen Zonen, Länder- und Völker- 
ſtudien, daneben aber auch belehrende Aufſätze aus allen Gebieten der Naturkunde, aus Ajtro- 
nomie, Geologie, Botanik, Technik und Kulturgeſchichte enthält, dazu einige ſpannende Er- 
zählungen aus dem bunten Leben der Gegenwart, Zagdgeſchichten, Notizen über allerlei Natur- 
kurioſitäten bietet, ihr Teil dazu beitragen, namentlich der Jugend den Sinn für das Streben 
aus dem Engen ins Weite, für die deutſche Kulturarbeit draußen und daheim in unterhaltender 
Weiſe zu wecken und zu fördern. | S. Günther 


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Militarismus im Reſtaurant | 633 


Militarismus im Reftaurant 


NN, zus Berliner Verhältniſſen hat Oskar A. H. Schmitz die Beobachtungen geſchöpft, 
die er in einer Plauderei der „Frankf. Ztg.“ niederlegt, fie treffen aber auch auf 
andere große Städte zu. 

Das ideale Hotel oder Reſtaurant, das nicht gerade ein Luxushaus fein will, müſſe den 
Eindruck eines komfortablen erweiterten Bürgerhauſes machen: Bisweilen erſcheint 
zwiſchen den Gäſten der Wirt, deſſen ruhige Würdigkeit verrät, daß er ſich auf Behaglichkeit 
und gute Ernährung verſteht; aus dieſem Verhältnis heraus iſt er zu ſeinem Beruf gekommen 
und hat eine ähnlich veranlagte, ſelbſt in die Küche blickende Frau gewählt. Dieſer liebens- 
würdige Mann, dem einige Jahre, die er auswärts verbracht hat, eine gewiſſe anſpruchsloſe, 
heute im Ausſterben begriffene Weltmänniſchkeit verliehen haben, dieſer Mann „bedient“ 
feine Gäſte, fo gut er irgend kann, und ift ſtolz darauf. Er ſchreckt vor dem Begriff des Dienens 
nicht zurück, denn er fühlt, daß darin eine nicht wertloſe Menſchlichkeit und ethiſche Vollkommen 
heit liegen kann, die ſich ihm täglich beftätigt durch das achtungsvolle Wohlwollen, mit dem ſeine 
Säfte aus allen Ständen ihm begegnen. 

Dieſe ſympathiſche Figur ijt heute und beſonders in Berlin mehr oder weniger durch 
den Geſchäfts führer erſetzt, einen Mann, deffen Äußeres keinerlei Beziehungen zur 
Kunſt der Bewirtung, ſondern nur ein fixes Verſtehen für den mechaniſchen Apparat eines 
Großbetriebes verrät. Seine Kleidung und Manieren drücken „Schneidigkeit“ aus, jene fausse 
élégance, die im modernen Deutſchland fo wenig angenehm berührt. Er hat etwas von einem 
Wachtmeiſter an ſich, und alles Menſchliche ſcheint ihm fremd. Mit ſchnarrender Stimme, 
die den Gäften ſeine Tüchtigkeit beweiſen foll, treibt er die Kellner an; in unterwürfiger Ber- 
ſtändnisloſigkeit nimmt er die Wünſche nichtberliniſcher Gäſte entgegen (ich rede von mittleren 
Reſtaurants, wo eine Mahlzeit durchſchnittlich drei bis fünf Mark koſten mag). 

Bei Kellnern findet man häufig eine Art Menſchlichkeit, die aber durch ſchlechte Behand- 
lung arroganter Gäſte bisweilen ſcheu geworden ift, bisweilen ſich hinter irgendeiner fonder- 
baren Haltung verbirgt. Von einem gefälligen Empfang des Gaſtes iſt keine Rede. Man wird 
nicht bedient, ſondern abgefertigt. Man merkt, auch der Kellner hat nicht die mindeſte 
Beziehung zu feinem Beruf, er trägt Teller und Speiſen hin und her, ſucht ſich's dabei natür- 
lich fo bequem wie möglich zu machen und empfindet es als Schikane, wenn man darauf be- 
ſteht, alles gerade ſo zu erhalten, wie man es beſtellt hat. Bisweilen verſucht er den traurigen 
Troſt, das von ihm irrtümlich Gebrachte ſei billiger als das Beſtellte. Er hat keine Beziehungen 
zum Effen, höchſtens zu der Größe der Portionen und zum Preis. Fd verlangte in einem 
Kaffeehaus der Friedrichſtadt ſpät abends etwas leichtes Gebäck zum Tee. Der Kellner bringt 
Käſetorte. Man vergleiche damit die intereſſanten Konferenzen, die man mit italieniſchen und 
franzöſiſchen Kellnern bei der Zuſammenſtellung einer Mahlzeit hält. 

Sch fagte vorhin, der altmodiſche Wirt „bediente“ feine Säfte; der moderne Gefdafts- 
führer macht „Borſchriften“. In den meiſten Berliner Reſtaurants ergibt ſich die Schwie- 
rigkeit, ob das, was der Gaſt wünſcht, den beſtehenden Vorſchriften nicht zuwiderläuft. Man 
erwartet zum Beiſpiel eine Mahlzeit; plötzlich ſieht man auf einem Buffett Hummern ſtehen, die 
doch wohl den Gaft zum Beſtellen reizen follen. Man ruft dem danebenſtehenden Pikkolo 
zu, er möge einem ſchnell, ehe das Folgende aufgetragen wird, eine von den fertigen Portio- 
nen herũberbringen. Der Pikkolo gerät in höchſte Verlegenheit und weigert ſich. Er ruft einem 
zu, er dürfe nicht bedienen, er ſtehe hier nur zur Aufſicht. So will's die Vorſchrift. Inzwiſchen 
wird der Fiſch aufgetragen, und für ein hors d’auvre iſt's zu fpdat. 

Am charakteriſtiſchſten für die dem Gaſt auferlegten Vorſchriften iſt ein Weinreſtaurant, 
in dem man eine beſondere Kultur vorausſetzen könnte, da ein großer Berliner Künſtler dort 
bis an fein Lebensende feinen Stammſitz hatte. Es ift eine allgemeine deutſche, von den Frem- 


634 Willtarismus m Reftaucant 


den läſtig empfundene Unfitte, Reftaurants in Bier- und Weinlokale zu ſcheiden, zu- 
mal diefe Scheidung heimlich den Unterſchied zwiſchen ſorgfältiger und ſummariſcher Rüde 
ausdrückt. Ein Wirt, der feinen Gäſten irgend etwas, was in der Nähe zu haben ift, verweigert, 
ſei es Bier oder ſonſt etwas, iſt ein ſchlechter Wirt; wenn es ſeine Unkoſten erfordern, kann er 
ja die Preiſe fo hoch anſetzen, wie nötig ift, aber alles Verlangte muß da fein. Zn den großen 
Hotels iſt man ja auch zu dieſem Prinzip übergegangen. In dem genannten Lokal nun ſieht 
man Menſchen Bier trinken, man verlangt auch ein Glas, aber das iſt nicht ſo einfach. „Nur 
im Anſchluß an Wein“, erwidert wörtlich der Kellner. 

„Ich habe aber neulich auch Bier bekommen.“ 

„Damals hat der bei Ihnen ſitzende Herr Wein beſtellt.“ 

Da man mich in dem Reftaurant kennt, erhalte ich Bier, aber der Geſchäftsfüͤhrer läßt 
zum Zeichen, daß ſein Lokal keine Bierſtube iſt, eine leere Bordeauxflaſche neben mein Glas 
ſtellen, deren Anblick ich ohne Schwierigkeit ertrage. Ein andermal habe ich die Abſicht, Wein 
zu trinken, will aber ſchnell vorher ein kleines Glas Pilſener haben. Geht nicht, erſt Wein, 
dann Bier, ſchreibt der Geſchäftsführer vor. Ich muß erft verſichern, daß ich nachher auch wirt- 
lich Wein beſtelle. 

Einmal beſuche ich dasſelbe Reſtaurant, um einige Zeitungen nach dem Eſſen 
durchzublãttern. 

„Die Zeitungen ſind heute weggeſchloſſen.“ 

„Warum?“ 

„Es iſt Vorſchrift.“ 

Neugierig laffe ich den Geſchäftsführer kommen und erfahre, daß Sonntags aller- 
dings die Zeitungen weggeſchloſſen werden, damit die Gäfte nicht zu lange ſitzen bleiben. 

Eines Nachts wollen wir in ziemlich vorgerüdter Stunde einen eben anbrechenden Ge- 
burtstag feiern und beſtellen Champagner. Aber vorher wünſchen wir etwas kalten Aufſchnitt 
zu eſſen. 

„Die Küche ift eben geſchloſſen worden.“ 

„Dann ſchließen Sie ſie wieder auf, der Aufſchnitt iſt ja fertig.“ 

„Bedauere. Wir haben die Vorſchrift.“ 

„Aber eben hat ein Herr am Nebentiſch ſogar noch ein warmes Gericht bekommen.“ 

„Das war zu der vorſchriftsmäßigen Zeit beftellt und mußte noch beriidjidtigt werden.“ 

Ich gehe zu dem benachbarten Aſchinger und hole eine Düte voll belegter Brötchen; 
dem Kellner fage ich: „Diefe Brötchen hätten Sie holen follen, wenn fie wirklich im Haufe 
nicht mehr herzuſtellen waren.“ Der Kellner ſagt in einem Anflug von Menſchlichkeit, er hätte 
es gewiß gern getan, aber die Vorſchrift verbiete es ihm. Ich bitte: eine Vorſchrift des Wirtes 
oder Geſchäftsführers, die dem Kellner etwas verbietet, was den Gaſt zufriedenſtellen würde! 

Seder Fremde hat es in Berlin erlebt, daß er von einem mit Mühe eroberten angeneh- 
men Platz weichen mußte, weil es an dieſen bevorzugten Tiſchen nur We in gibt. Wein trin- 
ten ift vornehm, denkt der Berliner Wirt; wer zufällig zu etwas anderem Luft hat, muß bei 
der Plebs fiken. Vornehme Leute haben keine Gelüſte, die nichts koſten. 

In einer Bar der Friedrichſtadt ſehe ich einen Fremden vergeblich verſuchen, eines 
der anweſenden „Fräuleins“ an feinen Tiſch zu laden. Sein Tiſch ift im erſten Stock, das Frau- 
lein gehört aber zu der „Abteilung“, die heute im Parterre das Berliner Nachtleben ſchürt. 
Morgen abend wechſelt die Gruppierung. „Vor zwei Uhr is niſcht zu machen“, erklärt der Rell- 
ner. So lange muß jede, vom Wirt bezahlt, an ihrem Platz bleiben und das tun, was man hier, 
ſeltſam genug, „animieren“ nennt. 

Dieſe Vorſchriften ſind natürlich gar nicht böſe gemeint, ſondern ſie verraten die noch 
kindiſche Freude am Mechanismus, am Apparat, der überall da, wo es ſich um „Kultur“ handelt, 
unſichtbar bleiben müßte. Daher das Entzüden des Berliners über „Mammutlokale“, die fünf- 


Zarte Weiblidtett 635 


tauſend Perſonen zu gleicher Zeit faſſen. Hier feiert der Apparat Triumphe. In kultivierten 
Städten gilt es dagegen als ein Vorzug, wenn ein Lokal nur wenig Menſchen Tallen kann, was 
natürlich durch höhere Preiſe für den Wirt ausgeglichen werden muß. Auf dieſer leicht zu ſchaf⸗ 
fenden Intimität beruht der Reiz der teuren P a r ifer Neftaurants. 

Wodurch ſoll freilich der Geſchäftsführer oder Kellner erzogen werden, wenn der Gaſt 
felbft ihn nicht durch beſtimmte, ſichere Forderungen erzieht? Aber der Durchſchnittsberliner 
kennt weder die würdige Einfachheit der alltäglichen Mahlzeit noch das Raffinement der feft- 
lichen. Man erzählt mir, daß der Mittelſtand teilweiſe dürftig lebt, um hier und da ſich dieſem 
abſcheulichen „Schlemmen“ zu überlaſſen, wobei natürlich die „Vorſchriften“ der Gefchäfts- 
führer kritiklos als gue „Bornehmheit“ gehörig hingenommen werden. 

Ein ähnlicher Get wie in den Reſtaurants herrſcht in anderen Berliner Einrichtungen. 
Man könnte auf die umfangreichen Faszikel hinweiſen, die beim Einkauf in Warenhäuſern aus- 
geſtellt werden müſſen, wenn man eine Zahnbürſte kauft. Aber das Warenhaus iſt ein Kapitel 
für ſich. 

Eines Tages will ich auf der Potsdamer Brücke einem Jungen eine Zeitung ab- 
kaufen. „Ick darf nich auf der Straße verkoofen, nur in der Elektriſchen.“ Fh muß alfo 
zum Schein für die Dauer unſeres Geſchäftes mit ihm einen Trambahnwagen beſteigen, was 
gar nicht in meiner Abſicht lag; und folh ein Verkehrshindernis wird einem zugemutet in der 
Stadt der idealen Verkehrsmittel. Das Erſtaunliche iſt weniger, daß ſolche Vorſchriften eriftie- 
ren, als daß es eine Bevölkerung von Fleiſch und Blut gibt, die ſich 
im Augenblickdaran zu erinnern vermag. 

Die Mechaniſierung des Lebens iſt wohl amerikaniſcher Herkunft und heute 
international. In Berlin tritt ſie nur deshalb ſo unſympathiſch hervor, weil ſie ſich mit dem 
Militarismus verbindet. Die fachliche Ökonomie der Kräfte, denen der kluge Mechanis- 
mus urſprünglich dienen ſoll, wird dadurch, daß der Apparat ſelbſt Zweck wird, 
zur größten Unſachlichkeit. In Berlin gibt es Einrichtungen, deren theoretiſche Vorzüglichkeit 
die Leute ſo berauſcht, daß ſie tatſächlich darüber das vergeſſen, was eigentlich geleiſtet 
werden ſoll. Ob das je anders werden kann, iſt fraglich, denn ſo leicht es iſt, geſcheite Einrichtungen 
aus der Fremde einzuführen, fo ſchwer iſt es, jene feinere, liebenswürdige Menſchlichkeit 
zu züchten, die in dem Lande der humaniſtiſchen Studien, der beten Schulen und der allgemei- 
nen Bildung fo viel zu wünſchen übrig läßt, ob es ſich nun um die tiefſten Fragen der Ronfeffio- 
nen, der Kunſtpolitik oder die Wirtshdufer handelt. 


S 
Zarte Weiblichkeit 


Befters, fo lieft man in der „Köln. Volksztg.“, hört man die Behauptung, die ritter- 
) liche Höflichkeit der Herren fei im langſamen, aber ſehr merklichen Abſterben be- 

griffen. Za, von Gegnern aller neuen Frauenbeſtrebungen, und zwar nicht nur 
von männlichen, wird Dieter Umftand damit begründet, daß die nach Gleichſtellung der Rechte 
und Pflichten ſtrebende Frau ja auch keinen Anſpruch mehr auf die Vorrechte habe, die ihr eben 
als der Schutzloſen von den Stärkeren gerne und freiwillig zugeſtanden worden ſeien. 

Wer ſich aber unbefangenen Auges nach den Beweiſen für dieſe Fragen umſieht, wird 
felten finden, daß die wahre Höflichkeit des ſtärkeren Geſchlechtes gegen die Frauen zu wün- 
ſchen übrig läßt, jener Anſtand, der überhaupt unter allen Menſchen mit Herzensbildung gefor- 
dert werden kann, und der nichts mit überflüffiger und fader Galanterie zu tun hat und nichts 
mit Romplimenten. Selbſt einfache Manner laſſen es in dieſer Beziehung felten an dem Nötigen 
fehlen, viel ſeltener als unſere jungen Mädchen und jüngſten Herren. 


E 


636 Barte Weiblichkeit 


Hier ift wirklich auf der Straße recht oft eine merkbare Abnahme der Höflichkeit zu mer- 
ken. Iſt es nun das Gefühl ihrer jungen Wichtigkeit als Erwachſene oder Erwachſende, oder 
ift es ein Auswuchs des rückſichtsloſen Amerikanismus, der jetzt wie eine Kinderkrankheit durch 
die Welt geht? 

Zu zweien und dreien eingehenkelt kommen unſere Backfiſche und jüngſten Damen 
über die ſchmalen Trottoirs und fordern ſtolz ihr Jahrhundert in die Schranken, ohne daß es 
ihnen einfällt, ſich auch nur einen Zoll breit einzuſchränken zugunſten eines Entgegenkommen 
den. Mögen es auch viel ältere, ja ſelbſt alte Leute fein, es ift gleich! Mögen fie ſehen, wie fie 
ſich an der Rotte Korah vorbeidrüden, mit oder ohne Schaden. Gehen aber ſolche jungen Ladys 
gar mit einem Gentleman, er mag ausſehen wie er will, ſo pflegen ſie erſt recht blind und taub 
für die Forderungen der Straßenhöflichkeit zu ſein. 

Es iſt überhaupt nicht notwendig, daß man in engen Straßenzügen Arm in Arm geht, 
wenn man nicht wirklich geführt werden muß. Auf verkehrsreichen, ſchmalen Wegen ſtellt 
ſo ein feſt verbundenes Paar, das ſich unter keinen Umſtänden zu trennen gewillt iſt, immer 
eine gewiſſe Rückſichtsloſigkeit gegen das Straßenpublikum dar, das haben gewiß ſchon recht 
viele empfunden. Nur nicht die Betreffenden ſelber, die in der Seligkeit der jungen Liebe 
felten die wütenden Blicke der Unbeteiligten merken, oder die einen gelegentlichen Sufammen- 
ſtoß noch als „UAnverſchämtheit!“ oder mit einem wütenden „Na!“ quittieren, obgleich fie ſelber 
dieſe Belehrung über den Straßenanſtand verdient hätten. 

Ein Verſtoß gegen die allerelementarſte Höflichkeit, den man auch vielfach bei unſerer 
Jugend trifft, ijt das naive Muſtern der Vorübergehenden, das auch nicht allzu felten mit einer 
lauten Kritik verbunden iſt. 

Man ſoll ſchon den Kindern dieſen häßlichen Fehler von Grund aus abgewöhnen und 
ihnen immer vorhalten, daß auch den anderen ſchwerlich alles an uns ſo gefällt, daß ſie nicht auch 
an uns etwas auszuſetzen fänden! Jede boshafte und ſchnippiſche Äußerung der Heranwadfen- 
den aber muß ſtrenge gerügt und beſtraft werden. 

Am beſten freilich wirkt in der Erziehung zur Höflichkeit in der Öffentlichkeit das eigene 
Beiſpiel. Ein Kind, welches beſtändig das Kritiſieren anderer hört, wird bald mit der eigenen 
Kritik anfangen, ohne daß die Eltern es überhaupt merken oder als Fehler empfinden. 

Auch in Eiſenbahncoupés, Straßenbahnwagen uſw. wird man oft empfinden, daß ge- 
rade junge Damen es an den richtigen Verkehrsformen leider recht häufig mangeln laſſen. 
Das junge Mädchen, das die Füße auf unſeren Sitz legt, wenn wir einen Augenblick aufgeftan- 
den ſind, iſt nichts ſeltenes mehr. Sie ſieht uns groß an, wenn wir uns dieſe Anwendung einer 
an und für ſich recht nützlichen Hygiene verbitten oder unfern Platz unwillig abſtäuben. Oder 
ſie ſteht auf und verſperrt die Fenſteröffnung nach der Ausſichtsſeite recht gründlich mit ihrer 
ganzen Perſon. 

Nicht unſere ſtrebenden Frauen ftellen eine Gefahr vor für das Ausſterben jener Höf- 
lichkeit, die jeder anftändige Menſch feinem Nebenmenſchen ſchuldet, ſondern eben dieſes ver- 
zogene, anmaßende Zerrbild des American girl, das überall den beſten und breiteſten Platz 
in der Welt beanſprucht. Und nur deswegen, weil es da iſt, nicht, weil es ſchon irgend etwas 
geleiſtet hat. In ſpäteren Jahren, wenn fein Daſein keine beſondere Augenweide mehr für 
die Menſchheit bietet, wird es vielleicht, wenn es ſo weiter geht, ſelbſt unter dem Mangel der 
Höflichkeit leiden, an deren Herabſetzung es eifrig geholfen hat. Oder aber es wird ſeine Kinder 
wieder zu genau fo rüͤckſichtsloſen Straßenhelden erziehen! 

Unſere jungen Madchen wollen es gar nicht gerne hören, daß fie als Backfiſche die weib- 
lichen Flegeljahre verkörpern. Nun, manchmal mag es wohl ſcheinen, als wenn dieſer unbeliebte 
Übergang in bezug auf die Straßenhöflichkeit fogar noch in weit höhere Jahre mit hinüber⸗ 
geſchleppt worden wäre! Schon ift das aber nicht, und auch kein Lob für die mütterliche Er- 
ziehungskunſt! 


Slidlihe Zugendzeit 637 


Und, fo möchte der T. dieſe paar berechtigten Bemerkungen ergänzen: wer iſt der 
ſchlimmſte Drängler oft an den Eiſenbahnſchaltern und Theaterkaſſen, beim Einſteigen in die 
verſchiedenen Bahnen uſw.? Du ahnſt es nicht, welche männliche Ellenbogenkraft zarte Weib- 
lichkeit bei ſolchen Gelegenheiten entfalten kann. Und beſonders gegen die ſchwächere, weil 
vornehmere und feinere Witſchweſter. 


Glückliche Jugendzeit 


Ath Cie fie wirklich fo glücklich?“ fragt Karl Spitteler in einer von K. H. Maufer (Bafel) 
VAG ) herausgegebenen „Feſtſchrift ſchweizeriſcher Dichter“ zugunſten der Kinderfürſorge. 
(En es „Ich glaube, wir verwechſeln den poetiſchen Schimmer, den unfer Heimweh über 
die Jugendzeit zurüdwirft, mit dem wirklichen Gefühlszuſtand der Jugend. Unwillkürlich be- 
trachten wir das Rind für einen halben Menſchen, Kinderleiden für kleine Leiden, Kinderſchick⸗ 
fale für Diminutivſchickſale. 

In Wirklichkeit ijt das Kind, was fein Gemüt betrifft, ein Vollmenſch wie wir, 
mit eben fo großem gchgefühl, mit der nämlichen Leidens fähigkeit. Seine Schidfale find keines“ 
wegs kleiner als die unfrigen; das Kind wird von den Naturnotwendigkeiten und von den Här- 
ten der Natur nicht durch Schonung privilegiert, vermag auch durch keine elterliche Fürforge 
vor den ſchlimmſten Erlebniſſen der Erwachſenen geſchũtzt zu werden: vor Krankheit, vor Schmer- 
zen, vor chirurgiſchen Eingriffen, vor Unfällen, Kataſtrophen und Tod. Ein vierzehnjähriges 
Kind mit Zahnſchmerzen leidet darunter nicht weniger als ein Vierzigjähriger; bei einem Eifen- 
bahnzuſammenſtoß werden die Kinder nicht gelinder zerquetſcht und verſpüren dabei nicht 
geringere Qual als die Erwachſenen. | 

Im Gegenteil, die Grauſamkeiten des Naturweltlaufes treten an das Rind häufiger 
heran als an den Erwachſenen; es ift öfter krank, fiebert häufiger, erleidet ungleich mehr Un- 
fälle, liefert dem Tode maſſenhaftere Opfer. Der Natur gegenüber iſt das Kind ein Menſch, 
der ſich noch ungenügend angepaßt hat, der ſich noch nicht an die Welt zu gewöhnen verſtanden 
hat und ihr daher wehrloſer gegenüberſteht. Das iſt ein ſehr ernſter, keineswegs zu be- 
lächelnder Zuſtand. Auch fein Gemüt beſteht die Proben der Natur und des Schickſals ſchlechter 
als der Erwachſene, weil es noch nicht mit langen Zeitläufen zu rechnen verſteht, weil es darum 
den Troſt: es wird ſpäter wieder beſſer, nicht verſteht, weil es 
ferner die moraliſchen und geiſtigen Troſt- und Stärkemittel noch nicht beſitzt. Wie oft und wie 
bitter weint ein Kind! was für eine Verzweiflung beſchleicht es bei einem grauen Regentag; 
wie endlos und hoffnungslos erſcheinen ihm die Schulſorgen und Schulplagen! Es hat zwar 
vernommen, aber es vermag es noch nicht mit dem Herzen zu glauben, daß das jemals auf- 
hören werde; deshalb, weil es das Zeitmaß nicht hat; und es kann das Zeitmaß nicht haben, 
weil für das Kind der Lebensanfang in mythiſcher Vorvergangenheit, in einer Art privater 
Ewigkeit zurückliegt. Und nicht zu vergeſſen, das Kind erleidet niederſchlagende Seelenzuſtände, 
von denen der Erwachſene gar nichts mehr weiß. Zum Beiſpiel die Langeweile, der täg- 
liche Plagegeiſt des Kindes, das noch nichts aus ſich ſelber herauszuſchöpfen hat, alles von außen 
beziehen muß. Und dann die Furcht! die Angſt! Furcht vor Tieren, in den erſten Lebens- 
jahren fogar vor jedem unbekannten Menſchengeſicht, Angſt vor Geſpenſtern, Angſt vor der Cin- 
ſamkeit oder Fremde, kurz Weltangſt, Angſt in den Träumen und leider ſehr bald und 
fortan immer mehr Angſt vor den Strafen. Ja, die Strafen! Wäre es auch nur darum, 
daß ein Kind, ein Bub oder ein Mädchen dem ewigen Ermahnen, dem Schelten, den drohenden 
Strafen im Elternhaus oder in der Schule unterworfen ift, daß es zittern muß, wenn es ‚feine 
Aufgabe nicht kann“, fo würde ich das Glück der Jugend beftreiten. Es ift denn doch in der Tat 


638 Sewalttat 


vom Schlimmſten, was einem Menſchen widerfahren kann, daß er in die Lage verſetzt wird, 
vor einem anderen Menſchen zittern zu müſſen oder ſich von ihm ſchelten zu laſſen, ohne das 
Recht zu haben, ihm zu erwidern. 

Kurz, ich bin der Anſicht, die Jugendzeit und vor allem das Kindesalter ift alles andere 
eher als ein beneidenswerter und glücklich zu preiſender Zuſtand. 

Und die Moral davon? Ja, muß denn jede Wahrheit einen Moralſchweif haben? Zft 
denn die Wahrheit ein Angeſtellter des Erziehungsdepartements? Übrigens 
wenn man durchaus will, ſo wüßte ich ſchon einen Moralſchluß zu dem Geſagten: die Kinder 
öfters tröſten, ihnen täglich zeigen und ihnen auch offen geſtehen, daß man fie lieb hat, 
und fie weniger unaufhörlich erziehen, ermahnen, verbeſſern, tadeln, maßregeln und ſchelten. 

Wir werden in der Jugend viel zu viel geſcholten.“ 


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Gewalttat 


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I” h zie einmütige Verdammung, fo führte Profeſſor Wilhelm Foerſter in einem zu Paris 
se AG gehaltenen Vortrage (nad der „Ethiſchen Kultur“) aus, mit der man wenigſtens 
E SH theoretifd der Lüge begegne, finde man nicht entfernt in der Beurteilung der furdt- 
baren Gefahren und der tiefen Übel der Ge walt tat. Ja es gebe in gewiſſen ſozialen Schich- 
ten ſogar eine Art von exaltiertem Kultus der Gewalttat. „Ohne Zweifel iſt man einig darin, 
ſie zu bekämpfen und ſie faſt ebenſo entſchieden abzulehnen wie die Lüge, da wo es ſich um 
Konflikte oder Übeltaten zwiſchen Privaten handelt. Aber auf dem Gebiete der ſozialen Ent- 
wickelung wird die Gewalttat von oben oder unten noch als unvermeidlich betrachtet und um 
fo mehr als gerechtfertigt angeſehen, von je größeren Verhältniſſen die Konflikte find, und je 
mächtiger die in leidenſchaftliches Tun ſich umſetzende Gemeinſchaftsenergie iſt. 

Wie es in der Tat ſcheint, iſt man von dem Gedanken erfüllt, daß dieſe Konflikte, um 
gelöft, und diefe Kollektiv-Leidenſchaften, um beſchwichtigt zu werden, Akte von Gewalt ge- 
bieteriſch erfordern. 

Und doch gibt es keinen wahren Grund, nicht auch für diefe Löſungen und diefe Be- 
ſchwichtigungen die Erwägungen der Gerechtigkeit und Weisheit und die Gefühle hoher Grob- 
mut anzurufen, die ihre fo wohltätige Anwendung ſchon in einer großen Anzahl ſozialer Ron- 
flitte finden. Wie iſt es nun möglich, daß die kriegeriſche Form der Gewalttat fort und fort 
noch gutgeheißen und geprieſen wird, nicht nur von den leitenden Mächten, ſondern auch von 
den Maſſen? 

Was die leitenden Autoritäten anbetrifft, jo begehen fie dabei den Irrtum, infolge einer 
ſchmerzlichen Verkennung der ſozialen Wirklichkeiten zu glauben, daß ſie ihre Macht beſſer ſichern, 
wenn fie dieſelbe auf den ſozuſagen maſchinenmäßigen Gehorſam großer bewaffneter Organi- 
ſationen ſtützen, während doch die wahrhaften und allein ſicheren Grundlagen der Difziplin, 
der Ordnung und der Achtung in der Weisheit und der ſozialen Harmonie beruhen, verbunden 
mit Güte, Mitgefühl und Großmut. 

Nun aber werden und bleiben dieſe Grundlagen um ſo mehr geſchwächt, je höher der 
heroiſche Kultus der Gewalttat geſteigert wird, und diefe Schwächung offen- 
bart fih gegenwärtig viel gefährlicher als in den alten Zeiten, in denen die inſtinktiven Abhängig- 
keitsgefühle in den Maſſen noch einen überwiegenden Einfluß beſaßen. 

Auch die Geſchichte, gewiſſenhaft ausgelegt, wird den leitenden Mächten ſagen, daß 
die Löſungen von Konflikten und Schwierigkeiten durch das Mittel der Gewalt tat nur 
vorübergehende Erfolge und nur ſcheinbare Beſchwichtigungen bringen, gefolgt 
von noch ernſteren und immer mehr wachſenden Schwierigkeiten 


— we wi u. bh, * eat ké ad 


Die Religion der neuen Zeit 2% 639 


Zn den Maſſen hat der Kultus der Gewalttat und der kriegeriſchen Einrichtungen feine 
Quelle zum großen Teil in der Freude an den rhythmiſchen Eindrücken, 
welche die Menge empfindet angeſichts jener großen Vorführung von harmoniſcher Oiſziplin 
und überhaupt von anſcheinend harmoniſcher Gemeinſchaft einer großen Zahl von Menſchen 
im ODienſte eines anſcheinend erhebenden Zweckes. Außerdem lebt in vielen edlen Seelen in 
der Menge, und hauptſächlich in der Jugend, der begeiſternde Gedanke, der die Jahrhunderte 
erfüllt hat: Dulce et decorum est pro patria mori — füß iſt's und glorreich, zu ſterben fürs 
Vaterland. Das iſt es, was die Gewalttat für einen Teil der öffentlichen Meinung noch immer 
erhebt und adelt und ihr die Beſtrebungen und Überzeugungen der Friedensleute als ver- 
gleichsweiſe niedrig erſcheinen läßt.“ 

Somit werde es eine der größten Aufgaben ſein, zu verkünden, „daß unendlich 
viele Anläſſe zu ganz anderen Arten von Hingebung als zu den 
mit Gewalttat verbundenen in der Menſchenwelt vorhanden ſind, nämlich zu unabläſſigen 
Hingebungen fiir das Vaterland und die Menſchheit, die ſich ganz ebenſo bis zu dem hohen Ent- 
ſchluß, ja bis zu dem höchſten Glück ſteigern können, das Leben für das Wohl der Gemeinſchaft 
zu opfern, der man ſo viel Wohltaten verdankt. Und dieſe jedem Akt von Gewalt abgeneigten 
Hingebungen werden ſich immerdar als Notwendigkeit herausſtellen, andere retten zu helfen 
und überhaupt an großen Werken der Forſchung und wiſſenſchaftlicher wie techniſcher Arbeit 
mitzuwirken, insbeſondere auch bei der Löſung großer Aufgaben des Schutzes und der Lenkung 
gegenüber den Naturerſcheinungen und den irdiſchen wie kosmiſchen Kräften, einſchließlich der 
mikrokosmiſchen Gewalten. 

Endlich wird man, in dem gleichen Gedankengange, imſtande ſein und die Verpflichtung 
haben, große Horizonte zu öffnen auch gerade für Arbeiten und Unternehmungen, welche 
Organifation und Gemeinſamkeit erfordern und in weitem Umfange die Gelegenheit und ſelbſt 
die Notwendigkeit bieten werden, in der hingebendſten Difgiplin auch den rhythmiſchen Sinn 
und das harmoniſche Zuſammenwirken zu kultivieren, frei von den alten Schroffheiten hart- 
nädiger und durch perſönliche Eitelkeiten geſchärfter Autorität.“ 


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Die Religion der neuen Zeit 


Se? Sg Sie „Chriſtliche Welt“ gibt ein Kapitel aus dem Werke Walter Rauſchenbuſchs „Chris- 
2 tianity and the social Krisis‘ (New Vork, The Macmillan Company) wieder, 
2 das in den Vereinigten Staaten andauernd großes Aufſehen erregt und ſchon meh- 
rere Auflagen erlebt hat. Türmerleſer wird der nachſtehende Abſatz beſonders intereſſieren: 

„Eine auffallende Verminderung zeigt ... die alte Sehnſucht nach dem Senfeits. Wir 
Neuen glauben auch an Ewigkeit und Unſterblichkeit, aber wir ſind nicht mehr weltmüde. Viele 
von uns wiſſen noch aus unſerer Jugend, wie damals Todesverlangen und Himmelsſehnſucht 
als ſicheres Kennzeichen inniger Frömmigkeit galten. Das hat abgenommen. Uns bedeutet 
das Heil den Sieg über die Sünde und nicht das Entrinnen vor der Hölle. Diefe veränderte 
Stellung verleiht dem ganzen diesſeitigen Leben höhere Würde. Es iſt nicht mehr eine Laſt, 
die man loswerden möchte, ſondern ein hohes Gut, das um ſeiner ſelbſt willen ernſter Arbeit 
wert ijt. Die chriſtliche Hoffnung geht nicht mehr ganz auf in der perſönlichen Seligkeitshoff⸗ 
nung; es iſt jetzt Raum daneben für die ſoziale Hoffnung. 

Ebenſo ift das aſzetiſche und weltflüchtige Ideal, welches über ein Zahrtaufend das drift- 
liche Leben beherrſchte, faſt völlig entſchwunden. Naumann ſchildert in einer ſeiner Andachten 
febr hůbſch, wie nach einer begeiſterten Lobpredigt fiber die chriſtliche Ehe in einem proteftanti- 


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640 Moderne Schulndte 


ſchen Dome die unter den Steinfließen begrabenen Heiligen auftauchen und mit erftaunten 
und langen Geſichtern dies kurioſe veränderte Evangelium erörtern. Das mittelalterliche Evan- 
gelium ift heute auf den Kopf geſtellt. Früher der Preis des jungfräulichen Lebens, heute das 
Lob der Ehe und der Familie. Früher der Ruf zur freiwilligen Armut; jetzt die Verherrlichung 
des Chriſtentums, weil es den einzelnen und die Völker kulturfähig und reich macht. Früher 
wurde mit Begeiſterung gepredigt, man müſſe den Leib kaſteien und das Fleiſch durch Hunger 
und Nachtwachen muͤrbe machen und abtöten; jetzt wird man eingeladen, fih dem Chriſtlichen 
Verein Junger Männer anzuſchließen, am Turnreck das Fleiſch zu ſtärken und mit Brauſebad 
und Frottierhandtuch die Haut in einen chriſtlichen Zuſtand zu verſetzen. Wenn in kommenden 
Jahren fidh das heutige Evangelium des Individualismus einmal in das Evangelium des Gogia- 
lismus verwandeln ſollte, fo wird dieſer Uumſchwung immer noch nicht halb fo gewaltig fein 
wie der totale r ontw ed fel, mit dem das Chriſtentum dem aſzetiſchen Ideal den Rüden 
gekehrt hat. Noch halten fic aſzetiſche Reminiszenzen in den hochkirchlichen Faſtengebräuchen. 
Noch hört man in der Seelſorge oft den Gedanken, daß Trübſal der ſicherſte Weg zu Gott ſei, 
und daß nur nationales Unglück ein Volk zum religiöſen Leben zurückführe. Das Mißtrauen 
gegen die intellektuellen, künſtleriſchen und politiſchen Lebensäußerungen im deutſchen und 
engliſchen Pietismus, die Neigung, ſich auf die ſtillen Kreiſe des Familien- und Berufslebens 
zurückzuziehen, find auch noch abgeſchwächte proteſtantiſche Formen der 
aſzetiſchen Weltflucht. Oie römiſch-katholiſche Kirche, ihren mittelalterlichen Aber⸗ 
lieferungen getreu, verherrlicht noch immer den Kloſterberuf als die höchſte Blüte des religiö- 
fen Lebens. Aber wenn ihre mittelalterlichen Heiligen die paar Mönche ſehen würden, welche 
die katholiſche Kirche in Amerika produziert, würden fie den Totengeſang über ihrer Kirche an- 
ſtimmen und die verftorbene Frömmigkeit mit Jammer zu Grabe tragen. Nicht fort von der 
Welt, ſondern hin zur Welt drängt die Religion der neuen Zeit. Die Religion verbraucht nicht 
mehr ihre gewaltige Kraft dazu, Menſchen aus dem ſozialen Leben herauszureißen und von 
Familie, Eigentum und Staat zu iſolieren. Deshalb hat fie jetzt freie Hand, dieſe Kraft auf die 
Verchriſtlichung des täglichen Lebens zu konzentrieren. Sie ſucht nicht 
mehr in getrennten klöſterlichen Gemeinſchaften das Ideal des chriſtlichen Kommunismus zu 
verwirklichen. Deshalb ſollte ſie jetzt das geſamte Gemeinſchaftsleben der Menſchen chriſtlich 
umgeſtalten. Der aſzetiſche Enthuſiasmus ift vorbei. Zit damit überhaupt die chriſtliche Selbft- 
aufopferung verraucht, dann bedeutet das einen Reinverluſt an Religion, ein Kapitulieren 
des Chriſtentums an die Welt. Wird dagegen die alte aufopferungsfähige Begeiſterung der 
Religion auf die Neugeſtaltung der menſchlichen Geſellſchaft verwendet, ſo bedeutet das eine 
neue Ara in der Geſchichte der Menſchheit .“ 


2 
Moderne Schulnöte 


AS bote“ über dieſes immer größere Kreiſe aufreizende Kapitel ſchreibt. Wohl wag- 
ten ſich hier und da Klagen über den Unfegen der modernen „Schulreform“ (!) 
hervor, aber die meiſten Eltern ſagten: Was ſollen wir dagegen machen? Der einzelne könne 
gar nichts gegen geſetzliche Maßnahmen ausrichten. „And jo fügt ſich das Gros der Eltern feuf- 
zend und grollend in das unvermeidliche, in die Neuordnung der Dinge, auch wo der gefunde 
Menſchenverſtand und die Erfahrung der Väter und Mütter, die ihrerzeit doch auch eine gute 
Schule durchlaufen und Jahre auf ihre wiſſenſchaftliche Ausbildung verwendet haben, tei- 
nen Sinn und Verſtand in den Forderungen des neuen Syſtems zu entdecken ver- 
mag. Entlaſtung des Schülers und der Hausarbeit und möglichfte Aneignung des Bil- 


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Moderne Schulndte 641 


dungsſtoffes in der Schule ſelbſt — das war ehedem die Parole, mit der die Schulreform für 
ſich zu werben ſuchte. Bis jetzt iſt aber nichts davon zu merken. Im Gegenteil. Nach fünf⸗ 
und mehrſtündigem Tagesunterricht müſſen nach wie vor ebenſo lange, umſtändliche ſchrift⸗ 
liche Arbeiten zu Haufe angefertigt werden, und aus der Ratloſigkeit, mit der auch begabte 
Kinder, die oben fiken und gut lernen und auffaſſen, mitunter dieſer häuslichen Aufgabe gegen- 
überſtehen, müſſen die Eltern leider den Schluß ziehen, daß die Vorbereitung auf das auf- 
gegebene Penſum in der Schule nur ungenügend war, oder daß die moderne Art des Unter- 
richts ganz unzwedmäßig ift. 

Wie ſollte auch eine Entlaſtung der Schüler ſtattfinden können, wo die Schulreform 
z. B. im Wädchenunterricht die Penſa erweitert und die Anforderungen nur noch enorm er- 
höht hat? Was für ein Anſinn, was für eine Verkennung der weib- 
lichen Natur ift es auch, die jungen Mädchen in dem Umfange mit Mathematik 
zu plagen, wie es jetzt geſchieht. Wer heckt ſolche deen aus, und warum wird die- 
ſer Forderung einiger extremer Bildungstreiber, die in ihrer Neuerungsſucht und einſeitigen 
Luft an abſtraktem Theoretiſieren anſcheinend ganz die Fühlung mit den Lebensrealitäten ver- 
loren haben, ſo willig nachgegeben? 

Wie ſtimmt auch zu dieſer Vermehrung der Anforderungen der moderne Hang zur 
Schulſchwänzerei, für die alle erdenklichen Decknamen herhalten müſſen? Trotz der Erſchwe⸗ 
rung des Bildungsganges, trotz der Verſchärfung der Penſa dieſe Vergeudung von Zeit fiir oft 
recht entbehrliche Dinge. Alle Augenblicke muß der Unterricht, deffen Koſten beſtändig erhöht 
werden, ausfallen, weil Partien gemacht, Muſeen beſucht, Ausſtellungen beſichtigt werden 
müjjen oder fonft irgendwo fih ein Anlaß zur Freigabe des Unterrichts findet. Wozu muß 
zum Beiſpiel der Unterricht in den Berliner Vororten und zumal in den Mädchenſchulen aus- 
fallen, wenn das Militär auf dem Tempelhofer Felde eine Parade vor dem Kaiſer abhält? 
Glaubt man wirklich dem Patriotismus zu nützen, wenn man Kinder damit verleitet, ſich in 
das lebensgefährlihe Straßengedränge eines ſolchen Berliner Paradetages hineinzubegeben? 
In den meiſten Fällen werden fie von ihren Eltern gar keine Erlaubnis dazu bekommen — 
aber der Schultag geht verloren, damit fic vielleicht dieſer oder jener Lehrer einmal den Ein- 
marſch anſieht. Von der Parade ſelbſt ſehen die meiſten rein gar nichts. Und ſolche Schul- 
ausfälle finden ſtatt in dem kurzen Sommerſemeſter, wo erſt recht die Zeit ausgenutzt werden 
müßte, finden ftatt in unmittelbarer Ferien- und Feſttagsnähe, wie zum Beiſpiel vor Pfingſten, 
im Vorjahr ſogar einmal kurz nach den großen Sommerferien, wo doch wahrhaft in fünf 
Wochen Zeit genug zur Erholung war. So hat denn eben erft der Himmelfahrtstag einen 
Ruhetag in die Woche eingeſchoben, da muß eine höhere Mädchenſchule ſofort am Montag vor 
Pfingſten (8—10jährige dabei) eine ganze Tagespartie an den Müggelſee machen, und das 
von einem weſtlichen Vorort aus und in derſelben Woche, wo vielleicht noch ein freier Parade; 
tag in Ausſicht ſteht und dann die Pfingſtferien wieder winken. Die oberſte Schulbehörde hat 
den Mädchenſchulen zu alldem gar noch im Monat einen Extratag zur freien Ausübung ihrer 
Liebhabereien geſchenkt! 

Wo ſoll das noch hin? 

Nein, die moderne Schulrichtung überfpannt ihr hohles Bildungs- und Freiheitsideal 
in unzuläſſiger Weiſe, und man wird bald die böfen Folgen davon am Volkskörper ſpuͤren. 
Aber wie traurig, wenn dann erſt eine ganze Generation davon ſchwer geſchädigt worden iſt. 
Die moderne Schulreform iſt damit aber auch auf dem beſten Wege, Unfrieden zwiſchen Haus 
und Schule zu Iden, und nichts könnte unheilvoller für das Gedeihen beider aufeinander an- 
gewieſener Inſtitutionen fein. Auch die Lehrmittelfrage gehört noch in dieſes Kapitel der er- 
höhten Anforderungen, mit denen die Schule vielfach die Eltern wahrhaft ſchikaniert. An jeder 
Schule andere Bücher, und immer die neueſten Auflagen eines Schulbuches, an dem nur un- 
erhebliche Anderungen, nicht einmal Verbeſſerungen, vorgenommen worden ſind. Und ſolche 

Der Türmer XI, 11 41 


es 
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642 Sie Kellnerin 


Anderungen fallen den Herausgebern von Lehrbüchern, an denen ſchon fünf bis feds weiſe 
Schulmänner herumgedoktert haben, merkwürdigerweiſe Tat Jahr um Zahr ein. Die Schu l- 
buchfabrikation ſcheint von gewiſſen Pädagogen wie ein geldſchmeißender 
Induſtrie artikel betrieben zu werden, und die Eltern wiſſen nicht, wie fie ſich gegen 
dieſe Zumutungen, die auch im Zeichenunterricht und anderen Nebenfächern auftreten, wehren 
ſollen. Wie ein Souverän verfügt die Schule über die Kaſſe der 
Eltern. Altbewährte Schulbücher, die ganzen Generationen die beſten Dienfte geleiſtet 
haben, find ganz von der Bildfläche verſchwunden und durch fragwuͤrdige Neuſchöpfungen er- 
ſetzt worden, die erſt die Probe auf ihre praktiſche Brauchbarkeit beſtehen müſſen. 

Das etwa ſind die Klagen und Bedenken, die von der modernen Schulreform in allen 
Elternkreiſen geweckt werden, welche regen Anteil an dem Schulwohle ihrer Kinder nehmen. 
Möchten die maßgebenden Inſtanzen fie beherzigen, und wenn die Hauptſache auch nicht alljo- 
gleich von ihnen wieder abgeſtellt werden kann, fo doch dahin wirken, daß wenigſtens alle Aus 
wüchſe, alle üblen Nebendinge, die nur Ärger und Unfrieden ſchaffen, möͤglichſt bald gemildert 
oder ganz beſeitigt werden. Wir gönnen gewiß auch den oberen Klaſſen einen Muſeumsbeſuch 
oder eine Klaſſikervorſtellung, wir gönnen allen Großſtadtkindern ihre Partie. Doch alles im 
rechten Maße und zur rechten Zeit. Die moderne Schulpartie hat ſich aber in den Großjtädten 
ſchon eher zu einer Plage für Schule und Haus ausgewachſen. Sie findet für den kurzen, ferien- 
reichen Sommer viel zu häufig ftatt und hat allmählich ganz unzuläffige Formen angenommen. 
Es geht zu weit, ſchon Kindern von acht Fahren Cifenbabn- und Dampferfahrten auf ganzen 
Tagestouren zuzumuten, vor allem wenn die Eltern keine Zeit haben ſollten, ihre Kinder dabei 
zu beaufſichtigen und zu beköſtigen. Auch beim beiten Willen können nicht ein oder zwei Lepr- 
kräfte vierzig fo unſelbſtändigen Kindern, die ſich noch nicht einmal die ſchweren Coupéturen 
öffnen können, an ſolchen Tagen ausreichend zur Seite ſtehen oder ihnen die im Großftadt- 
verkehr doppelt nötige elterliche Fürſorge erſetzen. Vielleicht ift diefe Frage für Großſtädte 
überhaupt in ein Stadium getreten, wo ſie eine andere Löſung heiſcht, denn die Familien machen 
ihon ſelbſt Sonntags mit ihren Kindern genug Ausflüge. Fort alfo zunächſt mit allen Aus- 
wüchſen des modernen Schulbetriebes, wenn die Eltern Zutrauen zur Schulreform gewinnen 
follen. Bis jetzt ſehen fie nichts von Vorteilen dabei, ſondern neigen auf Grund ihrer Beob- 
achtungen eher der Anſicht zu, daß die moderne Schulreform nur ein Wagnis, nur der Anfang 
eines unheilvollen Experimentes ſei, das uns keinen Segen bringen werde. 

Mit bangen Herzen ſehen die Eltern auf ihre im ſchnellen Wachstum begriffenen el f- 
jährigen Söchter, die von 8—2 Ahr in der Schule figen müſſen, dann zu 
Haufe Klavierſtunden haben und nach dem Mittageſſen noch 2—3 Stunden häusliche Schul- 
arbeiten machen müſſen. Was ſoll da aus der körperlichen Entwickelung des Kindes werden? 
Und wo zu diefe Schultreiberei? Die Mädchenſchulen follen mit ihren Leiſtungen an die höhe- 
ren Knabenſchulen hinangeführt werden, um dann einzelnen das Univerfitdteftudium zu 
ermöglichen. Darunter müſſen alle leiden.“ 

Wie lange noch?! 

& 
SS: 


Die Kellnerin 


4 Lin jeder von uns, philoſophiert „Beatus Ille“ im „März“, geht dann und wann ein- 

‘ GIE mal ins Wirtshaus. Der eine tut’s gern, aus tiefer innerer Neigung, der andere 
— weniger gern, ſondern vielmehr, weil er Hunger und Ourſt hat. Alle aber find wir 
gleichmäßig daran intereſſiert, daß der Ort, wo wir zwiſchen der Arbeit ausruhen und uns 
körperlich erfriſchen wollen, behaglich ſei. 


Sie Nellnerin 643 


Es mag ſein, nein, es iſt gewiß, daß im allgemeinen ſtets der Kellner die höchſte Stufe 
der Exaktheit in der planvollen Bedienung der Gäſte erreichen wird. Von einem gutgezogenen 
Londoner waiter leiſe und diskret bedient zu werden, von einem klugen und menſchenkundigen 
Manne, der die ergebene Würde des vornehmen Hausbedienſteten beherrſcht, unſere Wünſche 
ſchweigend errät, immer da iſt, wenn er gebraucht wird, nichts gehört hat, was er nicht hören 
foll, taktvoll verſchwindet, wenn er überflüſſig ift, — ja das ift ein Vergnügen beſonderer Art. 
Aber wie die Dinge liegen, iſt es uns ſelten beſchieden, denn der deutſche Kellner erreicht auch 
in feiner Maienblüte dieſen trefflichen engliſchen Typ äußerſt felten. Er ift entweder unangenehm 
fervil, aufdringlich und redſelig; oder, wenn er fih für ſehr vornehm hält und die Allüren irgend- 
eines renommierten Hauſes zu wahren hat, iſt er arrogant. Im Durchſchnitt bleibt er, trotz 
ſeinem oft redlichen und öfter noch drolligen Bemühen, ein formloſer Geſelle, ein unfreiwilli- 
ger Zerrſpiegel deutſcher Verkehrsſitten. Man kann ihm keinen beſonderen Vorwurf draus 
machen. Wir ſelber ſind ſchuld an ſeiner Unzulänglichkeit. 

Zugegeben: die Kellnerin, wie fie im deutſchen Süden umgeht, ift kein Zdeal an Ber- 
läßlichleit und Genauigkeit. Sie vergißt, verwechſelt, verwurſtelt leichter einmal ihre Aufträge. 
Und doch „bedient“ fie beffer, nämlich taktvoller. Sie hat von Natur die größere Anpaſſungs- 
fähigkeit, fie braucht nicht erft ſervil zu werden, fie kritiſiert innerlich weniger als ihr männ- 
licher Kollege, der im ſtillen längſt ſeine Trinkgeldberechnung gemacht hat und das Maß ſeines 
Entgegenkommens nach dem Stiefelſchnitt des Gaftes bemißt. Die Kellnerin wird die er- 
leſenſte Form der ſachlichen und ſachkundigen Bedienung nie erreichen, wird nie recht fach 
menſchlich fein. Aber fie bleibt eben deshalb mehr bei ihrer Sache, bleibt natürlicher, umgäng- 
licher und liebenswürdiger. Mag fein, daß wir männlichen Gäſte das deutlicher ſpüren als die 
weiblichen, daß unſere inſtinktive Sympathie fürs andere Geſchlecht da mitſpricht. Schließ- 
lich ſind wir doch in ganz anderem Maße aufs Wirtshaus angewieſen als die Frauen, wobei 
ich weniger an den abendlichen Stammtiſch denke als an die Notwendigkeit, auf Reifen und im 
täglichen Beruf öffentliche Lokale aufzuſuchen. 

Dieſe kleinen Mängel in der weiblichen Bedienung aber, dieſes Fehlen des rein Ge- 
ſchäftsmäßigen, — das ift es gerade, glaube ich, was uns die öffentliche Abfütterung erträg- 
lich und bis zum gewiſſen Grade fogar behaglich macht. Ich empfand den Unterſchied unange- 
nehm genug, als ich kürzlich ein altes Café in München nach Jahren wieder betrat. An Stelle 
der Theres und der Anna, die einen mit „Grüß Gott!“ willkommen hießen, eilten geſchäftige 
und geſchniegelte Herren in weißen Jacken von Tiſch zu Tiſch. Das Lokal war großſtädtiſch um- 
frifiert worden, erglänzte von Spiegeln und bronzierten Kronleuchtern, war nun fo richtig öde. 
Sch gehe nie wieder hin. Denn gottlob: noch gibt es ja rund um die Frauentürme und auch 
anderswo im Güden ſtille Plätze genug, wo das weibliche Element fein altes Recht behauptet 
und ein gewiſſes häusliches Behagen auch im ſchnöden Wirtshauſe ſchafft. Wie heißt es doch 
in einem ernſten Werke über die feruelle Aufklärung der Zugend febr richtig? „Mit leifer Stimme 
und ſanfter Hand führt die liebende Frau den ungeſtümen Mann zu heiterer Anmut!“ — 
Na alſo! 


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Die hier veröffentlichten, dem freien Meinungsaustauſch dienenden TEE: 
— Einſendungen find unabhängig vom Standpunkte bes Herausgebers 


Ziviliſation und Kultur 


(Bgl. S. 197, Heft 8, und S. 499, Heft 10) 


Mit Kulturopfern bezahlen wir nach dem inhaltreichen Eſſay des Dr. Wilhelm 

von Medingen (S. 197) unſere freiheitliche Entwicklung und unſere modernen 
Errungenſchaften. Das trifft allerdings für unfer heutiges Leben zu, aber nicht 
weil es naturnotwendig fo fein muß, ſondern weil wir einen weſentlichen Faktor in der moder- 
nen Zeit ganz vernachläſſigt haben: wir haben Ziviliſation lange mit Kultur verwechſelt, wir 
haben über der Ziviliſation die Kultur ganz vergeſſen. Ziviliſation und Kultur verhalten ſich 
zueinander wie Verſtandesbildung und Herzensbildung. Ziviliſation ift höchſte Verſtandes⸗ 
ausbildung, ift Ausbildung von Wiſſen und Scharfſinn, ift Erraffen und Aneignen von Erfah- 
rungen und Wiſſensſtoffen in der Richtung auf Macht und auf Kraft des Geiſtes, auf äußeren 
Erfolg, auf höchſte Klugheit; hier die innere Leere der Verſtandesbildung. Kultur iſt höchſte 
Herzensbildung, iſt lebendiger Glaube und Gemütstiefe, iſt Verarbeitung der Erfahrungen 
und der Wiſſensſtoffe in der Richtung auf Tugend und Adel der Seele, auf innere Veredelung, 
auf höchſte Weisheit; hier die innere Kraft der Gemüts- und Herzensbildung. Dort Berjtandes- 
bildung, hier Gemiits- und Herzensbildung; dort die Macht des äußeren Erfolges, hier die Macht 
des inneren Seelenadels. Vergrößerung der Ziviliſation hat nicht notgedrungen eine gleich- 
zeitige Einbuße an Kulturwerten zur Folge. Sondern nur bei einfeitiger Betonung der äuße- 
ren Seite des Erfolges („Wiſſen iſt Macht“; Geldmachen um jeden Preis) verkümmert not⸗ 
wendigerweiſe die kulturelle Seite, der innere Adel im Menſchen. Wiſſen, Wiſſenſchaft (lebendi- 
ges Wiſſen, welches neues Wiſſen aus ſich hervorbringt) und Ziviliſation ſind dem Glauben, 
der Religion und der Kultur untergeordnet; ſie ſind im Menſchen nur der Born, aus welchem 
die Kultur als lebendiger Quell fließen ſoll, ſie ſollen immer neue Quellen der Kultur faſſen 
und erſchließen, ein erhabener Bronn von Waſſern des Lebens. Ziviliſation erweitert und ver- 
breitet die Erkenntnisgebiete; Kultur vertieft dieſe und gibt ihnen die Richtung auf das Ewige. 
Ziviliſation und Kultur ſollen ſo in lebendiger Wechſelwirkung zueinander ſtehen, derart, daß 
zwar Kultur das Höhere von beiden ift, beide ſich aber gegenſeitig emportreiben. Dient die Zivili- 
ſation dem Menſchen nicht dazu, die Kultur zu vermehren, dient fie lediglich den äußeren Zwecken 
der Macht und des Erfolges, nicht aber den tieferen Zwecken innerlicher Veredelung, dann ver- 
ſchüttet die Zivilifation den lebendigen Quell der Kultur; dann bezahlen wir allerdings mit 
Kulturopfern die modernen Errungenſchaften und die freiheitliche Entwicklung der Ziviliſa- 
tion; wohlgemerkt aber nur bei einfeitiger Ausbildung der Verſtandeskräfte, des Wiſſens und 


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Zwiliſation und Kultur 645 


der Sivilifation auf äußere Macht hin. „Die Vollendung des Menſchen und fein einziges Vor- 
bild“ iſt aber in der Tat nicht höchſter Erfolgs- und Verſtandesmenſch, ſondern „das in der 
Sphäre der Kunſt und Schönheit, des philoſophiſchen Gedankens und des religiöſen Gemüts 
ſchöpferiſch tätige und ſchaffende Genie“. Es gilt, die niederen Triebe des Intellekts durch die 
Erhebung der moraliſchen Perſönlichkeit im „Stirb und werde“ niederzuzwingen. Ziviliſation 
muß ſich in Kultur umformen oder muß vielmehr der Kultur den Weg bereiten; Intellekt und 
Gemüt müſſen ſich in lebendiger Wechſelwirkung gegenſeitig emporheben. So erhebt fidh der 
Menſch zur höchſten Stufe des Edelmenſchen (Herrenmenfhen). Der Grundzug eines ſolchen 
Edelmenſchen (Herrenmenſchen) — dieſer im Gegenſatz zum Erfolgs- und Geſchäftsmenſchen 
(Unternehmer) — beruht notwendigerweiſe auf Gnade und auf Demut; auf Gnade, weil die 
großen Erkenntniſſe dem Edelmenſchen aus dem Quell ſeiner innerlichen Kultur ohne ſein 
Zutun ſelbſttätig hervorbrechen; auf Demut, weil der Edelmenſch ſich dabei feiner Keinheit 
immer voll bewußt bleibt. Ein weſentlicher Grundzug ift aber doch noch ganz außer acht ge- 
laffen, das ift die Vürdigkeit. Der Menſch muß ſich der Gnade würdig erweiſen 
durch treue innere Arbeit an ſich ſelbſt; ohne ſolche innere Arbeit wird ihm die Gnade 
nicht rein zuteil. Daß die Religionen dieſen weſentlichen und grundlegen 
den Grundzug der Würdigkeit und der ſelbſterneuernden Arbeit gänzlich außer 
acht laſſen und die Gnade ganz in den Vordergrund ſtellen, fo daß die Notwendigkeit der Würdig- 
keit dagegen ganz zurücktritt, das ijt meines Erachtens ein ſchwerer Mangel und eine Entwer- 
tung der Religionen. Sind wir uns aber deſſen bewußt, daß alles Wiſſen, alle Bildung des 
Verſtandes und des Zntellekts und alle Ziviliſation nur dazu dienen darf, unſere Herzens- 
und Gemütsbildung in wahrer Kultur immer tiefer und edler zu geſtalten, damit das Göttliche 
aus unſerer Seele in immer reinerem und vollerem Strahl hervorleuchten und hervorbrechen 
kann wie ein lebendiger Lebensquell, der ſeinerſeits neu befruchtet und heiligt, und daß wir 
der Gnade uns erft durch treue innere Arbeit würdig machen müffen, dann ift Ziviliſation 
nicht mehr der Todfeind der Kultur, ſondern ihr Wegbereiter. So gelangen wir zu einer 
reinen freiheitlichen Entwicklung, zu einem erhabenen guten Willen. — Von 
dieſem Punkt aus verſtehen wir nun auch die „Entwicklung vom Herrn zum Unternehmer“, 
Die ausſchließliche einſeitige Ausbildung des Zntellekts bei völliger Vernachläſſigung 
des Gemüts ließ den modernen Menſchen feine innere Freiheit verlieren. Er verlor feine 
Herrennatur, er wurde zum Erfolgs- und Geſchäftsmenſchen, zum Unternehmer. Zum Herren- 
menſchen kann ſich aber jeder Menſch, ob hoch, ob niedrig, nach dem ihm gewordenen Pfunde 
empor arbeiten, wenn er ſich die innere Freiheit erringt und innerlich erarbeitet, wenn 
feine Herzens - und Gemütsbildung im Streben nach äußerer Freiheit und Macht nicht durch 
leeres Wiſſen und kalten Geſchäftsſinn ertötet wird. Er wird fo erft in Wahrheit ein Kultur- 
menſch. Ze größer ſein innerer Adel (Intellekt und Gemüt in lebendiger Wechſelwirkung) 
wird, auf eine deſto höhere Stufe des Menſchentums hebt er ſich dann empor. 

„Der Reiz zu leben“ liegt nicht „in der Ungleichheit der Schickſale“, ſondern im f & ö p fe- 
riſchen Schaffens triebe (hieraus ergibt ſich auch das Niederdrückende maſchinenmäßi⸗ 
ger Fabrikarbeit). Die Überwindung der ſich entgegenſtellenden Schwierigkeiten, des Leides, 
der Genußſucht, niederer Triebe ſtärkt die Schaffenskraft. Die innere Gewißheit, daß der Menſch 
emp or ſteigen kann, wenn er ſelbſt ſich deſſen durch treue Arbeit und treues Schaffen würdig 
macht: das iſt die beſeligende und befreiende Kraft, die den Menſchen einem immer höheren 
Ziele entgegentreibt. Hier die Herren natur im Menſchen, die die innere Verede— 
lung über alles ſtellt. Daß dem Menſchen bei feſtem Willen aus übergroßen Widerſtänden 
ubermenſchliche Fähigkeiten erwachſen, das ſteht außer allem Zweifel. Andrerſeits erwachſen 
die Edelkräfte im Menſchen nur in der Stille, in Harmonie und Ruhe; in harter Fronarbeit 
ums tägliche Brot, die dem Menſchen keine Zeit zur Selbſt-Einkehr läßt, muß die Edelnatur 
in jedem Menſchen verkümmern (desgleichen auch im Müßiggange). Die Edelnatur in 


646 Swillfation und Kultur 


jedem Menſchen zu erwecken, das ift das neue Zdeal, das ift die Grundbedin- 
gung für eine Geſundung und Heiligung des Menſchengeſchlechtes. Jeder Menſch ein Tempel 
Gottes, jeder Menſch ein lebendiger Born göttlichen Geiſtes, der der Erſchließung harrt. Das 
ift die wahre Herrennatur im Menſchen, die den Menſchen weit über den Nietzſcheſchen Über- 
menſchen erhebt, welch letzterer zum wahnwitzigen „Ubermenſchen“ entarten muß, jeder Ebr- 
furcht vor Göttlichem und Heiligem bar. Das ift der Gott⸗Menſch, das Menſch-ZJdeal. Hier der 
erhabene gute Wille in reinſter Klarheit in Schiller-Fichte⸗Schopenhauerſcher Auffaſſung, 
nur weiter verklärt zu göttlicher Reinheit. So wird uns „das Leben aus einem Gewerbe wieder 
zu einer Kunſt“, ſo wird der Menſch aus einem Unternehmer wieder zu einem Herrenmenſchen, 
aus einem Erfolgs- und Geſchäftsmenſchen wieder zu einem Edelmenſchen. 

Hier das neue Kulturideal der Menſchheit. Eine Überflutung der Perſönlichkeit durch 
die Maſſen ift dann nicht mehr zu befürchten. Es bildet fih vielmehr eine lebensvolle Menfden- 
gemeinſchaft. Nicht Kosmopolitismus, ſondern organiſch gegliedertes Menſchentum, ge- 
gliedert in Familien, Kreiſe, Stämme, Völker. Nicht eine ein förmige Maſſe, ſondern 
ein vielgeſtaltiger Organismus der Menſchheit. 

Geniale Epochen waren vorwiegend unpraktiſch und mehr idylliſch-weichlich (das Goethe- 
fhe Zeitalter); dagegen iſt „in unſerer wirtſchaftlichen Zeit das Streben ganz auf Güter der 
Ziviliſation gerichtet“. Einſeitige Ausbildung der Kultur oder der Ziviliſation führen not- 
gedrungen zu ſolchen Erſcheinungen und zur Halbheit. Eine lebensvolle gegenfeitige 
Durchdringung beider, der Ziviliſation und der Kultur, führen hingegen zu dem idealen Bu- 
ſtand eines ſtarken Kulturvolks. 

Zeiten mußten vergehen, bis das Menſchengeſchlecht ſich deſſen bewußt geworden iſt, 
daß der Menſch eine Seele hat, daß es nicht bloß eine Verſtandesbildung, ſondern auch eine 
Gemütsbildung gibt, daß die höchſte Ausbildung des Intellekts nach der Macht- und Erfolg- 
feite hin nicht der einzige Lebenszweck des Menſchen fein kann, ſondern daß die innere Ver- 
edelung des Gemüts zu einer moraliſchen Perſönlichkeit, zu einer Perſönlichkeit mit erhabenem, 
gutem Willen das alleinige Lebensziel iſt, das allein dem Leben erſt vollen und wahren Wert 
verleiht. „Oer Schrei nach Kultur, der heute immer lauter ertönt“, iſt die gewaltige Sehnſucht 
nach dem Göttlichen, die ſich durchringen und das Menſchengeſchlecht heiligen wird; es iſt nicht 
„der ſehnſüchtige Ruf eines Kranken nach dem entſchwindenden Leben“, ſondern ein Sieges- 
ruf, der jetzt erft leiſe anhebt, aber zu brauſender, alles bezwingender Sphärenharmonie voll 
allgewaltiger Ewigkeitsakkorde anſchwellen wird. Es iſt die Morgenröte einer neuen Zeit 
mit einem neuen Ideale, einer neuen Zeit, die einem neuen Kulturideale entgegen- 
ſtrebt: dem Zdeale, daß das Menſchengeſchlecht die Beſtimmung hat, ſich in treuer Arbeit empor- 
zuarbeiten zu einem Herrenmenſchentum, zu innerem Seelenadel. Hier ein neues Menſchheits- 
ideal, welches jedes Menſchenherz wieder mit Adel und Freude zu erfüllen vermag, welches 
den Menſchen wieder aus dem Staube zum Edelmenſchen emporhebt. 

Schaffen und helfen wir, daß jeder Menſch, ob hoch, ob niedrig, in treuer innerer Arbeit 
zum Edelmenſchen, zum Herrenmenſchen ſich emporarbeitet. Mehr als Gedankenfreiheit tut 
dem Menſchen jetzt Seelenfreiheit not. Schaffen wir den Seelen Freiheit, daß ſie im 
Emporringen ihre Schwingen entfalten können dem Ewigen entgegen! 

Oeutſches Volk, gedenke deiner Adels Beſtimmung! In hoc signo vinces. K. W. 


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UrmMer. 


V 


Nach geſchlagener Schlacht — Die große Tatſache — Anſere 
Intellektuellen — Anheimliche Propheten 
N IN unſerer Rechnung nicht die Forderungen der Vernunft und Gered- 
WO, tigkeit zugrunde legen, ſondern die realen Machtverhältniſſe. Daß 
offiziellen Preußen Deutſchland noch immer der herrſchende ift, bei jeder ernit- 
lichen Machtprobe obſiegen muß, iſt am Ende keine Entdeckung von heute morgen. 
heit ſind, daß ſie, in nüchternen Ziffern ausgedrückt, zu den Andersgeſinnten ſich 
allerhöchſtens wie vier zu ſieben verhalten. Wo verbürgt denn überhaupt Mehr- 
über die parlamentariſche und damit die maßgebende Mehrheit. 

Eine Zufallsmehrheit freilich, die von heute zu morgen fidh in die Minder- 
Aber dieſes „Wenn“ tritt eben nicht ein, und daß es nicht eintritt, beweiſt 
erſt ihre eigentliche Stärke. Denn es beweiſt, daß ihre Herrſchaft ſich nicht 
auf Faktoren, die unabhängig find vom Willen und vielleicht auch von den Inter- 
eſſen des Volkes 
ihre Harfen geſtimmt. Heldenlieder ſind's freilich nicht, die fie ihnen entlocken tonn- 
ten. Einer Not des Landes ſei abgeholfen, meint immer noch optimiſtiſch genug 
heitsparteien ... kein rechtes Gefühl der Befriedigung oder Genugtuung auf- 
kommen, noch kann den Bewilligern der Steuern für ihre Leiſtung ein aufrichtiger 
ſchaltung der Reformgedanken, und ihr haften fo viele Mängel der Überhaftung 
und Parteiſucht an, daß ſie am Tage der Geburt ſchon nach Reparatur ſchreit. 


o iſt es alſo gekommen, wie es kommen mußte. Wenn wir nämlich 

DEE) in Wirklichkeit der Geiſt des Feudalismus und Klerikalismus im 
Daran andert auch nichts die Tatſache, daß die Vertreter dieſes Geiſtes in der Minder- 
heit an ſich ſchon Herrſchaft? Aber Feudalismus und Klerikalismus verfügen eben 
heit wandeln würde, wenn fie der Feuerprobe neuer Wahlen ausgeſetzt würde. 
ſo ſehr auf die Stimmen der Wähler gründet, ſondern auf ganz andere Faktoren, 
Die Schlacht iſt geſchlagen, und die Barden der verſchiedenen Lager haben 

der Herausgeber der „Täglichen Rundſchau“, „und doch will ſelbſt bei den Mehr- 
Dank abgeſtattet werden. Dieſe Steuerbewilligung ift eine Reform unter Aus- 
Haben doch ſelbſt die Regierungsvertreter die ... angenommenen Steuern nur 


648 Zürmers Tagebuch 


mit Kennzeichnungen wie unannehmbar, kaum annehmbar, unvollkommen, höchſt 
mangelhaft, ſehr bedenklich, zu empfehlen gewußt! Was die Reform bringen ſollte, 
eine klare Grenglegung zwiſchen den Finanzen des Reichs und denen der Einzel- 
ſtaaten, iſt nicht erreicht, kaum ernſtlich angeſtrebt worden; das Reich wird auch in 
Zukunft den Bundesſtaaten auf der Taſche liegen müſſen. Und ferner iſt ſchon 
heute klar, daß dieſer Reichsfinanzreform eine zweite folgen wird, ſchon weil die 
bewilligten 500 Millionen nicht einkommen werden. Von Schuldentilgung und 
finanzieller Rüſtung des Reichs für den Kriegsfall ganz abgeſehen. Wenn dieſe 
zweite Reform kommt, jo kommt auch trotz aller Beteuerungen des Herrn Heyde- 
brand (konſervativen Wortführers) die Forderung nach einer allgemeinen Beſitz⸗ 
ſteuer wieder, und die Erbanfallſteuer wie das Geſetz über das Erbrecht des Reichs 
erleben Urſtänd. Dann wird man nicht zum zweiten Male mit dem Familienfinn 
und dem allgemeinen Stimmrecht operieren können; denn dann hat das Zentrum 
nicht mehr nötig, die Konſervativen aus taktiſchen Gründen gegen die Überzeugung 
ſeiner eigenen Leute zu unterſtützen, weil es dann keinen Block mehr zu ſprengen 
und keinen Bülow zu ſtürzen gibt. 

Selbſt die konſervativen Sieger können ſich ihres Sieges nicht freuen, denn 
es liegen zu viele Leichen auf dem Schlachtfeld. Zunächſt der Kanzler ſelbſt. Herr 
v. Heydebrand hat eine große oratoriſche Kunſt aufgeboten, um zu beweiſen, daß 
die Stellungnahme der Konſervativen gegen den Kanzler notwendig und nicht von 
böſen Abſichten begleitet war; aber er hat doch nicht zu leugnen vermocht, daß der 
Kanzler ſein Amt verläßt, weil die Konſervativen ihm das Verbleiben auf ſeinem 
Poſten unmöglich gemacht haben, da fie feine Schöpfung, den Block, gertriimmer- 
ten, ſich mit dem Zentrum verbündeten und ihm die Erbanfallſteuer weigerten, 
obwohl er ihnen am 12. April ausdrücklich erklärt hatte, daß er von der Annahme 
dieſes Geſetzes fein Ausharren im Amte abhängig mache. Fürſt Bülow i ft 
vom Zentrum durch die Konſervativen geſtürzt worden — 
an dieſer geſchichtlichen Tatſache, die Fürſt Bülow ſelbſt be 
ftdtigt, ändern weder die Redekünſte des Herrn v. Hendebrand etwas, noch die 
kühnen Behauptungen gröberer Patrone, die im Volksdemagogenton die Schuld 
einfach den Liberalen zuſchieben und alfo dem angeblich von ihnen fo hochverehr- 
ten Staatsmann inſinuieren, daß er über die Gründe ſeines Abgangs ſelbſt nicht 
im klaren fet. Wir wiſſen wohl .., daß zum Sturze des Fürſten Bülow mehrere 
Strömungen beitrugen, und daß er den Konſervativen allein nicht hätte zu weichen 
brauchen — aber die Hauptakteure bei feinem Sturze waren die Herren Heyde- 
brand und Genoſſen, oft freilich vom Zentrum geſchoben, wo ſie allein zu handeln 
glaubten. Es wird noch die Zeit kommen, wo die Kuliſſenvorgänge 
dieſer Reichsfinanzreform und dieſes Kanzlerſturzes geſchrieben werden, und dann 
wird die heutige Rede des Herrn v. Heydebrand eine eigenartige Zlluftration 
erfahren. 

Der Kanzler geht; ſeine Regierung aber bleibt und der Bundesrat auch, 
trotzdem beide in dieſen Tagen eine unabſehbare Einbuße an Autorität erlitten 
haben. Die „Verbündeten Regierungen“ zahlen ihre Umfälle, ihre Beugen unter 
das Diktat der Mehrheit, das der Etablierung einer Parlamentsherrſchaft nahe- 


Türmers Tagebuch 649 


kam, mit einer Verminderung ihres Anſehens, die in unferer autoritätsbedürfti- 
gen Zeit doppelt bedauert werden muß. .. . Als den ſchwerſten Schaden aber er- 
blicken wir die Außerachtlaſſung der Gerechtigkeit bei dieſer antiſozialen 
Geſetzgebung. Die Belaſtung des Volkes mit mehr als 400 Millionen Ron- 
ſumſteuern hätte durch eine allgemeine Beſitzſteuer gerechtfertigt werden müſſen, 
die Mehrheit aber wälzte ihre ſogenannten Beſitzſteuern nur auf einzelne Klaſſen 
ab. Derartiges verträgt ein Volk, dem das allgemeine Stimmrecht gegeben iſt, 
nicht, und die Sozialdemokratie wird der bürgerlichen Geſellſchaft wieder mit dem 
Scheine eines Rechtes entgegentreten können. Unſere Rüſtung gegen die Umfturz- 
partei zeigt eine Blöße, weil unfer Gewiſſen nicht mehr frei ift...“ 

Kräftiger — ich muß hier ſchon die „Harfe“ fallen laſſen — ſtößt Herr von 
Gerlach in der „Welt am Montag“ ins Horn. Warum, ſo fragt er, wenn es Bülow 
ſo bitter ernſt war um die patriotiſche Pflicht der Finanzreform, — warum konnte 
er im Winter 1907/08 ſeinen Patriotismus fo energiſch bezähmen? „Damals 
war die Finanzreform genau ſo nötig wie ein Jahr ſpäter. Schon damals ſteckten 
wir bis über die Ohren drin in der Pumpwirtſchaft. Aber damals ſagte Bülow 
denen, die zu Finanzvorlagen drängten: Finger davon! Er ahnte, daß der Block 
die Finanzreform nicht überleben werde. Die Liebe zum Block legte feinem patrio- 
tiſchen Finanzreformeifer Zügel an. Jetzt ſtöhnt man über die 1%, Millionen 
Schulden, die jeder Tag der Zögerung dem Reiche bringt. Damals konnte 
man dem Reiche viele hundert Millionen erſparen. Aber 
dann hätte ja der Block und Bülows Kanzlerſchaft ſchon ein Jahr früher ihr Ende 
finden können!. 

War Bülow ein Charakter, ſo mußte er dem Kaiſer das Ultimatum ſtellen: 
Reichstagsauflöſung oder ſofortige Demiſſion! Wäre er ein charakterloſer Menſch, 
ſo hätte er ſich dauernd der neuen Mehrheit angepaßt. Seine Naturanlage trieb 
ihn dazu, die Diagonale zwiſchen Charakter und Charakterloſigkeit zu ſuchen: er 
wurde befriſteter Reichskanzler. 

Die Folge davon iſt Verwirrung und Blamage ohnegleichen. Wir haben 
keine Regierung mehr, wir haben nur noch Regierungsvertreter. Spricht einer 
dieſer Regierungsvertreter von dem ‚Standpunkt‘ der Regierung, fo erhebt ſich 
fo brüllendes Gelächter, daß er nicht mehr weiterreden kann. Erklärt ein anderer 
Regierungsvertreter, die Regierung müſſe dies und das als unannehmbar bezeich- 
nen, fo wird ihm prompt erwidert: ‚Dann wird fie es alfo in der dritten Leſung 
akzeptieren.“ So offen wird mit den Herren Regierungsvertretern im Reichstag 
Schindluder getrieben. Und ſie können ſich nicht dagegen wehren. Sind ſie doch 
ſelbſt ſchuld daran, daß niemand ihre Worte ernſt nimmt. Wer einmal die Nach- 
laßſteuer für die conditio sine qua non der Finanzreform erklärt und dann alles 
daranſetzt, um die Finanzreform ohne Erbſchaftsſteuer durchzudrücken, dem glaubt 
man nicht, auch wenn er einmal zufällig die Wahrheit ſpricht. Wer heute die Rotie- 
rungsſteuer in den Abgrund der Hölle verdammt und morgen die zur Talonſteuer 
umgetaufte Mißgeburt liebevoll in ſeine Arme ſchließt, dem kann auch der zahmſte 
Hanfabündler nicht beſcheinigen, daß er den kaufmänniſchen Kardinalſatz von, Treu 
und Glauben“ hochgehalten habe. 


650 Zürmers Tagebuch 


Wir haben keine Regierung mehr, wir haben nur noch Regierungsvertreter, 
die es ſamt und ſonders verdienen, mit dem Blockkanzler zugleich aus der politi- 
ſchen Zeitlichkeit abzuſcheiden. Der eine blamiert ſich ſo, der andere anders, aber 
blamieren tun fie fich alle. Ob der eine die Brände als Motiv für die Zündhölzchen⸗ 
ſteuer anführt, ob der andere es nicht für Aufgabe des Reichs erklärt, den Altoholis- 
mus zu bekämpfen, ob der dritte die reaktionäre Mehrheit anfleht, daß es einen 
Hund jammern könnte: „‚Erſchweren Sie uns die Situation nicht dadurch, daß Sie 
uns immer weiter zu Konzeſſionen zu drängen ſuchen, die wir mit unſerem Ge 
wiffen nicht vereinbaren können“, der Eindruck bleibt immer gleich vernichtend. 

Die Vertreter der ſogenannten Regierung blamieren ſich. Darauf käme am 
Ende wenig an. Aber ſie diskreditieren gleichzeitig das Deutſche Reich. Das 
wiegt ſchwer. 

Wenn es überhaupt noch ein erfreuliches Moment in dieſer jammervollen 
Situation gibt, ſo iſt es das: hier handelt es ſich nicht bloß um eine Blamage der 
augenblicklichen Regierungsvertreter, hier handelt es ſich vielmehr um den Zu- 
ſammenbruch des ganzen deutſchen Regierungsſyſtems. Nicht das ift das eigent- 
lich Schlimme, daß uns jetzt 500 Millionen unſinniger Steuern von den Ronferva- 
tiven und dem Zentrum aufgezwungen werden. Das Schlimmſte iſt, daß uns 
Parteien mit gemeinſchädlichen Geſetzen bedenken, die gar keine of- 
fizielle Verantwortung dafür tragen. Hätten wir es nicht mit dem 
Scheinkanzler Bülow, ſondern mit dem Kanzler Heydebrand und dem Vizekanzler 
Spahn zu tun, fo wüßte das deutſche Volk wenigſtens, wem es die Verantwor- 
tung aufzubürden hat. 

Auch parlamentariſch regierte Staaten haben nicht immer gute Regierungen. 
Aber fie haben wenigſtens immer eine Regierung. Sft fie ſchlecht, fo kann fie 
vom Volke zur Verantwortung gezogen und geſtürzt werden. Wir ſind hilflos 
der Regierung ausgeliefert, die uns eine un verantwortliche Stelle aufottroyiert. 
Und beliebt es dieſer Stelle, uns zeitweilig an Stelle der Regierung nur das Trug 
bild einer Regierung aufzunötigen, ſo können wir auch nichts machen.“ 

Doch, meint der „Vorwärts“, das Bürgertum könnte ſchon was dagegen 
machen, wenn es nur den ernſtlichen Willen, den Mut dazu hätte. An dem mangle 
es aber febr. Ganz anders die Konſervativen: „Herr v. Heydebrand, der ‚heimliche 
König von Preußen“, der in Wirklichkeit erreicht hat, was Wilhelm II. wie Fürſt 
Bülow vergeblich erſtrebt haben: zugleich Raifer und Kanzler zu fein, Herr v. Hende- 
brand hat im Reichstage geſagt: „Die Partei, die nichts anderes für ſich hätte und 
für ihre Macht als die formalen Beſtimmungen eines Wahlgeſetzes, würde auf 
die Dauer doch keinen feſten Grund haben.“ Der konſervative Führer hat recht! 
Die parlamentariſche Macht der Konſervativen und des verbündeten Zentrums 
ruht allerdings auf den formalen Beſtimmungen eines Wahlgeſetzes, auf der Un- 
gerechtigkeit der Wahlkreis einteilung im Reiche, die es zuläßt, daß die 
Erwählten von vier Millionen die von ſieben Millionen über- 
timmen. Sie beruht auf den Beſtimmungen des preußiſchen Oreitlaffenwabl- 
rechts, das die Gegner der Junker zu einer hoffnungsloſen Minoritat verewigt, 
das ihnen die Herrſchaft in Preußen, die preußiſche Verwaltung und Regierung 


Zürmers Tagebuch 651 


und damit die Führung im Bundesrate gewährt. Wenn aber dieſe Beſtimmungen 
gu ‚fo feſtem Grunde“ werden konnten, daß die Partei, die im Reichstag 63 Man- 
date beſitzt, ihren Willen als oberſtes Geſetz dem deutſchen Volke auferlegen kann, 
dann trägt die Schuld das deutſche Bürgertum, das immer wieder die Arbeiter im 
Stiche läßt, wenn es den entſcheidenden Kampf gilt. Nie hätte Herr v. Heydebrand 
ſein gewagtes Spiel gegen das deutſche Volk gewinnen können, hätte er nicht die 
Gewißheit gehabt, daß ſeine bürgerlichen Gegner es bei ohnmächtigen Proteſten 
bewenden laſſen, daß ſie ſich der parlamentariſchen Zufallsmajorität beugen und 
eher das Junkerjoch ſich auferlegen, als von der parlamentariſchen Majorität den 
Appell an die überwältigende Majorität des Volkes zu wagen“ 

Nicht erkämpfen, erliſten möchte das Bürgertum fih die Macht, und fo werde 
es immer wieder zum Beſiegten, weil es die Macht wolle ohne den Mut der Mittel, 
die zum Ziele führen. 

So ſeien die Vertreter des deutſchen Proletariats allein geblieben in dieſem 
langen Kampfe: „Sie blieben allein im Beginn, als die bürgerlichen Parteien 
fich weigerten, den Kampf gegen die neue Belaſtung der arbeitenden Klaſſen auf- 
zunehmen. Sie blieben allein, als es zu Ende ging, als der ſchwarze Schnapsblock 
feinen Sieg in Sicherheit bringen wollte, und als es den Verſuch galt, ihm im leg- 
ten Moment den Sieg zu entreißen. Die Reichstagsauflöſung wäre zu erzwingen 
geweſen, wenn die ſozialdemokratiſche Fraktion, die zum Kampfe bereit war, die 
immer wieder verſuchte, der Durchpeitſchung der Steuern entgegenzutreten, von 
den liberalen Parteien die für den Erfolg unentbehrliche Unterſtützung erhalten 
hatte. Sie blieb verſagt; denn lieber ertragen deutſche Liberale die härteſten Un- 
bilden von oben, bevor ſie es wagen, ſich den Unteren anzuvertrauen. Lieber poli- 
tiſch in die Knechtſchaft zurückſtürzen, als mit dem gefürchteten Proletariat im Bunde 
zu ſiegen, das iſt der bürgerlichen Weisheit letzter Schluß geweſen, wie immer, ſo 
auch heute.“ Herr v. Heydebrand habe recht: nicht die formalen Beſtimmungen 
des Wahlgeſetzes allein, das Verſagen des deutſchen Bürgertums ſei es, „das die 
Junker zu Herren Deutſchlands macht“. Die bürgerliche Feigherzigkeit, die, um 
die Macht zu gewinnen, nicht den Einſatz der politiſchen Befreiung wage, das ſei 
der Grund des deutſchen Jammers. 

„Was aber kann dieſen Jammer beffer beleuchten als die unglaubliche Fat- 
fache, daß die ſchon durch ihr Ausmaß beiſpielloſe und durch ihre ſozial verderb⸗ 
lichen Wirkungen einſchneidendſte Steuervermehrung z u ſt ande gekommen 
it ohne eine Regierung die dafür die politiſche Verantwortung 
tragen will! Zwiſchen liberalen und konſervativen Blättern iſt eine heftige Fehde 
darüber entbrannt, ob Fürſt Bülow die Finanzreform verantwortlich unterzeich- 
nen ſoll oder nicht. Kann die Zämmerlichkeit unſeres Konſtitutionalismus noch 
heller beleuchtet werden? Unterzeichnet Fürſt Bülow, fo verleugnet er ſelbſt den 
Sinn feiner Demiffion, die ja bedeutet, daß er die Verantwortung für das Werk 
des Schnapsblocks nicht übernehmen kann; vollends lächerlich wirkt aber die Unter- 
zeichnung durch einen neuen Mann, der nachträglich verantworten ſoll, worauf er 
keinen Einfluß genommen hat.“ 

In Wirklichkeit zeige dieſer Streit, daß die angeblich über den Parteien 


652 Zürmers Tagebuch 


ſtehende Regierung gar nicht eriftiert, nie eriftiert hat. Doch wäre es febr gefehlt, 
deshalb von Parlamentsherrſchaft zu ſprechen. Was wirklich ſei und bleibend, das 
fei „die Herrſchaft der Funker“, und nur das ZInſtrument dieſer Herrſchaft 
wechſele: „In normalen — für Deutfchland normalen — Zeiten herrſchen fie 
durch die Krone und durch die Regierung. Lockert ſich aber dieſe Herrſchaft einen 
Moment lang, ſo ſtürzen ſie die Regierung durch das Parlament, wie ſie umgekehrt 
das Parlament auflöſen laffen, wenn es ihnen fiir die Erflülung ihrer Forderungen 
nicht mehr geeignet erſcheint. Und nur das unterſcheidet die politiſchen Perioden 
voneinander, ob die Junker ihre Herrſchaft ſtützen laſſen von klerikalen oder liberalen 
Helfern!“ 

Man habe das deutſche Regierungsſyſtem Scheinkonſtitutionalismus ge- 
tauft. Man folle es beffe Schein abſolutis mus nennen. Denn ſelbſt 
das „perſönliche Regiment“ fei bloße Form. Dahinter verberge fih aber als Wirt- 
lichkeit „der Abſolutismus der Junker, der als fefter Grund bleibt, wie immer auch 
die Oberfläche zu wandeln ſich ſcheint“. 

Wie lange noch? fragt das ſozialdemokratiſche Zentralorgan. Selbſt zur 
Konfliktszeit anfangs der ſechziger Jahre, als der Fortſchritt der Regierung fort- 
geſetzt das Budget verweigerte, habe das liberale Bürgertum jeden Gedanken, 
an Stelle des Dreiklaſſenwahlrechts ein weniger plutokratiſches zu ſetzen, ent- 
rüſtet von ſich gewiefen. Denn damals fei es ſelbſt vorübergehend von dem be- 
ſtehenden Wahlrecht begünftigt worden. Bei Überreichung einer Oankadreſſe an 
die fortſchrittlichen Abgeordneten Berlins ſagte damals von Unruh: „Nach dem 
klaren Inhalt von Artikel 115 der beſchworenen Verfaſſung ift die Wahl- 
verordnung vom 30. Mai 1849 ein integrierender Teil der B er- 
faſſung geworden. Jede Anderung der Verfaſſung im Verordnungswege ift 
alfo unleugbar ein Verfaſſungsbruch.“ Friedrich Wilhelm IV., bemerkt 
in Parentheſe der „Vorwärts“, hatte ſich nämlich ſpäter den Scherz geftattet, die 
von ihm ſelbſt gewaltſam vftronierte Verfaſſung feierlichſt zu beſchwören. 

„Das Drängen der Arbeiter nach dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht 
fand ſelbſt bei den entſchiedenſten Fortſchrittsmännern taube Ohren; man behaup- 
tete, die Maffe müffe für ein ſolches Wahlrecht erft e rz o gen werden. Das Mik- 
trauen gegen die Arbeiterklaſſe, mehr eine Folge des böſen ſozialen Gewiſſens 
der Bourgeoiſie, als der Haltung der Arbeiterklaſſe ſelbſt, die damals ja noch im 
Schlepptau des Bürgertums ſegelte, ließ die Bourgeoiſie zu keinem ernſthaften 
Kampfe gegen das Zunkertum kommen. Und weshalb hätte auch das Bürgertum 
einen ſolchen Kampf aufnehmen follen? Es hatte ja di e Freiheit, die es meinte, 
errungen: die Freiheit des Kapitals... Knapp und klar drückte das Laſſalle in 
feinem „‚Arbeiterleſebuch“ mit den Worten aus: ,Handelte es fid) bei uns heute um 
die ſozialen Freiheiten für die Bourgeoiſie, um die es ſich 1789 in Frankreich 
handelte, um die Rapitalfreiheit und alle jene materiellen Sänter: 
effen, die mit ihr verbunden find, nun, unſere Bourgeoiſie würde vielleicht die- 
ſelbe Energie finden wie damals die franzöſiſche. Aber um diefe materiellen Fra- 
gen handelt es ſich nicht mehr. Unſere Regierungen haben ſich vorgeſehen. Sie 
haben die ſoziale Seite der 1789er Revolution von ſelbſt und zum Teil ſeit langem 


Zürmers Tagebuch 653 


eingeführt; unddie bloß politiſche Freiheit vermag die Sour 
gleoifie nicht ins Feuer zu bringen, vermag fie nur zu frommen 
Wünſchen und unſchuldigen Redeübungen zu ſtimmen.“ 

Die ſchlappe, undemokratiſche Haltung des Fortſchritts ſelbſt in dieſen beſten 
Jahren, die der preußiſche Liberalismus je erlebt, zwang ja gerade Laſſalle, das 
Proletariat zur Bildung einer eigenen, ſelbſtändigen Partei aufzurufen: ‚Die Ber- 
tretung des Arbeiterſtandes in den geſetzgebenden Körpern Deutſchlands“, ſagte 
er in ſeinem Antwortſchreiben an das Leipziger Zentralkomitee, dies iſt es allein, 
was in politiſcher Hinſicht ſeine legitimen Intereſſen befriedigen kann.“ Aber, 
‚hinter der Reaktion ſtehen Klaſſen mit der hö ch ſten Energie, die Nägel 
und Zähne daranſetzen; hinter der politiſchen Freiheit ſteht 
keine Klaſſe, ſteht nichts als eine Handvoll Zdeologen 
und Gefühls menſchen'. Rinne es da jemand wundern, daß die politiſche 
Freiheit feit 15 Jahren Schritt für Schritt von der Reaktion beſiegt wurde? Rönne 
es da jemanden wundern, daß die Bourgeoiſie niemals imſtande ſein werde, ihren 
Kampf mit dem Militärftaat ſiegreich auszufechten? ‚Es ift alfo gerade das größte 
Intereſſe der politiſchen Freiheit, ein Klaſſenintereſſe, ein ſoziales 
Intereſſe hinter fie zu werfen, und zwar gerade das zntereſſe der 
an Zahl und Kraft fo unendlich überwiegenden unbemittelten Klaſſen.“ 

And die politiſche Aufgabe der zu ſchaffenden ſelbſtändigen Arbeiterpartei 
ſchilderte Laſſalle ſo: Sich überall als eine ſelbſtändige und durchaus von ihr (der 
Fortſchrittspartei) getrennte Partei zu fühlen und zu konſtituieren, gleichwohl 
die Fortſchrittspartei in ſolchen Punkten und Fragen zu unterſtützen, in welchen 
das Intereſſe ein gemeinſchaftliches iſt, ihr entſchieden den Rücken zu kehren und 
gegen ſie aufzutreten, ſooft ſie ſich von demſelben entfernt, die Fortſchrittspartei 
eben dadurch zu zwingen, entweder fih vorwärts zu entwickeln und das Fortſchritts⸗ 
niveau zu überſteigen, oder aber immer tiefer in den Sumpf von Bedeutungs- und 
Machtloſigkeit zu verſinken, in welchem fie bereits knietief angelangt ift, das muß die 
einfache Taktik der deutſchen Arbeiterpartei gegenüber der Fortſchrittspartei ſein.“ 

Seder politiſch intereſſierte Arbeiter wiſſe, wie wenig es möglich war, das 
liberale Bürgertum vorwärts zu treiben. Vielmehr ſei die andere Eventualität 
eingetreten, die Laſſalle ja nur zu klar vorausſah: die fortſchrittliche, heute frei- 
ſinnige Bourgeoiſie fei immer tiefer in den Sumpf der Bedeutungs- und Macht- 
loſigkeit geſunken. | 

Das ſozialdemokratiſche Organ begegnet fih hier mit dem „Berliner Tage- 
blatt“. Man wäre wirklich verfucht, meint das bürgerliche Blatt, auch in Preußen 
jene weltberühmt gewordene Frage von neuem aufzuwerfen: „Was ift der Bürger- 
ſtand? Alles! Was bedeutet er? Nichts!“ Und weshalb das? Weil es ihm an dem 
erforderlichen politiſchen Selbſtbewußtſein fehle oder bis jetzt ge- 
fehlt habe. Dieſe politiſche Haupttugend habe in Preußen bisher einzig und allein 
der „Junker“ gehabt und geübt. Deshalb habe er es auch zu ſolchem politiſchen 
Anſehen, zu ſolcher politiſchen Macht gebracht. 

„Preußen ift, von dem halbaſiatiſchen Rußland abgeſehen, der Beamten- 
taat ſchlechthin. Aus den verſchiedenartigſten Beſtandteilen zuſammen⸗ 


654 Zürmers Tagebuch 


geſetzt, verdankte Preußen feiner von den Königen geſchaffenen und feft organi- 
ſierten Bureaukratie das Zuſammenwachſen ſeiner vielfach auseinanderſtrebenden 
Elemente zu einem wirklichen Staatsganzen. Hieraus entwickelte fih bei dem Ve 
amtenſtand ein Selbſtgefühl, das für den erwerbenden Bürger mit der 
Zeit unerträglich werden mußte. Als dann nach einem beiſpiellos glanzvollen 
Aufſtieg unter einem genialen Fürſten ein ebenſo beiſpielloſer Zuſammenbruch 
erfolgt war, da erkannten weitblickende Staatsmänner in der übertrieben ent- 
wickelten Bureaukratie mit einen Hauptgrund der Zertrümmerung der friderigia- 
niſchen Monarchie. Der unſterbliche preußiſche Reformminiſter Stein erachtete 
es daher als eine Hauptaufgabe ſeiner inneren Geſetzgebung, den preußiſchen 
Bürger zur Mitverwaltung der Staatsangelegenheiten heranzubilden. Dazu ſollte 
vornehmlich ſeine Städteordnung dienen. Der bis dahin zu ſchweigen dem 
Gehorſam erzogene Bürger ſollte durch die Städteordnung all- 
mählich zu der ihm zugedachten tatkräftigen Anteilnahme an den Staatsgeſchäften 
vorgebildet, befähigt oder, wie man jetzt zutreffend ſagt, politiſiert werden. 
Bekanntlich blieb die grandios geplante Steinſche Reform in manchen wefent- 
lichen Teilen ſtecken. Dem ideenreichen Minifter und feiner durchgreifenden Tätig- 
keit legten die Vertreter der Beharrungsmächte unüberſteigliche Schwierigkeiten in 
den Weg. Er galt ihnen als ein Jakobiner wie andererſeits ſein Mitarbeiter an dem 
Reformwerk, Hardenberg, von dem genialen Junker Marwitz nie anders als , der 
Bezier! genannt wurde. Wie dann fpäter nach den heroiſchen Anſtrengungen 
des preußiſchen Volkes die innere Entwicklung wieder zurüdgefchraubt wurde, das 
ift ja hinlänglich bekannt. Die ftare am Althergebrachten und an ihren ererbten 
Vorrechten fefthaltende Junkerpartei war wieder obenauf und der Bürger wieder 
in feine ehemalige ſtumme Gehorſamspflicht zurückgedrängt. Indem aber die 
volkswirtſchaftlich damals jehr aufgeklärte preußiſche Bureaukratie für die Hebung 
der gewerblichen Tätigkeit ſorgte — man denke nur an Männer wie Beuth, 
Maaßen, Motz, Kunth und an die Gründung des Zollvereins — legte ſie den Grund 
zum Emporkommen eines bürgerlichen Wohlſtandes. Die zum Vohlſtand gelangte 
bürgerliche Schicht mußte das Miß verhältnis zwiſchen ihren Leitungen 
für den Staat und ihrer politiſchen Rechtloſigkeit je länger 
deſto ſchmerzlicher empfinden. Aus dieſem Wißverhältniſſe find dann ſchließlich die 
ſchweren Stürme der Revolution von 1848 über Preußen heraufbeſchworen worden. 

Aber dieſem augenblicklichen Aufblitzen des allgemeinen Volkswillens folgte 
ſehr bald eine ebenſo allgemeine Volkserſchlaffung, ſo daß der ſatiriſche Dichter 
mit leider nur zu gutem Rechte feinen Spott ergießen durfte über ‚das Volk wie 
katzenjämmerlich, das eben noch fo ſchön befoffen’. Daß die Dinge damals fo ver- 
liefen, daran trug nicht am letzten Ende die mangelhafte Politiſierung des Bürger- 
tums die Schuld, und an dieſem Mangel verpuffte auch die ſogenannte ‚neue 
Ara“ im Beginn der Regierung König Wilhelms I. Wiederum bekam die kleine, 
aber allmächtige Partei Oberwaſſer. Als dann ſehr bald der genialſte aller preußi- 
[hen Junker das Staatsruder in feine Hände bekam, den Kampf gegen den fogenann- 
ten ‚inneren Düppel“ mit der ihm eigenen ſouveränen Rückſichtsloſigkeit einleitete 
und durchführte und dann ſeine ſtaatsmänniſche Siegeslaufbahn zurücklegte, da 


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Zürmers Tagebuch 655 


ereignete es ſich zum dritten Male, daß das erwerbende, durch feine Leiſtungen in 
Wahrheit den Staat erhaltende Bürgertum faſt wieder in die frühere Heloten- 
ſtellung zurückgedrängt wurde. Diesmal aber mußte dieſes Mißverhältnis noch 
viel ſchärfer empfunden werden, da die wirtſchaftliche Bedeutung des Bürger- 
tums ſich unvergleichlich gegen die früheren Jahrzehnte gehoben hatte. 

Aber dem materiell zu ſo großen Kräften gelangten Bürgertum gebrach es 
eben an politiſchem Selbſtbewußtſein, und es empfand für die Beſorgung der 
Staatsgeſchäfte, die doch im weſentlichen fih mit feinen eigenen Intereſſen identi- 
fizieren ſollten und mußten, nicht die genügende Neigung. Die Betätigung des 
Bürgertums am Staatsleben erſchöpfte ſich mit feiner Stimmabgabe am Wahl- 
tiſche, und auch das geſchah widerwillig genug. Je mehr aber der Bürger als 
politiſcher Faktor zurücktrat, um fo ſtärker kam naturgemäß der ‚Herr Landrat“ 
empor. Und fo erwuchſen im Verlaufe der letzten zwei oder drei Jahrzehnte parla- 
mentariſche Zuſtände, die in Wahrheit geradezu eine Verhöhnung des Bürger- 
tums bedeuten.“ 

Daß die Maſſe des Bürgertums trotz ihrer politiſch trägen, wohlhäbigen 
Genügſamkeit im Staatsleben nicht eine noch kläglichere Rolle als die des geduldi- 
gen Schleppenträgers ſpielt, das, meint Robert Heſſen im „März“, verdanke es 
hauptſächlich dem Vorhandenſein der — Sozialdemokratie: „Man möchte ſie am 
liebſten vertilgen; aber ſolange ſie da iſt, muß man gewiſſe demokratiſche Allüren 
wenigſtens heucheln, ohne dadurch eine peinliche Verlegenheit, eine im Innerſten 
bohrende Unruhe beſchwichtigen zu können. 

Hier finden wir vielleicht auch den Schlüſſel zu dem ganzen Rätſel. Die 
Sozialdemokratie gilt ‚oben‘ für etwas fo Unbegreifbares, Widerſinniges, Ent- 
ſetzliches, daß alles, alles, was ihr konträr iſt und das Weiterſpinnen 
überlebter Vorſtellungen ermöglicht, vom Kriegerverein unten bis zum feudalen 
Suntertum oben, kritiklos gehegt und gepflegt wird.“ 

So wäre es denn am letzten Ende wiederum die ttt Sozialdemokratie, die 
„das Vaterland“ und „das große Finanzreformwerk gerettet“ hat. Denn hätte 
nicht die Furcht vor einem Anwachſen dieſer Partei die Gemüter und Gebeine des 
Bundesrats und des Reichskanzlers beherrſcht, ſo wäre der Reichstag — daran iſt 
wohl kein Zweifel — aufgelöft worden und Bülow im Amt geblieben. Die Sozial- 
demokratie alſo und nicht die „verbündeten Regierungen“ der konſervativen und 
Zentrumspartei hat Bülow geſtürzt. Dies ſollten fih beſagte „verbündete Regie- 
rungen“ zu ihrer Rechtfertigung nicht entgehen laffen. Sie müßten dann anderer- 
ſeits allerdings auch das „Verdienſt“ an dem „großen Finanzreformwerk“ der 
Sozialdemokratie einräumen. Gibt es noch eine „ſtaatserhaltendere“ Partei? 
Möge ſie ſchon den Kanzler geſtürzt haben, wenn nur der Staat, das Vaterland 
gerettet ift! Und das „deutſche Gemüt“, die „deutſche Familie“! Za hat ſich, in 
dieſem Lichte betrachtet, die Sozialdemokratie nicht als die einzige wahrhaft zu- 
verläſſige „nationale“ Partei erwieſen? 

* * 
% 

„Was hatte man uns“, fo lieſt man in einer Artikelſerie der „Frankfurter 

Zeitung“, „nicht immer erzählt von , altpreußiſcher Tugend“, die kein anderes Ge- 


656 Zürmers Tagebuch 


bot kennt als den kategoriſchen Imperativ der Pflicht, von ‚altpreußifcher‘ Treue, 
die ohne Wimperzucken im ärgſten Kugelregen in die Breſche tritt, wenn der Border- 
mann fiel! Kindermärchen ſind's, die die Amme künftighin im Plusquamperfekt 
tum berpldrren mag! Zn den Kämpfen der letzten Monate und Wochen haben fie 
ihr wahres Geſicht gezeigt, die Herren von der Regierung, die immer ihre Auto- 
rität gegenüber dem beſchränkten Untertanenverftande 
herauskehren möchten, und die Herren Agrarier, die, mit Gott für König und Bater- 
land“ ihre Getreidezölle einheimſen. ... Furcht vor dem Volke hatten fie alle 
beide. Furcht vor dem Volke, ſobald auch nur die leiſeſte Andeutung einer künfti- 
gen Reform des preußiſchen Wahlrechtes fiel, und Furcht vor dem Volke, als nach 
der Ablehnung der Erbanfallſteuer die ganze Nation atemlos auf das befreiende 
Wort wartete, das den Reichstag auflöſen ... follte, den ſchwarz- blauen Block 
zum Teufel zu jagen. Dann freilich, als Fürſt Bülow dieſes erlöſende Wort nicht 
ſprach, ſondern ohne Kampf das Feld geräumt hatte, da war es auch mit der Furcht 
zu Ende. Warum auch fürchten? Bis zur nächſten Reichstagswahl ſind, wenn 
nicht aufgelöft wird, noch zwei volle Jahre — bis dahin kann das gute Volk längſt 
alles vergeſſen haben, was es jetzt empört. Der deutſche Michel hat einen breiten 
Rücken und eine Lammes-Sanftmut dazu, und man kennt ja die altbewährten 
Mittel, ihn immer wieder gefügig zu machen: die Klerikalen werden ihm erzählen, 
daß fie wieder einmal die Religion gerettet haben, die durch die liberale Nachlaß 
fteuer ausgerottet werden ſollte, und die Agrarier werden ihm beweiſen, daß die 
Erbanfallſteuer unfehlbar die Familie zerſtört hätte und der Anfang vom kommuniſti- 
ſchen Staate geweſen wäre. So wird man auch künftig wieder dem Volke Sand in 
die Augen ſtreuen. Und im Vertrauen darauf, daß es blind bleibt, macht man dieſe 
Finanzreform. Vierhundertzwanzig Millionen neue Steuern müſſen aufgebracht 
werden — der einzige Geſichtspunkt der agrarifchen Mehrheit aber, der dieſe un- 
geheure Mehrlaſt zu verteilen hat, iſt der, den Großgrundbeſitz von jeder Steuer 
frei zu halten: das Volk foll zahlen, herrſchen will fie. Mit einer beiſpielloſen 
Demagogie hat ſie die Nachlaßſteuer zu Fall gebracht, mit dem 
gleichen Zynismus auch die denaturierte Erbanfallſteuer beſeitigt und jede 
allgemeine Beſitzſteuer verhindert. Das war das Ziel, und da- 
nach alles übrige leicht zu erledigen, zumal da es auf etwas mehr oder weniger Un- 
ſinn der Mehrheit nicht ankam. Mehr als dreihundert Millionen wälzt man durch 
indirekte Steuern auf die breite Maffe des Volkes, mit dem Reſt bepackt man In- 
duſtrie und Verkehr 

Furchtbar werden die neuen Verbrauchsſteuern auf den ärmeren Schichten 
laſten. Doppelt furchtbar, weil fie zuſammenfallen mit einer ſchweren wirtſchaft- 
lichen Depreffion, die überall die Arbeitseinkommen herabdrückt und Hund er t- 
taufende arbeitslos auf die Straße fetzt; dreifach furchtbar, 
weil ohnehin ſchon durch die gewaltige Teuerung der notwendigſten Lebensmittel 
in zahlloſen Familien bittere Sorge herrſcht. Und die angeblichen „Beſitzſteuern“ 
der Mehrheit? Sie werden dieſe Laſt nur noch verſchärfen, ſtatt ſie zu mildern. 
Denn es ift eine glatte Unwahrheit, daß fie gleichmäßig den Beſitz belaſten und da- 
durch wenigſtens den Verfuch eines gerechten Ausgleichs für die indirekten Steuern 


Zürmess Tagedud 657 


bedeuten. Gegen znduſtrie, Verkehr und Handel find fie zum allergrößten Teile 
gerichtet 

Und doch iſt es gut, daß es fo gekommen iſt. Denn nur durch ſolche Exzeſſe 
eines ſkrupelloſen Abermutes konnte das Volk aufgerüttelt werden, ſich endlich 
einmal auf ſich ſelbſt zu beſinnen. Schon beginnt es zu wirken. Bevölkerungs- 
gruppen, die ſich jahrzehntelang aller Teilnahme am politiſchen Treiben entfrem- 
det hatten, werden lebendig und nehmen den Kampf auf: Gewerbe, Handel und 
Induſtrie ſchließen ſich zum Hanfabund zuſammen, der den dreihunderttauſend 
Mitgliedern des Bundes der Landwirte bald die doppelte Zahl organiſierter An- 
hänger entgegenſtellen wird. Uralte Abhängigkeitsverhältniſſe werden geſprengt: 
die Bauern ſind es müde geworden, immer noch, hundert Jahre nach den Edikten 
des Freiherrn vom Stein, von dem Großgrundbeſitz am Gängelbande geführt zu 
werden und ihm für ſeine Sonderintereſſen Vorſpanndienſte zu tun; ſo entſteht 
der neue Bauernbund, der ſich direkt gegen den Bund der Landwirte richtet. Un- 
natürliche Koalitionen, die doch unſer ganzes öffentliches Leben ſeit Jahrzehnten 
aufs verhängnisvollſte beeinflußt haben, zerſchellen und machen einer natürlichen 
Gruppierung Platz: die Großinduſtrie, bisher mit dem Großagrariertum auf Ge- 
deih und Verderb verbunden und von ihm für ſeine Zwecke mißbraucht, findet 
jetzt ihren Platz an der Seite von Handel, Gewerbe und Verkehr. 

Mit innerer Gewalt ſcheidet fid alles, was nach Zukunft verlangt, von 
den immer nach rückwärts gerichteten Mächten der Vergangenheit. Und in dieſer 
Scheidung ſelbſt liegt ein Stück Zukunft. Die Entrüſtung, die jetzt ob des Treibens 
des konſervativ-klerikalen Blocks die Nation in allen ihren Schichten durchdringt, 
wird diesmal nicht, wie ſo oft ſchon, nach kurzer Zeit unſchädlich verraucht ſein 
(Na, na? D. T.). Sie wird bleiben und wachſen; und ſie will Taten. Denn was 
jetzt im Volke gärt und wühlt, das iſt mehr als der Ingrimm über die Hunderte 
Millionen ungerechter Steuern ... Es ift ein plötzlich mit inſtinktiver Gewalt er- 
wachtes Gefühl dafür, daß die Steuern bloß ein Vorwand, ein äußerer Anlaß ſind, 
während in Wirklichkeit um etwas ganz anderes gekämpft wird: um Licht und 
Luft und Freiheit nicht nur für heute, ſondern noch viel 
mehr für morgen und übermorgen! Und was bisher immer nur 
von einer Minderheit vergeblich gepredigt wurde, das iſt, vielfach noch mehr gefühlt 
als gedacht, jetzt endlich mit einem Schlage zur Frage des ganzen Volkes geworden 
— das Beſinnen darüber, was wir waren, was wir ſind und wohin wir ſteuern. 

Eine einzige Reihe von Ziffern gibt die Antwort auf dieſe Frage, die 
Ziffern nämlich, die das Bevölkerungswachstum Deutſchlands 
darſtellen. Und die lauten folgendermaßen: 


Cn 40 805 000 
EEN 45 095 000 
T 49 241 000 
EE 52 001 000 
T 56 046 000 
EE 60 314 000 
EEN 63 017 000 


Der Türmer XI, 11 42 


658 Zürmers Tagebuch 


Begreift man, was diefe Ziffernreihe jagt? Sie bedeutet eine beiſpielloſe 
Revolution, die fid in den kaum vier Jahrzehnten feit der Gründung des 
Reichs auf deutſchem Boden vollzogen hat. Wo früher 40 Millionen 
Menſchen wohnten, da führen heute 63 Millionen den Kampf 
ums Daſein, und keine zwei Jahrzehnte mehr, dann werden es 80 Mil- 
lionen ſein, doppelt fo viel wie zum Beginn der Epoche. Jahr für Jahr 
bleiben aus dem ewigen Weben von Geburt und Grab 900 000 Menſchen 
übrig, die ſich neu einen Platz am Lichte erringen müſſen. Das iſt die große, 
alles beſtimmende Tatſache unſerer Zeit, die Grundtatſache 
der deutſchen Geſchichte der Gegenwart. Und wir haben nicht darüber zu distutie 
ren, ob diefe Tatfache freudvoll oder leidvoll ift, ob fie die Glücks möglichkeiten des 
einzelnen vermindert oder vermehrt. Tatſachen ſind gut oder ſchlecht — ſie ſind! 
Nur danach haben wir zu fragen, welche Richtlinien ſie unſerem Willen geben, 
And können uns höchſtens noch darüber klar werden, daß mit der Entwicklung unfe- 
rer Volkszahl auch der Beſtand unſerer Kultur in der Geſchichte der Menſchheit 
unlösbar verknüpft ift. Ob wir uns behaupten werden vor den von Often heran- 
drängenden Völkermaſſen, die ſchon jetzt unſere Grenzen überfluten, die erſt als 
wandernde Scharen zur Aushilfsarbeit kamen, aber bald auch dauernd fih feft- 
ſetzten und j etzt bereits im Herzen von Weftfalen große pol 
niſche Enklaven bilden — das iſt eine Frage, die nicht zum wenigſten auch 
durch unſeren Geburtenüberſchuß entſchieden werden wird. Und darum werfe 
man auch noch einen Blick auf die nächſte Tabelle, die, einer lehrreichen Studie 
von Lujo Brentano über die Malthusſche Lehre und die Bevölkerungsbewegung 
der letzten Dezennien entnommen, intereſſanten Auffchluß über den Urſprung 
unſeres Geburtenüberſchuſſes gewährt. 


Geburten Sterbefälle Geburten-Überſchuß 


auf 1000 mittlerer Bevölkerung durchſchnittlich jährlich 


1841/50 
1851/60 
1861/70 
1871/75 
1876/80 
1881/85 
1886/90 
1891/95 

1896/1900 
1901/05 


Verblüffend, revolutionär auch dieſes Ergebnis! Nicht eine ſtetige Zunahme 
der Geburten bewirkt das dauernde Wachstum unſerer Volksmenge; die Zahl der 
Geburten geht im Gegenteil ſeit den ſiebziger Jahren relativ zurück, langſam, 


Zürmers Tagebuch 659 


aber unverkennbar. Wenn trotzdem der Geburtenüberſchuß konſtant bleibt und fo- 
gar wächſt, ſo liegt das nur an der noch ſtärkeren Verminderung der Sterblichkeit. 
Es iſt das typiſche Bild aller Völker von höherer, älterer 
Kultur. Sie üben nicht mehr, wie die Völker einer tieferen Stufe, die ,furdt- 
bare Verſchwendung von Kraft und Vermögen, Menſchenleben zu rufen und fort- 
zuwerfen“; fie find ſparſam, neues Leben zu ſchaffen, noch ſparſamer aber in der 
Erhaltung des vorhandenen — ſie werten das Leben. Aber auch damit ſtehen wir 
erſt am Anfang: England, die Niederlande, Dänemark, die Schweiz, auch die 
Vereinigten Staaten von Amerika haben weſentlich niedrigere Sterblichteits- 
ziffern als wir. 

Das ungeheure Problem, das unſere ganze Politik be 
herrſchen müßte und das den meiſten doch erſt jetzt ganz allmählich zum 
Bewußtſein kommt, wird dadurch grell beleuchtet. An neunhunderttauſend Men- 
ſchen wachſen jährlich unſerem Volke zu! Sie brauchen Nahrung und Arbeit zu 
Bedingungen, daß der Bevölkerungszuwachs nicht den Lebensſtandard der ganzen 
Bevölkerung herabdrückt, daß die Sterblichkeit nicht wieder ſteigt, ſondern ſinkt. 
Und fie brauchen geſellſchaftliche und kulturelle Entwicklungs möglichkeiten, da- 
mit ſie zu ſittlichen Perſönlichkeiten, zu freien Bürgern im Staate heranwachſen 
können, damit unſer Volk nicht mit jedem Jahre mehr ein Volk von Hörigen werde. 
Licht und Luft und Freiheit für morgen und übermorgen! Von Grund auf hat 
der Bevölkerungszuwachs unſere Lebensverhältniſſe revolutioniert. Wir ſind ein 
neues Volk geworden, mit ganz neuen Möglichkeiten, ganz 
neuen Notwendigkeiten. Aber unſere politiſchen Verhält— 
niffe ſpiegeln nichts von dieſer Umwälzung wider, fie 
find die gleichen geblieben, als wären wir noch das Vierzig Millionen-Volk von 1870. 
Das iſt es, was man jetzt zu begreifen beginnt.“ 

Nur die ſich als die geborenen und privilegierten Führer gebärden, ſcheinen 
es nicht begreifen zu können oder zu wollen. Denn ſonſt würden fie nicht eine Poli- 
tik treiben, deren Engherzigkeit und Kurzſichtigkeit nur noch durch die zur Schau 
getragene Selbſtgefälligkeit überboten wird. 

Werden ſie wirklich ihres „Sieges“ froh werden, die „Sieger“ von geſtern 
abend? Wird der Nachfolger des von ihnen geſtürzten Fürſten Bülow ein noch 
„agrariſcherer“ Reichskanzler fein? Liegt ſolches überhaupt im Bereiche der Möglich- 
keit? Durch die Wahl Bethmann - Hollwegs hat der Kaiſer wenigſtens Eins zu ver- 
ſtehen gegeben: daß er ſich auf keinerlei einſeitige Klaſſen- und Intereſſenpolitik, 
keinerlei Radikalismus feſtlegen laffen will, und ganz gewiß auch nicht auf den agrat- 
demagogiſchen. Weil Bülow nach feinen eigenen Worten ſich „nicht für einen 
Wahlkampf begeiftern konnte, der nach rechts hätte geführt werden müſſen“, des- 
halb konnte ihn die — Rechte ſtürzen. Wäre er weniger konſervativ geweſen, ſo 
hätten ihn die Konſervativen nicht ſtürzen können. Eine blutige Fronie der Ge- 
ſchichte! Und — eine Lehre! P 


* * 
* 


„Die Schwarz-Blauen“, alfo rückt ihnen Naumann in der „Hilfe“ zu Leibe, 
„gehen jetzt ins Land und tun fo, als ob fie das Vaterland gerettet hätten. Das 


660 Zürmers Tagebuch 


ist ein Schwindel! ... Die ganze Politik der Schwarz Blauen wirkt nur auf noch 
immer ſteigende Erhöhung aller Preiſe. Das ift der Unterſchied 
der Beſitzſteuern von den Gewerbeſteuern, daß die erſteren keine Preiserhöhungen 
zur Folge haben. Ein beſteuertes Gewerbe muß notwendig teurer wer- 
den, und wenn gleichzeitig ſo viele Gewerbe neu beſteuert werden, dann gibt das 
einen Ruck nach oben bei allen Preiſen. Wir erleben auf dieſe Weiſe die Folge der 
Zollerhöhungen zum zweiten Male. Was nützt uns angefidts folder Tor- 
heit die Erhöhung der Beamtengehälter? Mit ihe wird der Zoll- 
ſchaden ausgeglichen, aber noch nicht der Steuerſchaden. Und fo geht es allen An- 
geſtellten und Arbeitern: alles wird teurer, ſeht, wie ihr mehr 
einnehmt! So führt diefe Steuermacherei zur Schärfung der Lohr 
kämpfe. Wir werden noch viel von ihr zu leiden haben. 

Wenn jetzt das Bürgertum nicht aufwacht, dann iſt ihm nicht zu helfen. 
Eine ſolche Mißwirtſchaft ſtinkt zum Himmel, und nur die grenzenloſe politiſche 
Gleichgültigkeit weiter bürgerlicher Kreiſe iſt daran ſchuld. Wie kommt es denn, 
daß die Schwarz- Blauen haben ſiegen können? Weil fie organiſiert find... 
Sie haben ihren Bund der Landwirte und ihre klerikalen Vereine. Was aber hat 
der deutſche Liberalismus, was dem ähnlich wäre? Wo hat er ganze Berufsſchichten 
organiſiert? Wo ſtehen die Männer, die in Verſammlungen arbeiten wollen? 
Wo ſind die Opfer, ohne die kein Erfolg möglich iſt? Wer jetzt noch nicht begreift, 
daß gearbeitet und geopfert werden muß, der iſt ein Troddel. Der Hanſabund 
fängt an, ſich zu entwickeln. Laßt ihn nicht ſitzen! Wenn auch dieſer Verſuch febl- 
ſchlagen ſollte, dann dauert es mindeſtens zehn Fabre, ehe ein neuer gemacht wer- 
den kann. Und welcher Unrat kann in zehn Jahren von den Schwarz-Blauen be- 
ſchloſſen werden! ...“ 

Der Hanſabund hat viele Hoffnungen erweckt. „Vielen,“ ſchreibt die „B. Z. 
a. M.“, „die händeringend oder mit dem Achſelzucken der Entſagung in den träge 
fließenden Strom unſeres öffentlichen Lebens geblickt haben, iſt dieſes erſte Rrau- 
feln der Wellen ein Zukunftszeichen. Die Intellektuellen“, nicht nur die 
Akademiker oder die Ideologen, ſondern alle, denen das Leben mehr bedeutet als 
eine Summe von Einzelerſcheinungen, haben am längſten und treueſten bei der 
Arbeit am öffentlichen Geiſte ausgehalten, bis dann auch fie die Ermüdung 
fruchtloſer Kämpfe überkam. Sekt mutet fie die Schilderhebung des 
Gewerbsmannes wie ein Erwachen an, das vielleicht neues Leben in ſich trägt. 

Sie haben ja ſchon ſelbſt ihre Schilderhebungen gehabt, auf eigene Fauſt. 
Zweimal in kurzem Anlauf bei dem Zedlitzſchen Volksſchulgeſetz und bei der Um- 
ſturzvorlage, dann zu dauernder Streitbarkeit im „Goethebund“, um den „Kampf 
gegen geiſtige Finſternis und leibliche Knechtung“ zu führen. Der Goethebund 
lebt heute noch, tut aber weder der „Knechtſchaft“ noch der „Finſternis“ großen Ab- 
bruch, höchſtens daß er mal für einen von der Zenſur bedrohten Bühnenſchrift- 


Heller ein gutes Wort einlegt; nebenbei ſtiftet er Schillerpreiſe ... An feiner 
Wiege ftanden faſt ausſchließlich die ſchöngeiſtigen Literaten und die wiſſenſchaft- 


lichen Theoretiker; die Intellektuellen der Praxis, zumal die Journaliſten, dann 
aber auch die Arzte, Rechtsanwälte, ja ſelbſt freigeſinnte Geiſtliche wieſen von An- 


Zürmers Tagebuch 661 


fang an darauf hin, daß man aus dem äſthetiſchen Bedürfnis einer 
Minderheit heraus keine Volksbewegung entfachen könne, ſondern für 
den Kampf gegen den geiſtigen Druck eine breite politiſche und wirt 
ſchaftliche Baſis ſuchen müſſe. 

Ein Gegenſtück zum Goethebunde, aber mit dem gleichen Prognoſtikon fanf- 
ten Entſchlafens, müßte man in dem Hanſabunde ſehen, wenn er verſuchte, eine 
politiſche Bewegung zu entfachen allein auf der Bafis gewerblich er Inter- 
eſſen oder gar auf der Baſis von Steuerfragen. Wichtig genug iſt beides 
für die Politik, aber es erſchöpft den Inhalt der Politik durchaus nicht. 
Schule, Kirche und erkenntnistheoretiſche Wiſſenſchaft, Sozialpolitik und die Fra- 
gen der politiſchen Gleichberechtigung, Selbſtverwaltung und der Kampf gegen 
die Bureaukratie, das find Dinge, die unabhängig von den Tagesſorgen des Be- 
rufes alle Volkskreiſe berühren und gerade für die Intellektuellen den Inbegriff 
der öffentlichen Intereſſen darſtellen.. .“ 

Wenn ſich der Hanſabund zu einem ſolchen Kulturbunde entwickelte, könnte 
er unendliche Kräfte ſammeln und auslöſen. Wird er's? Rann er's? Werden die 
gewerblichen Kreiſe genũgendes Intereſſe für die allgemeinen geiſtigen und Kultur- 
bedürfniffe, die „intellektuellen“ für die wirtſchaftlichen und politiſchen Fragen 
aufbringen? Zch fürchte, gerade unſere „Intellektuellen“ werden zuerſt verſagen. 
Iſt aber ſchon mit einem rein wirtſchaftlichen Programm keine wahrhaft volks- 
tümliche, tiefergreifende Bewegung zu entfachen, fo erft recht nicht mit der Sonder; 
kultur beruflicher und artiſtiſch-literariſcher Intereſſen. 

* * 


* 

„Spieleriſch“ möchte ich die Art nennen, wie ſich viele Intellektuelle mit den 
Forderungen des öffentlichen Lebens abfinden. Nur leicht und locker, an der Ober- 
fläche, haften die Eindrücke. Was einen geſtern angeblich auf das tiefſte bewegte, 
mit „flammender Begeiſterung“ oder „ſittlicher Entrüſtung“ erfüllte, läßt heute 
ſchon ziemlich kalt, wenn es nicht ganz aus dem Geſichtskreiſe entſchwunden iſt. Viel 
nervöſe Geſchäftigkeit, wenig entjchloffener Wille, noch weniger mannhafte Taten. 
Auch der auf St. Nimmerleinstag abgeſchobene Eulenburgprozeß wird keine 
tieferen Spuren hinterlaſſen, es fei denn die gründliche „Aufklärung“ weiter, bis- 
her noch unberührter Kreife über die dabei zutage geförderten Schmutzereien. 
Ganz naiv, wie etwas Selbſtverſtändliches, wird in den Zeitungen erzählt, 
wie dies oder jenes Café in der oder der Straße ein beliebter Zuſammenkunftsort 
paſſionierter (oft auch penſionierter) Hundertfünfundſiebziger ſei, die dort in aller 
Öffentlichkeit ihr Weſen treiben. Erpreſſungsprozeſſe, Selbſtmorde aus dieſem 
Zuſammenhange bilden ſchon faſt eine ſo regelmäßig wiederkehrende Rubrik wie 
die Militärmißhandlungen und die Ausſchreitungen von Schutzleuten gegen das 
Publikum. Und das eine läßt uns fo kalt wie das andere, als miiffe das alles fo fein, 
ſei ein unveräußerliches Gemeingut des deutſchen Lebens und gehöre nun einmal 
zur öffentlichen Ordnung. Wir haben uns wirklich zu Gemütsathleten entwickelt! 
And unſere Strafjuſtiz? „Wir ſind Richter, aber auch Menſchen, und wenn 

wir gegen einen Mann in dieſem Zuſtande verhandeln würden, fo würden wir 
Unmenſchen fein“, ſagte der Landgerichtsdirektor Kanzow im letzten Culenburg- 


662 Zürmers Tagebuch 


prozeß. „Welche Töne!“ bemerkt dazu Hans Leuk in der „W. a. M.“. „Wie Hin- 
gen ſolche Worte eines preußiſchen Richters! Wenn ich die Worte als Töne aus 
einer unbekannten Welt bezeichne, ſo wachen in meinem Erinnern andere 
Eindrücke auf aus einem mir wohlbekannten, febr realen Weltbezirk. In den kur- 
zen und ſtarken Ausdruck, in dem Herr Kanzow die Unmenſchlichkeit von den Richter- 
ſtühlen fortweiſt, miſcht ſich in meinem Ohre das Gebrüll der Mißhandelten in 
den preußiſchen Strafanſtalten. Ich höre einen unglücklichen alten Mann wimmern, 
den geiſteskranken Gefangenen W., der als Simulant behandelt wurde, aus dem 
harten Ounkelarreſt nur felten herauskam. Eines Tages im Winter wurde er ge- 
waltſam aus dem Bette gezerrt, weil er erklärte, nicht aufſtehen zu können, gewalt- 
fam in die Reihe der Gefangenen zum, Spaziergange“ gebracht, fiel auf dem Hofe 
um und wurde dann in die Zwangsjacke geſteckt. Der Direktor trug in die Akten die 
Bemerkung ein: ‚Es widerſtrebt mir, gegen einen Siebzigjährigen körperliche Züch- 
tigung vorzuſchlagen; er foll aber bis Nachmittag in die Zwangsjacke geſteckt wer- 
den.“ Nun erklärte der Arzt, daß er ſchon feit Wochen Zweifel an 
dem Geiſteszuſtande des alten Mannes habe! Trotzdem hatte er ihn 
als Simulanten weiter peinigen laſſen. Am ſelben Tage, nachmittags, 
tarb der alte Mann, „an Altersſchwäche“, jo ſteht in der Akte; in Wahr- 
heit an den Arreſtſtrafen, von denen ſelbſt jüngere Gefangene furchtbar geſchwächt 
werden. 

Ich höre das Gebrüll des ebenſo und weit ſchwerer wegen Simulation dij- 
ziplinierten Gefangenen M., der ſogar zweimal je eine halbe Stunde lang auf den 
Bock geſchnallt und mit je 30 Peitſchenhieben zerfleiſcht wurde, weil der Arzt ihn 
für einen Simulanten erklärte, obwohl der Wahnſinn ganz offenbar war. 
Der Arme wurde fo lange in Arreſt gebracht und geprügelt, bis er ſich er- 
hängte. 

Sd) ſehe den armen G., den fie aus der Zuchthauskirche tragen mußten, 
und der zehn Tage darauf an ſchmerzhaftem Bauchfellkrebs ſtarb. 
Bis zu jenem Tage war der Unglüdlihe als Simulant angeſehen und beſtraft 
worden. „Wir wollen ſehen, wer den dickſten Kopf hat, du oder ich!“ fo herrſchte 
vierzehn Tage vor dem Tode des Krebskranken dieſen der 
Arzt an.“ 

And das ſeien nicht etwa Ausnahmen: „Trotzdem Geheimrat Krohne in 
ſeinem Handbuch der Gefängniskunde die Simulation von Geiſteskrankheit in den 
Strafanſtalten für äußerſt ſelten erklärt, wurde wenigſtens in der Anſtalt Celle 
jeder Geiſteskranke zunächſt als Simulant difzipliniert, und das blieb fo, ob- 
gleich ſich immer nachher herausſtellte, daß wirklich Geiſteskrankheit vorlag. 
Die Peitſche und der Arreſt, andauernde kalte Ouſchen, gelegentlich mit rohen 
Worten in der Akte verordnet, waren die Symptome der „Menſchlichkeit“ gegen 
dieſe Elenden. 

In der Mark Brandenburg iſt in den letzten Jahren ein ſicher geiſteskranker 
Menſch geköpft worden, und in der „Kreuzzeitung“ erließ der Landgerichtsrat Frei- 
herr von Medem zwei ſchnaubende Leitartikel, weil der Gefängnisarzt in Greifs- 
wald es dem Geſetze gemäß' gehindert hatte, daß der geiſteskranke Mörder Teßnow 


Zürmers Tagebuch 663 


im Zuſtande der Bewußtloſigkeit, des epileptiſchen Anfalls, auf das Schafott ge- 


fchleppt wurde. 


Und wo ift die ſchöne Menſchlichkeit, wo ift die Gerechtigkeit gegen- 


über dem Unſchuldigen, den man vor wenigen Jahren im Regierungs- 
bezirk Schleswig geköpft hat? Niemand denkt daran, durch ein Wieder 


auf nahmeverfahrenwenigſtensdie Schmach von dem untuk 


dig Gerichteten zu nehmen!. 


Man möchte wünſchen, daß recht oft Fürſten und Millionäre vor die Schranken 
gebracht würden, damit fich in ihrer Behandlung die Juſtiz erft zu der nen 
Humanität erziehe, die ihr leider fon ft nicht eignet.“ 

An dem felben Tage, an dem Fürſt Eulenburg in Moabit feinen ſchweten | 
Ohnmachtsanfall erlitt, hatte fih eine einfache Frau vor dem dortigen Schöffen- 
gericht wegen Unterſchlagung und Betruges zu verantworten. Sie wurde dabei 
von einem ſchweren Herzkrampf befallen. Man brachte ſie nach dem 
Gerichts gefängnis zurück. 

Fürſt Eulenburg hatte bereits, wie der Oberſtaatsanwalt feſtſtellte, B er- 
ſuche gemacht, Zeugen zu beeinfluffen, es lag und liegt, wie der 
ſelbe Oberſtaatsanwalt betonte, der dringende Verdacht vor, daß er dieſe Verſuche 
fortſetzen wird. Fürſt Eulenburg wurde ſofort aus dem Gerichtsgewahrſam ent- 
laſſen, ſeiner Familie und — rund heraus — der Freiheit wiedergegeben. Auch 
jede weitere Überwadhung feiner Perſon ift aufgehoben worden. 

Niemand bezweifelt wohl noch ernſtlich, daß Fürſt Eulenburg in der Tat 
ein ſchwer kranker Mann iſt. Aber noch weniger hat jemand daran 
gezweifelt, daß dies der Ausgang der ganzen Haupt- und Staats- 
aktion ſein werde. In keinem Stadium des Prozeſſes iſt es mir gelungen, auch nur 
ein einziges Menſchenkind aufzutreiben, das einen anderen Ausgang für möglich 
hielt, das nicht mit voller Zuverſicht den nunmehr in Wirklichkeit erfolgten voraus- 
ſagte und ſich in dieſem unerfchütterlichen Glauben auch nur einen Augenblick wan- 
kend machen ließ. Lauter Propheten! Was ſind die „großen“ und „kleinen“ des 
Alten Teſtaments dagegen! Müßte einem bei fold) erſtaunlich ſicherer Propheten- 
gabe nicht eigentlich etwas — unheimlich werden? 

Wenn wir nur weniger ſchöne Worte machen wollten, dann würden wir 
zum mindeſten den Widerſpruch zwiſchen Worten und Wirklichkeit nicht fo pein- 
lich empfinden. Noch ſchöner wär's freilich, wenn wir uns wenigſtens ernſtlich b e- 
mith ten, beide in Einklang zu bringen. Wir find allzumal Sünder und ermangeln 
des Ruhmes, keiner überhebe fic); aber diefe febr wahre und febr nützliche Erkennt- 
nis ſchließt doch nicht aus, daß wir wenigſtens mit den — ſchon unſeren Reinlid- 
keitsſinn — am ſchwerſten beleidigenden Widerfpriihen aufräumen. Wir find 
eben heute, wie es in jenem Aufſatze der „Frankf. Ztg.“ hieß, „ein neues Volk 
geworden, mit ganz neuen Möglichkeiten, ganz neuen Notwendigkeiten“. Und 
dieſer Tatſache müſſen wir uns anbequemen, ob wir wollen oder nicht. Und 
je früher wir's tun, um ſo ſchmerzloſer iſt das Verfahren. 


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Das Wunder in der Dichtkunſt 


Von 


Rudolph Vogel 


n den alten Zeiten, wo das Wünſchen noch ge 
holfen hat —“ 

Mit dieſen Worten eröffnet das Märchen vom Froſchkönig die 
2 odberühmteſte Märchenſammlung unferes Volkes: jeder, der es unter- 
nimmt, über Märchen, ja über Dichtkunſt überhaupt zu reden, ſollte fie beſtändig 
vor Augen haben; denn in ihnen prägt ſich das Weſen alles Dichtens aus. Alles 
Dichten wurzelt im Wünſchen; und das Reich der Oichtkunſt ift das Reich, wo unfer 
Wünſchen noch „hilft“, wo — um mit unſerm großen Tondichter zu reden — 
„unſer Wähnen Frieden findet“. Fände unſer Gemüt dieſen Frieden in der Wirk- 
lichkeit, fo brauchte es der Dichtkunſt nicht; alfo foll und muß uns das Dichten nicht 
in die Wirklichkeit hinein, ſondern aus der Wirklichkeit herausführen. Schlichter 
und eindringlicher als unfer Volksmärchen kann kein Aſthetiker diefe Grundwahr- 
heit ausdrucken. 

Aber in jenen Worten liegt mehr. Das Mütterchen, dem Wilhelm Grimm das 
anmutige Märchen nacherzählte, war ſich des Gegenſatzes zwiſchen Dichtung und 
Wirklichkeit vollkommen bewußt und bekannte fih dazu. Sie ift weit davon ent- 
fernt, dem Hörer Dichtung für Wirklichkeit zu geben, ihm etwas „aufzubinden“. 
Sie weiß es und ſagt es, daß das Wünſchen nichts hilft — ſie weiß es nur zu gut; 
denn auch ſie hat vergeblich gehofft und gewünſcht. Gerade deshalb führt 
ſie das Herz des Hörers in die „alten Zeiten, wo das Wünſchen noch geholfen hat“. 
Wahrer, aufrichtiger kann nichts ſein. 

Sch habe an anderer Stelle — unverſtanden, wie immer in dieſem Falle 
(f. die Vorrede zum dritten Bande meiner Märchen) — das Märchen, im Gegen- 
fake zum Roman, als die in ſich ſelbſt wahrhaftig e Gattung der Oicht- 
kunſt bezeichnet. Vielleicht begreift man mich heute beſſer. Wahrhaftig iſt, wer 
fih gibt als das, was er ift, wer in feinem Tun und Sagen ſich und feinem eigen- 
ſten Zwecke treu bleibt. Darum iſt eine Dichtung, welche ſich die größtmögliche 


SR 3 SERRET n, E VOS ne — 


Vogel: Das Wunder in der Oichteunſt 665 


Mühe gibt, um für Wirklichkeit genommen zu werden, und darüber ihres oberften 
Zweckes, uns über die Wirklichkeit hinauszuführen, vergißt, in fih un w ab r- 
haftig. Zeder „realiſtiſche“ Roman verſucht uns etwas aufzubinden; er will 
uns verführen, für wirklich zu halten, was nie wirklich war. Damit belügt er uns 
ganz greulich. Er verführt uns, auf Grund einer Dichtung Schlüſſe aus einer 
fiktiven Wirklichkeit auf die tatſächliche Wirklichkeit zu ziehen, welche notgedrungen 
zu Täuſchungen und Enttäuſchungen ſchlimmſter Art führen müſſen. Die Folgen 
liegen klar vor aller Augen. Gerade ein Pädagoge wie Dr. Biedenkampf in Frant- 
furt ſollte wiſſen, daß die größten Verwüſtungen in den Gemütern der Kinder, 
die ſchlimmſten Trübungen des „Wirklichkeitsſinnes“ nicht den Märchen mit ihren 
Wundern, ſondern den Abenteurer-, Indianer-, Räuber-, Detektivromanen zur 
Laſt fallen, welche — im offenſichtlichen Gegenfak zum Märchen — ſich im Er- 
heucheln der Wirklichkeit bis in die kleinſten Züge gar nicht genug tun können. 
Ein richtiges Märchen aus der Zeit, „wo das Wünſchen noch geholfen hat“, hat 
noch nie ein geſundes Kindergemüt aus dem Geleiſe gebracht: jene romanhaften 
Geſchichten dagegen graſſieren wie eine Seuche, eben deshalb, weil ſie mit ihrem 
erlogenen rationaliſtiſchen Gebaren Dichtung und Wirklichkeit heillos durchein⸗ 
anderbringen. Und wer da meint, daß es ſich dabei nur um eine Kinderepidemie 
handle, ift in ſchwerem Irrtume. Was an „unverſtandenen“ Jungfrauen in der 
Welt der Wirklichkeit herumläuft, kommt zu neunundneunzig Hundertſteln auf 
das Konto der Romanleſerei. Kein Mädchen ift je deshalb fiken geblieben, weil 
kein Märchenprinz mit der goldenen Kutſche kommen wollte; wohl aber hat gar 
manche die Zeit verpaßt, weil der wackere Mann, der um ſie warb, nicht den Udos 
oder Kunos ihrer Lieblingsſchriftſtellerin glich, oder weil ſie hinter jedem muntern 
und dreiſten Burſchen einen Sudermannſchen Lüderjahn witterte. Es ift unglaub- 
lich, wie oft man ſelbſt bei alten, ſonſt verſtändigen Leuten die verſchrobenſten An- 
ſichten über geſellſchaftliche oder ſoziale Verhältniſſe gewiſſer Lebens- und Berufs- 
kreiſe, z. B. des Bauern- und Arbeiterſtandes, vorfindet: immer, wenn man ge- 
nauer nachforſcht, entdeckt man alsdann, daß dieſen ſchiefen Urteilen und Schlüf- 
ſen nicht Fehler der eigenen Beobachtung zugrunde liegen, ſondern der Einfluß 
jener Belletriſtik, welche ſich darin gefällt, „der Wirklichkeit ihre feinſten Züge ab- 
zulauſchen“, um den Leſer deſto ſicherer über die Tatſache hinwegzutäuſchen, daß 
jede Dichtung, ſei es auch die allerrealſte, notgedrungen — Oichtung bleibt. 
Das ift die innere nwahrhaftigkeit aller Wirklichkeitsdichterei. Sie 
will nicht für das gehalten werden, was ſie iſt und ihrem dichteriſchen Zwecke nach 
ſein und bleiben muß, vielmehr ſetzt ſie alle dichteriſchen Mittel, alle Kniffe und 
Pfiffe einer raffinierten Darſtellung in Aktion, um den Lefer über ihr eigenſtes 
Weſen zu täuſchen und für Wirklichkeit genommen zu werden, um dem Wirklich- 
keitsfanatismus des entarteten Zeitgeſchmackes entgegenzukommen. Zede Lüge 
hat kurze Beine. Kein Wunder, daß jene unfinnige Fiktion notgedrungen in Ab- 
ſurditäten endet. Oder ift es nicht abſurd und lächerlich, wenn uns fo ein Wirt- 
lichkeitsdichter die geheimſten Regungen, Gedanken und Pläne feiner Helden ent- 
hüllt, gleich als ob ein jeder mit einem Guckloch im Kopfe herumliefe?! — Der 
wahrhafte Oichter darf das; denn er läßt uns nicht darüber im Zweifel, daß 


666 Vogel: Das Wunder in der Oichttunſt 


der Held ein Geſchöpf ſeiner Einbildungskraft iſt, und als ſein Schöpfer muß er 
wiffen, was der Held fühlt und denkt: wer uns aber weismachen will, fein Held 
ſei ein von ihm beobachteter Wirklichkeitsmenſch, der mutet uns zu, mitten in der 
Wirklichkeit an ein Wunder zu glauben. Nur dadurch, daß uns dieſer Hokuspokus 
tagtäglich vors Auge geführt wird, hört er auf, lächerlich zu wirken und wird zu 
einer der als ſelbſtverſtändlich hingenommenen Ronventionslügen, ohne welche die 
Wirklichkeitsdichterei nicht fertig wird. Es iſt bekanntlich die einzige nicht, denn die 
Urliige, eine Dichtung könne, folle oder müſſe Wirklichkeit geben, muß notwendiger- 
weiſe immer neue Lügen gebären — nur flüchtig ſei an jene erſtaunliche Gottheit, 
Zufall mit Namen, erinnert; fie hat zur Störung des „Wirklichkeitsſinnes“ Schlim- 
meres getan als alle Hexen und Geiſter der wahren Dichtung. 

Gerade zum Schutze des Wirklichkeitsſinnes kann man die Demarkations- 
linie zwiſchen Wirklichkeit und Dichtung gar nicht ſcharf genug ziehen. Die Wirt- 
lichkeit darzuſtellen ift Aufgabe der Naturwiſſenſchaft, der Zeit- und Sittengeſchichte 
und muß es bleiben. Es gilt feſtzuſtellen, was war und was ift in dem von der Wirt- 
lichkeit ſelbſt gegebenen tatſächlichen Zuſammenhange. Was auch dabei heraus- 
kommen möge: es drängt ſich uns mit Notwendigkeit auf und richtet ſich nicht nach 
unſerm äſthetiſchen und moraliſchen Urteil. Was uns gefällt oder nicht, davon ift 
nicht die Rede; es frägt nicht nach unſern Wünſchen. Wir wünſchen wohl; aber 
das Wünſchen „hilft nichts“. 

Wollen wir eine Welt haben, wie wir ſie uns wünſchen, ſo müſſen wir ſie 
ſchaffen. Das iſt Dichtung. Aber das können wir offenbar nur in einer 
Weife, indem wir das, was in der Wirklichkeit unſerm Wünſchen entgegenſtand, 
nämlich ihre eiſerne Notwendigkeit, für die Dichtung aufheben und uns aus dem 
Reiche der notwendigen Wirklichkeit in die Freiheit der unſerer Willkür unterjtehen- 
den Vorſtellungen hinüberretten. Erft damit und nur dadurch allein wird die dich 
teriſche Schöpferkraft, die im Wünſchen ſchlummert, entfeſſelt, dieſen Schritt tut 
jeder Dichter, er muß ihn tun, wenn es nicht beim Wünſchen bleiben ſoll, wenn 
aus dem Wünſchen etwas Neues, Schöpferiſches, kurz Dichtung hervorgehen ſoll. 

Dieſes entſcheidenden Schrittes aus dem Zwange der Wirklichkeit in die 
Freiheit des Dichtens muß fic jeder Dichter im Detten Herzen bewußt fein, wenn 
er nicht ftatt eines Dichters ein haltloſer, ſalbadernder Träumer, weder Fiſch noch 
Fleiſch ſein will. Nur im Bewußtſein dieſer Freiheit kann er planmäßig ſchaffen, 
ſich mit feſter und ſicherer Hand die Welt zimmern, in der das Wünſchen hilft, 
d. h. in der ſeine dichteriſche Idee zum reinen, vollkommenen Ausdruck kommen 
kann. Denn die Welt des Wirklichen an ſich iſt immer ideenlos, iſt harte, brutale 
Kauſalität, an der jeder Verſuch, Willen und Zweck hineinzutragen, ſcheitert. 
Sede Idee iſt Dichtung und bedarf, um anſchaulich zu werden, einer Welt, die vom 
Zwange der Notwendigkeit frei iſt, damit ſie ſich der Idee gemäß geſtalten läßt. 
Wer eine Idee dichteriſch zu einem in fih harmoniſchen Ganzen herausgeſtalten 
will, muß die Wirklichkeit zerbrechen. „Il faut casser les œufs pour faire une 
omelette‘, jagt der Franzoſe in einem klaren, aber etwas hausbackenen Gleich- 
nis. Mit erſchütternder Gewalt ſchildert uns der große deutſche Dichter in ſeinem 
Fauſt den Vorgang. Die Stelle wird ſo ſelten richtig verſtanden, daß ſich die Mühe 


Vogel: Das Wunder in der Oidteunft 667 


lohnt, in dieſem Zuſammenhange ihrer zu gedenken. Im dunkeln Drange nach 
einer vollkommeneren Welt flucht Fauſt der Welt der Wirklichkeiten, die ihm in 
des Tages Lauf „nicht einen Wunſch erfüllen wird — nicht einen!“ — Da 


ertönt der Geiſter Chor: 
„Weh! weh! 
Du haft jie zerſtört 
Die ſchöne Welt! 


Wir tragen 
Die Trümmer ins Nichts hinüber!“ 


Und dann erſchallt der. mächtige Ruf an fein Herz: 


„Mächtiger der Erdenſöhne, 

Prächtiger 

Baue ſie wieder, 

gn deinem Buſen baue fie auf!“ 


Das iſt der Gang, den der Dichter einſchlagen muß, um Oichter zu ſein: 
er muß die Welt außer ſich zerbrechen, um ſie in ſeinem Buſen prächtiger, ſeinen 
Wünſchen gemäß, wieder aufzubauen. 

Denn das ganze Verfahren wäre offenbar ebenſo brutal als zwecklos, wenn 
er nunmehr weiter nichts täte, als die zerbrochenen Eier mühſelig und notdürf- 
tig wieder zuſammenzuflicken — was dem Zdeale der Wirklichkeitsdichterei gleich- 
kommen würde. Vielmehr tritt in der Art, wie er verfährt, der Unterſchied zwiſchen 
Wiſſenſchaft und Oichtkunſt mit aller denkbaren Schärfe zutage. Der Naturforſcher 
und Geſchichtſchreiber muß die Dinge ſo ſehen, wie ſie ſind; er ſteht unter dem 
Zwange der Dinge und ſeiner Sinne, die ihm ihre Anſchauung übermitteln — 
der Dichter ſchaltet frei im Reiche feiner Vorſtellungen, feiner inneren Anſchauung. 
Nichts hindert ihn, gerade die Dinge zu ſehen, die er will, und ſie ſo zu ſehen, wie 
er will. Er kann ſie kommen und gehen, erſcheinen und verſchwinden laſſen, kann 
fie ſehen, wie fie in Wirklichkeit find und nicht find, kleiner, größer; ſchöner, häß⸗ 
licher; beſſer, ſchlimmer; wichtiger, unwichtiger. (Man vergleiche etwa den Don 
Carlos der Geſchichte mit dem der Schillerſchen Dichtung.) Er kann alles ſehen, 
was in der Vorſtellung möglich iſt, ohne groß nach dem in Wirklichkeit Möglichen 
zu fragen. 

Und das gleiche gilt auf dem Gebiete der Zuſammenhänge alles Geſchehens. 
Die Wiſſenſchaft beugt fih den Tatſachen äußerer Abfolge, alfo einer äußeren Ur- 
ſächlichkeit, welche ſie auf Geſetze, alſo auf Notwendigkeit zurückzuführen bemüht 
bleibt — dem Dichter ſteht in feiner vorgeſtellten Welt das Reich der inneren Zu- 
ſammenhänge offen. Niemand kann ihm in jener Welt, die feine eigene Schöp- 
fung iſt, verwehren, Zuſammenhänge zu ſetzen, wie er will, und zu löſen, wie er 
will, Willen und Zweck nach freiem Ermeſſen auch dort zu ftatuieren, wo die Wiffen- 
ſchaft nur das ſinnloſe Walten toter Kräfte zu entdecken vermöchte. 

Das ſouveräne Recht zu dieſem Verfahren — ich wiederhole das ausdriid- 
lich — ſteht dem Dichter deshalb zu, weil es fih um eine Welt handelt, die er ſelbſt 
ſich in feiner Vorſtellung ſchafft, und er ift genötigt, von dieſem feinem Rechte 


668 Vogel: Das Wunder in der Oichttunſt 


Gebrauch zu machen, weil die Welt der Wirklichkeit dem unbezwinglichen Sehnen, 
Hoffen, Wünſchen unferes Gemütes ſchlechterdings nicht genügt, weil er als Dich- 
ter eine Welt der Vorſtellung braucht, in der „das Wünſchen hilft“. Er muß 
der unzulänglichen Wirklichkeit das Unwirkliche gegenüberſtellen, das eben des- 
halb den Erfahrungen und Geſetzen der Wirklichkeit nicht unterſteht und unter- 
ſtehen darf. Sede Dichtung iſt ein Proteſt des Herzens gegen die brutale Tyrannei 
der Wirklichkeit, ſie zeigt uns, was wir möchten, im Gegenſatz zu dem, was wir 
finden. Mit der Betonung dieſes Gegenſatzes zieht der Dichter die ſcharfe De- 
markationslinie, und eben durch dieſe klare und bewußte Gegenſätzlichkeit wird 
echte Sichtung den Wirklichkeitsſinn nicht ſowohl trüben, als vielmehr verſchär⸗ 
fen. Wie Fauſt ſtehen wir vor ihr und rufen: 


„Ein Schauſpiel! — — aber ach, ein Schauſpiel nur! 


Bezeichnet man als Wunder alles das, was den Erfahrungen und Geſetzen 
der Wirklichkeit widerſpricht, und zieht man die ſoeben gemachten Ausführungen 
zu Rate, fo kommt man zu dem nur ſcheinbar paradoxen Satze, daß es auf dem 
Gebiete echter Dichtung überhaupt kein Wunder geben kann. Denn da ich in 
einer echten Dichtung keine Wirklichkeit ſuche noch überhaupt zu ſuchen berechtigt 
bin, ſo wüßte ich gar nicht, weshalb ich mich verwundern ſollte, wenn mir etwas 
aufſtößt, was, unter dem Geſichtspunkte der Wirklichkeit betrachtet, als ein Wun- 
der erſcheinen müßte, was aber im Reiche der dichtenden Vorſtellung im gering- 
ften nicht wundernehmen kann, ſobald es fich nur aus der Idee und dem Zufammen- 
hange der Dichtung als eine nötige, nützliche und wohlgefällige Vorſtellung ergibt. 
Die Probe auf die Richtigkeit dieſes Satzes kann ein jeder ſelbſt machen, wenn er 
ſich mit ganzer Seele in eine echte Dichtung vertieft und einlebt. Unter dem Ge- 
ſichtspunkte der Wirklichkeit iſt der „Fauſt“ von Anfang bis Ende eine Kette von 
lauter Wundern. Lebt man aber erſt einmal in dieſer Welt, ſteht man unter dem 
Banne der Ideen, welche dieſe Welt ſchufen, um uns die tiefſten Geheimniſſe des 
Menſchenherzens zu enthüllen, fo erſcheint uns alles ſelbſtverſtändlich, ja wir wür- 
den uns wundern, wenn's anders käme, wenn Wagner Biedenkampf recht behielte 
und der geſpenſtiſche Pudel doch nur ein natürlicher Pudel wäre. Wunder wird 
all dies erſt dann, wenn die Dichtkunſt verſucht, einen ſelbſtmörderiſchen Kom- 
promiß mit der Wirklichkeit einzugehen, fic, ſtatt frei den eigenen Geſetzen zu fol- 
gen, Rüdfichten auf eine ihrem innerſten Gielen fremden Vachtſphäre aufzu- 
erlegen. Denn im gleichen Augenblicke, wo die Dichtung fidh als Wirklichkeit ge- 
bärdet, werden jene in der Oichtung als ſelbſtverſtändlich hingenommenen Vor- 
gänge anſtößig und wecken den Widerſpruch des auf die Wirklichkeit eingeſtellten 
Gemiites. Ich habe als Kind gute Märchen ohne alle Zweifel und Bedenken an- 
gehört: wenn aber einer verſuchte, mir etwas „Wunderbares“ als wirklich auf- 
zuſchwätzen, lachte ich ihm ins Geſicht. So war ich ein echtes Märchenkind und 
bin trotzdem nie abergläubiſch geweſen. 

Alles wohl überlegt, tritt alſo jeder Dichter mit einer petitio principii feinem 
Hörer gegenüber: „Verſetze dich in eine Welt der Vorſtellungen, die ich dir zu dem 
Zwecke geſchaffen und in ſich ſelbſt harmoniſch geordnet habe, um in ihr meine 


Der Weg zu Dante 669 


dichteriſche Idee in verſtändlicher und wohlgefälliger Weiſe vorzuführen. Rannft 
du das nicht oder willſt du es nicht, fo bleib draußen! Dichtung zwingt fih keinem 
auf, wie die Wirklichkeit, die ſich jedem aufzwingt. Aber trittſt du ein, ſo bequeme 
dich ihrem Vorſtellungskreiſe an, den ich geſchaffen und gewählt habe, um meine 
dichteriſche Abſicht ins Werk zu ſetzen.“ 

Damit iſt eigentlich alles klar — vor allem eins: daß der Dichter gar nicht 
gegen die Wirklichkeit fehlen kann, ſondern nur gegen Geiſt und Abſicht ſeiner 
Dichtung. Ein Dichter, der uns wider den Geiſt feiner Dichtung eine rationa- 
liſtiſche Erklärung aufnötigen wollte, die uns aus dem freiwillig betretenen Bor- 
ſtellungskreiſe hinausdrängt, verſündigt ſich ebenſo ſchwer wie einer, der uns mit 
Wundern zuſetzt, wo Idee und Zweck der Dichtung einen natürlichen Verlauf 
der Dinge erwarten läßt, ja fordert. Im erſten Falle wird er zum Pedanten Wag- 
net-Giedentampf, im zweiten zum Taſchenſpieler; in beiden zerſtört er die not- 
wendige innere Einheit des Vorſtellungskreiſes, ohne die eine Dichtung nicht be- 
ſtehen kann. 

Dieſe innere Einheit, diefe völlige Ubereinſtimmung mit fic ſelbſt war es, 
die ich im Auge hatte, als ich ſagte: Das Wärchen iſt, wie jede echte Dichtung, 
in ſich ſelbſt wahrhaftig. Zch hoffe nun verſtanden zu fein. 


CANES 


Der Weg zu Dante 


kenn der „gebildete Deutſche“ in die Lage kommt, die größten Dichter aller Zeiten 
AN aufzuzählen, fo ift er um die Antwort nicht verlegen: Homer, Sophokles, Dante, 
Shakeſpeare und Goethe. Hat der Betreffende ein Gymnaſium durchgemacht, 
ſo ſind ihm die beiden Griechen wohl bekannt, aber auf der Schule auch gründlich verekelt wor- 
den. Das Verhältnis zu Goethe und Shakeſpeare iſt meiſt etwas freundlicher. Man ſieht ihre 
Dramen auf der Bühne und wirft wohl auch dann und wann einen Blick in ihre Werke. Zwi- 
ſchen den beiden Gruppen ſteht Dante. Ein großer Name, aber auch kaum mehr als das, ein 
Klang ohne aktuelle Bedeutung. Man weiß, daß er eine Göttliche Komödie geſchrieben hat, 
eine Wanderung durch Hölle, Fegfeuer und Himmel, die aber weder ſehr göttlich noch ſehr 
komiſch ausgefallen iſt. Der Lefer ſcheitert gewöhnlich ſchon bei den myſtiſchen Tieren des erſten 
Geſanges, dem Löwen, der Wölfin, dem Leoparden; und gelingt es ihm mit heißem Bemühen, 
dieſes Ratfel zu löſen, fo halt fein Intereſſe im beſten Fall bis zum fünften Geſang an, bis zur 
Begegnung mit Francesca da Rimini. Dann legt er das geheimnisvolle Buch aus der Hand. 

In keinem Lande wird Dante fo wenig geleſen wie in Oeutſchland. Unfere Überſetzungen 
ſind mindeſtens ebenſogut wie die der Engländer und Franzoſen, wir beſitzen vortreffliche Er⸗ 
Iduterungen zur Komödie und wiſſenſchaftlich wertvolle Biographien ihres Verfaſſers; wir haben 
Oantekenner und Oanteforſcher, aber ein Publikum hat der große Florentiner bei uns nicht. 
Karl Voßler hat es neuerdings verſucht, „einem weiteren Kreis gebildeter Laien das Verſtänd⸗ 
nis der Göttlichen Komödie zu erſchließen“. Als Einführung liegt eine zweibändige Entwick- 
lungsgeſchichte vor, der eine fortlaufende Erklärung des „heiligen Gedichtes“ folgen foll. Go- 
weit man nach dem erſten Teil urteilen kann, ift es ein vorzügliches Buch, das dem Kenner und 
dem Forſcher Genuß und Belehrung bietet, aber wenn der Verfaſſer wirklich den Zweck ver- 


670 Der Weg zu Dante 


folgte, über dieſe kleine Schar der Getreuen hinaus eine größere Gemeinde um Dante zu fam- 
meln, fo hat er dieſen Zweck völlig verfehlt. Trotz feiner Trefflichkeit wird das Werk dem Dichter 
nicht einen neuen Verehrer, der Komödie nicht einen Leſer gewinnen. Im Gegenteil, es muß 
die Scheu des Laien vermehren, wenn er ſieht, daß er bei den Agyptern und Phöniziern an- 
fangen ſoll, um eine Dichtung des vierzehnten Jahrhunderts zu verſtehen. Erſtaunt fragt er 
ſich: Hat denn Dante von dieſen Antiquitäten etwas gewußt? Und bei Voßler findet er die 
richtige Antwort, daß der Florentiner von den vielen Philoſophen, Schriftgelehrten und Kirchen- 
vätern, deren Weisheit in den beiden Bänden vorgetragen wird, nur ganz wenige und auch 
dieſe wenigen nur recht unvollſtändig gekannt hat. Warum ſoll das Ei klüger ſein als die Henne, 
der Leſer mehr wiſſen als der Dichter? Dieſe Zuſammenſtellung, die das Werden der mittel- 
alterlichen Weltanſchauung ſchildert, beſitzt hohen Wert, iſt für den Hiſtoriker unentbehrlich, 
aber ſie bildet nicht die geeignete Einführung in die Göttliche Komödie. Statt zu erleichtern, 
erſchwert ſie das Verſtändnis und hätte ebenſogut durch eine Abhandlung über die Sprache 
oder über die Geſchichte Italiens erſetzt werden können. Was ſollen dem Laien die Ausfüh- 
rungen über die Philoſophie der Stoiker, wenn Voßler ſelbſt zu dem Schluß kommt, daß Dante 
feinen Stoizismus nicht von ihnen gelernt hat, ſondern daß er angeboren war? Die Erörte- 
rungen über Auguſtinus und ſeinen Gottesſtaat werden mit der Bemerkung abgebrochen, daß 
ein perſönliches Band zwiſchen dem älteren Werk und der Komödie nicht exiſtiert. Sie ſind alſo 
entbehrlich. Der Erklärer gibt auch zu, „daß der Inhalt der Dichtung, die ſtufenweiſe Ver- 
einigung des Menſchen mit Gott, weder einer ſtreng philoſophiſchen noch einer ſtreng ſittlichen 
Behandlung oder Exekution fähig iſt“, aber er betrachtet das Problem doch nur von dieſen 
Seiten und läßt das Kunſtwerk, das unmittelbare Erzeugnis des Dichters, außer Augen. Das 
zeigt ſich auch im einzelnen. 

Gewiß war Dante Myſtiker, und gewiß waren ihm die Anſchauungen des heiligen Franz 
und Bonaventuras bekannt. Aber nicht durch fie ift er zum Myſtiker geworden; das hieße Ur- 
ſache und Folge verwechſeln. Voßler nimmt die Vermutung auf, der Oichter habe als Knabe 
eine Minoritenſchule beſucht. Dagegen läßt fih nichts einwenden, aber ſicher brachten die Fran- 
ziskaner ihren Zöglingen nichts anderes bei als den trockenen Memorierſtoff, der den Gehalt 
des damaligen Unterrichts ausmachte, auf keinen Fall den pantheiſtiſch angehauchten Myfti- 
zismus ihres Stifters und Meiſters. Dieſer läßt ſich überhaupt nicht lehren, ſondern muß erlebt 
werden. Myſtiker wurde Dante mit innerer Notwendigkeit, weil jeder Verſuch, die Religion, 
das Streben zu Gott, dichteriſch zu erfaſſen, zur Myſtik führt. Bei ihm ſowohl wie bei Wilton 
und bei Klopſtock, obwohl weder der engliſche Puritaner noch der ſächſiſche Proteſtant eine 
Ahnung von den Viktorinern oder dem Doctor seraphicus beſaßen. Myſtik — jo kann man das 
Wort kurzweg erklären — ift Religion als Poeſie, und wo die Myſtik aufhört, nicht nur bei Dante, 
ſondern bei allen Sängern des Glaubens, da hört auch die Dichtung auf und verſtummt vor 
dem öden Gerede der Theologen. 

Auch die Bedeutung Beatricens wird verkannt, wenn fie einfeitig nur von religiöfen und 
philoſophiſchen Geſichtspunkten betrachtet wird. Nicht weil fie etwas Überirdifches darſtellt, 
alſo angeblich nur ein Symbol iſt, kann Oante ſich erſt mit ihr auf der Höhe des Läuterungs- 
berges vereinigen, ſondern auch hier liegen die Urſachen in ihm, in der Perſon des Dichters. 
Wie den Gläubigen des Mittelalters nicht das Leben, ſondern nur das Sterben des Heilandes 
intereſſierte, ſo beſaß auch der Tod der angebeteten Frau für den tief und rein empfindenden 
Liebenden eine weit höhere Bedeutung als ihr Oaſein. Es ift kein Zufall, daß die Geliebten der 
drei größten Lyriker des Mittelalters, die Dantes, Cinos da Piſtoja und Petrarkas, in der Jugend 
verſcheiden, denn erſt dadurch werden fie bedeutungsvoll. Auf Erden kann fie der Dichter nicht 
gebrauchen, denn in dieſer Welt iſt eine Vereinigung mit der erſehnten Frau unmöglich. Weder 
außerehelich, denn das iſt Sünde, noch durch Heirat, denn fie iſt zwar erlaubt, aber doch nur 
eine Konzeſſion an das verwerfliche Fleiſch. Es bedurfte der Reformation, um die Verherr⸗ 


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Der Weg au Dante 671 


lichung von Romeos und Zuliens Liebe oder von Vrutus’ und Porzias Ehe möglich zu machen, 
vorher find fie einer poetiſchen Behandlung unfähig und unwürdig. Dieſe verdient nur die gött- 
liche Minne, der Amor purus. Er tritt um fo reiner auf, je mehr die körperliche Annäherung aus- 
geſchloſſen iſt, alſo am reinſten, wenn der Tod die Geliebte in das Himmelreich entrückt hat. 
Die Scheidung in himmliſche und irdiſche Liebe, in den Amor purus und mixtus, beruhte aber 
damals auf keiner ſpitzfindigen Konſtruktion, ſondern entſprang der lebendigen Empfindung 
jedes einzelnen von dem Unwert der Welt. Und dieſes Gefühl, nicht eine ſcholaſtiſche Spekula⸗ 
tion, verweiſt die Geliebte in eine überirdiſche Sphäre. Erft dort ift eine Vereinigung mit ihr 
erreichbar, natürlich nicht mehr körperlich, ſondern ganz geiſtig. Und dazu muß der Liebende 
werden wie die Verklärte ſelbſt, frei von aller Sünde; er muß ſich durch Hölle und Fegfeuer zu 
ihr hinaufläutern. Aus der Liebesvorſtellung des Dichters ergibt ſich Idee und Aufbau der 
Göttlichen Komödie mit zwingender Notwendigkeit. Alles drängt darauf hin, die Erklärung des 
Werkes nicht aus der Philoſophie und Theologie, ſondern aus der Gefühlswelt des Verfaſſers 
zu verſuchen. Voßler nennt ſelber die Wanderung durch die drei Reiche das „perſönlichſte Ge- 
dicht“, aber ſein Buch erweckt den Eindruck des Gegenteils und läßt für die Perſönlichkeit des 
Dichters kaum einen Platz. 

Die Eigenart Dantes drückt allen ſeinen Werken, nicht nur dem größten, ſondern auch 
der Vita Nuova, dem Conivivio und der Monarchie den Stempel ſeines Geiſtes auf. Die Komödie 
hat man oft mit dem Fauſt verglichen, noch berechtigter wäre es, dem Neuen Leben den Werther 
gegenüberzuftellen. In beiden Dichtungen handelt es fih um die erſte Liebe eines jungen 
Menſchen, dem eine Vereinigung mit dem Gegenſtand feiner Neigung nicht vergönnt ijt. Wäh⸗ 
rend aber Werther den Verluſt nicht verwindet, überſteht ihn Dante, und gerade der Schmerz 
gibt ihm Kraft zu neuen Taten. Das ift wichtig: nicht wie dem ſchwermütigen Petrarka nur 
zu klagenden Sonetten. Voßler nennt dieſe Jugendliebe unſittlich. Der Ausdruck könnte auch 
auf Werthers Empfindung angewendet werden, wenn man damit jedes übermäßige Schwelgen 
in ſinnlichen Vorſtellungen treffen will. Ich ſehe keinen Grund zu dieſem Tadel. Bei einem 
Jüngling von Dantes Veranlagung mußte die erſte Liebe in folder Ausſchließlichkeit und All“ 
gewalt auftreten, die den Organismus eines jeden minder Energiſchen vernichtet hätte. Dieſe 
alles verzehrende und verſchlingende Leidenſchaft bleibt ihm ſein ganzes Leben lang treu, in 
der Liebe, in der Wiſſenſchaft und in der Politik. Er arbeitet nicht, ſondern er kämpft. Ob er 
liebt, philoſophiert, der Theologie nachgrübelt, den Diplomaten ſpielt, als Staatsmann auf- 
tritt oder auf dem Schlachtfeld ficht, überall ſetzt er ſeine ganze Perſönlichkeit ein. Er kann über- 
haupt nichts in Ruhe und beſchaulicher Erwägung tun, ſondern alles geht im Sturm; er iſt ganz 
Temperament, ganz Wille und Leidenſchaft im Leben wie im Dichten. Überall ſtößt er fih dabei 
an die Widerſtände feiner Zeit. Ein maßloſer Stolz erfüllt ihn, und das Ideal feines Glaubens 
ijt die Demut; eine glühende Sinnlichkeit beherrſcht ihn noch an der Schwelle des Greifen- 
alters, und ſeine Religion gebietet die Enthaltſamkeit. Nur mit Schaudern darf er ſich ſeinen 
innerſten Trieben überlaſſen, denn er iſt und bleibt ein Sohn des dreizehnten Jahrhunderts. 
Der Zwieſpalt wird beſtimmend für Dantes dichteriſches Schaffen. 

And trotz der heißen Leidenſchaft, trotz der hinreißenden Phantaſie und der glühenden 
Sinnlichkeit kann dieſer Mann handeln ſo praktiſch wie nur je ein Italiener. Die Verbindung 
anſcheinend unvereinbarer Eigenſchaften findet ſich in der Renaiſſance häufig, am häufigſten 
freilich bei den Südländern. Wenn Benvenuto Cellini fih vor innerer Wut kaum faſſen kann, 
fo reißt er wohl beſinnungslos den Dold aus der Scheide, aber den Stoß felber verübt er mit 
der ganzen Raltblitigteit und Virtuoſität eines geſchulten Fechters. Auch Macchiavelli gleicht 
in dieſer Beziehung Dante, nur beſitzt der Mann des ſechzehnten Jahrhunderts kein Gewiſſen 
mehr. Durch das unverrüdbare Feſthalten am Sittlichen ſteht unfer Dichter über dieſem zweit- 
größten Sohne Florenzs, und gerade ſeine Ehrlichkeit und ſein Rechtsbewußtſein, die für keinen 
Kompromiß zu gewinnen find, haben Dante den Vorwurf des Utopismus eingetragen. Vor 


672 Der Weg zu Dante 


allem feine Politik foll unzweckmäßig und unmöglich geweſen fein. Freilich das Raifertum war 
ſchon einmal vor dem Papſt erlegen. Aber Bonifazius VIII. und Klemens V. befaßen nicht 
mehr die Macht der Innozenze; eine Wiederaufnahme des Verfahrens war, wie das Beiſpiel 
Philipps des Schönen von Frankreich beweiſt, ausſichtsvoll. Nur mußte ein deutſcher König 
über die Alpen kommen, der es nicht nur dem Namen, fondern dem Veſen nach war. Dante 
konnte von der Zerſplitterung Deutſchlands keine Ahnung haben, er konnte nicht wiſſen, daß 
ſein angebeteter Heinrich eine Puppe der Territorialfürſten war, der nach Italien kam, um ſich 
den Nimbus und die Macht zu erwerben, die ihm in der Heimat fehlten. Und ſelbſt der landloſe 
Luxemburger Graf hätte dort mehr erreicht, wenn er den klugen Rat des Dichters befolgt und 
ſich nicht an den Mauern der norditalieniſchen Städte verbiſſen hätte. Ein kühner Vorſtoß nach 
Süden, der den Gegner ins Herz traf, hätte, zur rechten Zeit unternommen, das Schickſal des 
Feldzuges wenden können. 

Erſt als feine letzte Hoffnung zuſammenbricht, begibt Dante ſich auf das Gebiet der Spe- 
kulation. Er flüchtet nach Utopia. Lange genug hatte fein Rieſengeiſt allen Enttäuſchungen 
getrotzt. Er überlebte den Verluſt Beatricens, er ertrug die Verbannung aus dem einzig gelieb- 
ten Florenz und die beſtändigen Niederlagen ſeiner Partei, ja ſogar der Tod ſeines kaiſerlichen 
Lieblings entmutigte ihn nicht. Im nächſten Jahre ſteht er wieder mit den Ghibellinen in Waf⸗ 
fen gegen die Vaterſtadt. Za trotz aller Enttäuſchungen beſitzt der Alternde noch die Kraft, 
in dem fonft gehaßten Lucca einen neuen Liebes frühling zu durchleben. Erft als der letzte Feld- 
zug ohne Erfolg verläuft, iſt er gebrochen. Sehnſucht nach Rube erfüllt ihn, und er entjagt. 
Damals entſtand ſeine „Monarchie“, ein ſtaatspolitiſches Traumgebilde, das nicht mehr der 
praktiſche Staatsmann, ſondern der heimatloſe Verbannte nach der Viſion einer Bergangen- 
heit geftaltete, von der er wußte, daß fie niemals exiſtiert hatte. Nichts iſt dem Dichter geblie- 
ben als feine Kunſt und fein Stolz. Er will Weltbürger werden, er, der Florenz über alles 
liebt. Die Heimkehr ſteht ihm offen, aber er kann fie nur durch eine demuͤtigende Strafe er- 
kaufen. Eine Partei für fic) nennt er fid) ſelber, der Unbehaufte, der fein Brot vor fremden 
Viren erbetteln muß. Dieſer unbändige Stolz, verbunden mit dem glühenden Haß gegen feine 
Feinde, diktiert ihm die Komödie, nicht philoſophiſche Dialektik oder ſcholaſtiſche Theologie. 
Der Mann des Mittelalters wagt es, fih zu einer Höhe zu erheben, von der er Herrſcher, Böl- 
ker und Städte brandmarkt, von der er Päpſte und Kaiſer in die Hölle verdammt. 


Wen da ber Dichter hineingeſperrt, 
Den kann kein Gott erretten! 


Die Komödie ift Dantes Lebenswerk, in dem fic alle äußeren und inneren Wandlungen 
des großen Mannes widerſpiegeln. Der erſte Entwurf ſtammt aus den frühen Jahren nach 
dem Tode der Geliebten. Als dann der Verfaſſer immer tiefer in die politiſchen Wirren ſeiner 
Zeit hineingezogen wurde, wuchs das Liebesgedicht zum Kampfgedichte aus, und dieſes wieder 
zum weltumſpannenden Lehrgedicht, als der Alternde ſich von dem praktiſchen Leben zurück- 
gezogen. Von dem erſten Plan, der auf die Verklärung der irdiſchen Geliebten im Jenfeits 
abzielte, blieb nur der Rahmen, in den der Dichter alles, was er erlebt und gedacht, hineinwob. 
Veränderungen waren dabei unvermeidlich. Die Beatrice des Paradieſes iſt kein Weib mehr, 
ſondern nur noch eine Idee. Aber ging es Goethe anders, wenn am Schluſſe des Fauſt Gret- 
chen als Una Poenitentium wiederkehrt? Zn den langen Jahren ift ihm wie Dante die Jugend- 
liebe zur Idee geworden. Aber ſelbſt dieſe Abſchwächung iſt in beiden Fällen ein Erlebnis, 
keine Konſtruktion. 

Ungleich Shakeſpeare, der auch die Forderungen ſeines Theaters befriedigen mußte, 
ſchrieb Dante nur unter dem Zwang der inneren Notwendigkeit. Die Neigung zu Beatrice 
gab ihm die Fille des Gefühles und die Begeiſte rung für Virgil die Sprache. Mit Goethe hatte 
er ſagen können: 


Zennpfon 673 


Einer einzigen angehören, 

Einen einzigen verehren, 

Wie vereint es Herz unb Sinn! 
Lida! Glück ber nächſten Nähe, 
William! Stern ber ſchönſten Höhe, 
Euch verdant ich, was ich bin. 

Die beiden Geſtalten der Jugendgeliebten und des römiſchen Sängers wirken beitim- 
mend auf ſein Leben ein; in der Bekanntſchaft mit ihnen liegt auch ſeines „Wertes Vollgewinn“. 
Schon Comparetti hat darauf hingewieſen, daß, wenn Dante der Anſchauung der Scholaſtiker 
folgte, er Ariſtoteles, „den Meiſter derer, welche wiſſen“, zum Führer hätte wählen müſſen. 
Die Tendenz des Lehrgedichtes verlangt den Philoſophen, aber die perſönliche Neigung des 
Dichters trieb ihn zu dem Verfaſſer der Aneide, in der klaren Erkenntnis, wieviel er jenem ver- 
dankte, in dem Bewußtſein, daß Virgil ein Erlebnis für ihn war, ſo bedeutungsvoll wie das 
erſte Zuſammentreffen mit Beatrice. 

Bei keinem Dichter decken ſich Leben und Werk fo innig wie bei Dante. An Gubjettivi- 
tät des Willens übertrifft er ſelbſt Goethe und Byron. Und gerade ihn verſucht man immer 
nur aus Vor-, Mit- und Umwelt zu erklären, gerade bei ihm vernachläſſigt man das Perſönliche. 
Alle möglichen philoſophiſchen und theologiſchen Syſteme werden ihm untergeſchoben, nur 
um feſtzuſtellen, daß Dante fie an der entſcheidenden Stelle nicht befolgt hat. Aus dem wunder- 
bar geſchloſſenen Bau der Komödie wird ein Sammelſurium von Steinen und Steinchen, 
die bald von Auguſtin und Origenes, bald von dem heiligen Franz oder Thomas herrühren 
follen. Dante ſchuf ſich alles: Sprache, Form und Inhalt. Aber in den Arbeiten der Erklärer 
und Biographen ift für diefe Rieſenperſönlichkeit fo wenig Platz wie vor ſechshundert Jahren 
in dem undankbaren Florenz. Max Z. Wolff 


N 


Tennyſon 
(Geb. am 6. Auguſt 1809) 


|  eihe Vorſtellung haben wir Deutſche von Alfred Tennyſon? Wir alle haben das 

liebliche und doch ſo tragiſche Idyll „Enoch Arden“ geleſen, und die Erinnerung 

caran liegt in uns wie eine Stunde wehmütigen Glückes, in der wir der reinen 
Poejie. der Kunſt der Sprache und einem fremden, rührenden Schickſal reſtlos hingegeben 
waren — wir verdanken dieſem Dichter eine Stunde ſeligſter Vergeſſenheit. Das ift doch wohl 
Anzeichen und Weſen echter Kunſt, wenn wir ganz in ihr aufzugeben, uns ganz in ihr zu ver- 
geſſen vermögen! Das kann nur ein Dich ter bewirken! . .. Aber haben wir Tennyſon f e I b ft 
aus diefer Dichtung vernommen? Sein eigentliches Weſen, feine Perſönlichke it? Wir 
haben vielleicht nichts andres aus feinen Werken, ſondern nur dies zwar von Empfindung gleich- 
ſam durchtränkte, aber doch ganz objektiv behandelte Idyll geleſen. Wir haben aber einiges 
über ihn gehört, und vielleicht nicht gerade Gutes. Die um die Wende der achtziger Fabre 
emporkommenden Modernen, Oichter, Literarhiſtoriker und ihre Nachſchwätzer, haben ihn nicht 
beſonders geſchätzt: er war ja der Poéta laureatus der Königin Viktoria, er ward — nachdem 
er die Würde allerdings zweimal zurückgewieſen hatte — Lord Tennyſon, — man hat ihn 
gern herabgeſetzt, ihn einen Epigonen, einen Formkünſtler genannt. Er, der der größte Lyriker 
Englands hieß — Carlyle, Dickens Thackeray ſchätzten ihn höher als Byron und Shelley — 
ja der größte Lyriker des Jahrhunderts, erſchien bald als ein mehr durch Protektion als Ver— 
dienſt emporgekommener Didter des Hofes und der Geſellſchaft. Etwas von dieſem harten 
Urteil ging in unſere Vorſtellungen über: fein Bild verblaßte in uns. 

Der Türmer XI, 11 43 


674 Zennyfon 


Wenn wir feine Dichtungen nun wieder und mit reiferem, unbefangenem Empfinden 
lefen, fo werden wir bald erkennen, daß Tennyſon mehr war als der Dichter von „Enoch Arden“, 
daß er in der Tat der Oichter des königlichen England war, von dem eine wie Harfentlang und 
Meerflut rauſchende Harmonie königlicher Balladen feit Jahrhunderten nach Deutſchland þer- 
überklingt, ein eigentüml ' cher Chor lyriſcher Melodien — voll Eigenart und ratfelhafter, unfer 
Innerſtes ergreifender Tiefe. Shelley und Keats haben dieſen myſtiſchen Zauberklang — doch 
in ganz perſönlicher Färbung; Burns und Moore, Wordsworth, Felicia Hemans und Cole- 
ridge haben ihn ebenfalls, doch in volkstümlichen ſchottiſch-keltiſchen, iriſch-engliſchen, romanifch- 
germaniſchen Nuancen — jeder in feiner Weiſe. Auch Tennyſon hat ihn; er hat — möchte 
ich ſagen — allerdings von allen dieſen Dichtern etwas und doch Eigenes; er iſt Eklektiker — 
aber doch ein Eklektiker mit urſprünglich ſtarker Begabung und von eigener Zucht und 
Bildung. Das nationale Weſen der engliſchen Poeſie lebt und webt kräftig und zart in ſeinen 
Balladen, Legenden und eigentümlich ſehnſuchtsvoll-melancholiſch geſtimmten Liedern, und es 
ift gewiß, daß dieſes bei ihm in einer reinen klaſſiſchen Form erſcheinende Wefen ihn zum Lieb- 
lingsdichter des königlichen England gemacht hat. Seine Kunſt nannte ich ſoeben eine klaſſiſche. 
In der Tat: man kann ſie auch von dieſem Geſichtspunkte ausgehend charakteriſieren. Sie iſt 
nicht dunkel, getragen von den ſchweren Flügeln verträumter Phantaſie und aus dem Un- 
bewußten emportauchender Vorſtellungen und Gedanken, wie die Shelleys, fie iſt nicht ana- 
lytiſch, von perſönlichſten Beziehungen und von Arabesken, Gelegenheitseinfällen, von genia- 
len Ungezogenheiten überwuchert wie die Byrons — fie ift auch nicht naiv, einfach, fprdde und 
doch biegſam wie die Verſe Burns’ und Moores, fie iſt nicht kräftig realiſtiſch, ſcharf und bitter 
— wie Salzgeruch des Meeres — wie die Coleridges oder Thomas Hoods. Sie ijt klaſſiſch 
ſchön, fliffig, klar, anſchaulich, rhythmiſch vollendet — aber zugleich erfüllt von Eigenleben, 
in jeder Zeile voll Seele; fie ift klaſſiſche Kunſt, belebt und lebendig gehalten durch ihren ur- 
tümlichen nationalen Charakter, der nie ſo echt zum Ausdruck kommen würde, wenn dieſer 
Dichter nicht eben ein Dichter wäre. 

And welches iſt nun dieſer engliſche Klang? Wie und wo zeigt er ſich bei Tennyſon? 
Kann man das letzte, das innerſte Weſen der Poeſie definieren? Ich glaube kaum. 


Die Beete lagen blumenleer, Sie weinte bei des Abends Tau, 
Mit Moos bekruſtet dick und braun; Und früh, wenn der Tau im Gras noch lag; 
Längſt hielt tein Band und Nagel mehr Sie konnte nicht das weiche Blau 
Den Pfirſichſtrauch am Gartenzaun. Des Himmels fehn bei Nacht und Tag; 
Am Türſchloß hing der Griff heraus, Nur wenn dle Nacht ganz ohne Stern, 
Verfallen Stall und Scheuer lag, Die Fledermaus ſchon nicht mehr flog, 
Lauchüberwuchert war bas Dach, Hob ſie den Fenſtervorhang hoch 
Auf dem umfdhilften Meierhaus. Und ſah ins dunkle Feldland fern. 
Sie ſagte nur: „Mein Los iſt trübe, Sie ſagte nur: „Die Nacht iſt trübe, 
Er kommt, er kommt nicht mehr.“ Er kommt, er kommt nicht mehr.“ 
Sie klagte: „Tot iſt ſeine Liebe, Sie klagte: „Tot iſt ſeine Liebe, 
Ach, daß im Grab ich wär'!“ Ach, daß im Grab ich wär'!“ 


Dies ift der Anfang der Liebesballade „Mariana“ (in der ſchönen Überſetzung von Wil- 
helmine Prinzhorn). Ich habe diefe Berfe gewählt, weil jenes ſuggeſtive Weſen der engliſchen 
Poeſie hier ganz in der weichen Melodik, in dem ſchmeichelnden Fluß der Verſe, in dem Zu- 
ſammenklang von Muſik und Bild, von Natur und Seele fidh äußert, — alfo in einer inner- 
lichen Weiſe zur Geltung kommt. Wie geſagt, ich muß es dem Leſer überlaſſen, das, was 
ich meine, herauszufühlen; ich bin überzeugt, daß jeder, der mit Ohr und Seele in ein Gedicht 
hineinzuhorchen verſteht, dieſen ganz heimlichen Zauber auch in dieſer Verdeutſchung deutlich 
heraushören wird. Dieſer Zauber umſpinnt unſere Sinne, unſere Nerven — ohne fie zu qua- 
len; er wird allerdings zu einem Dämon, wenn er die unheimlichen Gewalten der Natur und 
der Seele repräfentiert — iſt er doch ſelbſt die rätſelhafte Seele des Menſchen, die durch den 


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Tennyfon 675 


Dichter, durch die Kunſt allein ſich zu offenbaren vermag. Vielleicht find wir jetzt dem Weſen 
der engliſchen Poeſie näher gekommen: ſie iſt die Poeſie des menſchlichen Herzens, — freilich 
wie jede natürliche Poeſie; aber in ihrem Typus iſt ſie es vielleicht mehr, vielleicht intenſiver 
als die Lyrik manches anderen Volkes. Es iſt charakteriſtiſch, daß die engliſche Poeſie — auch 
die Tennyſons — einen vorwiegend balladesken Klang hat, ſomit in ihrem Veſen Volkspoeſie 
ift, ſomit einen urtümlichen, ich möchte fagen, mit der Natur ſelbſt und ihrem Wefen innig zu- 
ſammenhängenden, nair-myſtiſchen Charakter bewahrt hat. Fajt alle engliſchen Dichter haben 
in dieſem Urklange den Höhepunkt ihres Schaffens gefunden, ich erinnere an Poes Ballade 
„Der Rabe“, an Coleridges „Der alte Matroſe“, an Wildes Zuchthausballade. Shakeſpeares 
Dramen „Lear“, „Macbeth“, „Hamlet“ find derartige Rieſenballaden. Dieſe Dramen konnten 
vielleicht nur dem keltiſch-germaniſchen Geiſte gelingen, ebenſo wie die ſeeliſch-perſönliche, fen- 
timentaliſche Lyrik des Petrarca, Michelangelo, Taſſo, Arioſt — die niemals als eine ſpäte 
Frucht allein des Römertums bezeichnet werden kann — und Dantes „Göttliche Kunſt“ und die 
Renaiſſance in Italien überhaupt ein Erzeugnis romaniſch-germaniſchen (gotiſchen) Geiſtes find. 


Ballade von Oriana. 


Mein Herz vergeht in Traurigkeit, Bevor der Tag die Nacht bezwang, 
Oriana, Oriana, 

Mein harrt nicht Ruhe weit und breit, Oer Hahn zum erſtenmale fang, 
Oriana, Oriana, 

Wenn Feld und Wald es überſchneit, Beil Waſſerrauſchen und Winbesdrang, 

Und laut des Nordwinds Sturmwind ſchreit Erſcholl der Kriegerroſſe Gang, 
Oriana! — Oriana! — 

Erelbt es mid einſam fern und weit, Rief laut des hohlen Hornes Klang, 
Ortana... Oriana: ... 


Man kennt bieles wirkungsvolle Wiederholen von Namen, leitenden Worten, Inter- 
jektionen in der engliſchen Poeſie feit Herder her; aber welch eine tief erregende, ja herzaufwũh⸗ 
lende und wieder abſchwellende, beruhigende Wirkung wird tatſächlich durch dieſes autochthone 
Mittel erzeugt! Wie ein Harfenſchlag mächtig bald, bald geiſterhaft zart und füß verhallend 
klingt hier das Leitwort Oriana in die Kunſt der Worte hinein ... Das ift dasſelbe, hier auch 
äußerlich deutlich markierte nationale Weſen der engliſchen Lyrik. 

Eine beſondere Vorliebe hat Tennyſon denn auch für die Ballade, und zwar für die 
Ballade nach engliſchen, ſchottiſchen oder altkeltiſchen Motiven, oder für ihr Gegenftüd, für 
die breit ausgeſponnene lyriſch-epiſche Erzählung, das heroifch-balladest geſtimmte Idyll. 
Auch „Enoch Arden“ und die „Königs- Idyllen“ find Balladen oder Romanzen. Ebenſo liebt 
er den Legendenſtil. Zu ſeinen ſchönſten und bekannteſten Balladen und Legenden gehören 
„Godiva“, „Lady Clara Bere de Bere”, „Die Schweſtern“, Die Dame 
von Shalott“. Sie alle hat Ferdinand Freiligrath meiſterhaft überſetzt (vgl. 
Ferdinand Freiligraths Sämtliche Werke, herausgegeben von Ludwig Schröder, Leipzig, 
Max Heffes Verlag). Auch Karl Bleibtreu bringt in feiner ſchätzenswerten „Geſchichte 
der engliſchen Literatur“ reichliche, und zwar ausgezeichnet überſetzte Proben Tennyſonſcher 
Gedichte. Ebenſo Wilhelmine Prinzhorn in ihrer Anthologie „Von beiden Ufern 
des Atlantik“ (Halle a. S., Verlag Haendel). Wären dieſe Balladen deutſche Originalgedichte, 
wir würden ſie den beſten Balladen der geſamten deutſchen Literatur zur Seite ſtellen müſſen, 
und wir haben doch auch eine ſehr reichliche Zahl von Meifterballaden aufzuweiſen. 

Sh möchte hierbei gleich die Vers erzählungen erledigen. Man findet einige 
derſelben, „Die Königsidyllen“ (in ihrer erſten Zuſammenſtellung), überſetzt von Dr. Karl 
Weiſer, in Reclams Aniverſalbibliothek. Die „Königsidyllen“, 1859 erſchienen, umfaßten 
zuerſt fünf Stücke, zuletzt (1885) zwölf; ſie behandeln Epiſoden aus dem Sagenkreiſe König 
Arturs und des heiligen Grals. Sie find durch manche Beziehungen innerlich miteinander ver- 


676 Tennyfon 


bunden. Charakteriſtiſch ijt für diefe hochromantiſchen Dichtungen die feine realiftijd-romantifde 
Kunſt der Schilderung. Man könnte diefe wortſchöne und doch dramatifch-lebendige Runit 
eine echt epiſche nennen, wenn ſie an ſich nicht ſo zart lyriſch geſtimmt wäre. Man könnte ſie 
Wielands Verserzählungen vergleichen; doch übertreffen ſie die Dichtungen des älteren Meiſters 
durch die reinabgetönte Prägnanz der Worte, durch den edleren Stil der Sprache. Ich nenne 
einige dieſer Gedichte: „Die Hochzeit von Geraint, „Balin und Balan“, „Lancelot und Elaine“, 
„Merlin und Vivien“, „Pelleas und Ettarre“ — die Titel erinnern an Maeterlind. Ritter 
kämpfe, romantiſche Fahrten, Liebesabenteuer bilden ihren Inhalt, doch liegt auch immer eine 
eigentümliche myſtiſche Stimmung über dieſen feinen Gebilden einer edlen Phantaſie. 
Perſönlichen Empfindens voll dagegen find die kleineren Phantaſien Tennyſons. 
Dieſe Allegorien — Allegorien im beſten poetiſchen Sinn des Worts — find wiederum aufer- 
ordentlich charakteriſtiſch für Tennyſon perſönlich und für die engliſche Dichtkunſt. Sie ſind 
maleriſch in erſter Linie, breit entworfen, ſubtil im einzelnen durchgeführt, üppig und voll 
Glanz in den Farben und andrerſeits wohllautend in der Sprache, fließend, getragen von einer 
inneren Melodie, auf und nieder wogend auf den Wellen eines natürlichen Rhythmus, der 
bejeelt wie Muſik zu fein ſcheint und Nerven und Gemüt in eigentiimlider Spannung hält. 


Die Lotoseſſer 


„Mut!“ fagte er und wies zum nahen Stranb, Ein Land der Ströme! Sclelerbünnem Flor 
„Zur Rüfte führt der Strömung Wogenſchlag!“ Und graudurchſichtigem Rauch ber eine glich, 

Im Zwielicht kamen ſie zu einem Land, Oer andre brang buch Licht und Schatten vor — 
Das ſcheinbar ſtets in halber Oammrung lag. Ein ſchläfrig Tuch von Schaum, der träge ſchlich. 
Wie man im müden Traum wohl atmen mag, Der Strom vom innern Lande wälzte ſich 

So ſeltſam ſchwül und ſchwer die Luft dort zog. Zum Meer; drei Berge ragten fern im Süd, 
Oer gelbe Vollmond aus den Wolken brach; Drei ſtumme Gipfel, deren Schnee nie wid; 
Gleich nlederwarts gekehrtem Rauche kroch Sie ſtanden dort vom Spätrotſchein umglüͤht, 


Klanglos und waſſerarm ber Strom vom Bergesjoch. Aus Buſchwerk klomm bie Fichte, tropfenüberfprüßt. 


Und nun ſchildert der Dichter das Land der Lotophagen mit einer nicht enden wollenden 
Fülle klangvoller Worte und märchenſchöner Bilder. Wir lauſchen dieſen wundervollen Har- 
monien wie einer weichen, träumeriſchen Muſik, aus der ſich, umſchlungen von Arabesken, 
das Motiv der heitermelancholiſchen Reſignation bald deutlich abhebt, bald von rein mufitali- 
ſchen Akkorden überholt wird. 


Wie füß doch wär's, beſpritzt von milchigem Schaum, 

Halboffnen Augs zu lauſchen kaum, 

Befangen wie im Traum. 

Zu träumen, träumen gleich dem Ambralicht, 

Das jener Höhe Myrrhenbuſch umflicht. 

Zu hören unſer Flüſtern wechſelweis, 

Zu ſchaun die Brandung, die zu bilden ſucht 

Formſchöne Linien, plätſchernb leis. 

Verzehrend Tag bei Tag des Lotos Frucht, 

Zu öffnen völlig Geiſt und Phantaſie 

Dem Einfluß ſinnender Melancholie. 

Wehmütig brütend, lebend in Erinnerung 

Mit alter Zeit Geſtalten, da wir jung — 

Seht überhäuft von eines Hügels Gras, 

Zwel Handvoll weißen Staubs, den man zuſammenlas. 
(Carl Bleibtreu.) 


Für diefe faſt rein lyriſchen Schilderungen oder idylliſchen Elegien verwendet Tenny- 
ſon mit Vorliebe antike Motive, weil dieſe ſich in geſchmackvoller und origineller Weiſe deuten 
und ſinnbildlich pointieren laffen. Die ſchönſten dieſer Phantaſien find neben den Lotosejjern 
„Alyſſes“, „Onone“, „Onones Tod“, „Demeter und Perſephone“. Der große Seelenmalef, 


Tennyſon ` 677 


der allen aus „Enoch Arden“ bekannt ift, zeigt fic) auch in allen dieſen Gedichten in feiner gan- 
zen urſprünglichen und reifen Meiſterſchaft. Bleibtreu nennt die etwas breit angelegte re- 
flexionäre Phantaſie „Locksley Hall“ fein Meiſterſtück, dieſes zeige ihn als echten Dichter von 
Gottes Gnaden, als größten lebenden und leitenden Dichter der Viktoria-Epoche. 

Dieſen epiſchen und epiſch-lyriſchen Gedichten ſtehen die rein lyriſchen Dichtungen 
Tennyſons in nichts nach. Das eigentümlich melodiſch innerliche nervöſe Wefen der engliſchen 
Poeſie erkennen wir auch in ihnen. Lennyfons Lyrik, nicht perſönlich tief und originell im 
höchſten Sinne, ift doch faſt immer eigenartig beſeelt und — ich möchte jagen: engliſch-romantiſch, 
liedhaft. Bedeutend in ihrer Art find feine Liebesgedichte. 

Frag mich nicht mehr! Mond zieht die See empor. Frag mich nicht mehr! Wie könnt' ich Antwort geben? 


Die Wolke mag vom Himmel wohl ſich neigen Dein Antlitz kummerhohl und ohne Licht — 

Und die Geſtalt bes Taps, der Berge zeigen. 3% lieb' es nicht — Dod ſterben ſollſt du nicht: 

Dod) wann gab ich dir Antwort, lieber Tor! Ich ließ dein Lieben hoffen für dein Leben. 
Frag mich nicht mehr! Frag mich nicht mehr! 


Frag mich nicht mehr! Beſtimmt iſt mein Geſchick. 

Wider den Strom vergebens kämpf' ich an! 

Laß treiben mich hinab zum Ozean! 

Nichts mehr! Fd bebe ſchon bei einem Blick — 
Frag mich nicht mehr! 

Dies Gedicht, nicht klar und einfach wie ein Volkslied, hat doch infolge feiner ſchweben⸗ 
den, unbeſtimmten Gefühlsſeligkeit eine ähnliche Wirkung wie ein Volkslied. Es iſt ein echt 
engliſches, ſentimentales — im beſten Sinne: ſentimentales Lied. Noch viele Gedichte ähn- 
licher Art könnte ich zitieren, wie z. B. „Crossing the Bar“, das berühmte, oft überſetzte „Grab⸗ 
lied“, „Das Bettlermädchen“, „Der ſterbende Schwan“ (herrlich, ganz im engliſchen Geiſte 
von Freiligrath überſetzt; in feiner Art, namentlich in den pſalmenartig, immer mächtiger dahin- 
brauſenden Schlußverſen ift dies Jugendgedicht Tennyſons geradezu genial), „O Schwalbe, 
Schwalbe, fliege hin gen Süden“ (wiederum von Bleibtreu trefflich überſetzt). In Bleibtreuſcher 
Überfegung gebe ich noch folgende reizvolle Berfe wieder: 

Zetzt ſchläft das Rarmoſin-Blatt, nun das weiße; 
Nicht mehr wogt im Palaſtgang die Zypreſſe, 
Porphyrner Becken goldne Inſchrift bleicht, 

Die Feuerfliege wacht: wach bu mit mir! 

Sebt ſchleicht der weiße Pfau wie ein Geſpenſt — 
Unb wie ein Geiſt weißſchimmernd nahſt bu mir. 


Jetzt ruht die Erb’, ganz Oanas den Sternen 


Tennyſons Dramen erwähne ich in der folgenden biographiſchen Skizze. 

Alfred Tennyſon wurde am 6. Auguſt 1809 in dem Pfarrhauſe des Dorfes Somersby 
in Lincolnſhire geboren. Als Knabe von acht Jahren kam er zu ſeinem Großvater, dem Pfarrer 
von Louth, um die lateiniſche Schule daſelbſt zu beſuchen. Nach Abſchluß der Schulzeit ver- 
lebte er einige Jahre in feinem Heimatsorte. „Und hier, wo einſame, meerumſchäumte Rüften- 
ſtriche und unheimlich düſtere Moorgründe der Landſchaft ein ganz eigenartiges Gepräge geben, 
erwachte in ihm jene tiefe, Tat leidenſchaftliche Liebe zu der Natur, die ſpäter in feinen Dich- 
tungen ſo reizvoll zum Ausdruck kam. Er ſtreifte oft nächtelang am Meeresufer umher, wan— 
derte am Saume der braunen Moore mit ihren wehenden Binſen und wallenden Nebeln, 
völlig von dem ſchwermütigen Zauber der Gegend umſponnen. Der engliſche Literarhiſtori— 
ker Collier machte die treffende Bemerkung, daß in manchen von Tennyſons früheren Ge- 
dichten, wie z. B. in „Mariana“, ‚Der ſterbende Schwan‘, die Eindrücke, welche er als Füngling 
in Lincolnſhire empfangen, unverkennbar hervorträten, während ſpäter, nachdem fidh der Did- 
ter auf der Inſel Wight angeſiedelt hatte, auch ſeine Stimmungsbilder die wunderbare Schön— 
heit, den leuchtenden Farbenſchmelz ſeines neuen Aufenthalts wiederſpiegelten.“ 


678 Tennyſon 


Mit ſeinem Bruder Karl bezog er 1828 die Univerſität Cambridge und wurde im Trinity 
College immatrikuliert. Schon 1827 hatte er in Gemeinſchaft mit ſeinem Bruder ein Bändchen 
Gedichte unter dem Titel „Poems of two Brothers“ herausgegeben. In Cambridge wurde 
er mit Arthur Henry Hallam befreundet, der ihn vielfach zum Dichten anregte. „Der Lieben- 
den Gedichte“, das Preisgedicht „Timbuctoo“ (1829) und ein Bändchen „Poems, chiefly lyrical‘ 
(1830) entſtanden in dieſen Fahren. Doch wurden dieſe Werke höchſt ungünſtig rezenſiert, 
was ſich der junge Dichter fo zu Herzen nahm, daß er neun Jahre hindurch ſchweigſam blieb. 
Erft 1842 veröffentlichte er feine dritte Sammlung in zwei Bänden. Sie enthielt bereits Dich- 
tungen wie „Locksley Hall“, „Godiva“, „Clara Gere de Bere“ und wurde von der Kritik außer- 
ordentlich gut aufgenommen. „Dem Einzuge eines Siegers und Befreiers“ glich nun ſeine 
Laufbahn, wie ein engliſcher Kritiker ſagt. „Tennyſon iſt ſeitdem der Lieblingsdichter der Eng- 
länder geblieben, den Geſchmack faſt unumſchränkt beherrſchend. Und trotz ſeines hohen Alters 
mußte er noch bis zu ſeinem Tode als der Hauptvertreter der neueren Poeſie Englands, als 
der typiſche Dichter des Zeitalters der Königin Viktoria betrachtet werden.“ Ym Jahre 1847 
veröffentlichte er die größere allegoriſche Dichtung „The Princess“; die in diefe eingeſtreuten 
Lieder find voller Zartheit und von volkstümlich-edler Einfachheit. 1850 ließ er den Zyklus 
Totenklagen „In Memoriam“ über den frühen Tod Hallams folgen. Richard Wülker 
äußert fic) über dieſen Zyklus folgendermaßen in feiner „Geſchichte der engliſchen Literatur“: 
„So vollendet und hübſch einzelne von dieſen Gedichten, ſo ſind ihrer als Klage für einen der 
Welt ganz unbekannten Freund doch zu viele.“ In der Tat, die Gedichte, von denen viele 
— möchte ich hinzufügen — tief und originell in der Stimmung ſind, wirken als Ganzes doch 
monoton. — Schon vorher war dem Dichter ein Jahresgehalt von 200 Pfund Sterling aus- 
geſetzt, was den Neid Bulwers erregte und einen unerfreulichen literariſchen Streit zwiſchen 
den beiden Dichtern veranlaßte. Im Jahre 1850 wurde Tennyſon — nach dem Tode Words- 
worths — zum Poéta laureatus ernannt. Als Inhaber der Laureateship verfaßte er die Ode 
auf den Tod des Herzogs von Wellington, ferner die berühmte und ausgezeichnete Ballade 
„The Charge of the Light Brigade“ (1854), die eine Epiſode aus dem Krimkriege verherrlicht. 

3m übergehe einige unweſentliche Veröffentlichungen, die „Königsidyllen“ erwähnte 
ich bereits. „Enoch Arden“ erſchien 1864 mit anderen poetiſchen Erzählungen. 

Seit 1875 ift Tennyſon auch als Oramendichter aufgetreten. Die meiſten feiner Dramen 
find Buchdramen geblieben. Hervorzuheben find „Queen Mary“, in dem die Geſchichte der 
Vorgängerin Eliſabeths, und „Harald“, in dem der Untergang der angelſächſiſchen Herrſchaft 
dargeſtellt wird. „Nach engliſchen Berichten foll aber ſowohl Tennyſons letztes Drama ‚The 
Foresters‘ oder ‚Maid Mirian“, aufgeführt im März 1892 im Londoner Lyzeumtheater, das 
Stoffe der altengliſchen Balladendichtung behandelt, als auch das ältere ‚Bedet‘, das den großen 
Kardinal Thomas a Becket zum Mittelpunkt hat und im Februar 1895 auf derſelben Bühne 
zur erſten Darſtellung kam, ſehr bühnenwirkſam ſein, ja eine geradezu begeiſterte Aufnahme 
gefunden haben.“ 

Tennyſon war bis in fein hohes Alter hinein dichteriſch tätig, er veröffentlichte noch zu- 
letzt die Gedichtſammlungen „Demeter and other Poems“ und „The Death of Oenone and 
other Poems“, denen fo vollendete Gedichte wie „Romneys Remorse“ und fo lyriſch tief- 
geſtimmte wie „Crossing the Bar“ angehören. Unter den Klängen des zuletzt genannten Abend- 
liedes wurde der am 6. Oktober 1892 auf ſeinem Landſitz Aldworth bei Haslemere geſtorbene 
Dichter am 12. Oktober in der Weſtminſterabtei beigeſetzt. Er wurde von ſeinem ganzen Volke 
betrauert. Seine Ruheſtätte befindet fih zu Füßen Chaucers, dicht neben der Gruft des Dich- 
ters Robert Browning. Hans Benzmann 


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Paracelſus 679 
Paracelſus 
Einen neuen 


Gedanken braucht die arme Welt, 

Oer, ſich des Dafeins zu erfreuen, 

Den Menſchen lehrt und auf bie Erde ſtellt 
Als auf den Boden, der ihm frei, 

Wo er ſein eigner Herr und Richter ſei. 


2 K x aracelſus begegnet uns in der Literatur auf Berührungsebenen mit dem Fauſtſtoff. 

Vielleicht kann man den kühnen, jeder Überlieferung ſpottenden Naturdenker, der 
CA von 1493 bis 1541 lebte, ein Urbild des Fauft nennen. Der Gegenfa von 
Ne Buchgelehrfamteit und lebendiger Natur iſt vorhanden, ebenſo die Zwitterperſönlichkeit 
von Geiſterbeſchwörer und Forſcher. 

Wir wiſſen von Leonardo da Vinci, wie leicht in jenem Zeitalter der Verdacht entſtand, 
ein Menſch ſei im unerlaubten Beſitz verborgenen Wiſſens. Zeder eigene Gedankengang 
erſchien von vornherein teufliſch. Dazu trug noch bei, daß die mittelalterlichen Wahrheits- 
ſucher die verſchlungenſten Pfade und ſeltſamſten Hohlwege zur Erkenntnis zu wandeln liebten. 
Dieſem liegt wohl die Anſchauung zugrunde, daß Philoſophie nichts anderes iſt als ein 
hellſeheriſches Auffinden noch dunkler oder unzureichend erklärter Lebenskräfte und ⸗mächte. 

Gemiſcht aus genialem Erkennen und Unbildung, zügelloſer Wiſſensphantaſtik und plump- 
überheblicher Spielerei, erſcheint Philippus Aureolus Theophraſtus Para- 
celſus Bombaſtus von Hohenheim (der Name bezeichnet den Menſchen) an der Grenze 
zweier Zeitalter als der Luther der Natur, der Dürer der Naturwiffen- 
ſchaft. Der moderne Menſch ſpricht aus ſeinem bekannten Spruch: 

Eins andern Knecht fol niemant fein 
Der für fid bleiben kan allein! 

Der moderne Naturwiſſenſchaftler kündigt fid an in feiner „Schule 
des Lichtes der Natur“, im grundſätzlichen Fordern der „Erfahrung“, der ſcharfen Beobachtung, 
in ſeiner Erkenntnis: „der Menſch iſt gebildet nach der großen Welt“ und „was von der erden 
fompt, das würt dasſelbig wider“. Die Fefuitengelehrten nahmen ſehr bald den Kampf gegen 
den „Paracelſiſchen Dampf“ auf. Da ſie des Denkers nicht Herr werden konnten, ſchlugen 
ſie weidlich auf dem Menſchen herum, deſſen Leben wohl mit manchem Grund „epikuriſch“ 
genannt wurde. — 

Unfere Zeit des Entwicklungsgedankens ift reif für die künſtleriſche Behandlung dieſes 
merkwürdigen Problems: Paracelſus, in dem neben dem allgemeinen Märtyrertum des „Neuen“ 
eine uns ganz „modern“ anmutende tiefe Tragik ſteckt. Es ift die Aberhebung des fanatifch- 
einſeitig auf rein urſächliches Lebenserkennen gerichteten Naturdenkers. 

Karl Hepp geſtaltet in ſeiner Dichtung „Paracelſus“ (259 S., erſchienen 
im Modernen Verlagsbureau Kurt Wigand, Berlin-Leipzig 1907, Preis 4 M) in dem Lebens- 
gang eines ſagenhaften mittelalterlichen Arztes die Tragödie des modernen 
Naturforſchers und noch allgemeiner des modernen Menſchen, der ſein 
Lebensbild auf dem Grunde des Naturwiſſens baut. Dem Zweifel, dem „als ‚Schrift‘ gilt, 
was andere Dinge nennen“, folgt die gänzliche Abkehr vom Glauben der Kindheit und damit 
ein Kämpfen mit allen Mächten zwiſchen Himmel und Erde. Der Heiler der Leibesnot muß 
zu einem Heiland werden wollen. Der Menſch bedeutet ja eine unzerreißbare Einheit: ein 
ganzes Leben. 

Gewiſſe Berührungspunkte dieſer Geiſtesentwicklung mit Goetheſchem Geiſt, beſonders 
der Fauſtdichtung, haben ſich faſt von ſelbſt eingeſtellt. Paracelſus erfährt gleich Fauſt, daß 
dem Tüchtigen die Welt nicht ſtumm bleibt, daß bie Tat gilt. „Der Narr“, der „Erd- 
geift in ewigem Wechſel“, treibt ihn, ſich „zum Ganzen auf den rechten Stand zu bringen“. 


680 Paracelſus 


Derfelbe gute Geiſt führt den geiſtig Verkrüppelten, der vor Wiſſenshunger verzagen möchte, 
an die Quellen der Natur, nicht nur um ihn begreifen zu laſſen: 


Wunderbarer Form Gewalten! 
Alſo wirkt ihr Aberfluß, 

Daß, wen ſie im Banne halten, 
Der zum Oichter werden muß, 


ſondern um ihn zur Weſensergänzung zu drängen; denn „Der nur faßt des Lebens Wert, 
Der bedachtſam Geiſtes Hunger Und Gemüt zugleich ernährt“. 

Wie Byrons Manfred entführt Paracelſus, der ſchlichte Naturmenſch, allem „Gedänkel“: 
„Hier ſchauen nur, empfinden und genießen.“ In Fauftesndten und Manfredſtimmun- 
gen wird der Glidjuder ein Erkenntnisfinder. Alles Geiſtige (in tiefen Problemen 
wie: Antike —Chriſtentum, Rom — Wittenberg, Renaiſſance —- Reformation, Luther — Zwingli, 
Natur und Menſchheit, Philoſophie, Kunſt und Religion ...) gerät in eine gewiſſe Rampf- 
ſtellung zu ihm, dem Menſchen einer großen Übergangszeit, ſpielt ſeine tragiſche Rolle in fei- 
nem allerperſönlichſten Leben. Das „Schickſal“, dem er feine neue Menſchheitskultur entgegen- 
ſchaffen wollte, zerſchmettert ihm das Lebensglück. Aber wenn auch ſein einzelnes Wollen mit 
den Atomen feines Leibes zerſtiebt, fein großer Kulturgedanke dringt auf Sonnen- 
flügeln in die Zukunft: „Notwendig iſt der Sieg“! — Ein Erzieher zur geiſtigen 
Selbſtändigkeit, ſucht er zur Ausfaat einer neuen Welt die Menſchen. Aber er 
ſcheitert an ſeiner Zeit: im Renaiſſancemenſchen iſt „die Beſtie noch ſehr mobil“. 
Das große Ergebnis der Fauſtdichtung beſchließt auch den „Paracelſus“: tätige Nen f den- 
liebe muß aus neuen Erkenntniſſen ein neues Leben formen. 
genes „dritte Reich“ muß erarbeitet werden. Was Jefus von Nazareth verkündete, 
was in genialer Intuition aus Goethe, Schiller, Ibſen und Nietzſche dichtete, was ein Beet- 
boven in ſeiner „Neunten“ muſikaliſch ausſprach, das bildet auch den Kulturtraum des Hepp- 


ſchen Paracelſus: 
Wann wird ſich endlich auftun jenes Reich, 
Das Menſchenreich, drin Menſchenfriede wohnt, 
Darin kein Einzelner allmächtig thront, 
Nur das Geſetz, vor dem ein jeder gleich! 
Ein Neid, in dem die Tierheit überwunden, 
Weil endlich ſelber ſich der Menſch gefunden! 
Weil er die Menſchlichkeit zu höhrer Reine 
Geſteigert, feit er als das wahrhaft Seine 
Das Erdendaſein würdiger gefaßt 
Und formte, daß dem Starken wie dem Schwachen 
Nach rechtem Maß zufallen Luſt und Laſt, 
Das Leben allen lebenswert zu machen. — 


Karl Hepp gibt eine bedeutende Dichtung. Aus allen Szenen ihres großen und kleinen 
Lebens, beſonders aus den grandioſen Renaiffancebildern ſpricht ein großes dichteriſches Rön- 
nen. Allerdings liegt eine Cinfeitigteit in der Art, wie das innere Erleben 
abgetan wird. Wir wiſſen, daß „Schickſal“, „Natur“, „Notwendigkeit“ den Menſchen klein 
machen können, aber den „Zufall“, von dem etwas ſehr viel in dem Werk aufgezeigt wird, 
als „Herrn in allen Gaſſen“ anzuſehen, verbietet uns dasſelbe Gefühl, das einen Michelangelo 
den Paracelſiſchen Materialismus beantworten läßt: 


Nennt's wie ihr wollt, nennt es Natur, 
Dod) laßt mich glauben an die GSottesſpur! 


Es widerſpricht jeder geſetzmäßigen Lebenserſchließung, wenn das alte 
„Wunder“ im neuen ebenſo unberechenbaren „Zufall“ erſteht. Die alte Willkür ſoll doch eben 
zur „Freiheit des Geſetzes“ werden. Wie man die Einheit der Welt nennt, bleibt 


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Neue Bücher | 681 


ſchließlich gleichgültig. — Die Tragik des Paracelſus liegt auch in diefer [ehr 
beachtenswerten Sichtung: eben die Überheblichkeit (Hybris) des „Phyſikers“, der 
fih mit der Hoffnung trägt, alle Metaphyſik müſſe in die Phyſik einſchrumpfen; der 
nicht begreifen will oder kann, daß niemals die RNaturwiſſenſchaft allein 
die „Lebensrätſel“ zu löſen vermag. Die Wiſſenſchaft vom Innenleben 
(meinetwegen „Metaphyſik“) ift nimmer zu entbehren. Der Menſch lebt fein eige- 
nes inneres Geheimnis, ſein Selbſt. Friedrich Schönemann 


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Neue Bücher 


Adolf Schmitthenner: Das deutſche Herz. Roman. (Stuttgart, Deutſche 
Verlagsanſtalt, geh. 4 M, geb. 5 K.) 

Bei dieſem Buche lebte Schmitthenner nicht in ſeinem Elemente. Er hat ſich nicht ge- 
rade Gewalt antun müſſen, um es zu ſchreiben; aber er mußte Kräfte in fih aufrufen, die fid 
ihm nicht von ſelbſt einſtellten. Es ift das Ergebnis eines ſtarken Willens, einer hoch zu fddgen- 
den künſtleriſchen Abſicht, aber nicht das Werk künſtleriſcher Notwendigkeit. Die erſte Hälfte 
dieſes Satzes gibt den Grund dafür, daß man Schmitthenner keinen Vorwurf machen kann. 
Das Buch ift entſtanden auf die Anregung, die vor einigen Jahren vom „Verein für Maffen- 
verbreitung guter Volksliteratur“ gegeben worden iſt, als er ein Preisausſchreiben zur Erlangung 
eines volkstümlichen Romans gegen die blutrünſtige Kolportageliteratur erließ. Man hatte da- 
mals eingeſehen, daß das Volk eine kaum ausſetzende, ſtark bewegte Handlung verlangte, mit 
wilden Geſchehniſſen, ſeltſamen Vorfällen. Schuld und Sühne, Kraft, ſtarkes Woilen, lichte 
Tugend und dunkles Laſter durften nicht fehlen. Die Farben müſſen leuchtend daſtehen. — Es iſt 
unendlich ſchwer, ſelbſt wenn der Stoff ſich gefunden hat, aus einer ſolchen Miſchung ein Runft- 
werk zu machen. Es würde dazu ein Epiker mit Shakeſpearenatur gehören. Ich glaube an 
feine Möglichkeit, aber Schmitthenner war diefer Mann nicht. Viel näher lag ihm das Zdylliſche, 
das Herzliche, und wenn es ſchon große Taten galt: das Fröhliche und Erfreuende. So ſteckt 
der Verfaſſer bei dieſem Buche mehr im Epiſodiſchen, und es iſt eigentümlich, daß trotz der 
außerordentlichen Fülle von Handlung, trotz des ſeltſamen und merkwürdigen Geſchehens die 
rechte Spannung fic nicht einftellen will. Schmitthenner würde eben ſelber viel lieber „ver- 
weilen“; fein Dichtertum wird durch den Zwang des raſchen Vorwärtseilens eher geſtört, und 
ſo fehlt ihm ſelbſt die innere Ergötzung. 

Dennoch verdient das Buch geleſen zu werden. Es iſt gut geſchrieben, zeigt eine ganze 
Reihe gut geſehener Charaktere. Lebendig ſteigt vor uns auf das Neckartal zwiſchen Heilbronn 
und Heidelberg. Und gut geſchaut iſt die Zeit der erſten Jahrzehnte des ſchrecklichen ſiebzehnten 
Jahrhunderts. Aber wie kann uns Zenſen durch die Schilderungen jener Zeit den Atem ver- 
ſetzen! Allerdings ein „Volksſchriftſteller“ iſt er auf keiner Seite. Ich glaube überhaupt nicht, 
daß der hiſtoriſche Roman den Kampf gegen den Kolportageroman aufnehmen kann. 
Der Gegenwartsroman muß es tun. Die leidenſchaftliche Erfaſſung der Probleme, 
die das Volk von heute bewegen, gibt dann dem Oichter die Mittel, das wildeſte Geſchehen in 
eine Sphäre zu erheben, die künſtleriſch ift und darum auch läutern kann. Für die Vergangen- 
heit hat das Volk viel geringere Anteilnahme als man denkt. Da feſſelt dann eben nur das 


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C Bildende Kunst. 


Der Aufbau der Form in Natur und Kunſt 


Von 


Paul Seliger 


ie Bedeutung von Maß und Zahl ſowohl für die natur- philoſophiſche 
Erkenntnis des Weſens der Dinge wie für die Beſtimmung der Geſetze 
Z des künſtleriſchen Schaffens ift ſchon frühzeitig erkannt worden. Bereits 
die Chaldäer beſaßen eine ausgebildete Zahlentheorie, der ſie eine 
natur-philoſophiſche Deutung unterlegten; auf europäiſchem Boden tauchten der- 
artige Spekulationen zuerſt bei Pythagoras oder, wenn wir den halbmythiſchen 
Charakter der altehrwürdigen Philoſophenerſcheinung berückſichtigen, beſſer geſagt, 
in der pythagoreiſchen Schule auf; inwieweit fie dabei von orientaliſchen An- 
regungen abhängig war, entzieht fich vorderhand noch unſerer Kenntnis. Zeden- 
falls aber ift es kennzeichnend für die Fähigkeit der Griechen zu abſtrakter Gedanken- 
bildung ſowie für ihren metaphyſiſchen Tief- und Weitblick, daß die Pythagoreer nicht 
von den Maßverhältniſſen der ſichtbaren Welt ausgingen, was doch wohl das Nächſt-— 
liegende geweſen wäre, ſondern von den muſikharmoniſchen, in Zahlen ausdrüd- 
baren Tonverhältniſſen und daß ſie dieſe ſofort auf das All übertrugen, indem ſie 
den gegenſeitigen Abſtand und die Umſchwungszeiten der Himmelskörper nach 
eben dieſen muſikaliſchen Verhältniſſen beſtimmten und von der „Harmonie der 
Sphären“ ſprachen, die allerdings der Sage nach von allen Sterblichen allein 
Pythagoras vernommen hat. Erſt aus dieſen Vorausſetzungen heraus ſtellte die 
pythagoreiſche Schule die Lehre auf, alle Erſcheinungen feien nach Zahlen geord- 
net, alles ſei Zahl, d. h. alles beſtehe aus Zahlen, die Zahl ſei nicht nur die Form, 
durch welche die Zuſammenſetzung der Dinge beſtimmt werde, ſondern auch die 
Subſtanz und der Stoff, woraus ſie beſtehen. Dabei aber heißt es nicht nur: alles 
ift Zahl, ſondern ſchon von Anfang an: alles ift Harmonie, und fo wird alles mufi- 
kaliſch gefaßt: „der Pythagoreismus iſt Weltauffaſſung aus dem Geiſte der Muſik“, 
wie ſich Joel in ſeinem Buche „Oer Urſprung der Naturphiloſophie aus dem Geiſte 
der Myſtik“ (Eugen Diederichs, Jena 1906) ausdrückt, in dem er die geiſtvolle Hypo- 
theſe entwickelt, das myſtiſche Allgefühl ſei der Keim wie der geſamten antiken 
Naturphiloſophie, ſo auch der pythagoreiſchen. Das Problem der Harmonie und 


Seliger: Der Aufbau der Form in Natur und Kunſt 683 


Symmetrie blieb das ganze Altertum hindurch lebendig. Bei Platon Steht das 
formale Intereſſe an Maß und Harmonie auf allen Gebieten ſeiner Philoſophie 
im Vordergrunde, und auch das Kunſtſchöne beruhte für ihn und Ariſtoteles wie 
faft für das geſamte Altertum auf dem richtigen Maß, auf Ebenmaß und Ber- 
hältnismäßigkeit; häßlich iſt, was keinen Teil hat an der Symmetrie. Der Sinn 
für Rhythmus und Harmonie iſt dem Menſchen angeboren, andere lebende Weſen 
haben keine Empfindung dafür. Und als dann in der Renaiſſance die griechiſche 
Philoſophie ihre Wiederauferſtehung feierte, war es vor allem jene Zahlenhar- 
monie, die von den Naturphiloſophen wieder aufgenommen wurde, wie z. B. von 
Pico von Mirandola, Cardanus und vor allem von Agrippa von Nettesheim in 
feiner „Philosophia ocoulta“. 

Auch die bildende Kunſt hatte ſchon in ihren Anfängen eine Art von „Kanon“ 
anerkannt, d. h. ein Maßſyſtem von ſolcher Beſchaffenheit, daß man aus der Größe 
irgend eines der Teile auf die Größe des Ganzen und aus der Größe des Ganzen 
auf die Größe auch des kleinſten Teiles ſchließen kann; bereits die ägyptiſche Kunſt 
beſaß ein folches Syſtem, das dann, wie Diodoros berichtet, griechiſche Künſtler nach 
Samos und Chios übertrugen; die attiſche Kunſt vor Pheidias hatte das ihre, und 
wenn ſpeziell der berühmte Doryphoros des Polykleitos als „Kanon“, d. h. als 
Muſterfigur bezeichnet wird, in welcher der Meiſter feine Kunſtregeln zur Anſchauung 
gebracht habe, fo ift es nach Collignon gewiß unrichtig, zu behaupten, daß der argei- 
iſche Bildhauer als erſter ein derartiges Syſtem von Verhältniſſen aufgeſtellt habe, 
ſondern die Annahme hat febr viel für fic, daß der Kanon des Polykleitos gleichſam 
die Reſultante des in den Werkſtätten von Argos ſeit langer Zeit herrſchenden 
Syſtems geweſen iſt. Das Verdienſt des großen Bildhauers beſteht dann darin, 
daß er jenes Syſtem in zahlenmäßig beſtimmte Formeln gebracht und ſeine Geſetze 
in einer Abhandlung entwickelt hat, wobei der Einfluß des Pythagoreismus, der 
überhaupt in den doriſchen Städten lebhaften Anklang gefunden hatte, auf Poly- 
kleitos unverkennbar ift. „Wenn wir uns von der großen Tragweite folder For- 
ſchungen eine richtige Vorſtellung machen wollen,“ fügt Collignon hinzu, „dann 
müſſen wir daran denken, mit welcher Strenge und Genauigkeit die Meifter der 
Renaiffance, ein Alberti oder Lionardo da Vinci, ſich die Löſung dieſer heiklen 
äſthetiſchen Probleme angelegen ſein ließen, indem ſie ihrerſeits für die Verhält— 
niſſe des menſchlichen Körpers die Geſetze der vollendeten Schönheit feſtzuſtellen 
ſuchten.“ Von deutſchen Künſtlern unterwarfen Dürer und im neunzehnten Jabr- 
hundert Schadow die Proportionsverhältniſſe des menſchlichen Körpers einem 
ſorgfältigen Studium und ſtellten Regeln für den Gebrauch des bildenden Künſtlers 
auf. Seitdem iſt der Gegenſtand von zahlreichen Forſchern behandelt worden, ſo 
von Zeiſing, Carus, Brücke, Z. Lange, O. Geyer und anderen. — Eine beſondere 
Beachtung verdient unter all dieſen Verſuchen der von Zeiſing inſofern, als dieſer 
es unternimmt, das nach ihm der Bildung der Menſchengeſtalt zugrunde liegende 
Prinzip der Teilung nach dem goldenen Schnitte [— Oer goldene Schnitt teilt eine 
Strecke in der Art, daß der kleinere Teil ſich zum größeren verhält wie dieſer zur 
ganzen Strecke, fo daß die Proportion entſteht: a: b = b: (a -+ b). Das Größen- 
verhältnis der beiden Teilſtrecken iſt in ganzen Zahlen nur annäherungsweiſe zu 


684 


Ein Monumentalbau 


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Seliger: Der Aufbau der Form in Natur und Runft 


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Kornrade 


Seliger: Der Aufbau der Form in Natur und Nunſt 
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686 Seliger: Ber Aufbau der Form in Natur und Runft 


beſtimmen, es ift 3:5, 5:8, 8:13, 13:21 uſw. Dieſe Zahlen laffen fih in eine 
Reihe ordnen, in der jedes folgende Glied durch Addition der beiden vorher- 
gehenden Glieder gewonnen wird. —] auf die geſamte Natur auszudehnen: auf 
den Bau der Tiere und Pflanzen, auf die Formen der Kriſtalle, auf die chemiſchen 
Verbindungen, auf die Akuſtik und die harmoniſche Verbindung der Töne, auf die 
bildenden Künſte, auf die Erſcheinungen im Gebiete der Poeſie, Sprache, Ethik, 
Staatskunde, Religion uſw. 

Weit umfaſſender als Zeiſing oder irgendein anderer Forſcher hat ſich in 
jüngſter Zeit Kk. Wyneken mit dem mathematiſch Beſtimmbaren an der Form 
der Dinge beſchäftigt in ſeinem großen, auf vier Bände berechneten Werke: „Oer 
Aufbau der Form beim natürlichen Werden und tinft- 
leriſchen Schaffen“, von dem bisher die erſten beiden Bände erſchienen 
ſind (Freiburg [Baden], J Bielefelds Verlag), und zwar der erſte 
mit dem Untertitel: „Ein neues morphologiſch-rhythmiſches 
Grundgeſetz“ (1903), der zweite mit dem Untertitel: Der Kanon der 
ſchönen Form. Anleitung zur Herſtellung der rhytbmi⸗- 
ſchen Grundlage für jedes Kunſtwerk in jeder Stilart. 
Ein Handbuch für Künſtler, Techniker und Gewerbetret 
bende mit Atlas. 1907. Der dritte Teil foll den Titel führen: „Die Veftand- 
teile, Zuſammenhänge und Eigentümlichkeiten der beſtehenden Zahlenharmonie. 
Eine Wiederbelebung der antiken Zahlenharmonie“, der vierte den Titel: „Der 
Aufbau der Naturformen, Anleitung zur Analyſe der Naturformen und zum Ver- 
ſtändniſſe der Naturkonſtanten“. Preis des erſten Teils geh. 6 M, in Leinw. geb. 
7 M, des zweiten Teils geh. 15 M, in Leinw. geb. 16.50 M, Atlas 10 M, Text 
und Atlas zuſammen geh. 24 M, in Leinw. geb. 25 M. | 

Wyneken ftellt ſich die umfaſſende Aufgabe, die ganze verwirrende Mannig- 
faltigkeit der Formen, die uns bei der Betrachtung der Gebilde der Natur und 
der Menſchenhand entgegentritt, insbeſondere die Formen mit äſthetiſch befrie- 
digenden Verhältniſſen auf eine febr beſchränkte Anzahl von Urformen zurückzu- 
führen und für dieſe ganz beſtimmte Eigenſchaften nachzuweiſen. Die Unterſuchung 
erſtreckt ſich nicht nur auf Formen, die im Raume für den Geſichtsſinn oder in der 
Zeit und dann für den Gehörſinn zur Darſtellung gelangen, fondem auch auf 
Formen anderer Art, wie die Atomgewichte, die Verbindungen der chemiſchen 
Elemente, die räumlichen Abſtände und Umlaufszeiten der einzelnen Planeten 
unſeres Sonnenſyſtems uſw. Die Anterſuchungen des Verfaſſers erſtrecken ſich 
aber noch weiter: er wendet das von ihm aufgeſtellte „morphologiſch- rhythmiſche 
Grundgeſetz“, das fih auf die ſtetige geometriſche und arithmetiſche Proportion 
ſtützt, auch auf das Wirken der Zentralkräfte (Gravitation, Elektrizität, Magnetis- 
mus, Licht) an, indem er darauf hinweiſt, daß deren Intenſitäten dem Quadrate 
der Entfernung umgekehrt proportional ſind und daß zwiſchen den drei Elementen, 
die die Intenſität beſtimmen, das Verhältnis von Proportionalen herrſcht. Ver- 
möge des Geſetzes von der Erhaltung der Kraft gewinnt dieſe Beziehung zwiſchen 
den Kräften und dem Geſetze des geometriſchen Mittels noch eine weitere Aus- 
dehnung; fie erſtreckt fih mittelbar nun auch auf jede mechaniſche und chemiſche 


Seliger: Oer Aufbau der Form in Natur und Runft 687 


Energie, auf Schall und Wärme, da Licht und Elektrizität mittelbar und un- 
mittelbar in jede der vorgenannten Naturkräfte verwandelt werden können. Dieſe 
enge Beziehung den verſchiedenartigſten Gebieten angehöriger Erſcheinungen, 
zu denen Wyneken auch die obenerwähnte Übereinſtimmung der Blattſtellungs- 
zahlen mit der Reihe der fortlaufenden Annäherungswerte der Teile einer nach 
dem goldenen Schnitt geteilten Strecke rechnet, führen zu der Schlußfolgerung, 
daß wir es hier mit jenen innerlich zuſammenhängenden Umſtänden und Tatſachen 
zu tun haben, die den verſchiedenartigſten Erſcheinungen jenen Stempel inner- 
licher Einheitlichkeit aufdrücken, der für die Formen der Natur, aber auch für die 
der Kunſt in jo außerordentlichem Maße bezeichnend ift. Dieſe inneren Zuſammen⸗ 
hänge kann man als Harmonie bezeichnen, und vielleicht find es dieſe Erſcheinungen 
der Harmonie, die mehr als etwas anderes dazu beitragen werden, ſo manches 
Ratfelhafte in Natur und Kunſt befriedigend zu erklären. So erhofft Wyneken von 
der Wiederbelebung der Zahlenharmonik, wie fie durch das ganze Altertum und 
Mittelalter hindurch eine ſo bedeutſame Rolle geſpielt hat, eine Neubelebung der 
mathematiſchen und naturwiſſenſchaftlichen Forſchung, eingedenk des Goetheſchen 
Wortes: „Obwohl nichts durch Zahlen geſchieht, geſchieht doch alles in Zahlen.“ 
Die Naturwiſſenſchaft befindet ſich gegenwärtig in einer Kriſis. Kleinmut und 
Mißtrauen in die Grundlagen der eigenen Forſchung ſind weithin verbreitet, und 
man gewahrt mit Schrecken, daß fo manche Rätjel weder durch die Frage nach 
den wirkenden Kräften noch durch Erforſchung des Kauſalzuſammenhanges gelöſt 
werden können, während andererſeits auch das Nützlichkeitsprinzip im Stiche läßt. 
Demgegenüber rät Wyneken, die Naturforſcher ſollten einmal davon ablaſſen, 
alle Arbeit allein auf das Energetiſche und den Kauſalzuſammenhang des Natur- 
laufs zu verwenden; und ſtatt deſſen ſollten ſie einmal nach dem „Quantitativen 
der Dinge fragen“ und einen Teil der verfügbaren Kraft dem großen Probleme 
der Form widmen. Deſſen Bedeutung für die Biologie z. B. erhellt ſchon 
daraus, daß die Form ſtets zerfällt, wo das Leben erliſcht, und daß überhaupt das 
Leben unweigerlich an die Form geknüpft ift. — So eröffnet denn Wynekens Werk 
über ſeinen ſpeziellen Inhalt hinaus höchſt feſſelnde und zukunftsreiche Ausblicke 
auf die letzten Fragen menſchlichen Forſchens und Strebens, zumal es auch an 
Ethik und Religion nicht achtlos vorübergehen will, und ſtellt ſich damit von ſelbſt 
in die Reihe der Werke ein, die fih bemühen, den Grund zu einer einheitlichen Welt- 
anſchauung zu legen und ſo zugleich den tiefſten Bedürfniſſen der Zeit und des 
Menſchengeiſtes überhaupt entgegenkommen. — 


Der Grundgedanke, von dem Wyneken bei der Betrachtung der Form aus- 
geht, iſt von überraſchender Einfachheit. Auf der mit Erlaubnis des Verlegers hier 
in verkleinerter Nachbildung wiedergegebenen Schlußtafel des erſten Bandes ſind 
alle in Betracht kommenden weſentlichen Elemente in anſchaulicher Weiſe dar- 
geſtellt. Danach zerfällt jede Form, fei es Naturform, fei es äſthetiſch gefällig 
wirkende Kunſtform in fünf, bzw. ſechs gleiche Teile, deren Teilpunkte mit 
den augenfälligſten Gliederungspunkten zuſammenfallen. Dies wird dargeſtellt 
an der Menſchengeſtalt, den Abſtänden der Planeten von der Sonne, dem Blüten- 


688 Seliger: Der Aufbau der Form in Natur und Runft 


diagramm der Kornrade (Agrostemma Githago), dem Blattſtellungszyklus in / (lk, 
und ¼-Stellung, der Taktgliederung des erſten Satzes von Beethovens CMoll- 
Symphonie, einem Bucheinbande, der menſchlichen in ſechs Tage eingeteilten 
Arbeitswoche und der Gliederung des Haupt- oder Durakkordes nach der Anzahl 
der in einer Sekunde beim Anſchlagen der betreffenden Töne erfolgenden Schall- 
ſchwingungen.— Die Zuſammenſtellung wirkt an fic fo überraſchend und über- 
zeugend, daß einige wenige Worte zur näheren Erläuterung hinreichen werden. 

Die zur Sechsteilung ergänzte Fünfteilung, die bei Wyneken die Bezeich- 
nung „Kardinalteilung“ führt (die Zahlen 5 und 6 heißen bei ihm „Kardinalzahlen“ 
oder genauer „rhythmiſche Kardinalzahlen“), findet fih bei der menſchlichen Ge- 
ſtalt dann, wenn man deren größte Ausdehnung bei erhobenem Arm ins Auge 
faßt; dann reicht nämlich der Ellenbogen bis zur Scheitelhöhe, und die Hand ragt 
um ein Fünftel über dieſe hinaus. Bei der weiteren Gliederung der urſprünglichen 
fünf Teile tritt dann die Sechsteilung entſchieden in den Vordergrund, ſo daß 
die ganze Geſtalt in 216 (= 6°) Teile zerlegt werden kann, von denen 180 auf die 
Scheitelhöhe entfallen. 

Als größte Ausdehnung des Planetenſyſtems betrachtet Wyneken die Cnt- 
fernung zwiſchen Neptun und Uranus, wenn dieſe beiden von der Sonne entfern- 
teſten Planeten ſich auf entgegengeſetzten Seiten des Zentralkörpers befinden. 
Dieſe Ausdehnung wird durch die Saturnweite in fünf gleiche Teile zerlegt, wobei 
die Teilpunkte mit der Sonnenmitte und irgendwelchen möglichen Stellungen 
der Planeten Uranus und Saturn zuſammenfallen, während der Jupiter die Mitte 
des Ganzen einnimmt. Faßt man jedoch die Neptunbahn als äußerſte Begrenzung 
des Planetenſyſtems, fo enthält diefe ftatt fünf Saturnweiten deren feds; in der 
Mitte ſteht dann natürlich die Sonne. 

In der Pflanzenblüte ſind die einzelnen Teile am häufigſten in vier oder fünf 
Kreiſen angeordnet, und auch die Zahl der innerhalb eines Kreiſes auftretenden 
Glieder beträgt in den meiſten Fällen 3, 4 oder 5. Die Anordnung der Blätter 
am Stengel oder Zweig wird nach dem 1834 von Schimper entdeckten und ſpäter 
von Braun weiter ausgebauten „Blattſtellungsgeſetze“ beſtimmt. Es wird in 
Bruchzahlen ausgedrückt, deren Zähler die Anzahl der Umwindungen um den 
Stengel bezeichnet, die man beſchreiben muß, um zu dem nächſten ſenkrecht über 
dem Anfangsblatte ſtehenden Blatte zu gelangen, und deren Nenner die Anzahl 
der berührten Blätter angibt. Am häufigſten kommen in der Natur die Verhält- 
niszahlen 1/2, 1/s, e, /, Shis, Bb, fsa uſw. vor; diefe Reihe wird von den Bota- 
nikern Hauptreihe genannt und ſtimmt in auffallender Weiſe mit den Verhältnis- 
zahlen des goldenen Schnittes überein. Bei / -Stellung ſteht ſenkrecht über dem 
erſten Blatte das A, 5., 7. uſw. Blatt; bei ½-Stellung das 4., 7., 10. uſw., bei 
/6 Stellung das 6., 11., 16. ufw. Am häufigſten kommen bei den höheren Pflan- 
zen die Ys- und ¼ Stellung vor. — Die übrigen auf der Tafel dargeſtellten Ver- 
hältniſſe find an fidh verſtändlich. 

Dieſe Gleichteilung verlangt nun aber zu ihrer Ergänzung eine Teilung 
nach den ſtetigen Proportionen, die nach Wyneken den eigentlichen Schlüſſel zur 
Erkenntnis der die Form beherrſchenden Geſetze bilden. Wird eine unſerem Sinne 


Seliger: Der Aufbau der Form in Natur und Runft 689 


wahrnehmbare Zeit- oder Raumerfüllung nach irgend einer beſtimmt erkennbaren 
Ordnung in kleine Teile zerlegt, ſo nennt Wyneken dieſe Ordnung, wenn ſie auf 
einer ſtetigen geometriſchen Proportion (a: b = b: 0) beruht, einen 
Rhythmus, wenn ſie auf einer ſtetigen arithmetiſchen Proportion 
(a —b = b—c) beruht, ein Metrum und ftellt dann folgende Sätze auf: 
„Bei den höheren Natur- und Kunſtformen kann man zu jedem Gliederungs- 
punkte mindeſtens zwei andere Gliederungspunkte derſelben Form angeben, die 
mit jenem einen Rhythmus bilden“ („Geſetz des geometriſchen Mittels“) und: 
„Bei den höheren Natur- und Kunſtformen kann man zu jedem Gliederungs- 
punkte mindeſtens zwei andere derſelben Form finden, die mit jenem ein Metrum 
bilden“ („Geſetz des arithmetiſchen Mittels“). Das rhythmiſche Grundgeſetz der 
Natur- und Kunſtformen wird dargeſtellt, ſobald fich die obigen beiden Geſetze ver- 
einigt und einander durchdringend ausprägen, wie dies in der Regel dort geſchieht, 
wo das Geſetz des geometriſchen Mittels auftritt. — Da die geometriſche Pro- 
portion ferner als Grundform der übrigen Proportionen angeſehen werden 
kann, ſo ſchließt die ſtetige geometriſche Proportion auch die Teilung nach 
dem goldenen Schnitte mit ein. Das Wort Geſetz ſoll hier nichts weiter als eine 
allgemeine Zuſammenfaſſung von Tatſachen, die durch Beobachtung ermittelt ſind, 
bezeichnen. Auch die Keplerſchen Geſetze ſind oum grano salis zu nehmen, ohne 
daß ſie dadurch im mindeſten an Wert verloren hätten. Die Exaktheit hat bei jedem 
Nachweis mathematiſcher Größen in Naturformen ſihre natürlichen Grenzen, und 
wer dabei eine abſolute Genauigkeit fordert, verlangt etwas, was unmöglich iſt 
und was nicht allein eine Rhythmik, ſondern auch die Chemie, Phyſik und Aſtro- 
nomie unmöglich machen würde. Schon Kant hat es ausgeſprochen, daß von abfo- 
luter Genauigkeit der Beſtimmungen in der Natur nicht die Rede ſein könne, „weil 
die Vielheit der Umſtände, die an jeder Naturbeſchaffenheit Anteil haben, eine ab- 
gemeſſene Regelmäßigkeit nicht geſtattet“. Das Grundgeſetz hat vor allem als 
leitenden Faden durch das Labyrinth der Tatſachen hindurch zu einem jeglicher 
Nachprüfung fähigen künſtleriſchen Organiſationsprinzip zu dienen, das ohne jenes 
Geſetz nicht verſtändlich wäre und von dem angenommen werden darf, daß es zu 
den natürlichen Geſtaltungsprinzipien in einem ähnlichen Verhältniſſe ſteht wie 
die Prinzipien der künſtlichen Tierzüchtung zu den natürlichen Entwicklungsgeſetzen. 
Auf jeden Fall iſt das rhythmiſche Grundgeſetz genügend allgemein und weit, um 
der bunten Mannigfaltigkeit der Formenwelt zu entſprechen und den Vorwurf 
des Schablonenhaften fernzuhalten. Auch iſt es der weiteſten Ausdehnung fähig, 
denn es umſpannt außer den Natur- und Kunſtformen die Kulturformen überhaupt; 
der Begriff Naturformen kann noch mit auf die Naturkräfte und Naturkonſtanten 
ausgedehnt werden, ſchließt andererſeits aber auch noch Pſychologiſches, ja Ethiſches 
mit ein. — 

Sobald erkannt iſt, daß die Formen auf einem mathematiſchen Geſetz beruhen, 
ſo iſt ſofort klar, daß der Ausprägung eines ſolchen Geſetzes nicht alle Zahlen gleich 
günſtig fein werden, daß es vielmehr Größen geben muß, denen dabei eine bevor- 
zugte Rolle zufällt. Solche Zahlen nennt Wyneken rhythmiſch bevorzugte Zahlen, 
und rechnet hierzu unter anderen die Zahlen 19, 10, , außerdem die E 

Der Zürmer XI, 11 


690 Seliger: Der Aufbau der Form in Natur und Kunft 


von der Form 4m + 1, alfo 5, 13, 17, 29, 37, ferner die „Hauptmaßeinheiten“ 
63 und 240, die „Großkomponente“ 45 uſw. Alle dieje Zahlenwerte werden durch 
umfangreiche verwickelte Rechnungsoperationen gewonnen, auf die hier nicht näher 
eingegangen werden kann. 

Der Bauplan der Natur- und Kunſtformen, wie er im erſten Teile des Werkes 
dargeſtellt worden iſt, muß als der Brennpunkt angeſehen werden oder als ein 
Rahmen, innerhalb deffen fic alle Geſetzlichkeiten vereinigen, um das Organija- 
tionspringip oder das morphologiſch-rhythmiſche Grundgeſetz in vollkommenſter 
Weiſe auszuprägen und ſolcherweiſe bei aller Gleichteiligkeit zugleich einen Höchſt⸗ 
betrag an Proportionalität, Teilbarkeit und anderen mathematiſch- rhythmiſchen 
Beziehungen jeder Art zuſtande und zur Geltung zu bringen. 

Sede wohlgebildete und wohlgefällige Form, auch eine ſolche, die auf den 
erſten Blick in der Hauptgliederung weder vier noch fünf noch ſechs gleiche Teile zeigt, 
kann dennoch auf eine dieſer drei Hauptteilungen zurückgeführt werden. Der Bau- 
plan beruht auf der Kardinalzahl 5 und ihren beiden Nachbarn in der Zahlenreihe 
4 und 6, wobei die abſolute Größe der Einheit noch frei gewählt werden kann. 

Die rhythmiſche Grundlage für eine künſtleriſche Kompoſition wird durch 
rhythmiſche Teilungen hergeſtellt. Dieſer bedarf es, ſobald das mathemaltiſch 
Beſtimmbare an der Form anſchaulich dargeſtellt werden ſoll, ſei es, um gegebene 
Formen zu zergliedern, ſei es, um Formen herzuſtellen und aufzubauen, oder ſei 
es endlich, um überhaupt nur mit rhythmiſchen Beftimmungsftüden arbeiten und 
über ſie verfügen zu können. Eine ſolche Teilung kommt dadurch zuſtande, daß 
auf einer geraden Linie gewiſſe als rhythmiſche Beſtimmungsſtücke dienende Strecken 
abgetragen und durch Teilpunkte kenntlich gemacht werden. Bei den Zeitformen, 
inſofern fie nur eine Dimenſion haben, laffen fih die Zeitſtrecken unmittelbar als 
lineare Raumſtrecken darſtellen, fo daß eine einzige rhythmiſche Teilung eine Beit- 
form völlig erſchöpfen kann. Die zweidimenſionale Raumform, die Flächenform, 
macht ſchon mindeſtens zwei verſchiedene Teilungen nötig: eine für die Vertikal- 
gliederung, die andere für die Horizontalgliederung. Auch bei den dreidimenfio- 
nalen Formen ſind mindeſtens ſo viele verſchiedene Teilungen erforderlich, wie 
Dimenſionen gegeben find, alfo drei. Wie aber die Darftellung der körperlichen 
Form nach den Regeln der Projektionslehre im allgemeinen drei Anſichten ver- 
langt, jede Anſicht aber als Flächenform zwei rhythmiſche Teilungen, ſo werden 
bei körperlichen Formen bis zu ſechs Teilungen wünſchenswert ſein. 

Die Berechtigung, als rhythmiſche Teilung bezeichnet zu werden, wird nun 
dadurch gegeben, daß in den Abmeſſungen und Maßzahlen der Teilung das morpho- 
logiſchrhythmiſche Grundgeſetz oder, was dasſelbe ift, das rhythmiſche Organi- 
ſationsprinzip mit dem Grundſatz der Gleichheit und Proportionalität zum Aus- 
druck kommt. Die Herbeiziehung des rechten Winkels (Vertikalismus) geſchieht 
auf beſondere Weiſe durch die metriſchen Netze. 

Als Urgrund der Form bezeichnet Wyneken ſodann eine Teilung von 20, 24 
und 32 gleichen Teilen, von denen 20 auf den Hauptkörper gehen, weil aus ihr durch 
verſchiedenartige Verwendung des Ganzen oder der Teile und der zwiſchen dieſen 
beſtehenden geometriſchen Verhältniſſe die rhythmiſche Grundlage einer jeden uit- 


Seliger: Der Aufbau der Form in Natur und Runft 691 


mittelbar verſtändlichen Form gewonnen werden könne und ſie ſich bei höchſter 
Wandlungs- und Anpaſſungsfähigkeit als allumfaſſend und einzig in ihrer 
Art erweiſe. Die näheren Ausführungen des Verfaſſers über dieſen Gegenſtand 
müſſen wir an dieſer Stelle übergehen, da fie faſt nur aus Rechnungsoperationen 
beſtehen, deren Prüfung dem Fachmann überlaſſen bleiben muß. Doch gewinnt 
auch ſchon der Laie aus ihnen den Eindruck, daß es ſich hier um ſehr gewiſſenhafte 
und ſcharfſinnige Unterſuchungen handelt, die um fo wichtiger find, als hier zum 
erſtenmale die Grundlagen der Aſthetik und des Kunſtſchaffens einer ſtreng mathe- 
matiſchen Betrachtung unterzogen werden. 

Ganz im Einklange damit ſteht es auch, wenn Wyneken auf das Hilfsmittel 
der metriſchen Netze ſo außerordentlichen Wert legt, wie er es tut. Das Prinzip 
des Vertikalismus, der Gegenſatz des Wagerechten und Lotrechten, der ſich ver- 
möge der Richtung der Schwere und der des Horizonts bei eingeſchloſſenem rechten 
Winkel geltend macht, beherrſcht alle Formen im Bereiche des Sichtbaren, mögen 
fie ihren Urſprung dem natürlichen Werden oder dem künſtleriſchen Schaffen ver- 
danken. Auch die für die Formengliederung maßgebende Sinnfälligkeit der For- 
men, insbeſondere auch die Gruppierung um Haupt- und Nebenachſen, ſowie die 
Erſcheinung der Symmetrie als unlösbar verbunden mit einer Gegenüberſtellung 
der wagerechten und lotrechten Gliederung. 

Für Wyneken kommt das quadratiſche Netz nur inſofern in Betracht, als es 
für die bildneriſche Kompoſition unentbehrlich iſt, um ſowohl das Prinzip der gleichen 
und proportionalen Teile als auch das des Vertikalismus in dem entſtehenden Kunſt- 
werke zur Geltung zu bringen. Der Gebrauch dieſes Kunſtmittels iſt uralt. Schon 
die alten Agypter bedienten ſich ſeiner, um eine geometriſche Unterlage für ihre 
Reliefs zu erhalten. Auch Bramante hat ſich, wie aus den von Geymüller in ſeinem 
Werke „Die urſprünglichen Entwürfe für St. Peter in Rom von Bramante, Raf- 
fael uſw.“ photographiſch wiedergegebenen Grundriſſen, von denen der von Wyneken 
in ſeinen Atlas aufgenommene hier in verkleinerter Wiedergabe beigefügt iſt, der 
Quadratnetze bei ſeinen Entwürfen bedient. Ebenſo erſichtlich iſt es, daß die be- 
rühmte, jetzt eingeſtürzte Loggetta von Jacopo Sanſovino am Markusturm zu 
Venedig auf Grund eines Quadratnetzes konſtruiert iſt (ſ. die Abbildung). Die 
Geſamtbreite wird durch die Mitten der acht Säulen und durch die Mittellinien 
der drei Portale in zwölf gleiche Teile zerlegt und von dieſen Teilen gehen ſechs 
auf die Höhe. Die Gliederung hat fo einfache Grundlagen, daß man mit den Biel- 
fachen von 1/24 der Geſamtbreite, alfo der Hälfte der angenommenen Quadratſeite, 
namentlich mit 12, Yıs und Ys die weſentlichen Abmeſſungen der herrlichen Kom- 
poſition herſtellen kann. 

Auch bei Raffaels „Schule von Athen“ kann es keinem Zweifel unterliegen, 
daß das auf der beigegebenen Abbildung wiedergegebene Quadratnetz für den Auf- 
bau maßgebend geweſen iſt. An manchen Stellen erſcheint die halbe Quadratſeite 
halbiert, an anderen die ganze gedrittelt. Die Lage der wagerechten Linie, die 
über die Köpfe der Figuren des Mittelgrundes hinwegläuft, bezeichnet eine ebenſo 
augenfällige Partie des Bildes wie die mittlere lotrechte, die die beiden Haupt- 
figuren voneinander trennt. Dieſe Drittel und Hälften der Quadratſeite treten 


692 Seliger: Der Aufbau der Form in Natur und Nunſt 


auch anderweitig in der Kompoſition auf, fo unmittelbar unter den beiden Mar- 
morfiguren des Vordergrundes. Unter den lotrechten Hauptlinien des Netzes iſt 
kaum eine, die nicht eine Figurenmitte oder Ähnliches bezeichnet, oder ſich in einem 
erheblichen Teile ihres Verlaufes mit einer der lotrechten Kanten der Architektur 
in dem Bilde deckt. Eine andere Analyſe des Gemäldes gibt gohannes Sörenfen 
im vierten Teile der „Kunſtlehre in fünf Teilen“ von Gerhard Gietmann, S. J. und 
Johannes Sörenſen S. J. („Malerei, Bildnerei und ſchmückende Kunſt“, Freiburg 
im Breisgau 1901, Herderſche Verlagsbuchhandlung, S. 86), die aber auch das 
konſtruktive Verfahren des Meiſters im Sinne der Ausführungen Wynekens in das 
hellſte Licht rückt. Nach ihm beträgt die untere volle Breite des Bildes 189 
Teile, die Höhe bis zum oberſten Punkte des Halbkreiſes iſt gleich 135, dieſe Zahlen 
verhalten ſich zueinander wie 5:7 [das kleinſte gemeinſchaftliche Maß für beide 
= 27]. Durch Subtraktion der Breite von der Höhe ergibt fih nun 54 [= 2. N]: 
wir haben alſo wieder das gleiche Einheitsmaß. Andererſeits iſt aber zugleich durch 
diefe Operation der goldene Schnitt der Höhe gegeben, 54: 81: 135 = 2:3:5. 
Das Einheitsmaß 27 fand ferner ſeine Verwendung für die menſchliche Geſtalt 
und zwar, wie fie fidh auf dem Hauptplane des Bildes [Platonfigur z. B.] zeigt. 
Die ſchöne Teilung der Höhe 54: 81 benutzte er, indem er den perſpektiviſchen 
Augenpunkt, auf den die Architekturlinien ſtreng hinweiſen, gerade auf den Tei- 
lungspunkt 54 verlegte. Um weiter das ungünſtige, wenig harmoniſche Verhält- 
nis der ganzen Höhe zur Breite, 5: 7, weniger fühlbar zu machen, markierte er 
in einfacher, aber ſprechendſter Weiſe jene Stelle in der Höhenlinie, an der der 
Teilpunkt 116 eintrifft, durch die ſcharf hervortretende Linie des Gewölbes, ſo daß 
wir folglich wiederum in den Zahlen 116: 189 oder 15: 21 zwei Gliedern des 
klaſſiſchen Verhältniſſes des goldenen Schnittes begegnen. Auch bei den Gemälden 
Böcklins, Menzels und Achenbachs zeigt ſich die Einwirkung eines der Kompoſition 
zugrunde liegenden Quadratnetzes; was Menzel betrifft, ſo teilt Wyneken mit, daß 
auf der Ausſtellung ſeiner Werke ein unvollendetes, zum Teil noch die bloße Lein- 
wand zeigendes Bild mit ausgeſtellt worden ift, auf dem die rechtwinkligen Ron- 
ſtruktionslinien noch fichtbar waren. Auch Lenbach hat fih noch kurz vor feinem 
Tode öffentlich für den Gebrauch von Kunſtmitteln ausgeſprochen. 

Wir haben im vorſtehenden die Darlegungen Wynekens nur in den allge- 
meinſten Grundzügen darlegen können. Wegen der Einzelheiten muß auf das Werk 
ſelbſt verwieſen werden, deſſen eingehendes Studium jedem, der ſich mit Fragen 
der theoretiſchen oder praktiſchen Aſthetik beſchäftigt, nicht dringend genug emp- 
fohlen werden kann. Selbſt derjenige, der ſich mit den Grundanſchauungen des 
Verfaſſers nicht einverſtanden zu erklären vermag, wird doch die Großzügigkeit der 
Gedankenkonſtruktion feines Werkes und die Weite des Blickes anerkennen müſſen, 
mit dem Wyneken beſtrebt iſt, ſämtliche Erſcheinungen der Natur und Kunſt in 
einen univerſellen Zuſammenhang zu bringen, und nach allem zu urteilen, ſcheint 
er dazu berufen zu ſein, der Natur- und Kunſtwiſſenſchaft neue Wege zu bahnen. 

Sörenſen macht ferner darauf aufmerkſam, daß in der links im Vordergrunde 
befindlichen Gruppe der Mathematiker und Muſiker ſich ein Jüngling mit einer 
Tafel befindet, auf der in griechiſcher Sprache die wichtigſten Tonintervalle auf- 


Carftens und Thorwaldſen 693 


geſchrieben ſſind, die Sekunde, Quarte, Quinte und Oktave, die hier im Bilde 
auch als Zahlenkanon der Welt plaſtiſcher Schönheit hingeſtellt werden. Die Reihe 
2:3: 5 entſpricht den Verhältniſſen der Quinte und Gerte, welch letzteres Ber- 
hältnis beſonders darum bevorzugt wurde, weil es ſo gut dem goldenen Schnitt 
entſpricht. — Sodann macht Sörenſen noch auf „die merkwürdige, in den Ginnes- 
organen des Menſchen herrſchende Übereinſtimmung“ aufmerkſam, daß nämlich 
für das Auge die Wahrnehmung von Schönheit in der räumlichen Ausdehnung 
großenteils an die einfachen Geſetze geknüpft ift, die auch für das Ohr in Be- 
urteilung der Zeitintervalle gelten — ein Satz, der ganz in den Rahmen von 
Wynekens Ausführungen paßt. 


Carſtens und Thorwaldſen 


m damals däniſchen Schleswig wurde der römiſch-neuklaſſiſche Meiſter der Male- 
rei geboren, der mit 3. A. Koch einen durch Betonung großer ſtrenger Formen, 
S r erhabener edler Empfindungen ausgezeichneten idealiſtiſch-heroiſchen Ideal und 
Konturſtil heraufführte: J. A. Carſtens (1754 — 1798). Er war ein Müllersſohn aus St. Jürgen 
bei Schleswig. Sein Denkmal erhebt fih in Schleswig wie in Kopenhagen. Vom politiſchen 
Standpunkt aus betrachtet aljo ein Däne trotz allen Kampfes gegen die Kopenhagener Akade⸗ 
mie, und dreiviertels zum Römer geworden. Und doch gehört er recht eigentlich in feiner per- 
ſönlichen Eigenart der deutſchen Kunſt an. Za, er iſt trotz aller helleniſcher antiker Stoffe, deren 
Empfindungen er in der Sprache ſeiner leidenſchaftlich bewegten Zeit maleriſch Darſtellung 
verleiht, ein Deutſcher. So deutſch, daß kein Außerdeutſcher fih je viel um feine Kunſt geküm⸗ 
mert oder fie verſtanden hat. Empfindungstief, ſtimmungsvoll, herb-perſönlich bis zum Eigen- 
jinn, von ſicherſtem Blick für den Wert des künſtleriſchen Vorwurfs, im Erfaſſen des künftlerifch 
aufzufangenden Eindrucks, das ift er. Seit er als erſter 1792 ſich in der ewigen Stadt anſäſſig 
machte, wurde Rom zur zweiten künftlerifchen Heimat nordiſcher Künſtler. Staatsſtipendium und 
Romaufenthalt, das find nun die Ideale des nordiſchen Künſtlers im frühen 19. Jahrhundert. 
Thorwaldſen kommt ſpäter nach. Zu feiner Zeit die Maler Ernſt Meyer und Konſtantin Han- 
fen. Trotz römiſcher Stoffe blieben fie Dänen. In der Muſik wurde erft viel ſpäter Liſzt der 
Mittelpunkt. Um ihn ſcharten fih die däniſchen Komponiſten und Pianiſten Niels Ravnkilde 
und Auguſt Winding, dann der junge Norweger Grieg. Und trotz des „Monte Pincio“, trotz 
„Ausfahrt“ und „Vor der Kloſterpforte“ blieb auch Grieg gleich den übrigen ein echter Nord- 
länder. Auch Carſtens. Sein feurigſter Freund, Fernow, hat in ſeiner Begeiſterung für den 
Hellenen Carſtens gerade die nordiſche Note ſeiner Kunſt völlig überſehen. 

Wie in der ganzen nordiſchen Kunſt bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts, ſo iſt ja auch 
in Carftens’ Werken in der Wahl der Stoffe nichts Nordiſches oder ſelbſt Norddeutſches. Sie 
kennen nur die antike Sage oder Geſchichte, die homeriſche Welt, Symbole oder Allegorien. 
Alſo anſchaulichſte Darftellung von Begriffen. Doch in der Kühnheit und Größe der Durch- 
führung feiner Ideen, in feinem tiefen, phantaſievollen und dem Myſtizismus zuneigenden 
Empfinden kommt doch bereits ein herber nordiſcher Zug zum Monumentalen und Heroiſchen 
zur Geltung. Es iſt nicht unwichtig, daß der Weg zur nationalen Runft im Nordland über Antike 
und Stalien führte. In Muſik wie in den bildenden Künſten. In erfterer förderte die italieniſche 


. 


{ 


694 Carſtens und Chorwalbſen 


Schulung im „neuen Stile“ die Entwicklung und Verfeinerung der melodiſchen Gefangslinie, 
in letzteren Reinheit und Schönheit der Formenſprache und Feinheit der Stimmung. 

Den Gipfel dieſer Wiederauferſtehung der Antike im Schaffen der Nordländer bildet 
nun der Isländer Bertel Thorwaldſen (1770 — 1844). Es ift das letzte glanzvolle Aufflackern 
in der nordiſchen Kunſt, ehe ſie die nationale Sprache findet. Thorwaldſen ließ die Antike in 
ſeiner Perſönlichkeit wieder auferſtehen. Freilich in ganz andrem als in dem von uns als ſtreng 
antik bezeichneten Sinne. Er ahmte ſie nicht nach, ſondern er lebte ſich mit ſeinen Sinnen in 
die antike Bildhauerei Griechenlands ein und ließ ſie in ſeinen Werken in dem wieder auferſtehen, 
was ſeiner eignen Perſönlichkeit und Naturanlage am unmittelbarſten entgegenkam. Das 
war in erter Linie das Liebenswürdige und fein Humoriſtiſche, das Idylliſche und Anakreon- 
tiſche. Zugleich wurde er Retter und Erneuerer des klaſſiſcher ſtrenger Einfachheit zurück- 
gegebenen Reliefs. In ihm lebte wirklich Winckelmannſcher Geiſt. Doch nichts von irgendwelcher 
kunſtwiſſenſchaftlicher Bildung. Er hat die Antike nicht durch verſtandesmäßige Reflexionen 
wieder aufgebaut, ſondern fie mit naiven, unfehlbar ſicher die Schönheit der ſinnlichen Erſchei⸗ 
nung wahrnehmenden Sinnen noch einmal künſtleriſch nachempfunden. Mit einem Wiſſen, 
das unbegreiflich klein war. Mit einem angeborenen Schönheitsgefühl, das alle Wiſſenſchaft 
überflüffig machte. Für die Geſtalten der ewig jungen helleniſchen Göttinnen, für den loſen, 
ſchelmiſch lächelnden Schalk Amor und feine Streiche, für die jugendlichen Göttergeſtalten 
der verſunkenen klaſſiſchen Welt können wir uns holdſeligere und liebreizendere Verkörperungen 
als durch des Meiſters Hand nicht denken. Die Werte feiner letzten Ropenhagener Periode da- 
gegen — den Chriſtus in der Frauenkirche nicht ausgenommen — ſcheinen mir die gleiche wär- 
mere Belebung feiner römiſchen, durch Canova und das ausklingende Rokoko beeinflußten 
nicht mehr zu beſitzen. Sofern man das Heil der bildenden Kunſt in der Antike, in der Zurück- 
führung der leidenſchaftlichen Unruhe des Barock, der gragids bewegten des Rokoko zur leiden- 
ſchaftsloſen, ruhigen Schönheit einer neuklaſſiſchen Welt ſieht, muß man ihn den größten nordi- 
ſchen Bildhauer, ja den größten nordiſchen Künſtler überhaupt nennen. Doch darf man ſich nicht 
darüber täuſchen, daß ſeine Kunſt darin ſich weit von der klaſſiſchen entfernt, daß ſie an Stelle 
des warmblütigen, ſinnlichen und mit Schmerzen und Leiden erkauften Heldentums der Antike 
ein weiches, ja oft weichliches und idealiſtiſch verklärtes fegt. Seinen Helden fehlt Männlich- 
keit und Leidenſchaft, ſeinen Kindern Kindlichkeit, ſeinen Frauengeſtalten warmes Leben, 
Seele. Das erkannte noch nicht feine Zeit, das fühlen wir Heutigen aber mehr denn je. Be- 
zeichnenderweiſe machte er am ſtärkſten in England Schule. Aber die germaniſche Ader ſeiner 
Kunſt war doch fo ſtark, daß ihn die Oeutſchen zeitweilig zu einem der Zhrigen zu ſtempeln 
verſuchten. So lebt er mit ſeinen Werken nicht nur im Nordland, ſondern auch noch in Nord- 
deutſchland. Namentlich in unſeren Oſtſeeſtädten, im Schloſſe zu Putbus auf Rügen. Statuen 
Thorwaldſens zieren auch Stuttgart (Schiller) und München (Kurfürſt Maximilian); in ſeinem 
Geiſte ſchuf Emil Wolf einige der kriegeriſchen Marmorgruppen auf der Berliner Schloßbrücke. 
Thorwaldſens Kunſt ift eine rein idealiſtiſche Kunſt. Eine nicht perſönliche und, auf den erſten 
Blick, auch eine nicht nationale. Oder liegt nicht doch ſchon eine däniſche Eigennote in der von 
vollendetſtem Feingefühl und Geſchmack getragenen Liebenswürdigkeit und ruhig abgedämpf- 
ten Leidenſchaftsloſigkeit dieſer adligen Kunſt? Beſitzen ihre feinbewegten Rhythmen und 
Linien nicht doch ſchon ein immanentes muſikaliſches Element, das gerade in den Werken eines 
Dänen ſich ſo ausſprechen mußte? l 

Mit Thorwaldſen tritt auch Dänemark, deffen Kunſt fid von den übrigen nordiſchen 
Reichen ſtets durch einen im guten Sinne konſervativen Grundzug auszeichnete, an die Schwelle 
des Nationalen. Doch Thorwaldſens großer Nachfolger J. A. Jerichau (1816—1883) und fo 
bedeutende dänifhe Bildhauer wie H. W. Biffen (1798—1868), Saabye, Peters, Freund, 
Evens, Bundsgaard ſchaffen in der Plaftit zunächſt noch lange im Sinne und Stile ihres Mei- 
ſters weiter. Schon zu feinen Lebzeiten hatten fie ja manche Schöpfung Thorwaldſens aus- 


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Auguſt Gaul — Neue Bücher 695 


führen und vollenden dürfen und waren fo ohne weiteres tief in feine Art eingedrungen. Mit 
dem herrlichen Siegesviergeſpann auf dem zum Mauſoleum eingerichteten Shorwaldfen-Mu- 
feum, mit der Büſte Thorwaldſens, dem Flensburger Löwen (Berlin), dem „tapferen Land- 
ſoldaten“ (Fredericia) hat Biffen feinem Meiſter die Treue gewahrt. Und galt es nach Thor- 
waldſens Tode, Perſönlichkeiten wie Oerſted und die Normen (Oerſtedpark), volkstümliche 
dänische Helden, Königs- und Königinnengeſtalten wie Friedrich VII. der Nachwelt plaſtiſch 
aufzubehalten, fo fehlen dabei Zerihau und Biffen nie. Dr. Walter Niemann 

(Aus des Verfaſſers kürzlich erſchienenem Nordlandbuch. Eine Einführung in 
die Natur, das Volkstum und die geſamte Kultur des Nordens. Mit 70 Landſchaftsaufnahmen 
und Reproduktionen nach Kunſtwerken nordiſcher Meiſter. Berlin, Alexander Duncker.) 


2 
Auguſt Gaul 


Ce Künſtler, von dem wir heute einige Arbeiten im Bilde vorführen, nimmt unter 
den deutſchen Tierplaſtikern eine Sonderſtellung ein. Die Fähigkeit, das Tier 

in ſeiner höchſten Eigenartigkeit zu erfaſſen, die Fülle der Einzelbeobachtungen 
zuſammenzudrängen und ohne kleinliche Wirklichkeitsnachahmung durch glückliche Ausnutzung 
des Materials die typiſchen Merkmale zu überzeugender Wirkung zu bringen, ſind bei dieſem 
Künftler aufs glidlidfte mit ſcharfer Beobachtung, regem Fleiße und hohem handwerklichen 
Geſchick vereinigt. Ein feiner Sinn für das Humoriſtiſche in der Tierwelt kommt hinzu, 
der um ſo echter wirkt, als Gaul die Tiere nie poſieren läßt; ſie leben ſich vielmehr ganz 
naiv, ganz unbeobachtet aus. Die Vorliebe für ruhige Bewegungen begünftigt eine grok- 
zügige, monumentale Wirkung auch der kleinſten Gruppen. Der zu Groß-Auheim im bett, 
ſchen Kreiſe Hanau geborene Künſtler iſt jetzt vierzig Jahre alt und ſteht in der Fülle der 
Arbeitskraft, die erfreulicherweiſe in ſteigendem Maße für öffentlich aufzuſtellende Werke 
in Anſpruch genommen wird. 

St, 


Neue Bücher 


Die Galerien Europas. (Leipzig, E. A. Seemann.) 

Die dritte Folge dieſes, die unerſchöpflichen Schätze der europäiſchen Muſeen in far- 
bigen Wiedergaben den weiteſten Kreiſen zutragenden Unternehmens, iſt nun abgeſchloſſen. 
Aus hundert Blättern beſtehend, hat ſie Bilder aus den Galerien von Petersburg, München 
und Mailand gebracht. Vor allem unter den letzteren befinden ſich manche weniger bekannte, 
prächtige Stücke. Die Begleittexte von Conrado Ricci, dem Generaldirektor der königlichen 
Muſeen Staliens, zeichnen fih durch geſchichtliche Sachlichkeit und warmherzige Nachempfin- 
dung aus. — Es liegen jetzt in dieſer Sammlung dreihundert Blätter vor; mit dem 1. Januar 
dieſes Jahres wurde ihr ein anderer Charakter gegeben. Sie wird von nun ab als ein Seitenſtück 
zu den „Modernen Meiſtern der Farbe“ auftreten und ebenfalls in Zeitſchriftform erſcheinen, 
monatlich ein Heft zu fünf Blättern 2 A. Auch hier werden in jedem Hefte kunſtgeſchichtliche 
Aufſätze ergänzend hinzutreten. Allen kunſtfreudigen Menſchen kann diefe Sammlung nur 
dringend empfohlen werden. 

2 


Italien, das Land der Muſik!? 
Reiſeeindrücke 


von 


Dr. Karl Storck 


eas Land der Muſik“ ift einer jener kliſcheehaften Ausdrücke, die ſich 
uuns beim Hören des Namens Italien von ſelbſt einſtellen. Daß 
OY man bei näherer Überlegung nur ſchwer die Begründung für die- 
s fen Ruf findet, andererſeits in gewiſſem Sinne aber auch feine Be- 
rechtigung nicht beſtreiten kann, läßt auf eigenartige Verhältniſſe ſchließen, die 
nicht ſo bekannt, ja nicht einmal von den vielen Schilderern Staliens ſo beobachtet 
find, wie man es bei der Liebe aller Künſtlerkreiſe zu dieſem Lande als ſelbſtverſtänd⸗ 
lich vorausſetzen möchte. Um fo mehr entwickelten ſich mir einzelne Beobachtungen, 
die zwar nur die Gültigkeit von Reiſeeindrücken beanſpruchen können, alfo dem 
Zufall viel ausgeſetzt ſind, zu Folgerungen und Erwägungen allgemeiner Art; 
daß allerdings meine Eindrücke nicht nur auf der allgemein begangenen Heer- 
ſtraße aufgeſammelt wurden, wird ſich wohl aus dem Inhalt des Folgenden ergeben. 

Unter den großen Muſikgenies, die wir als Mehrer des geiſtigen und ſeeli— 
ſchen Weltbeſitzes verehren, ift kein Italiener. Kann man überhaupt die Bezeich- 
nung Genie in feinem höchſten Sinne von Schöpfer, Geſtalter eines Unperſön— 
lichen, der Welt vorher Unbewußten auf einen italieniſchen Muſiker anwenden?! 
Es kommt einem höchſtens der Name Verdis in den Sinn. Aber auch bei ihm wird 
man den Begriff Genie erft. beſonders zurechtrücken müſſen. In jener mit ur- 
ſprünglicher Kraft ſich aufdrängenden Bedeutung wie bei einer ganzen Zahl deut- 
ſcher Muſiker gebührt auch ihm dieſer Ehrenname nicht. Und daß es ſich hier nicht 
um Raffen- oder Stammesempfindungen beziehungsweiſe -empfindlichkeiten þan- 
delt, zeigt die Tatſache, daß wir weder Verdi noch einem anderen italieniſchen Mu- 
ſiker gegenüber ſo das Empfinden genialer Kraft haben wie bei einer ganzen Reihe 
von bildenden Künſtlern und auch etlichen Dichtern desſelben Landes. Verdis 
einzigartige Stellung in der italieniſchen Muſik und in der der Welt liegt in feiner 


Storck: Stalien, das Land der Mufiet? 697 


wunderbaren Aufnahmefähigkeit, die ihm durch ſein langes Leben treu blieb und 
ſich letzterdings als glänzendes Stilgefühl, alfo weſentlich als Kraft der F or m- 
gebung, nicht der inhaltlichen Neuſchöpfung offenbart. Und ſo iſt jenes ſeiner Werke, 
das ihm am eigentümlichſten iſt, in dem er nicht ein anderswo Aufgenommenes 
gemäß ſeiner eigenen Art oder der ſeines Volkes ausdrückt, der „Fallſtaff“ vor 
allem von formaler Bedeutung, hier geradezu ſtilſchöpferiſch. Dagegen fehlen hier 
jene Arien oder Szenen, die von fo zwingender Kraft find, daß fic) für fie die 
Bezeichnung genial aufdrängt, und die ſonſt auch jenen ſeiner Werke nicht mangeln, 
die als Ganzes verfehlt ſind. 

Im Zuſammenhang mit dieſer Tatſache drängt ſich uns die andere auf, daß 
wir für Stalien viel öfter als von genialen italieniſchen Muſiker p erf ön id- 
keiten von genialen Werken ſprechen können, während bei unſerer deut- 
ſchen Muſik — übrigens gilt das von aller deutſchen Kunſt — wir manchem Rünft- 
ler gegenüber das Gefühl einer genialen Veranlagung haben, dem kein einziges 
Werk gelungen iſt, das wir als wirklich vollkommen zu bezeichnen wagen würden. 
Auch bei höchſter Einſchätzung wird man für Roſſini ſchwerlich den Ehrennamen 
einer genialen Perſönlichkeit in Anſpruch nehmen; ſein „Barbier von Sevilla“ 
ijt aber unſtreitig eines der genialſten Meiſterwerke aller Zeiten von urſprünglich⸗ 
ſter und ganz eigentümlicher Eigenkraft. Auch für Mascagnis „Cavalleria rusti- 
cana“ ſcheint mir nur die Bezeichnung genial auszureichen, auch in jenem Goethe- 
ſchen Sinne, daß es ein Werk ift „von dauernder Wirkung und Nachfolge hervor- 
rufend“. Ich weiß, daß man ein dickes Heft herausgegeben hat, in dem faſt jede 
Note des Werkes als Anklang oder Reminifzenz „wiſſenſchaftlich“ erwieſen wurde. 
Das ändert nichts daran, daß das Ganze ein genialer Wurf iſt. Kann man darum 
Mascagni als Genie anſprechen? Sein ganzes ſeitheriges Schaffen zeigt nichts 
von wirklich ſchöpferiſcher Kraft! Übrigens ift die Reihe jener italieniſchen Kom- 
poniſten auffallend lang, denen nur ein wirklich packendes Werk gelungen iſt. Sie 
wird noch ſehr verlängert durch die Namen jener, denen eine Szene, eine Arie ge- 
lungen iſt. Wohlverſtanden nicht ſo, wie Tauſenden in Stunden hohen Glückes 
oder tiefen Leides einmal ein gutes Gedicht erſteht. Da pflegt auch dem Runft- 
werke nichts Geniales zu eignen; es ſind eben gute Gedichte, glückliche Funde, 
die einem beſonders günſtigen Zuſammentreffen der Verhältniſſe zu danken ſind. 
Anders bei dieſen Muſikſtücken. Hier iſt nichts von Dilettantismus, ſondern ein 
als tüchtiger Arbeiter erprobtes Talent erweiſt ſich in einem Falle als Schöpfer 
von zwingender Schlagkraft. Es erheiſcht keinen beſonderen Geiſtesaufwand, um 
einen Leoncavallo kritiſch zu vernichten; es ift gleich billig, den „Bajazzi“ Theatralik, 
ſentimentale Mache ufw. vorzuwerfen. Ich glaube aber nicht, daß einer ehrlich zu 
beſtreiten vermag, daß ihn der Prolog und Canios große Arie („Ich bin Bajazzo“) 
bei einer guten Aufführung jedesmal im Innerſten packen. Auf dieſer innerlich 
zwingenden Kraft zahlreicher italieniſcher Arien, gegen die alles verſtandesmäßige 
Aſthetiſieren nichts ausrichtet, beruht jene Drehorgel Volkstümlichkeit, die doch 
grundverſchieden iſt von dem als alle ergreifende Seuche wirkenden Umſichgreifen 
von Operettenſchlagern. Die Verſchiedenheit offenbart fih ſchlagend in der Dauer- 
haftigkeit der Wirkung. Goethe hob als Merkmal „genialer“ Werke hervor, „daß 
fie von Dauer find“. Haben die vielgeſcholtenen „Schmarren“ der Troubadour- 


698 Storck: Ztallen, das Land der Mufit!Y 


oder Rigolettoarien, die nach der erſten Aufführung jedem im Gehör ſaßen, in 
den ſechzig Jahren, ſeitdem fie gelungen werden, auch nur die Spur an Wirkungs- 
kraft eingebüßt? Und wie viele Arien ließen ſich ſo aus den alten italieniſchen Opern 
zuſammenſtellen! Dieſer Kunſtmuſik eignet etwas von der zähen Lebenskraft der 
Volksmuſik. Auch diefe hat keinen Perſönlichkeitsgehalt. Auch das Volkslied ift 
genial, ohne die Schöpfung eines Genies zu ſein. 

Es iſt natürlich kein Zweifel, daß das italieniſche Muſikſchaffen ſich auf jenen 
zwei Gebieten betätigt, genauer ſich zwei Erſcheinungsformen geſchaffen hat, bei 
denen es nicht darauf ankommt, ein großes Ganzes aus einem Keime organiſch zu 
entwickeln, was das Weſen aller ſymphoniſchen Muſik ausmacht. Vielmehr ſind 
Meſſe und Oper Anhäufungen muſikaliſcher Gelegenheiten. Die Oper hätte ſonſt 
auch niemals in dieſem Maße die Maffe in der Gunſt der italieniſchen Komponiſten 
abgelöſt, wenn nicht beide in der Hinſicht miteinander muſikaliſch verwandt wären, 
daß fie eine Summe von Nummern darſtellen, deren jede einzelne für ſich be- 
handelt werden kann. Bei der Meſſe fällt das nicht ſo auf; aber Gloria und Credo 
beftehen in Wirklichkeit aus einer ganzen Zahl von nach Get und Empfinden grund- 
verſchiedenen Abſchnitten. 

Ich meine, es offenbart fid) in dieſer einſeitigen Begünſtigung dieſer Mufil- 
gattungen das Eingeſtändnis, es weniger auf das große, entwicklungsmäßige Ge- 
ſtalten eines umfaſſenden Erlebens als auf einen glücklichen Temperamentseinfall 
ankommen zu laſſen.— 

Stalien, das Land der Muſik! — Es gab eine Zeit, da ſchien es für jeden 
deutſchen Muſiker unumgänglich, ſich in Stalien die letzte Schulvollendung zu 
holen. Oder auch Stalien wurde aufgeſucht, fo wie es der große Heinrich Schütz 
tat, um ſich zu erkundigen, was es Neues in muſikaliſchen Künſten gäbe. Der Vater 
Leopold Mozart führte ſeinen Knaben Wolfgang hin, einmal weil er das italieniſche 
Publikum für das ſachverſtändigſte hielt; ſodann in der Hoffnung auf italieniſches 
Mäzenatentum. Im letzteren hat das Land früher Erſtaunliches geleiſtet. Auch 
wenn es viel reicher geweſen wäre, als es jemals war, blieb ein ſolcher Aufwand 
für Kunſt, wie er fidh z. B. in der Architektur allerorten offenbart, wenn man fühl- 
bare Opfer brachte. Sie ſcheute man auch für die Muſik nicht; und das Land, das 
fo viele mufikaliſche Söhne hervorbrachte, hatte immer noch Platz für die begabten 
Fremden, die unter ſeiner Flagge der Kunſt dienen wollten. 

Gehen wir dieſen Verhältniſſen auf den Grund, ſo erkennen wir als Urſache 
dieſer muſikaliſchen Vorherrſchaft Italiens weniger eine natürliche Muſikbegabung 
als das große Formgefühl und die alte Kulturüberlieferung. Als alter Kultur- 
herd, der von einer wunderbar gütigen Natur in überreichem Maße den Feuer- 
stoff zugeführt erhalten hatte, blieb Italien das lockende gelobte Land für alle 
Begabungen der in die Kulturwelt erft fpdter eingetretenen Völker. Dieſen gegen- 
über, ſelbſt wenn ſie ſtärkere Begabungen hervorbrachten, beſaß es den Vorteil 
eines feineren Verſtändniſſes, wie es durch großen Beſitz geſchaffen wird. Man 
hatte Stoff und Gelegenheit zum Vergleich der Kunſtleiſtungen, vermochte aus- 
zugleichen, zu mildern und zu ſteigern — abzuklären. Auch die Fremden — ſie 
fogar in beſonderem Maße — erfuhren diefe Einwirkung des klaſſiſchen Bodens. 
Aus dem mühſam gewonnenen Ausdruck ihres perſönlichen Erlebens erwuchs 


Storck: Stalien, das Land der Mufie!? 699 


ihnen hier die der Allgemeinheit eingängliche Form; ſie gewannen hier an Stelle 
muſikaliſcher Dialekte eine Weltſprache. 

So entſtand in Stalien als erſte muſikaliſche Weltſprache der gregorianiſche 
Choral, in dem auch verſchiedene nationale Beſtandteile (3. B. Griechiſches, Fiidi- 
ſches und aus dem ambroſianiſchen Geſang Staliſches) zur Einheit verbunden waren. 
In einer für diefe Frühzeit doppelt erſtaunlichen Weiſe erſcheint die Tätigkeit des 
Papſtes, nach dem der Choral benannt ift, als äſthetiſch-kritiſch; feine Abſichten 
gehen bewußt auf Bildung eines Stiles und ſcharf charakteriſierter Formen. 

Am deutlichſten zeigt ſich dieſe ordnende und abklärende Tätigkeit beim 
kontrapunktiſchen Stil. Am Ringen um die Mehrſtimmigkeit nimmt Stalien nicht 
teil. Aber die Muſiker aller Länder beeifern ſich, ihre Errungenſchaften in Italien 
vorzuführen. So ift es denn die in Paleftrina gipfelnde römiſche Schule, die dem 
Stil die höchſte Vollendung und die für die Folgezeit vorbildliche Geſtalt gibt. 

Daß den Stalienern die Muſik nicht in gleichem Maße innewohnt wie die 
bildende Kunſt oder auch die Dichtung, zeigt fidh darin, daß die an genialen Per- 
ſönlichkeiten überreiche Renaiſſance keinen Muſiker hervorbringt, der als zwingende 
Perſönlichkeit angeſprochen werden könnte, denn Paleſtrina iſt in ſeinem ganzen 
Weſen Gegner der Renaiſſance. Übrigens tritt er auch innerhalb der tontrapunt- 
tiſchen Kunſt nicht als genialer Neuſchöpfer hervor, ſondern ebenfalls mehr als 
Ordner und Abklärer und dadurch Vervollkommner eines Vorhandenen. Die 
Germanen Josquin Depres und Orlandus Laſſus wirken viel mehr als geniale 
Naturen denn der Römer, deſſen künſtleriſcher Klugheit und geläutertem Ge- 
ſchmack es gelingt, einen Ausweg zwiſchen den Vorſchriften der Kirche und den 
Wünſchen der Kunſt zu finden. 

Daß dieſer Kunſtverſtand zuzeiten eher den Weg zu einem vom Runjtver- 
langen geſuchten Ziele findet als ſelbſt das ſchöpferiſche Genie, hat ſich nie und 
nirgends ſo deutlich gezeigt wie in jener Schöpfung der italieniſchen Oper, die 
äußerlich als Abſchluß der mehr humaniſtiſchen Beſtrebungen auf Wiedergeburt 
der Antike erſcheint, innerlich aber der befte Ausdruck der Neugeburt der Individua- 
lität war. Denn unter allen jenen Florentinern, die das dramma per musica 
ſuchten und mit ſcharfſichtiger Ausnutzung der vorhandenen Muſikelemente etwas 
ſcheinbar ganz Neues, den stile nuovo der begleiteten Melodie ſchufen, war kein 
einziger ein muſikaliſches Genie, ja kaum ein vollblütiges Temperament. An fol- 
chen hatte dann die fpätere italieniſche Oper reichen Überfluß: glückliche Mufitanten- 
naturen, die ſich um keinerlei Probleme kümmerten und lediglich zu „gefallen“ 
ſtrebten. Daß fie dieſes Gefallen nicht durch Gewöhnlichkeit, ſondern durch finn- 
lichen Wohllaut, die allgemeinverſtändlichſte Art der Schönheit, zu erreichen fud- 
ten, ſcheidet fie von den Operettenkomponiſten der Neuzeit, hebt fie auf eine tul- 
turell viel höhere Stufe und erklärt endlich die Liebe der Welt zur italieniſchen 
Muſik. Denn das dürfen wir nie vergeſſen: die natürlichſte Liebe zur Muſik beruht 
auf ſinnfälliger Melodie und packendem Rhythmus. Die italieniſche Kunſtmuſik 
hat aus der Volksmuſik des Landes, die immer in inniger Verbindung mit der Ber 
wegung — des Dergnügens (im Tanze) wie der Arbeit — geblieben ift, ſtets eine 
Fülle rhythmiſcher Würzen gewonnen, die freilich nur italieniſche Sänger uns 
ſo recht zu Geſchmack zu bringen verſtehen. 


700 Storck: Italien, das Land der Muſte !? 


Dieſe italieniſchen Sänger ſind es wohl, die heute am meiſten 
Italien als Land der Muſik von der übrigen Welt preiſen machen. Im Grunde 
genommen find es ja nur ganz wenige Künſtler, die fo das Gefallen einer inter- 
nationalen Zuhörerſchaft zu gewinnen verſtehen. Was muß man dafür in italieni- 
ſchen Theatern an Enttäuſchungen erleben! Aber es iſt nicht zu leugnen, daß jene 
erſten italieniſchen Sänger eine Klaſſe für ſich darſtellen, daß — und hier liegt das 
Entſcheidende — auch die minder Bedeutenden in ihrem Geſang etwas haben, 
was mir bei deutſchen Sängern überhaupt kaum begegnet iſt: der Geſang wirkt 
bei ihnen als natürliche Ausdrucksweiſe. Man hat das Gefühl, daß ihnen das 
Singen ſelber Freude bereite. Der letzte Grund wird ſein, daß es ihnen auf das 
Singen an fih ankommt und nicht auf die Erfüllung einer vom Drama geſtellten 
Aufgabe. Die einzigartige Wirkung Caruſos beruht ſicher darauf, daß er beides 
vereinigt; viel häufiger findet fic) diefe Einheit bei den tiefen italieniſchen Männer- 
ſtimmen, die bekanntlich zuerſt von der aus dem Volkstum erwachſenen komiſchen 
Oper ausgenutzt worden ſind. 

Wir können zuſammenfaſſen: in der Vergangenheit bewährte fih die Mufit- 
veranlagung der Staliener hauptſächlich als formale Kraft der Stilbildung. Da- 
neben waltet ein natürliches Singtalent im Hervorbringen überzeugender Melo- 
dien. Dagegen fehlt das eigentlich Architektoniſche der Muſik, wie die Entwicklung 
eines großen Gebildes aus dem Mit- und Gegeneinander kleiner thematiſcher 
Elemente, wodurch auch erſt der Ausdruck zuſammengeſetzter ſeeliſcher Inhalte 
möglich wird: das in der Muſik, wofür der Name Beethoven uns beſonders ge- 
läufig iſt, das aber ſchon vor ihm für die deutſche Muſik charakteriſtiſch war, wie es 
ſeither die Entwicklung des Muſikdramas ermöglicht hat. 

Es war notwendig, ſich dieſe geſchichtlichen Tatſachen ins Gedächtnis zu rufen, 
um für die heutigen Verhältniſſe das richtige Verſtändnis zu haben. 

* * 


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Sh muß gefteben, daß ich zumeiſt Enttäuſchungen erlebt habe, die fdwer- 

ften in der Kirchen muſik. Ich war auf unwürdige, theatraliſche Muſik gefaßt, 
aber ich rechnete mit guten Aufführungen. Nun ſcheinen die ſtrengen Erlaſſe des 
jetzigen Papſtes ſehr reinigend gewirkt zu haben. Die ſtrengen Liturgiſten mögen 
daran ihre Freude haben, weil ſie den Buchſtaben der Vorſchriften gewahrt ſehen; 
der Kunſtfreund, aber auch der nach religiöſer Erbauung durch die Muſik verlangende 
Kirchenbeſucher kann auch zur Zeit der Herrſchaft noch fo opernhafter Kirchen- 
muſik nicht fo ſchlecht gefahren fein wie jetzt. Denn es hat eine eigene Bewandt- 
nis um die vielgeſcholtene „unwürdige“ Kirchenmuſik, als welche auch die unſerer 
Klaſſiker, z. B. Haydns und Mozarts, von dieſer Seite angeſehen wird. Fd halte 
es für ſelbſtverſtändlich, daß die Kirche für ihre Gebrauchsmuſik ihre Geſetze geben 
kann, und verſtände auch, wenn ſie eine ganz beſondere, etwa altertümliche Muſik 
allein für ihren Gottesdienſt zuließe. Aber man ſollte für dieſe Maßnahmen nicht 
die Wirkung auf das Volk geltend machen. Für die Wirkung der Kunſt iſt der Ort ihres 
Erſcheinens von außerordentlich ſtarkem Eindruck. Die ganz aus ſchöner Sinnlichkeit 
gefloſſene italieniſche Malerei der klaſſiſchen Periode wirkt an den Kirchenwänden 
nicht ſinnlich aufreizend, ſondern beglückend in jener Schönheit, in der man ſich 
doch auch die himmliſche Seligkeit vorſtellt. Ebenſo verhält es ſich mit der Muſik. 


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Storck: Italien, das Land der Muſik !? 701 


Die ſinnlich ſchön geſchwungene Melodielinie, die zu weichlich, zu weltlich gedet, 
ten wird, wirkt in der Kirche durch die Macht des Ortes als aus religiöſer Empfin- 
dung fließend. Ich kann mich für dieſe Auffaſſung auf das Zeugnis kirchlich un- 
verdächtiger Männer berufen, z. B. des Würzburger Apologeten Hettinger. Übri- 
gens ift es merkwürdig, daß die katholiſche Kirche in derſelben Zeit, wo fie den gerade- 
zu brutal körperlich wirkenden Herz-Zefu-Rult fo begünſtigt, für die Kirchenmuſik 
ſo ſtreng iſt. Daß eine möglichſt ſorgfältige Behandlung des Textwortes verlangt 
wird, erſcheint als ganz natürliche Forderung; aber für die religiöſe Wirkung auf 
das Volk bleibt es ſicher ziemlich belanglos, ob jede Silbe in einer Sprache, die es 
doch nicht verſteht, ganz vorſchriftsmäßig deklamiert wird. 

Sh möchte nicht mißverſtanden werden. Sd) begreife den Standpunkt des 
Liturgen ſehr wohl und will ihm eine gewiſſe Berechtigung nicht abſtreiten. Aber 
wenn es auf Ausnutzung der Kunſt innerhalb der Kirche zur religiöſen Erbauung 
des Volkes ankommt, verſchieben ſich doch die ganzen Verhältniſſe. 

In ODeutſchland hatte die cäcilianiſche Bewegung auch viele gute Ein- 
wirkungen. Allenthalben wurden Chorvereine gegründet; die Pflege des mehr- 
ſtimmigen Geſanges auf dem Lande erfuhr eine vorher ungeahnte Steigerung. 
Dabei handelte es ſich um eine ernſte Kunſtübung im Dienſte einer hohen Aufgabe. 
Das muß auch dann geiſtig und ſeeliſch heilſam wirken, wenn die dabei geübte Kunſt 
mehr von ehrlichem Handwerkswillen als von künſtleriſchen Abſichten erfüllt iſt. 
Wenn — und die Zeit dafür ſcheint gekommen — im deutſchen Cäcilienverein 
eine künſtleriſche Auffaſſung der ganzen Frage die Oberhand gewinnt, wird die 
katholiſche Kirche über ein Sängerheer von verhältnismäßig guter Schulung ver- 
fügen wie nie zuvor. 

Aber in Stalien konnte nach der ganzen kirchlichen Lage auf derartige Wir- 
kungen nicht gerechnet werden. Man hat das Volk immer fo febr nur als Zuſchauer- 
und Zuhörermaſſe behandelt, daß man jetzt nicht auf einmal eine tätige Beteili- 
gung am Gottesdienſt erwarten durfte. Die Geſangschöre beſtehen wohl durchweg, 
wo fie nicht von Klerikern (3. B. den Seminariſten) gebildet werden, aus bezahlten 
Sängern. Die Mitgliederzahl iſt darum beſchränkt; der Geſang wird als „Dienſt“ 
erledigt. An Proben war offenbar durchweg geſpart worden; die Dirigenten 
mußten immer wieder den Takt buchſtäblich „ſchlagen“, ja hämmern, um nur das 
Ganze zuſammenzuhalten. Trotzdem ich die großen kirchlichen Feſte Chrifti Himmel- 
fahrt, Pfingſten, Fronleichnam in den erſten Kirchen von Bologna und Florenz 
miterlebte, hörte ich nicht ein Stück altklaſſiſcher Kirchenmuſik. Ja, durchweg be- 
gnügte man ſich mit zweiſtimmigen Meſſen, wobei allenfalls die Begleitung von 
Orgel, Baß und Cello die Dürftigkeit der Polyphonie zu verdecken ſtrebte. Nur 
im Mailänder Dom war der Eindruck größer, obzwar ich hier nur an einem gewöhn- 
lichen Sonntag war. Das äußere Bild vor allem war prächtig. Die Sänger — Laien- 
männer und Knaben — hoben ſich in ihren weißen Chorhemden leuchtend von der 
goldenen Empore an der rechten Chorſeite ab und wirkten dicht gedrängt als ein- 
heitlicher Farbenton gegen das tiefe Grün der Meßgewänder und die Goldmaſſen 
der Leuchter und Flammen. Die vier-, in einzelnen Teilen fünfſtimmige Meſſe 
war würdig im nachklaſſiſchen Vokalſtil etwa Max Bruchs gehalten und mochte 
von einem Komponiſten ſtammen, der die akuſtiſchen Verhältniſſe des Domes ge- 


102 Stord: Stollen, das Land der Muſik!? 


nau kannte. Auf den Rieſenraum des Domes rechnend, ließ er oft dieſelben mufi- 
kaliſchen Sätze erſt fortissimo fingen, fo daß der Schall. dann während der pianis- 
simo-Wiederholung faſt ſichtbar durch die weiten Bogenhallen hinſchwebte. Das 
wirkte dann jedesmal, als ob eine in ſcharfen Linien durchgeführte Zeichnung die 
Auflöſung in Farben erfahre. Noch Wärter war dieſer Eindruck des Fneinander- 
fließens und Sich-wechſelſeitig⸗Durchdringens des ſcheinbar fo ſchroff Geſchiedenen 
im Dom zu Florenz, wo die Sänger an einer Säule unter der Kuppel eine allzu 
dürftige Emporbühne zur Aufſtellung erhalten hatten. Man muß dieſe Tatſache 
bei der Betrachtung alter kontrapunktiſcher Muſik in Anrechnung bringen. Die 
in der geleſenen Partitur oder im engen Raum fo ſcharf fih überſchneidende Linien- 
führung erfuhr eine bedeutſame Milderung bei der Aufführung in dieſen gro ßen 
Kirchen mit ihren hohen Gewölben und vielen Seitenhallen. Die Kuppel vor 
allem hat einen entſcheidenden akuſtiſchen Einfluß, der für die moderne Muſik 
mit ihrer engen Chromatik und ſcharf geſpannten Harmonik ſchädlich ſein muß, 
der architektoniſchen alten Muſik aber die fehlende Weichheit und farbige Flächen 
wirkung brachte. 

Vas habe ich ſehnſuchtsvoll nach den hohen Doppelemporen hinaufgeſchaut, 
die faſt in allen Kirchen zu beiden Seiten des Chores ſich befanden und nirgends 
benutzt wurden. Einſt haben Meiſter Willaert und die beiden Gabrieli in Venedig 
dieſe architektoniſche Anlage als eine ebenſo herrliche „Gelegenheit“ für ihre Kunſt 
auszunutzen verſtanden wie die Baumeiſter unebenes Gelände oder für den erſten 
Blick ungünſtige Raumausſchnitte. Wie herrlich muß es geklungen haben, wenn 
hüben und drüben im Wettſtreit die Chöre ſich ſingend ablöſten, bis ſie ſich dann 
vereinten im gleichen Ziele, durch höchſte Schönheit die Verbindung mit dem Ur- 
quell der Schönheit zu einer ſinnlich fühlbaren zu machen. Das iſt Religion der 
Kunſt, die mit den Mitteln der Kunſt, alſo auf dem Wege über die Sinne erreicht 
werden muß. | 

Von alledem war in der italienischen Kirchenmuſik nichts zu erleben; viel- 
leicht beruht der Ruhm der Sixtiniſchen Kapelle zum Teil darauf, daß fie in Sta- 
lien etwas Einzigartiges iſt, während ihre Vorträge altklaſſiſcher Kirchenmuſik von 
denen mancher deutſcher Chöre, z. B. des Regensburger Domchores, wenigſtens 
erreicht werden. 

Daß der gregorianiſche Choral einem nur wenig Freude bereiten kann, wenn 
er von alten, met ſtimmloſen Domherren vorgetragen wird, leuchtet ein. Aber 
auch die jungen Seminariſten droben in Fieſole ſchienen keine Ahnung von der herr- 
lichen Ausdruckskraft zu haben, die dieſen melodiſch ſo reichen Geſängen innewohnt. 
Dagegen ift die italieniſche Art der Rhythmiſierung der großen Neumengruppen 
des Chorals oft von ſprechender Eigenart; aus den uralten gregorianiſchen Weifen, 
klingt es dann ähnlich wie aus den volkstümlichen Ritornellen, die man draußen 
auf den Feldern ſingen hört. Ob hier nicht doch manche Beziehungen vorhanden 
ſind? In dieſen Volksgeſängen ſind ſo viele diatoniſch ſchreitende Notengänge, 
die ziemlich regelmäßig wiederkehren, daß man auch hier uraltes Erbgut ſehen 
muß. Und wenn ich an Melodien denke, die ich in Viareggio von den Schiffer- 
werkſtätten her klingen hörte oder bei einem abendlichen Spaziergang in den Fel- 
dern von Parma vernahm, da ſtellt fich mir zuerſt der Vergleich mit Geſängen der 


it — S 


Storck: Italien, das Land ber Mufit!? 103 


Naturvölker ein. Der Geſamteindruck war durchaus derfelbe; und es dürfte fidh 
eine Unterfuchung lohnen, ob nicht auch in dieſen italieniſchen Arbeitsliedern die- 
ſelbe Grundtonleiter ſteckt, wie ſie für die Muſik der Naturvölker immer ſicherer 
feſtgelegt wird. 

So bin ich vom kirchlichen Choral unvermittelt auf die Volks muſik ge- 
kommen und damit auf etwas febr Erfreuliches. Ja, in der Hinſicht ift Italien 
ein Land der Muſik, als dieſen Menſchen das Singen eine Lebensnotwendigkeit 
iſt. Bei uns fingt das Volk, vor allem die Männer, wenn fie allein find, nur felten; 
der Bauer, der Handwerker pfeift oder ſummt. Der Ztaliener ſingt immer und 
überall, vor allem bei jeder Arbeit. Jeder Maurer, jeder Handwerker ſingt; der 
Fuhrmann ſingt, wenn er nicht auf dem Bauche liegend ſchläft. Ich habe manches 
Mal Bauern ſingen hören, wenn ſie die Reben mit Vitriollöſung beſpritzten. Am 
ſchönſten aber ſteht mir der Volksgeſang in Erinnerung von den vielen Wande- 
rungen durchs Toskanerland. Während Freund Böcklin vor ſeiner Staffelei ſaß, 
konnte ich mir ein Lagerplätzchen im Bachgebüſch oder im Schatten eines Baumes 
ſuchen. Die Feder lief eilig über die Seiten des Notizbuches, die Überfülle der ge- 
wonnenen Eindrücke wenigſtens in etlichen Stichworten feſtzuhalten. Aber es 
fiel ſchwer, die Gedanken beiſammenzuhalten. Die Sonne, dieſe Überfülle von 
Licht, ein ſilbriges Klingen von tauſend Stimmchen in der Luft. Auf einmal — aber 
der Augenblick kam immer — ſchwingt eine Stimme herüber. In einer nur auf 
wenigen Tönen ſich bewegenden, halb rezitativiſchen Melodie ſingt ein Burſche 
von „ihr“, flehend, klagend, auch wohl arg ſpöttiſch, ja hohnvoll. Und immer zum 
Schluß der ungleich langen, oft wohl improviſierten Strophen, wie ein Kehrreim, 
ein Herabfallen der Melodie über vier oder fünf Ganztonſtufen nach dem Grund- 
ton, der nun möglichſt lange ausgehalten wird. Dem Burſchen, der wohl aus dem 
Bache Waſſer nach den jungen Pflanzungen trägt, antwortet ein anderer, der von 
den Ulmenzweigen die Blätter abſtreift zur Nahrung für die Seidenwürmer. Zu- 
weilen ſingt auch ein Mädchen kecklich die ſcharf zugeſpitzte Antwort. 

Immer wieder überraſcht es mich, wie weich hier in der freien Luft die 
im geſchloſſenen Raum ſo trompetenhaft wirkenden Stimmen klingen. Der Ton 
ſitzt eben ganz vorne, die Kehle iſt weit geöffnet; das Zugedrückte, Gaumige, was 
unſere Volksſtimmen faſt immer entitellt, fehlt hier ganz; dafür ſtört dann freilich 
leicht ein breites Plärren. Aber in der Luft draußen verliert ſich dieſes ganz und 
bewirkt nur das weite Tragen der Töne. Wie ſchön war es auch gerade draußen 
auf den Dörfern, nachts ſpät im Bette den Liedern zu lauſchen, die irgendeiner 
im Kaffeehaus den zuhörenden Genoſſen vortrug. Und wie gerne fie zuhören und 
mit welchem Eifer ſie kritiſieren, dabei meiſtens nach der günſtigen Seite! Am beſten 
aber merkt man, wie ſehr der Geſang in dieſen Leuten lebt, an der Art, wie ſie 
plötzlich einen Melodiefetzen hinausjubeln. Das ift wie ein muſikaliſches Stoß 
gebet: es ſingt ganz leiſe in einem drinnen, bis eine Stelle kommt, die einem ſo 
gut gefällt, daß man ſie hören muß. So jubeln dann einige Töne hinaus, für 
den Fremden ſcheinbar ohne allen Zuſammenhang; ich ſchaue ſolchen Leuten immer 
mit innerlicher Genußfreude nach und fühle ihr Bon-Muſik-Vollſein mit. Ein Geiten- 
Wd zu dieſer Art muſikaliſchen Mitlebens kann man an jedem Wirtshaustiſch er- 
leben. Es iſt von einer Oper die Rede. Alsbald ſummt der und jener ein Stück 


704 Storck: Italien, das Land der Mufitt? 


daraus. „Wie ſchön ift diefe Stelle!“ „Wie wirkt hier die Oeklamation!“ Alles 
gleich geſanglich belegt. Man ſieht gleich: diefe Leute leben von der einzelnen 
ſchönen Melodie, faſt möchte man ſagen: vom einzelnen Ton. Das Drama als 
Ganzes berührt ſie nicht. 

Das ift auch der Eindruck im Theater. Es ift bekannt, daß in Italien von 
altersher nur einige wenige Monate stagione iſt, gewöhnlich vom Stephanstag 
(26. Dezember) bis zum Karneval, ſpäteſtens bis Anfang April. Wenn man mit 
Recht die italieniſche Oper als geſellſchaftliche Veranſtaltung charakteriſiert, fo 
ſollte man doch auch nicht überſehen, daß die ganze Art etliche Züge von der Art 
der Feſtſpiele trägt. Neben der Kürze der Zeit, auf die die Spiele gufammen- 
gedrängt ſind, gehört dazu noch die Beſchränkung auf ganz wenige, oft auf ein 
einziges Werk, das dafür um ſo ſorgſamer einſtudiert und beſetzt werden kann, 
da die Truppe gerade dafür zuſammengeſtellt wird. Aber ich glaube, gerade die 
Entwicklung des Theaters zu einer Volksunterhaltungsſtätte erheiſcht die mög- 
lichſte Ausdehnung der Spielzeit und beſchränkt das Feſtſpieltheater auf die Stel- 
lung einer allerdings ungemein wertvollen Sondererſcheinung, die aber auch neben 
dem ausgedehnteſten Spielbetrieb ihren Platz und ihre wichtige Aufgabe behält. 
In Stalien empfand ich wenigſtens die kurze Spielzeit nur als ſchädigend. Und 
nicht etwa bloß vom ſelbſtſüchtigen Standpunkt des Reiſenden, der gerne gute 
Opernaufführungen ſähe, ſondern als ſchädlich für das italieniſche Muſikleben. 
Die Schauluſt des Volkes iſt außerordentlich groß und bleibt auch außer der kurzen 
Spielzeit rege. Das nutzen dann minderwertige Einrichtungen aus. Von der un- 
heimlichen Ausdehnung der Kine matographen Seuche kann man ſich gar 
keine Vorſtellung machen. Dann hat dadurch, daß die Oper verbannt iſt, die O p e- 
rette um fo breiteren Raum gewonnen. Was ift aber für ein ungeheurer künſt⸗ 
leriſcher Abſtand zwiſchen den in jeder Hinſicht köſtlichen komiſchen Opern der Jta- 
liener und dem charakterloſen Miſchmaſch der „Vedova allegra“ (Die luſtige Witwe) 
oder des „Sogno d' un Valtzer“ (Walzertraum), die überall auf den Programmen 
ſtanden, wogegen ich während acht Wochen in ſo und ſo vielen Städten nur in Piſtoja 
des alten Baer „Kapellmeiſter“ als Vertreter der komiſchen Oper zur Aufführung 
geſtellt ſah. 

Natürlich werden auch außerordentliche Opernaufführungen veranſtaltet; 
aber die Überlieferung wird wenigſtens inſofern gewahrt, als fie nicht im eigent- 
lichen Opernhauſe ſtattfinden. So ſah ich zwei veriſtiſche Schaueropern Ferreros 
zu Bologna in einem Variete, an deffen Toren bereits die Plakate für eine bevor- 
ſtehende Ringkampfkonkurrenz prangten; und ſelbſt der dort hochverehrte Mas- 
cagni mußte in Florenz mit feinem „Ratcliff“ in das als Zirkus erbaute Politeama 
ziehn. Man kann ſich vorſtellen, wie brutal unter ſolchen Umftänden ein modernes 
Orcheſter klingt. Aber die beiden Werke Ferreros lohnt ſich kein Wort, aber auch 
„Ratcliffs“ Fernbleiben von der deutſchen Bühne ift nicht zu bedauern, obwohl 
der dritte Akt dramatiſch wuchtig iſt. Immer wieder feſſelnd iſt für den Fremden 
das Verhalten der Zuhörerſchaft. Nicht nur wegen des ſofortigen lauten Ausdrucks 
der jeweiligen Empfindungen, ſondern auch weil dieſe immer nur der Einzelheit 
gelten und die Rüdfiht aufs Ganze völlig außer acht laffen. Man erkennt hier, 
daß die Nummernoper, das Stück in Stücken für dieſes Volk einfach Bedürfnis 


Storck: Ztallen, das Land der Muſle !? f 705 


ift; daß ein Verſtändnis für ſymphoniſchen Aufbau gar nicht vorhanden ift. Übri- 
gens fehlt bei den Komponiſten auch das Können in dieſer Richtung. Mascagni 
verjucht in feinem „Sonnenhymnus“ aus der „Iris“, der an feinem Benefizabend 
zugegeben wurde, eine ſolche ſymphoniſche Entwicklung; aber er gelangt nur zu 
einer Zerteilung und Wiederholung des thematiſchen Materials durch alle Stim- 
mengruppen und muß darum die beabſichtigte Steigerung durch rhythmiſche Ber 
ſchleunigung erreichen. So glaube ich, daß die italieniſche Opernkompoſition, ſoll 
ſie überhaupt ſtarke Wirkungen üben, wieder zum Aneinanderreihen geſchloſſener 
Einzelnummern zurückkehren wird. — 

Wenn man vom muſikaliſchen Erleben in Stalien berichtet, darf man der 
Muſik der Straße nicht vergeſſen, des vielfachen Mandolinen- und Sitarrenſpiels, 
das man zuweilen in virtuoſer Vollendung zu hören bekommt. Dann der viel- 
fältigen, ſo charakteriſtiſchen Rufe der Händler, die ſich oft Tongänge von ganz 
eigenartigem Reiz zurechtgelegt haben. 

Zum Schluß einige Worte noch von den Glocken, deren Geläute ja die lauteſte 
Muſik der Straße ift. Meiſtens ift es ein Ärgernis für die Oeutſchen, ſobald fie 
über die Alpen kommen, die Glocken nicht gezogen, ſondern geſchlagen zu hören. 
Freilich nicht überall; in Toskana werden die Glocken meiſtens wie bei uns geläutet. 
Daß aber auch durch das Schlagen wundervolle Wirkungen erreicht werden können, 
erfuhr ich in Bologna. Ich war nach der Ankunft bis ſpät nach Mitternacht durch 
die mit ihren roten Mauern eigentümlich leuchtenden Gaſſen und Straßen ge- 
wandert. Die überreichen, ſeltſam erregenden Eindrücke ließen lange keinen Schlaf 
zu. Sch mußte eben eingeſchlummert fein, als mich ſchwere Töne weckten, die faft 
greifbar durch das offene Fenſter des hochgelegenen Schlafzimmers hereinwallten. 


Auf großen Glocken wurde das Angelus geſpielt. | (a f gc) be- 


gann es und wiederholte ſich jo lange, bis man, wie beim Geratter der Eiſenbahn, 
ſich ein Wort dazu gefunden. Bei der Botſchaft des Engels lag es nahe: O Maria! 


Doch da ändert ſich der Schlag er. (fgac). gſt es nicht, als ſähe 
man die Jungfrau ihr Haupt dem himmliſchen Boten entgegenheben und demütig 


ergeben wieder ſenken? Und nochmals wechſelt der Schlag: 


(agfc), Et verbum caro factum est; das Wunder der Liebesverbindung zwiſchen 
Himmel und Erde iſt vollzogen. Doch wie iſt mir? Das iſt ja die Weiſe, mit der 
die Liebesfee Tom dem Reimer verſichert: „Nun biſt du mein!“ — go habe in 
Italien durch Muſik keine ſchönere Beglückung erfahren, als da die Glocken hoch 
oben auf dem Turme in Bologna mir in der Weife deutſcher Liebesſeligkeit er- 
klangen. 


Oer Türmer XI, 11 45 


706 Neues von ben Temperamenten und ihrer Beziehung zu Muflt und Plchtung 


Neues von den Temperamenten und ihrer Beziehung 
zu Muſik und Dichtung 


N m das Jahr 1890 erregten in Münchener Künſtlerkreiſen die Konzertvorträge eines 
Ji Z © Tenoriſten, die er zunächſt unter dem Pfeudonym Claus, dann unter feinem wap- 
ren Namen Zojeph Rutz hielt, großes Aufſehen. Es handelte ſich um die Propagie- 
rung einer Reihe neuer Zdeen, die ſich auf Schaufpiel- und Geſangskunſt, auf die ſtilgemäße 
Wiedergabe von Wort- und Tondichtungen beziehen. Rutz ſollte über die Tätigkeit des menjo- 
lichen Tonorgans Aufſchlüſſe zu geben imſtande geweſen fein, die weder die Männer der Praxis 
noch der einſchlägigen Fachwiſſenſchaften wie der Phyſiologie, Phonetik und Pſychologie kannten. 
Nach langer Zeit des Schweigens iſt nunmehr eine Oarftellung der neuen Entdeckungen 
veröffentlicht worden (Dr. Ottmar Rutz, Neue Entdeckungen von der menſchlichen Stimme. 
München 1908, C. H. Beckſcher Verlag), die allerdings geeignet ift, das größte Aufſehen zu 
erwecken. Das Intereſſanteſte bilden hierbei die Experimente, die jeder Leſer an der Hand des 
Buches ſelbſt vornehmen kann. Über dieſe äußert ſich ein berühmter Fachmann, der Leipziger 
Phonetiker und Germaniſt, Geheimrat Dr. Eduard Sievers, gegenüber dem Verfaſſer: 
„Ich habe gleich geſtern damit einen Anfang gemacht, einige der ‚gröberen‘ Fragen an der 
Hand Ihres Buches mit einer Reihe älterer Studierender durchzuproben, die auf meine fprad- 
melodiſchen Dinge einſchließlich der Stimmqualitätsfrage eingearbeitet waren, und unter denen 
ſich wenigſtens zwei gute Sänger befanden. Die Refultate waren in den herausgegriffenen 
Proben zum Teil von geradezu verblüffender Oeutlichkeit. Mir unterliegt es ſchon nach dieſen 
wenigen Proben keinem Zweifel mehr, daß hier wirklich eine Sache von fundamentaler Be- 
deutung angeſchnitten und richtig angeſchnitten iſt.“ 

Es handelt ſich nämlich dabei um die Klangveränderungen, die die menſchliche Stimme 
dadurch erleidet, daß man gewiſſe große Muskelpartien des Rumpfes verſchiedenartig ein- 
ſtellt. Je nachdem klingt nämlich die Stimme derſelben Perſon dunkler oder heller, weicher oder 
härter, größer oder kleiner. Ze nachdem beſitzt fie ihre größere Fülle in der höheren oder tiefe- 
ren Tonlage. Und ſo weiter. 

Bisher hatte man nun angenommen, dieſe Unterſchiede im Klange der Stimme ſeien 
mit dem Bau des menſchlichen Einzelorgans unveränderlich gegeben, man meinte, fie feien 
durch die Teile des Tonorgans o ber halb der Kehle, die Form des Rachens, der Mundhöhle 
bedingt. Die neuen Forſchungen haben jedoch den Nachweis erbracht, daß gerade die Teile 
des menſchlichen Körpers unter halb der Kehle das „Dunkel“ und „Hell“ der Stimme und 
ihre andern derartigen allgemeinen Klangeigenſchaften bewirken, und daß der Kehle und den 
Teilen des Tonorgans über ihr nur die Erzeugung der Vokale und Konſonanten nebſt einer 
gewiſſen Modulierungsmöglichkeit des Stimmtones verbleibt. 

Eine tiefdunkle und weiche Stimme wird z. B. dadurch erreicht, daß man durch wag- 
rechtes Vorſchieben des Unterleibs eine ſtändige Erweiterung der Unterleibshöhle herbeiführt 
und die Luft ganz tief dabei einatmet. Eine ganz helle und weiche Stimme dagegen erzielt 
man durch Zurüdichieben des Inhalt des Unterleibs und gleichzeitiges Vorſchieben und Er- 
weitern des Bruſtkaſtens, neben hoher Atemführung. 

Die Verſuche find geradezu verblüffend. Noch überrafchender ift ein Weiteres. Spricht 
man z. B. Goeth ef dhe Gedichte in der zuerſt beſchriebenen Haltung, fo ift ihre Wirkung vor- 
trefflich, ſpricht man fie dagegen in der zweiten Rumpfhaltung, fo Hingen fie ganz nüchtern 
und ausdruckslos. Schiller jedoch muß mit der zweiten Haltung geſprochen werden, für 
ihn paßt die zuerſt beſchriebene wieder nicht. 

Oieſer merkwürdige Umjtand kann nur durch eines feine Erklärung finden: jede Wort- 
dichtung drückt wie jede Tondichtung in ihren eigenartigen Melodien und in ihrem Rhythmus 


Neues von ben Temperamenten und ihrer Beziehung zu Mufit und Dichtung 707 


das Gefühlsleben ihres Schöpfers aus. Zeder eigenartigen Gefühlseigenſchaft ijt als Aus- 
druck eine beſtimmte Art der Rumpfmuskeleinſtellung zugehörig, ſo, wie bekanntlich auch der 
Trauer, der Freude uſw. eine eigenartige Geſichtsmuskeleinſtellung als Ausdruck zugehört. 

Wer Goethe mit der Rumpfmuskeleinſtellung ſpricht, die hellen Stimmton be- 
wirkt, der wendet das falſche Ausdrucksmittel für Goethes Gefühlsleben an. Seinem ͤ Ge- 
fühlsleben iſt das dunkle Melos der Stimme als Ausdruck zugehörig, Schiller das helle. 

Ganz genau das gleiche Reſultat gewann Sievers auf Grund ſeiner Experimente. 
Er ſchreibt mir darüber: „Speziell wird Sie vielleicht intereſſieren, daß eine der Verſuchsperſo⸗ 
nen ganz ſpontan ausſagte, daß fie Goethe unwillkürlich mit ſchlafferem Körper, Schiller 
dagegen in mehr gereckter und geſpannter Haltung ſpreche: was ja vorzüglich zu Ihren Beob- 
achtungen (die in dem oben erwähnten Buche „Neue Entdeckungen uſw.“ niedergelegt ſind) 
paßt. Dieſe gehen ja viel weiter als die meinigen. Ich habe zwar neben dem Sprachmelodi- 
ſchen im engeren Sinn ſchon ſeit einer ganzen Reihe von Jahren auch die Stimmqualität mit 
bei meinen Arbeiten herangezogen, aber doch immer nur ſo, daß ich auf tatſächlich beſtehende 
Kontraſte hinwies und die Gegenſätze andeutend benannte oder benennen ließ. Aber zu einem 
Erklärungsprinzip oder ſyſtem war ich nicht vorgedrungen, wie Sie es jetzt geben. Dies Syſtem 
iſt ja auf den erſten Blick ſehr verwunderlich. Aber daß es auf durchaus richtigen Beobachtungen 
von Tatſächlichem beruht, ift auch meine Überzeugung.“ 

Diefes Erklärungsprinzip oder ſyſtem, von dem Sievers ſpricht, gipfelt in der Behaup- 
tung, daß in den verſchiedenen Arten der Rumpfmuskeleinſtellung, von denen vorhin zwei Haupt- 
arten angeführt wurden, der körperliche Ausdruck der Temperamente gefunden iſt, 
nach dem die Wiſſenſchaft [don lange ſucht. Die jedermann geläufigen Begriffe des fanguini- 
ſchen, choleriſchen, melancholiſchen und phlegmatiſchen Temperaments ſind nämlich auch von 
der modernen Pſychologie nicht aufgegeben worden, obwohl die dieſen Begriffen zugrunde 
liegenden Vorſtellungen, wie z. B. das melancholiſche Temperament beſitze eine Perſon, in 
deren „Säften“ die „ſchwarze Galle“ vorwiege, natürlich längſt aufgegeben ſind. Immerhin 
ſucht die Wiſſenſchaft von jeher den Ausdruck der Temperamente in ſtändigen Eigenſchaften 
des menſchlichen Körpers, in feinem Bau, fo wie auch der berühmte Arzt des Altertums © al e- 
nus, auf den die Prägung jener Begriffe zurückgeführt wird, ſie in der ſtändigen Eigenſchaft 
der grünen oder ſchwarzen Galle des Blutes oder Schleimes ſuchte. In der Muskeltätigkeit 
und Muskeleinſtellung wurde der Ausdruck des Gemüts jedoch nicht vermutet und erſt durch 
die neue Forſchung erkannt. 

So einfach, wie der alte Galen ſich die Sache vorſtellte, iſt ſie nun allerdings nicht. Auch 
die moderne Pſychologie, die zuviel mit Apparaten und Meßinſtrumenten arbeitet und zu wenig 
auf die Schärfung der Sinne des Beobachters hinarbeitet, auch zu wenig mit dem lebenden 
Leibe operiert, kam über einige allgemeine und in ihrer Allgemeinheit ſtark lückenhafte Grund- 
ſätze nicht hinweg. So ſtellte ſie den ſicherlich richtigen Satz auf, daß bei großen Gruppen von 
Menſchen, ja ganzen Völkern und Gallen gleiche Semütseigenſchaften, Temperamente zu be- 
obachten feien, desgleichen Ähnlichkeiten im Körperbau. Bei der Charakteriſierung der Gemüts- 
eigenſchaften ſelbſt aber fehlte es an der Berückſichtigung aller ſeeliſchen Tatſachen, wie der 
einzelnen Wärme- und Gtarkegrade des Gemütslebens, der Grade feiner Tiefe und Beweglichkeit. 

Nunmehr habe ich feſtgeſtellt, daß die un veränderlichen Semütseigenſchaften 
(Temperamente) ihren Ausdruck in denjenigen Rumpfmuskeleinſtellungen finden (die Grund- 
lagen einer neuen wiſſenſchaftlichen Oiſziplin, der „Körperphyſiognomik“, habe ich in dem oben 
zitierten Buche, Teil III, dargeſtellt), die die Weichheitsgrade und Härtegrade der Stimme 
bewirken. Je höher die unveränderlich angeborene Wärme der Gemütsbewegungen eines 
Menſchen ift, deſto dunkler iſt feine Stimme; je kühler er fühlt, deſto heller. Ze ſtärker fein 
Temperament, defto härter geprägt klingt feine Stimme, je milder fein Gemüt, deſto weicher 
der Stimmklang. N 


708 Neues von ben Temperamenten und ihrer Beziehung zu Wufle und Dichtung 


Das ergibt für die Wiedergabe von Dichtungen die ſelbſtverſtändliche Forderung: je heißer 
die in einer Ton- oder Wortdichtung ausgedrückten Gefühle find, deſto dunkler muß die Stimme 
fein. Diefe dunkle Färbung kann aber nicht mit Mund und Kehle allein, ſondern nur durch die 
richtige Einſtellung der Rumpfmuskeln erreicht werden. Denn der Rumpf ift der Hauptreſonanz⸗ 
raum des menſchlichen Toninſtruments, und alle Rumpfmuskeleinſtellungen haben eine ähnliche 
Einſtellung der Kehlmuskeln und der übrigen Muskeln des Tonorgans zur natürlichen Folge. 

Dak ein Tondichter oder Wortdichter gerade z. B. der eben erwähnten dunkelweichen 
Färbung der Stimme als Ausdruck bedarf, z. B. Goethe, Mozart, Schubert, Haydn, 
Pergoleſe, Leoncavallo, Mascagni, Paleſtrina uſw., erkennt man eben 
daran, daß die Stimme ausdruckslos klingt, wenn man eine andere Nuance des Stimmtones, 
hier alfo die helle, anwendet: die ganze Dichtung verliert, wenn man fie mit der „falſchen“ 
Färbung ſpricht oder ſingt. Obendrein, und das ift für die Hygiene der Stimme äußerft wichtig, 
werden die Kehlmuskeln hierbei überanſtrengt und beginnen zu leiden. 

Die nach dieſem Prinzip gemachten Unterſuchungen haben vielfach gemütliche Gleich- 
heiten oder auch Verſchiedenheiten da konſtatiert, wo man ſie bisher nicht vermutet oder nur 
entfernt geahnt. Denn die zuverläſſige Beurteilung von Gemütseigenſchaften iſt insbeſondere 
dann feber erſchwert, wenn, wie bei Werken der Ton- und Oichtkunſt, neben dem Ausdruck 
des Rein-Gemütlichen das Künſtleriſche, der Sinn der Worte, die dramatiſchen Momente der 
etwaigen Handlung, die Charaktereigenſchaften der auftretenden Perſonen und obendrein 
irgendwelche mit dem Schaffen oder der Perfon des jeweiligen Dichters aſſoziativ verknüpfte 
Ideen und Anſchauungen verwirrend auf den Urteilenden einwirken. So hat fih z. B. heraus 
geſtellt, daß trotz der deutſchen Meiſtern wie Beethoven oder Schumann häufig nachgeſagten 
„Semütswärme“ die italieniſchen Tondichter ein heißeres Gemüͤtsleben ausdrücken als jene, 
aber eben nur im rein- gemütlichen Sinn: über künſtleriſche Elemente, über das Moment des 
künſtleriſch Wertvolleren und darum tiefer zum Herzen des Hörers Dringenden ſoll damit 
nichts geſagt fein. Das nur in dieſem Sinne in kühleren Sphären fih bewegende Tempera- 
ment von Beethoven oder Schiller, Eichendorff oder Weber ift natür- 
lich auch heißer Wallungen fähig, aber derartige Temperaturgrade, wie fie jenes heißere Tem- 
perament erreichen kann, find ihm fremd, da es regelmäßig zu einer höheren Klarheit und 
Abgeklärtheit ſtrebt. Auch diefe Klarheit darf allerdings nur auf das Rein-Gemütliche, nicht 
aber auf das Künſtleriſche und das Charakterologiſche bezogen werden, wenn ſchon ſicherlich 
Beziehungen zwiſchen dem Künſtleriſchen und Gemütlichen beſtehen. Auch die Unterſuchung 
der Volksmelodien hat die Steigerung des Wärmegrads bei den italieniſchen Melodien 
ergeben: die deutſchen, ſkandinaviſchen, engliſchen, indiſchen beſitzen bei aller Innigkeit nicht 
dieſe Wärme, die eine — vielleicht ganz äußerliche — italieniſche oder rumäniſche Volksmelo- 
die in ſich birgt. Es offenbart ſich dies, abgeſehen von den oben ſchon erwähnten Experimenten, 
in der Schnelligkeit der Tempi, in der ſich die italieniſche Melodie bewegt, in Verbindung mit 
ihrer darum notwendigen Glätte. (Man beachte auch die Neigung der Staliener, die Tempi 
der weniger heiß gefühlten Muſik, namentlich die der deutſchen Tondichter, zu überhegen!) 

Ein weiterer bisher nicht ſcharf erfaßter Unterſchied beſteht hinſichtlich der Stärke- 
grade des Fühlens. Das deutſche Temperament ſchwingt ſich nur felten zu ſolchen Stärke- 
graden auf, wie fie die Muſik Richard Wagners, Liſzts, Berlioz, Glucks, Bachs 
oder auch Mehuls kennzeichnet. Dieſe Stärke des Fühlens, die ihren Ausdruck in koloſſalen 
dynamiſchen Steigerungen des Tonſchalles, im Fortiſſimo ſucht und, abhold der glatten Melo- 
die, in gebrochenen, kantigen und übergroßen Tonſchritten fih ausdrückt, liegt dem deutſchen 
Gemüt regelmäßig ferne. Nicht ein Zufall war es, daß Richard Wagner, der Starkfühlende, 
fich zu Mehuls Werken, zu Glucks Zphigenien hingezogen fühlte. Giele ſtarke Art des Füh- 
lens habe ich in isländiſchen und däniſchen Melodien, auch in mitteleuropäiſchen 
feſtgeſtellt, ihre verhältnismäßige Seltenheit in den Ländern der deutſchen Zunge wird durch 


Neues von ben Temperamenten und ihrer Beziehung zu Mufit und Oidtung l 109 


die Miſchung der altnordiſchen (keltiſchen 7) mit den deutſchen Stämmen und dem zeitweiligen 
Hervorbrechen des ſtarken Semperamentes inmitten des ſchwächeren, milderen zu erklären fein, 
Gluck z. B. war ſeiner Abſtammung nach ein Angehöriger des oberpfälziſchen Stammes, unter 
dem ich auch heute noch nach Sprachklang und „Körperphyſiognomie“ Stark fühlende feſtſtellte. 

Alle dieſe für die Raſſenfrage und für die Völkerpſychologie denkbarſt bedeutſamen 
Feſtſtellungen nahmen ihren Ausgang von der muſikaliſchen und der redenden Kunſt. Auf 
dieſem Gebiete der Beziehungen zwiſchen Gemüt, Körper, Stimme und Dichtung findet geradezu 
eine Vermählung von Kunſt und Wiſſenſchaft ſtatt. Der Sänger, der, wie Fofeph Rutz, nach 
dem richtigen „Ausdrucksſtimmtone“ ſuchte, der fand damit ein geradezu einzig daſtehendes 
ſicheres Mittel der Raſſenforſchung wie andererſeits die Hilfe, die der Künſtler in feinem ſchwie⸗ 
rigen Berufe ſo nötig hat: während nämlich bisher jeder Künſtler, Sänger oder Schauſpieler, 
ohne Ausnahme, ſo hoch er auch ſtand, eine Reihe von Werken nicht wirkſam wiedergeben konnte, 
weil er immer den feinem Temperament zugehörigen, nicht aber den dem anderen 
Temperamente des betreffenden Dichters zugehörigen Stimmton anwendete, ift nunmehr 
der Schrecken der „nicht liegenden“ Werke beſeitigt. Der Künſtler braucht nur die für eine Un- 
zahl von Werken bereits feſtgeſtellte oder auch erft durch ihn ſelbſt feſtzuſtellende „Ausdrucks- 
haltung“ und „Ausdrucksſtimme“ anzuwenden. . 

So ſieht ſich gerade der Künſtler, der das ſchwierigſte Inſtrument, die menſchliche Stimme, 
zu ſpielen verſtehen ſoll, endlich in der Lage, den häufig widerſtrebenden Organismus nach feſten 
Anhaltspunkten zu behandeln. 

Die neuen Entdeckungen greifen übrigens noch viel weiter, als bereits angedeutet und 
hier nur mehr in Kürze verraten fei: innerhalb der angeborenen und unveräußerlichen Gemiits- 
anlage gibt es noch mannigfache Verſchiedenheiten der Gemütseigenſchaften, fo bezüglich der 
Wärme, der Beweglichkeit, was ſich ebenfalls in der Muſik und der Sprachmelodie und dem 
Rhythmus von Oichtungen ausdrückt. Die wärmere Art der Gemũtsbewegungen bei jedem 
Temperamente bevorzugt nämlich zu ihrem Ausdruck die tieferen Tonlagen der Ton- 
ſkala, die kältere die höheren Lagen, ohne daß natürlich eine völlige Beſchränkung auf dieſe 
Lagen ſtattfände. Die Bevorzugung der höheren Tonlagen gewahren wir z. B. bei Mozart, 
in ſämtlichen Werken, bei Beethoven — der in manchen Werken ein wärmeres, in manchen 
ein kühleres Gefühlsleben ausdrückt — z. B. in den wegen ihrer exorbitanten Höhe bekannten 
Werken: Neunte Symphonie, Missa solemnis und Fidelio. Richard Wagner drückt in „Tann⸗ 
häuſer“, „Triſtan und Zfolde“, dem „Fliegenden Holländer“ wärmere Gemütsbewegungen 
aus als im „Ring“, in „Lohengrin“, den „Meiſterſingern“, „Parſifal“, wie ſich deutlich dem 
Gefühl unmittelbar und aus der Vergleichung der Tonlinien ergibt. 

Der Lefer probiere ſelbſt, um fih zu überzeugen, eine Stelle aus einem Werke Go e- 
thes in tieferer Tonlage feines Stimmumfangs, fei er Tenor oder Baß, Sopran, Alt, 
und dann in höherer zu ſprechen: er wird alsbald bemerken, daß nur die Wiedergabe in 
höherer Tonlage unter Verlegung der Akzente in die Höhe natürlich und wirkſam klingt. 
Die andre Art klingt parodiſtiſch und dumpf. Heine dagegen oder Eichendorff oder 
Schillers Wallenſtein z. B. ſind in der tieferen Tonlage zu ſprechen, wenn die Wirkung 
eine künſtleriſche und ausdrucksvolle fein foll. — 

Oas ſind nur wenige Beiſpiele, die, wenn auch nicht vielleicht gleich überzeugend, ſo 
doch imſtande ſind, die Aufmerkſamkeit auf dieſe Fragen zu lenken und zur Beſchäftigung mit 
der oben genannten Literatur anzuregen. Denn je mehr die bereits gewonnenen Rejultate 
auf ihre Richtigkeit hin nachgeprüft, je größer die Zahl derer wird, die ſich durch eigene 
Beobachtung überzeugen, deſto leichter wird die Menge des Neuen, die auf den erſten Blick 
verblüffend erſcheinen mag, Eingang finden und der anfängliche Widerſpruch, den manche 


Behauptungen finden werden, ſich in Zuſtimmung verwandeln. Dr. Ottmar Rutz 


e 


Literatur und Katholizismus 


; ker bemerkenswerteſte Vorkämpfer jener katholiſch-literariſchen Gruppe, die bei 
allem Feſthalten an ihrer religiöfen Überzeugung dennoch und grade darum eine 
energiſche Beteiligung am modernen Geiſtesleben verlangt, hat eine neue Pro- 
grammſchrift veröffentlicht (Die Wiedergeburt der Dichtung aus dem religiöfen Erlebnis. Ge- 
danken zur Pſychologie des katholiſchen Literaturſchaffens. Von Karl Muth. Kempten 1909, 
J. Köſel; 172 S.). Dieſe Schrift verdient Beachtung. 

Es iſt jedenfalls das Gehaltvollſte, was Muth bisher in dieſer Frage geäußert hat. 
Man fpürt dahinter männliche Reife, gründliches Nachdenken, reiche Erfahrung. 

Muths erſte Schrift (1898) warf zunächſt die Frage auf: „Steht die katholiſche Belle- 
triſtik auf der Höhe der Zeit?“ Unter dem Decknamen Veremundus griff er ein Jahr danach 
(1899) ſchärfer zu und beſprach ausführlich „die literariſchen Aufgaben der deutſchen Ratho- 
liken“. Nach ſo ſuggeſtiv wirkenden Schriften kam die Frage in lebhafte Erörterung; es erſtand 
im katholiſchen Literatur- Ghetto Leben und Bewegung. Und fo wuchs denn, nach ſorgfältigen 
Vorbereitungen, Muths Monatsſchrift „Hochland“ (Herbft 1903) organiſch aus dieſer Be- 
wegung heraus. 

Der Herausgeber des „Hochland“ hatte Beſonnenheit genug, ſich nicht auf die fhòn- 
geiſtige Literatur einzuſchränken. „Die Literatur“, ſchreibt er in dieſer neuen Schrift (S. 14), 
„iſt von dem übrigen Geiſtesleben nicht getrennt zu denken: iſt ſie doch erſt deſſen lebendigſter 
und konkreteſter Ausdruck.“ Es galt alfo, ein Organ zu gründen, „das die geiſtige Sehkraft 
ſchärft, den Stoff und das Wiſſen der Welt vor unfren Blicken ausbreitet, die ſeeliſchen Hori- 
zonte erweitert, die Sicherheit des Verſtehens erhöht und ſo die Vorausſetzungen ſchafft, das 
Leben unſrer Zeit, die Kriſen und Probleme des heutigen Menſchen nicht nur theoretiſch zu er- 
faſſen, ſondern bis zu einem gewiſſen Grade ſeeliſch zu verſtehen und verſtehend mitzuwirken.“ 
So begründet er in dieſer neuen Schrift rückblickend feine Abſicht. Bei alledem war ihm das 
Chriſtliche die ſelbſtverſtändliche Grundlage, wie er im Programm deutlich betonte; und auch 
in der neuen Schrift heißt es mehrfach wiederum unmißverſtändlich und unverwiſcht: „Wenn 
ich Chriſtentum fage, fo fage ich Katholizismus“ (S. J. Daß ihm aber auch Mitarbeiter der 
andren Konfeſſion willkommen waren, ſoweit ihre Perſönlichkeit und ihr Lebenswerk dieſem 
Programm nicht widerſprachen, das war keine Verleugnung ſeiner Stellung, ſondern eine 
Verſtärkung: eben durch den Umſtand, daß ein charaktervoller, aber auch weitherziger Katholik 
die Führung hat. 

Dieſe Gattung der Charaktervollen und doch Weitherzigen muß ſich in unſren Parteien 
und Ronfeffionen erſt wieder ausbilden. Sie werden keinen Miſchmaſch anſtreben; fie werden 
keinem Eklektizismus huldigen; ſie werden aber mit einem gleichſam ſeeliſchen Tiefblick durch 


Auf ber Warte 711 


die notwendigen Formen hindurchſchauen in den reinmenſchlichen Untergrund, in den teligiö- 
fen, ethiſchen und äſthetiſchen Grundton, der eines Menſchen Schaffen beſtimmt. 

Gleichwohl läßt Muths Arbeitsplan an deutlicher Begrenzung nichts zu wünſchen 
übrig: er will zuvörderſt und obenan feine katholiſchen Glaubensbrüder anregen und zur Be- 
tätigung ermuntern. Zur Betätigung poſitiver Art, nicht zur Polemik. „Eine aus katholiſchem 
Get und Empfinden herausgewachſene Literatur von künſtleriſcher Vollwertigkeit herbei 
zuführen, dem Katholizismus als Weltanſchauung feine erobernde Kraft auch auf dem Gebiete 
der Oichtung und Kunſt zu ſichern, das iſt der ausgeſprochene Zweck der Veremundusſchrift 
geweſen“ (S. 27). 

Es galt demnach einen Kampf mit doppelter Front: es galt die Literaturenge der Ratho- 
liten zu erweitern und diefe Gruppen in die modern -literariſchen Lebenswirbel hineinzuwerfen; 
es galt aber auch, dem chriſtlich-katholiſchen Standpunkt treu zu bleiben und bei aller Züh- 
lung mit den Modernen nicht mit den Modernen zuſammenzufließen. | 

Karl Muth führt diefe wichtige und nicht leichte Dpppelftellung mit einer beiwunderns- 
wert zähen und umſichtigen Taktik durch. Sein „Hochland“ iſt ein vornehmes und gehaltvolles 
Organ, gleichviel wie fih der einzelne Zuſchauer zu einzelnen Veröffentlichungen ſtellen mag. 
Karl Muth hat das Verdienſt, mit der Geſinnungskritik, die ſich durch den Kulturkampf in fei- 
nem Lager eingeniſtet hatte, gebrochen und wieder äſthetiſche Maßſtäbe zur Geltung gebracht 
zu haben. Muth hat wirkſam davor gewarnt, Rhetorik mit Poeſie zu verwechſeln; er hat auf 
die geſtaltende Kraft als auf die Grundlage alles dichteriſchen Schaffens den entſcheidenden 
Nachdruck gelegt. Kurz, das Wirken Karl Muths fügt ſich den Leiſtungen jener Männer ein, 
die aus den einengenden Schlagworten der zerriſſenen Zeit wieder in eine reinmenſchliche 
und reinkünſtleriſche Aſthetit emportrachten. In dieſer Hinſicht ift beſonders das Kapitel 
„Schöpferiihe Kritik“ (S. 107 ff.) eine beachtenswerte nochmalige Prägung des Muthſchen 
Standpunktes. 

Und nun iſt es auch für den außerhalb dieſer Kämpfe ſtehenden Literaturfreund überaus 
wertvoll und erfreulich, daß auch Muths äſthetiſche Entwicklung beim weimariſchen Zdealis⸗ 
mus landet. Natürlich mit Einſchränkungen, wie ſie ſich aus ſeinem Standpunkt von ſelbſt 
ergeben. Aber dieſe Einſchränkungen ſind belanglos gegenüber der deutlich empfundenen und 
klar ausgeſprochenen Notwendigkeit, daß wir in eine völligere und tiefer greifende Ethik und 
Aſthetik vordringen müſſen, als fie uns Materialismus, Naturalismus und andere ſubjektiviſche 
Arten, die Welt zerftüdelt zu betrachten, liefern konnten. Und fo dürfen wir diefe neue Schrift, 
trotz ihrer beſondren Färbung und ihres begrenzten Arbeitsgebietes, als einen willkommenen 
Bundesgenoſſen betrachten. Keiner von uns meint die klaſſiſche Epoche nach ihrem hiſtoriſchen 
Material nebſt Anekdoten und Tatſachenkram: jeder von uns meint vielmehr das ſeeliſche 
Erlebnis, die ſeeliſche Wiedergeburt, aus der ſich dann die neuen klaſſiſchen 
Formen beſtimmen, wie ſie ſich damals aus einem analogen ſeeliſchen Erlebnis beſtimmt haben. 
In dieſem Sinne iſt dem prachtvoll prägnanten Kapitel „Klaſſiſch oder romantiſch?“ (S. 78 ff.) 


faft Wort für Wort beizuſtimmen: es empfiehlt den Anſchluß an den klaſſiſchen Idealismus. 


Auf einzelnes in den zwölf Kapiteln dieſer Schrift kann hier nicht eingegangen werden. 
Es geniigt uns, die gemeinſame Marſchrichtung feſtſtellen zu dürfen. Polemiſches konnte dabei 
von Muth nicht vermieden werden, da er ſelber von „Ultrafchriftitelleen“ im eigenen Lager zur 
Polemik herausgefordert wurde. Man leſe nach, was der Verfaſſer über die Zeitſchrift „Gral“ 
und Richard von Kralik (S. 134 ff.) zu ſagen hat. 

Muth faßt ſchließlich fein Programm in folgende Sätze zuſammen: „Ich will kein Wort 
mehr verlieren über jene törichte, ich weiß nicht von wem aufgebrachte Meinung, die Ratho- 
liten könnten ſich je literariſch fo emanzipieren, daß das akatholiſche Literaturſchaffen nur ge- 
legentlich, aushilfsweiſe oder höchftens als zeitweilige Anregung in Betracht käme. Es ift ſchmerz· 
lich genug, daß eine ſolche Meinung nicht ſofort unter einem allgemeinen Gelächter begraben 


712 Auf der Warte 


wurde. Trotzdem ſtehe ich nicht an, auch eine aus katholiſcher Lebensauffaffung erwachſene 
Dichtung zu fordern. Und ich fordere fie, wie vor zehn Jahren, fo auch heute, nicht weil dies 
unſrem Selbſtgefuͤhl ſchmeichelt, nicht weil ſich ein praktiſches Bedürfnis danach regt, nicht aus 
dem Ehrgeiz einer Parteiſtimmung heraus, ja nicht einmal im Namen der dichteriſchen Frei- 
heit, die ohnehin kein Vernünftiger beſchränken wird: ich fordere fie allein aus einer hö he- 
ren Auffaſſung der Literatur und vor allem im Zntereſſe des geiſtigen 
Lebens ſelber, weil die Erkenntnis und Zuverſicht dieſes Lebens fidh aus einer Wieder- 
holung in der Oichtung erhöht und die in der Wirklichkeit oft gebrochene Lebensein heit 
im Spiegel der Kunſt wiederhergeſtellt und ſichtbar wird. Ich fordere ſie aber auch aus dem 
Begriff und im Zntereſſe des nationalen Literaturlebens. Eine wirklich natio- 
nale Literatur muß alles, was nur irgendwie ſtark und kräftig im Volke lebt, ohne Rüdficht 
auf Parteigegenſätze, in fih ſchließen. Nicht nur die Stammeseigentümlichkeiten, nicht nur die 
Verſchiedenheiten der Stände und Klaſſen, noch die hiſtoriſch gearteten Beſonderheiten des 
Volkstums müſſen darin ihre Vertretung finden. Ebenſo wichtig, ja vielleicht noch wichtiger 
find die großen geiftigen Unterſchiede der religiöfen, der kirchlichen Bekenntniſſe. In dieſen Unter- 
ſchieden offenbart und bewährt fidh oft gradezu das ureigenſte Leben einer Nation. Eine Litera- 
tur, in der fie nicht Widerhall und Ausdruck finden, wird daher niemals eine nationale in voll- 
kommenem Sinne heißen können. Nur ſollen die einzelnen Gruppen ſich nicht ausſchließlich 
aus der Befangenheit der Gegenſätze heraus betätigen, ſondern ihre Eigenart rein und frei ent- 
wickeln. So allein wird dem Begriffe der Nationalliteratur auch von dieſer Seite her Genũge 
geleiſtet und dem Intereſſe der Geſamtheit gedient fein. Nicht aus dem Streit und Kampf der 
Gegenſätze, fondern aus ihrer Überwindung in dem religiöfen Erlebnis, deffen letzter Inhalt 
die Liebe ift, wird eine große Dichtung in der Zukunft möglich fein.“ 

Die Schrift, die mit dieſen bedeutſamen Sätzen ſchließt, wird nicht verfehlen, Eindruck 
zu machen. 

Und in der Tat, man erwäge einmal bei Betrachtung der geſamten Lage folgendes. 
Die Neuzeit hat weitherzig das Judentum als gleichberechtigten Mitarbeiter an europäiſcher 
Kultur aufgenommen. Wir haben aber bloß wenig über eine halbe Million Zuden in Deutfch- 
land, dahingegen 18 Millionen Katholiken. Wo bleibt nun neben der ſtarken und auffallenden 
Mitarbeit des Judentums an deutſcher Literatur der entſprechend ſichtbare Einfluß der litera- 
riſchen Katholiken? 

Es handelt ſich nicht um die Herausarbeitung einer konfeſſionell-politiſchen Tendenz; 
es wird ſich vielmehr um die Beiſteuer der Stimmungs- und ſeeliſchen Gehaltswerte handeln, 
die fidh in den einzelnen Gruppen gleichſam in Sonderarbeit herausgeſtaltet haben. Eine Be- 
trachtung unter ſolchen Geſichtspunkten kann die Spaltung in Konfeſſionen und Parteien als 
eine Art Arbeitsteilung auffaſſen; ihr richtiges Zuſammenwirken ergibt zuletzt Reichtum, nicht 
Reibung; wir find wie die Maſchinenteile einer planvollen Maſchine, wie die vielfältigen Aſte 
eines gleichwohl organiſch einheitlichen Baumes. Herrſcht eine Gruppe einſeitig vor, fo ergeben 
ſich ungeſunde Zuſtände, die ſich in Gegenſtößen zu löſen verſuchen. Aber dies beweiſt nur, 
daß unfer aller wahrer Wunſch und innerſtes Bedürfnis zuletzt doch immer wieder harmoni- 
ſches Ineinanderarbeiten der einzelnen Teile ift, weil nur dann der Geſamtkörper gedeiht. 
e Die Frage, die von Karl Muth hier behandelt wird, geht demnach weiter, als es zunächſt 
den Anſchein haben mag: fie geht in weiterem Sinne uns alle an. Unter gewiſſen Einfeitig- 
keiten der letzten Jahrzehnte iſt die Literatur gleichſam entgöttert worden; das Animaliſche oder 
das pſychologiſch Zerſetzende geriet in Vorherrſchaft. Eine Wiedergeburt, d. h. eine energiſchere 
Geſtaltung der Edelkräfte des höheren Menſchen, wird gegenüber den üblichen Schilderun- 
gen des animaliſchen Trieblebens zu erwarten fein. Eine Wiedergeburt ift aber keine Wieder- 
holung oder Steigerung alter Formen, freilich auch keine Verwerfung des Alten: vielmehr 
ift es ein ſeeliſches Erleben von innen heraus, das fidh ver möge der ihm innewohnenden fuggefti- 


Auf ber Warte 713 


ven Macht und Wärme als geſtaltungsſtark und lebenweckend erweiſt, und inſtinktiv die wirt- 
ſamen Formen findet. Denn Wirkung iſt das Entſcheidende, die tiefere Wirkung auf die Seele 
der Zeit; und zwar von einem Standort aus, der von dem Durcheinander der Tagesmeinungen 
nicht erreichbar ift, wie das Schiller Iden in feinen äſthetiſchen Briefen überzeugend dargetan 
hat. Es gilt alfo vor allem, dieſen höheren Standort zu erringen; er wird uns vor Gubjettivis- 
mus ebenfo ſchützen wie vor Moden und Senſationen; er wird uns die Überlieferungen und den 
Geiſt der Nation achten, das Weſen großer Führer und Meifter begreifen lehren, wird uns 
den Sinn und das Ziel des Erdendaſeins aus den Lehren und Offenbarungen religiöſer und 
künſtleriſcher Art ahnen laffen. Damit finden wir aus Willkür, Impreſſionismus und Ver- 
einzelung heraus wieder den Anſchluß an den großen Lebensſtrom, der durch die ganze Menſch⸗ 
heit fließt. 

Dies ift es, was unſre klaſſiſche Epoche ausgezeichnet hat: fie ſuchte die Berührung mit 
dem Lebensnerv der großen Tradition. Sie ſuchte — in Klopſtock, Herder, Novalis, Schleier 
macher einerſeits, in Winckelmann, Schiller, Hölderlin, Humboldt, Goethe andrerſeits — die 
Lebenserſcheinungen Olympia und Golgatha in einer neuen Syntheſe zum Ausgleich zu brin⸗ 
gen und Kreuz und Nofe zu verſöhnen. Es ift ein allmenſchliches und innermenſchliches Pro- 
blem. Immer wird der Durſt nach materiellen Lebensfreuden (Rofe) und das Bedürfnis nach 
einem geiſtigen Freiwerden und Überwinden (Kreuz) in jedem Menſchen und in der ganzen 
Menſchheit feinen Kampf ausfechten und feine Verſöhnung ſuchen. Der Materialift bleibt 
eng im Oiesſeits ſtecken, der abſtrakte Idealiſt verſchanzt fih im geiſtigen Zenſeits: der taf- 
ſiſche Idealismus aber erſtrebt den edlen Ausgleich. 

Hier nun ſteht der Katholik Muth, wie ich Iden oben ſagte, gelegentlich noch in einer lei- 
fen Befangenheit oder folgt wenigſtens einer reviſionsbedürftigen Auffaſſung feiner Kreiſe hin- 
ſichtlich der „religiöfen Verblaßtheit“ des achtzehnten Jahrhunderts und der klaſſiſchen Epoche. 
genes geiſtig bedeutende Jahrhundert mag theologiſch unter dem Einfluß der Aufklärung 
verblaßten Begriffen gehuldigt haben; aber die Worte religiös und theologiſch decken ſich nicht; 
der Aufklärung tritt ein ausgleichendes myſtiſches oder doch verinnerlichtes und tatfrohes Herzens- 
chriſtentum gegenüber. Denn jenes Jahrhundert ſtand unter den Nachwirkungen eines Spener, 
Zinzendorf und Franke; genau in ſeiner Mitte ſtarb der gewaltige Bach; es lebten, gleichzeitig 
mit Kant, ein Swedenborg, Lavater, Jung -Stilling, Claudius, Hamann, Klopſtock, Herder, 
Peſtalozzi — und viele andre Geiſter, die gleichſam einen unterirdiſchen religiöfen Lebensſtrom 
darſtellten. Dieſe oder ähnliche evangeliſch geſtimmte Erzieher von damals und heute, z. B. 
Chamberlain, mit dem Worte „Rationalismus“ zu beanſtanden (wozu z. B. Meyenberg in 
feinen gleichwohl ſchönen und gehaltvollen „Wartburgfahrten“ neigt), und fie ſachlich und ſprach⸗ 
lich vom Wort Chriſtentum abzutrennen oder doch febr an die Grenze zu drücken: das ift nicht 
angängig. „In meines Vaters Hauſe ſind viele Wohnungen“: eine davon iſt auch der klaſſiſche 
Sdealismus. Oöllinger geht in der Verkennung der Tatſachen fogar fo weit, den unhaltbaren 
Satz auszuſprechen (Muths Schrift S. 49, Anmerkung): „Die ganze deutſche Literatur feit 
Leſſing ift der katholiſchen Literatur und dem Chriſtentum ganz entfremdet.“ Solche unbeil- 
vollen Sätze eines Gelehrten, der nicht durch die Literaturformen in den ſeeliſchen Grund zu 
ſchauen vermochte, bleiben an der Oberfläche und ſind mit ſchuld an der beklagenswerten, 
trotzig und arbeitslos verharrenden Abſeitsſtellung der literariſchen Katholiken. 

Wirkt hier der mittelalterliche Traum von der einen erdumſpannenden Hierarchie läb- 
mend nach? Können fie es nicht aufgeben, uns abgezweigte Brüder als Ketzer oder Rationa- 
liſten oder Halbchriſten oder Unchriſten zu empfinden? Indeſſen möge man doch erwägen: 
der mittelalterliche Traum von einem einzigen römifch-deutfchen Kaiſertum mußte ja gleich- 
falls vielfältigen modernen Formen weichen. Warum ſoll nicht ein moderner Katholizismus 
zu dem analogen Entſchluß durchdringen, einzuſehen, daß jene Spaltung nicht als unmoraliſch 
gewertet werden follte, ſondern ein organiſcher Vorgang war? Könnte ſich nicht 


714 Auf der Warte 


dann nach und nach ſtatt der lange verbitternden Auffaſſung böswilliger Spaltung die neue 
Auffaſſung einer Arbeitsteilung ergeben? 

Das würde Segen bringen, denn es ermöglichte uns modernen Oeutſchen ein unbe- 
fangenes Zuſammenwirken im Hinblick auf die gemeinſame Wurzel und im Hinblick auf den 
gemeinſamen Wipfel, den wir auseinanderſtehenden Aſte desſelben Stammes miteinander 
bilden. 

Was aber den kommenden Dichter anbetrifft, der auch den Seelen der deutſchen Ratho- 
liken etwas wird zu ſagen haben, ſo werden in ſeinem Bannkreis die konfeſſionellen Bitterkeiten 
und andere Feindſchaften ſchweigen. Denn es ift zu vermuten, daß er mit den Stimmungs- 
und Gehaltswerten deſſen, aus dem beide Konfeſſionen Kräfte beziehen, getränkt ſein wird. 
Während in der äußeren Welt und in den Sphären des Intellekts Theorien, Nationen, Raifen, 
Konfeſſionen, Weltmärkte in Wettbewerb und Spannung ſtehen, wird dort in einem tieferen 
Seelenring Entſpannung ſtattfinden, Entpanzerung vor den gemeinſamen ſeeliſchen Zdealen, 
die wir alle in unſren ſtillſten Stunden als Stimmen eines uͤbermenſchlichen Reiches in uns 
vernehmen. F. Lienhard 


ZS 


Ein Nationaldenkmal für Bismarck am Rhein? 


zb gerade unſere Zeit des Schwankens und der Schwäche berechtigt iſt, Deutſchlands 
Großkanzler ein ragendes Denkmal zu errichten, kann fepe bezweifelt werden. 
lUAberdies bewerten wir heute Steinmale febr gering, und mit Recht! Wir bekamen 
zuviel davon aufgedrängt. Das überaus geringe Intereſſe für das trotz allem grandioſe Leip- 
ziger Völkerſchlachtdenkmal follte genug fagen. Nur ein Einwurf gilt: Lederers Bismarckdenk⸗ 
mal in Hamburg. Das wirkt allerdings wie eine Offenbarung, überwältigend groß und ein- 
dringlich; iſt's einmal drin im Menſchen, bleibt's in ihm. Und dod, es ift einzig in Oeutſchland. 
Mär’s nicht beffer, es bliebe fo? Und wir lernten aus Bismarck, lernten an feinen Großtaten 
und — Fehlern? Wir verſenkten uns in ſein Vermächtnis an das deutſche Volk, vertieften 
uns in ſeine „Gedanken und Erinnerungen“, an die auch unſere Jugend geführt werden follte? 
Ein bleibendes Mal im tiefſten Herzen eines ganzen großen Volkes iſt der Größe allein würdig. 

Wollte man aber doch ein großes Nationaldenkmal „unſerm Bismarck“ errichten, ſo 
müßte es der Wille der ganzen Nation ſein. Ganz Oeutſchland müßte ſprechen und handeln, 
ſo wie es ſich für Zeppelin entſchieden hat. 

Und nun höre man ſtaunend: 

1. Kölner Blätter veröffentlichten eine Zuſchrift des Abgeordneten Beumer (Düſſel- 
dorf), nach welcher Lederer erklärt haben foll, die Eliſenhöhe bei Bingerbrüd fei hervorragend 
geeignet für ein geplantes Bismarck -Denkmal. 

2. Die Rheiniſch-Weſtfäliſche Zeitung in Effen (Ruhr) behauptete das Gegenteil: Pro- 
feſſor Lederer bezeichne mit Künſtlern wie Schilling und Bruno Schmitz und ebenſo mit Ge- 
heimrat Bürklin (Narlsruhe) jene Eliſenhöhe als gänzlich ungeeignet. 

A Der große Gedanke, ein Bismarck-Nationaldenkmal auf der Eliſenhöhe zu errichten, 
ijt ganz merkwürdig entſtanden. Ein Bingerbrüder Hotelbeſitzer weiß als Vorſitzender der 
Nationalliberalen Vereinigung feines Ortes den nationalliberalen Parteivorſitzenden fürs 
Rheinland zu gewinnen. Man macht unter fidh aus, eben die Elifenhöhe ift der einzig geeignete 
Denkmalsplatz. 

4. In einer Kölner Sitzung des Denkmals ausſchuſſes wurde behauptet, eine große Zahl 
namhafter Sünftler und Kunſtkenner hätten den ganzen Rhein bereiſt und tatfächli die Eliſen⸗ 
höhe die befte Denkmalsſtelle genannt. 


Auf dee Warte 715 


BE? 5. Bei der Ausſchußſitzung vom 6. Mai d. 3. in Godesberg wird dieſe Behauptung 
widerrufen. Man erklärt, daß nur einige Künſtler auf die Eliſenhöhe geführt wurden und alfo 
nur dieſen Ort beſichtigt hätten. 

6. Die bewußte Eliſenhöhe iſt ein Berghang, den ein Rangierbahnhof mit Lärm um- 
toft und mit Ruß beräuchert. Es gibt tatſächlich bedeutend ſchönere Plätze am Rhein. 

Oer allerſchärfſte Proteſt iſt gegen dieſe mehr als ſeltſame Geheimniskrämerei am Platz. 
Die Sache iſt doch zu groß, um als die Angelegenheit eines Verſchönerungsvereins oder einer 
Partei abgetan werden zu dürfen, F. Sch. 


Zi 
Friedensſchutz 


i ser Vortrag, den am 28. April d. 3. der franzöſiſche Friedensapoſtel Baron d' E ft ou r- 
nelles de Conſtant zu Berlin auf Einladung des „Zentralkomitees für eine 
Annäherung zwiſchen Oeutſchland und Frankreich“ gehalten hat, ift jetzt in deut- 
Ge a erſchienen (Berlin 1909, L. Simion Nachf.). Der Gedanke an, die franzöfifch- 
deutſche Annäherung als Grundlage des Weltfriedens“ wird an den meiſten Stellen nach wie 
vor ein Lächeln über den Idealismus auslöſen, der ſich an der Macht der Tatſachen, zumal an 
der Verantwortlichkeit der Staatenführer, brechen müſſe. Doch wer ſich auf Tatſachen beruft, 
muß diefe auch kennen und würdigen. Daran laffen es umgekehrt unſere „Idealiſten“ nicht feb- 
len. „Man ſchätzt bei den menſchlichen Schwierigkeiten“ — ſagt d' Eſtournelles — „die Wit- 
wirkung der freiwilligen Initiativkräfte niemals genügend hoch; man zieht fie wohl gar nicht 
in Rechnung, während doch gar manches Mal die Erfahrung und die Geſchichte uns lehren, 
daß ſie es waren, die alles gerettet haben.“ 

Aberraſchend iſt in dieſer Beziehung ein ähnlicher Vortrag, den vor einigen Jahren der ameri- 
kaniſche Friedensapoſtel Andrew Carnegie als Rektor der ſchottiſchen Univerfität St. Andrews 
gehalten hat (Orud der deutſchen Überſetzung ebenda 1907). „Für das Internationale Schieds- 
gericht“ ſetzte ſich der Redner mit einer beſonderen Betonung nicht der ſittlichen Forderungen, 
ſondern der hiſtoriſchen Tatſachen ein. Als noch Untundiger wird man beinahe verblüfft durch 
den Nachweis der geſchichtlichen Vergangenheit dieſer Beſtrebungen, die derart lediglich als 
ein weiterer Schritt nach vielen bisherigen, dem einen Ziele zuſtrebenden hiſtoriſchen Schrit- 
ten erſcheinen. So ſteht die Macht der Tatſachen wiederum auf Sdealiftenfeite. Auch der „Mittel- 
europäͤiſche Wirtſchaftsverband“, der vor kurzem in Berlin tagte, ift ein Stüd der Tatſachen 
und hält ſich von vornherein an Ziele, die von weiteren Fernen, wie z. B. Zollvereinen, ab- 
ſehen. Seine Seele ift der Nationalökonom Profeſſor Julius Wolf (ber „mitteleuropäiſche 
Wolf“), während die Seele des deutſchen Anteiles an der ,,Conciliation internationale“ der 
Aſtronom Profeſſor Wilhelm Foerſter (der „ethiſche Foerſter“) ift, der auch jene bel- 
den Vorträge deutſch überſetzt hat. Ein Vortrag von ihm in der Verſammlung dieſer „Con- 
oĩliation zu Paris am 24. März d. J. war gegen die „beiden ſchrecklichſten Feinde des Menfchen- 
geſchlechtes: Lüge und Gewalttat“ gerichtet. — Man ſieht aus alledem auch leicht, daß es fid 
hier um etwas Umfaſſenderes und Poſitiveres handelt als bloß um eine Bekämpfung des 
Krieges. 

Nur ſcheinbar iſt es eine Abſchweifung, wenn wir hier einſchalten, daß auch im inneren 
nationalen Leben einige unſerer Friedensbeſtrebungen Analogien zu denen im internatio- 
nalen Leben darbieten. So der „Lärmſchutzverband“ — wenigſtens durch feine neuerliche Weiſe, 
gegen Lärm durch Verbreitung des Wortes „Ruhe iſt vornehm“ zu wirken. Und während in 
den Erörterungen über die Münchener Galerien ein Konkurrenzkampf der Berliner Galerien 
befürchtet war, machte gerade deren Leiter Wilhelm Bode darauf aufmerkſam, wie nahe ſtatt 
deſſen ein Zuſammenwirken der einen mit der anderen liegt. 


716 Auf der Warte 


Aber werden durch ſolche Umgebungen des Kampfes nicht Energien geſchwächt? Nein: 
vielmehr werden durch fie nur Hemmniſſe beſeitigt, an welchen ſich die Energien abniigen, 
die zur Überwindung der Natur, zum fachlichen Hatt des perſönlichen Kampfes nötig find. — 
Oder wird nicht das Vaterland vernachläſſigt? „Pro patria per orbis concordiam“, „fürs 
Vaterland durch die Eintracht der Welt“: fo die Oeviſe der „Conciliation“! Alſo der alte Ge- 
danke, daß ein Zuſammengehen der Nationen ihre Beſonderheiten fördert, der übrigens längſt 
durch die katholiſche Kirche verwirklicht iſt. 

So wird der Friede, wenn wir ihn ſchuͤtzen, auch wieder uns ſchützen. Dies der dop- 
pelte „Friedensſchutz“. Dr. Hans Schmidkunz 


Wa 
Die Natur-Operette 


Ach nur 

File Natur 

Hatte ſie 

Spmpathle! 
fingt der Tenor im „Luſtigen Krieg“. ... Aus Thüringen kommt die Kunde einer — glänzen- 
den Idee. Dort wird demnächſt die famoſe Pflanze einer Naturoperette aufgehen. Die Natur- 
theater haben den Schaden angerichtet. Fest greift die Seuche um ſich, und nun kommt auch 
noch der luftige Theaterdirektor daher und brüllt: Ach was Tragödie! Etwas Feſches muß 
es ſein! 

So geſchehen im zwanzigſten Jahrhundert; doch keineswegs in der international galici- 
ſchen Rummelbummelſtadt Wiesbaden, ſondern im Herzen Oeutſchlands, im ſtillen Thüringer- 
land, in der Nähe Ilmenaus, auf dem klaſſiſchen Boden deutſcher Dichterwürde. 

Man möchte über all die dummen Geſchmackloſigkeiten, die inmitten unſres Kultur- 
lebens immer wieder aufplagen wie Blaſen im Brei, mit einem Lachen hinweggehen. Aber 
es geht nicht. Der Blddfinn wächſt und wächſt. Mit dem Gåen iſt's nicht bloß getan. Man muß 
auch jäten. Welche wunderbaren Wandlungen hat doch der Begriff Theater in den letzten 
ſechzig, ſiebzig Jahren durchgemacht! Gegen das alte Schema erhob fih die Idee des Geſamt- 
kunſtwerks, die Vereinigung von Wort und Mufit, die Heranziehung einer glänzenden Aus- 
ſtattung innerhalb des Bühnenmöglichen zur Erweckung der Fllufion — das erhabene Lebens- 
werk Richard Wagners. Dann die Meininger mit ihrem Naturalismus. Gleichzeitig mit Wag- 
ner in völliger Isolierung und Verkennung der anſpruchsvollen Aſthetik des Geſamtkunſtwerkes 
die vollſtändigſte Abtötung der Illuſion, die roheſte Zerſtörung aller künſtleriſchen Geſetzmäßig- 
keit. Die Meininger ſchleppten die Natur auf die Bühne herein. 

Heute find wir glücklich fo weit, die Meininger — bloß umgekehrt — nachzumachen. 
Wir ſchleppen das Theater in die Natur. Welcher Fehler der größere iſt, läßt ſich ſchwer ſagen. 
In der bildenden Kunſt find wir uns über die Grenzen der äſthetiſchen Möglichkeiten ungleich 
beſſer klar. Wir wiſſen, daß das Panoramenbild mit den wirklichen Kohlköpfen im Vorder- 
grund für künſtleriſche Anſprüche außer Oiskuſſion ſteht. Wir wiſſen auch, daß man z. B. einer 
Dame in Marmor keinen wirklichen Regenſchirm in die Hand geben darf. Aber wir ſcheinen 
noch nicht zu wiſſen, daß es fürchterlich iſt, eine Handvoll Theaterleute mit den gewohnten 
Bühnengeſten unter freiem Himmel vor wirklichen Felſen herumfuchteln und in dieſen Felſen 
ſalontirolerartig auf und ab klettern zu ſehen, und daß es ebenſo fürchterlich iſt, Opernmuſik 
mit Opernmanier gelungen im Freien hören zu müſſen. 

Solche Dinge find leider mögliche Unmöglichkeiten. Ein Naturtheater ift denkbar. Aber 
es darf nicht über den Bühnenapparat herkommen. Bloß mit geſchickter Umgehung des Szenen- 
wechſels und Benutzung der Landſchaft als Proſpekt macht man noch kein Naturtheaterſtück. 


Auf ber Warte 717 


Ein gewandter Regiffeur richtet hier nichts aus. Derartige Dinge arrangiert man nicht, — fle 
miiffen geſchaffen werden. Und dazu bedarf es einer wirklich ſchöpferiſchen Kraft, eines Dichters, 
für den das Wort Drama eine neue Bedeutung hat, der aus innerm Zwang die alten Formen 
ſprengt und neue fordert. Aber dieſer Dichter wird ſich auch nach einem neuen Künſtlermaterial 
umſchauen müſſen. Er darf ſich keine Sänger und Schaufpieler von der Bühne holen; denn diefe 
find in Sprache und Gebdrde in den geſchloſſenen Raum eingelebt. Der geſchloſſene Raum, 
die Kuliſſen, das Rampenlicht bildet die Welt, in der der Bühnenkünſtler feine Wirkungen aus- 
ſpielt. Aus dieſer Geſetzmäßigkeit herausgeriſſen, wird er zum Fragment, das ziel- und ſinnlos 
in fremden Dimenſionen herumgaukelt. In der freien Natur iſt eine andere Sprache, ſind 
andere Gebärden erforderlich als im geſchloſſenen Bühnenbild. Die Natur ift kein Illuſion 
weckender Rahmen, keine Staffage; ſondern ein Etwas, das in komplementäre Gegenwirkung 
zur Figur tritt. Die Technik des Naturtheaters wird darum eher von Malern als von Theater- 
Regiſſeuren ergründet werden. Wir haben noch keine erwägbare Richtungslinie, wenigſtens 
hinſichtlich des Kanons der Bewegung und Gebärde im freien Naum. 

Aber freilich, wir haben ja jetzt die Naturoperette, und die ganze Idee des Naturtheaters 
iſt wohl auf dem beſten Wege, als eine Poſſe zu enden. Civis 


. 
- der ſchwediſchen Kunſtgewerbe⸗Ausſtellung zu Stockholm 


Gorch die am 4. Zuni zu Stockholm eröffnete Ausſtellung für Kunſtgewerbe will 
Schweden nicht allein dem eignen Lande Gelegenheit bieten, einen Überblick über 
das nationale kunſtgewerbliche Schaffen zu gewinnen; es verſucht auch den übri- 
gen Kulturländern zu zeigen, welche Erfolge ſeine eifrigen und langjährigen Beſtrebungen, 
den heimiſchen Gewerbefleiß wieder zu heben, nunmehr gezeitigt haben. Darum lud es ſich 
hervorragende kunſtgewerbliche Autoritäten als Ehrengäfte ein: Lichtwark und Mutheſius von 
Deutſchland, Thiis von Norwegen, Walter Crane von England u. a. m. Bald durfte man ſehr 
anerkennende Ausſprüche dieſer Fachmänner in den Zeitungen leſen. Und wenn der eine von 
der einzigartigen Lage — an der berühmten „Einfahrt“ —, der andere von der feſtlich einladen 
den und doch vornehm zurückhaltenden Pracht der Bobergſchen Bauten beſonders entzückt 
war, ſo ſtimmten alle dahin überein, daß dieſe Ausſtellung hohe äſthetiſche Werte beſitze, die 
den tiefer Blickenden durch die Einheitlichkeit ihrer Wirkung auf eine gemeinſame ſichere Grund- 
lage ſchließen und ihn dieſe auch bald finden laſſen: die ungemein hoch entwickelte Volkskunſt. 
Die bezeichnendſten Worte fir das Weſentliche und kulturell Bedeutſame der Ausſtellung 
hat meines Erachtens Lichtwark ausgeſprochen, indem er das Zuſammenarbeiten der verfchie- 
denſten Kräfte des Volkstums zu ihrem Gelingen hervorhob. Er nennt den Einfluß des nicht 
profeſſionellen Elementes „geradezu frappant“ und weiſt vor allem auf die Textilinduſtrie 
hin, die ſeit 1897, der letzten Stockholmer Ausſtellung, erſtaunliche Fortſchritte gemacht habe. 
Ferner bemerkte er: „Die Ausſtellung erhält ihren markanteſten Zug durch die organiſatoriſche 
Arbeit, die namentlich von Frauen betrieben wird, die heimiſche Kunſtinduſtrie qualitativ wie 
quantitativ zu heben.“ 

In ausſtellungstechniſcher Hinſicht wurde viel Gutes, jedoch nichts prinzipiell Neues 
geleiſtet. Rühmen muß man, daß jedem Ausſteller fein Platz reichlich gegönnt ift, und daß der 
Beſchauer fait von jedem Raum aus Gelegenheit findet, ſich in luftigen Arkaden und Garten- 
anlagen zu erholen. Schon nach flüchtigem Durchwandern aber fühlen wir: diefe Ausſtellung 
iſt ein durchaus einheitliches organiſches Gebilde, ein Baum etwa, der aus kraftvollen Wurzeln 
heraus Stamm, Zweige, Blätter und Blüten getrieben hat. Ihr Zentrales bildet die Bolts- 


2 2 


718 Auf der Warte 


kunſt, die auf eine ſtattliche Reihe von Räumen verteilte Vorführung der in den einzelnen Land- 
ſchaften geübten Hausinduſtrie. Und wenn irgendwo, ſo iſt hier ein freudiges Zuſammenwirken 
aller Volkskräfte erſichtlich. Vom kulturhiſtoriſchen Verein der ſuüdſchwediſchen Univerfitdts- 
ſtadt Lund an bis an die Grenzen von Lappland hinauf — Jämtlands Slöjd-Verein — be- 
lebt heute eine reiche Anzahl von kunſtgewerblichen Vereinigungen die heimiſche Induſtrie. 
Es flutet gleichſam eine Welle von Begeiſterung durch das ganze Land, die alle Stände ergrif- 
fen hat. Neben der Gräfin ſchafft die ſchlichteſte Bauernfrau, eifrig arbeitend oder nur organi- 
ſatoriſch tätig, an der Hebung des Hausfleißes. Einzelne Provinzen haben frühere Kunſtzweige 
völlig zur alten Höhe entwickelt, denn Echtheit des Materials und der Farbe waren die Grund- 
bedingungen, die ſeine Förderer wiederum ſchufen. Das regſte und vielſeitigſte Leben durfte 
fih in Daletarlien, dem Lieblingsaufenthalt der Künſtler des Landes, entwickeln. Von dieſen 
ſelbſt auf das regſte angeſpornt — Anders Zorn und Karl Larſſon allen voran —, hat fic heute 
in Oalekarlien bereits eine blühende Hausinduſtrie in großem Stil entwickelt, die alles das be- 
ſitzt, was kunſtgewerbliche Führer als Ideal hinſtellen: Echtheit und Solidität des Materials 
und ein perſönliches Verhältnis des Ausführenden zu ſeiner Arbeit, und in der die nationale 
Vorliebe für friſche, heitere Farben, das glücklich - naive Stiliſieren der Natur wieder lebendig 
wird. Wo aber neuzeitliche Anregungen, heutigen Gebrauchszwecken entſprechend, eingreifen 
mußten, ſehen wir der Volksſeele niemals etwas ihr Fremdes aufgezwungen: alle modernen 
Muſter und Formen ſind aus einem liebevollen Studium des Aberlieferten heraus geſchaffen 
worden. 

Neben dieſer ſo blühenden Volksinduſtrie ſteht eine ebenſo reiche Kunſtinduſtrie, die 
ihren Höhepunkt heute in der Textilkunſt erreicht. Der Beſchauer, der ſich zunächſt nur dem 
Augeneindruck hingibt, empfängt eine ungetrübte äſthetiſche Freude. Forſcht er aber als Denken- 
der nach den inneren Gründen diefer fo einheitlich ſtarken äſthetiſchen Wirkung, fo wird er fidh 
bald ſagen: Hinter dieſer vornehmen Kunſtinduſtrie ſtehen kraftvollere treibende Mächte, als 
eine internationale Geſchmackskultur; dahinter ſteht eben die Volkskunſt, an die mit glücklich er 
Erkenntnis für den Wert des Nationalen angeknüpft wurde. Und darum dürfen wir dieſe edlen 
Blüten moderner Geſchmacksverfeinerung hier als echte Blüten eines feſt und ſicher wurzeln- 
den Stammes genießen. — Im Gegenſatz dazu erſcheint z. B. die franzöſiſche Luxuskunſt 
als kuͤnſtlich genährte Treibhauspflanze. Warf doch vor kurzem erft Camille Mauclair den 
Franzoſen die völlige Wurzelloſigkeit ihres modernen Kunſtgewerbes, ſeine eklektiſche, dem 
Volksgeiſt fremde Vereinzelung vor, die nie zu einem Stil führen kann. (Camille Mauclair: 
Où en est notre art décoratif? [Revue bleue, 24. avril 1909.]) 

Man darf vielleicht das Verdienſt der Schweden nicht zu hoch anſchlagen. Ein leichtes 
für ein Land, das im Beſitz einer ſo reich entwickelten Volkskunſt iſt, an dieſe anzuknüpfen! 
Doch war auch hier manche Gefahr vorhanden: es fehlt dem Lande an Vorbildern großer Kunſt 
und an Ausbildungsmöglichkeiten, und die jungen Talente ziehen in Scharen nach dem Aus- 
land, zumeiſt nach Paris. Konnte das nicht zum Verlieren der nationalen Eigenart, zu einem 
ariſtokratiſchen Eklektigismus gleich dem der Franzoſen führen? Lehrt jedoch ſchon ein Blick 
auf die Werke der hervorragendſten Maler Schwedens, Zorn, Liljefors, Karl Larſſon, Richard 
Berg, Prins Eugen, wie national ihre Kunſt geblieben iſt, und wie ſie ihr Tiefſtes und Beſtes 
aus der Heimat holt, fo offenbart ſich die ſieghafte Kraft des Nationalen auch auf kunſtgewerb- 
lichem Gebiet. 

Die organiſche Verſchmelzung des in der Fremde aufgeſogenen Elementes mit dem 
heimiſchen zu beobachten, iſt ſehr lehrreich. In der Textilinduſtrie vollzieht ſie ſich auf ganz 
ſichere, natürliche Weiſe. Der Farbenſchatz wird bereichert und feiner abgeſtimmt; das Stil- 
gefühl adelt das naive Dekorationsmotiv zu bewußter Linienſchönheit. Lichtwark betonte, 
daß hier jetzt die volle Herrſchaft über die Technik erlangt ſei: die ſchwierigſten Aufgaben, wie 
die Herſtellung großer Gobelins, werden glänzend geldft, und was an vornehmen Farben- 


Auf der Warte 719 


zufammenftellungen von den textilen Mufteranftalten Handarbetets Banner und Svensk 
Konſtſlöjd S. Giöbel geleiſtet wird, verbindet die ganz verfeinerte moderne Augenkultur mit 
dem angeborenen Sinn für belebende Farbenharmonien. 


Da die heimiſche Textilinduſtrie bereits ſo hoch ſtand, konnten ſich fremde Elemente 


ja ganz naturgemäß mit ihr verſchmelzen. Auf anderen Gebieten — der Holz- und Metall- 
induſtrie und der Keramik — aber zeigt fih etwas viel Merkwuͤrdigeres: die unmittelbare Be- 
rũhrung eines urgeſunden, naiven, kurz volkstümlichen Elementes mit der raffinierteſten moder- 
nen Geſchmackskultur. Landkinder aus einer kunſtliebenden Provinz beziehen die kunſtgewerb⸗ 
lichen Anſtalten der größeren Städte; fie gewinnen fih ein Reiſeſtipendium und gehen nach 
Paris oder München, um, unverbraucht, wie ſie ſind, unglaublich viel aufzunehmen. Aber 
die Heimat bleibt ſtark in ihnen. Sie kehren in einſame Waldhütten zurück und beginnen mit 
dem dörflichen Schmied, Töpfer und Tifchler zu ſchaffen: Geräte von urfpriinglider, volks- 
tümliher Wucht, unmittelbar den Naturformen entlehnt und geſtaltet mit jener inſtinktiven 
Sicherheit des Volkes, das in bezug auf Material und Gebrauchszweck das unfehlbar Richtige 
zu treffen pflegt. Darüber aber liegt vornehmſte Farben- und Linienanmut, die das Volks- 
timlid)-Rraftvolle in eine Sphäre geläuterter Schönheit rückt. 

Alle dieſe vielſeitigen Talente, Temperamente, Einflüſſe und Verſchmelzungen, die doch 
im letzten Grunde im Nationalen aufgehen, verleihen der Stockholmer Ausſtellung reiche Ab- 
wechſlung und zugleich einen ſtarken Einheitszug und machen fie darum zu einer für den heuti- 
gen Stand des Kunſtgewerbes kulturell beachtenswerten Erſcheinung. Hier iſt, im Gegenſatz 


zu manchen anderen Ländern, beſonders aber zu Frankreich, die Herrſchaft des kollektiven natio- 


nalen Willens über die einzelnen, ſehr ſtark individualiſtiſchen Willen der ſchaffenden Künſtler 
erſichtlich, die zu einem Stil führen kann. Hinter den Künſtlern ſteht feſt und unbeirrt das ge- 
ſamte Volkstum, und mit ihnen arbeitet Hand in Hand, um nochmals auf Lichtwarks ſo ſichere 
Beobachtung zurückzukommen, „die Laienwelt, das nicht profeſſionelle Element“. 
Anna Brunnemann 
E 


Berliner Ausländerei 


OM d n einer Plauderei „Oer Fremde in Berlin“ („Velhagen & Klaſings Monatshefte“) 
Sy AR ) führt Hanns Heinz Ewers den Berlinern einige fehr nötige Wahrheiten über ihre 

PKS äffiiche Vorliebe für alles Ausländiſche zu Gemüte. Unzivilifierte Völker, fo gibt 
er ihnen zu verſtehen, baffen den Fremden, ziviliſierte wahren ihm gegenüber die Diftang, 
woraus fih dann die ebenſo hübſche als richtige Konſequenz ergebe, daß, je höher die Kultur, 
um fo mehr fidh der Haß gegen alles Fremde verliere: „Wenn das richtig ift, dann find wir Oeutſche 
gewiß das erſte Kulturvolk der Erde, ein Volk, das alle anderen viele Meilen hinter ſich läßt. 
Denn uns Oeutſchen mangelt nicht nur jedes Fünkchen einer Abneigung gegen alles Fremde, 
wir lieben es, ja lieben nichts mehr als das Fremde, verehren es, treiben einen Kult damit und 
liegen Tag und Nacht vor ihm auf dem Bauche. Geſtern war ich bei Lehmanns zum Hausball; 
freude ſtrahlend erzählte mir die Dame des Hauſes, daß auch ein Chile ne da fei. Fh fragte 
ihn, wo er herkomme. Aus Antofagaſta, ſagte er. „O, wie intereſſant!“ rief die Dame. (NB. Anto- 
fagaſta ift das troſtloſeſte Loch in ganz Südamerika.) Der Chilene war ein ſchreckliches Rindvieh, 
hieß Meyer und aß Fiſch mit dem Meſſer. Frau Lehmann würde ſich nie ſo weit herablaſſen, 
den Prokuriſten ihres Mannes einzuladen, aber ſie war ſehr ſtolz auf die Anweſenheit dieſes 
ſchmutzigen Schnorrers aus Antofagaſta; wenn er nur ein wenig geſchickt iſt und nicht zu früh 
feine Pumpverſuche macht, wird fie ihm gern einmal ihre Tochter geben. Yd) trage fo einen 
hübſchen weiten Mantel. ‚Schliefer‘ nennt man die Dinger; man macht fie in Wien. ‚Nein, 


N 


720 Auf der Warte 


wie Sie ausſehen!“ fagte heute Herr Rraufe zu mir. ‚Ein Weltreifender, das ſieht man! Natie- 
lich aus London?! Er war ganz traurig, als er hörte, daß mein Mantel ‚nur‘ aus Wien fel 
Und wie um mich zu tröſten, machte er mir fein beſtes Rompliment: „Aber wirklich, Herr Dot- 
tor, Sie ſehen aus wie ein Engländer.‘ Wenn ich nun nicht glücklich bin, ift mir wirt- 
lich nicht zu helfen! Fragen Sie unſere beſten Maler, ob ſie jemals ſchon ein Bild nach Paris 
verkauften? Ganz gewiß nicht! Aber jeder Sammler vom Tiergarten, der nur ein wenig auf 
ſich hält, würde ſich ſchämen, nicht ein paar franzöſiſche Impreſſioniſten an ſeinen Wänden 
hängen zu haben. Oder wann haben je unfere erſten Bühnengrößen in Frankreich, 
in England, Italien, Skandinavien ſpielen können? In Berlin aber vergeht kein Monat, in 
dem nicht in irgendeinem Theater irgendeine fremde Nation ihr Heim aufſchlägt, von der 
Sarah Bernhardt und der Duſe bis herab zu dem Graſſo und Beerbohm Tree ... Ein ‚ar 
ſtändiger Menſch“ in Oeutſchland läßt ſich in London kleiden, trinkt franzöſiſchen Sekt, raucht 
ruſſiſche oder türkifche Zigaretten, legt Perſerteppiche in fein Zimmer und trägt nur ſchwediſche 
Handſchuhe. Seine Bücher ſchneidet er mit einer ‚Naraja‘ auf, und feine Frau geht ins Theo 
ter in einer wundervollen andaluſiſchen Mantille. Wenn ihm dann jemand erzählt, daß die 
Naraja aus Solingen und die Mantille aus Annaberg ſtammt, fühlt er fidh gekränkt und betrogen. 
Der Engländer zwingt in feinem Lande deutſchen Waren den Stempel auf, made in Germany“, 
um feine eigene Induſtrie zu ſchuͤtzen, wir aber kaufen unſere eigenen Waren dann erft geme, 
wenn fie mit irgendeiner fremden Etikette verſehen find! Ich gebe zu, daß dieſer bedauerlide 
Mangel an Selbſtbewußtſein nicht in allen Teilen Oeutſchlands gleich ftart ift. Der Süden und 
das Rheinland machen den Rotau vor allem Fremden nur wenig mit; je mehr man aber nag 
Oſten und Norden kommt, um ſo ſtärker wird dieſe blinde Bewunderung, wächſt in det 
Reichshauptſtadt zum Siedepunkte. Was früher das Wörtchen ‚von‘ in ſozialer Ve 
ziehung bedeutete, das bedeutet jetzt die Herkunft aus irgendeinem ſüdamerikaniſchen odet 
balkaniſchen Raubſtaate; in Berlin ift man heute adlig, wenn man nur aus Ruſtſchut, aus 
Montevideo oder aus Baltimore ſtammt, im Notfall genügt auch Przemysl oder Chzaslau. 
Rußland notiert nicht beſonders hoch in der Geſellſchaftsbörſe, deſto beſſer ſteht Skandinavien: 
wer aus Upfala oder gar aus Heljingborg ſtammt, der hat Grafenrang bei uns.“ 


ZS 


Die Sprache des Byzantinismus 


NA ie kann bas Undeutſche des Byzantinismus anders als undeutſch tingen! Das 
MCLG 3 Allzudevote verhunzt den Leuten die Sprache mit. Hiervon nur zwei Heine Sek 


O ſpiele, die fih alle Augenblicke beſchämend vermehren. Nach der Franti, Bes" 


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redete ein Geheimer Regierungsrat bei einer Denkmalsenthüllung in Straßburg den anweſen⸗ 
den Prinzen Auguſt Wilhelm unter anderem an: „Für dieſe Gnade bitten Eure e 
Hoheit wir ehrerbietigſt ...“ und „Nun bitte Eure Königliche Hoheit ich untertanigft . Ke 
Dieſelbe heilloſe Angſt vor dem perſönlichen Fürwort (mit der perſönlichen Gefinnung Dr 
meift ebenfo!!) bewegte auch den kaiſerlich deutſchen Konſul in Mancheſter, als er an ben Rai- 
fer kürzlich ein Oanttelegramm fandte: „Eurer Majeftät bin id vom Lordmayor von Marr 
cheſter und vom Mayor von Salford beauftragt, nach entzückender Rundfahrt durch Hamburg 
ehrfurchtsvolle Grüße zu entbieten ..“ Muß nicht Seine Majeſtät von der Tiefe der beutfgen 
Servilität überzeugt werden, wenn die Untertänigkeit den allerelementarſten Sinn i bie 
deutſche Sprache erftidt?! F. Sch. 


Berantwortlicher und Ehefredatteur: Jeannot Emil Freiherr von Grotthuß, Bad Oeynhauſen in Wire 
Literatur, Bildende Nunft, Muſit und Auf der Warte: Dr. Gart Storck, Berlin W., Lanbdsh 
Orud und Verlag: Greiner & Pfeiffer, Stuttgart. 


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Monatsfhrift für Gemüt und Griff = 
Derausgeber:Jeannot Emil Frrihertonrotthuss) 


XI. Jahrg. | September 1909 7 Brit 12 


Bernhard von Bülow 


Von 


Dr. Richard Bahr 


Ga (Zë un haben wir wieder einen Altreichskanzler. Am Strand des Nord- 
3 ab d 9 meeres ſitzt er und tauſcht Grüße aus mit allen, die ſeiner freundlich 

Xi > wehmütig gedenken. Seltſam: fo lange er im Amte war, haben viele 

Se von ihnen, wenn nicht die meiſten, ihm gegrollt, ihn zu Zeiten hart 
angefahren oder zum mindeſten mit Behagen ſich auf der Spötterbank nieder- 
gelaſſen. Jetzt trauern ſie. Trauern ganz ehrlich, und wenn es an ihrem Willen 
hinge, ſie holten den Fürſten Bülow wieder und hießen ihn von neuem uns regieren. 
Darin ſteckt doch wohl mehr als weidmiitige, unklare Sentimentalität. Gewiß: 
auch in ſolchen Stücken bleibt die Gewohnheit eine Macht. Zwölf lange Jahre hatte 
dieſer Bernhard von Bülow auf der Bühne, die die deutſche politiſche Welt iſt, 
in vorderſter Reihe geſtanden. Ein Achtundvierzigjähriger, blondhaarig, elaſtiſch 
und friſch hatte er ſie im Zuni 1897 betreten; als Sechziger, den leis und verſtohlen 
Freund Hein ſchon einmal gegrüßt hat, ging er nun von Binnen. In diefen zwölf 
Jahren ift er fo und fo oft geradezu das Schickſal der Oeutſchen geweſen; hat noch 
häufiger wohl durch mancherlei kleine Regiekunſtſtücke, in denen er Meiſter war, 
dafür geforgt, daß alles Licht auf ihn fiel; daß bei allem, was Nützliches und Erſprieß⸗ 
liches geſchah — und es geſchah doch auch noch anderes — man ihn, ihn allein 
als den glücklichen Vollbringer ehrte. Solche Erinnerungen haften; haften um 

Der Türmer XI, 12 . 46 


122 Bahr: Bernhard von Bülow 


fo mehr, als in ihrem tiefſten Kern die Menſchenart keineswegs fo verderbt iſt, 
wie der Pentateuch es lehrt. Der Menſch als Maſſenerſcheinung hat für den Haß 
nur ein ſchlechtes Gedächtnis. Hat auch bei einiger Entfernung für fremde Fehler 
kein Auge mehr. Das Große, Gute, Leuchtende bleibt; das andere ſchwindet, 
ſobald nur einmal eine gewiſſe Dijtang hergeſtellt ift. 

| Es hat — wir wollen ganz offen reden — an dieſem andern der Bülowfchen 
Kanzlerſchaft nicht gefehlt. Wen von uns, um nur das eine zu nehmen, das freilich 
für jede ſtaatliche Gemeinſchaft das Bedeutſamſte iſt, hat des vierten Kanzlers 
auswärtige Politik denn immer befriedigt? Wer hat nicht gelegentlich geklagt, 
daß ihr die ruhige Stetigkeit, die ſelbſtgewiſſe Geräuſchloſigkeit mangele, bei der 
dergleichen Geſchäfte allemal am beſten gedeihen? Bernhard von Bülow war uns 
zunächſt als Mehrer des Reiches erſchienen. Wir hatten Kiautſchou, den „Platz 
an der Sonne“ gewonnen, hatten — ich zitiere immer den Kanzler und früheren 
Staatsſekretär — „den jungen Mädchen, den Rarolinen-, Mariannen- und Baulinen- 
infeln die Tür des Reichs geöffnet“. Aber auf Kiautſchou folgten die Chinaerpe- 
dition und der Sühneprinz, von dem Fürſt Bülow nicht ohne leiſe Selbſtironie 
ſpäter einmal bekannte: er hätte an dem einen Sühneprinzen gerade genug 
gehabt. Dann brach der Burenkrieg aus, bei dem die Haltung unferer Regierung, 
fo korrekt und verſtändig fie letzten Endes war, doch auch bei der gutmütigſten 
Interpretation mit früheren Schritten nicht recht in Einklang zu bringen war. 
And die mit Tamtam eingeleitete kaiſerliche Tangerfahrt ſchürzte die Knoten der 
marokkaniſchen Frage, die uns nach Algeciras führte und mehr als einmal an den 
Rand des Krieges, und von der wir dann ſchließlich nach allzu langen Irrungen und 
Wirrungen in dieſem Winter einen recht ſtillen, recht reſignierten und beſcheidenen 
Abſchied nahmen. Einmal allerdings hatte Fürſt Bülow feſt zugegriffen und aller 
furchtſamen Kritik und Beſſerwiſſerei zum Trotz ſtetig und beharrlich von Anbeginn 
bis zum Schluß die nämliche Richtlinie befolgt: bei der letzten ſerbiſch-öſterreichiſchen 
Kriſe. Dafür ward ihm bei der Gelegenheit auch der ſtolzeſte Erfolg ſeiner ftaats- 
männiſchen Laufbahn beſchieden. Deutſchland war mit einem Schlage wieder in 
die vorderſte Reihe der ausſchlaggebenden Weltmächte gerückt; unbezwinglich und 
unnahbar, wenn es nur wirklich wollte. Das Schreckbild der Einkreiſung aber, 
das manche von uns in den letzten Jahren gepeinigt hatte, war ins Schemenreich 
zerronnen. 

Was war an dieſer Führung der auswärtigen Geſchäfte des Fürſten Bülow 
eigenſtes Werk; wo folgte er gezwungen fremden Spuren, nach feines alters- 
müden Vorgängers Beiſpiel bemüht, Schlimmeres zu verhüten? Die Frage wird 
ſchwer reſtlos zu beantworten ſein. Denn die Archive reden nicht zu den Zeit— 
genoſſen und die Geheimgeſchichte der Höfe wird auch den Späteren nicht immer 
offenbar. Neuerdings haben wir ja wieder die Lesart vernommen — und Fürſt 
Bülow, der für feine Perſon wenigſtens feinen vollen Frieden mit dem Kaiſer 
gemacht zu haben wünſchte, ift ihr beigetreten — daß vieles von dem, was an der 
auswärtigen Politik uns in den letzten Jahren verdroſſen hatte, vielleicht das Haupt- 
ſächlichſte amtlichen Arſprungs geweſen ift und der Kaiſer nur im Einverſtändnis mit 
ſeinen offiziellen Beratern ſich exponiert hat. Ein ſpäterer Hiſtoriker wird trotzdem 


Bahr: Bernhard von Bülow | 723 


gut tun, dieſe Dinge ſehr ernſtlich nachzuprüfen. Aber wie die Prüfung auch aus- 
fallen möge: von dem Vorwurf des Sprunghaften, des in Dur und Moll Im- 
preſſioniſtiſchen, des von dem jähen Wechſel der Empfindungen Beeinflußten und 
Beeinflußbaren wird Fürſt Bülow nie ganz freizuſprechen fein. Denn er war der 
Verantwortliche, zudem der einzige verantwortliche Reichsminiſter, und an ihn 
haben wir uns zu halten. 

Anderes wiegt und wog leichter. Ein Staatsmann, der allerdings dem Fürſten 
Bülow nicht gerade zärtlich zugetan war, hat mir einmal geraten, doch eine Statiftit 
aufzumachen über die Orden und Beförderungen, die unter dem vierten Kanzler 
Parlamentariern und Zeitungsleuten zugefallen find. Ich bin dem Rat nicht ge- 
folgt: was ſo erwieſen werden ſollte, war ohnehin ja mit Händen zu greifen. 
Ohne Frage: alle dieſe Dinge gehörten mit zu den Beſonderheiten des Bülowſchen 
Regimes. Zuweilen regnete es geradezu Rote Adler und Kronen dritter Klaſſe, 
und manches Herz, das gewohnt geweſen war, unruhevoll in Unmut und Oppo- 
ſition zu ſchlagen, bequemte ſich unter dem blinkenden Stern zu gemächlicherer 
Gangart. Dazu all die kleinen Aufmerkſamkeiten, die im Grunde ſo wenig koſten 
und doch fo ſehr verbinden: die Einladungen und Diners im immer ſorgfältig ab- 
geſtimmten kleinen Kreiſe, die pünktlichen Telegramme bei traurigen und fröhlichen 
Anläſſen und die liebenswürdigen Komplimente, die mitunter ſchon manchen 
Dutzendſchreiber erreichten. Aber war das wirklich, wie die Katone eifern, bereits 
Korruption? Zu Zeiten — ich geſteh' es offen — wenn der Groll über einen Gewalt 
gewann und man in Methode und Taktik des Kanzlers ſich wieder einmal gar nicht 
zurechtfinden mochte, iſt es mir ſelbſt ſo vorgekommen. Aber ich habe doch milder 
zu urteilen gelernt. Fürſt Bülow hatte kein Talent, die Menſchen — ſich ſelber 
nicht ausgeſchloſſen — tragiſch zu nehmen. Wie ihm überhaupt der heroiſche Geſtus, 
zu dem er in den letzten Amtsjahren, etwa feit 1906, gelegentlich griff, nicht eigent- 
lich lag. So packte er, der ſchwerlich ein Erzieher der Nation fein wollte, die Men- 
ſchen bei ihren Schwächen. Höflichkeit aber und Liebenswürdigkeit waren ihm 
Bedürfniſſe feines Naturells. Gewiß war etwas Romaniſches darin — auch Iden 
rein äußerlich in der Häufung der Superlative und der ſchmückenden Beiworte — 
und auch etwas von jener ſpezifiſch wieneriſchen Herzlichkeit, die ſich ſo gut mit 
innerer Eiskühle verträgt. Und war bei all dem doch nicht gemacht und nicht ge- 
künſtelt. Er hatte den Orang, fidh gefällig zu erweiſen; zu leben und leben zu laffen. 
Schon weil er's in der Kultur der geſellſchaftlichen Sitten, der äußeren Lebens- 
formen zu einer in Oeutſchland nicht alltäglichen Vollendung gebracht hatte. 

* * 


| 

Und das war's mit, was ihm feine Erfolge bereiten half: unter den dürren 
Fachmenſchen und Nichts-als-Preußen, die im großen Durchſchnitt den deutſchen 
Staat regieren, war dieſer Mecklenburger, dem freilich von der ſchweren heimiſchen 
Art kaum noch ein Zug anhaftet, eine eigenartig anziehende Erſcheinung. Ein 
Europäer, der voll Verſtändnis in das Weſen aller Kulturnationen eingedrungen 
war. Zugleich einer, der mit Bewußtſein das nicht eben häufige Vermögen übte, 
ſein Leben zum Kunſtwerk zu geſtalten. Woher es denn auch kam, daß er auf alle, 
die zu ihm in Berührung traten, einen ſo ſtarken perſönlichen Reiz ausſtrömte 


724 Bahr: Bernhard von Bülow 


und in der Kunſt der Menſchenbehandlung zum Virtuoſen, wenn nicht gar zum 
Meiſter geworden war. Man hat fo viel von dem Bülowfchen Märchenglück ge- 
ſprochen, das den Optimiſten mit dem Grübchen im Kinn nicht im Stich ließ; 
das ihm ſo und ſo oft beiſtand, unbequeme Situationen zu umſchiffen und Kriſen, 
die nur noch eine gewaltſame Löſung zuzulaſſen ſchienen, geradezu unter den Han- 
den zu entwirren. Und ſicher: des Geſchickes Mächte haben dem Fürſten Bernhard 
v. Bülow zeitlebens ſich hold und gewärtig gezeigt. Dennoch iſt er vielleicht nicht 
ſelten dieſes Glückes eigener Schmied geweſen. Er hatte eine wunderbare Art, 
die Menſchen zu nehmen; Menſchen aller Schichten und jeden Standes, vom 
Kaiſer angefangen bis zum grimmigſten Oppoſitionsmann. Er hatte erſtaunlich 
viel geleſen: ſchöne Literatur und Memoiren, Philoſophiſches und, was im Grunde 
ja nur ein Teil der Weltweisheit iſt, Staatswiſſenſchaften. Und war auf ſeine Weife 
wirklich ein vorurteilsfreier Kopf. Er kannte das Relativiſche in den Dingen und 
hatte die Gabe, die ihm keine Selbſtverleugnung bedeutete, fih in fremde Geelen- 
und Sinnesart hineinzuverſetzen. So war's nicht nur eine gefällige geſellſchaft⸗ 
liche Maske, wenn er an der Gaſttafel der Landwirtſchaftskammer mit den Agrariern 
der agrariſche Reichskanzler war, und die Liberalen, die von ihm kamen, zeitweilig 
mit dem Bewußtſein erfüllte, daß fie am Fürſten Bülow einen ſtillen Gefinnunge- 
genoſſen beſäßen. Er hatte tatſächlich von allen etwas — vom oſtelbiſchen Agrarier 
freilich das Wenigſte — und mit allen vermochte er zu fühlen. 

Dennoch ift diefe fo erſtaunliche wie liebenswürdige Ubiquitdt feines Geiſtes, 
die ihn im einzelnen manchen ſchönen Erfolg einheimſen ließ, am letzten Ende 
wohl die Urſache geweſen, daß er im großen verſagte. Seine Politik war faſt immer 
geſchickt, häufig geiſtreich und führte nicht ſelten zu leidlichen Zielen. Aber es fehlte 
ihr die eigentliche Seele; der ſtolze Zug, den die Oeutſchen, die trotz der drei Mil- 
lionen ſozialdemokratiſcher Wahlſtimmen das autoritätenhungrigſte Volk der Erde 
find, bei ihren Führern nicht entbehren mögen. Sie wollen ergriffen und erſchüt⸗ 
tert werden, in Zorn oder Liebe erglühen können. Und dazu reichte es bei Bülow 
nicht aus. Ein Mann, in deſſen Eigenart ſich zu vertiefen für den pſychologiſchen 
Feinſchmecker ein ſeltener Genuß war und bleiben wird. Ein mit Bedacht ſchluͤr⸗ 
fender Gourmet an der Tafel des Lebens mit einem leiſen Stich in die Menſchen⸗ 
verachtung. Und doch einer, bei dem das Bibelwort von dem Schickſal der Lauen, 
die nicht kalt und nicht warm ſind, herbe Wahrheit wurde. Fürſt Bülow hat — 
wenigſtens in den Parlamenten und im politiſchen Publikum: unter der Rollegen- 
ſchaft in Amtern und Miniſterien hat es an ihnen nicht gefehlt — vielleicht nie 
einen Feind gehabt. Aber er hat auch nie jemand mit fortgeriſſen und begeiſtert. 
Auch als Redner nicht; wennſchon es entſchieden nicht richtig iſt, daß er nur von 
wahllos zuſammengerafften Zitaten ſich nährte. Wer die zwei Bände Bülow- 
reden durchblättert, die Herr Johannes Penzler, der betriebſame Kompilator, zu 
ſammengebracht hat, wird neben Alltäglichem und wohl auch Trivialem doch viel 
Arſprüngliches finden und überraſchend Feines. And auf dergleichen ſtößt keiner, 
der fih nur beim Büchmann adgend auf die nächſte Rede vorbereitet. Das findet 
nur, wer nachdenklich am Strom des Lebens ſteht und langſam, mit Geſchmack 
und Bedacht ſich ſeinen inneren Hausrat ſammelt. In den Parlamenten von heute 


Bahr: Bernhard von Bülow 20 


war Fürſt Bülow ohne Frage der beſte Redner; voll ſprudelnder Schlagfertigkeit 
in der Debatte und immer ein eleganter, kultivierter Fechter. Aber das eigentlich 
Zwingende, das mitunter ſchon weit ſchwächeren Begabungen eignet, ging ihm ab. 
Dazu war er zu differenziert, zu wenig einſeitig und wohl auch nicht wuchtig ge- 
nug. Man hatte — ob zu Recht oder Unrecht — immer die Empfindung: dieſer 
Mann nahm das Leben wie ein buntes Spiel, an dem in heiterer Grazie teilzuhaben 
ſich ſchon lohnt; das aber nimmer zum Einſatz des eigenen Lebens lockte. Woher 
es denn auch vielleicht gekommen iſt, daß ihm ſo recht im Grunde niemand getraut 
hat und daß er auf die Dauer keine Gruppe zufriedenzuſtellen verſtand. 
* * 


* 

Trotzdem haben recht, die jetzt um ihn trauern. Kein Menſch kann mehr geben 
als er hat. Was aber Bernhard v. Bülow uns gab, war ſo wenig nicht. Dieſer 
Kanzler, der ſeinen ganzen Weg in der Diplomatie gemacht hatte und den die 
Details der Geſetzgebung und Verwaltung fo wenig intereſſierten, daß er den Par- 
lamentariern, die, um über Zoll- und Finanzfragen zu ſprechen, zu ihm kamen, 
nicht ſelten vollkommen ununterrichtet erſchien, hat im großen ganzen keine ſchlechte 
innere Politik gemacht. Unter ſeinen Vorgängern, unter Caprivi ſowohl wie unter 
Chlodwig Hohenlohe, waren die Verſuche, dem Drachen Umſturz mit ganzen oder 
halben Ausnahmegeſetzen auf den Leib zu rücken, überhaupt nicht abgeriſſen. Das 
hörte nun auf. „Ich halte nicht viel von nervöſer Geſetzesmacherei“, meinte Bü- 
low einmal zum Grafen Limburg-Stirum, der damals noch als ſtarker Mann ein- 
herging. Dabei blieb's, wie oft man auch in ihn drang; immer bei demſelben aus 
vorurteilsfreier Weltbetrachtung erwachſenen Widerſtand. Ganz im Sinne der 
neuhiſtoriſchen ethiſchen Nationalökonomie hielt er es für die Pflicht von Staat 
und Monarchie, ausgleichend zu wirken zwiſchen den Geſellſchaftsſchichten und 
dafür zu ſorgen, daß den ärmeren Klaſſen die Möglichkeiten des ſozialen Auf- 
ſchwungs nicht verſchränkt würden. Menſchlich haben die beiden, Fürſt Bülow 
und Graf Pofadowsky, einander nicht verſtanden, perſönlich ſind ſie ſich ſtets fremd 
geblieben. Aber der ſozialpolitiſchen Betätigung des Grafen im Bart — das muß 
um der Gerechtigkeit willen doch feſtgehalten werden — iſt der vierte Kanzler kein 
Gegner geweſen. Wennſchon er nach ſeiner ganzen Veranlagung dieſe Dinge 
wohl immer mehr mit dem Verſtand als mit dem Herzen erfaßt hat. 

Als Verſtandesmenſch hat Fürſt Bülow es auch durch fo lange Jahre mit 
den Konſervativen gehalten. Er mochte ſich die Sache etwa ſo gedacht haben: 
die waren nun einmal in Preußen-Deutſchland bei der Perſonalunion, in der Re- 
gierung und Verwaltung mit der konſervativen Partei leben, die ſtarken Bataillone; 
waren zugleich die geſchulteſte und rückſichtsloſeſte Oppoſition, die wir dermalen 
beſitzen. Deshalb ſchonte er fie und ſuchte fic mit ihnen gut zu ſtellen; ſäumte 
auch nicht, das Füllhorn amtlicher Gaben über fie auszuſtreuen. Endlich ein- 
mal — fo kalkulierte er und fo hat er's bisweilen auch ausgeſprochen — mußte der 
Zeitpunkt doch kommen, wo fie fich fiir ſaturiert erklären würden. Wo fie nicht mehr 
die Sturmglocke läuteten, wenn man auch die anderen Schichten, die im Grunde 
dies neue Deutſchland trugen, zum Mittafeln heranließ. Nach der Verabſchiedung 
des Zolltarifs und der neuen Handels verträge glaubte er den Moment gekommen 


726 Ropp: Meine Seele 


und hoffte nun auf lange Jahre einer friedlichen, leis und vorſichtig ausfchreiten- 
den Reformpolitik. Aber das Kalkul war falſch; die wahre Natur unferer preußiſchen 
Grundbeſitzerariſtokratie war in ihm verkannt, die in ihrer robuſten Einſeitigkeit 
und ihrem handfeſten Diesſeitsbehagen nicht dazu neigt, fih um ſpätere Entwick- 
lungs möglichkeiten gutwillig aus dem Beſitz verdrängen zu laffen. So bezahlte 
Fürſt Bülow den Irrtum des Kalkuls mit ſeinem Amt. 

Darum bleibt doch beſtehen, daß er das Ziel richtig erkannt hat und obſchon 
auf Umwegen, die zudem nicht einmal die rechten waren, ihm zugeſtrebt ift. Für 
die Aufgabe freilich, die jetzt in Preugen-Oeutfdland zu löſen ift, hätten feine 
Kräfte ſchwerlich gereicht. Denn wenn er auch das „alberne Wort“: „Nur keine 
inneren Kriſen“ nicht geſprochen haben wollte — er hätte es ſprechen können. 
Kampf und Streit, vornehmlich wenn es ein Kampf bis aufs Meſſer zu werden 
verhieß, waren nicht ſeine Sache, und das Biegen war ihm allzeit lieber als das 
Brechen. Aber fo lange uns noch nicht der Vollender erſchien, der zum glücklichen 
Gelingen führte, was Fiirft Bülow ſchüchtern und taftend begann, wird man des 
vierten Kanzlers in Reſpekt und Sympathie gedenken dürfen. Und ſelbſt dann 
noch. Zum heroiſchen Vollbringer hatte die Natur Bernhard v. Bülow nicht ge 
ſchaffen. Aber was fie ihm gegeben hatte, gab er auch uns: feine feine Menſch⸗ 
lichkeit, ſeine erleſene Bildung, ſein nicht alltägliches Geſchick und eine im Grunde 
richtige und klare Einſicht in die Dinge, der nur — eine Zeitkrankheit unferes 
Geſchlechts — bisweilen der Mut der Konſequenz und die Kraft, ſie in Taten 
umzuſetzen, mangelten. Das mag, am Maßſtab des Genius gemeſſen, nicht zu viel 
ſein. Für den Staat, deſſen Arbeit nicht ſtillſtehen darf und der deshalb zuzeiten 
ſchon mit dem Durchſchnitt vorlieb nehmen müßte, bleibt's immerhin eine an- 
ſehnliche Leiſtung. 


CYS, SS) 


Meine Seele 


Von 


Cornelia Kopp 


Und manchmal iſt ſie eine Königin, And manchmal iſt ſie eine Bettlerin, 

Die unter goldbefranzten Purpurbaldachinen Die ihre ſchlechte Armut trägt wie Kerkerketten, 
Läſſig in tiefen Seidenpolſtern ruht; Blutige Füße ſchleppt durch heißen Sand; 
Lächelnd die blaſſen Reize der Glycinen Die aus Verlaſſenheit und Not zu retten 
Hinfterben ſieht in heißer Sonnenglut; Sich rührte keiner Liebe weiche Hand, 


Der alle Schönheit ringsum nur zu dienen And die ihr mũdes Haupt zur Ruh’ zu betten 
Beſtimmt iſt, als ein karges Kronengut. Noch keinen harten Stein am Wege fand. 


Pas 
BUZZ Je Ah C 
CA 
24900 


Mutter Wiedenkamp 
Erzählung 


von 


Ernſt Clauſen 


as gibt grobes Wetter, Mutter Wiedenkamp.“ 

„Kann ſtimmen, Peter Flier. Steif Nordweſt bei Vollmond, 
und um zehn Uhr kommt die See herein.“ 

„Ja, und Sommer iſt's noch lange nicht. Ich will noch mal 
nach die Weſterdüne von wegen meine Boote.“ | 

„Das tut nur, Peter! Die Nacht ſoll man beten für alle, die auf dem Waf- 
ſer ſind“, ſagte ſie und reckte den Arm aus gegen Norden, wo die See am Watt 
heraufkam und am Leuchtſchiff vorbei in die Elbe hineintrieb. Trotzdem es ſchon 
faſt dunkel war, ſah man, wie der Seegang ſich ſchäumend über den Sand ſchmiß, 
als wollte er mit weißen, ſcharfen Zähnen alles freſſen. Peter Flier fab auch hin 
aus und ſchob den Kautabak aus der linken Backe zur rechten. Sein weißer Bart 
bog ſich im Winde zur Seite, und Mutter Wiedenkamp mußte mit beiden Händen 
ihr Kopftuch und die grauen Haare darunter feſthalten, die der Sturm herau 
riß und ihr übers Geſicht trieb. 7 : 

„So 'ne Nacht war's, wie mein Mann bei Sylt auf Sand und Grund ging, 
und fo 'nen grobes Wetter war's, wie mein Jörn, der Alteſte, da draußen fein letzt 
Gebet gejagt hat. Ich hab' in der Nacht nicht beten können. Um und um hat's 
mich getrieben vom Haus auf den Sand und vom Sand wieder ins Haus, aber ge- 
wußt hab' ich ganz genau, daß mein Zung' in Seenot war.“ dée 

Die Frau ſprach es mehr zu ſich ſelbſt, fo wie ihr die Erinnerung kam. 

„Weiß noch gut, Mutter Wiedenkamp. Fh hab' in die ſelbigte Nacht geſehn, 
wie einer oben auf die Weſterdüne ſtand und die Arme zwei Stunden lang im 
Kreuz hielt. Ein Menſch war's nicht! Klaas Lührs fein Hund hat die Nacht hinter 
Ihrem Haus geheult. — Kommt Ihr Füngſter, was der Martin ift, bald wieder?“ 

„Nein, Peter Flier, noch lang nicht! Geſtern hat er von Auſtralien gefchrie- 
ben. Zu Martini könnt's fein, eher nicht.“ S | 

„Na,“ meinte der alte Seebär und warf einen lauernden Blick aus den Het- 
nen, rot geränderten Augen zu der Frau hinüber, „na, denn muß ſeine junge 
Frau noch en End’ lang Geduld haben. Aber fie hat's. ja gut bei Ihnen, und was 


728 Elaufen: Mutter Wiedenkamp 


unfer Lehrer ift, Heinz Zellen, Ihr Schweſterkind, ift ja aud da und kann ihr en 
bißchen die Zeit vertreiben.“ 

Eine ſcharfe Falte grub ſich in die Stirn der Frau, aber fie ſagte doch zu- 
nächſt ziemlich ruhig: 

„Das iſt nicht anders, wenn eine 'nen Seemann heiratet. Haſt du ſonſt 
noch was auf der Zunge, Peter, was die alten Weiber im Dorf ſchwatzen? Fah 
hab' noch 'nen alten Unterrock, wenn du einen für dich brauchſt — — ?“ 

Ihre Stimme war von Wort zu Wort ſchärfer geworden. Peter Flier wußte 
nun, was es geſchlagen hatte, wenn ſie ihn „du“ nannte. Und er bekam's im Sturm: 

„Hätteſt du deine Naſe nicht alle Abend ſo tief im Grog, Peter, denn ſteckteſt 
du ſie auch nicht tiefer in anderer Leute Sachen, als es dich angeht. Kannſt mir 
auch zu Oſtern das Geld bringen. Ich habe die zweihundert Mark hinten in meine 
Bibel geſchrieben. Kannſt auch mal die Naſe in die Bibel ſtecken, da ſteht nix drin, 
daß Mannsleut' lange Ohren und ein leeges Maul haben follen!“ 

Hart und kurz ſtieß ſie die Sätze gegen den Sturm heraus, und Peter Flier 
wünſchte, er wäre erſt bei der Weſterdüne. 

„Ich hab' nix weiter fagen wollen! Aber das fag’ ich, den Martin, den Jüng- 
ſten, hätt' ich nicht auch aufs Waſſer gelaſſen. Ihr Mann und der Zörn liegen in 
der Nordſee, und der Zweite ja wohl in Kalkutta!“ ) 

„Was ſollt' ich machen, Peter Flier, wenn fo en Sung’ will! Sie hatten’s 
alle im Blut vom Vater her, und von mir auch. Ich bin en Lotſenkind. Wenn's 
der Herrgott ſo will, muß man ſtillhalten.“ 

„Ja, Mutter Wiedenkamp, Sie fagen das fo: Wenn's der Herrgott will? 
Sd denk immer: Was en Wiedenkampſcher Kopp will. Gute Nacht!“ 

Sie ſah ihm nach, wie er breitbeinig gegen den ſeitlichen Wind über den Sand 
ſteuerte. 

War es fchon fo, daß die Leute im Dorf davon ſprachen —? 

Den derben Lederſchuh ſetzte fie feſt auf die Steinplatte vor der Haustür, 
den Schuh, in dem ſie faſt ſechs Fuß hoch ſtand, feſt noch und gerade trotz ihrer 
ſechzig Jahre. Sie hatte den Rüden nicht gebeugt, auch nicht, als ihre beiden Söhne 
die letzten Schuhe hergeben mußten, in denen fie mehr als ſechs Fuß hoch geftan- 
den hatten, die Wiedenkampſchen Rieſen. Za die Frau ſtand noch feft, auch auf 
Bibelgrund; zwar etwas ſtark im Alten Teſtament, wie der Paſtor meinte, aber 
ſie ſtand drin und hielt daran. Was ſie las und was ſie dabei fühlte und dachte, 
das wußte ſie. Eine Frieſin war ſie, und keiner ſollte ihr anſehn, wie es im Herzen 
geriſſen und genagt hatte. Platz ums Haus und freier Platz um den Menſchen! 
Es braucht keiner hineinzuſehen durch die Fenſter, nicht ins Haus und nicht ins 
Herz! Meine Sache iſt meine Sache und nicht deine! 

And doch, als ſie jetzt die Tür öffnete und aus der Giebelſtube durch das 
dumpfe Brauſen des Nordweſt und das Rollen der See der Klang von Geigen— 
ſpiel zart und fein an ihr Ohr traf, da war's, als ob Mutter Wiedenkamp den Rücken 
und graden Nacken beugte. Über ihr Geſicht flog es gleich einem kummervollen 
Schatten, wie kein Menſch jemals einen ſolchen auf ihrem Geſicht gefunden hatte. 
Wie Furcht war es und geheime Angſt. Nachdem ſie eine Weile gelauſcht hatte, 


Claufen: Mutter Wiedenkamp 729 


ſchob fie den Holgriegel vor die Tür und ſtieg dann ſchwer auftretend die ſchmale 
Treppe hinan. Ehe fie eintrat, war ihr Geſicht wieder ruhig geworden, und den 
Kopf trug ſie hoch. So ſchritt ſie zur Kommode, nahm von dort die Bibel, ſetzte 
ſich damit in den alten Lehnſtuhl am Ofen, legte das ſchwere Buch auf die Knie 
und begann zu leſen. 

Die Hängelampe gab ruhigen Schein, und die ſchlichten, guten Mahagoni- 
möbel glänzten mit ſauber gehaltener Politur. Frau Wiedenkamp war nicht arm. 
Ihr Mann hatte was darauflegen können für Haus und Ausſtattung. Ganz leiſe 
ſchaukelte vom Deckenbalken das dort hängende Schiffsmodell hin und her. Ein 
fertig aufgetakelter Oreimaſter war es, den ihr Alteſter vor feiner letzten Reife ge- 
ſchnitzt hatte. An der Wand über der Kommode hingen drei kleine Photographien 
von Mann und Söhnen, und um jeden der ſchmalen ſchwarzen Rahmen lag ein 
kleiner Kranz von künſtlichen Myrten. Ein viertes der Bilder dort war kranzfrei. 
Das war Martin, der jetzt mit der „Freia“ auf Franzisko ſteuerte. 

Nach einer Weile legte deſſen Mutter die kräftige Hand auf die Blätter des 
Buches und lehnte den Kopf gegen das Lederpolſter zurück. 

Da ſtand Heinz Selfen, ihr Schweſterkind. Er wandte ihr den Rücken zu. 
Sie ſah nur die feine ſchlanke Geſtalt und das braune, gewellte Haar ſeines auf die 
Geige gebeugten Kopfes. Kein Notenblatt war vor ihm. Draußen heulte der 
Sturm, und dumpf drohend klang das Brüllen der See, aber im Giebelſtübchen 
quoll ſanft und weich ſingender, jubelnder Ton unter dem Geigenbogen hervor, 
ſo zart und rein, ſo wonnevoll leicht ſich hebend, wie ein Menſchenherz ſchlägt in 
unſchuldiger Luft. Abend für Abend ſpielte hier Heinz Jelſen. 

Seine Geige hatte geſungen, als die Nachricht kam von Jörn, des Alteſten, 
Tod; ſie hatte geklungen, als die Kunde kam von Helms, des Zweiten, Sterben 
in der Fremde. Hier hatte die Mutter geweint und gerungen mit ſtarkem Herzen 
gegen den Jammer, und nur Heinz Zelſen hatte ihre Not geſehen und ihr Troſt 
geſungen mit ſeinem Spiel. Wenn er ſah, daß ſie, ſo wie heute, im Gram dort 
ſaß mit der Bibel im Schoß, dann ging ein mitleidvolles Lächeln über ſein gutes 
Geſicht, und er nahm ſeine Geige und ſang damit Mutter Wiedenkamps Seele 
weich. Wie hatte fie Heinz fo lieb, den fie zu fic genommen vom achten Fabre an, 
nachdem ihm Vater und Mutter geſtorben! Ganz anders war er als die Wieden- 
kamps, ganz anders! Dieſe waren Kraft und Wille, Schweigſamkeit und Stolz! 
Heinz Felfen war Zartheit und Träumen, Mitteilen und Mitleid! Nun war er ſchon 
ſeit zwei Jahren Lehrer im Dorf. „Vie ein Prinz iſt er doch“, dachte ſie oftmals, 
wenn er ihr gegenüber in der Kirche unter den derben Fiſchern ſaß mit ſeinem fei- 
nen Geſicht und ſeiner ſchmalen Geſtalt. 

In ſeinem Haar gleißte, goldige Lichter webend, der Schein der Lampe. 

Mutter Wiedenkamp ſchloß eine Weile die Augen, und als ſie ſie wieder 
aufſchlug, fiel ihr Blick auf ihres Sohnes Martin Frau, die dort in der Gofa- 
ecke kauerte, Antje, die Kapitänstochter aus Hamburg. Dieſe hielt die Augen ge- 
ſchloſſen und rührte ſich nicht. Ihr dunkles Haar war im Schatten; um ſo heller 
leuchtete das weiße ſchmale Geſicht und die ſchlanke Hand, in die fie es gejtüßt 
hielt. Mutter Wiedenkamps ſcharfe graue Augen wanderten von dort zu Heing 


7309 Claufen: Mutter Wiedenkamp 


und wieder von dieſem zurück zu Antje, ihres Füngſten Weib. Da ſah fie auch, 
wie dieſe, gleichſam aus Träumen erwachend, die Augenlider langſam hob, und 
wie der Blick der großen dunkeln Augen eine Zeitlang mit ſeltſamem Ausdruck 
auf Heinz ruhte. All das verträumte Sehnen, was jener dort ſpielte, ſtrahlte aus 
dieſen Augen zurück, deren Lider ſich bald wieder ſenkten. Mutter Wiedenkamp 
aber nahm die Hand von den Blättern der Bibel und las weiter: 

„Und es begab ſich, daß David um den Abend aufſtund von ſeinem Lager, 
und ging auf das Dach des Königshauſes, und fab vom Dac ein Weib fih waſchen; 
und das Weib war febr ſchöner Geſtalt. —“ 

Heinz Felfen aber ſpielte weiter, und Antje wunderte fih, wie [hin die Geige 
klang. Mutter Wiedenkamp aber war es, als könne ſie das Spiel nicht mehr hören, 
als locke es in den Tönen, als täte es ihr körperlich weh, als müſſe ſie rauh ſein wie 
die See, deren Wogen fih brüllend am Strande ſelbſt fraßen! 

„Hörſt du das Wetter, Heinz?“ fragte fie hart. „Mancher Mutter Sohn 
ſpricht heut' nacht ſein letztes Gebet.“ 

Er zuckte zuſammen bei dem Klang ihrer lauten Stimme, und ein ſchriller 
Mißton endete das Spiel. Als er Kopf und Blick hob, ſah er grade hinein in Antjes 
große Kinderaugen mit dem bläulichen Weiß um die dunkle Sris. Sie ſahen ein- 
ander an, bis ſie ſich aus der kauernden Stellung aufrichtete und mit der Hand das 
krauſe Haar aus der Stirn ſtrich. Dabei ſchauerte fie zuſammen und horchte aus 
der Stille der kleinen Stube auf den lauten Sturm. 

„Ich fürcht' mich“, fagte fie, indem fie die Hände in die blau und weiß ge 
ſtreifte Schürze wickelte. 

„Ja, Antje, mancher Mutter Sohn ſpricht heut' nacht ſein letztes Gebet! 
Dein Mann iſt auf dem Waſſer und dein Vater auch —!“ 

Antje blickte die alte Frau ſtumm an. Streng und hart war deren Mund, 
umzogen von ſcharfen Linien, die Leben und Leid gegraben hatten. Feſt und grade 
aufgerichtet ſaß ſie im Lehnſtuhl mit der Bibel auf dem Schoß. Da ſprang Antje 
auf und horchte wieder, während Heinz ſtill die Geige beiſeite legte. 

„Was mußt du immer vom Tod ſprechen, Mutter?“ fragte Antje. 

„Man denkt daran. Ich habe nur noch den einen, den Martin.“ 

„Er hätte nun ſchöne Fahrt vor ſich, hat er doch geſchrieben!“ 

„Der Brief ift zehn Wochen alt. Waſſer ift Waſſer! Im Sturm ſchreit uns 
der Herrgott ins Ohr. Seht geht die See Iden bis an die Veſterdüne; ich höre 
es ganz genau. Als der Jörn draußen war, hat die Gee fo hoch geſtanden, daß mir 
oben am Flaggenſtock das Salzwaſſer ins Geſicht flog. Zch denke, Antje, es ift Zeit, 
daß du nach deinem eignen Haus ſiehſt!“ 

Antje langte nach ihrem Wolltud, während die Mutter aufſtand und eine 
Oljacke von der Wand nahm nebſt dem Südweſter, der daneben am Tür- 
pfoſten hing. 

„Laß mich Antje nach Haufe bringen bei dem Wetter“, ſagte Heinz Zellen. 

„Nein, Heinz! Zch habe fcon bei ganz anderem Wetter draußen geftanden, 
oft eine ganze Nacht lang, wenn mir in Sorge und Furcht die Luft zu eng wurde 
in der Stube.“ 


Elaufen: Mutter Wledenkamp 731 


Ein Windſtoß kam, daß man deutlich fühlte, wie der Giebel leicht bebte, 
und hörte, wie die Kuppel der Lampe leiſe klirrte. Antje ſah ſcheu zu Heinz hinüber, 
als könne er ihr helfen. 

„Mutter, ich fürcht' mich allein in meiner Kammer! Sch bleib’ hier.“ 

Aber die alte Frau drückte den Südweſter feſt in die Stirn und ſah faſt aus 
wie ein Mann. 

„ne Seemannsfrau foll ihres Mannes Haus hüten, wenn er auf dem Waſſer 
iſt. Komm!“ 

Sie ſchritt mit ſchweren Schritten voran. 

„Gute Nacht, Heinz.“ Antje hielt ihm die Hand hin. 

„Ich werde ſchon mit ihr reden,“ flüſterte er, „daß du hierher ziehſt, bis 
Martin zurückkommt. Gute Nacht, Antje, hab keine Angſt!“ 

Er drückte feſt die kalte, kleine Hand, um ihr Mut zu machen. 

„Halte dich feſt an mich, Antje!“ meinte die Alte, als der Sturm die beiden 
Frauen ſcharf von der Seite faßte, ihnen die Röcke ſtramm vor die Knie zerrte 
und ſurrenden Sand über die Schuhe trieb. „Halt dich an mich, ich bin's ge- 
wohnt!“ 

So ſtampften beide ſchweigend nebeneinander mühſam durch den Sand bis 
zu Antjes Haus, das Martin für jie und ſich vor der Hochzeit gebaut hatte, 

„Solchen Sturm gibt's in Hamburg nicht, Mutter.“ 

„Kannſt recht haben. Die Leute ſagen, wenn's in Hamburg ſtill iſt, dann 
puſtet's immer noch bei uns.“ 

Nachdem ſie eingetreten waren und Licht angezündet hatten, ſagte Mutter 
Wiedenkamp: „So, mach die Läden feſt zu! Kannſt nachher ruhig träumen. Wenn 
'ne Seemannsfrau von ihrem Mann träumt, dann weiß er's, und wäre er noch 
fo weit. — Sekt geht das Waſſer ſchon übers Veſtereck weg; man hört, wie es gegen 
den Damm dahinter bricht.“ 

Ja, die See brüllte, und Antje ſtand, horchte darauf und ſchlang die feinen 
Hände ineinander. 

„Mutter, ich fürcht' mich zu Tode allein in der Kammer!“ 

Ein weicher Ausdruck kam in Mutter Wiedenkamps Augen. Sie wußte noch 
gut, wie es iſt, wenn man mutterſeelenallein im Hauſe bleiben muß bei ſolchem 
Wetter. 

„Wart, bis was Kleines mit dir in der Kammer ſchläft, dann hat man keine 
Angſt mehr! Kannſt ruhig ſein, ich bleibe hier in der Stube, bis du im Bett biſt.“ 

Ihre Hand war weich, als ſie damit der jungen Frau über die Wange ſtrich: 
„Biſt ja noch jung, Antje; ich weiß wohl!“ Sie trat vor den Ofen, um den glimmen- 
den Torfſoden zu ſchüren und Kohlen aufzulegen. „Zieh dich in der Stube aus, 
Antje, hier iſt's noch warm.“ 

„Du bijt heute fo gut zu mir, Mutter.“ 

„Meinſt —? Ich zeig's nur nicht oft. Manchmal denk' ich, du biſt noch wie 
'ne kleine Deern. Ich hab' nie eine gehabt, bloß Jungens.“ 

Sie ſah zu, wie Antje das Kleid abſtreifte. Herb und zart waren noch die 
Formen der Arme und des ſchlanken Halſes. 


732 Cauſen: Mutter Wiedentamp 


„Habt hier abends wohl manchmal zufammen gefeffen, du und der Martin?“ 

Scherzhaft neckend fragte fie, aber ihr Blick ging dabei ſcharf zu Antje þin- 
über mit einem Ausdruck, als fuchte fie etwas in deren Geſicht. Dieſe hatte die 
langen dunklen Haare gelöſt, die ihr über die Hüften reichten und die ſie nun in 
zwei ſtarke Zöpfe flocht. 

Antje erwiderte nichts. Mutter Wiedenkamp wandte den Blick wieder ab 
und ſtierte in die Ofenglut, bis Antje auf bloßen Füßen zu ihr trat: „Gute Nacht, 
Mutter.“ Sie ſtand im Unterrod da und hielt die Hand hin, während die alte 
Frau zu ihr aufſah. 

„Ich mein’, der Martin wär' heute abend gern an meiner Stelle“, ſagte 
ſie ganz gegen ihre ſonſtige herbe Art im ſcherzenden Tone. Die junge Frau aber 
ſenkte den Kopf, wurde rot und ging in die Kammer. Nach einer Weile kam die 
Mutter zu ihr und drückte fürſorglich das Federbett an Antjes zarte Glieder. Es 
war, als wenn eine Mutter ihr kleines Kind zu Bett bringt. „Schlaf ſchön, Kindchen!“ 

„Ja, Mutting, nun fürchte ich mich ſchon nicht mehr.“ 

„Laß gut fein; ich bleib’ nebenan, bis du ſchläfſt. Die Haustür jchließ’ ich 
hinter mir ab. Du haſt ja noch einen Schlüſſel.“ 

Damit ging ſie hinaus, um ſich wieder vor dem Ofen niederzuhocken und zu 
horchen, wie die See ging. So hütete Mutter Wiedenkamp den Schlaf von ihres 
Züngften Weib. Gedanken gingen durch ihren Kopf, Gedanken mit Sturm und 
Wellen, Gedanken mit lodernder Flamme im Ofen. „Martin, mein Jung'!“ 
murmelte fie einige Male vor ſich hin. In ſolcher Sturmnacht war er zur Welt ge- 
kommen; Martini war's geweſen, und Martin hatte ſie ihn genannt; ja, und zu 
Martini wollte er heimkommen. Ihr war's, als ſtände ſeine rieſige Geſtalt neben 
ihr und als blickten feine hellen Augen zu ihr hinunter, die immer gut und freund- 
lich geweſen waren, wenn er die Mutter damit anblickte. Sah er, daß ihre Ge- 
danken bei ihren drei Toten waren, dann legte er wohl die breite Hand auf ihre 
Schulter: „Mußt nicht immer dran denken, Mutter; haſt mich ja noch.“ 

Ihr Stolz war er, dieſer letzte Wiedenkamp, der zweite Steuermann auf 
der „Freia“, die mit deutſchen Waren nach St. Franzisko lief. Wie konnte nur in 
einem ſolchen rieſigen Menſchen, den kein Mann anzurühren wagte, ein Herz ſtecken 
ſo weich und ſo gutmütig, wenn er mit der Mutter ſprach! Zu Männern ſprach er 
wenig und nur, was gejagt werden mußte. Darum hielten fie ihn für ſtolz im Dorfe. 
Als er ihr damals mitteilte, daß er zu heiraten gedenke, hatte ſie drei Tage lang 
kein Wort mit ihm geſprochen, und als ſie am vierten Tage dann mit ihm ſprechen 
wollte, hatte er nicht geantwortet, ſondern den Kopf zur Seite gewandt mit einer 
tiefen Falte auf der Stirn. Hier kamen zwei Wiedenkampſche Köpfe aneinander; 
aber ſie mußte es erſt verwinden, daß eine andere, eine Fremde, nun vor ihr kom- 
men ſollte in ihres Sohnes Herzen. Erſt als ſie ſagte: „Sei wieder gut, Martin, 
kannſt deine Braut bringen, ich will ſie nehmen wie ein eigen Kind“, hatte er ihr 
die Hand gegeben, und die Falte war fort, denn er wußte, daß Mutter Wieden- 
kamp hält, was ſie ſagt. Sie hatte ihr Wort gehalten und das feine Stadtkind ans 
Herz genommen. Als ſie zuerſt Martins Braut erblickte, hatte ſie gedacht: Die 
drückt er ja tot, wenn er ſie in den Arm nimmt! Heimlich mußte ſie dann oft lächeln, 


Clauſen: Mutter Wiedenkamp 735 


wie zart und fein der rieſige Mann mit Antje umging. Dieſe war gut und fügſam 
im Umgang mit der Mutter. Nie war ein unrechtes Wort gefallen. 

Die Augen der alten Frau wanderten langſam durchs Zimmer und hafteten 
eine Weile auf dem Bücherbord zwiſchen den Fenſtern. Die Schwiegertochter hatte 
etwas gelernt und brachte viele Bücher mit. So kam es, daß nur in Heinz Zelfens 
Stube und in Martin Wiedenkamps Hauſe andere Bücher waren neben der Bibel. 

Fa, ja, fie wußte noch gut, wie es ift, wenn der Mann auf Jahr und Tag in 
See ging. Zwar für ſie war's leichter geweſen, denn als ihr Mann bald nach der 
Hochzeit fort mußte, wußten er und ſie, daß ſie ihn bei ſeiner Heimkehr nicht mit 
leeren Händen erwarten würde. Bis dahin follte der Alteſte, Jörn, auf der Welt 
ſein. Damit aber war's hier im Hauſe ja wohl noch nichts? — Es ging ein Wort 
in Seemannsmund: Wenn ein Seemann nach Hauſe kommt unter einem Jahr, 
dann muß eins mehr in der Stube fein, ſonſt geht die Frau auf Grund! — Weis- 
heit war in dem Wort, herbe Wahrheit, die gelernt war aus dem Leben, aus Sturm 
und Wirklichkeit. 

Wie zutunlich und freundlich Antje in Mutter Wiedenkamps Augen blicken 
konnte! Genau fo wie Heinz Zellen! 

Sie richtete ſich auf und horchte. Draußen dasſelbe Getöſe in Luft und See, 
nebenan ein ruhiges, tiefes Atmen! Da ſtreifte ſie die derben Lederſchuhe ab 
und ging lautlos an die offene Kammertür, von wo aus ſie doch ganz deutlich 
trotz des Halbdunkels Antjes ſchwarzen Kopf in den weißen Kiſſen erkennen konnte. 
Näher ſchreitend blickte ſie auf das zur Seite geneigte Geſichtchen herab. 

„Wie ein Kind, grad wie ein kleines Kind!“ — Faſt hätte Mutter Wieden- 
kamps Hand über Antjes krauſe dunkle Haare geſtrichen. Dieſe bewegte den Kopf, 
warf ſich auf die andere Seite und murmelte Worte vor ſich hin. Ganz tief beugte 
ſich Mutter Wiedenkamp hinab; ſie wollte ſo gern Martins Namen hören! Aber 
mit einem Ruck richtete ſie ſich auf. „Heinz, Heinz, ſpiel weiter“ — das hatte ſie 
gehört, und leiſe, mit geſenktem Kopf, ſchlich die Alte wieder hinaus. Mitten in 
der Stube blieb ſie ſtehen und legte die Hand aufs Herz. Hart war ihr Geſicht, 
tiefer und herber wurden die Linien, die dort das Leben gegraben! Als ſie ſich dann 
büdte, um die Schuhe aufzunehmen, war es ihr, als triebe der Sturm Kohlendunſt 
ins Zimmer. Sie griff hinauf hinter den Ofen, um zu prüfen, ob vielleicht die 
Rohrklappe nicht ganz geöffnet fei. So ftand fie eine Weile mit erhobenem Arm 
und mit dem Griff der Klappe in der Hand. 

„Warum träumt fie nicht von Martin, ihrem Mann — —?“ 

Haſtig ließ ſie das Eiſen los, als ſei es glühend; haſtig riß ſie die Lampe vom 
Tiſch und ging damit hinaus. Erſt auf der Diele zog ſie die Schuhe an, löſchte das 
Licht und trat hinaus. Der dürre Sandhafer am Gartenzaun ſurrte und flirrte 
mit pfeifendem Ton, als fie die Tür ſchloß und nach dem Dorf hinüberſpähte. Der 
Mond war herauf, und ſein Licht kam und verſchwand hinter den unter ihm durch 
bekenden Wolken. Im ganzen Dorf war nur noch ein Licht, und das warf feinen 
hellen Schein aus dem Fenſter ihrer Giebelſtube. So war Heinz Felfen noch dort. 

Sie wandte fich kurz und begann zur Weſterdüne aufzufteigen. Es tat ihr 
gut, gegen Sturm und unter den Füßen abriefelnden Sand mühſam ſich hinauf⸗ 


734 Elaufen: Mutter Wiebenkamp 


zuquälen. Oben angelangt und nach Atem ringend konnte fie nicht aufrecht ſtehen, 
ſondern mußte knien und fih am Flaggenſtock halten. Dort kniete Martins Mutter 
nicht zum erſtenmal in ſolcher Nacht! Ihr Falkenauge flog weit über die See. 

So wie das Mondlicht kam und ging, flackerte es ſchneeweiß auf aus der toben- 
den See, als griffen Geiſterhände hier und dort, nah und fern nach oben. Die Frau 
bewegte die Lippen: „Kannſt ruhig ſchlafen, Martin, mein Jung’; ich bin da!“ 

Als fie das geſagt hatte, eilte fie abwärts nach Haufe, wo in der Stube Heinz 
am Tiſch ſaß und in einem Buch las. Sie trat an den Ofen und hielt die ftarren 
Hände gegen die warmen Kacheln, während ihr Blick auf ihm ruhte, bis ſie fragte: 

„Was lieſt du da, Heinz?“ 

„Gedichte, Mutter.“ 

„Lies keine Gedichte, Heinz, lies das Leben und die Bibel!“ 

Er ſah ſie frei und offen an mit ehrlichen Augen. 

„Mutter, laß doch Antje hierher ziehen, bis Martin zurückkommt. Sie fürd- 
tet ſich allein in ihrem Hauſe.“ 

„Hierher in unfer Haus, Heinz — —?“ 

Faſt klang es, als lachte ein häßlicher Unterton in ihrer Stimme auf. 

„Ja, Mutter, ſie kann einem leid tun, ſo jung, wie ſie iſt, und ſo ſchwach und 
zart, mutterſeelenallein in dem Haus! Wir ſollten gut ſein mit ihr; Martin wird 
es gern ſehen, oder — haſt du etwas gegen ſie? Heut' abend warſt du ſo kurz, als 
du mit ihr ſprachſt.“ 

Die alte Frau ſchwieg und hielt den Blick feft gerichtet auf die Myrtenkränze 
über der Kommode. Erft nach einer Weile kam ihr Blick zurück, um grübelnd auf 
ſeinem Geſicht und in ſeinen klaren Augen zu ruhen. Langſam wiſchte ſie mit der 
Hand über die Stirn; aber als ſie die Hand ſinken ließ, war ihr Geſicht freundlicher 
als vorher. 

„Ihr ſeid beide noch Kinder, du, und die Antje erſt recht! Aber in ihrem 
Haus bleibt ſie, das iſt anvertraut Gut.“ 

„Dann laß mich ſo lange in Martins Haus ziehen, Mutter!“ 

Scharf wieder muſterte ihr Blick ſeine Züge. 

„So — meinſt du das —?“ und nach einer Weile des Nachdenkens: „Nein, 
Heinz, wenn Martin hierher denkt, und wär's in ſeiner Todesſtunde, dann ſollen 
ſeine Gedanken die Frau in ſeiner Kammer finden! Einem, der weit auf dem 
Waſſer iſt, ſoll man die Gedanken nicht verſtellen. Gute Nacht, Heinz.“ 

Lange noch lag ſie wachend im Bett und lauſchte auf Sturm und Brandung, 
bis fie endlich die Hände faltete und ihr Vaterunſer ſprach. Die Bitte: „Und führe 
uns nicht in Verſuchung!“ ſagte fie zweimal auf. Zwiſchen Wachen und Schlafen 
ſchon fuhr ſie plötzlich hoch und ſetzte ſich im Bett auf. Was für Stimmen hörte 
ſie durch den Sturm hindurch? Oer hellklingende Schrei der Wildgänſe war es, 
die nach Norden zogen. Dann lag ſie wieder wach in grübelnden Gedanken, bis 
es draußen ſtiller wurde; und Ruhe kam in ihr Mutterherz. 

* * 


S 
Als Mutter Wiedenkamp vor der Tür des Paſtorhauſes am Glen des Fuß- 
kratzers ihre Schuhe reinigte, fab fie in der Ferne an der Weſterdüne zwei Geſtalten 


Claufen: Mutter Wiedentamp 135 


ſich über den ſonnenbeſchienenen weißen Sand bewegen. Das waren Heinz 
Selfen und Antje. Als die beiden zuſammen vor einer Stunde fortgingen, trug 
Heinz ein Buch in der Hand, und Antje ging neben ihm ſchlank und leicht in einer 
hellen Bluſe mit blauen Tupfen. Oſternachmittag war es, und die See ſtill wie 
ein Teich. Hier und dort ſtand in dem ſonnigen Schimmer, der über dem tiefblauen 
Waſſer flimmerte, ein Segel, ſchneeweiß. Die einſetzende Flut quoll in tiefen, 
ruhigen Atemzügen über den flachen Strand herauf und ſenkte fidh leiſe rauſchend 
zurück vom weißen, wie die Bruſt eines Mädchens leuchtenden Sande. Nun blie- 
ben die Geſtalten ſtehen, und Mutter Wiedenkamps ſcharfe Augen erkannten, wie 
die beiden fich niederließen am Fuß der Düne. — Da zog fie die Klingel an der Tür. 

Die Fenſter ließen weit geöffnet dem alten Paſtor Hallinger Sonnenluft 
und Primelduft, Finkenſchlag und Lerchenſang in ſeine Studierſtube hinein. Er 
hatte am Fenſter geſtanden und alles das dankbar genommen, was fold ein Ofter~ 
tag über Sand und Waffer, über Scholle und Schaum in ein Menſchenherz hinein- 
tragen kann. Nun wandte er bei Mutter Wiedenkamps Eintritt dieſer fein freund- 
liches Greiſenantlitz zu. 

„Das iſt ein gottgeſegneter Feiertag, Frau Wiedenkamp, für uns Alte be- 
ſonders. Nun hören Sie bloß, welchen Jubel die Stare in meiner alten Linde 
loslaſſen! Ich glaube gar, Sie haben hier in meiner Stube nicht geſtanden, ſeit ich 
den Martin konfirmierte. Was macht der Zung’?“ 

„Danke für Nachfrage, Herr Paftor! Gut zuwege war er, wie er zuletzt ge- 
ſchrieben hat. Ich wollte mit Ihnen ſprechen wegen meinem Schweſterſohn, 
Heinz Zelſen.“ 

„Wegen dem, Frau Wiedenkamp? — Ein guter, fleißiger und kluger Menſch 
iſt er, ein Lehrer nach dem Herzen Gottes und der Kinder, was ſo ziemlich auf 
eins herauskommen mag.“ 

„Das ſtreit' ich nicht ab, Herr Paſtor“, ſagte Mutter Wiedenkamp, indem ſie 
mit der Hand die Falten ihres Schwarzſeidenen über den Knien glatt ſtrich. Sie ſaß 
ſteil gerade auf dem Stuhl, den ihr der alte Herr geboten hatte. „Ich meine, wenn 
der Heinz ſo tüchtig iſt, wär's doch am Ende beſſer, er käme an eine Stadtſchule.“ 

Sie hielt ganz gegen ihre ſonſtige Gewohnheit die Augen geſenkt, fühlte aber 
ſehr wohl, daß des alten Mannes helle Augen ſcharf ihr Geſicht muſterten. 

„Kommt das von ihm oder von Ihnen, Frau Wiedenkamp?“ 

„Er weiß nichts davon.“ 

„Na, dann denke ich, man ſoll jeden Menſchen für ſich ſelbſt denken, ſorgen und 
ſprechen laſſen. Will er ſelbſt nicht fort, na, dann bleibt er hier.“ 

Er ſagte dies mit ziemlichem Nachdruck. Sah er doch, daß die Frau auf einem 
Umweg zu ihm ſprach, den er nicht liebte. Dieſe ſtand auf und ſagte ebenſo be- 
ſtimmt: 

„Nichts für ungut, Herr Paftor; ich hab' Mutterſtelle an dem Zungen ver- 
treten.“ 

Der Paſtor kannte die Menſchen hierzulande nur zu gut. Er kannte die 
breiten, harten Stirnen und kühl abwehrend blickenden Augen; er kannte dieſes 
verſchloſſene Weſen und ſchwere Sprechen. 


136 Claufen: Mutter Wiedenkamp 


„Schön, Frau Wiedenkamp, wenn Sie weiter nichts haben, dann habe ich 
auch nichts weiter für Sie. — — Aber fo dumm bin ich nicht, um Ihnen zu glauben, 
daß Sie nichts weiter hier gewollt hätten!“ 

Sie, die ſich ſchon zur Tür gewandt hatte, blieb zögernd ſtehen. Wenn einer 
ſo mit ihr ſprach, ging Mutter Wiedenkamp nicht hinaus, ohne Antwort zu geben. 

„Ja, Frau Wiedenkamp, bloß um das zu fragen, ziehen Sie nicht Ihr Schwarz- 
ſeidenes an und kommen an einem Oſternachmittag ins Paſtorhaus!“ 

Sie ſtand und ſah ihm trotzig, feſt ins Geſicht, ſah feſt hinein in ſeine klaren, 
ruhigen Augen und fühlte, daß dieſe Augen mehr geſehen hatten, als fie hatte zei- 
gen wollen. 

„Ich mein' man, Herr Paſtor, es iſt nicht meine Art, lang zu bitten. Ich ſag's 
grade heraus, ich möchte Heinz Selfen gern auf 'ne beſſere Stelle haben.“ 

„Vo er beſſer bezahlt wird alſo?“ 

„O, von wegen deſſen, Herr Paſtor, mein Schweſterkind braucht nicht aufs 
Geld zu ſehen. Da bin ich noch gut für!“ 

Der alte Herr mußte lächeln über den herben Stolz, mit dem ſie ein ſolches 
Anſinnen zurückwies. 

„Wenn's das nicht ift, Mutter Wiedenkamp, dann frage ich Sie: Zit ein fol- 
cher Lehrer für uns zu gut —? Sind unſere Kinder ſchlechter als die in der Stadt? 
Na, da ſchütteln Sie den Kopf —? Das denke ich doch auch. — Einen ſolchen 
Lehrer haben wir in den vierzig Jahren, ſeit ich hier bin, nicht gehabt, und lieb 
habe ich den Menſchen, als wäre er mein eigener Sohn!“ 

„Mir iſt er wie ein eigen Kind,“ erwiderte Frau Wiedenkamp, „aber ich denke, 
jeder ſoll auf den Platz, wo er vorwärts kommen kann.“ 

Nun trat der alte Mann dicht an ſie heran und legte ſeine Hand auf ihre 
Schulter. 

„Mutter Wiedenkamp, Sie lügen ja nicht geradezu, nein, aber Sie ſegeln 
grade um eine Handbreit an der Wahrheit vorbei. Deshalb iſt es auch nicht, daß 
Heinz Felfen fort ſoll!“ 

Sie machte eine kurze abwehrende Bewegung mit der Schulter, aber ſeine 
Hand blieb dort liegen. 

„And nun, Frau Wiedenkamp, fage ich es Ihnen auf den Kopf zu: Sie 
wollen den Heinz forthaben wegen dem Gerede im Dorf!“ 

Da ſetzte ſie ihr hochmütigſtes Geſicht auf. 

„Als wenn ich mich darum kümmerte, was die alten Weiber im Dorf klatſchen!“ 

„Gut denn, wenn es nicht wegen dem Gerede im Dorf iſt, dann iſt es 
wegen dem Gerede, das Mutter Wiedenkamp mit ſich ſelbſt ſpinnt. Was iſt mit 
Heinz Zelfen und der jungen Frau vom Martin?“ 

Sie zuckte zuſammen. 

„Nichts iſt, Herr Paſtor, da ſag' ich noch gut für, daß nichts iſt! Sonſt ſtände 
ich nicht hier, und die Antje wär' auch nicht mehr hier!“ 

Trotzdem ſie ſo ſprach, ging ihr Blick unruhig durchs Zimmer. Der Paſtor 
ließ die Hand von ihrer Schulter gleiten und trat ans offene Fenſter. Ob dieſe 
Frau wohl herausgab, was in ihr ſorgte, bangte und fragte? Faſt wollte ihn die 


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laufen: Mutter Wiebentamp 737 


Mühe verdrießen, durch den Panzer zu dringen, den eine ſolche herbe Natur um 
ſich trägt. Eine Weile ſah er nachdenklich in den Sonnenſchein, der warm auf den 
Primelrabatten im Garten lag. Die Frau hinter ihm im Zimmer hatte bange 
Sorge am Herzen, ſie lechzte danach, ſich mitzuteilen, und konnte doch den Weg 
nicht finden durch alle die Sperren, die in ihrem Weſen lagen. Ging ſie ſo fort, 
dann kam ſie nie wieder mit ihrer Sorge zu ihm, auch zu keinem anderen Menſchen, 
und er wußte, es handelte fih um Heinz Zellen, den er liebhatte. 

„Frau Wiedenkamp,“ begann er, ohne vom Fenſter zurückzutreten, „daß Sie 
ein ſtarkes und ſtolzes Herz haben, weiß ich. Aber ich ſage Ihnen auch, daß man 
ſich nicht gern anliigen läßt von einem Menſchen, vor dem man Reſpekt hat.“ 

Er erhielt keine Antwort. Nichts regte ſich hinter ihm im Zimmer. Aber 
als er ſich umwandte, ſah er, daß die große, ſtattliche Frau dort tief atmend ſtand 
und daß ihre Schultern weit nach vorn gebeugt waren. 

„Soll ich mit Heinz ſprechen, Frau Wiedenkamp? Zch tue es gern, wenn es 
Ihnen recht iſt.“ 

Da ſchrie fie auf: „Bloß das nicht — bloß das nicht, um Gottes Barmherzig⸗ 
keit nicht! Ich weiß nichts, — gar nichts weiß ich, und ich laſſ' mich totſchlagen, 
nichts Anrechtes ift geſchehen, — bis heut' nicht, Herr Paftor!“ Sie preßte beide 
Hände gegen die Bruſt. „Hier hab' ich 'ne Angſt, 'ne Angſt, als ginge die Sünde 
durchs Haus, nein, als ſtände die Sünde vor der Tür und wartete. Heinz Zelfen 
iſt unſchuldig wie ein Kind. Zum Herrgott hat er mich oft hingeſpielt mit ſeiner 
Muſik, wenn ich dachte, es gab’ ja wohl keinen guten Gott mehr in der Welt! Fah 
hör's fo gern, Herr Paftor, aber die junge Frau hört's auch gern. Zch verſteh' ja 
ſonſt nichts davon, aber wenn ſie dabei ſitzt und zuhört, dann ſpielt er ganz anders, 
ganz anders, und dann kommt die Angſt! Zch weiß nicht, aber dann denke ich, 
die Sünde iſt in der Muſik, und ich könnte die Geige nehmen und fie kaput ſchlagen!“ 

Sie ſchwieg einen Augenblick, kurz und haſtig atmend, während der alte Paſtor 
einige Male vor ſich hinnickte: „Weiß wohl, weiß ganz gut, Mutter Wiedenkamp!“ 

„Ja, Herr Paſtor, und dann lieſt er ihr was vor aus ſeinen Büchern, und 
ſie gehen zuſammen aus, heute nachmittag auch. Ich kann doch nichts dagegen 
fagen. Was ſoll auch die junge Frau tun? Arbeit hat fie nicht viel im Haus. Wenn 
ich die beiden anſehe, — wie Kinder ſind ſie noch, Heinz, und die Antje erſt recht, — 
dann denk' ich, alles ift Unſinn. Nicht rühren mag ich dran! — Dem Heinz kann 
ich nichts ſagen, ich kann's nicht! Wenn er mich dann anſieht mit ſeinen Augen, 
dann muß ich mich ja ſchämen, dann wird's grade fo fein, als war’ ich ſchlecht! Sch 
könnt's nicht aushalten, wenn er mich fo anſieht! — Sch hab' ihn zu lieb, den 
Jungen!“ 

Das kam alles heraus in abgeriſſenen Sätzen, alles, was ſeit Wochen in 
ſchlafloſen Nächten in ihr genagt und an ihr gezehrt hatte. Tränen, die ſie heimlich 
ſchon geweint, Gram, der fie heimlich gequält, Angſt um ihres Letzten, des Mar- 
tins Glück. So ſtand ſie, und langſam rollten zwei Tränen an den herben Linien 
ihres Mundes herab. 

„Ja, Frau Wiedenfamp, ich glaube auch, daß alles Anſinn ift. Geſpenſter 
ſind es aus Ihrem langen Leben und aus Not und Gram vergangener Tage. 

Der Zürmer XI, 12 47 


738 Claufen: Mutter Wiebenkamp 


Allzuviel Leid macht feige. Wann kommt Martin wieder? — So, zu Martini. — 
Hm, ja, Heinz Zelfen können wir auch nicht von heute auf morgen an eine andere 
Schule bringen. Recht haben Sie, nicht rühren ſoll man dran. Wer ins Feuer 
puſtet, dem ſchlägt die Flamme in die Augen und ins Haus. Das Gerede im Dorf? 
Sie denken, wenn Ihr Sohn zurückkommt, daß die Leute ihm allerhand zuſtecken? 
Die Niedertracht iſt immer da, Gott ſei's geklagt, zumal Ihre Schwiegertochter 
keine von hier iſt —“ 

„Meinem Martin, Herr Paſtor, ſagt keiner was, dem ſein Leben lieb iſt.“ 

„Hm, ja, ich weiß wohl. Er ift fo einer, ſtill vor ſich hin, aber wenn es los- 
bricht, denkt man, der Menſch ijt toll. Ich weiß noch ganz gut, als der Martin fed- 
zehn Jahre alt war, und einer etwas gegen Sie gejagt hatte, da hat er den Men- 
ſchen faſt totgeſchlagen. Ein ausgewachſener Mann war der andere.“ 

„Ja, Herr Paſtor, das tut er.“ 

„So denke ich, laſſen wir die beiden Kinder in Ruhe und vertrauen dem 
Herrgott! Es gibt ein Feuer, das keiner löſcht, wenn's der Herrgott nicht ſelbſt 
tut. Aber wir beiden, Mutter Wiedenkamp, wir halten die Augen offen! Wäre 
es nicht möglich, daß Ihre Schwiegertochter nach Hamburg ginge?“ 

„Das geht nicht, Herr Paſtor. Ihre Mutter iſt tot, und ihr Vater iſt auf See. 
Verwandtſchaft hat ſie auch nicht. Aber jetzt iſt's mir ſchon beſſer. Auf der Bruſt 
hat es mir gelegen. Kein Wort fage ich gegen die junge Frau. Ich weiß, wie's 
tut, wenn der Mann fort muß bald nach der Hochzeit!“ 

Der Paftor ſtand wieder am Fenſter. Frühlingswind, linde Luft und Sonnen- 
fhein allüberall. 

„Alſo, ich paſſe mit auf, Mutter Wiedenkamp!“ 

„Herr Paftor —“ ſagte fie und hielt ihm die Hand hin. 

„Sie brauchen mir nicht zu danken, Frau Wiedenkamp. Ich kenne Sie ganz 
gut und weiß, daß der Martin Ihr Letzter iſt auf dieſer Welt.“ 

„Ja, Herr Paſtor, und wer dem was zuleide tut, wenn den ein Menſch in 
Not treibt, ich weiß nicht, was ich tun könnte!“ 

Sie reckte ſich hoch auf, und der alte Mann erſchrak vor dem Ausdruck ihres 
Geſichts. 

„Wird ſchon alles gut werden, Mutter. Leſen Sie nur nicht gar zu viel im 
Alten Teſtament! Es ſteht ein bißchen reichlich viel darin von menſchlicher Nieder- 
tracht, zu viel von Rache und Zorn. Das Neue iſt beſſer. Sehen Sie mal den 
Sonnenſchein und den blauen Himmel! Man muß ja der ganzen Gotteswelt 
vertrauen!“ 

Dabei gab er ihr die Hand, und ihr war es, als ſei etwas Frühling auch in 
ihr altes Herz gezogen. Mit feſten Schritten ging fie hinaus. 

Oer alte Herr ſah ihr eine Veile nach. 

„Seltſame Menſchen! Feſt zu, wie verriegelt und verſiegelt; aber kommt 


das Herz zutage, dann ift es wie die See bei Sturm und Flut und geht über Damm 
und Düne mit Brauſen.“ 


Elaufen: Mutter Wiedenkamp 739 


Als Mutter Wiedenkamp aus dem Paſtorhauſe trat, flog ihr Blick nach der 
Weſterdüne. Dort waren noch die beiden Geſtalten zu ſehen, Heinz und Antje. 
Ein Flug Möwen taumelte über der tiefblauen Flut und hob ſich ſilberweiß blitzend 
gegen den Sonnenſchein. Mit großen Schritten ging fie die Oorfſtraße hinab. 

Peter Flier ſaß im Wirtshaus und ſah ihr nach. 

„Sie hat doch noch 'nen bannigen Schritt, wenn ſie ſo hinſchwenkt in die 
feine Kledaſche. Heinz Jelſen und dem Martin feine Frau fiken an der Wefter- 
düne in der Sonne. Jung Volk ift jung Volk!“ 

„Ja,“ meinte die Wirtin, indem fie die Stricknadel aus der fertigen Mafchen- 
reihe zog, „Martin Wiedenkamp hätte fih eine nehmen follen, die ihre Freund- 
ſchaft hier hat. Da paßt eins aufs andere.“ 

Als Mutter Wiedenkamp am letzten Haus des Dorfes vorbeiging, ſtellte 
Trine Heidmann, die zehn Jahre ihres Lebens darum gegeben haben würde, 
wenn Heinz Felſen nur zehn Minuten allein mit ihr an der Weſterdüne geſeſſen 
hätte, ſtellte das ſtattliche Mädchen ihre Tracht Eimer vor der Haustür zu Boden 
und ſagte: 

„Guten Tag, Mutter Wiedenkamp. Schön Wetter heut'. Wenn Sie Ihre 
Schwiegertochter ſuchen, die ſitzt ſchon en End' lang mit unſerem Lehrer am 
Veſtereck.“ 

„Das weiß ich grade fo gut wie du, Trine Heidmann. Meine Schwieger 
tochter kann ich allemal finden, da braucht mir keiner ſuchen helfen. Die beiden 
ſitzen da ganz gut bei dem ſchönen Wetter! Wenn du Zeit haft, kannſt mitkommen. 
Sch geh’ auch hin.“ Sie fagte es lachend, aber einen Stich gab es ihr doch ins Herz. 

„Nee, Mutter Wiedenkamp, danke vielmals, ich hab' zu ſo was keine Zeit! 
Krügers Tim hat geſtern geſchrieben, daß er zu Fohanni nach Haus tam’, und 
gefragt hat er, wo der Martin wär und wie es ihm ginge.“ 

„Dem geht's gut, Trine, aber er kommt erft zu Martini.“ 

Oamit ſchritt ſie weiter. Tim Krügers war Martins beſter Freund, mit dem 
er drei Jahre lang zuſammen auf demſelben Hamburger Schiff gefahren war. 

Trine Heidmann hielt den kräftigen braunen Unterarm gegen den Sonnen- 
ſchein über die Augen und ſah, wie die alte Frau an ihrem Haus vorbei ſchnurgerade 
über den Strand nach der Düne ging. Das ſtattliche Mädchen ſtieß die Haustür 
auf und trug die Eimer hinein. Wenn Heinz Zellen nicht wollte, Tim Krügers 
hatte ſie ſicher! 

N * ¥ * 

„Wenn ich du wäre, Heinz, ich blieb’ nicht hier Lehrer“, fagte Antje. Sie 
lag neben ihm auf dem trockenen Sande, hielt den Kopf in die linke Hand ge- 
ſtützt und ließ aus der rechten Hand die feinen Sandkörner durch die Finger rieſeln. 

„Wozu ſollte ich hier weggehn, Antje? Mir gefällt es ganz gut bei uns, 
und für die Mutter wäre es doch gar zu einſam auf ihre alten Tage. Kann man in 
Hamburg ſo auf dem warmen Sand liegen und das Meer rauſchen hören? Kann 
man da ſtill in einem Buch leſen, wenn die Möwen ſchreien und kein Menſch 
einem über den Weg läuft? Letztes Jahr bin ich mit Martin in Hamburg geweſen 
und war froh, als ich wieder die See hörte, das Weſtereck ſah und den Sand fühlte.“ 


749 | Elaufen: Mutter Wiedentamp 


Ohne zu antworten, nahm fie wieder eine Handvoll Sand und ließ die im 
Sonnenlicht glitzernden Körnchen in drei Strahlen zwiſchen den Fingern durch- 
rinnen. Er ſah ihr zu, bis ſie die Augen hob und er verwirrt den Blick wieder in 
die Blätter des Buches ſenkte. 

„Was lieſt du da, Heinz?“ 

„Gedichte von Storm ſind's.“ 

„Die ſind ſchön, aber traurig.“ 

„Nicht alle, Antje. Wie nur ein Menſch ſo etwas dichten kann, ſo etwas 
wie das Gedicht ‚Das macht, es hat die Nachtigall die ganze Nacht geſungen“. — 
Kennſt du das?“ 

„Weiß nicht; lies mal!“ 

Als er geendet und aufſah, tat ſie einen tiefen Atemzug, während eine feine 
Rote auf ihrem ſchmalen Geſicht kam und ging. 

„Wenn du das lieſt, Heinz, dann iſt's beinahe, als wenn es Muſik wäre.“ 

„Ja,“ lachte er, „und dabei habe ich mein Leben lang noch keine Nachti- 
gall gehört. Hier gibt's keine. Aber wenn ich das laut leſe, dann denke ich, ich 
brauchte nur meine Geige zu nehmen und ich könnte ſpielen, wie — na, wie ſoll 
ich ſagen? — wie eine Nachtigall ſingt.“ 

„In Hamburg gibt es viele Nachtigallen,“ ſagte ſie und fügte nach einer 
Meile hinzu: „Ich glaube, Heinz, hier ſingt nichts.“ 

„Doch, Antje, Lerchen gibt's. Sieh bloß, da oben!“ 

Beide ſahen zum klaren Himmel hinauf. Das Sonnenlicht lag warm auf 
ihren jungen Geſichtern, und das Lerchenlied klang froh zu ihnen herab. 

„Zu ſchön iſt es, zu ſchön iſt es heute, Antje!“ Heinz Zelſen warf ſich lang 
im Sande auf den Kücken, ſchränkte die Arme unter dem Kopf und ſagte noch 
einmal, indem er e Augen ſchloß: „Zu II ijt es. Rein verrückt könnte man 
werden!“ 

Sa, ihm war zumute, als ränne das warme Sonnenlicht durch jede Ader, 
als ſängen Lerchen in ſeinem Herzen und als klänge das unbekannte Së der 
Nachtigall ſehnſüchtig ſchwellend durch fein Gemüt. 

„Was haſt du geſtern abend geſpielt, Heinz?“ 

Auch den weichen Klang ihrer Stimme ließ er erft ausſchwingen in gie 
ohne die Augen zu Öffnen, ehe er erwiderte: 

„Weiß nicht mehr, Antje.“ 

„Wie du geſpielt haſt, Heinz, habe ich die ganze Zeit an Martin denken müj- 
fen. Sch weiß nicht weshalb, und einſchlafen konnte ich gar nicht.“ 

„An Martin —?“ ſagte er langſam und ſah ſeitwärts auf ihre Hand, die halb 
verborgen im Sande fic ſtützte. Der Trauring glänzte hell in der Sonne. Plötz- 
lich tat ſie einen kleinen Aufſchrei und zog die Füße ſchnell unter ſich. Eine etwas 
höhere Flutwelle war ihr bis an die Sohlen der Schuhe gerollt. Da fprang er auf. 

„Weißt du was, Antje? Zebt bauen wir einen Damm und warten, wie lange 
es dauert, bis die erſte Welle darüber weggeht!“ 

Er griff ſchnell nach zwei größeren Muſcheln und ſchob den loſen Sand zu 
einem Damm zuſammen. „Paß auf, allemal ijt es die dritte Welle, die höher geht!“ 


Elaufen: Mutter Wlebenkamp 741 


And die dritte Welle kam flüſternd und rauſchend wie kniſterndes Geiden- 
zeug, aber über Heinz Jelſens Damm ging fie nicht weg. Lachend griff Antje zu 
und half ihm dämmen. Im Halbkreiſe zogen fie den Damm vor ſich her und freu- 
ten fih, wenn die Flutwelle rechts und links daran herauftanzte, ohne hinüber- 
zukommen. Za, wie zwei Kinder arbeiteten ſie lachend mit roten Backen, die die 
liebe Sonne bräunte. Ihre Hände berührten ſich oft, und weil Antje dicht neben 
ihm kniete, ſtieß fie einige Male mit der Schulter an die feinige. | 

„Paß auf, Antje, jetzt kommt eine, die ift groß!“ 

Er ſtemmte ſich auf den Armen hoch, um der Welle entgegenzuſehen, und 
ſeine rechte Hand lag dabei feſt auf den Fingern von Antjes linker Hand. Dieſe 
ſchloß die Augen und glaubte das Lied zu hören, das er geſtern abend geſpielt hatte. 
Sein Blick aber irrte über ihre dunklen krauſen Haare, aus denen das Sonnen- 
licht kupfergoldne Lichter lockte. Sein Blick glitt über das Oval ihrer Wange, auf 
die der Sonnenſchein ſchon einen leichten bräunlichen Ton gebrannt hatte. Sein 
Blick irrte an ihrem ſchlanken Halſe herab bis zu Antjes heller Bluſe, an ihrem 
Arm herunter bis zur Hand, die unter der ſeinen im Sande zuckte. 

„Heinz, wer kommt da?“ fragte ſie und riß ihre Hand los. 

„Die Mutter ijt es!“ Haſtig griff er wieder nach den Muſcheln. „Raſch, 
Antje, ſo hilf doch! Wenn Mutter kommt, kann ſie hier bei uns ſitzen!“ 

„Mutter, Mutter, hier!“ ſchrie Antje und ſchwenkte ihr Tuch. 

Langſam kam Mutter Wiedenkamp heran. 

„Setz dich, Mutter, wir bauen nen Damm!“ 

„Sieh einer!“ meinte dieſe und ſah lächelnd zu den beiden hinunter. „Ich 
mein', ihr macht's wie die Kinder. Ich glaub', das Spiel iſt ſo alt, wie es Kinder 
gibt auf der Welt!“ 

Dabei zog ſie ihr Taſchentuch heraus, breitete es ſorgfältig etwas höher hin- 
auf über den Sand und ſetzte ſich zu ihnen. 

„Vas haſt du für ein Kleid an, Mutter?“ fragte Heinz, eifrig weiterſchaufelnd. 
In hellen Tropfen ſtand ihm der Schweiß auf der Stirn unter der Locke, die immer 
wieder nach vorn fiel. 

„Ich hatt’ mit dem Paftor was zu ſprechen, mein Zung’.“ 

„Mit unſerem Paſtor, Mutter? Was denn?“ 

Eine Zeitlang ſah ſie ihn feſt an. 

„Nichts Beſonderes, Heinz. Eine alte Frau hat manchmal das Herz voll 
von Gedanken, von denen fo junges Volk nichts weiß. Er meinte, du wärſt ein 
guter Lehrer für die Kinder.“ 

Diefer wurde purpurrot vor Freude, wollte fih aber nichts merken laffen 
und ſchaufelte doppelt eifrig weiter. 

Die Augen weit über die See gerichtet, ſaß Mutter Wiedenkamp. In ihr 
altes Herz ſchlich ſich der Sonnenſchein aus dem luſtigen Flimmern Ober dem 
Waſſer. Die Welt ſchien ihr gut und ſchön wie dieſer Oſtertag. Mit warmen Strah- 
len lag die Sonne auf dem Schwarzſeidenen, lag warm der alten Frau am Herzen, 
das ſo viel Not, Sorge und Liebe kannte. Die Not ſog die Sonne heraus, die Sorge 
fpielte die blaue, flüfternde, ſchmeichelnde Welle fort, aber die Liebe wurde ge- 


142 Claufen: Mutter Wiebentamp 


duldig und ſtark und fab aus guten Augen auf dieſe beiden Kinder hinab, die Damme 
bauten gegen die Flut. ) 

Nach kurzer Zeit meinte Heinz, er wolle nach Haufe gehen und arbeiten. 
Die Blicke der beiden Frauen folgten ihm, als er eilig am Strande hinaufging. 
Sein Buch hatte er im Sande liegen laſſen. 

Mutter Wiedenkamp wollte mit Antje von Martin ſprechen und brachte doch 
kein Wort heraus. Dieſe ſaß ganz ſtill die Hände im Schoß gefaltet und ſah, 
wie die erſte Welle doch endlich über den Damm ging, den ſie mit Heinz zuſammen 
gebaut hatte. Sie dachte nicht an Martin, auch nicht an Heinz, ſie dachte, woher 
es wohl käme, daß ihr im Herzen immer fo ſchwer und bang würde, wenn Mutter 
Wiedenkamp neben ihr ſaß. Hunger hatte die junge Frau nach einem liebreichen 
Wort, aber das, was Antje erſehnte, konnte ihr eine Natur wie Mutter Wieden- 
kamp nicht geben. Bald ſtand auch dieſe etwas mühſam auf. 

„Es wird kalt, Antje, komm!“ 

Langſam folgten fie Heinz Felfens Spuren im Sande. Nach dem Abend- 
eſſen ging dieſer in ſeine Rammer hinunter. Die Mutter nickte im Lehnſtuhl über 
der Bibel ein, und Antje kauerte im Sofa und träumte vor ſich hin. Ganz leiſe, 
kaum vernehmbar, lag das Raufchen der Flut an den Scheiben der Fenſter. Als 
Antje nach Hauſe ging, blitzten die Sterne über dem ſilbern leuchtenden, leichten 
Branden der Flut. Sie ſaß noch lange vor dem offenen Fenſter ihrer Rammer 
und lauſchte auf den Atem der Frühlingsnacht, der vom Meer her unter den Sternen 
am Simmel und über ihren Bildern im Waſſer herzog. Ab und an rann der jungen 
Frau eine Träne über die Wange, und ſie wußte doch nicht, weshalb ſie weinte. 

* * 


* 

Peter Flier hatte zwei Stunden lang im Boot geſeſſen und leiſe vor ſich hin 
gepfiffen, aber nicht eine Mütze voll Wind kam über die See. Da hatte er in die 
Hände geſpuckt, einen Fluch getan und die Ruder genommen. Wenn aber Peter 
Flier ſich entſchloß, mehr als drei Seemeilen weit nach Hauſe zu rudern, dann war 
ſicherlich in der Luft nicht mehr Wind als unter einer Glasglocke. Über den gan- 
zen Himmel zog fidh ein weißlich - trüber Dunſt. Das Meer ſtand wie eine unendlich 
ſich dehnende Stahlplatte gegen den Horizont auf, wo Luft und Waſſer blaugrau 
ineinander fih mengten. Die Möwen lagen zu Hunderten auf dem Waſſer hinter 
dem Weſtereck, als wäre es ihnen zu heiß, eine Schwinge zu rühren. Ein Abend 
war es, an dem die Fiſcher ſich träge mit ernſtem Geſicht auf die Bänke neben die 
Haustüren ſetzen und keiner ein lautes Wort ſprechen mag. 

Mutter Wiedenkamp hockte auf ihrer Türſchwelle und wartete auf Heinz 
Zelfen und Antje, die oben neben dem Flaggenſtock auf der Düne ſtanden und 
auf einen kũhleren Luftzug warteten. 

Peter Flier kam mit den Netzen auf der Schulter und den Angelſchnüren in 
der Hand unter der Düne durch. Er konnte kaum die Augen offen halten, fo rann 
ihm der Schweiß unter dem ſtruppigen Haar heraus über die Stirn. 

„Heinz Zellen, ich ging’ nach Haufe. In 'ner Stunde ift 's Wetter da!“ 
rief er hinauf, indem er mit der Linken nach Often deutete, wo fih aus dem Stahl 
grau eine ſchwere Wolkenbank langſam am Horizont heraufſchob. 


Claufen: Mutter Wiebenkamp 745 


„Rannft recht haben, Peter Flier!“ ſchrie Heinz zurück. „Wir dachten, hier 
oben ſollte doch etwas Luft gehen, aber es iſt gerade ſo heiß wie unten.“ 

„Ich fag,“ lachte der Fiſcher, „wenn's uns Alten ſchon zu warm wird, fist 
ſo junges Volk erſt recht in der Hitze!“ Er kicherte leiſe vor ſich hin und torkelte durch 
den loſen heißen Sand weiter. 

Antje aber ſagte: „Laß uns nach Haus, Heinz, es blitzt ſchon.“ 

„Das dauert noch lange, Antje, noch ſehr lange. Angſt brauchſt du nicht zu 
haben. So heiß wie in Mutters Stube iſt's hier doch nicht.“ 

Er ſtand dicht neben ihr am Flaggenſtock. Beider Geſichter waren dem 
drohend aufſteigenden Wetter zugewandt, und Antje fühlte Heinz Jelſens heiße 
Hand an ihrer herabhängenden Linken. In ihren Augen ftanden noch Tränen, 
die ſie geweint hatte, weil die Mutter jeden Tag kürzer und härter mit ihr ſpräche. 
Nach Atem ringend ſtanden die beiden in furchtbarer Schwüle und ſahen das Wet- 
ter heraufziehen, das mit Blitz und Donner Kühlung bringen follte. 

„Sie meint es nicht fo, Antje. Mußt denken, fie ift 'ne alte Frau und hat 
den Mann und zwei Söhne begraben.“ 

Anwillkürlich faßte fie feine Hand, in Dankbarkeit für das gute Wort, aber ihm 
war's, als ſei ihre Hand noch heißer als die ſeine. Es wurde dunkel. Höher ſtieg 
die Wolke, aus der wie niederzuckende blendende Tropfen Blitz auf Blitz in weiter 
Verzweigung ins Meer ſchoſſen. Jedesmal kürzer und härter hallte der Donner, 
aber nicht das leiſeſte Rippeln ging über die See, und kein Tropfen Regen fiel. 

Ruhelos ging Mutter Wiedenkamp über Diele und Treppe zur Giebelſtube 
hinauf und zurück auf die Diele. Ruhelos ging fie ums Haus und ſpähte nach der 
Weſterdüne, aber die beiden Geſtalten konnte fie ſchon nicht mehr erkennen gegen 
den dunklen Hintergrund. 

So ging das nicht weiter mit den beiden! Sie mußte mit Heinz ſprechen, 
ſie wollte es jeden Morgen tun, und jeden Abend hatte ſie es nicht getan, weil 
fie fih vor Heinz Jelſens Augen fürchtete. So wurde fie ſchweigſam, hart und 
herb und gab Antje manches herriſch- verletzende Wort. Wo auch immer Antje 
und Heinz zuſammenwaren, da ſtand plötzlich die Mutter neben ihnen und hatte 
für einen der beiden etwas zu tun. Antje aber wurde von Tag zu Tag ſcheuer, 
blieb mehr in ihrem Hauſe oder ſaß im Vorgarten und träumte vor ſich hin, denn 
zu arbeiten gab es nicht viel für ſie. Wenn ſie verſuchte, an Martin zu denken, 
konnte ſie ſich nicht einmal mehr ſein Bild ganz deutlich vor Augen führen, ſo ſehr 
fie fih auch mühte. In ihr Leben war er getreten für wenige Wochen, und feit- 
dem war er nicht mehr da. Sie wußte, daß ſie ihn lieb gehabt hätte, aber ſie ſah 
ihn nicht und war allein. Ihre junge Seele irrte und fand nicht Ruhe noch Liebe 
außer bei Heinz; der war immer freundlich und gut zu ihr. 

„Heinz,“ ſagte ſie nach einer Weile wiederum, als der Donner immer ſtärker 
tönte, „Heinz, komm nach Haus, ich fürchte mich!“ 

Als ſie das ſagte, kam ein Blitz herunter wie ein feuriger Pfahl und brachte 
den ſcharf knatternden Donner gleich mit. Antje ſchrie laut auf und taumelte ſchluch 
zend an Heinz Selfens Bruſt, der ſchwer nach Atem rang; aber fein Arm lag um 
ihren zitternden Leib. 


744 Elaufen: Mutter Wiedenkamp 


„Hab keine Furcht, Antje, wir find gleich zu Haus!“ 

Blitze und Donner aber wanderten hinter ihnen her, als wäre der ganze 
Himmel flammende Glut und donnerndes Toben. 

Mutter Wiedenkamp, die in der Haustür geſtanden hatte, taumelte zuruck 
auf die Diele und griff mit der einen Hand an die Wand, mit der anderen aber 
ans Herz. Ein Gurgeln kam aus ihrer Kehle. Als ob die ganze Welt in heller Lohe 
aufflackerte, ſo war es geweſen vor ihren Augen, aber mitten in der Lohe hatte 
fie Heinz Zellen geſehen, wie er Antje im Arm hielt und küßte. Oa fttirgte die alte 
Frau an die Tür zurück. 

„Heinz — Heinz — Antje!“ ſchrie fie mit mächtiger Stimme in das Ge 
töſe des Donners hinein. 

„Ja, Mutter, da ſind wir!“ Heinz ſtand dicht vor ihr und neben ihm Antje, 
die war weiß wie der Kalk an der Wand. 

Kein Wort ſagte die Mutter, ſondern holte einen Holzſtuhl aus der Rüde 
und ſetzte ſich mitten auf die Diele, wo die Hängelampe vom Balken herabhing. 
Heinz blieb in der offenen Tür zurück und ſtarrte in das Wetter; Antje kauerte auf 
der unterſten Stufe der Treppe und hatte die Schürze über den Kopf gezogen. 
Allen dreien ſchrie der Donner ins Ohr, allen dreien klopfte das Herz, alle drei 
wußten, daß die Sünde mitten unter ihnen ſtand und ſich mit ruhigen, harten 
Augen umſah. 

Endlich kam Regen und goß in Fluten vom Himmel; die Flamme der Lampe 
flackerte in dem friſchen Zugwind, der von draußen hereinwehte. Als der Donner 
mählich weiter und ſchwächer verhallte, da atmeten die Menſchen auf und dachten, 
ſie hätten geträumt. Antje ſtand auf, trat zur Mutter und ſagte: „Gute Nacht, 
Mutter; ich will nach Haus.“ Dieſe ſaß unbeweglich, ohne zu antworten. Heinz 
folgte mit den Augen Antjes Geſtalt, wie dieſe ſich im Dunkel verlor. Dann wandte 
er wieder den Blick zu den einzelnen, zwiſchen Gewölk aufblitzenden Sternen, 
aber diefe waren fern, erdenfern, hoch über Menſchenlieb' und Menſchenleid. 

„Oein Eſſen ſteht auf dem Tiſch“, ſagte nach einer Weile die Alte, ohne ihn 
anzuſehen. Mit müden, ſchweren Schritten ſtieg ſie die Treppe hinauf und hörte 
noch, wie Heinz in ſeine Kammer ging. Mutter Wiedenkamp aber kam oben in 
der Stube vor dem alten Lehnſtuhl auf die Knie, drückte den grauen Kopf auf 
die Lehne und betete, ob ihr einer Rat gäbe, was fie tun ſollte. Aber Antwort 
wurde ihr nicht. 
| „Martin, Martin, mein Fung’, mein letzter!“ klagte fie vor ſich hin. Was 
jollte fie tun, Gott im Himmel, was follte fie tun? Was war geſchehen ſchon? 
Wie weit waren die beiden miteinander? Wenn es der Martin erfährt, ſchlägt 
er ihn tot, nein, ſie ſchlägt er tot, denn er hat ſie zu lieb! 

Als ſie ſo lag auf den Knien, klang von unten herauf ein Klirren. Sie horchte, 
ſtũtzte ſich auf und trat ans Sentier des Giebels. Da ſah fie, wie Heinz Zellen aus 
ſeinem Kammerfenſter ſprang und fortging nach Martins Haus. Einen Augenblick 
ſtand die alte Frau und ſah ſich wild um in der Stube. Wenn er dorthin geht, 
gnade ihm Gott! Wie ein junger Menſch flog ſie die Treppe hinunter und hinter 
ihm ber, lautlos im naſſen Sande. Aber er ging nicht zu Martins Haus, ſondern 


Clauſen: Mutter Wiedenkamp 745 


bog links ab nach dem Strande. Die Hand gegen das hämmernde Herz preſſend, 
blieb ſie ſtehen. Was wollte Heinz in der Nacht an der See? Konnte er nicht am 
Strande hinaufgehen und von rückwärts an Martins Haus kommen? Dorthin 
eilte fie. Still lag das Häuschen, und fie fab, wie grade das Licht in Antjes Ram- 
mer erloſch. Mutter Wiedenkamp aber hockte nieder hinter der Hausecke auf dem 
feuchten Sande und hielt Wache an ihres Jüngſten Haus, in dem fein Weib ſchlief. 

Seltſame Geſtalten ballten ſich vor ihren Augen aus den wallenden Oiinften, 
die von dem naſſen, warmen Sande aufſtiegen, die ſich dort gegen die See weit 
ſtreckten gleich rieſigen, ſchneeweißen, wie von unfichtbaren Geiſterhänden über 
den Sand gezogenen Leinentüchern, und die ſich gegen die Dünen verdichteten und 
aufreckten zu ſchwankenden Gebilden mit ſilberweiß leuchtenden Rändern. 

Geſtalten kamen zu ihr und flüſterten ihr leiſe Worte ins Ohr. Ihr Mann 
ſtand vor ihr, ſah ſie groß an mit ernſten, traurigen Augen und verſchwand wieder. 
Jörn, der Alteſte, ging an ihr vorbei mit feinen langen, ruhigen Schritten und nickte 
ihr zu. Helms, der Zweite, der den Kopf voll krauſer Flachshaare hatte, ſetzte ſich 
zu ihr und legte, wie er dies gern tat als Kind, den Kopf in ihren Schoß. Sich ſelbſt 
ſah ſie neben ſich ſitzen, ſo wie ſie als junge Frau ausſah und ſich nach ihrem Mann 
geſehnt hatte in langen Nachtſtunden. Auch Martin kam mit dem Südweſter auf 
dem Kopfe und der Teerjacke auf den Schultern, gab ihr die Hand und ſagte: „Paß 
mir auf Antje, Mutter!“ — „Ich paff auf, Martin, kannſt ruhig fein.“ — War 
das nun das Leben, ihr Leben? Alle hergegeben bis auf einen, und dieſes einen 
Weib ließ fich küſſen von Heinz Felfen! So jaf fie auf dem kälter und kälter werden- 
den naſſen Sande, während die Friſche des aufflauenden Seewindes ihr durch 
die Glieder ſchauerte. Vom Kirchturm ſchlug es, und ſie zählte langſam die zwölf 
langen Schläge. Kam da noch eine Geſtalt vom Strande herauf? Za, aber dies 
war Heinz Jelſen, der langſam auf die Pforte des Vorgartens zuſchritt, die Arme 
darauf legte und ſtumm dort einige Minuten regungslos ſtand. Als er ſich zum 
Weitergehen wandte, hörte ſie, wie er vor ſich hinmurmelte: „Gute Nacht, arme 
Antje!“ Mutter Wiedenkamp ſaß und rührte fih nicht, bis fie in der ſtillen, hell⸗ 
hörigen Nacht von ihrem Haufe her das Klirren des Fenſters wieder vernahm. 
Nun wollte ſie ſich erheben, aber ſie konnte es nur ſchwer mit Achzen, denn ihre 
Glieder waren Hart, und ihr war's, als fei die Nachtkälte ihr bis ins Herz hinein 
gekrochen. So ſchleppte fie fih mühſam nach Haufe, klomm leiſe die Treppe hin- 
auf und mußte dabei dreimal ſtehen bleiben, weil der Herzſchlag ausſetzte. 

Als Heinz am anderen Morgen die Mutter nicht auf der Diele hörte, nicht 
in der Küche fand und zur Giebelſtube hinaufging, lag die alte Frau hilflos im 
Lehnſtuhl, konnte kein Glied rühren und bewegte nur die Lippen, ohne ein ver- 
ſtändliches Wort ſprechen zu können. 

Sa, der Tod war an Mutter Wiedenkamp zum erſtenmal vorübergegangen 
und hatte ihr die harte Hand auf die Schulter gelegt. Erſt nach einer Woche war 
fie imſtande, wieder verſtändlich zu ſprechen und fih mühfam am Stock zu bewegen. 

„Ich fage, Herr Paftor, Heinz Zellen muß fort, er muß, oder es gibt ein 
Unglück!“ 


746 Elaufen: Mutter Wiedenkamp 


„Ja, gute Frau, Sie mögen wohl recht haben. Ihre Schwiegertochter zieht 
alfo hierher, und Heinz Zellen geht fo lange in Martins Haus, damit es nicht leer 
ſteht. Was die Leute ſchwätzen, Frau Wiedenkamp? — Die ſchwätzen aud fo. — 
Sie brauchen Pflege und müſſen die junge Frau bei ſich haben.“ 

So kam es, daß Antje in die Kammer neben der Giebelſtube zog, in der bis 
jetzt die Mutter geſchlafen hatte, und daß diefe fih in Heinz Felfens Kammer legte, 
denn das Treppenſteigen wurde ihr ſchwer. Heinz Felfen ſpielte nie wieder in Mut- 
ter Wiedenkamps Hauſe, ſeine Geige blieb dort liegen auf dem gewohnten Platz. 
Er kam nur ſelten und ſprach kaum ein Wort mit Antje, aber er ſah aus, als habe 
er das zehrende Fieber, und Antjes Geſicht wurde noch ſchmaler. Worttarg und 
ſtill wurde Mutter Weidenkamp, noch karger, als ſie ſchon vorher geweſen. Antje 
war um ſie bemüht und pflegte ſie, aber kein dankbares Lächeln kam auf Mutter 
Wiedenkamps hartes Geſicht, die von Heinz nur mit einem ſtummen Händedruck 
Abſchied nahm, als er nach Hamburg in die neue Stelle ging. Zu ſprechen gab es 
da nichts mehr. Das las ſie in ſeinen Augen, die, ſo dunkel umſchattet, ſie traurig 
anſahen, und er las in Mutter Wiedenkamps ſteinernem Geſicht, daß ſie beide nichts 
mehr miteinander zu reden hätten. Kein Menſch aber ſah, daß die alte Frau nachher 
über Heinz Felfen weinte, den fie vielleicht mehr liebgehabt hatte als ein eigen Rind. — 

* * 


% 

Im warmen Septemberſonnenſchein fap Frau Wiedenkamp nachmittags vor 
der Haustür im Lehnſtuhl. Antje hantierte in der Küche, und oben auf der Wefter- 
düne tollten die Kinder und kollerten unter Jauchzen und Schreien im warmen, 
weichen Sande von oben herunter. Da kam einer vom Dorf her. Tim Rrügers 
war es. | 

„Guten Tag, Mutter Wiedenkamp; wieder zuwege?“ 

„Danke für Nachfrage, Tim! Man muß ſtillhalten, wie es der Herrgott 
will. Kannſt dich herſetzen.“ Sie wies auf die Hausbank neben ſich. 

„Kommt Martin bald wieder?“ fragte er, indem er ein kurzes Pfeifchen aus 
der Bruſttaſche der blauen Fade zog und in Brand ſetzte. 

„Letzthin hat er geſchrieben, es könnte ſein, daß er ſchon vor Martini nach 
Haus käme.“ | 

„Hm,“ machte Tim Krügers und ſchob mit dem Fuße Sand über das noch 
glimmende Streichholz, „was ich gleich ſagen wollte, Mutter Wiedenkamp, ich 
wär' nämlich ſchon eher mal gekommen, aber ich dachte, es iſt beſſer, du warteſt, 
bis Martins Mutter wieder gut zuwege iſt. Ich mein’ auch nur, mit Trine Heid- 
mann bin ich ja nun verſprochen.“ 

„Das weiß ich, Tim. Du bekommſt 'ne Frau, die arbeiten kann und geſund iſt.“ 

„Ja, fie ift 'ne ſtaatſche Deern. Ich will mein Steuermannsexamen in Ham- 
burg machen, und nachher wollen wir das Aufgebot beſtellen. Ich mein' auch nur, 
Mutter Wiedenkamp, ich möchte mit Ihnen was ſprechen —“ 

Eine Weile ſah ſie ſtumm in ſein ehrliches, aber jetzt verlegenes Geſicht, 
während er den Blick geſenkt hielt und mit der Fußſpitze im Sande ſcharrte. 

„Sprich geradezu, Tim, ich kann alles hören!“ 

„Sie wiſſen doch, Mutter, als das Gewitter war um Johanni?“ 


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Elaufen: Mutter Wiedentamp 747 


„Ja, ich weiß, Tim“, erwiderte fie und ſetzte die Spitze ihres Krückſtocks feft 
in den Sand. 

„Ich bin alfo abends mit der Trine nach dem Weſtereck hinaus geweſen, 
und wie wir zurückgehen, ſehen wir zwei andere, die kamen von der Düne herunter 
hier aufs Haus zu, und da mein’ ich, was ich da geſehen habe — das geht Martin 
was an —“ 

„Tim Rrügers, ich weiß, wen du geſehen haft. Heinz Zellen war es und meine 
Schwiegertochter?“ 

„3a, das ſtimmt, Mutter Wiedenkamp.“ 

„Was du geſehen haft, Tim, das habe ich auch geſehen. Du brauchſt mir 
nichts mehr zu erzählen! Tim Rrügers, in derſelben Nacht hat mich der Schlag 
gerührt. — Meine Schwiegertochter wohnt hier im Hauſe, und Heinz Zelſen iſt 
nun Lehrer in Hamburg.“ 

„Das weiß ich, Mutter, aber ich mein', ſo was ſollt' der Martin auch wiſſen, 
und ich will's ihm ſagen, wenn er nach Haus kommt.“ 

Mit ſcheuem Blick ſah er zur Seite nach der alten Frau. Jedesmal, wenn er 
Sonntags von Hamburg herüberkam, fragte ihn Trine Heidmann, ob er mit Mutter 
Wiedenkamp geſprochen hätte. Aber Tim Krügers wußte nicht, daß ſeine Braut 
den Lehrer Heinz Zelfen lieber genommen hätte als ihn, und er wußte auch nicht, 
daß verſchmähte Liebe rachſüchtig macht. Er erſchrak, wie tief zuſammengeſunken 
die ſtattliche Mutter Martins in ihrem Stuhl kauerte, beide Hände auf die Krücke 
des Stocks gedrückt und das Kinn auf den Händen. Wortlos ſtarrte ſie geradeaus 
vor ſich auf den Sand. 

„Tim Krügers, wenn du das dem Martin ſagſt, ſchlägt er dich tot — oder den 
Heinz — oder feine Frau! Ou fennt ihn! Sch fage dir, Tim, nichts ift paſſiert, 
was Martin wiſſen muß. Willſt du vier Menſchen unglücklich machen, Tim Krügers? 
— Martin ift mein Letzter. — Kinder find die beiden, Heinz und die Antje, und 
die Sache ift aus. Dafür hab' ich geſorgt, daß die Sache aus ift. Ich fteh’ für alles 
ein. Trägſt du ihm was zu, Tim, ich ſchwöre dir, ich fag’ ihm: du lügſt! — Was 
Martin wiſſen muß, ſoll er von mir hören, von ſeiner Mutter, und die lügt nicht!“ 

Sie hatte den Kopf gewandt und blickte ihn von unten her durchdringend an. 
Er aber fab in ihren Augen etwas, wovor ſelbſt ein Kerl wie Tim Krügers er- 
ſchrecken kann. 

„Na, dann iſt's gut, Mutter Wiedenkamp, wenn Sie das ſagen!“ 

„Das mein' ich auch, Tim.“ 

Nach einer Weile hob ſie die eine Hand vom Krückſtock und legte ſie ihm 
auf die Schulter. 

„Rannft noch 'nen Augenblick warten, Tim, ich komme gleich wieder.“ 

Schwerfällig humpelte fie ins Haus und kam nach einigen Minuten zurück 
mit einem Papier in der Hand. 

„Da, Tim Krügers, weil du Martins better Freund bt, und weil ihr es wohl 
brauchen könnt für den neuen Hausſtand, nimm das! — Brauchſt mir keinen 
Schuldſchein zu geben, es iſt geſchenktes Gut, ich bind's der Trine in den Strumpf 
für die Hochzeit.“ 


748 Elaufen: Mutter Wiebenkamp 


Sie ſchlug das Papier auseinander, und er ſah, daß ein Tauſendmarkſchein 
darin lag. 

„Nee, Mutter, das kann ich nicht nehmen.“ 

„Wenn du es nicht nehmen kannſt, ich ſchenk's doch deiner Braut, Tim, und 
du kannſt es ihr geben. Sie ſollt' nach der Hochzeit an mich denken, wenn du das 
erſtemal in See gehſt.“ 

„Wenn's fo gemeint ift, Mutter, dann dank ich auch vielmals und wünſch 
gute Beſſerung.“ 

Dabei reichte er ihr die breite, harte Hand hin, die ſie mit zitternden Fingern 
umſpannte. 

„Tim Krügers, wenn du mal fo alt biſt wie ich und haft nur noch einen Men- 
ſchen in der Welt, den du liebhaſt, dann denk an Mutter Wiedenkamp, die auf dem 
Kirchhof liegt. Verſtehſt du? Man gibt alles hin für den Letzten, damit man ihm 
Not, ja Not und — Schuld ſpart. Zu eurer Hochzeit komm' ich nicht, aber ich will 
für euch beide beten, damit Gottes Segen dabei iſt.“ 

Sie ſah ihm nach, wie er wieder dem Dorf zuſchritt. Dann aber legte fie die 
Stirn auf die Hände und weinte bitterlich, denn mit dem Geldſchein hatte ſie ihren 
letzten Stolz weggegeben, fie, die in ihrem ganzen Leben keinem Menſchen nach 
gelaufen war. 

* m * 

Eine Mondnacht war es, und der Nebel ſtand wie eine weiße Mauer über 
See und Land. Mutter Wiedenkamp lag und konnte nicht ſchlafen, denn morgen 
wollte Martin hier ſein. Als er vor einiger Zeit von Liſſabon ſchrieb, daß er bald 
nach Haus kommen würde, da hatte das Mutterherz wieder freier und kräftiger 
geſchlagen als ſeit Monaten, und fie war fo behende wie noch nie feit jener Ge 
witternacht über die Diele gehumpelt zur Ride hinein, wo Antje vor dem Herd ſtand. 

„Martin kommt. Zu nächſten Montag kann er ſchon hier ſein!“ 

Antje hatte ſich umgewandt und ſie wortlos angeſtarrt. 

„Freuſt du dich denn gar nicht, Antje?“ 

„Ich, Mutter —? Ooch, ich freu' mich, gewiß, — ja.“ 

Mehr fagte fie nicht, ſondern wandte fih wieder ihrer Beſchäftigung zu. 
Seit dem Tage hatte Antje zweimal einen Brief erhalten. Als der erſte ankam, 
brachte die Mutter keine Frage über die Lippen, denn ſie hätte ſich lieber die Zunge 
abgebiſſen, als Neugier zu zeigen. Als dann aber vorgeſtern der zweite Brief eintraf, 
legte ſie auch den letzten Stolz beiſeite und fragte: „Der iſt wohl von deinem Vater?“ 

„Nein, Mutter, von meiner Freundin aus Hamburg“, antwortete Antje, 
aber ſie wurde rot dabei. 

Doch nun kam ja Martin! Und wenn er kam, mußte alles gut werden. Die 
Frau müßte ja keine Augen im Kopf und kein Herz im Leib haben, die den Men- 
ſchen nicht liebhatte, wenn er vor ihr ftand. 

So lag Mutter Wiedenkamp mit weit offenen Augen und ſtarrte die ſechs 
Scheiben des Fenſters an, durch die der Nebel mit weißem, Willem Geſicht herein 
ſchaute. Elf Uhr hatte es geſchlagen. Zwar vielleicht kam Martin doch erſt ſpäter, 
denn ob bei dem Nebel ſein Schiff ſich nach Hamburg ſchleppen ließ, war nicht ſicher. 


Claufert: Mutter Wiedenkamp 749 


Nichts ift fo ftill, fo einſam wie eine Nebelnacht. Nicht das Anſchlagen eines 
Hundes vom Oorf her war zu hören. Nein Laut; denn da die Ebbe eingeſetzt hatte, 
klang nicht einmal das Rauſchen der See vom Strande herauf. Da tönte ganz 
dicht am Haufe der Pfiff des Strandläufers. So konnte auch Martin pfeifen. 

Sie richtete ſich im Bett auf und horchte. Noch einmal der Pfiff. Und während 
Jie noch horchte, vernahm fie ein Geräuſch im Haufe, und jetzt knarrte ganz deutlich 
die dritte Treppenſtufe von oben. Mit bebenden Händen griff fie nach den Streich 
Hiern. Das erfte verſagte, mit dem zweiten entzündete fie das Licht in der Laterne, 
die vor ihrem Bett ſtand. Sie riß den alten Radmantel vom Nagel und ſchlug ihn 
um ſich. Hochatmend ftand fie mit dem Ohr an der Tuͤr und lauſchte. Das Herz 
klopfte in wilden Schlägen unter dem Hemd. Wieder ein Rnarren im Haufe! Die 
Tür riß ſie auf und ſtand mit zwei Schritten an der Treppe. Vor ihr auf einer der 
unterſten Stufen ſtand Antje, fertig angezogen, die eine Hand auf dem Geländer, 
in der anderen Hand hielt ſie ein Bündel. 

Wortlos ftarrte Mutter Wiedenkamp, der die grauen Haare wirr in die Stirn 
hingen, in das ſchneeweiße Geſicht der jungen Frau. 

„Wo willſt du hin, Antje?“ ſtieß ſie dann heraus mit heiſerer Stimme. 

„Ich, Mutter — ich —?“ 

Mutter Wiedenkamp ſah, wie die ganze zarte Geſtalt vor ihr bebte, aber ſie 
ſah zugleich, wie Antje das Bündel hinter ſich auf einer Stufe zur Seite ſchob. 

yd frag': Wo willſt du hin zu nachtſchlafender Zeit?“ 

„Ich — Mutter? Ih hörte jemanden; ich dachte — Martin käme.“ 

Da ſchritt Mutter Wiedenkamp zur Haustür, riß den Riegel zurück, hielt die 
Laterne hoch über dem Kopf in den Nebel hinein und forie: „Iſt da jemand?“ 

Lautlos ſtand der Nebel und zog um das Licht der Laterne einen regenbogen 
farbenen Schein. Mutter Wiedenkamp ſchlug die Tür gu, ſchob den Riegel wieder 
vor und ſagte mit ganz ruhiger Stimme, nur daß ſie die Worte ſehr langſam ſprach: 
„Ou haſt geträumt, Antje. Was ſtehſt du noch?“ Dabei hob ſie wieder die Laterne 
dicht vor Antjes Geſicht. „Wie ſiehſt du aus? Du frierſt und biſt weiß wie der Kalk! 
Was haſt du?“ 

„Ich, — ich, o Mutter, ich hab' Angſt!“ 

„Angſt bat du? Vor was? Kannſt ruhig ſchlafen gehn, ich komm mit nach oben.“ 

Oabei ſetzte ſie einen Fuß auf die unterſte Stufe der Treppe. 

„Laß man, Mutter! Ich denke, es wird ſchon beffer. Ich konnte nicht ſchlafen.“ 

„Geh zu Bett, ſag' ich!“ Die Alte zog das gelähmte Bein nach und ſetzte den 
Krückſtock feft auf die nächſte Stufe. So ſtieg fie ſchwer und laut hinan. Antje mußte 
fih wenden auf der ſchmalen Treppe, aber die jungen Füße ſchienen weit ſchwerer 
ſich zu heben als die der alten, gelähmten Frau. 

So drängte Mutter Wiedenkamp ihres Züngften Weib Schritt um Schritt, 
Stufe um Stufe vor ſich hinauf, und dieſer flog ein kalter Schauer nach dem andern 
über den Rüden, als käme das Gewiſſen mit dumpfer Gewalt wie ein unerbitt- 
liches Schickſal hinter ihr her. 

Als Mutter Wiedenkamp in der Giebelſtube ſtand, ſagte ſie mit einer Stimme, 
in der nichts mehr klang von Härte und Schrecken, ſondern eher Weichheit und Liebe: 


750 Clauſen: Mutter Wiedenkamp 


„Ich kann mir gut denken, Antje, daß du keine Ruhe haſt in ſolcher Nacht. Nun 
geh zu Bett. Ich ſetze mich hierher in den Stuhl, denn ich kann doch nicht ſchlafen!“ 

Das Bündel auf der Treppe hatte fie wohl geſehen, aber es mit dem Fuß 
noch weiter in den Winkel geſchoben. Mutter Wiedenkamp wußte genug. Antje 
ſtand noch eine Weile unſchlüſſig. Ihre Lippen bewegten fih angſtvoll, aber fie 
ſchwieg, ſenkte den Kopf und ging in die Kammer, jedoch ſo langſam, als hätte ſie 
Blei in den Gliedern. Die alte Frau aber ſtand unter der Hängelampe und folgte 
ihr mit den Blicken; ſie ſtand unbeweglich, und ihr Geſicht wurde ſo ruhig wie Stein 
und war ſo weiß wie der Nebel an den Fenſtern. Nach wenigen Minuten trat 
ſie in die offene Tür der Kammer. 

„Antje, Kind, du kannſt ruhig ſchlafen. Gut biſt du zu mir geweſen, ich weiß 
wohl. Schlaf ſchön, Kind, und bete zum Herrgott, denn der Nebel iſt dicht und dein 
Mann auf dem Waſſer. Keine Welle iſt ſo ſchlimm, kein Sturm iſt ſo arg wie die 
falſche weiße Wand, wenn ſie vor den Maſten ſteht. Bet zum Herrgott, Antje!“ 

Keine Antwort. Mutter Wiedenkamps Geſicht war im Schatten, und Antje 
konnte nicht ſehen, daß dies Geſicht ſo ſtill und kalt war wie der Tod, als jene ſich 
wandte und zur Kommode ging, die Bibel in beide Hände nahm und damit vor 
den Ofen trat. Ehe ſie ſich ſetzte, beugte ſie ſich herab und warf einige Schaufeln 
Kohlen auf die Glut. Die Bibel aber blieb unaufgeſchlagen auf ihren Knien liegen, 
denn beide Hände lagen gekrampft auf den Lehnen des Stuhls, und den grauen 
Kopf hielt ſie aufrecht gegen das Polſter gedrückt. Soviel Mutter Wiedenkamp 
auch dachte, wie ſie auch die Gedanken ſtellte, nichts wollte kommen, kein Ausweg, 
kein anderer Ausweg als einer, der war ein dunkler Weg, aber er war wenigſtens 
gut für Martin. 

Aus der Kammer klang leiſes Schluchzen, leiſe und gedämpft, wie von je 
mandem kommend, der den Kopf ins Kiſſen drückt und weint. 

„Beſſer für dich — beſſer für Heinz — beſſer für mich — beſſer für Martin!“ 

So ſaß fie und wartete und wachte. Zwölf Uhr ſchlug es in der alten Bauern- 
uhr unten auf der Diele. Scheu ſah ſie auf und beugte den Kopf lauſchend zur 
Seite nach der Kammertür. Das Schluchzen war verſtummt. Ihr war's zwar, 
als hörte ſie eines Menſchen Tritt vor dem Hauſe im Sande kniſtern, aber was 
ging das ſie an? Martin war's nicht. 

Nun hob fie fich langſam und behutſam, ftüßte die linke Hand gegen die Kacheln 
und griff mit der rechten hinter den Ofen an die eiſerne Stange. Lautlos ſchob ſie 
das Eiſen empor und ſchloß das Rohr. 

Noch einmal ſah ſie mit langem Blick nach den Bildern über der Kommode. 
Martins Bild war ohne Kranz. Da nickte fie vor ſich hin mit einem ſtillen Lächeln 
und faltete die Hände über dem Buch. 

So ſaß Mutter Wiedenkamp in demſelben Stuhl, in dem ſie manche lange 
Nacht um drei Tote geweint hatte, ſaß und wartete auf den Tod, der kommen ſollte 
und mußte, damit der letzte Wiedenkamp leben könne. 

* + 


* 
Das erſte fahle Tageslicht kroch durch den Nebel, als einer mit langen ſchwin⸗ 
genden Schritten durch die ſtille Oorfſtraße herankam. Die freie rotgewetterte 


Elaufen: Mutter Wiedenkamp 751 


Bruſt leuchtete im Nebel. Vor Mutter Wiedenkamps Haufe blieb er einen Augen- 
blick ſtehen und ſah zu dem Lampenlicht im Fenſter der Giebelſtube hinauf, nickte, 
lachte und ſchritt weiter zu Martin Wiedenkamps Hauſe. Das Herz ſchlug ihm wohl, 
aber mit feſtem, ſchönem Pochen; jeder Schlag klopfte Antje entgegen, die auf ihn 
wartete in ihrer Kammer. Statt durch die Gartenpforte zu gehn, ſchwang er ſich 
an der erſten Ecke über den Zaun, um ans Fenſter zu klopfen. Nichts rührte ſich, 
auch nicht, als er noch einmal ſtärker klopfte. Zur Haustür gehend, ſchlug er mit 
der Fauſt dagegen. Er ſchüttelte den Kopf, lachte trotz der kleinen Enttäuſchung 
und ſtürmte mit noch eiligeren Schritten zu Mutter Wiedenkamps Hauſe zurück. 
Dort faßte er den Türgriff, aber die Tür gab nicht nach. „Hoi, Mutting, ich bin 
da!“ rief er. Still lag das Haus, wie lautlos eingeſargt im ſtillen weißen Nebel. 
Aber es ſchimmerte doch Licht aus der oberen Stube! Einige Schritte zurücktretend, 
ſchrie er nun: „Antje, Antje, ich bin's!“ 

Keine Antwort! Anſchlüſſig ſtand er und ſah ſich um. Dem Mann, der noch 
nie gewußt hatte, was Furcht ſei, kroch aus dem naſſen Nebeldunſt ein kalter Schauer 
vom Nacken her unter Jacke und Hemd über den Rücken hinunter, und um dem 
Grauen zu entgehen, warf ſich der rieſenhafte Mann gegen die Tür. Ein Fußtritt, 
und ſie gab nach. Auf der ſtillen, dämmerigen Diele in ſeiner Mutter Haus ſtand 
Martin Wiedenkamp und holte tief Atem. 

„Mutter — Mutter!“ rief er noch einmal mit heiſerer Stimme. 

In wenigen Sätzen flog er über die Treppe, riß die Tür auf und prallte zu- 
rũck vor dem Ounſt, der ihm entgegenſchlug. Zum Fenſter taumelte er hin und 
riß es auf. Seine Mutter ſaß vor dem Ofen im Stuhl, nur der Kopf war zur Seite 
geſunken. Er griff ihre Hand, die war ſchwer und eiskalt. Selbſt halb betäubt und 
nach Atem ringend ſtürzte er zur offenen Kammertür, hielt ſich am Pfoſten und 
ſah ein feines, ſchmales Geſicht im Rahmen der dunklen Haare auf weißem Kiſſen. 
Da ſchrie er auf wie ein wundes Tier. 


So fand Martin Wiedenkamp die wieder, die er liebhatte. 
* 


* 
R 


Zwei Särge ſtanden auf der Diele. Auf einem Schemel zwiſchen beiden 
hockte Martin Wiedenkamp, und auf jedem der Särge lag eine feiner ſtarken brau- 
nen Hände, geballt zur Fauſt. So ſaß er ſchon ſeit langer, langer Zeit, ſtarr, keinem 
Antwort gebend, ſeit vor zwei Tagen der Doktor gegangen war, auch den alten 
Paſtor hatte er nur mit einem ſeltſam abweſenden Ausdruck im Geſicht angeſehen, 
als verftände er kein Wort von dem, was der alte Mann ſprach. Nicht geweint hatte 
er, kein Schluchzen kam aus ihm heraus! Wie Stein war der Mann und wurde 
von Stunde zu Stunde härter und härter. 

Nun trat einer in die Tür, der ihn anſah mit großen, todestraurigen Augen. 
Dann ſchlich Heinz Zelfen wortlos mit müden, ſchleppenden Schritten die Treppe 
hinauf in die Stube und ging dort an den Tiſch, auf dem ſeine Geige geblieben 
war, die er nicht mitnehmen wollte, als er Abſchied nahm. 

Martin Wiedenkamp aber beugte den Kopf und lauſchte. Zarte und milde 
Töne klangen von oben herunter zu ihm, eine wunderbar friedſame Melodie ſank 
in fein Ohr, und als er langſam den Blick zur Treppe hob, ftand dort Heinz Felfen 


752 Roh: Der Bagabdund 


am Pfoſten der Tür und fpielte, ohne den Blick zu heben, aber aus feinen Augen 
tropfte Träne um Träne auf die ſingenden Saiten der Geige. Und während Mar- 
tin lauſchte, ſchlich ihm die Melodie an das ſtarke, harte Herz, ſang es weich, ſang 
echte, reine Trauer und Wehmut hinein. Die Fäuſte zog er von den Särgen, 
legte die Augen in die harten Hände und weinte und weinte wie ein Kind. Lang- 
fam, ohne das Spiel zu unterbrechen, kam Heinz Zeljen die Treppe herunter, ging 
zur Haustür hinaus, und allmählich zarter und leiſer werdend verklangen die Töne 
wie ziehende Stimmen in dem noch dicht über dem Lande ſtehenden Nebel, auf den 
die Sonne drückte, bis fie hell und warm durch die offene Tür auf die Diele glitt 
mit ihren Strahlen. 

Freundlich legte ſie ihr Licht auf die Särge und zu dem weinenden Mann, 
als wolle ſie ſagen: „Steh auf, Martin Wiedenkamp, ich bin noch das Leben!“ 


— — ë mem — — — — — — — — — — — — ë — . — — — 


Am Weſtereck fand man Heinz Felfens Geige. Ihn hat keiner wiedergeſehen. — 


2 
Der Vagabund 


Von 


Julius Koch 
Nun pfeift der Sturm durchs Stoppelfeld Zch bin ſo unnütz auf der Welt, 


Und will den Sommer begraben. Ein Sandkorn zwiſchen Steinen. 
Rauh ſtatt des Lerchenliedes gellt Der Staub, auf den mein Schatten fällt, 
Der Schrei des hungernden Raben. Hat Wert, und ich hab' keinen! 

Ein banges, ſtarres Schweigen läßt Nie glühte ſchaffender Lebensſtrahl 
Sich nieder auf allen Wegen, In meine Einſamkeiten. — 

Und durchs entblätterte Geäſt Was hält mich denn, aus dieſer Qual 
Peitſcht praſſelnd ein kalter Regen. Ins Nichts hinabzugleiten? 

Sh hab' kein Heim, ich hab' kein Dach, Ins Nichts? Vor meiner Seele ſteht 
Das mich vorm Winter ſchütze. Eine einzige, einzige Stunde, 

Mir wurden vom Wandern die Kniee ſchwach— Darum ein tief Geheimnis weht, 
Und das Wandern, was ift es nutze? Und keiner weiß die Kunde, 

Hilft es mir je, daß ſich vergißt, Wie ich, ein ſchuldlos Reiner noch, 
Wie mir das Herz zerſchunden, Der gläubigen Treue gelogen, 

Wie meine Seele zerriſſen iſt Wie ich zuerſt in der Sünde Joch 
Von tauſend klaffenden Wunden? Mein junges Gewiſſen gebogen. 

Dort liegt das Dorf! Ein Glanz beſtreut's Und hab' ich's bereut auch bitter und hart, — 
Und läßt die Fenſter blinken. Wie Krallen will mich's umfaſſen. 
Vom Kirchturm ſeh' ich ein goldenes Kreuz Weil ich am Leben ſchuldig ward, 

Zu mir herber winken. Kann ich vom Leben nicht laſſen! 
Und ging’ ich auch! Es fände nicht Nuh? Mich treibt die zehrende Ungeduld 
Im Kirchenſchatten der Fremde; Und will nicht Raſt mir gönnen, 

Sie ſchlöſſen mir ſcheu die Türe zu, — Der einen Stunde heimliche Schuld 
Sch hab' ein zerriſſenes Hemde! Sod einmal fühnen zu können! — 


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Die Religion des Kindes 


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Rudolf Pannwitz 


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Lo gehe mit Bangen daran, über die Religion des Kindes etwas zu 
O fagen. Über die Sprache des Rindes, das ganze Wefen des Rindes 
` x habe ich immer gern geſprochen. Über die Religion des Kindes 

O ſpreche ich nicht gern. Und das nicht darum, weil ich die Religion 
für etwas hielte, was durch das Ausgeſprochenwerden irgendwie beſchädigt wird. 
Für ſo empfindlich und nervös halte ich die Religion nicht. Sondern darum, weil 
mir Sprache, Charakter, Phantaſie immer noch allenfalls Gegenſtände ſind, die 
es gibt, die ſich mit einigem guten philoſophiſchen Willen gegeneinander abgren- 
zen laſſen, wenigſtens als Themata, wenn man auch die Abgrenzung ſofort wieder 
aufheben muß, um nicht die Einheit des Menſchen zu verlieren um einiger Be- 
griffe willen. — Aber mit der Religion will mir auch fo eine Bequemlichkeits- 
Abgrenzung nimmermehr gelingen. Sie iſt mir ſo durchaus kein Gegenſtand. 
Und ich gehe ſo weit, daß es mir immer etwas komiſch vorkommt, wenn gar ihre 
Undefinierbarkeit ihre Definition vertreten fol. Ich kann nicht mehr begreifen 
— früher war ich freilich anders —, wie überhaupt jemand darüber nachdenken 
kann, was denn die Religion ſei. gch kann ſelbſt das nicht begreifen, daß man da 
ein Wort Religion gebraucht. Und der Grund davon ijt eben bei mir weder eine 
religiöfe Nervoſität, noch eine innere Gleichgültigkeit. Die Zeitfragen der Reli- 
gion erregen mich, ich ſuche die verſchiedenen Bedürfniſſe, die Sehnſucht der Zeit 
ſelbſt zu begreifen, kämpfe auch mit gegen alle Gewiſſens vergewaltigung — aber 
im Znnerſten bleibt mir bei all dieſen Erörterungen, fo heftig fie mich bewegen 
können, vor allem bei den pädagogiſchen Erörterungen, ein Fremdes. 
Und ein unüberwindlicher Widerſtand. So daß ich wohl ſehe: dieſer ganze Kampf 
ijt dringend nötig und gut. Und mein Wunſch iſt, er möge recht Erfolg haben. 
Aber — dann iſt es noch lange nicht getan. Was iſt dann noch nötig? Um Gottes 
willen, keine religiöfe Syntheſe! Fh meine nicht nur: kein Dogma. 
Keine neue Weltanſchauungl Das iſt es, was ich nun einmal nicht 
länger verſchweigen kann. Als Pädagoge ſagen muß. Um der Kinder willen. 

Damit ich nun ja nicht mißverſtanden werde — denn ich kann leider nicht 


vorausſehen, wie weit es mir möglich ſein wird, mich verſtändlich zu i —, 
Der Türmer XI, 12 


754 Pannwitz: Die Religion bes Rindes 


ſo will ich gleich ſagen: ich wünſche für jedes Weſen die denkbar 
größte Freiheit. Aber die ſtärkſte Gefährdung ſeiner Freiheit finde ich 
in jedem Weſen ſelbſt. Und Gefährdungen ganz beſonderer Art bei ſolchen, die 
ſich eben befreien. 

Etwas höchſt Gefährliches ſind unſere ſogenannt produktiven Kräfte. Sie 
bringen uns febr leicht in Knechtſchaft und täuſchen uns vor, wir wären frei. — Es 
iſt ja heute ſchon meiſtens anerkannt, daß ein Kind ſehr produktiv iſt. In ſeinen 
allererſten Lebensjahren gewinnt es ohne jeden wirklichen Unterricht fein Welt- 
bild. Je älter es wird, deſto weniger kann es hinzutun. Und wenn es, reifgewor- 
den, gar noch ein Philoſoph wird, fo ordnet es eben nur noch den Neft feines Be- 
ſitzes in Fächer, oder aber der Philoſoph zerſchlägt einige alte Ordnungen, die 
immer noch nachgeahmt wurden bis zu ihm, weshalb man ihm dann wohl ſeine 
neugeſchaffenen Ordnungen vergibt. Nun muß ja jeder Menſch fic die Welt irgend- 
wie ordnen, tut's, ohne daß er es weiß. Aber die Feſtigkeit unſerer Ordnungen 
entſpricht niemals der Wandelbarkeit unſeres ganzen Innenſeins und der äuße- 
ren Welt. Und es gibt nicht e in e Pflicht, fih die Welt fo oder fo zu ordnen. Feder 
kann es anders, müßte es anders, wenn er frei wäre, und ſo jeden Augenblick. 
Es ift zum Beiſpiel einfach nicht wahr, daß wir auf die Kantſchen Kategorien ver- 
pflichtet wären. Ein ſcholaſtiſcher Verſtand ift darauf verpflichtet, und ein fo g r o- 
ß er ſcholaſtiſcher Verftand wie Kant weiß das. Aber ein Herakleitos und ſelbſt 
ein Parmenides hat nach keiner einzigen Kantſchen Kategorie gedacht. Auch 
unbewußt nicht. Das ift alles von Platon und Ariftoteles an untergefdyo- 
ben. Und wenn man das ſagt, daß man nicht nach dem Geſetz der Kauſalität 
denkt, als ſchlichte langjährige Erfahrung, ſo wird man für verrückt erklärt, oder 
es wird einem die Selbſtbeobachtung abgeſtritten, die man gerade beſonders ſtark 
übt, oder es wird behauptet, man ſei im Zwange eines eignen ſchrullenhaften 
Syſtems, in welches nicht zu geraten einem alle Lebensarbeit bisher gedient 
hat. So geht das. Ich leugne nun wirklich nicht ab, daß ich manchen Gedanken 
habe, aus dem ein Theoretiker mir ein Geſetz der Kauſalität machen könnte, wie 
man ja manchem aus einer ganz unſchuldigen Laune einen Strick ſchon gedreht 
hat. Aber ich bin eben wirklich auf dieſes Oenkgeſetz fo wenig verpflichtet wie auf 
alle andern, da ich noch nicht ein einziges unumſtößliches Denkgeſetz entdeckt habe, 
jo wenig wie überhaupt irgendein unumſtößliches Geſetz. Ich finde immer nur 
viele verſchlungene Bahnen, Triebe, Machtverhältniſſe, und es ift mir noch nie- 
mals klar geworden, warum irgend etwas geſchieht, weil auch, wenn es möglich 
wäre, ſämtliche Urſachen zu wiſſen, noch lange nicht damit die Wirkung erklärt 
wäre. Ein Denken nach Urſache und Wirkung nämlich vorausgeſetzt. Mein Welt- 
bild iſt immer nur ein Bild. Allerdings kein Flächenbild. Sondern es reicht bis 
in grundloſe Tiefe. Aber es iſt keine Konſtruktion dabei. Alſo ich erwarte von den 
Tiefen nicht mehr Aufſchluß als von der Oberfläche. Die Wahrheit hat keinen 
Sitz und keine Methode. Sondern ich gehe in die Tiefe, weil mein Geiſt nach fel- 
ner Art, fih zu bewegen, immer durch viele Schichten hindurch muß. Die Wahr- 
heit ſuche ich von nichts. Wahrheit iſt mir auch nur ein menſchlicher Begriff. 
And ich habe mit keinem beſtimmten menſchlichen Begriff mehr zu tun, als mit 


Pannwitz: Ole Religion des Nindes 755 


mir und der Welt. Eher ſuche ich noch meine Fühlbarkeit bei allen Dingen. Und 
meine Fühlbarkeit von der Fühlbarkeit anderer gegenüber denſelben Dingen. Und 
ich ſuche alles Begreifen und Begreiflichmachen im Erzählen. Welches ja 
zu nichts verpflichtet. Und welches am erſten verſtanden wird. Fd erzähle von 
mir und bitte, an meiner Aufrichtigkeit nicht zu zweifeln. Ich weiß natürlich, 
daß andere anders find als ich. Und es intereſſiert mich ſehr, zu erfahren, wie andere 
find. Und wen es intereſſiert, zu erfahren, wie ich bin, der mag zuhören, was ich 
von mir und von den Dingen erzähle. — Wem dieſes nun etwas zu leiſe erſcheint, 
dem will ich doch ſagen, daß ich es früher etwa umgekehrt gemacht habe. Und daß 
ich es jetzt Jo mache, weil ich fo bin. Daß ich aber fo viel wie jetzt noch nie verſtan⸗ 
den worden bin. Und natürlich lehne ich mich mit aller Energie dagegen auf, 
wenn jemand in meine Rechte eingreift, verlangt, ich ſollte es anders machen, 
als ich es machen muß. Und ebenſo, wenn ich überhaupt ſehe, daß in Rechte 
eingegriffen wird. Alle Pflicht iſt nur: Rechte ſchützen und wahren. Ungebrochene 
Rechte: die leben ſich ſelbſt. Das aber iſt: mein Glauben. 

Nun kann ich auch endlich ſagen, warum unſere ſogenannten produktiven 
Kräfte mir ſehr gefährlich vorkommen. Das Kind weiß nicht, wie produktiv es 
iſt. Bei ihm iſt alle ſogenannte Produktion einfach Funktion. Wie der Baum 
blüht. Bei unſerer ſogenannten Produktion ift aber immer eine gewiſſe Gewalt- 
ſamkeit: nicht das ſtille Walten, Und diefe Gewaltſamkeit wäre ja auch nicht ſchlimm, 
wenn ſie nicht übergriffe. Wenn ſie nur Macht des eigenen Erlebens wäre. Aber 
fie vergewaltigt jo leicht. Und da ift dann das Sonderbare, daß alles, was v er- 
mag, zu vergewaltigen, doch noch nicht ſeine eigene letzte Gewalt hat. Denn 
wer feine größte eigene Gewalt hat, der hat zugleich die größte Achtung vor frem- 
den Rechten. Das Vergewaltigen durch produktive Kräfte geſchieht ja nun ſo, 
daß dieſe produktiven Kräfte ſich irgendeine Welt aufbauen und zu der bekehren 
wollen. Dieſe Welt nennt fih dann oft frei, ift es aber nicht. Und diefe produt- 
tiven Kräfte bekommen das auch nur fertig, weil ſie in ihrem eigenen Schaffen 
nicht frei waren. Weil fie nicht einfache Funktion waren, ſondern Gewaltanjtren- 
gung. Weil ſie zu kämpfen hatten gegen Gewalthaber und Widerſacher, und im 
Kampfe ſich denen anpaßten. Soweit ſie vergewaltigt worden waren, ſo weit 
vergewaltigten fie. Und: vergewaltigten fie ſich felbft ſchon. Es ift näm- 
lich ganz ſonderbar, zu beobachten, an was alles die produktiven Kräfte gebunden 
ſind. Da ſind z. B. die Geſetze der deutſchen Schulgrammatik. Dann ſämtliche 
Denkgeſetze. Dann die berühmten ſogenannten Naturgeſetze, die alle hundert 
Sabre anders werden, und mit denen man trotzdem alles eigene Kinderdenken und 
Kinderfühlen totſchlagen muß. ... Und fo weiter und immer, immer fo weiter 
Nun iſt das kein Vorwurf, der irgendeinen Beſtimmten trifft. Er trifft uns alle 
und wird uns alle treffen, ſolange die Welt ſteht. Aber wir müſſen wenigſtens 
einſehen, daß er berechtigt ift. Und wir müſſen uns Mühe geben, daß es etwas 
beſſer wird, daß wir etwas weniger Schaden anrichten. — Man bekommt da leicht 
die Antwort, das wäre ja alles ganz richtig, aber was ſollte man denn tun? Man 
wäre doch nun mal an ſich gebunden und man müßte doch die nachfolgende Gene— 
ration zu dem Ideal heranbilden, das man ſchließlich fih geſteckt hat, es gebe ja 


156 Pannwitz: Die Religion des Kindes 


gewiß höhere Ideale, aber man habe ſie doch einmal nicht und dürfe der Zukunft 
nicht vorgreifen, könne es einfach nicht. In dieſer Antwort liegt ein leiſes Miß 
verſtehen. Gerade das iſt ja meine Anſicht, daß wir an uns gebunden ſind. Eben 
darum ſollen wir nicht noch die nächſtfolgende Generation an uns binden. Ob 
die Welt vorwärtskommt oder nicht, jedenfalls wird fie anders, und wir ſtören 
die Entwicklung und ſchaffen Konflikte, indem wir einen, wenn auch noch fo nach- 
ſichtig und milde und ihm gar Selbſtändigkeit vortäuſchend, von unſerer Welt- 
anſicht überzeugen. Und nun gar erft das Ideal. Das ift ja überhaupt nicht über- 
tragbar. Und das kann jeder nur ganz allein finden. Und es iſt ja etwas ganz Un- 
geheuerliches, eigentlich, wenn man jemandem, von dem man doch nur hoffen 
kann, daß er weiter komme, als man ſelbſt, dem eignen Kinde, ſein Ideal zum Zdeal 
machen möchte. Damit hemmt man es doch dann gewaltig. Man wird ſich darein 
ſchicken müſſen, daß man vom Denken und Fühlen des Kindes verhältnismäßig 
febr wenig begreifen wird. Und man wird fich die erdenklichſte Mühe geben müffen, 
da nichts zu ſtören. Denn es iſt zu leicht etwas geſtört. Was nie wieder ſo 
wird, wie es war, was nie mehr wachſen kann und werden, was es ſollte. Und 
dazutun darf man nichts. Es lebt alles ſelbſt, wenn es nicht geſtört wird. 
Und in ſich und in der Gemeinſchaft, in die es geſtellt iſt, entwickelt ſich alles zu 
ſeiner Zeit, wenn nur dieſe Gemeinſchaft nicht ſchon durch ihre Ex iſtenz die 
Entwicklung hindert. Eigenes, möglichſt vollkommenes Leben iſt das einzige, was 
zu leiſten iſt. Außer dem, daß nicht geſtört werden darf. Und freundliche Teilnahme 
natürlich. Indem man dem Kinde den Reſpekt vorm Kinde vorlebt, „erzieht“ 
man es zum Reſpekt vorm Erwachſenen. Das heißt, man hindert es nicht an die- 
ſem Reſpekt. Wenn man dem Kinde ſeine Rechte läßt, ſo wird es leichter auch 
anderen ihre Rechte laſſen. und wo es das nicht tut, da greife man ein. 
Aber nicht das Vergewaltigende ſtrafend, ſondern das Vergewaltigte ſchützend. 

And wo bleibt das in der Überſchrift Verſprochene: die Religion des Kindes? 
Wir find ganz mitten drin. Wie diefe Religion auch fei, fo viel ift aus dem Bisheri- 
gen klar, daß fie nicht vergewaltigt werden darf, wie nichts vergewaltigt wer- 
den darf. Und das mußte zuallererſt feſtgeſtellt werden. Nun aber verlohnt es 
ſich, auch einmal zu überlegen, was wohl die Religion des Kindes ſei. Ich kann 
Religion nicht definieren. Und wie ſoll ich nun da von der Religion des Kindes 
ſagen? Ja — vielleicht kann ich doch einiges von meiner Religion ſagen, auch 
ohne Religion zu definieren. 


* > * 


Religion ift mir, wie ich ſchon geſagt habe, kein Gegenjtand. In keinem 
Sinne. Und ſie hat mir auch keinen Gegenſtand. In keinem Sinne. Es ſcheint 
mir ſo falſch, etwa zu ſagen, die Religion habe Gott zum Gegenſtand. Das iſt 
ſchon unſere ſcholaſtiſche Philoſophie. Und wir wähnen, es ſei Religion. Das 
ſetzt doch einen Gott außerhalb der Religion voraus, der nun durch die Religion 
zum Gegenſtande wird, meinetwegen nur durch die Religion zum Gegenſtande 
werden kann. Meinetwegen ſogar nur durch die Religion exiſtieren kann. Und es 
ſetzt die Religion wiederum voraus als irgendeine Subſtanz in uns. Wenn auch 
nicht ſo plump, daß ſie eine der Kräfte in uns ſei. Man macht das dann feiner und 


Pannwitz: Die Religion des Nindes 757 


läßt ſie eine beſondere Außerungsart unſeres geſamten inneren Lebens ſein. Was 
ganz dasfelbe ift: nur aus der Kategorie des Weſens in die Kategorie der Erſchei- 
nung verſchoben. Gar nichts anderes: außer im ſpezialphiloſophiſchen Sinne. 
All das ift eben Religions philoſophie, und ich kann mir nicht helfen, Ne- 
ligions pliloſophie hat mit Religion ebenſowenig zu tun wie Dogmatik. 
Die Philoſophie iſt es ja ſchließlich, die feſtſtehende Definitionen und Sätze liefert. 
Über die ſichtbaren und unſichtbaren Dinge. And fie ift fo ins Volk gedrungen, 
daß man ihren verkappten Spekulationen überall begegnet. Ich meine nicht 
nur dem Denken. Sondern ich meine: dem Einfluß der wiſſenſchaftlichen Philo- 
ſophen aufs Denken. Und die Philoſophie reißt bekanntlich alles in organiſch 
unzuſammengehörige Ordnungen auseinander. Dieſe Ordnungen 
mögen dem Denken eines beſtimmten Menſchen ſympathiſch fein. So ſteht die- 
ſes Denken eben mehr unter der Geſchichte des Denkens als unter der Macht der 
Dinge. Dagegen iſt nichts einzuwenden. Man darf es nur nicht abſtreiten wollen. 
So reißt die Philoſophie auch irgendein menſchliches Fühlen, was man ja ſehr 
ſchön erzählen könnte, gewaltſam auseinander in eine nähere Beſtimmung: reli- 
giöſes Gefühl, und einen Gegenſtand davon: Gott. Wo Gott ausgeſchaltet iſt, 
da iſt es nicht anders. Da tritt die Philoſophie auch ihre eigene Erbſchaft an. Nur 
in dem Gewand irgendeiner anderen Wiſſenſchaft. Sei es nun die Moralwiffen- 
ſchaft oder die Naturwiſſenſchaft. Hat ein Menſch in ſich die Dogmen überwunden, 
die religiöfen, fo hat er doch noch lange nicht die Neigung zu Dogmen über- 
wunden. Die ijt viel zu alt. Und was es koſtet, die zu überwinden, und wie lang- 
ſam man darin vorwärts kommt, das iſt gar nicht zu glauben. Die Neig ung 
zu Dogmatik, dieſe philoſophiſche Tugend, befriedigt ſich dann eben irgendwie 
anders. Durch den Verluſt der religiöfen Dogmen ijt das Gefühl einer Leere ent- 
ſtanden. Da muß etwas hin. Irgend etwas Feſtes. Wenn auch lange nicht 
fo Feſtes. Und das immer wieder mitanzuſehen, mit der Sehnſucht, daß einmal 
wirklich Freiheit komme, iſt ſehr ſchmerzlich. Und darum iſt es eben nötig, 
daß ſolch ein Aufſatz geſchrieben und gedruckt wird. — Da kommt nun die Moral- 
wiſſenſchaft. Das heißt das Dogma, ein Menſch wäre überhaupt imſtande, das 
Handeln eines anderen Menſchen zu begreifen und zu werten. Ja, aber wo kom- 
men wir denn hin ohne Sittlichkeit? ſchreien ſofort dieſelben, denen entgegen- 
geſchrien wird: Wo kommen wir denn hin ohne Religion? Als ob mit den Dog- 
men Religion oder Sittlichkeit oder ir gend was im Menſchen Exiſtierendes 
aufgehoben würde. Als ob nicht jeder fidh ganz allein vor fich ſelbſt zu verantwor- 
ten gerade genug zu tun hätte. Einen Dieb, einen politiſchen Gegner mag man 
eben anders und richtig er bekämpfen als mit Waffen der Sittlichkeit. Wem 
irgendwelche moraliſchen Wertungsmaßſtäbe gegeben werden, wer irgend- 
wie in Moral unterrichtet wird, deſſen Freiheit im Handeln iſt ſchon 
vernichtet. Denn er handelt, um ein beſtimmtes Geſetz zu erfüllen, welches er 
glaubt feiner Selbſtachtung wegen erfüllen zu müſſen. Er handelt, nicht weil 
er fo muß. Sondern weil er feiner Selbſtachtung wegen fo muß. 
Und das ift noch der günſtigſte Fall. Oft fürchtet er nur moraliſche Prügel von 
feiten anderer. Ich habe nie begreifen können, wie Moral und Liebe fih mit- 


758 Panmoitz: Ole Religion des Kindes 


einander vertragen follen. Moral ijt immer ein Dogma. Wenn auch ein mir felbft 
von mir gegebenes. Und Liebe will dem andern Freude machen und Schmerz er- 
ſparen. Ein Dogma kann aber gar nicht auf den anderen Rüͤckſicht nehmen. Ein 
Dogma befiehlt mir mein Handeln und hat dann als Lohn eine Selbſtzufrieden⸗ 
heit. Etwas ganz anderes als alle Moral iſt mir aber jene Gerechtigkeit, jenes 
Nichteingreifen, von dem ich ſo viel geſprochen habe. Und die Moral iſt beinahe 
beffen Umkehrung, weil fie immerfort einzugreifen gebietet. Solch gerechtes Han- 
deln kann nur beſtehen, wenn einem ſelbſt ſolche Gerechtigkeit widerfährt und man 
das begreift. Aber ich wüßte freilich nicht, wer das nicht begriffe. Je mehr Frei- 
heit, deſto mehr Charakter, Gerechtigkeit und —: Freiheit. Freiheit erzieht zur 
Freiheit. Wobei eben Freiheit nicht Willkür iſt, ſondern allein die Erlaubnis, 
nach eigenem Geſetz zu handeln, ſo weit dadurch nicht die Rechte 
anderer verletzt werden. Freiheit iſt gleichzeitig Achtung vor 
fremder Freiheit. Ohne das wäre es freilich Willkür. Und ftatt dieſer höchſt 
praktiſchen, in jeder Familie, in jeder Schule zu erſtrebenden Freiheit: nichts als 
Vergewaltigung und — Grünes drum: nämlich ſentimentale Religions- und 
Moralphiloſophemchen. Und große Worte von der Menfchenliebe und all den bere: 
lichen Dingen, die fo furchtbar unpraktiſch und gut gemeint find. — Und nun noch 
die Naturwiſſenſchaft. Die ſoll auch religiöſe Gefühle auslöſen. Das iſt ſchon ſo 
einer der Ausdrücke, die man jetzt immerfort hört. Es wird mir immer ſo weh, 
wenn ich dergleichen höre. Da ſteckt natürlich wieder unſere Pſychologie dahinter. 
In der ſelbſt noch unſere Selbſterfahrung ſyſtematiſiert iſt. Laßt uns doch unſere 
Pſyche und erlagt uns euern Logos! rufe ich verzweifelt, und weiß nicht, ob je- 
mand hört. Religiöſe Gefühle find alfo im Menſchen potenziell vorhanden, Natur- 
wiſſenſchaft iſt vorhanden, und wenn das zuſammengerät, ſo wird das eine vom 
andern ausgelöft. So wird jedem, was gerne leben möchte, etwas ſubſtituiert, ein 
Begriff, und dem wieder einer, und der Lebensprozeß findet dann zwiſchen den 
Begriffen ſtatt. Sch gebe ein ganz harmloſes Beiſpiel des naturwiſſenſchaftlichen 
Denkens. Der Kalkſtein iſt kohlenſaurer Kalk, d. i. eine chemiſche Verbindung aus 
Rohlenjdure und Kalk. Kommt da noch einmal fo viel Kohlenſäure zu, fo verwan- 
delt ſich der kohlenſaure Kalk in doppeltkohlenſauren Kalk. Der iſt dann löslich. 
Ein Analogon. Zch tue in ein Gefäß ein Fünftelliter Bier. So entſteht ein Schnitt. 
Ich tue noch einmal fo viel hinzu, fo verwandelt ſich der Schnitt in ein Seidel. 
Was mir nun dabei, auch wenn's eben ein berechtigter Ausdruck für grobe, wenig 
liebevolle Beobachtung iſt, was mir nun dabei fühlbar werden ſoll, was mir 
diefe Erkenntnis [ein foll, das kann ich nicht begreifen. In einen alten Alchi- 
miſten und fein Weltgefühl kann ich mich doch wenigſtens verſenken. Man ver- 
wechſelt wirklich Wiſſenſchaft mit Terminologie und 
Rechenkunſt. Welche beiden natürlich nötig ſind. Aber anſpruchslos 
und ohne „Weltanſchauung“ bleiben ſollten. Und dann all die berühmten natur- 
wiſſenſchaftlichen Weltſyntheſen. Welche dadurch fo fatal wirken, daß fie ſich aus 
dem Fortſchritt der Wiſſenſchaft ableiten. Ein wirkliches Weltgefühl und 
Weltdenken aber geht ja ziellos unter im Unendlichen, kann weder mellen noch 
ſich vermeſſen. Was iſt der ganze Monismus? Oer ſich allerſchleunigſt anderen 


Pannwitz: Die Religion des Kindes 759 


Weltanſchauungen gegenüberſtellt, ſeine Geſinnungsgenoſſen und ſeine Gegner 
hũbſch hiſtoriſch zuſammenſucht — ? Jd) möchte fagen: die Zwiebel über die Rnofpe 
gejtülpt, fo daß die nun nimmermehr aufblühen kann. Denn dahin kommt man 
nicht; daher kommt man. Und es ift ja gewiß mancher von einem Welteinheits- 
gefühl hergekommen und hat das nie vergeſſen können, und hat ewig ſo in aller 
Zerriſſenheit gelebt und ewig fo die Welt angeſchaut als Ein und All. Aber 
das iſt doch nun jedes Menſchen perſönliche Notwendigkeit, wie er das macht. Und 
am allerwenigſten foll er glauben, beſtimmte wiſſenſchaftliche Reſultate führten 
dahin. Die führen nie zu einer Weltanſchauung. Sondern eine Weltanfdau- 
ung, die jedem eingeboren ijt — freilich die e in geboren e erkennen wenige —: 
die führt überallhin, auch zu den wiſſenſchaftlichen Reſultaten. Und die fogenann- 
ten feſtſtehenden Reſultate, das heißt die, welche mit unfer aller Weltanſchauung 
fich vertragen, die tommen eben aus unfer aller Weltanſchauung. Verträglich 
iſt aber ein wiſſenſchaftliches Reſultat mit ſehr vieler und verſchiedner Weltanfchau- 
ung. Wobei ich nun nicht fage, die Schöpfungsgeſchichte der Bibel fei eine Welt- 
anſchauung. Die iſt —: ein wiſſenſchaftliches Reſultat wie Haedels Schöpfungs- 
geſchichte und ſtammt aus einer Weltanſchauung wie Haeckels Schöpfungs- 
geſchichte. Weltanſchauungen ſelbſt haben überhaupt keine Form. Sie ſind eben 
die Seele des Menſchen, der ganze Menſch. Und die Seele verliert ſich, ſobald 
fie übergreift. Und jede Aufſtellung einer Wahrheit ift ein Ubergriff. Man kann 
nur erzählen vom eignen Denken und Fühlen. Da kann man wohl ſagen: 
Es iſt. Denn was in uns iſt: das iſt. Nun wird man ſagen: Die Wiſſenſchaft glaubt 
ja gar nicht, die Wahrheit gefunden zu haben. Sie f u ht die Wahrheit. Za — 
— ich weiß nicht, ob ich das verſtändlich machen kann —: ich meine, das Suchen 
nach der Wahrheit hat uns fo viel geſchadet. Hat fo viel Gewalt getan. Und Wahr- 
heit iſt ein philoſophiſcher Begriff. In aller Wirklichkeit gar nichts anderes. Ihm 
liegt zugrunde: die philoſophiſche Unterſcheidung von Ding und Erſcheinung. 
Und die kenne ich für mich nicht mehr. Das Ding kann uns überhaupt nur zugäng- 
lich ſein, indem es uns irgendwie erſcheint. Und ob etwas, ſoweit es nicht erſcheint, 
oder fo wi e es nicht erſcheint, auch noch exiſtiert, ift eine ganz unberechtigte Frage, 
da ſie ſchon wieder den Unterſchied von Ding und Erſcheinung vorausſetzt. Alſo 
das würde ein Rattenkönig. Ich finde eben überall unferem freien Fühlen þeim- 
liche philoſophiſche Begriffe vorgebaut. Jd finde, daß wir in einer ganz ungeheu- 
ren, ganz ungeahnten Kͤnechtſchaft der Philoſophie leben. Es ift mir immer wieder 
und überall der alte Ariftoteles. Wenn das Kind zwei Jahre alt ijt und man ein 
wenig mit ihm ſpricht, fo beginnt die Erziehung zu Ariftoteles. Beim Profeſſoren- 
ſohne natürlich mehr als beim Bauernſohne, aber überall. Und ſo geht es fort 
durchs ganze Leben. Und davor ſuch' ich Rettung! Sch wollte über die Religion 
des Kindes reden und habe bis jetzt über die Philoſophie der Erwachſenen geredet. 
Es half nichts. Die Bahn mußte erſt frei werden. Und nun will ich doch endlich 
die erſte Hauptfrage beantworten: was mir denn Religion fei. Ich habe ein Wort 
dafür jetzt endlich gefunden, was keine Definition fein ſoll, aber es fühlbar machen 
kann: das, was ich bin, aber nicht kenne. Wo ich immer bin und 
immer geborgen bin. Und eins und all und gerecht. Woher ich und wohin ich 


760 Pannwitz: Die Religion bes Kinbes 


ewig ſuche. Und was ich nie finden will, da ich's ja ewig bin. Und dies Suchen 


ewig bin. d R P 


Die Religion des Kindes —: die follte doch ziemlich frei fein vom Ariftote- 
les. Und wenn das Kind nicht ſchon zu ſtark beeinflußt iſt, ſo iſt ſie's auch. Aber 
das Kind wird ja fo ſtark beeinflußt. Und dadurch geht ſeine Religion eben auch 
entzwei. Und das iſt das große Elend. All, was wir ſuchen, iſt da in den Kindern: 
die ungebrochene Kraft, zu wachſen, wie es muß. Aber das wird ja nicht anerkannt. 
So gut wie gar nicht anerkannt. Auch von den Freien noch ſo wenig. Und oft 
eben nur mit einigen Einſchränkungen theoretiſch. Und ehe das nicht anerkannt 
iſt, wird die Vergewaltigung bleiben. Ehe nicht anerkannt iſt und als felbft- 
verſtändlich gilt, daß alle Kraft ſchon im Menſchen liegt, daß nichts hinzuzutun 
iſt, und daß nichts gelenkt werden darf und nur die Gerechtigkeit erhalten 
werden muß, alle Rechte geſchützt werden müſſen. Daß aber alles übrige vom 
Übel ift. Außer der nicht übergreifenden und auch die Scham nicht verletzen 
den Herzensteilnahme. Denn auch die Teilnahme darf nicht — of fenſiv wer- 
den. Und natürlich müſſen die Bedürfniſſe des Kindes im Maße der gegebenen 
Verhältniſſe befriedigt werden. Alle Fragen beantwortet. Aber da hüte man ſich 
ſehr, daß man nicht mehr ſage, als man ſelber weiß, und es überall dabei ſage, 
wo die Sache doch auch anders ſein könnte, daß man das nicht weiß, ſondern ſich 
nur ſo denkt, und daß andre ſich's anders denken. Und ja nicht ſtöre man das Kind, 
wo es ſich ſelbſt etwas denkt. Es iſt ſehr ſchwer, Gedanken des Kindes wirklich 
zu verſtehen. And ſo ſuche man eben die Religion des Kindes zu verſtehen, 
entfernt zu ahnen wenigſtens, weiter kommt es ja nicht. Das geht nun nicht ſo, 
daß man da einfach unterfucht, wie das Kind ſich zu dem verhält, was uns Reli- 
gion heißt. Denn das wäre doch: Verhältnis des Kindes zu unſerer Religion oder 
Theologie gar und Religionsphiloſophie. Sich ſelbſt muß man vergeſſen, ſoweit 
man es vermag. Natürlich wird ſich in dem Verhältnis des Kindes dazu auch das 
Kind ſelbſt zeigen, wie in all feinem Leben. Aber es zeigt ſich doch eben da beein- 
flußt, und ſein Eigenes iſt, wie es auf den Einfluß reagiert. Völlig unbeeinflußt 
wird es ſich ja nirgends zeigen. Das iſt eine Konſtruktion, wenn man daran denkt. 
Sehr müßig zum Beiſpiel iſt die Frage, ob ein unbeeinflußtes Kind auf Gott kom- 
men würde. Denn ein unbeeinflußtes Kind iſt lebensunmöglich. Alſo kann man 
an ihm auch nicht das Leben begreifen. Aber es gibt doch aufdringliche und un- 
aufdringliche Einflüſſe und ſchließlich Zwang. Wenn einem Kinde Gott als äußere 
Tatſache beigebracht worden iſt, ſo iſt das ja nicht notwendigerweiſe ein Hindernis, 
daß das Kind einen eignen Gott habe und fühle, aber es kann ein Hindernis 
werden. Und ob der Gott des Kindes echt iſt oder nicht, das iſt jedenfalls ſehr ſchwer 
zu ſehen. Da war ein vierjähriges Kind, das hatte geſehen, wie der neunjährige 
Bruder die jechsjährige Schweſter mit der Tür klemmte. Nachher war fie in einem 
Zimmer ganz allein und wußte nicht, daß man ſie hörte. Da ſagte ſie ganz leiſe: 
„Denk mal, lieber Gott, da hat der Stephan die Binchen einfach mit der Tür ge- 
hauen.“ Sch weiß nun ſchon, das wird vielfach „reizend“ und „rührend“ gefunden 
werden. Tut mir leid. Mir iſt's ein furchtbar ernſtes Problem. So viel glaube ich 


Pannwitz: Die Religion bes Nindes 761 


ja herauszufühlen, daß der Gott echt iſt. Auch fo viel, daß es, viel mehr als eine 
Anklage, ein Nichtrechtbegreifen ift, wie der Stephan das tun konnte. Und das 
ſagt fie dem lieben Gott, erzählt es ihm! Würde fies der Mutter genau fo erzäh- 
len? Sc weiß nicht, mir ift, als würde fie da viel mehr anklagen. Es ift doch ein 
ganz innig; eignes Verwundern über diefe Welt, das gar nicht übergreift. Und das 
bringt fie dem lieben Gott. Und doch ift mir irgendwas Unheimliches dran. Und 
das iſt wohl, daß ich trotzdem die ganze Kultur darin fühle, die hinter uns liegt und 
in der wir leben. Daß ich fühle: hatte das Kind nicht ſchon viel von Gott gehört, 
betete es nicht jeden Abend, dieſen Gottfelbft gefunden hätte esdoch nicht. 
Trotzdem gehört er ihm — jetzt. Das war nun ein Fall, wo das Verhältnis des Kin- 
des zu unſrer Religion fidh zeigte. In dieſer Richtung fällt mir noch einiges ein. 
Ich hatte als Kind bei meinem Vater Unterricht. Auch Religions unterricht. Denn 
ich wurde auf die erſte Vorſchulklaſſe vorbereitet. Lernte alſo die bibliſchen Ge- 
ſchichten. Es war nun bei dieſem Unterricht nichts Dogmatiſches, ſoweit es nicht 
im Stoffe unabänderlich lag. Ich weiß ſogar, daß ich perſönlich viel ſtärkere reli- 
giöſe Bedürfniſſe hatte, als befriedigt wurden. Von denen ahnte niemand etwas. 
Alfo ich bin doch wirklich im Religiöſen wenig beeinflußt worden. Und da ent- 
ſinne ich mich, daß ich mich immer ſehr nach ganz neuen Federn zum Schreiben 
ſehnte, aber nicht drum bitten wollte, da wohl auch die alte immer noch ging, 
wenn ich eine neue mir ſchon wünſchte. Dieſe Sehnſucht nach neuen Federn ift 
übrigens eins der ſtärkſten Gefühle geweſen, die ich je gehabt habe. Ich betete 
um eine neue Feder. Und nun das Wunderbare. Ich ſtützte mich mit aller Zn- 
brunſt auf meinen Federhalter dazu, um wie Moſes am Stabe zu 
beten. Es war der dunkle Aberglaube, daß es dann beſonders helfen würde, 
und den hatte ich aus mir ſelbſt. Es war aber noch etwas Tieferes: ich mußte mich 
an irgendeine Autorität anlehnen. Beten wie irgendein berühmter Beter. Und 
ich hatte es ganz aus mir ſelbſt, Moſes am Stabe mir zu wählen. Sch hatte mir 
alfo ſelbſt einen Ritus geſchaffen, wenn auch n u r mir ſelbſt und nur für den Augen- 
blick. Und das hatte wieder um noch einen tieferen Grund. Zeh habe von je- 
her das Bedürfnis gehabt, das Vorhandene zu verehren genau wie es ift und fo- 
gar nachzuahmen. Und nur, daß ich nicht zufrieden war, wenn mir das ſo halbwegs 
glückte, ſondern daran alle Mängel erkannte und alle Verſchiedenheit: das brachte 
mich dahin, wo ich jetzt ſtehe. Daß ich das Vorhandene auch gelten laſſe, aber ohne 
es nachzuahmen, und daß ich nur die Übergriffe nicht gelten laſſe. Und das iſt doch 
nun ein deutlicher Beweis, daß ich trotz ſchein bar gering em Einfluß, fei 
es auch nur durch die bibliſchen Geſchichten ſelbſt, aufs allerſtärkſte beeinflußt war, 
bis zur ſelbſtändigen Erſchaffung eines Ritus, worin ja dann wieder meine innerſte 
Art fih zeigte, wenn auch in ihrer Reaktion auf Einflüſſe. Und fo ijt es in gewiffer 
Weiſe meine Religion geweſen, in gewiſſer Weiſe aber nicht, daß ich wie Moſes am 
Stabe gebetet habe. Und ein drittes. Wir erzählte jemand, daß er als Kind bei 
dem Wort Gott immer rot geworden ift. Und er ift abſolut nicht dogmatiſch erzo- 
gen worden. Überhaupt ohne allen Zwang. Da iſt die innerſte Scham des Men- 
ſchen, mit der er ſein Eigenſtes wahrt. Dieſem Kinde hat Gott wirklich gelebt. Und 
war fein Eigenſtes. Daran ermeſſe man, was ſchon ein Wort ſchaden kann, und 


762 Pannwitz: Die Religion bes Rindes 


nun eine Anſicht, und gar ein Dogma und ein Ritus wie das Beten. Einer der 
Frömmſten, die ich kenne, Jean Paul, hat geſagt, daß ein Tiſchgebet jedes Kind 
verfälſche ... Etwas andres iſt's, wenn die Eltern den unbezwinglichen Drang 
zum Tiſchgebet haben und das vor den Kindern nicht verbergen. Aber dann — 
wird's ſchon irgendwie anders als wie man es ſo kennt. Still und perſönlich und 
unaufdringlich und ungeſchäftsmäßig. Aber nun denke man: zwiſchen jenes Kind 
und ſeinen Gott — den es auch zuerſtgehört haben kann — hätte ſich eine 
religiöſe Erziehung gedrängt! Das Bedenkliche ift eben nicht, daß das Kind nicht 
Gott faffen kann, fondern daß der Erzieher nicht das Kind faſſen kann. So wird 
die Religion aber ausgerottet. Durch die religiöſe Erziehung. Den Verkehr zwi⸗ 
ſchen einem Kinde und ſeinem Gott ſollten wir doch nicht zu vermitteln ſuchen 
und im ſelben Atem ſagen: Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder —, und ferner: 
wir ſollten doch wenigſtens ſo viel Religion haben, im Allerheiligſten das Maul 
zu halten. Das Allerheiligſte iſt die Seele des Kindes. 
* * 

Es ift fo furchtbar viel quälende Sat, die bewältigt werden muß, bis man 
zu freien und frohen Worten über die Religion des Kindes kommen kann. Aber 
nun endlich. 

Was wir ſind, aber nicht kennen — was das Kind iſt, aber nicht kennt. — 

Wir reden gern von der Phantaſie des Kindes. Vas iſt dieſe Phantaſie? 
Wir nennen ſie ſchöpferiſch. Woraus ſchöpft ſie? Doch aus dem, was da iſt. Aus 
dem Inneren. Und das Kind hat ganz ſicher nicht das Gefühl, etwas zu ſchaffen, 
ſondern überhaupt kein Bei gefühl. Es fühlt das, was es i ſt. Wenn ich in den 
Garten gehe und mir das Kind entgegenkommt und ſagt: Hier darfſt du nicht 
durch! Hier iſt mein Haus. Und ich dann nichts ſehe, kaum einen dünnen Strid... 
Gehe ich nicht darauf ein, gehe ich doch durch ohne Not oder mit Not, ohne Ent- 
ſchuldigung, dann — — dann habe ich das Kind in feiner Andacht geſtört, die Re 
ligion des Kindes verletzt! Es war kein Gotteshaus, was ich betreten habe, ſagt 
man. Doch! Es war das Haus, in dem das Kind wirklich lebte. Wenn wir je 
mandem ſagen: Hier iſt eine koſtbare Vaſe, die habe ich, die darfſt du nicht hart 
anfaſſen, denn fie zerbricht ſonſt. Und wenn er fie dann doch hart anfaßt, fo nennen 
wir ihn doch mindeſtens roh. Aber wir tun dem Kinde, wenn wir rückſichtslos durch 
fein Haus gehn, etwas viel Schlimmeres. Wir zeigen eine Rückſichts⸗ 
loſigkeit gegen die Seele des Kindes, nicht mal gegen ſeinen Beſitz. Denn das 
Kind will doch eben nur anerkannt haben, daß das fein Haus ift. Sein Spiel 
Erlebnis. Es gibt ja nun ſolche, die an ſo etwas mit Rationalismus herangehn 
und meinen, das wäre ja aber kein Haus. Sch möchte dich fragen, was ein Haus 
ijt. Na alfo: Ein Ding fo und fo. Schön. Und wenn ich es aus Pappe klebe? Dann 
könnte man es auch jo nennen. Und wenn ein Dichter jagt: Haus meiner Sehn 
ſucht, Unendlichkeit! Dann — iſt das ein poetiſches Bild. Sie haben wohl recht — 
denn — ein Haus muß doch vier Wände haben, wenn's fünf Wände hat, iſt's auch 
noch eins. Aber — zuviel darf man doch der Phantaſie nicht zumuten ... Richtig 
— der Phantaſie des Erwachſenen nicht. Was er nämlich ſeine Phantaſie nennt, 
ijt der arme Nell feines Kinderglaubens. Ja — aber follen wir denn all den Un- 


Panmoltz: Die Religion des Kindes 763 


finn glauben, den ein Kind glaubt? Gewiß nicht. Ihr follt nur euern eignen Un- 
ſinn, mit dem ihr doch mehr oder weniger rechnet, auch glauben, z. B. daß der 
Raum unendlich wäre oder auch nicht unendlich, welches als Wiſſenſchaft Unfinn 
iſt, weil es das Dogma iſt, als Gefühl aber beides ſehr möglich, nur ausfühlen muß 
man's ſchon, ſonſt bleibt's Phraſe. Ferner alle poetiſchen Bilder, die ihr euch ge- 
fallen laßt. Ferner eure ſämtlichen philoſophiſchen und überhaupt eure fämt- 
lichen Überzeugungen. Es ift ein weiter Weg vom Fürwahrhalten zum Glau- 
ben. Und wenige gehn ihn, ohne ihn zu verlieren. Wenn man aber etwas glaubt, 
wie das Kind ſein Spiel, ſo hat man gar keine Zeit vor ſtarkem, tiefem Erleben, 
zu bedenken, ob es wahr ſei oder nicht. Fragt ihr das Kind, ob es ſein Haus für 
ein wirkliches Haus halte, ſo wird es euch anſtarren und gar nicht wiſſen, was ihr 
meint. Ihr begreift nämlich nicht, daß das Kind es gar nicht hindert, ſein Haus 
als ſein Haus zu erleben, wenn es ganz genau weiß, wie die gewöhnlichen Häuſer 
ausſehn. So wenig es den Maler hindert, ein gemaltes Haus als ein Haus zu er- 
leben, wenn er ganz genau weiß, daß das gemalte nur aus Farbe beſteht. Uns 
wäre viel geholfen, wenn wir das Wort Phantaſie auch entbehren könnten. Es 
hat doch, und für jeden, große Gefahren. Das Kind glaubt gewiß nicht, daß 
ſein Haus dasſelbe Haus ſei, wie das Haus ſeiner Eltern. Aber auch nicht das 
Gegenteil. Es glaubt und vergleicht nicht. Es lebt in ſein em 
Hauſe. Und da iſt weiter gar nichts drumrumzureden. Das iſt ſo. Und indem ihr 
zeigt, daß ihr ihm das nicht glaubt, ſtört ihr es in feinem Glauben. Genau fo roh, 
wie wenn ihr von Gott ſprecht und euch jemand ſagt: Sei doch nicht ſo dumm, 
Gott gibt es ja gar nicht. Das iſt genau dasſelbe. Denn wir reden doch 
hier vom Glauben. Nicht von den Gegenſtänden des Glaubens. Und der 
Glaube iſt beim Glauben wirklich das Wichtige. Seine Gegenſtände entſtehen 
überhaupt erft, indem man ihn durch die philoſophiſche Brille anſieht. und wenn 
dem Menſchen der Glaube erhalten werden ſoll, ſo muß ihm die Kraft des 
Glaubens erhalten werden. Dann wird jeder ſchon glauben, was in ihn von Gott 
gelegt ift. Und für jede Vermittlung bedanken wir uns. Das ift kein Geben, fon- 
dern Nehmen. Zit Gewalt. Und wie das Kind an fein Spiel glaubt, glaubt es 
an fein Märchen. Die Frage ift für das Kind nicht: Zit das wahr? Vielmehr: 
Wie ift das? Denn es ift. Und wenn die Frage: Fit das wahr? doch einmal 
kommt, ſo iſt ſie mit keinem plumpen Za oder Nein zu beantworten, ſondern mit 
dem wirklich Wahren. Das heißt, es iſt zu ſagen: Es hat das wohl noch kaum ein 
Menſch geſehen — genau weiß man das ja auch nicht — aber es haben fich das 
Menſchen immer fo ausgedacht. Und das Kind wird ſich freuen, ſich's weiter aus- 
zudenken und anzuhören, wie Erwachſene, die nod Kind genug find, ſich's aus- 
denken. Das Märchen iſt unſer Leben über die gewohnten Schranken hinaus. 
Wir fühlen irgendein Stück Natur, meinetwegen ſoweit wir es ſehen können, dann 
ſoweit wir es denken können, hinein in den Weltraum, und wenn wir es nicht 
mehr weiter denken können. dann fühlen wir's immer weiter hinaus, aber da 
ganz draußen, da iſt ſchon unſer Inneres, aber ohne daß es nun ein Kreis wäre, 
es geht nur immer weiter. Dies iſt freilich auch — ein Märchen. Aber wie anders 
ſoll ich mein Gefühl ſagen? Anders geht's gar nicht. Und wer mich überhaupt 


764 Holly: Oer Wandrer 


verſtehen kann, der verſteht mich hier ſicher. Ein Märchen iſt eben nicht wirklich 
wie eine Telegraphenſtange, ſondern wie ein Märchen. Und wir verlangen ja auch 
von der Telegraphenſtange nicht, daß ſie wirklich ſei wie ein Märchen. Alſo ſeien 
wir doch auch gerecht gegen's Märchen. — Nun will ich hier nicht im einzelnen 
die Weltvorſtellung, das Spiel, das Märchen des Kindes beſprechen. Das ginge 
ins Endloſe. Das muß ein andermal geſchehen. Ich wollte nur zeigen, daß hier 
überall das innerſte Leben des Kindes lebt. Und daß dies nicht verletzt werden 
darf. Daß man, wenn man es verletzt, dem Kinde ſeinen Glauben nimmt, und 
damit ſeine Kraft des Glaubens, und es damit zum Dogma führt. Ganz gleich zu 
welchem. Denn Dog men glaube ift immer ein Mangel an Glaubenstraft. 
Es iſt ein Glaube an etwas von außen Feſtgeſetztes, an etwas Starres, nicht der 
Glaube, der ein Leben iſt, das Gott in uns geſchaffen hat. Und er tritt immer ein, 
wenn nur der wirkliche Glaube genommen ift, das Leben, das Gott in uns 
geſchaffen hat, und das ſo wandelt und ſo wenig ſtarr iſt, wie alles lebendige Leben. 
Wenn wir uns ſelbſt verloren haben und nicht mehr wiſſen, wo wir uns halten 
ſollen. 

Und was ich hier mit vielen Worten verſucht habe zu ſagen, das iſt ja ſchon 
mit einem Worte geſagt: Das Himmelreich iſt in uns. Aber die vielen Worte 


ſind doch leider nötig, damit der beſtehende Zuſtand eine Brücke finde zum 
Kommenden. 


Der Wandrer 


Von 
Leon Holly 


Die braune Scholle glüht, es dampft der Welher 
Waldaufwärts lagert ſich ein goldner Rauch. 
Der Wandrer lüftet keck den zarten Schleier 
Und Jubel klingt von feines Mundes Hauch. 


Auf ſeinen ſchweren Eichenſtock gebogen 

Trinkt er die Morgenkühle, Zug um Zug, 

Und ballt die Fauſt: wie lang ward ich betrogen! 
Still lächelnd reicht ihm Pan noch einen Krug. 


7 


Mann über Bord! 


Von 


Vicente Blasco Ibanez 


vieja mit Salzladung nach Gibraltar. 
Der Schiffsraum war vollgepfropft, auf dem Oeck lagen die Säcke 
übereinander und bildeten einen Berg um den Hauptmaft herum. 

Um von vorn nach achter zu kommen, ging die Schiffs mannſchaft an den Gei- 
ten entlang und konnte dabei nur mit Mühe und Not das Gleichgewicht halten. 

Die Nacht war ſchön, eine Sommernacht mit Haufen von Sternen und einem 
friſchen, etwas unregelmäßigen Wind, der einmal das große Lateinſegel derartig 
ſchwellte, daß der Maſt anfing zu krachen, dann wieder aufhörte zu wehen, ſo daß 
das große baumwollene Segel geräuſchvoll hin und her flatterte und dann fraft- 
los zuſammenſank. 

Die aus fünf Männern und einem Knaben beſtehende Schiffsbeſatzung aß, 
nachdem die Ausfahrt geſchehen war, zu Abend, und als der dampfende Keſſel erſt 
einmal weggeſtellt war, in den ſie mit ſeemänniſcher Brüderlichkeit vom Herrn bis 
zum Schiffsjungen ihr Brot eintunkten, verſchwanden alle die Leute, die frei vom 
Dienſt waren, in die Luke, um auf der harten Matratze mit den von Wein und 
Waſſermelonenſaft gefüllten Bäuchen auszuruhen. 

Am Steuer ſtand der alte Chispas, ein zahnloſer Seebär, der mit ungedul- 
digem Brummen die letzten Befehle des Herrn entgegengenommen hatte, und bei 
ihm war ſein Schützling Juanillo, ein Neuling, der ſeine erſte Reiſe auf dem San 
Rafael machte und dem Alten ſehr dankbar war, denn ihm hatte er es zu verdanken, 
daß er in die Schiffsmannſchaft eingetreten war und fo ſeinen Hunger ſtillen konnte, 
der nicht gering war. 

Das elende Fahrzeug kam dem Jungen wie ein Admiralsſchiff vor, wie ein 
verzaubertes Schiff, das durch das Meer des Überfluffes dahinzog. 

Das heutige Abendeſſen war das erſte ordentliche, das er in ſeinem Leben 
zu ſich genommen hatte. 

Er war hungrig und faſt nackt wie ein Wilder neunzehn Jahre alt geworden; 
er hatte in der baufälligen Hütte geſchlafen, wo feine durch Rheumatismus zur Un- 
beweglichkeit verdammte Großmutter ſtöhnte und betete. Tagsüber half er bei der 


766 | Zbafiez: Mann über Bord! 


Abfahrt der Barken, lud Körbe mit Fiſchen aus oder durfte aus Gnade und Barm- 
herzigkeit mit den Böten hinausfahren, die den Thunfiſch und die Sardine ver- 
folgten, um eine Handvoll kleiner Fiſche mit nach Hauſe zu bringen, 

Aber heute war er dank dem alten Chispas, der, weil er feinen Vater ge 
kannt hatte, über ihn zu ſagen hatte, ein ganzer Seemann, war auf dem Wege, 
etwas zu werden, konnte mit vollem Recht ſeinen Arm in den Keſſel ſtecken, ja, 
trug ſogar Schuhe, die erſten in ſeinem Leben, ein Paar prachtvolle Stücke, die 
wie eine Fregatte ſegeln konnten und die ihn in anbetende Verzückung verſetzten! 

Und dabei ſprechen fie noch ſchlecht vom Meer! Aber nein, das iſt ja das 
ſchönſte Gewerbe auf der Welt! 

Oer alte Chispas hörte ihm mit ſchalkhaftem Lächeln zu, ohne dabei ſeine 
Augen vom Bug oder die Hände vom Steuer zu laſſen, wobei er ſich duckte, um 
die Dunkelheit zwiſchen dem Segel und dem Haufen Säcke zu durchforſchen. 

„Jawohl, du haſt dir kein ſchlechtes Gewerbe gewählt, aber es hat auch ſeine 
ſchlimmen Seiten. Du wirſt ſie ſchon merken, wenn du erſt mein Alter haſt. Aber 
dein Platz iſt nicht hier! Geh an den Bug des Schiffes und ſag, ob du vorn eine 
Barke ſiehſt!“ 

Juanillo lief mit der ſicheren Ruhe eines Strandjungen an der Reling entlang. 

„Sieh dich vor, Junge, ſieh dich vor!“ 

Oer war aber ſchon am Bug, ſetzte ſich am Klüver hin und ſah forſchend auf 
die ſchwarze Oberfläche des Waſſers, auf deſſen Grund ſich die unruhigen Sterne 
wie ſchlangenartige Lichtfäden ſpiegelten. 

Das dickbauchige, ſchwere Fahrzeug fiel nach jeder Welle mit einem „ſchwapp“ 
nieder, fo daß die Tropfen Zuanillo ins Geſicht ſpritzten; zwei Streifen von phos- 
phoreſzierendem Schaum glitten zu beiden Seiten des breiten Bugs dahin, und 
das geſchwellte Segel, deffen Spitze fih in der Dunkelheit verlor, ſchien das Jim- 
melsgewölbe zu berühren. 

Welcher König oder Admiral war wohl beſſer daran als der Schiffsjunge 
von San Rafael? Brrru! Sein voller Magen grüßte ihn mit befriedigtem Rülp- 
ſen. Das war ein ſchönes Leben! 

„Onkel Chispas! ... Eine Zigarre.“ 

„Hole ſie dir!“ 

Juanillo lief an der Reling des Schiffes, die dem Wind entgegengeſetzt 
war, entlang. Es war ein Augenblick der Ruhe, und das Segel kräuſelte ſich mit 
ſtarken Zuckungen und war nahe daran, kraftlos an den Maſt zu fallen. 

Es erhob ſich aber eine Bö, und die Barke neigte ſich mit einer ſchnellen Se 
wegung. Um das Gleichgewicht zu erhalten, klammerte Zuanillo fih an den Rand 
des Segels, und im ſelben Augenblick blähte ſich dieſes auf, als ob es berſten wollte, 
wodurch es das Schiff in ſchnelle Fahrt brachte und den ganzen Körper des Zungen 
mit fo unwiderſtehlicher Gewalt fortſtieß, daß es ihn wie ein Wurfgeſchoß weg- 
ſchnellte. 

Als das Waſſer Zuanillo verſchluckte, glaubte er in dem Getöſe einen Schrei 
zu hören, ein paar undeutliche Worte; vielleicht ſchrie der alte Seebär: „Mann 
liber Bord!“ 


gbañez: Mann über Bord! 767 


Von der Sturzwelle und durch den unerwarteten Fall betäubt, ſank er tief 
unter; bevor er fih aber genauer Rechenſchaft davon geben konnte, fab er fih wie- 
der auf der Oberfläche des Meeres, wie er ſchwimmend ausholte, wobei er kräftig 
den friſchen Wind einſog. 

Und die Barke? Er fab fie ſchon nicht mehr. Das Meer war ſehr dunkel, dunt- 
ler noch, als es vom Oeck des Schiffes ausſah. 

Er glaubte einen weißen Fleck unterſcheiden zu können, etwas Geiſterhaftes, 
das fern auf den Wellen ſchwamm, und daraufzu ſchwamm er nun. Aber bald 
jab er es nicht mehr dort, ſondern auf der entgegengeſetzten Seite, und nun wech- 
ſelte er verwirrt die Richtung, ſchwamm kräftig, aber ohne daß er wußte, wohin 
er ſich wenden ſollte. 

Die Schuhe drückten ihn nieder, als ob ſie von Blei wären. Verflucht ſollen ſie 
ſein! Er trug ſie doch zum erſtenmal! Die Mütze tat ihm an den Schläfen weh, 
die Hoſe zog an ihm, als ob ſie auf den Grund des Meeres ginge und die Algen ſtreifte. 

„Ruhig, Juanillo, ruhig!“ 

Nun warf er die Mütze fort und bedauerte nur, daß er es nicht ebenſo mit 
den Schuhen machen konnte. Er hatte Vertrauen. Er konnte lange ſchwimmen, 
er fühlte die Ausdauer dazu für zwei Stunden. Die Leute von der Barke würden 
wenden, um ihn aufzufiſchen. Man wird etwas naß — nichts weiter... Sterben 
denn aber wirklich Leute in ſolcher Weiſe? 

Sein Vater und ſein Großvater waren in einem Sturm umgekommen, nun 
gut! Aber in ſo ſchöner Nacht bei ſo gutartiger See dadurch zu ſterben, daß man 
von einem Segel erfaßt wird, wäre der Tod eines Dummkopfes! | 

Er ſchwamm und ſchwamm, wobei er immer glaubte, das unbeſtimmte, geifter- 
hafte Ding zu ſehen, das den Platz wechſelte, und hoffte, daß der San Rafael auf der 
Suche nach ihm auftauchen würde. „Ho, die Barke! Onkel Chispas! Patron!“ 

Aber das Schreien ermüdete ihn, und zwei- oder dreimal verftopften die 
Wogen ihm den Mund. Verflucht ſollen ſie ſein! Von der Barke aus ſchienen ſie 
unbedeutend zu ſein, aber wenn man bis zum Hals inmitten des Meeres ſteckte 
und zu fortwährenden Armbewegungen gezwungen war, um fih aufrechtzuerhal- 
ten, erſtickten ſie den Schwimmer, ſchlugen ihn mit ihrem dumpfen Anprall nieder, 
öffneten tiefe, bewegliche Abgründe vor ihm, die ſich dann ſofort wieder ſchloſſen, 
als ob ſie ihn verſchlucken wollten. 

Er glaubte noch immer, wenn auch mit einer gewiſſen Beſorgnis, an ſeine 
Ausdauer von zwei Stunden, jawohl, er rechnete darauf. Zwei Stunden und dar- 
über ſchwamm er an der Rüfte, ohne müde zu werden. Es war aber zu den Stun- 
den, wo die Sonne ſchien, in jenem blauen, kriſtallklaren Meer, wo er in phan- 
taſtiſcher Ourchſichtigkeit die gelben Selten mit ihren wie Zweige von grünen 
Korallen ſpitzen Gräſern, die roſafarbigen Muſcheln, die perlmutterartigen Gee- 
ſterne, die ſchwimmenden Blumen mit ihren fleiſchfarbenen Kronenblättern ſah, 
die erſchauerten, wenn ſie vom ſilbernen Bauch der Fiſche geſtreift wurden; jetzt 
aber war er in einem tintenfarbenen Meer, in der Dunkelheit verloren, von feinen 
Kleidern niedergedrückt, hatte unter feinen Beinen wer weiß wie viele zertrümmerte 
Barten, wie viele von den grauſamen Fiſchen abgenagte Leichname! Beim An- 


768 Ibanez: Mann Aber Vow! 


faſſen ſeiner durchnäßten Hoſe fuhr er zuſammen, da er glaubte, die Berührung 
ſpitzer Zähne zu fühlen! 

Ermüdet, ohnmächtig, warf er ſich auf den Rücken, ließ er ſich von den Wellen 
tragen. Der Geſchmack des Abendeſſens kam ihm hoch. Verfluchtes Eſſen, und 
was koſtet es, um es zu verdienen! Hier ſollte er nun in ſo dummer Weiſe ſterben! 

Oer Inſtinkt der Selbſterhaltung trieb ihn dazu, ſich aufzurichten. Vielleicht 
ſuchte man ihn, und wenn er ausgeſtreckt lag, würde man an ihm vorbeifahren, 
ohne ihn zu ſehen. Alſo weiterſchwimmen, mit der Angſt der Verzweiflung ſich im 
Kamm der Wogen aufrichten, um weiter zu ſehen, ſich bald nach der einen, bald 
nach der anderen Seite wenden und ſich immer im gleichen Kreiſe bewegen! 

Man verließ ihn, als ob er ein Segelfetzen wäre, der von der Barke gefallen 
war! Herrgott, vergißt man ſo einen Menſchen! Aber nein, vielleicht ſuchte man 
ihn in dieſem Augenblick. Eine Barke läuft ſchnell; wenn ſie ſogleich, nachdem ſie 
auf Deck gekommen waren, das Segel eingezogen hatten, würden ſie nur noch 
über eine Meile von ihm entfernt ſein! 

Während er ſich mit dieſer Illuſion ſchmeichelte, fant er ſanft nach unten, 
als ob ſeine ſchweren Schuhe ihn hinabzögen. Er ſpürte im Munde den bitteren 
Salpetergeſchmack, ſeine Augen erblindeten; das Waſſer ſchloß ſich über ſeinem 
geſchorenen Kopf, aber zwiſchen zwei Wogen kam ein kleiner Strudel hervor, 
kamen zwei gekrümmte Hände zum Vorſchein und er wieder nach oben. 

Die Arme ſchliefen ihm ein, der Kopf neigte ſich auf die Bruſt, als wenn der 
Schlaf ihn übermannt hätte. 

Der Himmel ſchien Juanillo verändert zu ſein, die Sterne waren rot wie 
Blutſpritzflecke. Das Meer flößte ihm keine Furcht mehr ein, er hatte nur den 
Wunſch, ſich dem Waſſer zu überlaſſen und auszuruhen. 

Er dachte an die Großmutter, deren Gedanken um dieſe Zeit bei ihm weilten. 
Und nun wollte er beten, wie er es tauſendmal von der Alten gehört hatte. Vater 
unfer, der du biſt .. Er betete innerlich, aber ohne daß es ihm zum Bewußtſein 
kam, bewegte ſich ſeine Zunge, und er ſagte mit ſo heiſerer Stimme, daß ſie ihm 
wie die eines anderen vorkam: 

„Ihr Schweine, ihr Schufte, die ihr mich verlaßt!“ 

Er ſank von neuem unter, er verſchwand, indem er vergebens kämpfte, ſich 
oben zu halten. Jemand zog an feinen Schuhen ... Er tauchte in die Dunkelheit 
unter, regungs- und kraftlos, wobei er Waſſer ſchluckte, aber ohne daß er wußte 
wie, kam er wieder an die Oberfläche. 

Jetzt waren die Sterne ſchwarz, ſchwärzer noch als der Himmel, von dem 
ſie ſich wie Tintentropfen abhoben. 

Es war das Ende... Gebt ging er wirklich unter, fein Körper war wie von 
Blei. Er verſank in gerader Linie, durch ſeine neuen Schuhe hinabgeriſſen, und 
während ſeines Falls in den Abgrund der zertrümmerten Barken und zerfleiſchten 
Skelette wiederholte er im Geiſte, der immer mehr in dichte Nebel eingehüllt 
wurde: „Vater unfer! ... Schufte, Halunken, die mich verlaſſen haben!“ 

(Aus dem Spaniſchen von Albert Eronau) 
wer 


eo 
SM 


Welche Beſtimmungen in Preußen noch in Kraft find 


Von 


Dr. Lothar Engelbert Schücking 


nter den wunderbaren Beſtimmungen, die in Preußen aus ältefter 
vormärzlicher Zeit noch in Kraft ſind, muß man diejenigen unter- 


I 
W faſſung in Übereinſtimmung zu bringen, aber doch unſerem Denten 
und unſeren Anſchauungen völlig fremd ſind. Prüft man allerdings genau die 
preußiſche Geſetzgebung und ihre Tendenzen, ſo findet man, daß der Fremdkörper 
darin eigentlich die Verfaſſung iſt, dies Blatt Papier, von dem Friedrich Wilhelm IV. 
ſagte, es ſolle ſich nicht zwiſchen ihn und ſein Volk drängen, dies Grundgeſetz, das, 
trotzdem es ein Grundgeſetz iſt, in einzelnen Teilen immer noch nicht zur Anwen- 
dung gekommen iſt. | 

Eine verfaſſungswidrige Beſtimmung iſt zweifellos die von 1812 über den 
vorläufigen Beſcheid der Polizeibehörden in Geſindeſachen. Die Beſtimmungen, 
daß die Polizei einen einſtweiligen Zuſtand ſchafft oder wenigſtens ihre Rechts- 
anſchauung mitteilt, find in Übung, weil fie für die Arbeitgeber praktiſch find und 
das Amtsgerichtsverfahren jeder der Parteien zu lange zu dauern pflegt. Außer- 
dem geht bekanntlich das Amtsgericht an einſtweilige Verfügungen oft ungern 
heran. Das Geſinderecht ift zudem fo mittelalterlich und paßt mit ſeinem Zurück- 
führungsrecht fo ganz in den Rahmen vormärzlicher Zeit, daß eine Kognition der 
Polizei in Geſindeſachen und eine obrigkeitliche Stellungnahme zu dieſen An- 
gelegenheiten in einem Polizeiſtaat gar nicht ſo merkwürdig erſcheint. Daß das 
eine Art verbotener Sondergerichtsbarkeit iſt, die durch die Verfaſſung längſt auf- 
gehoben ift, kommt niemandem recht gum Bewußtſein. 

Völlig unſerem Empfinden und den Beſtimmungen der Verfaſſung wiber- 
ſprechend, die die öffentliche Sicherheit gewährleiſtet, ift die Inſtruktion vom 
17. April 1837 über den Waffengebrauch der Königlichen Forft- und Jagdbeamten. 
In der Regel find die Waffen gegen fliehende Frevler nicht zu gebrauchen. Wird 
aber die Waffe nicht abgelegt oder wieder aufgenommen und iſt nach den befon- 

Der Türmer XI, 12 49 


770 Sdhiiding: Welche Beſtimmungen in Preußen noch in Reaft find 


deren Umftänden des einzelnen Falles in dem Nichtablegen oder Wiederaufnehmen 
der Schußwaffe eine gegenwärtige drohende Gefahr für Leib und Leben des 
Forſtbeamten zu erblicken, ſo iſt letzterer auch gegen den Fliehenden 
zum Gebrauch ſeiner Waffe berechtigt. Lebensgefährliche Verwundungen ſind 
ſo weit als möglich zu vermeiden, deshalb iſt der Schuß möglichſt nach den Beinen 
zu richten! 

Eine merkwürdige Rolle ſpielt auch in unſerem Polizeirecht die Minijterial- 
verfügung über Konkubinate, die ebenſo wie früher die Majeſtätsbeleidigung dem 
häßlichſten Denunziantentum Tür und Tor öffnet. Die Polizei hat das Recht, 
gegen eheliches Zuſammenleben nach der Verfügung vom 5. Zuli 1841 einzu- 
ſchreiten, ſobald das Verhältnis „öffentlichen Anſtoß“ gibt. Dazu genügt gewöhn- 
lich in der Praxis eine einzige Denunziation. Die Minifterialverfügung will eigent- 
lich nur ſolche Fälle treffen, in denen der Zuſpruch und die Ermahnung des Geel- 
ſorgers ohne Erfolg bleibt. Man ſieht aus dieſen Worten, daß wir es mit einer Zeit 
zu tun haben, die noch kein Schlafſtellenweſen kannte. Das Fortbeſtehen der alten 
Verfügung legt die Entſcheidung derartig in die Hand der Polizei, daß, wie geſagt, 
der Angeberei Tür und Tor geöffnet ift. Ein Einſchreiten ijt nach allgemeinem Po- 
lizeirecht, nämlich der bekannten Landrechtsbeſtimmung, doch nur dann zuläſſig, 
wenn ein öffentliches Intereſſe vorliegt. Dies Moment, daß die Geiſtlichkeit ein 
ſolches behauptet, iſt mehr als vage. 

Eine ganz merkwürdige Kompetenz legt der Erlaß vom 30. Januar 1851 
den Behörden bei in Betreff der Genehmigung des Aufenthaltes ausländiſcher 
Juden. Die Beſtimmung, die Rußland alle Ehre machen würde, beſagt, daß aus 
ländiſche Juden zur Bewilligung eines längeren Aufenthaltes der Genehmigung 
des Miniſters des Innern bedürfen, für welche Genehmigung jetzt nachgeordnete 
Behörden zuſtändig ſind. 

Durchaus dem vormärzlichen verfaſſungsloſen Polizeiſtaat entſprechen auch 
die kürzlich wieder in Kraft geſetzten Verordnungen über die Beaufſichtigung von 
Privatſchulen. Von den einſchlägigen Verfaſſungsbeſtimmungen wird faſt gänzlich 
abgeſehen. Für die Schulvorſteher iſt ein beſonderes Strafrecht der Regierung 
geſchaffen. Es ſind vorteilhafte Zeugniſſe der Ortsgeiſtlichkeit beizubringen. Auch 
ſtehen Hauslehrer und Erzieherinnen unter allgemeiner polizeilicher Aufſicht. 

Ausländer find aus politiſchen Gründen in Preußen ſtets ſehr ſchlecht be 
handelt worden. Es iſt deshalb auch nicht verwunderlich, daß eine Beſtimmung 
des preußiſchen Miniſters von 1848 noch in Kraft iſt, nach der die Niederlaſſung 
eines ausländiſchen Gewerbetreibenden ftets eine Vergünſtigung darſtellt, auf die 
der Ausländer, ſelbſt wenn er ſich nach dem Geſetze zur Naturaliſation qualifiziert, 
doch niemals ein Recht hat. 

Eine große politiſche Rolle ſpielt auch die Kabinettsordre vom 22. Februar 
1842, betreffend die Bildung von Vereinen ehemaliger Krieger zum militäriſchen 
Begräbniſſe verſtorbener Kameraden. ` Ziele Kabinettsordre ift längſt überholt 
durch die Verfaſſung, in den preußiſchen neuerworbenen Landesteilen übrigens 
auch nie eingeführt. Trotzdem beherrſcht mit Hilfe der Beſtimmungen von 1842, 
die Beſtätigung der Kriegervereine durch die Ortspolizei und Aufſicht des Landrats 


Wolframedorff-Gaars: Aphorismen 771 


fordern, die reaktionäre preußiſche Bureaukratie bei uns das ganze Krieger 


vereinsweſen, denn faſt niemand weiß, daß man auch auf Grund des Vereins- 
geſetzes außerhalb der Kabinettsordre behördlich unbeaufſichtigte Kriegervereine 
bilden kann. Das Oberverwaltungsgericht iſt in einer Entſcheidung der Polizei 
zu Hilfe gekommen und hat feine Anſicht dahin ausgeſprochen, daß die Rabinetts- 
ordre an und für ſich nicht ungültig ſei. In der Praxis wird ſie dazu benutzt, 
das Vereinsrecht und die Tatſache, daß man auch auf dem Boden des gemeinen 
Rechts militäriſche Vereine bilden kann, totzuſchweigen. 

Es iſt für die Regierung zu wichtig, ſo alte Ordres und Inſtruktionen zu haben, 
nicht um fie überall anzuwenden, aber um fie als drohendes Schreckgeſpenſt im Hinter- 
grund zu halten und event. oppoſitionell geſinnte Perſonen ſchikanieren zu können. 

Das gilt auch von der völlig veralteten Inſtruktion vom 25. Mai 1835 für die 
Stadtmagiſtrate der fünf öſtlichen Provinzen Preußens. Sn ihr ſteht, daß der 
Magiſtratsdirigent, alſo der Oberbürgermeiſter, perſönlich alle an den Magiſtrat 
gerichteten Schreiben zu öffnen hat. 

Ob das Herr Kirſchner in Berlin wohl befolgen kann? 

Die ganze Inſtruktion ijt überhaupt der kühnſte Eingriff in die Selbſtver⸗ 
waltung, der ſich denken läßt. 

Enthält fie doch Beſtimmungen darüber, was im Magiſtrat vorgetragen wer- 
den foll, in welcher Reihenfolge der Oberbürgermeiſter feine Arbeiten und Bor- 
träge erledigen foll, wie die Reinſchriften gemacht werden follen und wann Ron- 
zepte zurückbehalten werden müſſen. 

Ahnliche Anſchauungen über die Gelbftverwaltung und die Stellung der 
Regierung ihr gegenüber hat die in Kraft befindliche Verfügung des Staats- 
minifters von Rochow vom 7. Dezember 1841. Dort heißt es, in mancher Klein- 
ſtadt fei nicht ein einziges Individuum vorhanden, das zu einer beſoldeten Ma- 
giſtratsſtelle befähigt, oder im Falle der Befähigung ſie anzunehmen Willens ſei. 
Bei Wahlen gäbe in febr vielen Fällen nicht die Vorzüglichkeit der Kandidaten, fon- 
dern ſein verwandtſchaftliches, gewerbliches und ſonſtiges Verhältnis den Ausſchlag! 

Alle diefe Beiſpiele dafür, mit welchen Tendenzen und geſetzlichen VBeftim- 
mungen bei uns regiert wird, ließen fih wohl ins ungemeſſene vermehren. Biel- 
leicht kommt auch aus dem Leſerkreis neues Material. 


Dr 
Aphorismen 


Von 
Melanie von Wolframsdorff⸗Baars 


Ein hoher Sinn gehört dazu, um einen großen Menſchen zu begreifen, um ſich nicht 
die Freude an ſeiner Größe zu verkümmern durch das Verweilen bei ſeinen Schwächen. Mit 
welchem Rechte darf auch der Menſch vom Menſchen Vollkommenheit erwarten? 


* 
Unduldſamkeit gegen die Schwächen anderer ift meiſt Mangel an Erkenntnis feiner 


eigenen. 
* 


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ON: ls fih bei Bekanntwerden des Entwurfs der geplanten neuen Reihs-Berjiherungs- 

ordnung ein allgemeiner Sturm der Abwehr im ärztlichen Lager erhob, ſtand 
ein großer Teil des gebildeten Publikums dieſem Elementarereignis geradezu ver- 
ſtändnislos gegenüber. Durch Aufzeigung der Quellen mag die jetzige Unzufriedenheit eines 
ganzen großen Standes begreiflich werden. Zugrunde gelegt ift dabei das Referat von Dr. Win- 
telmann-Barmen auf dem 37. Arztetag in Lübeck, 25. und 26. Zuni 1909, auf welchem 333 
Arztevereine mit 22 484 ſtimmfähigen Mitgliedern vertreten waren. 

Solange es eine Reichsverſicherung gibt, find ärztlicherſeits Klagen vorgekommen, die 
um ſo nachdrüͤcklicher wurden, je mehr der Kreis der Verſicherten zunahm und die Verſicherungs⸗ 
träger ſich zu einer wirtſchaftlichen Großmacht entwickelten, die der Arzteſchaft ihre Bedingungen 
einfach diktieren konnte. Beträgt die Zahl der Verſicherten doch heute 12—13 Millionen! 
Dieſe Klagen verdichteten fih noch, nachdem Mitte und Ende der neunziger Fabre die Aus- 
beutung der Arzte durch die Verſicherungsträger, beſonders die Krankenkaſſen, ihre Höhe er- 
reicht hatte. War es doch beiſpielsweiſe nichts Seltenes, daß ärztliche Konſultationen mit 
ein paar Pfennigen entlohnt wurden! | 

Dieſe entwürdigenden Zuſtände zwangen zunächſt die Arzteſchaft zur inneren Eini- 
gung, zum feſten wirtſchaftlichen Zuſammenſchluß und führten endlich auf dem Königsberger 
Arztetage 1902 zu einer endgültigen Formulierung der ärztlichen Wünfche, die in Geſtalt einer 
Denkſchrift den geſetzgebenden Körpern des Reiches zuging. Da diefe Denkſchrift noch heute 
den Kern der ärztlichen Forderungen darſtellt, ſo ſeien ihre in Frage kommenden Hauptpunkte 
genannt. 

Die erften drei Sätze verlangen klipp und klar die organiſierte freie Arat- 
wahl: die Verſicherten ſollen nicht an beſtimmte Arzte gebunden, ſondern in der Lage fein, 
ſich ſelbſtändig den Arzt ihres größten Vertrauens auszuwählen. Satz 4 verlangt für die Zu- 
gehörigkeit zur Krankenverſicherung die 2000 Mark-Grenze: wer ein höheres Einkommen hat, 
iſt wohl imſtande, ſeinen Arzt ſelbſt zu bezahlen. 

Eine Hauptforderung war daneben, daß zur Beratung der Abänderungen des Kranken- 
verſicherungsgeſetzes ſelbſtgewählte Vertreter der Arzteſchaft beigezogen werden möchten. — 

Oer Erfolg dieſer ganzen Aktion war — gleich Null, und erſt als ein außerordentlicher 
Arztetag (7. März 1903) in Berlin ſich energiſch an die geſetzgebenden Körper des Reiches 
wandte, nahm der Reichstag (April 1903) mit erdrüdender Mehrheit eine Nefolution an, in 
der verlangt wurde, daß auch den Vertretungen des Arzteſtandes zur Geltendmachung ihrer 
Anſchauungen und Wüuͤnſche Gelegenheit gegeben würde, und daß die Regierung diefen in 


Arzte und Reiche Verſicherungsordnung 773 


einem kommenden Geſetze gerecht werde, ſoweit moglich. Insbeſondere ſollten paritätiſche 
Einigungksommiſſionen unter Vorſitz eines neutralen Obmannes eingeführt werden, denen 
die Regelung des ärztlichen Dienſtes und des Honorartarifs zu übertragen fei, mit der Maß- 
gabe, daß alle Arzte, welche fic) Meier Regelung unterſtellen, als Raffenärzte zu gelten haben. 

Wie wir ſehen, eine gerechte Würdigung der beiderſeitigen Intereſſen! — 

Indeſſen auch dieſe Reſolution — blieb vorläufig Reſolution. Man verſchob eine ge- 
ſetzliche Regelung des Verhältniſſes der Krankenkaſſen zu den Ärzten bis zu der geplanten 
großen Reform und „Vereinfachung“ der gefamten Arbeiterverſicherung. Und fo gingen 
die Kämpfe in geſteigerter Erbitterung viele Jahre weiter, bis — nun ja, bis zur Schaffung 
der neuen Reichs-Verſicherungsordnung, die uns heute vorliegt. Wie ſtellt ſich nun dieſes 
1793 Paragraphen umfaſſende Produkt bureaukratiſchen Fleißes zu den Wünſchen der Arzte 
von 1902 und der Reichstagsreſolution vom April 1903? 

Hier find die Grundzüge: 

Die Reichs-Verſicherungsordnung regelt, mit Ausnahme der den Knappſchaften an- 
gegliederten Verſicherungen, in einem Geſetz alle Arbeiterverſicherungen, nämlich die 
Kranken-, Unfall-, Invaliditäts-, Alters-, Witwen- und Waiſenverſicherung. Die vier letzte 
ren find in den Landes - Verſicherungsanſtalten zuſammengefaßt, während die 
Kranken verſicherung (Krankenkaſſen) und die Gewerbe- Anfallverſiche⸗ 
rung (Berufsgenoſſenſchaften) ſelbſtändige Verſicherungsträger find. Sie alle haben den- 
ſelben Inſtanzenweg über drei behördliche, von Verwaltungsbeamten geleitete Amter, von 
denen aber keines einen ſtändigen Platz für einen Arzt beſitzt. Dieſe Amter find 
das Verſicherungsamt, das Oberverſicherungsamt, das Reichs- Ver- 
ſicherungsamt. Das Reichs-Verſicherungsamt bleibt im weſentlichen unverändert, 
das Oberverſicherugnsamt entſpricht etwa dem bisherigen „Schiedsgericht für Arbeiterverſiche⸗ 
rung“. Das „Verſicherungsamt“ dagegen ift eine Neugründung. Es ſoll ſich im allgemei- 
nen an die Kreiſe und Kommunalverwaltungen angliedern, und Landrat oder Bürgermeifter 
follen demgemäß Vorſitzender fein, ſofern nicht die Landes-Zentralbehörde einen ſtändigen 
Beamten, den „Verſicherungs-Amtmann“ beſtellt, der übrigens die Befähigung zum Richter 
oder höheren Verwaltungsbeamten haben muß. 

Als immerhin dankenswerter Bujak fet hier erwähnt, daß „auch andere Perſonen be- 
ſtellt werden können, wenn fie durch Vorbildung und Erfahrung auf dem Gebiete der Reichs- 
Verſicherung geeignet ſind“. — 

Wie verhält es fih nun mit der Stellung der Arzte zu dieſen Amtern? — Um bei Strei- 
tigkeiten zwiſchen Krankenkaſſen und Arzten zu vermitteln und zu entſcheiden, wird bei jedem 
Verſicherungsamte ein „Schiedsausſchuß“ errichtet, der aus dem Vorſitzenden des 
Amtes, zwei Verſicherungsvertretern und zwei Ärzten beſteht. Dieſe Arzte follen von fämt- 
lichen vier Jahre und länger im Bezirk anſäſſigen und praktizierenden Arzten gewählt wer- 
den, — eine Beſtimmung, deren Sinn nicht ganz klar iſt. 

Berufungen gegen Entſcheidungen des Schiedsausſchuſſes gehen an die dem Ober- 
verſicherungsamt angegliederte „Schie ds kammer“. Dieſe ſetzt fih zuſammen aus einem 
„Direktor“, einem Mitgliede des Oberverſicherungsamtes, dem zuftändigen beamteten Arzte 
des Bezirks, zwei von der Arztekammer gewählten Arzten und zwei Verſicherungsvertretern. 
Afo auch hier haben die Beamten das Übergewicht: der ärztliche Cin- 
fluß ift 2: 5, der des Arbeitgebers 1: 6, der des Verſicherten desgleichen. Von einer „p ari- 
tätiſchen Einigungskommiſſion mit einem neutralen Obmann“ ift weder beim Schieds- 
ausſchuß noch bei der Schiedskammer die Rede. Der Beamte aber, der ſtets mehr oder weni- 
ger von der Meinung ſeiner Vorgeſetzten abhängig iſt, bietet nun einmal nicht die Gewähr 
für die Unparteilichkeit und Unanfechtbarkeit der gefällten Urteile, die hier unbedingt verlangt 
werden muß. — 


774 Arzte und Reiche · Verſicherungsorbnung 


Setzen wir nun den Fall, die einer ärztlichen Organiſation angehörigen Kaſſenärzte 
eines Ortes weigern ſich, den Spruch eines ſolchen Schiedsausſchuſſes anzuerkennen. Der 
Ausſchuß hat z. B. entſchieden, daß die von einer Kaſſe den Ärzten angebotenen Verhältniſſe 
und Bedingungen gut find und dem Geſetze entſprechen. Die Arzte vermögen das nicht einzu- 
ſehen und weigern ſich, unter dieſen ihnen von einer Übermacht diktierten Bedingungen zu 
arbeiten. Alsdann foll die Landesregierung das Recht erhalten, durch einen Spruch der Schieds- 
kammer die Arzte zur kaſſenärztlichen Tätigkeit anzuhalten. Mit anderen Worten: die 
Arzte ſollen „par ordre de Moufti“ gezwungen werden, Handlungen für 
Dritte zu leiſten, mit denen ſie gar nichts zu tun haben wollen. 
Man ſtellt fie alſo außerhalb des für jeden anderen Staatsbürger geltenden Rechts. Eine Auf- 
faſſung, die ſich mit einem modernen Rechtsſtaat ſchwerlich verträgt. 

Auch dem Geſetzgeber ſelbſt muß übrigens die Wirkſamkeit dieſer gegen die perſönliche 
Freiheit der Arzte vorgeſchlagenen Zwangsmaßregeln ſehr zweifelhaft geworden fein. Sonſt 
hatte er wohl 9 452 nicht eingefügt, der mit Aufhebung des Zwanges für die Kaſſen, für ärztliche 
Hilfe in natura zu ſorgen, eigentlich feine ganzen früheren Anordnungen über den Haufen wirft. 

Eine große, für die Arzte bedeutungsvolle Umwälzung im Sinne der Erweiterung 
ſteht auch bezüglich der Verſicherungsmitglieder bevor. Da die Krankenkaſſen neben den bis 
herigen Erwerbsitänden fortan noch die land- und forſtwirtſchaftlichen Perſonen, die Dienft- 
boten, die im Hauſe und im Wandergewerbe beſchäftigten Perſonen, ferner Lehrer, Erzieher 
und Bühnenangehörige umfaſſen follen, erweitert ſich die Ausdehnung der Krankenverſicherung 
auf etwa 20 Millionen Mitglieder der arbeitenden Klaſſen. Die fakultative Einbeziehung der 
Familien in die Verſicherung, die Gewährung des Beitrittsrechts an weitere Erwerbsſtände 
und Klaſſen können es ſogar dazu bringen, daß ſchließlich mehr als die Hälfte der Einwohner 
des Deutſchen Reiches einer Krankenkaſſe angehören. Kann doch der Bundesrat, ohne Be- 
mühung des Reichstags, von fih aus die Verſicherungspflicht generell oder für einzelne Be- 
zirke oder Berufsarten erweitern! 

Sm übrigen follen e in mal verſicherte Perſonen, ebenſo wie bis jetzt, ihre Verſicherung 
freiwillig foriſetzen können, auch wenn fie Einkommen haben wie hohe Staatsbeamte. Dieſe 
Leute nehmen alsdann durch ihre erhöhten Anſprüche an die Krankenpflege die muͤhſam zur 
ſozialen Wohlfahrt der Arbeiter geſammelten Mittel mehr in Anſpruch als die wirtſchaftlich 
Schwachen. Nebenbei ſchädigen fie auch die Arzte, indem fie trotz eigener materieller Leiſtunge 
fähigkeit auf die Kaſſe zurückgreifen. 

Alle die zahlloſen Millionen Verſicherter werden ja ſchon fo wie fo der weit lohnende 
ren freien Praxis der Arzte entzogen, bedeuten alfo einen empfindlichen Ausfall für den Arzte 
ſtand im ganzen. Trotzdem hat dieſer ſich bisher mit keiner Silbe dagegen aufgelehnt, weil er 
für die fogiale Fürforge der Verſicherungsidee vollauf das rechte Verſtändnis beſitzt. Aber was 
für die wirtſchaftlich Schwachen recht iſt, das iſt für die Starken unbillig und muß daneben zu 
einer dauernden Schädigung des Arzteſtandes führen. 

Daß auch von einer geſetzlichen Anerkennung und Fixierung der freien Arztwahl nicht 
die Rede iſt, verſteht ſich nach alledem eigentlich von ſelbſt. Es ſoll vielmehr dem Einzelfall 
überlaffen bleiben, ob die Kaſſe mit einzelnen oder allen Arzten ihres Bezirks oder mit beftimm- 
ten ärztlichen Organiſationen abſchließen will. 

So bleibt denn von den Königsberger Forderungen der Arzteſchaft, von der Reſolution 
des Reichstags kaum ein Fetzen übrig. Die Verſicherungsordnung, wie fie heute vorliegt, ift 
nicht nur ein Schlag gegen die Selbſtverwaltung, indem ſie an Stelle der 
freien Entſchließung der an der Verſicherung am meiſten beteiligten Kreiſe überall als ent 
ſcheidende Inſtanz die B u r eau t! rat ie ſetzt, ſondern fie iſt auch ein ſchweres Mißtrauen; 
votum gegen den Arzteſtand, den fie, der Hauptſache nach, zum gefügigen Week 
zeug übergeordneter amtlicher Inſtanzen herabzuwüͤrdigen fucht. 


Heldenſtiftungen 775 


Ein Teil des ärztlichen Standes ift ja den heute bei uns regierenden Kreiſen an fid 
ſchon wegen ſeiner beruflich begründeten Neigung zur Demokratie, wegen ſeines durch die 
Praxis erworbenen Verſtändniſſes für die Bedürfniſſe auch des mächtig aufſtrebenden vierten 
Standes ein Dorn im Auge. Einen ſolchen Stand aber „hört“ „man“ nicht oder läßt ihn bei 
Abfaſſung neuer Geſetze etwa gar Einfluß gewinnen. Nur fo läßt fih die ärztefeindliche Ten- 
denz des neuen Entwurfes erklären, in dem der Kundige den Einfluß großinduſtrieller Inter- 
eſſenten deutlich zwiſchen den Zeilen lieſt. 

Der organifierte freie Arzteſtand wird fih nun im eigenen wie im Intereſſe der Ber- 
ſicherten feiner Haut zu wehren ſuchen und hofft dabei auf die Sympathien und die verftändnis- 
volle Mitwirkung aller ſozial empfindenden Kreiſe unſeres Volkes. 


By 
Heldenſtiftungen 


er K er nordamerikaniſche Milliardär Andrew Carnegie aus Schottland ſcheint nicht recht 
zu wiſſen, was er mit feinem vielen Gelde machen foll. Nach der Verſicherung nord- 
amerikaniſcher Blätter hat er von feinem Vermögen im Betrage von 800 Millionen 
Mark bereits 684 Millionen Mark für Stiftungen, meift zugunſten von Bibliotheken und Uni- 
verjitäten hergegeben. Nach feiner eigenen Angabe hat er bisher 1800 Bibliotheken geſtiftet, 
davon in der Union 1167, in England 388, in Schottland 191 und in Kanada 23. Seine Aus- 
gaben dafür berechnet er auf 218 Millionen Mark. Ohne Zweifel hat er ſich dadurch um den 
Buchhandel greifbare Verdienſte erworben. Seit einigen Jahren errichtet Carnegie fog. Helden- 
ſtiftungen, eine für die Union mit 20 Millionen Mark, eine für Großbritannien mit 5 Millio- 
nen Mark und eine für Frankreich mit 4 Millionen Mark. Wie er in einem Stiftungsbriefe dazu 
ſagt, lebt die Menſchheit in einem heroiſchen Zeitalter. Nicht felten werde man erfchüttert von 
Heldentaten, wobei Männer und Frauen verletzt worden ſeien oder ihr Leben verloren haben, 
als fie das Leben ihrer Nächften zu retten verſuchten. Solche Helden mit ihren Angehörigen 
möchte Carnegie von Geldſorgen befreien und durch ſeine Stiftungen unterſtützt ſehen. Das 
ift an ſich ein ſchöner und edler Gedanke. Allerſeits wird man dieſen Helden und ihren An- 
gehörigen die größte Bewunderung zollen und jedwede Unterſtützung gönnen. Allein in der 
Begründung ſeiner Stiftung zeigt Carnegie eine ſchiefe Auffaſſung. Denn er erblickt in dieſen 
Helden die eigentlichen Helden der Ziviliſation und ſpricht zugleich von den falſchen Helden 
des Barbarenzeitalters, die ſich gegenſeitig verſtümmelten oder töteten. Carnegie iſt ein 
Weltfriedensfreund und verabſcheut alle Kriege, ſelbſtverſtändlich mit Ausnahme derjenigen, 
die von der nordamerikaniſchen Union geführt werden. Aus den Stiftungen Carnegies 
für Selden des Friedens find bereits Belohnungen ausgezahlt worden, fo u. a. an die 
Familie eines ſchottiſchen Arbeiters, der bei der Rettung eines Kameraden fein Leben ein- 
büßte. Andere Retter erhielten Medaillen. Indeſſen werden diefe Heldenſtiftungen nicht ent- 
fernt ausreichen, um alle bürgerlichen Helden zu belohnen, und noch weniger, um ſie oder ihre 
Hinterbliebenen von Geldſorgen zu befreien. Denn die Zahl dieſer Helden ift größer, als Carme- 
gie zu glauben ſcheint. Außerdem überſchätzt er das Geld, wenn er meint, Helden durch feine 
Geldſtiftungen ſozuſagen zu züchten. Helden werden entweder geboren oder durch Lehre und 
Vorbild erzogen. Hauptſächlich treten fie da auf, wo es fic) um die Verteidigung der höchſten 
Güter des Lebens, um Ehre und Familie, um Vaterland und Chriſtentum handelt. Am un- 
mittelbarften und zugleich am maſſenhafteſten, wenn der Ausdruck geſtattet iſt, zeigt ſich das 
Heldentum im Kriege (? O. T.). Die Zahl derer, die Heldentaten bei dem Aufſtand in 
Deutſch-Oſtafrika, bei der Erſtürmung von Port Arthur, in dem Burenkriege und bei ſonſtigen 


Dr. Georg Lomer 


776 Sa, der Berliner 


kriegeriſchen Ereigniſſen begingen, iſt unüberfehbar. Carnegie denkt freilich nur an Zivilhelden. 
Aber wo das Heer das Volk in Waffen ift, läßt ſich ein Unterſchied zwiſchen Zivil- und Militär- 
helden nicht machen. Im übrigen darf ſich Herr Carnegie nicht einbilden, daß er mit ſeinen 
Stiftungen zu Heldentaten anfeuert. Durch die Ausſicht auf Geld werden Heldentaten nicht 
hervorgerufen und mit Geld laſſen ſie ſich nicht belohnen. Paul Dehn 


SQ 
Sa, der Berliner! 


N ON as ein Berliner fic ſelbſt bietet, ſchreibt überwältigt nach der „Frankf. Zig.“ 
der bekannte däniſche Dichter Hermann Bang an ein däniſches Blatt, das kann 


€ ein Menſch, der aus kleineren Verhältniſſen ſtammt, wo das Leben immer eine 
gewiſſe Bequemlichkeit bietet, ſchwer faſſen. Des Morgens vor 9 Uhr rollt er ſchon ſeinem Bureau 
zu. Sit er Arzt, hat er bereits 149 Uhr Konſultationsſtunde. Iſt er Anwalt, fängt feine Arbeit 
um dieſelbe Zeit an. Iſt er Fabrikbeſitzer, muß er meiſtens ſchon um 8 Uhr in feinem Betriebe 
anweſend fein. Er arbeitet ununterbrochen, unter Hochdruck, zehn Stunden. Er empfängt, 
disponiert, beſucht die Börſe. In ſeinem Auto, das die Straßen durchbrauſt, lieſt er Zeitungen 
oder Broſchüren. Sind, etwa um 6 Uhr, feine Geſchäfte beendet, erwarten ihn feine Privat- 
korreſpondenz und einige Beſuche. Er zeigt ſich beim Fünf-Uhr⸗Tee der „gnädigen Frau“, 
ſeiner eigenen oder einer anderen. Er konverſiert, ſoll über alles Beſcheid wiſſen und ſich fir 
alles intereſſieren. 

Am 8 Ahr erwartet ihn ein Diner. Bei dieſen Diners ſitzt man zwei Stunden zu Tifche, 
durchläuft einen unendlichen Speiſezettel, trinkt ſieben verſchiedene Weine. Nach dem Diner 
folgt für die Jugend ein Ball, die Älteren ſpielen Karten. Und in dieſer modernen Gefellfchaft 
bekommt man niemals genug; man tanzt bis 3 Uhr und bricht vom Kartentiſch auf um 2 Uhr 
— oder um 4, Es gibt in der Berliner Geſellſchaft Leute, die drei, vier Monate lang buchſtäb⸗ 
lich nie vor 4 Uhr nachts ihr Bett ſehen, — die eine Nacht nach der anderen, die eine Woche 
nach der anderen. Und am nächſten Tage wird wieder feſte gearbeitet, ohne Unterbrechung, — 
von 8 Uhr an; aber ſchon um 7 Uhr muß man aufſtehen, um ſich ſorgfältig anzuziehen, ſich zu 
ſoignieren, in „vigueur“ zu kommen ..., um ſodann Geld zu verdienen, mit klarem Kopfe, 
ſo viel wie möglich, ſo raſch, raſch wie nur möglich 

Dieſes Dafein wird nur möglich durch Bäder, immer wieder Bäder, und Sport. 
Es gibt kein Volk auf der kleinen Erde, das in den letzten Jahren ſo viele Duſchen nimmt und 
jo viel badet wie die Berliner. Man ſieht dies am beten in den neueſten Häufern. Wohnungen 
von einem Zimmer baut man hier mit Badezimmer. Das erſte, wonach ein Berliner fragt, 
ift das Badezimmer. „In meinem Badezimmer“, fo ſagt mir ein junger Geſchäftsmann,, hole 
ich mir mein Geld.“ „Auf dem Tennisplatze runde ich meine Einnahmen ab.“ 

.. . Bäder und Sport. Es ift nod hundekalt. Aber in allen Straßen des Weſtens 
begegnet man jungen und älteren Herrſchaften, die in weißen Anzügen den Tennisplätzen gu 
eilen. Alle Reithallen find von Reitern überfüllt. Junge und Alte turnen draußen und zu 
Haufe. Es gilt, ſich zu kräftigen, fih für die ganze Bataille zu kräftigen ... Die Kraft, welche 
Berlin entfaltet, kann nur derjenige, welcher hier lebt, bewundernd meſſen. Berlins Luſt und 
Freude am Leben ſteht im Verhältniſſe zur Kraft. Die ganze Kraftentfaltung zehrt aber. Die 
Männer dieſer Generation werden nicht alt. Sie werden aufgebraucht. Trotz aller kohlen; 
ſauren Bäder .. Die Männer hier fallen wie Soldaten in der Schützenlinie, die von Gefdhof- 
jen getroffen werden. Wie beiſpielsweiſe jetzt Knauer. Er fing mit nichts an. Er ſchwang ſich 
empor. Kaufte Bauplätze und verkaufte fie. Wurde Baumeiſter. Baute in drei Jahren einen 


Die Marfelllaife und ihr Oidter — Rulturturtofa 777 


neuen Stadtteil, ein neues Warenhaus (Kaufhaus des Weſtens), ein Rieſentheater (Neues 
Schauſpielhaus), ein Muſterhotel (Eſplanade) ... und Hütte, Von einem Herzſchlag getrof- 
fen. Als er fiel, war er 38 Jahre alt. Ich fragte einen gemeinſchaftlichen Bekannten, ob Knauer 
Vermögen hinterlaſſe. Der Berliner antwortete: „Ich glaube nicht; er hinterläßt fein Werk!“ 


& 
Die Marfeillaife und ihr Dichter 


Yan Q ie Marfeillaife hat ihrem Dichter nicht übermäßig viel Glück gebracht. Man weiß, 

ſchreibt der „Vorwärts“, daß fie im Jahr 1792 von Rouget de Lisle, der damals 
!Zngenieuroffizier in Straßburg war, gedichtet worden ift. Der junge Offizier ver- 
tebrte i im Haufe des Bürgermeifters, der ein Freund von Gedichten war, und eines Tages den 
poetiſch veranlagten Freund feines Hauſes aufforderte, ein patriotiſches Lied zu ſchreiben. 
Am folgenden Abend ſchon las der Offizier fein Gedicht vor und fang es dann am Kavier zu 
einer Melodie, die gleichfalls ſein geiſtiges Eigentum war. Das Gedicht wurde von einem 
Lokalblättchen gedruckt und erregte durchaus kein Aufſehen. Ein Kaufmann aus Marfeille, 
der gerade in Straßburg weilte, kaufte die Zeitung und deklamierte dann bei einem Feſtmahl, 
das in ſeiner Vaterſtadt ſtattfand, die forſchen Verſe, die bald darauf der Kriegsgeſang einer 
Schar von 500 nach Paris marſchierenden Marſeiller Revolutionären wurden. Das Lied en- 
thuſiasmierte bald faſt das ganze Volk. Rouget de Lisle aber mußte fliehen, weil er fih geweigert 
hatte, der Republik den Eid der Treue zu ſchwören. Er kannte nicht einmal den Namen, der 
ſeiner Hymne gegeben worden war, und erfuhr ihn erſt auf der Flucht aus dem Munde eines 
Bergbewohners. Später — fo ſchreibt ein Mitarbeiter der „Annales“ — wurde Rouget ins 
Gefängnis geworfen. Er ſtarb arm und vergeſſen und wurde in ſeinen alten Tagen wegen 


Schulden eingeſperrt. 


Kulturkurioſa 


Licht alle Errungenſchaften unſerer heutigen Technik und Mode find neueſten Ur- 
9 fprungs. Tunnels, Blitzableiter, elektriſche Wirkungen, Quellenfinder, ja — Mon- 
ON okels und Bartbinden waren, wie die „Frankf. Ztg.“ im Anſchluß an das neuerfdie- 
nene Werk des Hiſtorikers Max Kemmerich (München, Albert Langen) plaudert, ſchon zu frühe- 
ften Zeiten bekannt. Die römiſchen Aquãdukte wurden vorbildlich, eine beſoldete Claque exi- 
ftierte ebenfalls im alten Rom, und vom Scheck- und Giroweſen, von Hypothekenordnungen 
wußte man bereits im grauen Altertum. Eine Erbſchaftsſteuer von 5 % war die ein- 
zige Abgabe, die der in Italien wohnhafte Bürger nach Rom zu entrichten hatte. Bloß das 
Eigentum der nächſten Blutsverwandten entzog fic jener Zollpflicht. Manche Einrichtungen 
aus jenen und ſpäteren Zeiten haben wir freilich überwunden. So z. B. die barbariſchen Ge- 
bräuche der Zerſtückelung von Leichen, die im Mittelalter bei Fürſtlichkeiten und hohen Per- 
ſonen an der Tagesordnung waren. Die Eingeweide Raifer Heinrichs IV. wurden beifpiels- 
weiſe in Lüttich, feine Leiche aber in Speier beigeſetzt, die Eingeweide feines Sohnes Heinrich V. 
in Utrecht, er ſelbſt aber in Speier begraben. Richard Löwenherz verordnete gar, daß fein Leich- 
nam in Fonteyrauld, fein Herz in Rouen, feine Eingeweide, Blut und Hirn aber bei Chaluz 
beſtattet werden ſollten. Im Weistum von Wilzhut, zwiſchen Braunau und Salzburg ward 
beſtimmt, daß, im Falle ein Bauer um Geld geftraft werde, ohne es zahlen zu können, feine 
Frau geſchändet werden folle. Noch im Jahre 1711 wurden preußiſchen Oeferteuren die Nafe 


778 Rulturturtofa 


und ein Ohr abgefchnitten, fie wurden an die Karre geſchmiedet und mußten lebenslänglich 
auf Feſtung arbeiten. Im bayriſchen Geſetzbuch von 1751 iſt die Tortur noch aufrechterhalten, 
deren völlige Aufhebung erſt 1806, in Hannover gar erſt 1840 erfolgte. Oer letzte Scheiterhaufen 
brannte in Oeutſchland am 15. Auguft 1786. Erft mit dem Code Napoléon wurde die feudal- 
klerikale Periode des Mittelalters und der Barbarei begraben. 

Die Toleranzbeſtrebungen gegenũber den Mitgliedern anderer Religionsgemeinſchaften 
find allerneueſten Datums. Noch im Jahre 1800 erklärte ein Doktor der Medizin, der in Frank- 
furt ein öffentliches Badehaus beſaß, daß kein Jude in ein Chriſtenbad eingelaſſen werde, 
und daß auch das Weißzeug für beide Parteien beſonders gezeichnet ſei. Erſt 1806 wurde dort 
den Zuden die Benutzung der öffentlichen Promenaden geſtattet, im Jahre 1807 war ihnen 
noch das Betreten der Kaffeehäuſer verboten. Das Recht, mehr als ein Haus und einen 
Garten beſitzen zu dürfen, wurde den iſraelitiſchen Bürgern erft 1832 gewährt, völlige Gleich 
berechtigung erlangten ſie erſt 1864. Auch die Katholiken und Reformierten genoſſen bloß 
beſchränkter Freiheit in der ſchönen Mainſtadt. Ein katholiſcher Mitbürger wurde weder in 
den Rat aufgenommen, noch konnte er in mancher Innung das Meiſterrecht erwerben. Re 
formierte waren beinahe von allen Zünften ausgeſchloſſen, ebenſo von allen ſtädtiſchen Amtern. 
Der im Jahre 1796 zugelaſſene Dr. med. Lejeune aus Verviers war der erſte katholiſche Arzt 
von Frankfurt. Das Konſiſtorium zu Speier hat noch am 29. September 1855 einen Chriſten, 
der eine Züdin heiraten wollte, aus der chriſtlichen Gemeinde förmlich exkommuniziert, und 
im Jahre 1907 wurde ein Prediger, der es gewagt hatte, einen Oiſſidenten auf dem proteftanti- 
ſchen Friedhof in Hohenſolms bei Wetzlar zu beſtatten, mit einer Geldſtrafe belegt. 

Sehr eigenartig muten uns auch die Gepflogenheiten an, die Kemmerich in den Rapi- 
teln über Ehe, Sittlichkeit und Schicklichkeit zum beiten gibt. Die freimütigen 
Anſchauungen Luthers über die Monogamie ſind bekannt, das jus primae nootis finden wir 
noch in „Figaros Hochzeit“. Daß die im Ehebruch ertappte Frau oder ihr Liebhaber getötet 
wird, war in vielen Staaten geſetzlich zuläſſig. Um die furchtbaren Menſchenverluſte im Oreifig- 
jährigen Kriege beſſer ausgleichen zu können, wurde vom fränkiſchen Kreistag in Nürnberg 
1650 der Beſchluß gefaßt, daß „jeden Mannßperſonen 2 Weiber zu heyrathen“ erlaubt ſein ſoll. 

Die Sittenſchilderungen des mittelalterlichen Klerus und der Nonnenklöſter ſpotten 
jeder Beſchreibung. Noch im 16. Jahrhundert ſpielten die Frauenklöſter häufig die Rolle von 
Bordellen. Auf der großen Kirchenverſammlung zu Konſtanz in den Jahren 1414 und 1418 
waren etwa 1500 Dirnen anweſend. Wie wenig zimperlich man in natürlichen Dingen noch 
im Zeitalter Ludwigs XIV. war, aber auch wie unverwöhnt in Dingen des beſcheidenſten 
Komforts, erhellt aus den drolligen Briefſtellen der wackeren Liſelotte. 

Leute, die ſich eines gottgefälligen Lebenswandels befleißigten, badeten im Mittel- 
alter nicht. Defto reinlicher waren die weltlich Geſinnten. Das Waſchen beſchränkte fih aller- 
dings bloß auf Geſicht und Hände, aber Bäder, und zwar gemeinſchaftliche fuͤr Mann und Weib, 
exiſtierten zu allen Zeiten. Ein großer Teil des Tages wurde im Waſſer zugebracht, wo man 
einander traf, plauderte, ſich erluſtierte. In Hall in Tirol war es im 17. Jahrhundert Brauch, 
halb; oder ganz nackte Mädchen von zehn bis achtzehn Jahren über die Straße ins Bad zu ſchicken 
und ſie von nackten Burſchen von zehn bis ſechzehn Jahren begleiten zu laſſen. Als im Jahre 
1666 eine Reinigung der Straßen von Paris vorgenommen wurde, war das ein fo großes Er- 
eignis, daß es von Pichtern beſungen wurde, ja daß Medaillen zu dauerndem Gedächtnis diefe 
Sache verkünden. 

Die Kurioſa, die der Verfaſſer über Hygiene noch aus der Zeit Voltaires mitteilt, 
die Beſchreibungen der Zuſtände in Pariſer Krankenhäuſern, die Details von dem verpeſteten 
Friedhof des innocents find wert, bekannt zu werden. Auch die Abſchnitte „Reliquien“, „Mif- 
ſion“ und „Kolonien“ ſind außerordentlich intereſſant. Wenn wir uns vergegenwärtigen, daß 
im Sabre 1751 im bayeriſchen Geſetzbuch noch von einer fleiſchlichen Vermiſchung mit dem Leu- 


Tolſtol — ein Heuchler ? 779 


fel die Rede ift, daß die Begriffe Hexerei, Ketzerei und Zauberei im bayeriſchen Strafgefes- 
buch erſt ſeit 1815 fehlen, daß in Mexiko noch 1860 und 1874, in Peru im Jahre 1888 Hexen 
lebendig verbrannt wurden, wiſſen wir, wieviel Kulturarbeit noch zu leiſten iſt. Wir haben den 
Leo Taxil· Schwindel aus der Nachbarſchaft geſehen und find fo unheimlich aufgeklärt? Aber 
freie Geiſter, die nicht Tatſachen an Theorien, ſondern Theorien an Tatſachen meſſen, waren 
Einſame bis auf den heutigen Tag. Und unſere Autoritäten? Ach, wer wäre autoritativ genug, 
dauernd eine Sache zu führen? Stünden wir in den Niſchen der Göttlichen — —! 


Sëch 
Tolſtoi — ein Heuchler? 


ber die Maßen peinlich wirkt, was die deutſche „St. Petersburger Zeitung“, ein 
E Blatt von altbewährtem Rufe, aus dem Haufe Tolſtoi berichtet. Durch die ruf- 
iiſche Preſſe fei eine Nachricht gegangen, die zu dem Charakterbilde Leo Tolſtois 
einen neuen Strich füge. Die Stadtverwaltung von Petersburg hatte die löbliche Abſicht, 
für die Schüler der ſtädtiſchen Schulen ein Kompendium der hervorragendſten Werke des 
„großen Dichters der ruſſiſchen Erde“ herauszugeben; ein Beginnen, das um ſo löblicher iſt, 
als es von der vielberufenen Petersburger Stadtverwaltung ausgeht. Wenngleich der Zweck 
der beabſichtigten Edition ein folder ift, der den von Tolſtoi verkündeten Grundſätzen durch- 
aus entſpricht, ſo wehrte ſich doch die Gräfin Sofia Andrejewna Tolſtaja ge- 
borene Bers gegen die Abſicht der Stadtverwaltung, indem fie ausführte, daß die Ver- 
anſtaltung folder Editionen den Erlös aus dem Verkauf der Werte ihres 
Gatten ſchmälere. Nach dieſen rein geſchäftlichen Ausführungen bemerkt die Gräfin 
wörtlich: „Was ſpeziell die Verteilung der Werke Tolſtois an die Petersburger Schüler betrifft, 
fo ift das Lew Nikolajewitſch vollſtändig gleichgültig, da feine Sympathien den 
bäuerlichen und nicht den ſtädtiſchen Kindern gehören.“ Mit dieſer letzten Bemerkung ſtellt 
die Gräfin ihrem Gatten ein Zeugnis aus, das keineswegs ſchmeichelhaft ift, da es ihn in der 
Rolle eines ſehr einſeitigen Menſchen erſcheinen läßt. Nach dem Beſcheid der Gräfin wandte ſich 
das Stadtamt von Petersburg unmittelbar an den Grafen Tolſtoi, mit dem Erbieten, ein zu 
beſtimmendes Honorar zu erlegen. Auf dieſen Brief an den Grafen erfolgte wiederum eine 
abſchlägige Antwort von der Gräfin, in der fie nochmals betont, daß die Veranſtal- 
tung einer Schülerausgabe die Intereſſen ihrer Familie verletze. 

Gegen dieſen Standpunkt ließe ſich an und für ſich nicht ſtreiten, denn jeder Arbeiter, 
insbeſondere aber der Schriftſteller, ift feines Lohnes wert. Nun ift aber zu beachten, daß Sol- 
ſtoi ſeinerzeit ſeine Werke der Nation zur Verfügung geftellt hat; freilich hat er 
fpäter fein geſamtes Vermögen an feine Familie übertragen, und er ift de jure beſitzlos. Es er- 
gibt fih nun das nachſtehende Bild: Graf Tolſtoi paraphraſiert die Lehren Gautama Buddhas; 
er predigt die größte, an Selbſtvernichtung grenzende Selbſtloſigkeit; er geht barfuß umher 
und hüllt fih in bäueriſche Gewänder. Die Welt beſtaunt dieſen großen alten Mann, den Philo- 
ſophen von Jasnaja Poljana, und die Zahl feiner Anhänger ift Legion. Währenddeſſen ent- 
wickelt die Gräfin Sofia Andrejewna ihren regen Geſchäftsſinn. Sie vertreibt mit Hilfe des 
Herrn Tſchertkow die der Nation zur Verfügung geſtellten Werke ihres Gatten. Man weiß, 
daß die Bauern von Jasnaja Poljana für die Gutsländereien die hö ch ften Pachten 
zahlen, daß ſie von der Gräfin in jeder Weiſe geſchröpft werden, und daß dieſe Bauern zu den 
ärmſten und unwiſſendſten des Gouvernements gehören. Die Menſchenliebe des 
Grafen Tolſtoi, die über den ganzen Erdball wärmend ſtrahlt, erreicht [eine Bauern nicht, — 
ſie bleiben in Dunkel und Armut. Wenn man ſich in dieſe in keiner Weiſe zu vereinbarenden 


Ze 


780 Eine Seelenſcmlede 


Gegenſätze hineindentt, dann gelangt man zu der Überzeugung, daß der große Sittenlehrer 
der ruſſiſchen Erde gleichzeitig auch ein großer Heuchler ift. Über feine Barfüßelel und anderen 
Mummenſchanz kann man als über eine der kleinen Eitelkeiten großer Männer lächeln, — die 
ſorgfältige Umgehung der eigenen Lehren in Fällen, bei denen es ſich um eigene materielle 
Intereſſen einerſeits und humanitäre Zwecke andererſeits handelt, iſt jedoch nicht zum Lachen. 
Derartige Dinge werfen einen tiefen Schatten auf die Geſtalt des greifen Grafen. Es iſt nicht 
anzunehmen, daß Graf Tolſtoi nicht weiß, was in ſeinem Namen getan wird, er muß es wiſſen, 
und da ift es denn um fo ſchlimmer, daß — fo bemerkt dazu die „Petersburger Zeitung“ — er 
ſich von ſeiner Gattin decken läßt. 

Man kann nur dringend wünfchen und poffen, daß es bei dieſen Mitteilungen nicht fein 
Bewenden habe, daß der greiſe Oichter ſich ſelbſt und bald in einer Weiſe zum Wort melde, 
die von dieſen Anklagen nichts übrig läßt als etwa die Erinnerung an einen häßlichen Traum. 


& 
Eine Seelenſchmiede 


N aß ausgerechnet die „Seelen“ der Fuͤrſorgezöglinge in der kürzlich fo rũhmlich bekannt 
A gewordenen Anſtalt Mielczyn „geſchmiedet“ wurden, indem man fie dort den bru- 
J talften, jedes Maß von Vernunft und Menſchlichkeit überſchreitenden Mißhandlungen, 
Ce SEN unterwarf, werden wohl ſelbſt die naivſten Anhänger jener „Erziehungsmethode“ 
nicht behaupten wollen. Man kann fih von jeder falſch angebrachten Sentimentalität völlig 
frei fühlen, man kann einzelne Objekte jener „Fürſorge“ für nod fo abgebrühte, ge meingefähr⸗ 
liche Burſchen halten und wird doch das dort angewandte Verfahren ſchon um ſeiner abſoluten 
Zweckwidrigkeit willen auf das ſchärfſte verurteilen müſſen. Es gibt Fürſorgeanſtalten, 
die nicht mit ſolchen abſcheulichen Mitteln — bis zu hundert Peitſchenhiebe oft um lader- 
licher Lappalien willen! — arbeiten und eben darum Erfolge erzielen. Eine ſolche Anſtalt 
ſchildert Dr. Kurt Abel-⸗ Musgrave in feiner kürzlich erſchienenen Schrift „Die Seelenſchmiede 
von Redhill” (Frankfurt a. M., Neuer Frankfurter Verlag). Der Verfaſſer berichtet: 

wad ſtehe feit Jahren mit der ,Philanthropic Society’s Farm School‘ in Verbindung. 
Die verſchiedenſten Gelegenheiten gaben mir zu längeren Beſuchen Veranlaſſung, von denen 
einer eine volle Woche andauerte. Ich habe mit den Knaben gearbeitet und geſpielt; habe ſie 
im Felde, in der Schule, beim Exerzieren und Turnen, beim Gottesdienfte und in den Frei- 
ſtunden kennen gelernt, ohne daß mir irgendwelche Beſchränkungen des Verkehrs auferlegt 
waren. In Redhill find nirgends verſchloſſene Türen, nirgends Gitter, nirgends Geheimniſſe, 
ſondern überall nur der eine Wunſch, freie, vertrauens würdige Menſchen heranzuziehen. Und 
ſo wurde auch mir das Vertrauen entgegengebracht, das dort als erſtes Geſetz alle Beziehungen 
des Lebens beherrſcht.“ 

Oer Verfaſſer — wir folgen hier einem Auszug der „Berl. Volksztg.“ — hatte mit Er- 
laubnis der Anſtaltsleitung die Knaben veranlaßt, fic ſchriftlich über ihr Leben und ihren Auf 
enthalt in Redhill ehrlich und ungeſchminkt zu äußern. Die von ihm veröffentlichten ſechzehn 
Aufſätze find hochintereſſante Dokumente zur Geſchichte des Erziehungsweſens. Und nicht nur 
in den wiedergegebenen Proben, ſondern auch in jedem einzelnen der übrigen Aufſätze kommt, 
wie Herr Dr. Abel hervorhebt, die Tatſache zur Geltung, daß die Verfaſſer ihren Aufenthalt 
in Redhill als eine Wohltat betrachten. 

„Die meiften der Schüler,“ ſagt der Verfaſſer, „deren Auffäge ich mitgeteilt habe, find 
bereits jahrelang Zöglinge der Anſtalt. Während dieſer Zeit hat man ihre vernachläſſigte, 
gequälte, mißhandelte Kinderſeele zur höchſten Außerung erzogen, die der Gottesfunke in uns 


Eine Seelenfchmiebe 781 


hervorbringen kann: zur Liebe. Sie lieben ihre Schule und Lehrer und ſomit die Gegen- 
wart. Sie lieben ihre Ausſichten, bereiten ſich für eine ehrliche Laufbahn vor und lieben ſomit 
die hoffnungsvolle Zukunft. Und aus der jämmerlichen Vergangenheit haben fie gelernt, das 
einzige herauszuheben, was jedem Kinde den natürlichen Stützpunkt gewährt: das Eltern 
paar. Es ift rührend zu ſehen, wie diefe Unglidliden, deren Eltern fo oft gewiſſenloſe Geſchöpfe 
ſind, Säufer und Tagediebe, immer noch das Bedürfnis haben, Vater und Mutter zu ehren. 
„ch ſelbſt bin unwürdig, aber Vater und Mutter find anſtändige Leute, die für mich nach Kräf⸗ 
ten ihr Beſtes getan haben. Und darum liebe ich ſie und werde ihnen ihre Sorgen in Zukunft 
vergelten.‘ 

Alſo die Liebe iſt es, die in Redhill die Seelen ſchmiedet. Und nun wollen wir, heißt 
es in dem Buche, ihre Methoden näher betrachten. 

Man verſetze ſich in die Lage eines Knaben, der infolge eines richterlichen Spruches 
der Anſtalt durch die Polizei zugeführt wird. Faſt immer hat der Zunge ein Leben voll Elend 
hinter ſich — Hunger, Entbehrungen aller Art, ſchwere und häufige Strafen, Entehrung vor 
den Eltern, Spielgenoſſen und Verwandten — alle dieſe Stufen auf der Leiter zu körperlicher 
und ſeeliſcher Verkommenheit ift er herabgeſchritten. Und jetzt klingt der Urteilsſpruch noch in 
ſeinen Ohren nach. Die Mutter hat geweint, der Vater hat vielleicht mit Mühe die Tränen 
verhalten oder geflucht, und die Nachbarn haben hämiſch geſagt: ‚Dir ift recht geſchehen.“ Der 
Abſchied im Gerichtsſaale war kurz; dann kam ein ſtämmiger Poliziſt, nahm den Knaben zum 
Bahnhof, und fort ging es, aus dem ſchwarzen Häuſergewühl heraus. Wohin? Giele Frage 
durchzittert die Seele des Kindes. Fort von der Mutter, fort von allen Freunden und Ge- 
ſchwiſtern, fort von allen lieben, laſterhaften Gewohnheiten — wohin? Und nun erinnert ſich 
der Knabe all der Schrecken, die feit langer Zeit das Wort „Beſſerungsanſtalt“ für ihn bedeutet 
hat: Gitter und Zellen, ſchwere Arbeit von früh bis ſpät, Schläge, bis das Blut ſpritzt .. das 
iſt das Bild, das jetzt wie ein Geſpenſt vor ihm aufſteigt. 

Und nun ſind ſie am Ziele. Eine reizende Gegend mit lieblichen Hügeln und Tälern 
dehnt ſich vor ihnen. Schmucke Landhäufer ſtehen inmitten grüner Rafenplage und bebauter 
Acker. Nirgends Mauern. Nirgends Gitter. Nirgends Gefangene oder Gefängnisaufſeher. 
Aberall Schönheit und Friede der Natur. Ein weißbärtiger Mann empfängt den Knaben, 
und der Poliziſt geht fort. Das Kind iſt mit dem weißbärtigen Manne allein. Fenſter und Türen 
find offen. Ein Sprung, und er könnte fliehen. Der Alte würde ihn ſicher nicht einholen tön- 
nen. Aber der Alte lacht fo freundlich. „Gewiß!“ ſagt er, , du kannſt ausrücken, wenn du willſt. 
Aber das wäre ſehr, ſehr dumm von dir.“ Und nach ein paar Minuten find alle Gedanken an 
Flucht verſchwunden. „Was du getan haſt, iſt vergeben und vergeſſen“, hat der alte Mann ge- 
ſagt. ‚Du kommſt nicht hierher, um beſtraft, ſondern um zu einem glücklichen Menſchen erzogen 
zu werden. Wir ſtellen nur ein e Forderung an dich: daß du dich bemühſt, deine Vergangen⸗ 
heit zu vergeſſen, und nur daran denkſt, deine Zukunft glücklich zu geſtalten.“ 

Und nun beginnt eine Erziehung der Liebe und des Vertrauens vom erſten Augenblicke 
an. Der Knabe wird einem der fünf Häuſer zuerteilt, in denen die Gemeinſchaft von je ſechzig 
Zöglingen unter der Leitung des Lehrers und ſeiner Frau eine große, in vielen Beziehungen 
unabhängige Familie bildet. Sie erhalten ihren Schulunterricht getrennt von den übrigen 
Häufern, ebenſo bilden fie bei ihren Spielen und gymnaſtiſchen Übungen eine geſchloſſene 
Gemeinſchaft. Aber dennoch ſtehen dieſe Familien in geſundem gegenſeitigen Wettbewerbe 
und kämpfen um Preiſe für wiſſenſchaftliche und ſportliche Leiſtungen wie auch für moraliſches 
Verhalten. Die Zöglinge der verſchiedenen Häuſer ſind nicht etwa einer beſonderen Auswahl 
unterworfen. Dieſes Prinzip war zuerſt maßgebend, hat ſich jedoch ſehr ſchlecht bewährt. Wo 
gerade eine Vakanz iſt, findet der Neuhinzukommende Aufnahme. Aber in welchem Haufe er 
auch unterkommen mag, er trifft überall den gleichen mächtigen Einfluß, den Schulgeiſt, den 
unſichtbaren, gütigen, veredelnden Schutzgeiſt, der ſich im Laufe der letzten einhundertund- 


782 Eine Seelenſchmlede 


zwanzig Fabre herausgebildet hat und deſto jugendfriſcher wirkt, je älter er wird. Dieſer Schutz 
geift begleitet den ‚New boy‘ zunächſt auf den Acker hinaus, wo der Neuling feine erſte Lehr 
lingszeit ablegen muß. Sechs Monate lang muß der an den Schmutz elender Spelunken und 
Gaſſen gewöhnte Knabe von morgens bis abends in der freien Luft ſein, und während Sonne 
und Hügel und Lehrer und Kameraden ihn anlachen, muß er lernen, Spaten und Hacke zu 
ſchwingen und dem Boden feinen Willen aufzudrängen: „Ich will, daß du Frucht bringft.‘ 

Wer die Anſtalt in der Meinung beſucht, dafelbft einen Typus verkommener Menſch⸗ 
heit zu finden, wird — je nach der Qualität feiner eigenen Seele — angenehm oder unangenehm 
überrafcht fein, frei dreinblickende, ihrer Exiſtenzberechtigung bewußte Kinder zu finden, die 
ebenfowenig an Verbrecher erinnern wie der überraſchte Beſucher. Raum 1% dieſer 
Kinder wird nach der Entlaſſung wieder gerichtlich verurteilt, 
und 92 % erlangen ehrbare Stellungen im bürgerlichen Leben. Das iſt ein Prozentſatz, der 
weit günftiger iſt, als die gewöhnliche Volksſchule ihn aufweiſen kann. 

Oer wichtigſte erzieheriſche Faktor iſt die Tatſache, daß man jeden einzelnen Knaben als 
vollgültiges Mitglied der Gemeinde betrachtet, und daß man ihm die Mittel in die Hand gibt, 
täglich und ſtündlich die Bauſteine zu ſeiner glücklichen Zukunft und geachteten bürgerlichen 
Stellung felber herbeizutragen. Das Bewußtſein, daß es von feinem eigenen Willen und Rör- 
nen abhängt, in Zukunft ſeine kühnſten Hoffnungen und ſeine Sehnſucht nach einem geadte- 
ten, auskömmlichen bürgerlichen Leben zu verwirklichen — dieſes Bewußtſein wirkt als tägliche 
und ftündlihe Kraft zum Guten. Darum kommt es kaum je mals vor, daß einer der Spe: 
linge entweicht. Ab und zu wirkt die Sehnſucht nach dem alten Heim oder dem alten Bago- 
bundenleben übermächtig bei den Neuangekommenen — aber auch ſolches Ereignis ift äußert 
felten. Schon deshalb, weil jede Entweichung für das ganze Haus, dem der Entwichene a- 
gehörte, Nachteile bringt. 

Zu gewiſſen Jahreszeiten werden Feſte und Feierlichkeiten veranſtaltet. Dann erſchei⸗ 
nen nicht nur die alten Schüler, um treue Gemeinſchaft aufrechtzuerhalten, ſondern auch die 
Freunde und Gönner der Anſtalt, die zum Teil den höchſten Geſellſchaftsklaſſen angehören. 
Von anderen, die ſich hervorgetan haben und klingende Titel oder doch geachtete Stellung be- 
ſitzen, eines Beſuchs für würdig gehalten zu werden — das iſt ein ſtolzes Bewußtſein fir jeden 
dieſer Knaben. Und bei ſolchen Gelegenheiten ſtrahlen fie vor Freude und ſpannen jeden Mus 
kel an, ihrer Anſtalt würdig zu erſcheinen.“ 

Die Anſtalt weiſt es, ſagt der Verfaſſer an einer anderen Stelle ſeines Buches, mit 
Entrüftung zuruck, als Strafinſtrument zu dienen. Nicht einmal die Bezeichnung 
Reformatory“ will fie anerkennen. Sie betrachtet fich als öffentliche Schule, der befondets 
unglückliche Kinder zugeführt werden, die aber gerade deshalb beſondere Liebe, beſondere Ge- 
duld und beſondere Kunſt verlangen und verdienen. 

Die meiften dieſer engliſchen Anstalten, die den Kindern wenigſtens ein paar glidlide 
Sabre ſichern, ſtehen, fo faat der Verfaſſer mit Recht, tur mhoch über den deutſchen 
Anſtalten, in denen man faſt ausnahmslos in grauſamem, mittelalterlichem Geiſte Zwangs 
erziehung treibt. 


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= Die hier veröffentlichten, dem freien Melnungsaustauſch dienenden 
Einſendungen find unabhängig vom Stanbpunkte des Herausgebers 


Modernismus in der Theologie 


achdem Fohannes Reinke (in Heft 7) über einige wichtige Punkte meines Buches „Der 
2 Entwicklungsgedanke und das Chriſtentum“ referiert und fie zuſtimmend gewürdigt 
hatte, iſt durch A. Lienhard (Heft 8 u. 10) eine Kontroverſe daran geknüpft worden, 
die von Geifrig (Heft 9) weitergeführt wurde. Demzufolge möge es mir auch geſtattet ſein, 
zu der in dieſer Zeitſchrift aufgerollten Streitfrage noch einmal das Wort zu ergreifen. 

3m hatte beſtimmte Richtlinien vom Entwicklungsgedanken auf die Chriſtologie hin 
gezogen, und dieſe ſind, ſofern Reinke ihren Grundzug angedeutet hatte, von Lienhard zum 
Gegenſtand einer Replik gemacht. Dabei meinte Lienhard der neueren theologiſchen Wiffen- 
ſchaft insgeſamt die Vorausſetzung unterſchieben zu follen, es fei eine reinliche Scheidung zwi- 
ſchen dem religiöſen, tranſzendenten Gehalt der Religion und der naturhaften Anſchauung 
der Welt möglich. Za er glaubte ſogar mich als einen ausgeſprochenen Vertreter dieſer Mei- 
nung anrufen und bekämpfen zu ſollen. 

Mit dieſem letzteren iſt er jedoch gänzlich im Irrtum. Es beſteht freilich unter den heutigen 
Theologen eine Kontroverſe, ſofern einige behaupten, die Fragen der Naturwiſſenſchaft und die 
Ergebniſſe der Naturforſchung müßten von der religiöſen Anſchauung völlig ferngehalten wer- 
den. Das Berechtigte dieſer Anſicht liegt darin, daß es in der Tat zwei ganz verſchiedene Weiſen 
der Weltbetrachtung find, die bei der naturhaft-empiriſchen Erkenntnis der Wirklichkeit und 
bei der religiöſen Anſchauung von Welt und Leben vollzogen werden. 

Dennoch bin gerade ich der feſten, ſeit Fahren unentwegt von mir vertretenen und in 
dem genannten Buche begründeten und ausgeführten Überzeugung, daß trotz der Verſchieden⸗ 
artigkeit der Betrachtung, die angeſtellt werden kann, gleichwohl die Ergebniſſe der beiderfeiti- 
gen Anſchauung, der empiriſchen und der religiöfen, nicht immer und nicht reinlich vonein- 
ander getrennt und gegeneinander abgegrenzt werden können und dürfen. 

And gerade hierfür legt auch der von Lienhard S. 218 angezogene Paſſus aus einer 
anderen meiner Schriften Zeugnis ab. Ich verwies darauf, daß auch Jeſus bei feiner religiö- 
ſen Verkündigung von derjenigen Naturerkenntnis, die ihm und ſeiner Zeit zugänglich war, 
nicht völlig abſtrahieren konnte, eben weil — wie ich nun in Übereinſtimmung mit Lienhard 
wiederhole — die religiöfe Weltanficht nicht abgeſchloſſen und durchgeführt werden kann ohne 
Rückſichtnahme auf das Weltbild der einfachen Erkenntnis reſp. der empiriſchen Erkenntnis, 
oder wie man ſie nennen will. . 

Auf Grund dieſer Übereinftimmung in der allgemeinen Vorausſetzung ſcheint mir ein 
anderes Refultat geboten als dasjenige, welches Lienhard gewinnen möchte. Sind religidfe 


784 Modernismus in der Theologie 


und naturkundliche Weltbetrachtung bei der Geſtaltung unſerer Weltanſchauung nicht ganz von- 
einander zu trennen, müſſen vielmehr beide oft ſehr intenſiv aufeinander bezogen werden: 
dann ift auch der bahnbrechende religiöfe Genius und der göttliche Offenbarer bei feiner Ber- 
kündigung genötigt, feine Erkenntnis der Natur bei der Darlegung feiner religiöſen Rongep- 
tion zu verwerten. 

Nun aber hat Lienhard in Heft 10 (und ebenſo F. v. Thurn), um meiner Ronfequenz 
zu entgehen, gegen Geifrig betont, daß Jefus, der Gottmenſch, nicht ein Menſch wie wir war, 
ſondern zugleich Gott; und daraus follen wir folgern, daß Jefus auch in Sachen der empiriſchen 
und naturkundlichen Weltbetrachtung irrtumsfrei war, ſo daß alſo ſeine religiöſen Aufſtellungen 
auch in Hinſicht ihrer unumgänglichen Verbrämung mit allgemeiner Weltkenntnis abſolut auto- 
ritativ feien. — Gewiß erfordert ja unſere religiöfe Anſchauung Jefu als des gottgefandten 
vollkommenen Offenbarers, daß er nicht ein Menſch „wie wir“ geweſen ſei. Er iſt verſucht 
worden „wie wir“ (nach dem Hebräerbrief), aber er t ft tatſächlich in der Verſuchung nicht ge- 
fallen „wie wir“. Denn er hat Gottes Willen erkannt, mehr noch, er hat ihn zu ſeinem eigenen 
gemacht; er hat in Gottes Willen gelebt, geliebt, gelitten, geſtrebt; Gott hat ihn zu feinem 
Organ erkoren: Gottes Geſinnung und Gottes Weſen kam in ihm zum unverfälſchten Ausdruck. 
Das iſt ſeine Offenbarereigentümlichkeit, die ihn über das Niveau der anderen Menſchen erhebt. 

Aber heißt denn das nun wirklich zugleich: er konnte in keinem Punkte der Erkenntnis 
von der natürlichen Beſchaffenheit der Weltdinge irren? Heißt das wirklich, er fei aller Dinge 
ſchlichthin kundig geweſen? Dann follen wir wohl wirklich mit F. von Thums eigentümlicher 
Logik alſo ſagen: „Als Gott kannte Zeſus die Geheimniſſe der Natur, wie nie ein anderes Weſen 
ſie kennen kann und wird. Als Menſch durfte er aber darüber nur den Anſchauungen ſeiner 
Zeit entſprechend lehren“?! — Wer fo redet, der fehe zu, wie er Jefu wahre vollkommene 
Menſchheit noch rettet, und daß ſich Gottes Wahrhaftigkeit nicht in Lügenweſen verkehre! 
Wer Zeſu Gottheit darein ſetzt, daß er ein übernatürliches Wiſſen von den Dingen der Welt 
beſaß, der wird ſchwere Not haben, ein einheitliches Bild von Jefu Perſönlichkeit und von Jefu 
Leben herzuſtellen. Er mag ſich drehen, wie er will, der wahrhaftige Menſch entſchwindet ihm 
aus den Händen — eben jener Menſch, von dem die Evangelien Zeugnis ablegen. 

Geifrig hat vollkommen recht, wenn er ebenſo wie Reinke Fefum zunächſt als Glied 
der Menſchheit feiner Zeit verſtehen will. Ob man diefe Anſicht als modern - theologiſch oder 
ſonſtwie bezeichnen will, das iſt völlig gleichgültig gegenüber der Notwendigkeit, die Perſon 
Zeſu hiſtoriſch zu verſtehen. 

Daß wir ihn hiſtoriſch, d. i. aus ſeiner Zeit und im Zuſammenhange ſeiner Zeit zu be- 
greifen ſuchen, das eben entſpringt unſerem Glauben daran, daß er der echte Offen barer 
Gottes iſt. Denn ein Gottmenſch, der unverſtändlich über die Erde gegangen, der ſteht uns 
wohl als ein großes Myfterium da, aber nicht als die Offenbarung Gottes. Das Chri- 
ſtentum zeichnet ſich dadurch vor anderen Religionen aus, daß die göttliche Offenbarung, die 
es bietet, in der menſchlichen Geſchichte, im geſchichtlichen Leben eines einzelnen wirklichen Men- 
ſchen erfolgt iſt. An dem Leben dieſes reinen Menſchen werden wir Gott inne, erfahren wir 
Gottes Willen und Walten und Weſen. Dies iſt der Grundgedanke der chriſtlichen Offenbarungs- 
geſchichte. 

Dieſes wahre Menſchenweſen mit feiner Reinheit, mit feiner „Idealität“ enthält bie 
Möglichkeit, daß wir Gott darin ſchauen. Aber eben ein wirkliches Menſchenleben iſt es geweſen, 
und als ſolches muß es feſtgehalten werden. Zum echten Menſchenweſen gehört aber immer- 
dar dies, daß es aus einem gegebenen geſchichtlichen Zuſammenhange erwächſt. Es war der 
Fehler der älteren Theologen von der ſogenannten Hegelſchen Rechten, daß fie dieſen Punkt 
fiberjaben und Jefus als ein von feinen Zeitverhältniſſen losgelöſtes, gleichſam abſtraktes Fn- 
dividuum faßten. Nicht nur damit er uns zum Vorbild dienen könne, ſondern auch und vor 
allem, damit er der greifbare Ort göttlicher Offenbarung bleiben könne, mußte Zeſus rechter, 


Dorfhlage zur Erzielung einer gerechten Volksvertretung 785 


hiſtoriſch greifbarer Menſch ſein. Als ſolcher wird er jedoch nicht geachtet, wenn man ihm ein 
übernatürliches Wiſſen um die Welt und ihre Teile zuſchreibt, das zudem durch die neutefta- 
mentlichen Urkunden ihm keineswegs beigelegt wird. Ein Weſen, das mit vollem Wiſſensbeſitz 
ausgeſtattet iſt, iſt kein Menſch. Auch zum geiſtigen Weſen des Menſchen gehört unveräußerlich 
die Entwickelung. 

Durch diefe Pofition ift nicht geleugnet, daß Jefus als der Stifter der reinen Religion, 
als der Oarſteller der reinen Menſchlichkeit, als der Eröffner des endgültigen Weges zum ewi- 
gen Leben eine einzigartige Erkenntnis des in ihm ſich erſchließenden ewigen Gottes und des 
moraliſchen Weſens des Menſchen beſaß — Erkenntniſſe, die ihm durch feine beſondere religiöfe 
Stellung, feine ſtetige Gottgebundenheit erſtanden. Man kann es dem ſpekulativen Triebe 
nicht einmal verwehren, darüber hinaus anzunehmen, daß für Jeſus im Zuſammenhang hier- 
mit ein eigenartiger Tiefblick in die kosmiſchen Zuſammenhänge und die kosmiſche Teleologie 
gegeben war. Wir haben Andeutungen, daß Fefus Gott und Naturleben aufs innigſte zuſammen 
geſchaut hat. Das ift dann freilich eine Einſicht, durch die Jefus fih von den Menſchen feiner 
Zeit, aber auch von feinen Epigonen durchaus unterſchied: die religidje Intuition hätte ihn auf 
diefe Höhe erhoben. Aber die Göttlichkeit eines einzelnen Menſchen behaupten, das kann nicht 
heißen, ihm ein umfaſſendes Maß von empiriſcher Weltkunde zudiktieren; ſondern es kann immer 
nur heißen, ſeinen Willen und ſeine Geſinnung, eventuell auch ſeine Erfaſſung der Weltteleo- 
logie dem ewigen Plane Gottes fo nahe rücken, daß aus der Erſcheinung und Betätigung dieſes 
Menſchen der göttliche Wille uns entgegenleuchtet. Karl Beth 


D 


Vorſchläge zur Erzielung einer gerechten 
Volksvertretung 


r Ben allen grundſätzlichen Erwägungen abgefehen, haften allen in Oeutſchland gelten- 
Sr LE den Wahlgeſetzen zwei auffällige Mängel an, die zu den größten Ungerechtigkeiten 

E Sé in der Zuſammenſetzung der Parlamente führen: einmal werden die innerhalb 
der einzelnen Vahlkreiſe vorhandenen Minderheiten trotz oftmals großer wirtſchaft⸗ 
licher Bedeutung überhaupt nicht berückſichtigt, und andererſeits find die Gtimmenfum- 
men, die von den nun wirklich gewählten Abgeordneten im Parlamente vertreten werden, 
ganz verſchieden groß. Zum Beiſpiel: Im Reichstagswahlkreiſe A (Großſtadt) wird ein Sozial- 
demokrat mit 80 000 Stimmen gewählt; die 50 000 liberalen und 25 000 konſervativen Wähler 
miiffen auf eine Vertretung im Reichstage verzichten. Im Wahlkreiſe B (Land) hingegen kommt 
ein konſervativer Abgeordneter mit 14 000 Stimmen durch, während der liberale mit 13 000 
Stimmen fällt. Who 50 000 + 25 000 unvertretene Wähler hier — 14 000 Wähler mit einer 
Stimmenvertretung dort — und auf der andern Seite 80 000 Wähler ebenfalls bloß mit einer 
Stimmenvertretung. Doch wohl ganz unhaltbare Zuſtände, die aber gerade für die Zufammen- 
ſetzung des Deutſchen Reichstags nahezu typiſch find! 

Mit der ja urſprünglich auch melt vorgeſehenen numeriſchen Gleichheit der Wahlkreiſe 
iſt nichts erreicht — ganz abgeſehen davon, daß fie aus wirtſchaftlichen und techniſchen Grün- 
den unpraktiſch ift —, da es dann wiederum vorkommen könnte, daß wie oben 14 000 Wähler 
vertreten werden, dagegen die 13 000 der Minderheit nicht. 

Ebenſo find die Stich wahlen, wo man doch bis zu gewiſſem Grade feine Grund- 
ſätze aufgeben muß, eine recht mißliebige Einrichtung. 

Gh ſchlage folgende Veranderungen vor: 

Der Türmer XI, 12 50 


786 Vorſchläge zur Erzielung einer gerechten Voltevertectuny 


a. Feder Abgeordnete, der mehr als ein beſtimmtes, bedeutungsloſes Minimum Stim: 
men hat, ift gewählt — d. h. Berückſichtigung der Minderheiten. 

b. Je mehr Stimmen auf einen Abgeordneten bei ber Wahl fallen, deſto mehr Stim 
men hat er im Parlament bei der Abſtimmung ( Proportionalwahl) — gerechte Abwägung der 
zu vertretenden Stimmenſummen! 

Es iſt anzunehmen, daß auf dieſe Weiſe jeder Wahlkreis durch mehrere Abgeordnete 
vertreten werden würde. Damit nun die Zahl der gewählten Abgeordneten nicht zu groß 
werde — im Intereſſe eines raſchen Geſchäftsganges —, werden die Vahlkreiſe erheblich ver- 
größert, eine Maßregel, die ſich ganz leicht durchführen ließe. Für Oeutſchland würde ich anſtatt 
der bis jetzt üblichen 400 z. B. bloß 150 Wahlkreiſe vorſchlagen, wobei ich annehme, daß etwa 
3—4 Abgeordnete auf jeden Wahlkreis kommen. 

Eine Einteilung des Reichs in 150 Wahlkreiſe nach wirtſchaftlichen Geſichtspunkten ift 
wohl möglich. Auf das Königreich Sachſen kämen beiſpielsweiſe deren 12, es würden aber 
ſogar 10 genügen: Dresden, Leipzig, Chemnitz, das Vogtland mit Plauen, das Zwickauer 
Kohlengebiet, das Erzgebirge, das weſtelbiſche Tiefland, das Elbſandſteingebirge, der Elhgau 
Pirna-Meißen, die Lauſitz. Natürlich brauchten die Vahlkreiſe nicht gleich groß zu ſein. 

Die läftigen Stichwahlen würden nach dieſem Modus überhaupt wegfallen. 

Dieſe Grundſätze können auf alle Wahlrechte angewendet werden, auf das reattiondare 
preußiſche genau fo wie auf das liberale deutſche. Bd führe zur Erläuterung die entipreden- 
den Paragraphen eines in dieſem Sinne reformierten Reichstagswahlrechts an: 

1. Oer Reichstag geht aus allgemeinen und direkten Wahlen mit geheimer Abftim- 
mung hervor. | 

| 2. Das Reich wird in 150 Wahlkreiſe eingeteilt, deren Abgrenzung ſich möͤglichſt nach 
den wirtſchaftlichen Gebieten richtet. 

3. Jeder Kandidat, der mindeſtens 6000 Stimmen hat, ift gewählt. (Unter zirka 400 000 
Einwohnern find weniger als 6000 Wähler wohl bedeutungslos.) 

4, ge mehr Staatsbürger ein Abgeordneter vertritt, um jo mehr Stimmen beſitzt er 
bei der Abſtimmung im Reichstage. Die Stimmenzahl richtet ſich nach folgender Tabelle: 

Zahl der Wähler eines Abgeordneten Zahl der Stimmen eines Abgeordneten 


6000—11 999 1 
12000 —17 999 2 
18 000-—23 999 3 

uſw. 


5. Wenn die Anzahl der Reichstagsabgeordneten 550 dauernd überfchreitet oder untet 
400 dauernd herabſinkt, fo hat der Reichstag das Recht, die Minimalgrenge von 6000 nach 
oben oder unten zu verſchieben, jedoch fo, daß die neue Minimalgrenze zugleich Norm wird 
für die obige Tabelle zur Vertellung der Stimmenanzahl im Reichstage. Dieſe Anderung gilt 
nicht als Verfaſſungsänderung. X. T. Z. 


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Häusliches aus dem Reichsſtübchen — Altdeutſches Neuland 


Gen ls Papin, der berühmte Gelehrte und Erfinder, damals (Ende des 
= d Ç 18. Jahrhunderts) Profeſſor in Marburg, mit dem erſten, von ihm 
e K D ſelbſt konſtruierten Dampfboote die Fulda hinunterfuhr, wurde bieles 
sin Münden von Schifferknechten, die fih durch das neue Fahrzeug 
in ihrer Exiſtenz bedroht fühlten, kurz und klein geſchlagen. Das hatte zur Folge, 
daß der Gelehrte auf die weitere Ausführung ſeiner Idee verzichtete und ſie erſt 
hundert Jahre ſpäter wieder aufgenommen wurde. In der „Welt a. M.“ friſcht 
Herr von Gerlach dieſe ſymboliſche Erinnerung auf und bemerkt dazu: „Um 
mehr als ein Jahrhundert konnten die gewaltätigen Fäuſte unwiſſender Schiffer- 
knechte einen der größten Kulturfortſchritte unſerem Vaterlande vorenthalten.“ 

Die Methode habe fic) geändert, der Geiſt fei der ſelbe geblieben. Heute 
zertrümmerten die Arbeiter keine Maſchinen mehr. Heute fteuerten die border: 
den Klaſſen die techniſchen Errungenſchaften zu Tode oder brächten ſie ſonſt auf 
irdend eine „geſetzliche“ Weiſe um. 

„Das neue preußiſche Stempelſteuergeſetz führt eine Steuer auf Automaten 
ein. Wie hoch die Steuerſätze ſind, iſt zunächſt gleichgültig. Der ſpringende Punkt 
iſt, daß die Herren des Oreiklaſſenparlaments überhaupt eine Ausnahmebeſteuerung 
der Automaten für nützlich halten. Eine Ausnahmeſteuer iſt es: denn die Cigen- 
tümer der Automaten unterliegen fon bisher wie alle anderen Gewerbetreiben- 
den der Einkommen und Gewerbeſteuer. Nun wird ihnen noch eine Strafſteuer 
dazu aufgepackt, weil ſie ſo unvorſichtig waren, ihren Betrieb auf eine moderne 
Grundlage zu ſtellen. ' 

Der Automat ift eine der wundervollſten Erfindungen. Er ermöglicht es, 
ftumpffinnige mechaniſche Arbeit im Handelsgewerbe den Menf aden 
abzunehmen und fie der toten Materie aufzupaden. Jeder modern den- 
tende Menſch kann nur einen Wunſch, nur ein Streben kennen: was von Auto- 
maten gemacht werden kann, das ſoll von ihnen gemacht werden. So viel 
Automaten und ſo vielſeitige wie nur irgend möglich! Mit Ingrimm erfüllt es mich 


788 l Züemers Tagebuch 


jedesmal, wenn ich vor den Poſtſchaltern ſich Haufen von Menſchen drängen ſehe, 
die jeder eine 10 Pfg.⸗Marke oder eine 5 Pfg.-⸗Karte kaufen wollen. Und da fiken 
mittlere Beamte, Leute mit ſehr reſpektabler Bildung, hinter den Schaltern und 
verkaufen Marke für Marke! Mit Entrüſtung habe ich feſtſtellen müſſen, daß es 
ſelbſt in Berlin noch Bahnhöfe gibt, wo man nicht einmal die 10 Pfg.⸗Fahrkarte 
am Automaten kaufen kann. Reich und Staat follten mit gutem Beiſpiel voran- 
gehen und alle Privatunternehmer follten fih beeilen, jeden nur techniſch irgend 
wie möglichen Verkauf durch Automaten beſorgen zu laſſen. 

Aber da kommen die verehrlichen Herren Geſetzgeber und erklären: quod 
non! Oer Automat ift ein techniſcher Fortſchritt, der rüdftändigen Leuten Ron- 
kurrenz macht. Deshalb: nieder mit ihm! Erſt heckte man den ebenſo lächerlichen 
wie wahnwitzigen Gedanken aus, die Auto maten der Sonntagsruhe 
zu unterwerfen. Sonntagsruhe, ſegensvolle Gabe für die An geſtellten, ein 
Glück für die Menſchheit, ausgedehnt auf den Mechanismus, zur ſchikanöſen 
Beläftigung der Allgemeinheit! Und jetzt hemmt man die Entwicklung der Auto- 
mateninduſtrie durch eine widerwärtige Steuer. Gewiß, die Grammophone find 
eine entſetzliche Plage für die Nachbarn. Aber ſind es die Klaviere weniger? Nicht 
der mechanifche Betrieb ift das Störende, ſondern der Spektakel. Und die aller 
meiſten Automaten find reiner Gewinn für das Publikum. Wäre es nicht ein 
geradezu gräßlicher Gedanke, daß die Hochbahn, um die Automatenſteuer zu ſparen, 
ihre Automaten abſchaffte und das Publikum zwänge, ſich wieder mit feinen Nickel 
ftiiden an den Schaltern herumzudrängen? Erleichtern ſoll man mit allen Mitteln 
die Ausdehnung des automatiſchen Verkaufes. Ihn beſchränken oder auch nur ſeine 
Entwicklung hemmen ift eine kulturwidrige Tat. Die modernen Geſetzgebet, 
das ſind die Papinſchen Schifferknechte in neuer Auflage.“ 

Was ſei die ganze Zollgeſetzgebung anderes als ein Verſuch großen Stils, 
die Fortſchritte der Technik zu paralyſieren? „Die natürliche Vernunft gebietet 
die internationale Arbeitsteilung. Was ein Volk am beſten und billigſten herſtellen 
kann, das ſoll es produzieren, nicht bloß für ſich, ſondern auch für die anderen. 
Wenn Argentinien Spezialiſt iſt für Weizen, Rumänien für Mais, Oeutſchland füt 
Chemikalien, dann iſt es ebenſo unfinnig, daß wir uns gegen den argentiniſchen 
Weizen und den rumäniſchen Mais verbarrikadieren, wie wir es verwerflich finden 
müffen, wenn andere Länder unſere Spezialprodukte fidh künſtlich vom Leibe halten. 
Kraftvergeudung ſchlimmſter Art iſt es, wenn jeder alles herſtellen will. Das iſt 
ein Rückfall in den Zuſtand der Arwirtſchaft. Höchfte wirtſchaftliche Weisheit ift 
es dagegen, daß jedes Land die Wirtſchaftsgebiete in erſter Linie kultiviert, die 
ſeinen Naturſchätzen und ſeiner Volksbefähigung am meiſten entſprechen. 

Anaufhaltſam vollzieht ſich die Entwicklung zum Großbetriebe. Der tech 
niſche Fortſchritt heiſcht ihn, nicht allenthalben, nicht z. B. in der Landwirtſchaft, 
nicht in manchen Handwerkszweigen, aber doch auf täglich mehr Gebieten. Aber 
da kommen unſere Weiſen von heute und kommandieren: Varenhausſteuer, 
Mühlenumſatzſteuer, Staffelſteuer bei den Brauereien, Kontingentierung der 
Zündholzfabriken, Niederhaltung der großen gewerblichen Brennereien, Filial- 
ſteuern! Im Hintergrund lauert das Geſpenſt der allgemeinen Umſatzſteuer. 


BB mn at 


Türmers Tagebuch 789 


Greifen wir eins heraus, die Warenhausſteuer. Sie hat den Zweck, die Ent- 
wicklung der Warenhäuſer zu hemmen. Sie foll ... fo ‚ausgebaut‘ werden, daß 
ſie zur Erdroſſelung der Warenhäuſer führt. Dabei ſind die Warenhäuſer ein 
natürliches Gebilde, das in allen Kulturländern gleichmäßig emporgekommen iſt, 
weil es der techniſchen Entwicklung unſerer Zeit am beſten entſpricht. Es ift natür- 
lich heller Blödſinn, wenn die Antiſemiten behaupten, die Warenhäuſer profpe- 
rierten, weil ſie ſo ſchlechte Waren verkauften. Nein, kein Geſchäft kann auf die 
Dauer von den Leuten leben, die beim Kauf hereinfallen. Die Varenhäuſer ge- 
deihen, weil ſie einem Bedürfnis des Publikums entſprechen. Sie zu Tode ſteuern, 
heißt, die Maſſen der Käufer einem Hirngeſpinſt zuliebe ſchwer ſchädigen. Denn 
ein Hirngeſpinſt bleibt es, einen Fortſchritt vernichten zu wollen. Man kann ihn 
nur hemmen. Was freilich ſchon ſchlimm genug iſt.“ 

Der Get der Warenhausfteuer durchziehe unſere ganze Geſetzgebung. 

„Warum haben die Agrarier einen ſo gewaltigen Verkehrsfortſchritt wie den 
Mittellandkanal zu Fall gebracht? Doch nur, um die unbequeme Kon- 
kurrenz des fremden Getreides ſich vom Halſe zu halten. Warum haben wir eine 
Automobilſteuer, aber keine Steuer auf Luxusequipagen und 
Reitpferde? Weil das Automobil ein Inſtrument des Fortſchritts ift. Weshalb 
beſchloß das Abgeordnetenhaus eine Steuer auf Fahrräder? Weshalb hat 
die Polizei ſich ſo lange den Paternoſteraufzügen widerſetzt? 
Immer iſt es derſelbe Geiſt des rückſchrittlichen Alten, der ſich auflehnt gegen 
jede Errungenſchaft der Technik. Konkurrenzfurcht, bureaukratiſche Angſtlichkeit 
und allgemeine reaktionäre Stimmung reichen einander die Hand, um den Kampf 
gegen die Moderniſierung unſeres Lebens vereint aufzunehmen 

Mehrmals im Laufe des letzten Jahrhunderts, fo wird in der „Frankf. Ztg.“ 
ausgeführt, ſei es verſucht worden, Preußen zu einem neuzeitlichen Staate zu 
machen, gelungen ſei es aber bis heute nicht: „Die erſten, die es verſuchten, waren 
Stein und Hardenberg. Von Hardenberg ſtammt das Wort: „Demo- 
kratiſche Grundfäße in einer monarchiſchen Regierung — dieſes ſcheint mir die 
angemeſſene Form für den gegenwärtigen Zeitgeiſt'. Dem entſprach das Edikt 
vom 9. Oktober 1807. Wie die Junker es auffaßten, kann man dem Ausſpruche 
des Kammerherrn v. Recke entnehmen, der fagte: Lieber noch drei ver- 
lorene Auerſtädter Schlachten! Und den Plan der Regierung, die 
Selbſtverwaltung auf das Land auszudehnen und ihr eine Repräſentation zu geben, 
beantwortete Herr v. Marwitz mit der Frage, ‚ob man das alte, ehrliche branden- 
burgiſche Preußen in einen neumodiſchen Zudenftaat verwandeln wolle?‘ Aber 
die Junker begnügten ſich nicht mit Reden, ſondern leiſteten erbitterten Widerſtand, 
und wenn auch die Not des Staates damals zu groß war, als daß ſie alle Reformen 
hätten verhindern können, ſo iſt doch vieles von dem, was beabſichtigt war, nicht 
geſchehen, und der Bau, den Stein und Hardenberg begonnen haben, iſt heute 
noch nicht vollendet. 

Die Junker hatten auch Glũck. Was hätten f i e aus dem Jahre 1848 gemacht, 
wenn ſie es geweſen wären, die die Revolution gemacht hätten! Man darf zu 
ihnen das Vertrauen haben, daß fie die Sache gründlicher beſorgt und ein für alle- 


790 Zleıners Tagebuch 


mal erledigt hätten, mit einer tüchtigen Portion von Blut, wie es ſich auch für 
eine ordentliche Revolution gehört. Aber was waren das für Leute, die die deutſche 
Revolution von 1848 geführt haben! Prächtige Menſchen waren ſie und edel, 
aber allzu edel und Philoſophen und Denker und Träumer und Redner. Die 
Situation beim Beginne der Erhebung war für die Revolutionäre fo günftig, wie 
fie es nur wünſchen konnten. Obgleich ihre Machtmittel denen der traditionellen Ge 
walten gar nicht gewachſen waren, hatten ſie doch die Macht in der Hand, weil 
die anderen ſo verblüfft waren, daß ſie gar nicht daran dachten, ihre Mittel zu 
gebrauchen. Und die Junker dachten ſchon, nun komme die deutſche Auflage der 
großen franzöſiſchen Revolution, und verhielten fich ganz ruhig. Aber zu ihrem 
großen Erſtaunen merkten ſie bald, daß davon ja gar keine Rede war. Das waren 
überaus liebenswürdige Revolutionäre, die nicht daran dachten, die Lage auszu- 
nützen, und fo was konnte den Zunkern natürlich nicht lange imponieren. Bei 
Beginn des Sommers von 1848 ging der Hof nach Potsdam, und hier bildete ſich 
die junkerliche Ramarilla, die die Kontrerevolution gemacht und zehn Jahre der 
ſchärfſten Reaktion über Preußen gebracht hat. Ihr Häuptling felber, „Polte 
v. Gerlach, hat in feinen Denkwürdigkeiten einen Einblick in die damaligen Magi- 
nationen gegeben. Und ſo vortrefflich haben die Zunker es verſtanden, ſich wieder 
durchzuſetzen, daß fie ſchließlich über ihre eigenen Erfolge erſtaunt waren und Ger- 
lach nach dem Hinckeldey Skandal (1856) ausrief: „Es ift merkwürdig, wie mächtig 
unſer Adel noch iſt, und recht zu erklären iſt es nicht, wie das zugeht. Der Adel, 
oder vielmehr die Ritterſchaft, und die Kirche ift das einzige, was widerſteht.“ Za, 
es wundert ſich noch heute mancher, wie mächtig die Ritterſchaft ift, und kann Ié 
nicht erklären, wie das zugeht. 

Dann kam freilich eine Zeit, wo es ſchien, als ſollte es mit der Herrſchaft 
der Junker endlich vorbei fein — es kam die ſogenannte neue Ar a. Wilhelm, 
der fpdtere erſte Kaiſer des neuen Deutſchen Reiches, war auf den Thron ge 
kommen; er ſtand mit den Junkern nicht gut, weil fie gegen ihn intrigiert hatten, 
und weil er ein anſtändig denkender Mann war, dem das Treiben nicht behagte, 
das die Junker und eine beſondere Art von Frommen unter und an feinem Dor 
gänger geübt hatten. Die Liberalen machten Fortſchritte und gewannen die Ma- 
jorität in der Kammer. Das waren ſchlechte Ausſichten für die Ritterſchaft. Abet 
ſchließlich waren die Junker wieder obenauf. Freilich hat ihnen dabei ein großer 
Mann geholfen, und es geſchah auf langen Umwegen. 

Hugo Preuß weiſt in einer Schrift über die Junkerfrage mit Recht darauf 
hin, daß man bei der Beurteilung jener Zeit in der Regel nur die Fehler hervor 
hebt, die die damaligen Liberalen gemacht haben, und nicht beachtet, daß das 
Primäre auch hier wieder die Tätigkeit des Junkertums war. Fehler haben die 
Liberalen reichlich gemacht, und wie hatte es auch anders fein können, da fie wenig 
parlamentariſche Erfahrung und bei weitem nicht den politiſchen Inſtinkt hatten, 
wie die Junker, die feit jeher in politiſchen Geſchäften geübt waren. Insbeſondere 
zeigte ſich damals eine Eigenheit der Liberalen, die bis heute noch nicht ganz ver- 
ſchwunden iſt, und die einer erfolgreichen Politik im Wege ſteht: die Abneigung, 
felber Regierung zu werden. Damals klagte Simſon, daß die Kammerliberalen 


Zürmers Tagebuch 79 


‚um alles nicht minifteriell fein wollen; wer mit der Regierung in Verbindung 
ſteht, iſt ihnen als zweideutige Perſönlichkeit verdächtig, wer und wie die Ne- 
gierung auch fein mag; denn fie find nach ihrer Meinung vom Lande eigens þer- 
geſchickt, um die Miniſter zu kontrollieren — das iſt ihr Begriff von parlamen- 
tariſcher Regierung; und da halten fie es für ihre Pflicht, Oppofition quand méme 
zu machen. Sie können nicht ruhig zu Bett gehen, ohne das Bewußtſein, den 
Miniſtern im Laufe des Tages gehörig zugeſetzt zu haben.“ Und Bernhardi tadelte, 
daß die Liberalen zu wenig ehrgeizig ſeien; ‚die Leute denken im allgemeinen 
gar nicht daran, fih der Regierung zu bemächtigen; mir aber ſcheint jede poli- 
tiſche Partei verwerflich, die nicht darauf ausgeht, Regierung zu werden. Jede 
Oppoſition, die ſich nicht als künftige Regierung denkt, poftuliert unmögliche 
Dinge.“ So waren die Liberalen damals geſtimmt. Es gibt natürlich viele Ver- 
hältniſſe, wo die Ablehnung, an der Regierung teil zu haben, begründet iſt. Aber 
ſich grundſätzlich davon fernzuhalten, iſt töricht. Das damalige Miniſterium war 
freilich nicht von der Art, daß die Liberalen beſonderes Vertrauen zu ihm hätten 
haben können. Aber hätten ſie nicht, wenn ſie nur überhaupt den Willen zur Macht 
gehabt hätten, das Miniſterium in ihrem Sinne rekonſtruieren können, damals, 
als fie die Militärforderungen bewilligen ſollten? Die Junker hätten das fertig 
gebracht und ihre Macht dauernd ſtabiliſiert. Daß die Liberalen das nicht machten, 
das war der größte Gefallen, den fie den Junkern tun konnten, denn nun durften 
deren Intrigen wieder auf Erfolg rechnen. Sie nahmen ihren Ausgang vom 
Militärkabinett, das Edwin Manteuffel leitete. Trotz allen Schwierigkeiten wäre 
es möglich geweſen, die Heeresreorganiſation in der Kammer durchzubringen. 
Eine Mehrheit für ihre Grundgedanken war vorhanden, und fo hätte ſich die Re- 
gierung mit den Liberalen verſtändigen können. Aber daß dies geſchehen wäre, 
das verhinderte Manteuffel, und nachdem der allzu konſtitutionelle Kriegsminiſter 
v. Bonin geſtürzt war, auch deſſen Nachfolger Roon, die keine Konzeſſion zuließen 
und die Forderungen fo fteigerten, daß die Verſtändigung unmöglich wurde. Man 
wollte fie eben gar nicht, man wollte den Konflikt, und Bismarck, der 
Freund Gerlachs und Kandidat Roons, ſollte ihn durchfechten. 

Man würde freilich Bismarck Unrecht tun und ſich nur lächerlich machen, 
wenn man ſagen wollte, er ſei im Grunde nur der geweſen, der die Aufgabe gehabt 
habe, die Junker wieder zur Herrſchaft zu bringen, und weil das nicht anders ge- 
gangen ſei, habe er nebenher auch das Oeutſche Reich errichtet. Bismarck war 
von einer Art, daß hundert durchſchnittliche Junker auf ein Lot von ihm gingen, 
und wenn er auch nur deshalb ans Ruder kam, weil die Junker und ein zwar ſehr 
tüchtiger Soldat, aber mit antiquierten politiſchen Ideen, wie Roon, in ihm ihren 
Mann ſahen, fo ftanden feine politiſchen Gedanken doch weit über dieſen Aſpi⸗ 
rationen. Wenn er die Oeutſchen einte, ſoweit es möglich war, wenn er Preußen 
zur deutſchen Vormacht erhob und ſeinen König zum Kaiſer machte, ſo waren 
ihm das Ziele an ſich. Aber das wird wohl richtig ſein, daß es ihn innerlich gar 
nicht behinderte, die Vorausſetzung dafür, die Heeresreorganiſation gegen die 
Liberalen durchſetzen zu müſſen, daß er das ſogar recht gerne tat, daß ihm alſo 


die Tatſache, die Liberalen an die Wand gedrückt und ſeine alten Freunde wieder 


792 Zürmers Tagebuch 


in den Vordergrund gebracht zu haben, ein willkommenes Nebenprodukt feiner 
allgemeinen politiſchen Tätigkeit war. Er war eben doch Fleiſch vom Fleiſche 
der Ritterſchaft, und wenn es dann noch einige Mißverſtändnifſe zwiſchen ihm 
und ihr gegeben hat, weil feine Ideen zu groß waren, als daß die Junker fie be- 
griffen hätten — nannten fie doch das Kaiſer machen ein jüdifches 
Geſchäft'! — fo haben fie fih ſchließlich doch wiedergefunden, und die Junker 
haben dabei ihre Rechnung gefunden. | 

Was Bismarck für die Junker als Agrarier getan hat, weiß jedermann. 
Weniger haftet in der Erinnerung ſeine Tätigkeit oder vielmehr Untätigkeit auf 
dem Gebiete, das den Junkern heute noch den größten Teil ihrer Macht gibt; 
wir meinen die Verwaltungs organiſatio n. Seit Stein und Harden- 
berg war mehrmals verſucht worden, die Kreisſtände zu reformieren und die 
moderne Selbſtverwaltung aufs platte Land auszudehnen, aber ſtets vergeblich. 
Denſelben Widerſtand erhoben die Junker auch gegen die Kreisordnung von 1872, 
obgleich auch ſie noch weit davon entfernt war, ihnen weh zu tun. Bezeichnend 
war es aber, wie ſich Bismarck dazu verhielt: er tat nichts dazu und ſaß in Varzin, 
obgleich er ſonſt alle wichtigen Angelegenheiten ſelbſt leitete. Er ſympatiſierte 
eben in dieſer Sache mit ſeinen alten Freunden, obgleich ſie gerade damals ſeine 
Gegner waren. Zu einer Landgemeindeordnung für die öſtlichen Provinzen als 
Seitenftüd der Städteordnung von 1808 kam es auch unter Bismarck noch nicht, 
denn er hätte ſich nie dazu verſtanden, die ſelbſtändigen Gutsbezirke, dies Kleinod 
des Suntertums, anzutaſten. Und als dann nach feinem Sturge eine Landge- 
meindeordnung eingebracht wurde, da wurde doch wieder nur halbe Arbeit getan.“ 

So habe das Junkertum ein gut Teil ſeines ungebührlichen Einfluſſes bis 
auf den heutigen Tag in den ländlichen Verwaltungskörpern bewahrt: „Und Hand 
in Hand mit ihm arbeiten die Verwaltungsbehörden. Der Amtsvorſteher ift ent- 
weder ſelber ein Großgrundbeſitzer oder doch ein Vertrauensmann der Herr- 
ſchaften. Und der Landrat, der große, allmächtige Landrat, gehört ſchlechter⸗ 
dings zu den Junkern, und wenn einmal einer kein ‚von‘ trägt, fo gehört er doch 
wenigſtens zu den Konſervativen, denn ſonſt würde er nicht Landrat. Das ſteht 
zwar nicht im Geſetz, aber es iſt ſo. Denn ober dem Landrat iſt die Regierung 
und ober der Regierung der Oberpräfident und ober dem Oberpräſidenten die 
obere Regierung, und überall da haben ſich die Junker feſtgeſetzt, halten das Heft 
in den Händen und ſorgen dafür, daß der Nachwuchs für dieſe Stellen aus ihren 
Kreiſen komme. Den ganzen Verwaltungsapparat haben die Junker in Händen, 
und das ift das eigentliche Geheimnis ihrer Macht. Wenn zufällig ein Spate- 
ſpeareſcher Puck daherkäme und der hohen preußiſchen Regierung den Sinn ver- 
kehrte, ſo daß ſie eine fürchterliche Muſterung unter den Verwaltungsbeamten 
hielte — aus wäre es mit der Herrſchaft der Junker und Konſervativen. Sie wiſſen 
das recht gut. Schon 1861 hat Moritz v. Blanckenburg, ihr damaliger Führer, 
geſchrieben: „Gegen den Regierungsſtrom find die Konſervativen völlig 
ohnmächtig! Zn der Tat, wer könnte ihnen gute Wahlen beſorgen, wenn 
der Landrat nicht mehr ſozuſagen ein Funktionär der Junker wäre? Das ijt frei- 
lich nicht ſo zu verſtehen, daß die Landräte überall ſchlechthin Wahlmacher wären, 


Zürmers Tagebuch 795 


aber durch ihren Einfluß, der ſich in irgend einer Weiſe faft auf alle Gebiete er- 
ſtreckt, ſorgen fie ſchon vor den Wahlen für ‚gute‘ Geſinnung, und viele von denen, 
die eine andere haben, wagen nicht, ſie zu betätigen, weil der Landrat und der 
Großgrundbeſitzer fie pieſacken können. Wie die Dinge liegen, find die Landräte 
die Säulen der konſervativen Herrſchaft. Ein miniſterialer Simſon könnte fie 
umwerfen, aber man wird fih felber helfen müſſen. Denn einen Puck gibt es 
nur im ‚Sommernadtstraum‘, und der febr reale Herr v. Moltke plant eine Ber- 
waltungsform, die den Einfluß des Landrats vermehren ſoll! 

Daß die Junker die Beherrſcher Preußens und damit auch Deutſchlands 
find, ijt ein Zuſtand, der auch dann befeitigt werden müßte, wenn fie einiger- 
maßen mit der Zeit fortgeſchritten wären. Was aber dieſe Frage ſo beſonders 
dringend macht, ift die Tatſache, daß diefe Leute, wenn es auch unter ihnen refpet- 
table Ausnahmen gibt, im ganzen auch heute noch auf dem Standpunkte des Polte 
v. Gerlach ſtehen. Daß ſie ſich ihre Macht bewahren wollen, kann man ihnen nicht 
verübeln; das liegt nun einmal in der menſchlichen Natur. Aber daß ſie immer 
wieder die alten Mittel anwenden, und daß ſie es nicht einmal bis zu dem Niveau 
der Ariſtokratien weſtlicher Länder gebracht haben, das zeigt, daß das eine un- 
verbeſſerliche Raſſe iſt, gegen die ſich die anderen gemeinſam defendieren müſſen.“ 

Und mehr noch: man müſſe ſie „offendieren“. Vor fünfzig Jahren, in der 
Zeit der neuen Ara, ſei das freilich leichter geweſen als heute: „Die Bauern hatten 
damals noch eine deutliche Erinnerung daran, was ſie zu dulden hatten, als die 
Zunker fie unumſchränkt gouvernierten. Dieſe Erinnerung ift geſchwunden, und 
der Bauer iſt kein Geſchichtsforſcher. Aber iſt es heute ſchwerer als damals, eine 
gemeinſame Phalanx gegen das Junkertum zu bilden, fo muß es doch gelingen, 
wenn man nur den Willen zur Macht hat. 

Man ſieht, es handelt ſich hier um Probleme, um Gegenſätze, die durch 
eine Politik der „mittleren Linie“, wie ſie Bülow verfolgte, zwar vertagt, nicht 
gelöft, nicht aufgehoben werden können. „Bülow ſelbſt“, ſchreibt der Gewährs- 
mann der „Frankf. Ztg.“ an anderer Stelle der felben Artikelſerie („Alt- und Neu- 
Deutſchland“, „hat den Ausdruck gelegentlich gebraucht, und es wird damit das 
Weſentliche ſeiner Politik in der Tat ganz gut gekennzeichnet. Vor allem das 
eine: daß es eine Politikohne eigentliche Ziele war. Ein Staats- 
mann kann ja auf zwei ſehr verſchiedene Arten regieren. Dem einen iſt der erſte 
Geſichtspunkt der, Die Geſchäfte fortzuführen, die Staatsmaſchine in 
Gang zu halten und unerwünſchte Reibungen zu vermeiden. Für ſolche Staats- 
männer ift das Regieren in der Hauptſache Verwalten, und Fürſt Bülow 
war in den erſten ſechs Jahren feiner Kanzlerſchaft (Herbſt 1900 — 00) ein Miniſter 
ganz nach dieſem Schlage. Die andere Gruppe von Regierungsinhabern faßt 
ihre Arbeit vorwiegend als Politik auf. Für ſie iſt das erſte, was ſie leitet, 
der Kreis der beſtimmten Aufgaben, die ſie ſich geſtellt haben, 
und fie ſuchen fih für die Durchführung dieſer Aufgaben die günſtigſten Bedin- 
gungen zu ſchaffen. Es kann kein Zweifel ſein, auf welcher Seite die eigentlich 
ſchöpferiſchen Staatsmänner zu finden ſind. Es iſt auch ohne weiteres klar, daß 
ein Miniſter der zweiten Gruppe niemals die Politik der mittleren Linie zu ſeinem 


794 Curmers Tagebuch 


oberſten Regierungsprinzip machen wird. Er hat feine eigene Linie und 
iſt bemüht, auf dieſer Linie — natürlich unter Berückſichtigung der Grenzen des 
Möglichen — eine Parlamentsmehrheit zu vereinen. Die Politik der mittleren 
Linie dagegen erſetzt die fehlenden eigenen Ziele durch die Anpaffung an 
die im Parlament und an anderen reſpektierlichen Stellen vorherrſchen⸗ 
den Strömungen; denn wenn man mittlere Linie fagt, fo meint man 
die Linie derjenigen, die im Parlament die Macht haben, oder deren Beachtung 
ſich ſonſtwie empfiehlt. Aus den verſchiedenen Mehrheitsmöglichkeiten, die das 
Parlament bietet, wählt man klug diejenige aus, die am meiſten Tragkraft zu 
haben ſcheint. Man kann mit dieſen Mitteln eine Weile ganz achtbar verwalten; 
für ein kraftvoll aufſtrebendes Volk aber, in dem tauſend Probleme der Lö- 
jung harren, ift ſolche Politik doch nur ein Not behelf. Wenn das Reid wirt- 
lich vorwärts kommen ſoll, fo muß an den leitenden Stellen eine ſtarke Int 
tiative vorhanden fein, wie fie nur da gedeihen kann, wo die Regierung mit 
einer Sache, die fie vertritt, verwachſen ift, wo fie mit Leidenſchaft für das 
kämpft, was ſie für das Richtige hält, und nicht einfach kühl rechneriſch die 
Reſultante aus den vielen einander widerſtrebenden Kräften zieht, die ſie in der 
politiſchen Welt wirken ſieht. Es iſt wahr, bis zu dieſer letzten Konſequenz des 
reinen Rechenexempels pflegt die Politik der mittleren Linie nicht getrieben zu 
werden, und ſpeziell Fürſt Bülow hat ſich ſtets auch perſönlich zu dem bekannt, 
was er als Miniſter der mittleren Linie vertrat. Aber man gehe alle Aktionen 
in den erſten ſechs Jahren ſeiner Amtstätigkeit durch, vom Zolltarif und den neuen 
Handelsverträgen bis zur Stengelſchen Finanzreform von 1906, und man wird 
finden, daß der maßgebende Gedanke der Bülowſchen Politik hier ſtets die An- 
ſchmiegung an die bequemſten parlamentariſchen Mehr 
heiten war. Hätte ihm eine andere Parlamentsmehrheit zur Verfügung ge 
ſtanden, ſo wuͤrde er ſicher auf den Namen des agrariſchen Kanzlers ohne Schmerz 
verzichtet haben. 

Es war ja immer fein leifer Kummer, daß die mittlere Linie ihn weiter 
nach rechts führte und ihn reaktionärer erſcheinen ließ, als es feiner vorurteils- 
freien Geſinnung entſprach. Und befonders kränkte es ihn, daß fie mit einer ge 
wiſſen mathematiſchen Notwendigkeit durch das Zentrum führte, und daß er 
infolgedeſſen als ein von den Klerikalen abhängiger und mit ihnen fraterniſierender 
Miniſter galt. Dieſe Stimmung hat bei dem ſchroffen Bruch mit dem Zentrum, 
der im Dezember 1906 erfolgte, ſicher mitgeſpielt; was alles im übrigen bei der 
damaligen Reichstagsauflöſung zuſammenwirkte, das iſt im einzelnen noch nicht 
völlig aufgeklärt und läßt fih nicht auf eine kurze Formel bringen. Nach der Auf- 
löſung und den Neuwahlen zu Beginn des Jahres 1907 war es klar, daß Bülow 
bei feiner weiteren Amtstätigkeit auf die Unterſtützung des Zentrums nicht mehr 
würde rechnen können. Aus dieſer einfachen Tatſache ergab fih von ſelbſt der 
Block. Da der Kanzler im Zentrum und in der Sozialdemokratie eine ſichere 
Oppoſition hatte, ſo blieb ihm nur übrig, ſich auf eine aus den Konſervativen 
und der bürgerlichen Linken gebildete Mehrheit zu ſtützen. Die Möglichkeit der 
Benutzung wechſelnder Mehrheiten war geſchwunden, weil dazu unbedingt das 


Türmers Tagebuch 795 


Zentrum gehört hätte; Fürſt Bülow mußte fih daher eine feſte Mehrheit ſuchen 
und durch eine Art Regierungsprogramm an ſich zu feſſeln trachten. Der Gedanke 
der konfervativ-liberalen Paarung war alfo die notwendige 
Konſequenz der Auflöſung vom Dezember 1906 mit ihrer 
gegen das Zentrum gerichteten Spitze. 

In dieſer Entwicklung allein lag ſchon eine gewiſſe Stärkung des Par- 
la ments. Da der Kanzler fih auf eine beſtimmte Parteikonſtellation verpflichtet 
hatte, ſo konnte dieſe Gruppierung und es konnten die einzelnen an ihr beteiligten 
Glieder mit dem Kanzler als Macht zu Macht verhandeln, ihre Wünſche nach- 
drüdlicher als früher zur Geltung bringen und ihre Bedingungen ſtellen. Wenn 
die hierdurch herbeigeführte Kräftigung des Reichstags nicht deutlicher ſichtbar 
geworden iſt, ſo liegt das hauptſächlich daran, daß der Block nie gut funktioniert 
hat. Es hat immer unendlicher Mühen bedurft, den Block überhaupt gufammen- 
zuhalten; ein fo wenig konſolidiertes Gebilde konnte unmöglich zum rechten Ge- 
brauch feiner Kräfte gelangen. Trotzdem läßt ſich nicht verkennen, daß das Ber- 
hältnis zwiſchen Regierung und Parlamentsmehrheit nach den Wahlen von 1907 
anders als vorher war. Die Regierung ſtand zwar noch immer außerhalb der Par- 
teien, aber nicht mehr im gleichen Sinne wie früher über 
ihnen; fie konnte fih nicht mehr darauf beſchränken, einfach von Fall zu Fall 
eine Mehrheit für die von ihr vertretene Politik zu ſuchen, ſondern ſie mußte ihrer 
Geſamtpolitik gewiſſe leitende Geſichtspunkte zugrunde legen, die von den Block- 
parteien akzeptiert wurden. Das war prinzipiell immerhin ein Fort- 
ſchritt, ein kleiner Schritt zur Emanzipierung des Parlaments, und ſchon des- 
halb war der Block für die Linke nicht ohne Wert. Er hatte für ſie einen weiteren 
Vorteil, der ſich aus der Situation der Parteien ergab. Da die Konſervativen zur 
Zeit der Entſtehung des Blocks im weſentlichen ſaturiert waren, während es auf 
der Linken nur Wünſche und keine Erfüllungen gab, fo mußten bei einer fonfer- 
vativ-liberalen Koalition die Konſervativen in höherem Maße als die anderen 
Blockteilnehmer die Gebenden fein. Es war in den Stärkeverhältniſſen und der 
Konſtitution der beteiligten Parteien begründet, daß die Gaben der Rechten nicht 
gerade weltbedeutend ſein würden, aber eine gewiſſe Milderung der Einſeitigkeiten 
des agrarkonſervativen Regiments, eine leiſe Neigung nach links lag doch in der 
Natur der Sache, und auch aus dieſem Grunde konnte fih die Linke dem Block- 
experiment nicht von vornherein verſagen. 

Immerhin war es kein leichter Entſchluß, in den Block hineinzugehen, wenn 
auch nur mit den Vorbehalten, die die Linke ſtets an ihre Mitwirkung geknüpft 
hat. Denn in der natürlichen Linie der Entwicklung lag der Kampf der Linken 
gegen die Rechte, nicht aber diefe ſeltſame konſervativ- liberale Koalition. Der Block 
hatte aus dieſem Grunde etwas Gewaltſames an ſich, und eben deshalb mußten die 
zentrifugalen Kräfte in ihm ſtark ſein. Ein gewiſſer Block zwang lag ja nur 
für die Regierung vor: Fürſt Bülow mußte allerdings nach den Wahlen 
von 1907 mit dem Block ſtehen und fallen, die Parteien aber waren nicht an ihn 
gebunden, für fie gab es andere Möglichkeiten der Mehrheitsbildung. Unter ſolchen 
Umſtänden konnte der Block nur als ein Produkt der Not gelten 


796 Fürmers Tagebuch 


gelaſſen werden. Die Vorausſetzung für das zeitweilige Gelingen dieſes ſchwierigen 
Experiments lag darin, daß die Blockkonſtellation der zerriſſenen und geſchwächten 
Linken einen über ihre Fraktionsziffern hinausgehenden Einfluß verlieh und daß 
auf der andern Seite die Konſervativen Wert darauf legen mußten, einen im 
ganzen ihnen fo nützlichen Kanzler wie Bülow im Amt zu erhalten; beide Par- 
teien hatten alfo Grund, einen Verſuch mit dem Block zu machen. Selbſtverſtänd⸗ 
lich mußten dann aber auch die Konſervativen der Linken das Maß von Entgegen- 
kommen beweiſen, ohne das die Linke kein Intereſſe am Block haben konnte. Es 
war nun die ſchwächſte Seite des Blocks, daß die Bereitwilligkeit der Konſervativen 
zu ſolchem Entgegenkommen von Anfang an ſehr gering war und daß die Rechte 
vor allem den ganzen ungeheuren Bereich der Wirtſchaftspolitik und ebenſo die 
geſamte Politik in Preußen von der Blockpolitik vollkommen ausſchließen wollte. 
Eine Parteigruppierung, die ſo die brennendſten Fragen der Gegen- 
wartspolitik ausſchaltete, konnte nur von ſehr eingeſchränkter Se- 
deutung fein. Es fehlte den koalierten Parteien die ge meinſame politiſche 
8 dee, die fie innerlich einander hätte nähern können. An die Stelle einer ſolchen 
Idee trat die mittlere Linie zwiſchen Konſervativen und Liberalen, alſo wieder ein 
mechaniſches Richtungsprinzip, dem die Kraft der Sammlung 
fehlte, wie fie einer Politik eigen ift, die ihre Richtung nicht aus der bloßen Aus- 
gleichung von Gegenſätzen, ſondern aus feſten Zielen empfängt. 

Bei der Finanzreform zeigte ſich bald, auf wie ſchwachen Füßen der Block 
ſtand; es zeigte ſich aber auch, daß es nicht die Parteien der Linken, ſondern die 
Konſervativen waren, die der Blockpolitik die notwendigſte Rückſichtnahme ver- 
ſagten und ſie bei der erſten Gelegenheit elend zuſammenbrechen ließen. Die 
Finanzreformentwürfe der Regierung waren im großen und ganzen nach alten 
agrariſchen Rezepten gearbeitet. Sie waren im einzelnen gediegener als die üb- 
lichen agrariſch: gouvernementalen Steuerleiſtungen, vor allem als die unerhoͤrten 
Momentproduktionen, die ſpäter der ſchwarz- blaue Block vollbrachte, aber anti- 
agrariſch waren ſie nicht. Nur in einem einzigen Punkte wurden ſie den Agrariern 
überhaupt unbequem, in dem Nachlaßſteuerprojekt, aber ſelbſt dieſe Steuer war 
nicht eigentlich antiagrariſch, fo wenig fie ſpezifiſch ‚liberal‘ iſt. Der durch fie ver- 
körperte Gedanke einer allgemeinen Beſitzbelaſtung entſprach lediglich einer 
Forderung primitivfter ſteuerlicher Gerechtigkeit, deren 
Anerkennung durch alle Parteien ſelbſtverſtändlich ſein müßte. Nur 
eine Rafte, die fo ſteuerſcheu ift wie das preußiſche Funkertum, konnte an einer der- 
artigen Beſitzſteuer Anſtoß nehmen, und nur durch die ſchmachvolle H intanſetzung 
der allgemeinen landwirtſchaftlichen Intereſſen hinter denen der Großgrundbeſitzer 
wurde es möglich, den blindwütigen Kampf gegen das einzige ſozialpolitiſch erfreu- 
liche Glied des Regierungsplanes zu organiſieren. Die Linke war bereit, unter der 
Vorausſetzung einer hinreichenden Ausgeſtaltung der Beſitzbelaſtung auch an der 
Bewilligung der notwendigen indirekten Abgaben mitzuarbeiten, wenn nur dieſe 
Abgaben eine einigermaßen erträgliche Form erhielten und insbeſondere bei der 
Reform der Branntweinſteuer die einſeitige Privilegierung einer beſtimmten Gruppe 
landwirtſchaftlicher Brenner befeitigt würde. In der Beſchränkung auf diefe For- 


Zürmers Tagebuch 797 


derungen lag ein Maß von Selbſtentſagung, das noch vor wenigen Jahren für 
unmöglich gehalten worden wäre und das in der Tat nur durch die Rückſicht auf 
die ſchwere Notlage des Reichs gerechtfertigt werden konnte. Hätten die Ron- 
ſervativen auch nur einen ſchwachen Reſt von Nobleſſe fih bewahrt, fo wäre eine 
Verſtändigung mit den Liberalen möglich geweſen. Aber die Blockpolitik hatte ſich 
hier, notgedrungen, auf ein Gebiet begeben, das fie nach dem Willen der Ronfer- 
vativen nicht betreten durfte. Die agrariſche Wirtſchaftspolitik mußte ſakroſankt 
ſein; in dem Augenblick, wo die neue Situation daran zu tippen drohte, ließen 
die Konſervativen Block und Bülow mit der größten Kaltblütigkeit fallen. Die 
Entwicklung des Fürſten Bülow war ihnen ſo wie ſo unheimlich geworden. Dieſer 
Mann wollte das preußiſche Wahlrecht reformieren und die Finanz- 
reform nicht gegen die Liberalen machen; das ſah ja beinah nach Umſturz aus! 
Ein Kanzler, der ſo an die heiligſten Güter junkerlicher Staatsauffaſſung rührt, 
iſt wert, daß er zugrunde geht. So brauchte das Zentrum nur im rechten 
Moment die Hand auszuſtrecken, und die feudal- klerikale Koalition zum Sturz 
des Fürſten Bülow und zur Verabſchiedung der jämmerlichſten aller Steuer- 
reformen war fertig. 

Seine Tendenz verſtärkter Rückſichtnahme auf das Parlament hat der Block 
auch in der Finanzaktion erkennen laſſen. Die Nachlaßſteuervorlage war ungweifel- 
haft dieſer Tendenz entſprungen. Das unbedingte Eintreten des Kanzlers für den 
Gedanken der allgemeinen Beſitzſteuer, von deren Bewilligung Bülow fein Ber- 
bleiben im Amt abhängig machte, widerſprach ebenfalls den Ufancen des alten 
Regimes. Und die Demiſſion ſelbſt ſchließlich war ein regelrechter Bruch 
mit dieſen Ufancen. Nach althergebrachter preußiſcher Beamtentradition 
hat ein Miniſter niemals vor dem Parlament zu weichen, auch dann nicht, wenn 
ſeine Vorlagen abgelehnt und ihm klare Mißtrauensvoten erteilt werden. Fürſt 
Bülow war der er fte, der diefe vermoderte Tradition offen aufgab. Er ift als 
konſtitutioneller Miniſter gegangen, als der rechte Flügel der 
Reichstagsmehrheit, auf die er angewieſen war, ihn im Stich gelaſſen hatte, und er 
hat es verſchmäht, dieſen Tatbeſtand im Sinne miniſterieller Handlangertheorie zu 
verdunkeln. Auch in dieſer Beziehung hatte er das Syſtem der ‚Regierung über 
den Parteien“ überwunden 

In dieſer Beleuchtung erſcheint auch die Blockepiſode als ein Glied in der 
Entwicklung, vom Alten zum Neuen. Und in dieſem Sinne, meine ich, wird ſie 
auch von der Geſchichte gewürdigt werden. An ſich von untergeordneter und 
vorübergehender Bedeutung, iſt der Block dann doch ein Durchgangs und Über- 
gangsſtadium zu konſtitutionellen Zuſtänden geweſen, wie ſie in anderen Staaten 
längſt die herrſchenden ſind und auch bei uns trotz allen Sträubens der einen oder 
anderen Seite die herrſchenden werden müſſen. Ein intereſſantes Schaufpiel, 
wie Bülow bei feiner Politik der „mittleren Linie“ doch di e Linie gehen mußte, 
die nicht er ſelbſt ſich, die das Geſetz der Entwicklung ihm vorgezeichnet hatte. 
Was die Zeit gereift hat, was in tauſendfältigem Samen aufgegangen iſt, kann 
keine Menſchenhand ausroden. Wie febr fie ſelbſt durch ihr unbegreiflich kurzfich- 
tiges und engherziges Gebahren diefe Zeitenreife beſchleunigt haben, davon frei- 


798 Zürmers Tagebuch 


lich ſcheint den 5 Stürzern des „agrariſchen Reichskanzlers noch keine 
Ahnung zu dämmern. 
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PNE 

Wahrlich, ein Bergniigen ift es nicht, dieſen häuslichen Streitigkeiten im 
Reichsftübchen beizuwohnen, Streitigkeiten, die in einem Volke von der Rultur- 
höhe des deutſchen längſt keine mehr ſein dürften und in Wirklichkeit ja auch nur 
noch Wunderlichkeiten, „Kulturkurioſa“ find, barocke Schnörkel an der Faſſade eines 
modernen Gebäudes. Da tagte neulich in der Reichshauptſtadt die Hauptver- 
ſammlung des Vereins zur Erhaltung des Deutſchtums im Auslande (Deutſcher 
Schulverein). „Wie anders wirkt dies Zeichen auf mich ein!“ Du Geiſt des neuen 
und doch uralten, tatfrohen und weltweiten Deutſchtums biſt mir näher! Dieſen 
meerfriſchen Geiſt möchte ich auch die Türmerleſer ſchlürfen laſſen und kann das 
nicht beſſer, als durch die großzügige Rede — hier paßt wirklich einmal das Wort — 
des Profeſſors Lamprecht. In erfreulichem Fortſchreiten ſei der Gedanke der 
deutſchen Gemeinbürgſchaft, nicht zuletzt in Nordamerika. Die deutſchen Nord- 
amerikaner ſeien heute eine politiſche Macht in ihrem Lande, ſie revoltierten nicht 
bloß, wenn das Bier um einige Pfennig teurer werden ſoll, ſondern reagierten 
auf alle Fragen, die ſpeziell deutſch ſind. „Wenn ich hier von Politik rede,“ fuhr 
der Redner fort, „jo meine ich natürlich politiſche Hiſtorie, Dinge, die im geſchicht 
lichen Zuſammenhang niemals ausgeſchieden werden können; denn geſchichtliches 
Leben iſt eines, und wir würden uns eines der größten Schätze unſeres Daſeins 
berauben, wenn wir hier nicht von dem Gemeinſchaftsgefühl, ſoweit es durch ſtaat⸗ 
liche Politik zum Ausdruck kommt, reden wollten. Da haben wir alſo in Amerika 
eine Höhe in der Entwicklung des Auslandsdeutſchtums, die ſonſt noch nirgends 
erreicht worden iſt. Nun iſt es ſelbſtverſtändlich, daß dieſe Entwicklung wie die Ent- 
wicklung der Auslanddeutſchen überhaupt auf uns in der Heimat zurückwirkt. Sie 
dürfen nicht denken, daß wir heute in Deutſchland nicht ſchon unter dem ſtillen 
Einfluß dieſer Rückwirkung der Auslanddeutſchen und ihren Anſchauungen ſtehen. 
Wir kommen hier zu einem außerordentlich intereſſanten Kapitel, das in den nächſten 
Jahrzehnten mit Sicherheit — das kann der Kulturhiſtoriker mit voller Beſtimmtheit 
prophezeien — für uns von großer Bedeutung ſein wird. Sie 
müſſen bedenken, der Oeutſche im Ausland bleibt nicht der, der er daheim geweſen 
ift, er kommt in ganz andere Verhältniſſe hinein. Nehmen wir die gewöhnlichſte 
Form der Auswanderung, die ja noch vielfach mit Rolonifation Hand in Hand geht, 
nehmen wir die Exiſtenz eines Farmers in Amerika, eine Exiſtenz, die wir vielen 
unſerer jüngeren Leute wenigſtens einmal auf einige Zeit wünſchen möchten — 
denn ſie macht frei, groß und edeldenkend — nehmen wir dieſe Exiſtenz, ſo bedeutet 
fie für den, der fie führt, Abſtraktion von allem, was der liebe 
Nachbar tut, Abſtraktion von Zeitungen jeden Morgen, Mittag, Abend, 
Wegfall alles gemeinſamen geiſtigen Leſefutters, Reduktion auf die 
großen Linien der Menſchheit im Oenken, im Fühlen, im Empfin⸗ 
den. Sie bedeutet dabei dann freilich auch bis auf einen gewiſſen Grad Verzicht 
auf das, was Kultur ift, und, wenn Sie wollen, Rückfall in mancher Beziehung in 
das primitivere Fühlen früherer Zeitalter, das aber deshalb nicht ſchlechter zu fein 


Sürmers Tagebuch 799 


braucht als das Fühlen unſeres Zeitalters. Eine neue Welt geht da auf, und dieſer 
Kolonialdeutſche ift ein ganz anderer als der Deutfche bei uns. Er muß, wenn er 
nach Hauſe kommt, erſt wieder verheimatlicht werden; und wir machen immer und 
immer wieder die Erfahrung, daß dieſes Verheimatlichen kaum gelingt. Wer ein- 
mal die Freiheiten des Lebens draußen 10 oder 12 oder 15 Jahre genoſſen hat, 
der wird von ihnen nicht wieder abgehen, auch wenn er heimkehrt; und er wird 
ſich hinausſehnen, wenn er ſie nicht voll verwirklichen kann. Kurz, er wird einen 
anderen Typ des Oeutſchtums, eine andere Nuance unferer Nationalität vorſtellen, 
als wir fie kennen. Se ſtärker unſere Beziehungen zu den Auslanddeutſchen wer- 
den — und ſie werden immer ſtärker werden, denn alle großen Beziehungen in der 
Welt nehmen bei der ungeheuren Umwälzung unſerer Transportmittel zu — um 
ſo mehr wird dieſes Auslanddeutſchtum auf uns wirken, und zwar — das darf 
man wohl fagen — veredelnd, befruchtend, befreiend; denn die kleinen Dinge des 
Tages, die draußen ebenſo vorhanden ſind wie bei uns, machen den Weg nicht über 
den Ozean. Gegen die gewöhnlichen Morgenverſtimmungsbazillen iſt der Weg 
von Amerika bis zu uns zu weit; da liegt zu viel Salz und Waſſer dazwiſchen. 
Was herüberkommt, das ſind die großen, die wuchtigen Auffaſſungen des Lebens, 
und wir wiſſen alle, und nicht zum mindeſten die Angehörigen dieſer Stadt hier, 
die ja auch in ihrem Außeren ſo manches Amerikaniſche hat, das ſich auch in gewiſſen 
Unftimmigteiten des Daſeins in Berlin offenbart, daß dieſe Dinge bei uns ſchon 
fo febr gewirkt haben, daß geiſtreiche Franzoſen längſt mit Recht vom ‚s’americaniser’ 
der Deutichen ſprechen. Hier treten alfo Wechſelwirkungen von außerordentlicher 
Bedeutung ein, und eine verſtändig geführte Nation muß es notwendigerweiſe in 
der Hand behalten, diefe Beziehungen zu kontrollieren und zu veredeln, da zu- 
rückzudrängen, wo es notwendig erſcheint, dort fih weiter ausdehnen zu laffen. 
Kurz, hier ſcheint ſich ein ungeheures Feld künftiger Kulturpolitik des Reiches über 
Sabre hinaus zu entwickeln, einer PERN der wir uns niemals werden verfagen 
können, ſelbſt wenn wir wollten. 

Wir ſind viel zu ſehr gewöhnt, mehr als irgend eine andere Nation auf dem 
Erdboden, noch allein mit den alten Mitteln, mit den milit“ 
riſchen, zu rechnen. Anſere Diplomatie iſt z. B. unter dieſer Auffaſſung 
gänzlich veraltet. Sie hat gar nicht mehr die Mittel in der Hand, die in Frage 
kommen, mit denen man heute auf Nationen wirkt, wenigſtens zum Teil nicht. 
Heute kommen Dinge in Betracht, die wir unter dem Wort , Kulturpolitik 
zuſammenfaſſen müſſen, leiſe einwirkend da und dort: Wahrung von kultureller 
Superiorität; kondeſzendente Anerkennung des Fremden; im Hintergrunde fdim- 
mernd, was unzweifelhaft kommen wird, ein allgemeines Kulturideal mindeſtens 
der europdiſchen Menſchheit. Das alles miiffen wir in unſere Rechnung einſtellen. 
Was haben wir die Friedenskongreſſe verlacht! Ganz gegen unſere Intereſſen. 
Solche Dinge macht man nicht dadurch tot, daß man darüber lacht, ſondern dadurch, 
daß man ſich in vernünftiger Weiſe und unter Geltendmachung ſeiner Intereſſen 
an ihnen beteiligt. Alle dieſe Dinge müſſen anders gefaßt werden, und aus ihnen 
heraus muß fic für uns das neue Ideal einer Kulturpolitik bilden, die wir bisher 
nicht haben. 


800 Türmers Tagebuch 


Nun iſt dieſe Kulturpolitik im Reiche nicht leicht zu entwickeln, aus dem ein- 
fachen Grunde, weil programmäßig und prinzipiell und verfaſſungsmäßig das 
Reich überhaupt keine Kulturpolitik hat. Es ift eine der allermerkwüͤrdigſten Lat- 
fachen, daß das Deutſche Reich in einer Zeit gegründet worden ift, wo gerade in 
der Entwicklung unferer Kultur ein ſehr ſtarkes Manko des Fortſchritts vorhanden 
war, in dem Ausgang einer Periode, die wir heute längſt überlebt haben. Die 
neue Kulturentwicklung, in der wir heute ſtehen, begann in den Oer Jahren. 
In den 70er Jahren, in der Zeit der Butzenſcheibenlyrik, in der Zeit des fran- 
zöſiſchen Feuilletons des zweiten Kaiſerreichs in unſeren Zeitungen uſw. iſt be 
kanntlich das Reich gegründet worden. Infolgedeſſen gibt es in der Reidsver- 
faffung nicht einen einzigen Paragraphen, der ſich mit Kultur in dem hier ge 
meinten, höheren geiſtigen Sinne des Wortes beſchäftigt. Ja, Paragraphen über 
deutſches Wirtſchaftsleben, das ſchon feit den 50er Jahren im Aufſchwung be 
griffen war, genug! Aber nichts über eigentliche höhere Intereſſen. Die ſind den 
Ländern vorbehalten.. .. Unfere ganze Univerjitätspolitit mit allem, was drum 
und dran hängt, unſere ganze Politik der oberen Unterrichtsverwaltung, in der 
wir gegen früher und gegenüber andern Ländern ſehr zurückgegangen ſind, krankt 
daran, daß die Mittel an zu vielen Stellen und infolgedeſſen mit zu geringen 
Effekten ausgegeben werden. In allen den Dingen müſſen wir vorwärts, wir 
müſſen eine Reichskulturpolitik im Innern bekommen. Daß die nicht anders ſein 
kann als national, iſt ſelbſtverſtändlich. 

In dieſem Zuſammenhang laffen Sie mich nun zwei Worte über Ofterreid 
fagen, denn als Hiſtoriker ſehe ich Oſterreich ſelbſtverſtändlich als eine Deut 
ſche Macht an und kenneden Unterſchied zwiſchen Reich und 
Oſterreich mit Kückſicht auf die allgemeinen Intereſſen des Deutſchtums 
überhaupt nicht. Das alte Sſterreich, an Ehren und an Siegen reich, an 
Ehren und an Siegen reich auch vielleicht in der Zukunft, dieſes alte Ofterreid 
hat eine deutſche Kultur und keine andere; und dementſprechend 
waren in dem alten Sſterreich und find teilweiſe noch heute die Kulturintereſſen 
als öffentliche Angelegenheit des Geſamtſtaats ſtärker entwickelt als im Reich. 
Oſterreich hatte fortwährend die Aufgabe, den niederen Nationen ſeine deutſche 
Kultur zu imprägnieren und einzuokulieren, den Tſchechen z. B. und Madjaren. 
Indem das geſchah, waren und ſind denn auch die Mittel dazu vorhanden. Ver 
von Ihnen einmal die Reife machen wird, ich will einmal fagen von Griechen 
land, an der dalmatiſchen Küſte hin, etwa von Korfu mit ſeiner ſchönen Landſchaft 
und ſeiner verwahrloſten Bevölkerung und der Abweſenheit deſſen, was man 
Verwaltung nennt, einſchließlich der Poſt, wenn Sie von dort weitergehen nach 
der Türkei, nach Balona etwa und nach Durazzo und dann an die erſte öſterreichiſche 
Station kommen, nach Cattaro, dan nwerden Siewiſſen, was deutſche 
Kultur iſt. Schon in Cattaro ſieht es ähnlich aus wie im deutſchen Norden, 
meinetwegen in Teplitz. Oder wenn Sie auch nur von der italieniſchen über die 
deutſche Grenze nach Oſterreich kommen, dann werden Sie wiſſen, was deutſche 
Kultur in Sſterreich iſt. N 

3d bin davon überzeugt, und hier ſehe ich den inneren "209 


Zürmers Tagebuch 801 


mit unſeren älteren inneren und äußeren Verhältniſſen, daß unfere innere Rultur- 
politik gar nicht beſſer entwickelt werden kann, als in ihren Beziehungen 
zu den Auslanddeutſchen, und in gewiſſem Sinne überhaupt zum Aus- 
land. Der Deutſche iſt nicht von der Art — das wiſſen wir alle —, daß er ſich be- 
ſonders einig fühlt, wenn er unter fih ift. Aber nach außen hin, wenn er da ein- 
mal auf den großen Zehen getreten wird, dann geht die Einheit des Bluts vom 
Zehen bis in den Kopf, dann find alle einig.... Es ift doch heut' im allgemeinen 
ſo weit, daß, wenn ein Deutſcher im Ausland in Not gerät und ein anderer in der 
Nähe iſt, dieſer ihm hilft. Das war vor zwanzig Jahren noch nicht fo. Ich er- 
innere mich einer Szene an der Riviera, wo ein Deutſcher in Not kam — es war 
ein Frankfurter Zude — und ein anderer Oeutſcher dabei war, den ich auf einen 
oſtelbiſchen Junter tarierte, und da ging es wie in der Bibel mit dem Leviten 
— der Levit, glaube ich, war es —: er zog vorüber. Das ift heute nicht mehr in 
dem Grade der Fall. Wir ſind nach außen uniformer geworden. Man hat uns 
zufammengepreßt. Wir kriegen eine internationale Marke. Und das ift ein Segen. 
Von dieſem Podium aus werden wir auch unſere Auslandpolitik ober richtiger 
Auslanddeutſchen-Politik betreiben müſſen. 

| Da ſtehen natürlich im Vordergrund zunächſt die wirtſchaftlichen Vorgänge. 
Aber ich bitte, ſie nicht zu überſchätzen. Nach dem Ausland wirkt dauernd nur das, 
was in feinem und feſtem Gefäße in dies Ausland hinaustransportiert werden 
kann. Und das find nur die höchſten und allgemeinſten weltgeſchichtlichen Dinge. 
Nicht die indiſche Volkswirtſchaft lebt bei uns fort, wohl aber das indiſche Märchen, 
übertragen durch das Gedächtnis von fo und fo vielen hundert Generationen, die 
es feſtgehalten haben. Nicht die Wirtſchaftsbeziehungen ſind die großen in der 
Welt oder gar die größeſten, die größeſten ſind die Beziehungen der Weltreligionen, 
denn der Gedanke iſt es, der, mag er nun im Gedächtnis aufbewahrt ſein oder 
in die Form der Poeſie oder Muſik gegoſſen oder meinetwegen auch in die Form 
der Schrift geborgen ſein, alles überwindet, mehr überwindet als der Kupferdraht 
des Telegraphen oder des Telephons: der ſchlechthin durchſchlägt. Sie können 
fih das wohl vergegenwärtigen und haben wohl auch dabei ein eminent hiſtoriſches 
Gefühl, wenn Sie einmal im Theater ein Stück von Sophokles ſehen, die Anti- 
gone oder etwas ähnliches, und Sie gehen erſchüttert von dannen und ſagen ſich: 
wo iſt der Staub des Schöpfers von dieſem Großen allen? an den ſchönen Stätten 
ſeiner Heimat, auf dem herrlichen Kolonos, den er ſo wunderbar beſungen hat, 
an dem Orte feines Begräbniffes, ift er nicht mehr zu finden; aber was er wunder- 
bar gedacht hat, das lebt bei uns. ÜUberſchätzen wir alfo die wirtſchaftlichen Dinge 
nicht, fo wichtig fie find. ... 

Es ift ja gewiß ſchön mit der Kulturpolitik, und wir müſſen fie ſicherlich viel 
mehr treiben als bisher, aber ohne eine dahinterſtehende Machtpolitik ift Kultur- 
politik trotz allem ſchwer. Es iſt nicht ſo, daß das eine das andere ablöſen ſollte, 
ſondern in der Kulturpolitik ſoll die Machtpolitik kulminieren. Und hier haben 
wir nun ... den außerordentlichen Vorteil einer jetzt mindeſtens ein Sabrtaufend 
alten einfachen und klaren Tradition. Es iſt nicht ſo, daß das alte Reich 
durch das neue erledigt worden wäre, ſondern vielmehr je länger das 

Ser Türmer XI, 12 51 


802: | Farmers Tagebuch 


neue Reich exiſtiert, um fo mehr erweiſt es fih als ein würdiger Fortſetzer der 
großen Tradition des alten. Es ift nicht fo, daß unſere alten Kaiſer für uns definitiv 
geſtorben wären oder daß ſie bloß als Glasbilder einer längſt vergangenen Zeit 
mit ihren ſchönen inkruſtierten Farben wie durch einen bloßen Schattenwurf auf 
uns hinunterwirkten; lebendig vielmehr in ihrer Politik leben ſie noch heute fort. 
Das alte Reich war eine Schöpfung weiſeſter Staatskunſt. Das alte Reich in 
ſeinen großen Zeiten beſtand aus Mitteleuropa, es beſtand aus dem, was wir heute 
Deutſchland nennen, ſoweit es damals vorhanden war, bis zur Elbe, es beſtand 
aus Burgund, aus Öfterreich, aus Italien, es hatte Riegel rechts und links der 
Alpen, es verſchloß öſtlich der Alpen den damals unzivliſierten Völkern — wo- 
mit ich nicht gejagt haben will, daß fie heute ziviliſiert find — den Zugang zu Ztalien, 
und ſie verſchloß links den Franzoſen den Weg nach Genua und Florenz, und es 
faßte mit richtigem Inſtinkt das Papſttum als ein gewiſſes Zentrum mehr fid- 
lichen Denkens in ſeine Grenzen. Das war die Konſtruktion, wie ſie die großen 
Kaiſer des 11. Jahrhunderts geſchaffen haben. Dieſes Reich hatte zwei große 
Vorteile. Erſtens war es ſo unförmig, daß es niemand angreifen konnte, und 
zweitens war es in feinen guten Tagen fo ſtark, daß es, wenn man es einmal an- 
griff, jeden über den Haufen rannte. Vollkommen, was Mitteleuropa braucht: 
Friede und Macht. 

Sch brauche Ihnen nicht erft zu fagen, was das neue Reich bedeutet. Wer 
die Entwicklungsetappen des Reiches richtig verfolgt, der weiß, daß der Abſchluß 
gar nicht 1870 gelegen hat, ſondern nach 1870. 1870, das iſt die große populäre 
Tat, das iſt das Symbol, das iſt die Zeit, wo das Blut von ſo vielen unſerer Freunde 
und Brüder floß. 1878, der Abſchluß des Oreibundes, das ijt das Entſcheidende; 
denn gehen wir zurück in die Zeiten, in denen große Staatsmänner, wie Stein, 
verſucht haben, den allmählich morſch gewordenen Bau des alten Reiches — er 
hat immerhin 700 Jahre vorgehalten — durch einen entſprechenden beſſeren zu 
erſetzen, ſo treffen wir eben auf die Konſtruktion nach 1878, alſo auf die modernſte 
Form. Was Stein wollte, war ein Reid) wie das unfrige, daneben Sſterreich, 
beide mit einer gemeinſamen Diplomatie, mit einer gemeinſamen auswärtigen 
Politik. Das war ungefähr 1809. Und heute? Heute find wir noch nicht ganz 
jo weit. Ich meine nicht, daß der Oreibund fo bald in die Brüche gehen könnte. 
Die Sympathien der Italiener haben wir nicht. Aber im Ernſtfall wird fih das 
Volk Macchiavells ja doch wohl überlegen, wo der Vorteil zu finden ſein möchte. 
So viel aber iſt klar: wir haben die alte Kombination; und ſie hat den Frieden in 
Europa ſchon von neuem ſo lange geſichert. Wir konnten dabei nicht erwarten, daß 
die ſeit dem 15. Jahrhundert vorgreifenden weſtlichen und öſtlichen Nationen, die 
ſeit dem Dreißigjährigen Kriege Zentraleuropa überrannt hatten, erſt militäriſch, 
nachher moraliſch, bis unſere Prinzeſſinnen, man weiß, in welcher Weife, die ftan- 
digen Gemahlinnen von ruſſiſchen Großfürſten wurden, ſich ſo einfach in die neue 
Lage fügen würden. Das Geſicht Europas iſt ja total verändert. Es iſt ſeit einem 
gahrhundert genau in fein Gegenteil gekehrt worden. Wo vorher Prominenzen 
waren, im Often und Weſten, in der Führerſchaft Frankreichs und Englands einer- 
ſeits, Rußlands andererſeits, ſind heute zum Teil Tiefen, und wo Tiefen waren, 


Sarmers Tagebuch | 803 


im Zentrum, find heute Brominenzen. Aber das, was auf diefe Weile entſtanden 
ift, das ift doch ein wohlbegründetes Altes, es wiederholt die politiſche Dafeins- 
form und Geltung des alten Reiches in ſeiner guten Zeit, und es beruht auf der 
inneren Sympathie der deutſchen Stämme, und zwar nicht bloß der im 
Reiche, auchder Sſterreicher. In den Momenten der Gefahr im vorigen 
Sommer und im Herbſt hat fih das gezeigt. Wer hat denn da dem Preibund in 
Oſterreich und in Mitteleuropa widerſprochen, wer ihn nicht als deckenden Schutz 
gegen Angriffe von Oſt und Weſt empfunden? Niemand. Oder doch nur die 
Tſchechen allein. Die aber gehören nicht zu uns. Die ſitzen leider in den Breiten, 
wo das Deutfche Reich feine fo ſehr enge Taille hat, zwiſchen Eger und Lurem- 
burg. Nun, man wird verſuchen müſſen, fie etwas nach Often abzuſchieben. Oſter⸗ 
reich bekommt ja jetzt fo ſchöne neue Länder da unten. Warum ſollen fie nicht 
dahin gehen? Da find bloß die Serben. Wenn die CTſchechen dazwiſchen kommen, 
dann vertragen fie fih gewiß nicht, dann ift diefe Sache auch in Ordnung. 

In der inneren Politik wird es ſich weſentlich um die Fragen ſtärkerer Ber- 
heimatlichung unſeres Bodens handeln, um die letzte Koloniſation, namentlich in 
Öfterreich, aber auch bei uns in den Marſchen, um die ſtärkere Durchdringung 
unſeres Bodens mit Kapital. Alles Dinge, die das alte Reich in ſeiner Weiſe längſt 
zu löſen begonnen hatte. Nach außen hin aber müſſen wir uns daran gewöhnen, 
die alte Tatſache zu beachten, daß der deutſche Koloniſations- 
taat nicht Preußen und nicht das Reich, ſondern immer 
Oſterreich geweſen iſt. Daher hat es feinen Namen: Oftarichi, das Reich 
im Often. Sehen Sie nur auf die große Zeit Öfterreihs im 17. Jahrhundert 
zurück, als es Europa vor den Türken beſchützt hat, und auf das, was dem folgte, — 
und bei jedem Laut, den Ihnen in Trieſt, in der Herzegowina oder in Bosnien 
ein deutſcher Schaffner zuruft, der Zhnen die Coupétür öffnet und jagt: der Zug 
hat fo und fo viel Verſpätung, da werden Sie ſehen, Sie find da eigentlich 
zu Haus. . . .“ 

Wer möchte bei ſolchen Fernblicken und Aufgaben nicht mit Fauſt rufen: 
„Schon fühl’ ich meine Kräfte höher, ſchon glüh' ich wie von neuem Wein!“ Un- 
vergeſſen fet aber in dieſem Zuſammenhange auch, was Prinz Ludwig von Bayern 
kürzlich über die geiſtige Zuſammengehörigkeit aller deutſchen Stämme ſagte, die 
ihre Grenze nicht an den Reichsgrenzen finde. Gern würden wir manche Rede 
für ein ſolches Wort aus deutſchem Fürſtenmunde hingeben. 


uud 


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| 


Detlev von Lilieneron + 


Lie wertvollſte Kraft der deutſchen Literatur Moderne it mit Detlev 
YJ W von Liliencron dahingegangen. Er ift einer der wenigen, denen in 
J ihrem beſten Schaffen das Auf und Ab unſeres von Moden hin und 
ad, $ her gezerrten Literaturlebens nichts wird anhaben können. Anderer- 
jeit wird die höchſte Auffaſſung vom Didter- und Künſtlertum bei der Wertung 
Lilienerons doch auf manche Seiten aufmerkſam machen müſſen, die es nicht 
erlauben, den in der erſten Stunde des Verluſtes begreiflichen Aberſchwang der 
meiſten Nekrologe mitzumachen. So wird der Türmer, deſſen Ehrgeiz ja nicht in 
der „Fixigkeit“ liegen kann, nach ſorgſamer nochmaliger Prüfung des Geſamtſchaf⸗ 
fens des Dichters im nächſten Heft ſeine Würdigung geben. Für heute teilen wir 
an dieſer Stelle in deutſcher Übertragung die Gründe mit, aus denen die philo- 
ſophiſche Fakultät der Kieler Univerſität Lilieneron noch kurz vor ſeinem Tode mit 
der Verleihung des Doktortitels ehrte. In knappen Worten iſt hier das Beſte in 
Liliencrons Schaffen charakteriſtiſch zum Ausdruck gebracht. „Die Fakultät ver- 
leiht ihre höchſten Würden dem Baron Detlev v. Liliencron als dem Mann und 
Dichter, der, in der Muſenſtadt Kiel geboren, feine ſchleswig-holſteiniſche Heimat 
mit heißem Herzen und pietätvoller Verehrung geliebt hat; dem, als er, ein Soldat 
im königlichen Dienſt, fein Leben mit der Waffe in der Hand im öſterreichiſchen 
wie im franzöſiſchen Kriege einſetzte und ehrenvolle Wunden davontrug, Bellona 
zur intereſſant fabulierenden Muſe geworden iſt; der die im Kriege ſeltene und 
wertvolle Fähigkeit, in dringender Gefahr ſcharfen Blicks das jeweilig Notwendige 
zu erkennen und auszuführen, die Fähigkeit ſchnellſten Erfaſſens, auch auf dem 
Gebiet der Dichtung, offenbart hat; der fremdartige Dinge im Nu in ſich aufnahm, 
ſozuſagen verſchluckte, mit dem Safte der Dichtung durchtränkte und, Natur in 
Kunſt wandelnd, im Feuer feiner Phantaſie läuterte; der die ‚heilige Oreieinigkeit' 
der Verſe und die Strophenform der Stanze, alle Gefäße mit neuem Honig füllend, 
ſeiner Kunſt dienſtbar gemacht hat; der das von Homer, dem Sänger der Taten 
der Götter und Menſchen, ausgegangene Epos nach dem Beiſpiel Byrons im 
Harald, der in der Form des Heldengedichts fein eigenes Leben malte, moderni- 


Die. Gerbermiible 805 


fiert und durch neue Schreibweiſe ausgebaut hat; der Einfiedler von Poggfred 
(Solitarius Poggfredensis), ein Lynkeus im Epos, der alle verborgenen Höhen und 
Tiefen des Menſchenherzens von der Warte der Dichtung aus begriffen hat.“ 


Ve EN ' 
CES cus 


Die Gerbermühle 
2 +) 


GS" Gm Schlußband feiner „Wege nach Weimar“ bemerkt Lienhard einmal von Goethes 
lit G ſpäteren Liebeserlebniſſen, daß bei ihnen „nach den erſten freudigen Erregungen 
3 cchmerzlich-lange Zeiten der Abgewöhnung“ folgten. Er führt dies auf Goethes 
Schönheitsempfänglichkeit grade durch das Auge zurück, die dann in reiferen Jahren mit 
feiner vertieften Erkenntnis von der Vergänglichkeit aller Schönheit auf Erden in Zuſammen⸗ 
ſtoß geraten fei und dann jene ſchmerzlichen Zeiten „der Abgewöhnung“ folgen ließ ... 

In der Tat, eine Stimmung der Wehmut liegt über Goethes ſpäterem Lieben, und es 
iſt nicht nur die liebende Wehmut des alternden Mannes überhaupt, ſondern die vertiefte Liebe 
des Allmenſchen. | 

So liegt auch dieſe Stimmung über jener „Gerbermühle“ bei Frankfurt am Main, 
in der dem fünfundſechzigjährigen Goethe ein kurzes, nur wenige Wochen dauerndes Glück 
mit Marianne von Willemer aufblühte, beiden nachleuchtend bis zum Tod. 

Man kann dieſe Liebe Mariannens zu Goethe die treueſte und „unvermiſchteſte“ nen- 
nen, die ihm zuteil geworden. Schrieb fie doch ſelbſt noch viel fpdter darüber: „Ich danke dem 
Geſchick für dieſen Glanzpunkt meines Oajeins, der, ohne bittere Zugabe, rein und unvermiſcht 
meine ſpäteren Tage zu erheben vermochte. Das ift ein Geſchenk des Himmels weit über mein 
Verdienſt.“ N | 

Alle anderen verliefen entweder im Gand oder löſten ſich nicht ohne jenen feinen Rand 
von Bitterkeit, der den Schluß ſolcher Verhältniſſe zu begleiten pflegt. Selbſt jene höchſte, 
tiefſte Liebe Goethes zu Frau von Stein — der einzigen, in der Goethe jahrelang der E m p- 
fangende und nicht der Gebende allein war — ließ Frau Charlotte arm und bitter zurück, 
wenn auch der Bruch äußerlich wieder im Laufe der Jahre geleimt wurde. 

Man kann ſich dem Eindruck nicht verſchließen, daß Goethe die wahrhaft ebenbürtige 
Frau nie gefunden hat. Auch Marianne von Willemer hatte keinen tieferen Einfluß auf Goethes 
eigentliches Weſen. Doch liegt über jenem kurzen Liebesglück auf der Mühle am Main ein ſo 
wundervoller Zauber, in Mariannens Briefen an Goethe („Goethes Briefwechſel mit Ma- 
rianne von Willemer“, Leipzig 1908, Inſel⸗Verlag) eine jo rührende, oft ergreifende, ganz 
gleichmäßig bis zu ſeinem Tode ſich hindurchziehende Liebe zu dem großen Manne, daß uns 
die „Gerbermühle“ wie mit einem magiſchen Zauber umſponnen erſcheint. 

Marianne war die Tochter eines Inſtrumentenmachers in Linz, kam mit der Truppe 
des Ballettmeiſters Traub in Begleitung ihrer verwitweten Mutter nach Frankfurt, wo ſie 
als Vierzehnjährige erfolgreich auf der Bühne des dortigen Nationaltheaters auftrat. Einem 
der damaligen Theaterdirektoren, Geheimrat Willemer, muß fie durch ihren Liebreiz aufge- 
fallen ſein, denn er nahm zwei Jahre ſpäter die nun Sechzehnjährige in ſein Haus und ließ ſie 
mit feinen drei Töchtern erziehen. Mariannens Mutter zog mit einer reichlichen Geldentſchädi⸗ 
gung in ihre Heimat zurück. 

Dieſem hochherzigen Schritt des damals erft vierzigjährigen Witwers mögen die Nat- 
ſchereien der „böſen Zungen“ nicht gefehlt haben, die aber verſtummen mußten, als man im 


806 Die Gerbermũhle 


Lauf der Zeiten fab, mit welch gleichmäßiger Liebe und Verehrung die Töchter Willemers 
alle an der neuen Pflegeſchweſter hingen. 

Erſt vierzehn Jahre fpäter, 1814, als die Töchter gBillemers alle geheiratet hatten, 
wurde Marianne feine Frau mit der vollitändigen Zuſtimmung feiner Kinder. 

Ganz kurz vor der Hochzeit hatte Goethe bei ihnen Beſuch gemacht, wurde auch zur 
Hochzeit eingeladen, die er einer andren Verpflichtung halber ablehnen mußte. Aber ein Jahr 
ſpäter, am 12. Auguſt 1815, kam Goethe auf die Gerbermühle zu Beſuch, wo ſich nun jene rei- 
zende, poeſieumfloſſene Zeit im Verkehr mit Marianne entwickelte, deren Abglanz wir in den 
Liedern „Hatems“ und „Suleikas“ im „Weſtöſtlichen Diwan“ wiederfinden. Daß Marianne 
die Dichterin einiger der feinſten und ſchönſten Suleikalieder war, erfuhr die Welt erſt neun 
Jahre nach ihrem Tode (1869), als Herman Grimm, den eine innige Freundſchaft mit der alten 
Frau verbunden hatte, und der das Glück beſaß, ihr offenbarendes Vertrauen im Lauf der 
jahrelangen Freundſchaft geſchenkt zu erhalten, es an der Zeit fand, ſeine ihm mitgeteilten 
Schätze aus den Erinnerungen Mariannens in den „Preußiſchen Jahrbüchern“ dem deutſchen 
Volke zu eröffnen. 

Am 12. Auguſt war Goethe in der Gerbermühle eingezogen — am 25. September 
ſchon genoſſen er und Marianne in Heidelberg ihr letztes Zuſammenſein, zugleich den Tag des 
Höhepunkts ihres Glückes. An jenem Abſchiedstage dichtete Goethe die Verſe: 


„Lieb' um Liebe, Stund’ um Stunde, 
Wort um Wort und Blick um Blick“, 


einige Tage darauf das „Locken, haltet mich gefangen“, in dem es leidenſchaftlich erklingt: 


punter Schnee und Nebelſchauer 
Raft ein Atna dir hervor. 

Die Familie Willemer hatte damals einen Ausflug nach Heidelberg gemacht, um den 
ſchon vorangereiſten Goethe dort zu treffen. Unter den Parkbäumen des Heidelberger Schlof- 
ſes verlebte Marianne mit Goethe ihren höchſten Glückstag. Immer wieder zog es Marianne 
in fpäteren Jahren an diefe Stätte ihres Glückes zurück, wie es in ihren Briefen an Goethe 
durchklingt. Und noch neun Jahre ſpäter, zu Goethes Geburtstag 1824, fendet Marianne ihm 
in Erinnerung eines ſolchen Beſuches das feierlich daherrauſchende Gedicht: 


„Zu Heidelberg. 
Euch grip’ ich, welte lichtumfloſſ'ne Räume, 
Did alten, reichbekränzten Zürftenbau,“ — 
das mit dem ergreifenden Vers der Erinnerung ſchließt: 


„Schliezt euch um mich, ihr unſichtbaren Schranken; 
Zm Zauberkreis, der magiſch mich umgibt, 
Verſenkt euch willig, Sinne und Gebanten; 

Hier war ich glücklich, liebend und gellebt!“ — 


Goethe und Marianne nahmen damals auf kurze Zeit Abſchied. Marianne erwartete 
ſein Nachkommen im Oktober auf der Gerbermühle. Umſonſt. Ein ganz knapper Brief an die 
bei ihnen wohnende Tochter Willemers, Roſette, teilte mit, daß Goethe wieder heimmwärts 
gefahren. Doch an demſelben Tage ſchrieb er noch an Willemer die bedeutungsvollen Worte: 
yo eile über Würzburg nach Haufe, ganz allein dadurch beruhigt, daß ich ohne Willkür und 
Widerſtreben den vorgezeichneten Weg wandle und nun deſto reiner meine Sehnſucht nach denen 
richten kann, die ich verlaſſe.“ 

Bei dieſem entſcheidenden Wendepunkt im Verhalten Goethes kann man ſchlecht einem 
aufſteigenden Vergleich widerſtehen: Wie hätte ſich wohl ein „moderner“ Menſch oder 
„Dichter“ in ähnlicher Lebenslage verhalten? — — And fie alle berufen fidh bei jeder Ge- 
legenheit auf Goethe. | 


Die Gerdermihle :807 


Diefe große, herbe Enttäuſchung, die Marianne dieſer Abſagebrief Goethes bereitete, 
löſte in ihr das wundervolle Lied an den Weſtwind aus: 
„Ach, um beine feuchten Schwingen, 
Weſt, wie ſehr ich dich beneide: 
Denn du kannſt ihm Runde bringen, 
Was ich in der Trennung leide.“ 


Es war zugleich Mariannens letztes Gedicht, das in Goethes , Diwan“ unter die Suleika- 
lieder kam. Daß bieles Trennungslied gleichzeitig der Abſchied fürs Leben war, ahnten 
damals wohl beide nicht. 

Sie haben ſich nie wiedergejehen . 

e Ergreifend fein und verhalten, wie eine ſanfte Klage, klingen Mariannens Bitten und 
Sehnſucht immer wieder in ihren Briefen an den verehrten Freund durch: doch noch. ein- 
mal ſich ſeines Beſuches auf der „Gerbermühle“ erfreuen zu dürfen. 

Goethe kam nie wieder. 

Ja, wir ſpüren durch die Briefe eine gewiſſe ſcheue, zarte Bereitwilligkeit, ihn mit ihrem 
Manne einmal in feiner Häuslichkeit aufzuſuchen, was dem viel und weit reiſenden Willemer- 
ſchen Ehepaar ein leichtes geweſen wäre; Goethe hat nie darauf geantwortet. 

Einmal, als Marianne ihm in Frankfurt Teppichmuſter beſorgen und ihm ausſuchen 
helfen darf, jubelt ſie auf: daß ſie ſich nun wenigſtens den Fußboden ſeines Zimmers 
vorſtellen kann! Jener Teppich wurde übrigens nicht gekauft, da gerade in jenen Tagen Goethe 
die furchtbare Nachricht von dem Tode ſeines Sohnes traf. Er ſandte die Teppichmuſter wieder 
zurück und hatte den Sinn dafür verloren, auch als Marianne in ſpäterer Zeit einmal wieder 
darauf zurückkommt. 

„ . . Sollten dann auf dem Wege zwiſchen Weimar und der Mühle fo unüberwindliche 
Schwierigkeiten ſein?“ klingt's ein andermal auf, und noch ſpäter, 1830, alſo fünfzehn Jahre 
nach jener Glüdszeit der wehmütig trauernde Nachſatz in Mariannens Brief: „Leider ent- 
behre ich den Genuß, Sie in mir bekannten Räumen mit meinen Gedanken zu begleiten.“ 

Daß Goethe auf dies alles entweder ausweichend ſein Nichtkommen entſchuldigte oder 
doch nie mit einer Einladung des Willemerſchen Ehepaars antwortete, bleibt eine der dunt- 
len Stellen in Goethes Leben. Gerade wie ſein dreizehnjähriges Fernbleiben von ſeiner alten, 
ihn fo ſehnſüchtig liebenden Mutter in Frankfurt immer etwas Ratfelhaftes behält. Seine Worte 
in einem Briefe an Schiller über ſich ſelbſt fallen uns dabei ein, wo er dem Freund bekennt, 
dieſer würde mit der Zeit „eine Art Dunkelheit und Zaudern“ in feinem Gemütszuſtand be- 
merken, „über die ich nicht Herr werden kann, wenn ich mich ihrer gleich ſehr deutlich bewußt 
bin“, — auf den gerade, wie er geſteht, Schiller einen außerordentlich belebenden, erneuernden 
Einfluß ausübte. 

Sollte diefe Goetheſche Eigentümlichkeit hier nicht auch mit in Wirkſamkeit getreten fein? 

Oder follte — beſonders in fpäteren Jahren — Goethe, der für Rüderinnerungen fo 
Eindrudsfähige, ſich geſcheut haben, den Schleier von jener fo unvergleichlich ſchönen Bergangen- 
heit auf der Gerbermühle zu heben, indem er fie unter veränderten Zeitformen wiederſah? 
Mußte gerade ſeine „reife Erkenntnis“ ihm nicht ſagen, daß dies eine Art Enttäuſchung für 
ihn fein m ü f f e, vor der er lieber den Schatz feiner ſüßen Erinnerung ängſtlich hütete? Denn 
alles Menſchliche iſt vergänglich und veränderlich. 

Dies leuchtet auch in einem der ſchönſten Briefe Mariannes an Goethe durch, wo ſie 
am 23. Mal 1829 — alfo vierzehn Jahre nach jener ſeligen Zeit! — unter andrem an den 
Freund ſchreibt: 

„Die Mühle hat alles aufgeboten, um ſich in vollem Glanze zu zeigen (die Gerbermühle), 
und wirklich ift es fo ſchön hier, daß fie Ihres Beſuches würdig wäre. Unfer liebſtes Geſpräch 
iſt, uns jener Zeit zu erinnern, in der Sie bei uns waren, und es ſchmerzt mich wirklich, daß es 


808 Die Gerbermiihte 


damals nicht halb fo hübjch und freundlich hier war, Sie würden viel mehr Bequemlichkeit und 
beſſere Luft hier finden; das Klima hat ſich ſehr verbeſſert, die ſchöne rote Paſſionsblume wächſt 
nun hier im Freien, ich habe zum Beweis in dem Zertifikat eine getrocknete beigelegt; .. denn 
es läßt ſich nicht leugnen, daß die Mühle fih verjüngt hat, wie es aber der Müllerin ergangen, 
wollen wir nicht verraten 

„Wie es aber der Müllerin ergangen, wollen wir nicht verraten“ — welche Wehmut 
liegt über dieſen Worten. Denn auch Goethe war nicht jünger geworden ſeitdem; er war neun- 
undſiebzig Jahre alt und feierte bald ſeinen achtzigſten Geburtstag! 

Daß er Mariannens rührende, immer gleichbleibende, treue Liebe zu ihm ganz und 
warm anerkannte, geht aus dem Briefwechſel bis vor ſeinem Tode deutlich hervor, trotz der 
neben Mariannens Natürlichkeit kühl anmutenden Schreibweiſe feines allmählich fi ent- 
wickelnden „Altersſtils“. Bei dieſem muß man bedenken, daß ſeine Briefe meiſt diktiert waren 
und außerdem — obwohl ſie Mariannen allein galten — ſtets an ihren Gatten adreſſiert, alſo 
zum Vorleſen beſtimmt waren. Intereſſant ift es auch, zu beobachten, wie Marianne ſtellen⸗ 
weiſe vollſtändig Goethes Stil annimmt, bis dann immer mal wieder von Zeit zu Zeit ihre 
feurige, faſt ausgelaſſene Natürlichkeit durchbricht. 

Die leidenſchaftlichen Briefe und Bekenntniſſe der erſten Zeit hatten ſie ſich unter Ge⸗ 
heim-Chiffren mitgeteilt, indem ſie Seite und Zeile der Verſe angaben, die gerade zu ihrer 
Stimmung aus dem „Diwan“ pakten, und die, zuſammengeſtellt, zu leidenſchaftlichen Be- 
kenntniſſen wurden. 

Daß Goethes dankbare Wärme Mariannen gegenüber bis zu feinem Tode anhielt, 
ſehen wir aus den Briefen, die uns gegen den Schluß ausführlicher, wärmer und rührender 
erſcheinen als vorher. Ein ſchönes Denkmal ihrer beiderſeitigen Freundſchaft! 

Geradezu rührend mutet es uns an, wenn noch nach vielen Jahren in den Briefen 
der beiden Hudhud, der Wiedehopf, der ihnen einſt in der ſchönen Zeit über den Weg lief, als 
Liebesbote neckiſch zwiſchen ihren Zeilen hin und her läuft, Zeuge einer nie vergeſſenen Zeit! 

And ergreifend klingen die Worte Goethes, die er in einem Briefe, ein Vierteljahr vor 
feinem Tode, im Dezember 1851 an Marianne ſchrieb: „... mit immer gleichen neuen und 
friſchen Freundesgeſinnungen, die denn doch zuletzt allein das Leben aufrechterhalten und 
fördern.“ Und unter ſeinen Namen am Schluß des Briefes ſchrieb er noch einmal: „Und fo 
fortan!“ 

Daß Goethe keine Phraſen machte, wiſſen wir. Ein Jahr vor ſeinem Tode ſandte Goethe 
beim Ordnen ſeiner Papiere Mariannen ihre ſorgfältig geſammelten Briefe wieder mit der 
Bitte: „Erſt zu einer unbeſtimmten Stunde zu öffnen!“ 

Als diefe Stunde mit feinem Tode erſchienen war, las Marianne die Berfe, von feiner 
Hand zu ihren Briefen gelegt: 

„Vermächtnis. 
Vor die Augen meiner Lieben, 
Zu den Fingern, die's geſchrieben, — 
Einſt, mit heißeſtem Verlangen 
So erwartet, wle empfangen — 
Zu der Bruſt, der ſie entquollen, 
Diefe Blätter wandern ſollen; 
Immer liebevoll bereit, 
Zeugen allerſchöͤnſter Zelt. 
3. März 1881. 3. W. v. Goethe.“ 


Was muß Warianne in dieſer Stunde empfunden haben! 
Solche Stunden adeln das Leben in Schmerz und Hoheit und geben ihm ſeinen Stempel. 


* a 
* 


Oie Gerbermiiple 809 


Einen ftillen, träumeriſchen, nebligen Herbſttag fudte ich mir dazu aus, die „Gerber- 
mühle“ zu beſuchen, jene Mühle bei Frankfurt am Main — „Zeuge allerſchönſter Zeit“ 
Nebel umhüllt ſie. Wie ein Stück Vergangenheit blickt das winklige, altmodiſche Gehöft aus 
alten Parkbãumen hervor, einer der Bäume noch aus dem Jahr 1815 ſtammend und unter be- 
ſondrem Schutz ſtehend. 

Nebel und Feuchtigkeit tropft, unzählige Tiſche und Bänke ſtehen in den alten Garten- 
anlagen umher: heute iſt die Gerbermühle ein von der Stadt Frankfurt verpachtetes Reftau- 
rant, Ziel unzähliger Ausflügler im Sommer ... Dieſe leeren Bänke und Tiſche ringsum 
vermehren das Gefühl der Ode und Verlaſſenheit, das uns beſchleicht. Melancholiſch, grau 
zieht dort der Main. 

„Wie oft gedenken wir Ihrer,“ ſchrieb Marianne noch zehn Jahre nach feinem Scheiden 
an den Freund, „wenn unfer Tiſchchen ganz dicht an den Main geſtellt wird.“ ... Hier ftand’s 
wohl, und hier ſaß Marianne an der Seite ihres vierundzwanzig Fahre älteren Gatten, „die 
kleine Müllerin“ oder auch der „Heine Blücher“ von Goethe ſcherzhaft genannt, ihrer anordnen- 
den Talente bei Feſten wegen fo getauft... Oben im Haus das ſogenannte Willemer-Zimmer 
iſt ein länglicher, heller Raum, deſſen übliche Gaſthausmöbel nichts Vergangenes erzählen. 
Der Blick geht hier über die daran ſchließende „Terraſſe“, die ſchon in den Briefen Goethes 
und Mariannens genannt wird, nach dem Main und dem Städtebild Frankfurts. Es iſt vom 
Dom beherrſcht und hat auch wohl damals ungefähr ſo ausgeſehen von hier aus, als Goethe 
und Marianne hier ftanden ... Wo mag wohl jenes Gartenhaus unten geſtanden haben, in 
dem Goethe in jenen glücklichen Tagen ſeinen ſechsundſechzigſten Geburtstag feierte? An der 
Rückwand jener Hütte ſaß der Gefeierte unter einem großen Spitzſchild von Laubkränzen, in 
dem ein Blumenkranz prangte, „nach der Farbentheorie geordnet“. Wie reizend und ſchelmiſch 
wußte die dreißigjährige Marianne „ihren Dichter“ zu beſchenken! Wie wußte fie ſich einzu- 
fühlen in ſeine Intereſſen; wie mag Goethes Herz höher geklopft haben, als ſie dann noch mit 
Körben voller Früchte erſchien, auf denen „lag ein Turban von feinſtem indiſchen Muslin, 
alles in Anſpielung auf Goethes jetzige Liebhaberei für die orientaliſche Poeſie“. Boiſſerse, 
der damals mitfeierte, ſchildert uns das und ebenſo eine Mondnacht in jener Zeit. Marianne 
fang allerhand Lieder, zuletzt aus dem „Don Juan“... „Goethe nennt fie einen kleinen Don 
Suan; wirklich war ihr Geſang fo verführeriſch geweſen, daß wir alle in lautes Lachen aus- 
brachen und fie, den Kopf in die Noten verſteckt, ſich nicht erholen konnte“... Marianne 
Ihmüdte fih an jenem Abend fpäter mit ihrem Turban und einem türkiſchen Schal, den Goethe 
ihr geſchenkt hatte. Goethe las vor, ſchließlich ſchlief Willemer ein und wurde darum geneckt. 
Als alle Héi getrennt um ein Uhr, fällt Goethe ein, Boifferde den Verſuch mit den farbigen Schat- 
ten zu zeigen, ſie treten mit einem Wachslicht auf den Balkon, „am Fenſter durch die kleine 
Frau belauſcht“. 

Dies war Goethes letzter Abend auf der Gerbermühle; ihr ferneres Zuſammenſein 
erlebten ſie einige Tage ſpäter in Heidelberg. 

„Ich gebadte in der Nacht, 
Daß ich den Mond fähe im Schlaf, 


Als ich aber erwachte, 
Ging unvermutet die Sonne auf.“ 


Die Sonne: Suleika — Marianne! — — 

Verträumt wende ich mich ins Zimmerinnere zurück. Richtig, — dort hängen ja ihre 
Bilder, groß, in Ol gemalt, die ganze Breite der Wand einnehmend! Goethes gewaltig lebendi⸗ 
ges Geſicht halb ſeitlich und emporgerichtet — die genialen Feueraugen umgeben von ergrau- 
tem Haarkranz! Dämoniſche Unruhe liegt auf dieſem Geſicht. Es iſt der Anblick eines bis in 
ſein hohes Alter hinein Tiefleidenſchaftlichen, und wir verſtehen, daß ſchon Carlyle und in neue- 
rer Zeit Lienhard den Ausdruck „heitrer Olympier“ als wenig Goethes Perſönlichkeit erſchöp⸗ 


810 Die Gerdermiible 


fend beanſtandet haben ... Welch einen Gegenſatz bietet Mariannens Bild daneben, — blut- 
jung, geſund, roſig, blühend, harmlos und unerwacht! Man ſieht ihren blitzenden Augen wohl 
an, daß Goethe fpäter „vom Karfunkel deines Blicks“ davon fingen konnte! — — 

„Lieben heißt leiden“, ſagte Goethe noch im Alter zu Riemer. Kämpfe und Leiden folg- 
ten auch für jene beiden nach der herrlichen Sonnenzeit. Goethe, als der Ältere und Ber- 
antwortungsvollere, reiſte damals von Heidelberg plötzlich nach Hauſe. Wie ſchwer es ihm wurde, 
zeigen jene wundervollen, damals entſtandenen, ſchmerzvoll entſagenden Lieder „Hochbild“ 
und „Nachklang“, in denen es faſt faſſungslos aufklingt: 
| „Laß mich nicht fo der Nacht, dem Schmerze, 

Ou Allerliebſtes, du mein Mondgeſicht!“ 

— — Marianne, deren einzige Sonne Goethe war, litt vielleicht noch tiefer. Eine feine 
Trauer in all ihren Briefen an ihn iſt nicht zu verkennen. Alle Nachrichten über den großen 
Freund, die, gewiß oft abſichtlich übertrieben, ihr Ohr erreichten, ſucht fie ſich liebevoll ver⸗ 
ſtehend zurechtzulegen; — gewaltig blinkt das große Finale mit Ulrike von Levetzow als letztes 
Abendfeuer herüber! .. . Ja, eine gewiſſe Tragik liegt über dieſem reizenden Frauenbildnis 
Mariannens, der, verehrt von einem vierundzwanzig Jahre älteren Gatten und geliebt von 
dem fünfunddreißig Jahre älteren Freunde, das Glück, eigene Kinder zu beſitzen, verſagt war. — 

Doch die Dämmerung ſinkt draußen mit dem Nebel leiſe auf Terraſſe und Bäume herab. 
Noch ein Blick durch dieſe Räume, in denen vor faſt N Jahren ſo viel Leben blitzte! Wir 
wenden uns zum Gehen. — 

Wie hat nun Goethe, abſchließend, jene kurze Glüdszeit mit Marianne gewertet? Er, 
der ftets In-ſich-Verarbeitende, der fich Rechenſchaft zu geben pflegte von allen Erlebniffen? 
Einige kurze, knappe Worte prägte er darüber, die wie eine nur intonierte Mollmelodie fiber 


jener Zeit ſchweben: 
„Wenig Blätter Freuden, 
Ganze Hefte Leiden; 
Einen Abſchnitt macht die Trennung. 
Wiederſehn — ein klein Kapitel, 
Fragmentariſch.“ 


| Za, „fragmentariſch“; — das „Wiederſehn“ fand nie ftatt, — und trotzdem Sonnen- 
ſtrahlen in Goethes im Grunde fo weiches und liebebedürftiges Gemüt werfend bis zum Tod. — 
Wehende Vergangenheitsſchleier umfangen uns unten, braune Blätter taumeln rings 
im ſinkenden Dunkel. Lautlos zieht der Main. 
Í „Von der Slime bis zum Rhein 
Mahlet manche Mühle, 


Doch die Gerbermühl' am Main 
Site, worauf ich ziele 


Die Elektriſche führt uns raſch wieder nach Frankfurt zurück. Lichter, blendend erleuc- 
tete Lãden blitzen auf, alles um uns her haſtet und wühlt, oft vor einem der blendendſten Läden 
ſtaut ſich die Menge. Elektriſche klingen, dazwiſchen das gleichmäßige Auftrappeln eleganter 
Pferde, das leiſere Aufſtoßen der Stöcke Vorübergehender ... Eine eigentümliche Tonart, — 
moderne Muſik, — nach fo viel Vergangenheit und F n n e n muſik!. 

Wir können uns noch nicht daran gewöhnen. In uns liegt die Gerbermühle⸗ wie ein 
Träumen, wir glauben das Gurgeln des Maines zu hören, grade fo lautend wie in jener Mond- 
nacht, als Goethe und Marianne danach lauſchten, — vor faft hundert Jahren! 


Meta Schneider-Wederling 


Lienharbs „Wege nach Weimar“ 811 


Lienhards „Wege nach Weimar“ 


Vine reife, wahrhaft freie Unbefangenheit beſeelt den Verfaſſer und Herausgeber 
| re der „Wege nach Weimar“ und äußert fidh in feinen Ausdrucksmitteln. „Hier foll 
h niemand gegängelt werden“ und „ich habe mid nicht als Vormund, ſondern als 
freier Lernender unter freien Freunden gefühlt“. So ſagt er ſelbſt im Schlußwort. 

Nachdem nun ſeit Herbſt 1908 Lienhards Werk in feds Bänden abgeſchloſſen ijt, er- 
ſcheint es an der Zeit, dieſes Unternehmen eingehender zu würdigen. 

„ Es läuft an ben Giebeln entlang 
Ein Geiſterglanz. 

Schwarz umſchattet ſchweigen die Dörfer 
Und ſtehen mit harten Kanten 

Sm weichen, ſchmiegenden Mondlicht. 
Sieh’, und am fabenfein fallenden 
Unermüblichen Brunnenſtrahl, 

Sieh’, und auf blitzenden, raſchen, 
Stoßenden, lachenden Wellen des Wildbachs — 
Licht — Licht — Licht — 

Wanbernd Licht!“ 

So ſchließt die Schilderung einer Mondnacht in Lienhards Gedicht „Säfte der Mond- 
nacht“, das er dem zweiten Band voranftellt. Noch find wir ganz im Banne der gezeichneten, 
wundervoll geſteigerten Landſchaft, da erhebt ſich die Stimme der letzten Strophe, den Ton 
völlig ändernd. Feierlich, voll verhaltener Innenmuſik ſteigt's empor aus Geiſtestiefen: 
„So ſteigt aus Länbern ber Seele, 

Wenn in uns Mondnacht die Worte beleuchtet, 
Heilige Schönheit. 

So lenken im Traumgeſpräch 

Nachtgeſtalten den herben Tag. 

So ſchreiten aus Wäldern der Stille 
Edelgedanken hervor, 


Großäugig, hochgewachſen, 
Und treten heraus, offenbarungsſtark, 
Als Weisheit oder Gedicht — 


Säfte der Mondnacht, 
Wandernd Licht.“ 


Damit ſind wir im Zielpunkt von Lienhards „Wegen nach Weimar“. Dieſe Wendung 
in dem Gedicht: der äußeren Landſchaft eine innere, ſeeliſche gegenüberzuftellen, iſt 
typiſch für Lienhards Beginnen. Er ſpricht es in feinem letzten Band bei der Behandlung Goethes 
aus: dieſes „Innen und Außen“, — die „Polarität“, der Goethe ſich ſelbſt deutlich bewußt ge- 
weſen fei, die er verſucht habe in Harmonie und Einklang zu bringen: das ift fo recht eigent- 
lich das Menſchheits problem. 

Was will alfo Lienhard in feinen „Wegen nach Weimar“? (6 Bände, mit vielen Bild- 
niſſen, Verlag von Greiner & Pfeiffer, Stuttgart. Der geb. Band 3.50 M.) 

Der Titel „Weimar“ könnte trügen und Fernſtehende eine Art einſeitiger Goethe- 
verhimmelung vermuten laſſen. Aber „Weimar“ iſt Symbol. „Weimar iſt in uns“, ſagt er 
einmal: ein geiſtiges Reich, ein Gemuͤtszuſtand, eine Gemüͤtsverfaſſung. Ein Zuſtand fee- 
liſcher Reife. } l 

Zn dieſem innermenſchlichen Zuſtand befanden fid unfre Großen in Weimar. Das 
weiſt Lienhard nach. Die Geiſtigkeit und Reife jener großen ſchöpferiſchen, klaſſiſchen Men- 
ſchen und ihres Zeitalters ſollen auch für uns Moderne vorbildlich, ja recht eigentlich ſchöpferiſch 
wirken. Denn dieſe geſammelte, kraftvolle Geiſtigkeit repräſentiert das Ewigmenſchliche: das 
Menſchliche in ſeiner höchſten Vollendung. 


812 Lienbards „Wege nach Weimar“ 


Und nun beginnt Lienhard fein eigentliches Werk. Er zieht ganz feine Geiſtlinien bis 
zurück zu den Alten: Homer, Shakeſpeare (Bd. II), aber beginnend in der Neuzeit: Heinrich 
von Stein, Emerſon (Bd. D und dann, über Friedrich den Großen (Bd. II), gipfelnd bei den 
Großen in Weimar: Schiller (Bd. V) und Goethe (Bd. VI). Er drückt dies gelegentlich einmal 
fo aus: „. . . daß es fih in meiner Tätigkeit ... um die Herausarbeitung der völlig verfchütte- 
ten idealiſtiſchen Linie handelt“. Er zieht dieſe Linie durch die Weltliteratur. Er ſchreibt fogu- 
ſagen Geiſtesgeſchichte großen Stils. Aber ſie iſt einheitlich um das hiſtoriſche Weimar gruppiert. 

Welch eine Arbeit und welch ſchöpferiſches Nachdenken hinter dieſer „Herausarbeitung“ 
liegt, durfte er ſelbſt am Schluß, im letzten Heft (September) feines Unternehmens mit freudi- 
gem Stolz andeuten. „Es ſteckt Fülle von Arbeit und Nachdenken, das darf man wohl ruhig 
ausſprechen, in dieſen Heften, die durchweg auf die Quellen zurüdgingen, aber alles Gelehrte 
zu vermeiden ſuchten, weil es meine Abſicht war, Wiſſenſchaft in erlebniswarme Weisheit zu 
verwandeln und Ballaſtmaſſen künſtleriſch ins Enge zu bringen.“ 

Durch drei Jahre hindurch war es Lienhard gegeben, mit immer gleicher Spannkraft 
fein Werk durch- und zu Ende zu führen. Dieſe planmäßige Herausarbeitung ift eine künſt⸗ 
leriſche und perſönliche Tat, auf die wir Deutſchen ſtolz zu ſein Grund genug haben. 

Lienhard beginnt, wie geſagt, im erſten Band feiner „Wege nach Weimar“ mit dem 
modernen Heinrich von Ste in und mit Emerſon. Die Welt der „reinen Geiftig- 
keit, der klaren Stille“. Oer feine, bis jetzt wenig bekannte Denter und Aſthetiker Heinrich von 
Stein, der Freund Wagners und Nietzſches, wird uns in ſeinen tiefdurchdachten Aufſätzen und 
hiſtoriſch-dramatiſchen Geſprächen vorgeführt. Er war ein Frühvollendeter: er ſtarb mit dreißig 
Jahren. Über feiner verinnerlichenden Dentweife liegt etwas Schillerhaftes, wie wir fie in 
deſſen Auffägen über „Anmut und Würde“, „Über das Erhabene“ etwa ausgedrückt finden. 
And doch iſt er originell. Die mitgeteilten Proben „Fluch des Hannibal“ und „Der große König“ 
(Friedrich der Große) ſind höchſt feſſelnd und gehaltvoll. 

Hier neben Heinrich von Stein tritt auch Gobineau Iden auf, dem Lienhard in fpäte- 
ren Heften genauere Ausführungen widmet; Wagner, Winkelmann, Nietzſche klingen an; die 
Amerikaner Thoreau und Walt Whitmann werden mit hereinbezogen, dazwiſchen aus Rab- 
ners Überſetzungen Gedanken Platos. Alles in feinen inneren Beziehungen, immer geiſtreich, 
zu tiefem Nachdenken anregend. | 

Im zweiten Band ſchildert Lienhard — neben Aufſätzen über „Nordland“ und das 
„deutſche Märchen“ — Shakeſpeare und Homer, die künſtleriſchen Geſtalter. 

„Eine Leidensgeſchichte liegt dahinter, bis einer den, Sturm“ ſchreibt: bis einer zum Ver- 
zeihen Recht und Kraft hat, weil er nunmehr die Geiſter ſeiner Inſel mild und feſt beherrſcht, 
weil er nunmehr die uns auferlegte Entwicklung vom Kaliban zum Prospero — vom Tier 
zum höheren Menſchen — vollendet hat.“ Wir vernehmen wieder das Leitmotiv, das ſich durch 
die feds Bände zieht: die Aufwärtsentwicklung des niederen Menſchen zum höheren, zu jener 
feſten ſeeliſchen Ausgeglichenheit, die ſich in unſeren Klaſſikern entfaltet hat, und die Lienhard 
zugleich als das Menſchheitsproblem überhaupt bezeichnet. Und weiter: „Wohl iſt der Beruf 
des Genies unvergleichlich ſchön, aber er iſt auch furchtbar wie kein andrer. Von der Gewalt 
und Wildheit des Phantaſienſchwarms, der, ohne Rückſicht auf Geſetz und Sitte, fold) empfäng- 
lichen Geiſt wie Shakeſpeare überfallen und heimgeſucht haben mag, kann fidh keine äußere Be- 
obachtung einen Begriff bilden. Das find Leiden und Kämpfe der Innenwelt. Nur von Phan- 
taſienaturen ahnen läßt ſich dieſes Dulden eines Genius, der von Verſuchungen, Gedanken, 
Geſtalten umſchwärmt iſt.“ Hier läßt uns Lienhard in Shakeſpeares Seele ſehn, die nicht nur 
Haffiihe Harmonie, ſondern auch Dämonie kannte — künſtleriſch bezwungene Dämonie. 

Homer... Wie menſchlich nahe bringt uns Lienhard die Griechen! So ein ganz leifer 
Humor hier und da. Als nach der blutigen Vernichtung der Freier in der Odyſſee die greiſe 
Schaffnerin Eurpkleia aufjauchzt, meint Lienhard gelegentlich: „Nervös waren diefe Männer 


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Lienhards „Wege nach Weimar“ f 813 


und Frauen heroiſcher Zeiten nicht ..“ „Dieſe leidenſchaftlichen Griechen“, klingt's ein ander- 
mal auf; oder: „Es ift Tragik. um Achill“. Wieder an einer andren Stelle: „Eine Robinfon- 
Stimmung ift über dieſen Teilen der Odyſſee 

Das ift die Tonart, in der Lienhard Altes uns nahe zu bringen ſucht: immer das Allgemein; 
menſchliche überraſchend herausarbeitend. 

Dazwiſchen ſteht ein „Ourchblick nach Weimar“; durch eine Lichtung in den Landſchaften 
Shakeſpeares und Homers ſchauen wir nach Weimar hinüber: „Hier iſt ein Goethebrief, der 
in dieſe Stimmung paßt.“ 

Man ſieht nebenbei, mit welcher Liebe und Sorgfalt Lienhard ſeine Bücher zufammen- 
geſtellt und ausgeſtaltet hat. Alle die beigegebenen Bildniſſe, die ich hier nicht alle En 
kann, find künſtleriſch ſorgſam ausgewählt. 

Und dann wandelt die feine, träumeriſche Geſtalt des ſtillen Hölderlin ebenfalls durch 
den zweiten Band: jener Griechenſehnſüͤchtige, aus deffen „Hyperion“ uns das Zarteſte und 
Innigſte mitgeteilt wird. Zugleich ſchlingt ſich durch die Hölderlinblätter noch ein Tagebuch 
Lienhards ſelbſt „aus Florenz und Aſſiſi“. 

Sch kann mir nicht verſagen, eine Stelle dieſes Tagebuchs — Karfreitag in Aſſiſi — 
mitzuteilen. Sie iſt vielleicht die tiefſte daraus: 

„Jeder tiefere Menſch hat wohl feinen ſtillen Schmerz, der ihn nie verläßt. Eine Stelle 
iſt in uns, da iſt immer Karfreitag. Da ſtehen Gräber, Kreuze; und der Weg dazwiſchen iſt mit 
Entſagung gepflaſtert. Wunden — Narben — ſie glühen oft wieder auf. 

Man nimmt an ſolchen Tagen ſeine Verfehlungen in beide Hände und breitet ſie auf 
dem Raſen vor ſich aus wie ein Bettler ſein Bündel. Sieh, du unerforſchliche Macht, das tat 
ich, das bin ich — kannſt du mir noch gut ſein? 

Nicht viel Worte machen über dieſen bitterernſten Vorgang! Zeder ringe das mit ſich 
ſelber durch, indem er an das Reinſte denkt, was er im Leben traf, und in deffen Lichte feine 
Vergehungen verbrennt, ein Opferfeuer der Reue, ein Gelübde des Gutſeinwollens. 

Dann ſtehe er auf und mache beffer, was er ſchlecht gemacht hat 
e Sch verſuche, mich auf das Weſentliche der nächſten Bände zu beſchränken. Mit Inhalts 
angabe allein iſt hier nichts getan; über Friedrich den Großen, Herder, Jean Paul, Schiller, 
Goethe iſt ja vielleicht nur allzuviel ſchon geſchrieben worden. Hier in den Wegen nach Wei⸗ 
mar handelt es fih jedoch um ein ſtreng durchgeführtes, man muß immer wieder fagen: all- 
menſchliches Thema. Vielleicht könnte man das Bild anwenden: Alle die ſo verſchiedenen 
Zuſammenſetzungen dieſer großen Menſchen gelingt es Lienhard auf einen Akkord, wenn 
man fo will: auf feinen Akkord zu löſen. Dieſer Akkord erklingt in feinem Inneren fo beſtimmt 
und rein, daß all das ſcheinbar ſo Verworrene, alle die ungelöſten Probleme, die auch im Leben 
dieſer Großen — und da erft recht — uns anrätſeln, von ihm mit Meiſterfingern zu einem 
einzigen, klaren Bang gebannt werden. Das alles geſchieht ſcheinbar ganz mühelos und ein- 
fach; und zwar ohne der wiſſenſchaftlichen Wahrheit zu ſchaden. Daß dies der Fall iſt, beweiſt 
die Anerkennung, die z. B. ſein „Friedrich der Große“ von fachmänniſcher Seite erhalten, 
zeigt die ganz perſönliche Teilnahme, mit der Männer wie Eucken, Kühnemann, Chamber- 
lain, Wildenbruch mit ſeinen Heften von Monat zu Monat in der Stille und mit Freuden „mit 
nach Weimar“ wanderten. 

Friedrich den Großen bringt der dritte Band. Und neben ihn iſt Kant 
geſtellt. Zwiſchen beiden zieht Lienhard geiſtige und äußere Parallelen. Von den letzteren 
ſeien nur folgende herausgegriffen: 

„Einen hageren, faſt einem Kinde gleichenden Körper legte man in Gansfouci und legte 
man in Königsberg auf die Bahre. Dort Kampf mit Widerſtänden und Krankheiten, hier Be- 
ſiegung urſprüͤnglich ſchwächlicher Anlage. Tagewerk hier und dort nach der Uhr. Beide ſchnup⸗ 
fen — Kant raucht täglich eine Tonpfeife — und find ftarte Eſſer; beide lieben geiſtvoll- zwang; 


814 Lienhards „Wege nach Weimar“ 


lofe Tiſchgeſellſchaft. An dieſem Punkt hängt ihre Geiſtigkeit mit den Behaglichkeiten des duge- 
ren Lebens zuſammen. Der König lebt von ſeiner Gattin durchaus getrennt und macht ihr 
nur jährlich an ihrem Geburtstag eine kurze offizielle Aufwartung. Kant iſt Zunggeſelle. Das 
weibliche Element iſt aus dieſen Bezirken, dort wie hier, verbannt. Friedrichs philoſophiſch 
herbes Königtum entſpricht den königlichen Gefühlen Kants von der Macht in uns und von 
der Pflicht in uns. Könige ſind beide.“ 

In den „Gedanken über Kant“ leſen wir: „Erſcheinungen wie Rant find Orientierungs- 
punkte der Menſchheit. Sie ſind Beſinnung auf das Wirkliche und Mögliche. Den großen 
Zermalmer hat man ihn genannt; doch iſt er auch der große Aufbauer. Denn er hat den un- 
ermeßlichen Wert der geiſtigen und ſittlichen Perſönlichkeit in den Mittelpunkt feiner Philo- 
ſophie geſtellt.“ 

Man möchte hier gar nicht abbrechen. Grade die „Gedanken über Kant“ ſind mit einer 
präzifen Schärfe herausgearbeitet, die erfriſchend wirkt. 

Doch die Hauptwürdigung des dritten Bandes gilt, wie gejagt, „Friedrich dem Großen“. 
Die Arbeiten über ihn find beſonders herausgezogen und als Ganzes in den „Büchern der Weis- 
heit und Schönheit“ (Verlag Greiner & Pfeiffer, Stuttgart) ſeparat erſchienen. 

Das Weſentliche iſt auch hier wieder die Darſtellungsweiſe: Friedrich der Große als 
durchgeiſtigter und Willen gewordener Menſch. Und dieſe iſt neu. Unter anderem benutzt 
Lienhard dazu das urſprünglich in franzöſiſcher Sprache geſchriebene, in weiteren Kreiſen un- 
bekannte Tagebuch von Friedrichs Vorleſer Henri de Catt. Lienhard ſelbſt hält dieſes in ge- 
wiſſem Sinne mit Eckermanns berühmtem Goethebuch vergleichbar. Und tatſächlich erſteht 
das Bild des immer lebhaften, geiſtreichen, feurigen, von tiefen Gemütserſchütterungen nicht 
verſchonten Königs in einer greifbar deutlichen Lebendigkeit. Alle die kleinen äußerlichen, 
fo menſchlichen Züge weben ſich zu einem lebensvollen Ganzen, beſonders auch durch Heran- 
holung der Briefe und der friderizianiſchen Gedichte, von denen Lienhard einige überſetzte. 

Das Lebensbild des großen Menſchen und Monarchen ſchließt mit einem Wort Car- 
lyles, Friedrichs Ende darſtellend: „Sein Tod ſcheint ſehr hart und einſam, zumal für einen 
Mann von ſo warmem Gefühl, einen Mann von tieferer Empfindung als andre Menſchen. 
Aber fo war fein ganzes Leben geweſen, hart und einſam; das war das Geſetz, das Aber ihn 
verhängt war!“ 

Und bei den zahlreichen Parallelen, die Lienhard zwiſchen Kant und Friedrich dem Großen 
zieht, führt er aus: „Ausgebreitete Kenntniſſe, raſche Orientierungskraft bei beiden; in argt- 
lichen, geſundheitlichen und kleinſten Dingen des Tages wiſſen beide Beſcheid, unbeſchadet 
aller großzügigen Ideenarbeit. Sie find gleichſam aus Metall und Draht, diefe nervigen Arbeits- 
naturen, die keiner Läſſigkeit Raum geſtatten. Ohne Kant und Friedrich den Großen kein Ghil- 
ler und Fichte, kein 1813 und 1870, kein Bismarck und kein Reich.“ 

Sch erwähne von dem dritten Band nur noch, daß er auch Klopſtock, Rouſſeau und 
Leſſing behandelt und am Schluß eine dramatiſche Dichtung Lienhards „Königin Sue", gleich- 
zeitig mit dem Bild der Königin, bringt. Wie überhaupt zahlreiche dichteriſche Proben des 
Herausgebers die ſechs Bände durchziehen. 

Die Fülle von Anregungen, die in den Tagebüchern, in dem Aufſatz „Schillers Ehe“ uſw. 
noch im dritten Bande niedergelegt ſind, läßt ſich hier nicht einmal andeuten. 

Nur eine kleine Probe, wie eigenartig Lienhard Klo p fto d erfaßt! Er wächſt vor 
unjren Augen aus dem zeitgeſchichtlichen Rahmen heraus, und Lienhard entfernt ſich hier be- 
wußt von der ſchulmäßigen Auffaſſung. 

Zuerſt perſönlich: „... So fand, im Freundeskreiſe, von Klopſtocks großangelegter Natur 
doch wohl mehr das Gemuͤthafte und das Moraliſche Verſtändnis und Widerhall. Man beachte 
dieſen Punkt! Es ift die Gefahr der Mehrzahl der Oeutſchen, daß Moral und Geſchmack fih nicht 
decken. Mopftod hungert nach Austauſch, nach tongenialer Freundſchaft; und obwohl Klagen 


Lienhards „Wege nach Weimar“ 815 


wegen langer Nichtbeantwortung von Briefen damals häufig ſind: leiſe teilt ſich einem der 
Eindruck mit, daß Klopſtock der Gebende und nur wenig der Empfangende war. Es ergab 
fic keine genügende Reibung. So hören wir unfren Dichter (ich möchte das freilich nicht tragiſch 
betonen) nach Menſchen rufen ...“ Danach läßt Lienhard einen typiſchen Brief Klopſtocks 
an Gleim als Beleg folgen. 

Dann Rlopftods Geſamtſtellung in der Literatur. Da merken wir mit Erſtaunen, wie 
ſeine Erſcheinung weit über die Zeitgrenze hinausragt. Ja Lienhard läßt uns ſo fein horchen, 
daß wir Töne hören, die grade durch unfre Gegenwart ſchwingen. 

Zwei Andeutungen mögen hier als Beleg folgen. Die erſte wirft zugleich ein Licht auf 
Klopſtocks Stellung in ſeiner Zeit und ſeine Tragik, wenn man ſo will. 

Klopſtock ſchreibt an Gleim von feinen — nach Lienhard „heute nicht mehr ernſt zu nep- 
menden“ — altgermaniſchen Studien, und Lienhard fragt danach: „Hier Hingt etwas durch, 
was uns aufhorchen läßt. Sft es nicht offenbar, daß Klopſtock den Mangel jener Zeit an national- 
hiſtoriſcher Bildung empfindet? Fit er nicht felber dieſem Kulturmangel erlegen?“ Und dann 
weiter: „Es fehlte der wiſſenſchaftliche Boden, und es fehlte die modern- nationale Kultur.“ 

Vollends modern aber muten uns Klopſtockſche Ideen an, wenn wir an anderer Stelle 
Lienhard weiter hören: „In einigen Gedichten feiner allerletzten Jahre ſchlägt Klopſtock Ge- 
danken an, die auf eine zukünftige, auf eine großzügig-religiöfe oder, wenn man will, phan- 
taſievoll⸗myſtiſche Weltanſchauung hinweiſen, etwa im Sinne Fechners oder der modernen 
Theoſophie; der Gedanke nämlich: „Wähnt nicht, ich fable, wenn ich von den Seelen finge der 
Sterne“ ift bekanntlich in Fechners „Zendaveſta“ ausgeführt. Und wahrhaft erhaben ift grade 
das letzte Gedicht — ein Jahr vor feinem Tode — unfres erhabenen Sängers: ein viſtonärer 
Beſuch auf einem reifer entwickelten Stern (Die höheren Stufen).“ 

Auch das Problem „Rouſſeau“ möchte ich noch kurz ſtreifen, da es neu beleuchtet wird, 
wenn wir plötzlich Heinrich von Stein über ihn hören: , Nouffeaus Lehre bezieht fih darauf, 
was im Menſchen das wahrhaft Natürliche fei.“ Und Lienhard fügt dazu: „Rückkehr zu dem, 
was dem Menſchen natürlich ijt, im Anterſchied vom Tier. Zene Zeit hat zunächſt 
nur Teile von Rouffeaus Idealen erfaßt. Aber die ſchwerere Hälfte, die Richtung auf die Be r- 
edlung des eigenen Innern: — dieſe unbequeme Forderung überſah man oder überließ 
ſie einzelnen. Erſt in Kant, Schiller und Goethe erfüllen ſich dieſe bedeutenden Erkenntniſſe.“ 

3h gehe zum vierten Band: Herder und Zean Paul. Dazwiſchen finden wir 
eine Abhandlung über das „Harzer Bergtheater“, über Wilhelm Raabe, Scheffels Wartburg- 
roman und einen wunderfeinen Aufſatz über Novalis, betitelt: „Magiſcher Idealismus“. 
Wagners „O fint hernieder, Nacht der Liebe“ aus „Triſtan und Iſolde“ wird neben Nopalis’ 
Lied an die Nacht des Unbewußten und der Liebe geſtellt. Aber plötzlich wird das Thema der 
Liebe, wenn auch der höchſten, in ein neues Licht gehoben: „Dieſe gegenfeitige Wirkung der 
beiden Geſchlechter ift eins der wichtigſten Förde rungs mittel der Menſchheit, 
auf jeder Stufe, vom leidenſchaftlichen Romeo oder Paolo, deren wilde Liebe mit einem Bu- 
ſammenbruch endet, bis zur reifen Freundſchaft eines Michelangelo mit ſeiner Vittoria Colonna. 
Das Wichtigſte dabei iſt die Wirkung; dieſe Wirkung iſt zerſtörende oder reinigende Flamme, 
wärmende oder leuchtende Feuererſcheinung, in der ſich das Leben offenbart.“ 

Herders eigenartige Stellung in der Literatur wird bedeutend dargelegt. „Um ihn 
weht Zukunftsluft.“ Das heißt, er hatte die Fäden in der Hand, die von Klopſtock über ihn 
bis in die Neuzeit zu Richard Wagner führen: das Religiös-Nordiſche, das unſre Großen, Sdil- 
ler und Goethe, in einer ausſchließlichen Hinwendung zur Antike vernachläſſigten. 

Sean Paul erhält eine individuell getönte Würdigung. Von Rlopftod ſagte Lien- 
hard einmal: „Man kann ſich dem Eindruck nicht verſchließen, daß ſich Klopſtock höchſtens bis 
zu Metas Tod (1758) dichteriſch entwickelt hat. Es blieb um ihn Zünglingsftimmung. ... Der 
Schritt zum Vollmann, der Schritt zum Vollgenie war ihm nicht vergönnt.“ So 


816 Lienhards „Wege nach Weimar“ 


läßt uns Lienhard durchblicken, daß auch Jean Paul dieſer „Schritt zum Vollmann“ nicht 
gegeben war. Den „genialen Kindskopf“ nennt er ihn einmal. „Und doch“, heißt es nach einer 
glänzenden Darftellung Jean Paulſcher Eigenart, „gab der reiche, bewegliche Jean Paul 
eigentlich nie die ‚grüntaffetne Kinderhaube“ aus der Hand und behielt lebenslang den Zujam- 
menhang mit dem Kleinen, mit Tieren, mit närriſchen Beſonderheiten, blieb witzig, regſam, 
wechſelnd, weich, empfindſelig, begeiſtert, ironiſch, — nie verdichtet und nie verhärtet. Aber 
wir verſchließen uns nicht der geradezu naturgeſchichtlichen Tatſache: — nur durch dieſen küͤnſt⸗ 
leriſchen Verzicht war fein dichteriſch-gedanklicher Reichtum möglich.“ 

Nebenbei: Wer von der Menſchheit wohl überhaupt den „Schritt zum Vollmann“ 
bewußt zurücklegt? Ich fürchte, die Mehrzahl der Menſchen behält die „grüntaffetne Rinder- 
haube“ lebenslang in der Hand... 

Dies genüge zur Andeutung des vierten Bandes, der noch umfangreiche Betrachtungen 

über das Weſen und die Ausdrucksmittel der Poeſie enthält. Noch eine Stelle über Herder und 
Sean Paul führe ich zum Schluß an, da fie uns zu Schiller und Goethe führt. Nach einem Zitat 
aus einem Jean Paulſchen Briefe — die Begegnung und die überſchwengliche Begrüßung die- 
ſes und Knebels mit Herder ſchildernd — fährt Lienhard fort: 
MWùWw dit dieſem Akkord find wir in Jean Pauls Gärten der Freundſchaft. Kann man fih 
eine gleich ſtürmiſch-herzliche Formdurchbrechung bei Schiller und Goethe denken? Eine erft- 
malige Begrüßung mit naſſen Augen und erſtickender Freude und immer neuen Umarmungen? 
Nein. Und zwar nicht aus einem Mangel an Gefühl, vielmehr aus Gehaltenheit der Form. 
Hier liegt der Unterſchied zwiſchen Herder nebſt Jean Paul und Schiller und Goethe. Dort 
viel weiche, warme Seele, über die Ränder fließende Seele — hier als Zdealguftand ein Gleich- 
gewicht der Kräfte.“ | 

„Gehaltenheit der Form“, „Gleichgewicht der Kräfte“, — das ift die Art, in ber ſich der 
klaſſiſche Menſch nach Lienhard offenbart. Zu ihm haben ſich Schiller und Goethe durdhgerun- 
gen. Schiller raſcher, feuriger, dramatiſcher, wie es feinem „auf 45 Jahre geſetzten Lebens- 
programm“ zukam, und demgemäß früh- vollendet, früh- verbraucht; Goethe langſamer, all- 
mählich reifend, aber trotzdem noch ſchwerer, vielleicht innerlicher, leidend in feinem Aufwärts- 
kampf als Schiller, in deffen heiter-heller männlicher Natur Wolken nicht lange ſtandhielten. 

Goethe und Schiller ... Gielen erhabenen Aufftieg großer Seelen, dieſen auf 
die Menſchenhöhe führenden Läuterungsprozeß ſtellt Lienhard in feinen beiden letzten Bän- 
den der „Wege nach Weimar“ dar. 

Schiller ſelbſt iſt in ſeinen Grundlinien plaſtiſch und eindrucksvoll gezeichnet. Lienhard 
ſchildert ihn hauptſächlich als „Erzieher zur Männlichkeit“. Hier nur fo viel, daß ein mir be- 
kannter bedeutender Kopf, dem gerade dieſer Schillerband in die Hände fiel, einem Ljter aten 
gegenuber äußerte: „Was wir eigentlich an Schiller haben, das zu wiſſen, verdanke ich den 
Wegen nach Weimar“ 

Den Schillerband füllt außer einer Humboldt Würdigung noch o bine au aus. 

„Wilhelm von Humboldt iſt eines der ausgeprägteſten Beiſpiele vornehmer deutſcher 
Bildung“, beginnt Lienhard feinen Aufſatz über ihn mit der Überſchrift: „Humboldts Bildungs- 
ideal“, dem das ruhig-ſchöne Bild Humboldts vorangeſtellt ift. „Diefe Bildung trägt zwar das 
Gewand des klaſſiſchen Zeitalters, aber in ihrem Kern und Weſen iſt ſie unvergänglich. Denn 
ſie hat das Menſchenproblem an der Wurzel erfaßt: ſie hat die richtige Mitte gefunden und zu 
behaupten geſucht zwiſchen Spannung und Entſpannung, zwiſchen tätiger und latenter Energie, 
zwiſchen Tat und Beſchauung. Sie wird beiden gerecht, ſie läßt beides ſich gegenſeitig befruchten 
und ergänzen.“ 

Wie fein Lienhard dem gedankentiefen Wilhelm von Humboldt und deffen Bildungs- 
ideal gerecht wurde, zeigt ein hocherfreuter Brief Chamberlains an Lienhard, aus dem Stellen 
im Tagebuch des fünften Bandes veröffentlicht werden. 


Lienhards „Wege nach Weimar“ 817 


Sn den Ausführungen über des Grafen Gobineau „Raſſentheorie“ gewinnen wir einen 
eigenartigen Einblick in die Weitzügigkeit dieſes Edelmenſchen. Betont auch Lienhard: „Für 
mich gilt nur die Edelraſſe ſchöner Seelen“, dem einſeitigen Ariertum gegenüber, ſo verſtummt 
doch jeder wiſſenſchaftliche Streit bei dem Blick in des „großen und guten Mannes“ große Seele. 
Wir ſehen ſtaunend das Heroiſche, das im Grunde der Funke iſt, der allein einen Menſchen groß 
macht. Lienhard nennt es an einer andren Stelle den „Geniefunken in uns“. Denn wir alle 
haben ihn in uns, betont Lienhard bei jeder Gelegenheit weiter. Und das ift zugleich das Empor- 
ziehende, zu innerer Entwicklung Begeiſternde, das durch Lienhards Schriften geht. Lien- 
hard der Erzieher“ hat man ihn genannt. Doch darf das nicht einſeitig genommen werden. 
Lienhard ift fo unbefangen, wahrhaft frei und fo ſehr wirklicher Künſtler, auch in dieſen Nach- 
ſchöpfungen, daß das buͤrgerlich- pädagogiſche Wort „Erzieher“ ſchlecht paßt. Man müßte denn 
an Menſchheitserziehung denken, im großen Stil, ja, da könnte das allenfalls gelten. 

Das wiſſenſchaftlich Neue, was Lienhard von Gobineau bringt, iſt eine Abhandlung 
über deſſen „Amadis“, ein Heldengedicht von über 500 Seiten großen Formats, eine der 
mächtigſten Gobineauſchen Oichtungen, die bis jetzt unüberſetzt und in Oeutſchland faſt voll- 
ftändig unbekannt war. Den Anſtoß dazu gab der Vorkämpfer Gobineaus und Dberfeger: 
Profeſſor Schemann, der Lienhard brieflich dazu aufforderte mit dem Schlußſatz: „und mich 
dünkt, es wäre Ihrer in hohem Grade würdig, dies zu tun.“ 

Die Lichtentwicklung — Entwicklung zum Licht — des Helden Amadis und feiner Geliebten 
iſt ein großartiges Thema! Dieſe Ausführungen ſind in einem kleinen Heftchen unter dem Titel 
„Gobineaus Amadis und die Raſſenfrage“ (Stuttgart, Greiner & Pfeiffer; 50 9) von Lien- 
hard als Sonderabdruck herausgegeben und im Buchhandel zu haben, mit einem Bild des 
Grafen Gobineau und der von ihm modellierten Büſte des Amadis, die jetzt in Straßburg in 
einem Gobineau-Zimmer aufgeſtellt iſt. Dieſe gibt nebenbei einen Begriff von der Vielſeitigkeit 
des ſchöpferiſchen Grafen. 

Eine aphoriſtiſche Betrachtung über Rich ard Wagner, mit deffen Bildnis ge- 
ſchmückt, ziert ebenfalls den Schillerband. 

Die Stelle fällt uns darin auf: „Wagner hat das Ideal bewegter Ruhe in aller Unruhe 
immer vor Augen und ſpricht es einmal in den Briefen an Mathilde Weſendonk mit durchaus 
an das klaſſiſche Zeitalter erinnernden Worten aus: „Es muß einen unbeſchreibbaren inneren 
Sinn geben, der ganz hell und tätig nur iſt, wenn die nach außen gewendeten Sinne etwa nur 
träumen. Wenn ich eigentlich nicht mehr deutlich fehe noch auch höre, ift dieſer Sinn am tätigſten, 
und er zeigt ſich in ſeiner Funktion als produktive Ruhe: ich kann's nicht anders nennen 
Und das weiß ich, daß jene Ruhe von innen nach außen dringt, und daß ich mit ihr im Zentrum 
der Welt bin.“ 

Wenn Lienhard derartige Erkenntniſſe und Entwicklungen immer wieder bei den ver- 
ſchiedenartigſten Genies herausſchält und beleuchtet, fo kommt einem unwillkürlich der Ge- 
danke, daß über die tiefſten Lebensdinge im Grunde doch ſchließlich all e bedeutenden Men- 
ſchen dasſelbe gedacht haben. Mir kam dies wie ein Aufleuchten beim langſamen Mitwandern 
dieſer „Wege nach Weimar“. Oieſe Erkenntnis aber iſt groß und beruhigend, zugleich vor⸗ 
wärtsdrängend und aufwärtsziehend. Sie ga fein Verzagen an der Menſchheit und ihrer 
Beſtimmung aufkommen. 

Den Gipfel ſeiner Wanderung aber erſteigt meines Erachtens Lienhard im letzten Band: 
Goethe. 

Es mag ſein, daß Lienhard deshalb hier am klarſten und einfachſten verfahren konnte, 
weil wir von Goethe am meiſten wiſſen und daher der Schilderung ſeiner inneren Entwicklung 
am beſten folgen können. Und dann auch: weil Goethe der menſchliche Menſch, der vielſeitigſte 
und reichſte war und doch in keinem Zug etwa nur „apart“ oder „außergewöhnlich“. 


Der Türmer XI, 12 52 


818 Lienhards „Wege nach Weimar“ 


Lienhard fußt, wie ich im Anfang ſchon erwähnte, auf dem Zwieſpalt und Ausgleich 
von „innen und außen“: dem Geſetz der Polarität, der Wirkung und Gegenwirkung, dem Goethe 
unterworfen war, und dem wir, wenn wir nachdenken, alle mehr oder minder unterworfen 
iind. „Es ijt keine Rückſchau allein, wenn wir uns an Goethe zurechtfinden“, ſagt der Heraus- 
geber in der Einleitung; „es ift zur beſſeren Hälfte eine Einſchau in unfre eigenen Möglichkei- 
ten und eine Emporſchau zu den Zielen und Zdealen, die uns ſelber dabei aufleuchten.“ 

Über Wirkung und Gegenwirkung ſagt einmal Goethe ſelbſt: „Der Menſch ift kein leb- 
rendes, er ift ein lebendes, handelndes und wirkendes Weſen. Nur in Virkung und Gegen- 
wirkung erfreuen wir uns.“ | 

Es führt zu weit, näher darzulegen, mit welch ſcharfen Linien Lienhard dieſe zwie- 
fachen Grundlinien zieht. Als Ergebnis bezeichnet er: „And ſo bildet denn die Wechſelwirkung 
von fenfitiver künſtleriſcher Cindrudsfabigteit und geiſtigem Verarbeitungswillen den Grund- 
zug von Goethes Leben.“ 

Daß hier eigene Wege betreten werden, ahnt der Leſer wohl allmählich. „Aber dieſen 
reifen Meiſter deutſcher Literatur und Dichtung find ganze Bibliotheken geſchrieben worden. 
Man wird nicht erwarten, daß ich hier die Summe ziehe, wenn wir auch manchen dieſer Bücher 
dankbar Anregung ſchulden. Die Eigenart unſerer geiſtigen Wanderung bringt es mit ſich, 
daß wir bei einer Betrachtung Goethes nicht landläufige Wege beſchreiten werden. Was wir 
hier bringen, iſt perſönlich verarbeitet und innerlich erlebt.“ 

Sa, das ift es. Und man muß das Ganze in den „Wegen nach Weimar“ überſchauen 
und auf fid wirken laffen, um die durchdachten und innerlich verarbeiteten Nachſchöpfungen 
dieſes bedeutenden Führers in ſich aufzunehmen. 

Wie ſehr jene großen Menſchen der klaſſiſchen Zeit aufs Ganze gerichtet waren, wird 
uns hier klar. Von Schiller und Goethe ſagt Lienhard ſchön: „Schiller und Goethe bildeten eine 
Wechſelwirkung wie Idee und Erfahrung, aber ihr Einigendes beſtand eben darin, daß fie beide 
von ihrer Beſonderheit aus das Ganze ſuchten, fühlten, beſaßen, ja auf Ganzheit angelegt 
waren.“ 

In der Einleitung zu feinem letzten Band führt Lienhard Euckens Worte an („Lebens- 
anſchauungen großer Denker“): „Gegenüber dem verſtandesmäßigen Räſonnement erhebt ſich 
ein Verlangen nach durchgreifender Belebung und unmittelbarer Bewegung des ganzen 
Menſchen, gegenüber dem Streben nach Nützlichkeit die Forderung eines Sel bſtwertes 
des Tuns, gegenüber der praktiſch-moraliſchen eine künſtleriſch- univerſale Ge 
ſtaltung des Lebens, gegenüber der Spaltung von Welt und Menſch ein Verlangen nach inne- 
rer Einigung mit dem All.“ 

Und Lienhard fügt ſchlicht hinzu: „Als einen Verſuch, diefe reinmenſchlichen Grund- 
lagen wieder klarzuſtellen, bewerte man dieſe Wege nach Weimar.“ 

Von jeder weiteren Erwähnung der in den beiden letzten Bänden niedergelegten Fülle 
von Aufſätzen (Walküren, Elementargeiſter, Goethe und die Frauen uſw.) oder Tagebuch 
blättern muß ich abſehen. 

Über dieſe Fülle des Inhalts wäre aber noch ein Wort zu fagen. 

Wohl find dieſe ſechs Bände inhalts- und gedankenſchwer und die Frucht mehrjähriger 
ernſter Arbeit. Aber jeder dieſer Bände bietet wieder ein febr gut für fic) lesbares Ganzes. 
Es ift erſtaunlich, w a s hier für dieſen niedrigen Preisſatz geboten werden konnte. Zu Gefdent- 
zwecken an wahrhaft Gebildete, mit Oenkkraft Begabte — Lienhard äußerte einmal: „Ich winihe 
mir ein Publikum, unbefangen und mit Oenkkraft“ — könnte man ſich nichts Anregenderes vor- 
ſtellen als dieſe ſchön und vornehm ausgeſtatteten Bücher. 

Lienhards St il könnte man goethiſch nennen in feiner knappen, klaren Einfachheit, 
feiner harmoniſch geſammelten Ruhe, wäre nicht feine individuelle Ausmeißelung, feine per- 
ſönliche Färbung in Klang, Wortſchatz und Wortwahl wieder ſpezifiſch modern. 


Goethes Fault auf der modernen Bühne 819 


And ſo dürfen wir denn wohl dieſen knappen Hinweis mit einigen guten Wünſchen 


ſchlleßen. 


Sollte beim Leſen dieſer Andeutungen — denn nur Andeutungen ſind dieſe Hinweiſe 
auf Lienhards gedrängten Stoffreichtum — der Lefer neugierig geworden fein, diefe mert- 
würdigen Geiſteserzeugniſſe ſelber kennen zu lernen, ſo würde ich mich belohnt fühlen, zugleich 
der Leſer aber, das ſage ich aufs beſtimmteſte, ſeine Erwartungen übertroffen ſehen. Hier 
liegt nationales Gut angeſammelt; hier find Schätze „ins Enge gebracht“ von reifer Rünftler- 
hand. Dafür können wir Seutſchen ihm dankbar fein. Es ift Kulturarbeit, die Lienhard für 
uns getan hat. M. S. 


2 
Goethes Fauſt auf der modernen Bühne 


Jas lebhafte Reformbedürfnis und die lebhaften Reformbemühungen, die heute in 
unserem Theaterleben allerorts wirkſam find, gehen aus ſowohl von der Praxis 
i wie von der genetiſch-hiſtoriſchen Betrachtung unſerer Theater- 
entwicklung. Die erſte Anregung aber kommt, allen anderen Behauptungen zum Trotz, 
ſicher aus der Praxis und aus dem Publikum, freilich nicht aus der großen Maffe des Publi- 
tums, welches nur zur Unterhaltung ins Theater geht. Im Publikum ift denn auch die Ber- 
ſtimmung gegen die Mängel der Ruliffenb ith ne erwadjen und hat zu den Bemühungen 
geführt, ſie in der Theaterpraxis abzuſchaffen. Dieſe alte Kuliſſenbühne, welche nur in der 
Vorderanſicht aus dem Parkett denjenigen ſinnlichen Raumeindruck auf der Bühne gewährt, 
welcher erſtrebt wird, ift denn auch heute allgemein beſeitigt, jedenfalls in allen größeren Thea- 
tern; fie kommt nur noch in den kleinen Provinztheatern und auf der Schmiere zur Anwen- 
dung. Aus dem Umſtand, daß vom Publikum, d. h. von den Genießenden, die Reform einſetzt, 
erklärt ſich auch, daß die nächſten Vervollkommnungsverſuche durchaus im Rahmen der Ten- 
denz blieben, die Flluſionsſtörungen zu beſeitigen, welche die Kuliſſenbühne nicht 
vermeiden konnte: die perſpektiviſchen Verzerrungen von den Rängen und der Seite 


her, den Durchblick durch die Kuliſſen auf den Bühnenraum und die Soffitennöte (Soffiten 


find diejenigen Kuliſſen, welche die Balken des Schnuͤrbodens dem Zuſchauer maskieren). Es 
iſt bekannt, wie man dieſen Übeln abhalf, den Soffittenſchwierigkeiten z. B. durch einen 
febr weit nach unten verſchiebbaren Bor derrah men. An Stelle der Kuliſſen führte man 
die Veſatzſtücke, die geſchloſſenen Zimmer, für freie Landſchaften den Rundhorizont ein uſw. 
So entwickelte ſich allmählich das Bühnenbild, das wir auf unſeren heutigen großen Theatern 
gewöhnt find, welches alle Einrichtungen und ſelbſt weſentliche Stücke der natür- 
lichen Dekoration, wie Bäume im Vordergrund, in körperlicher Greifbarkeit darſtellt und 
nur mit großer Vorſicht allmählich eine perſpektiviſche Verkürzung mit Mitteln der Malerei 
erſtrebt. Dieſer Bühne wird nun in neuerer Zeit die ſtiliſie rende Bühne des Mün- 
chener Künſtler Theaters an die Seite geſtellt, welche auf das Prinzip der Fllufions- 
erzeugung, alfo der genauen Nachbildung der Wirklichkeit, vor allen Dingen der Ortlichkeit 
verzichtet. Eine möglichſt indifferente Bühnenausſtattung foll die Möglichkeit 
ſchnellen Szenenwechſels dadurch ſchaffen, daß mit ihrer Hilfe die verſchiedenartigſten Ortlid- 
keiten unter leichten Variationen geſchaffen werden können. Demſelben Zweck dient die Unter- 
ſcheidung eines Proſzeniums und einer Hinterbühne. Innenräume werden auf der Hinter- 
bühne durch verſchiebbare Wandteile mit unbeſtimmt gequadertem Mauerwerk im Hinter- 
grunde abgeſchloſſen, landſchaftliche Ausblicke mit Beſeitigung der Hinterwand durch Pro- 
fpett und Rundhorizont gegeben. Das Proſzenium dient für Chöre, Volksgruppen ufw., „Toll 
aber im allgemeinen eine Art Pufferſtaat zwiſchen des Publikums Wirklichkeit und dem ſtili⸗ 


820 Goethes Fault auf der modernen Bühne 


fierten Leben vorſtellen“. An Stelle nun der Fllufionswirkung tritt eine nach Abſicht des Künſtler⸗ 
Theaters zur Interpretation dienende, ſtimmungſchaffende Wirkung von Linie und 
Farbe, die man vielleicht am beiten vergleichen könnte mit der interpretierenden Bedeu- 
tung des Tones für das Gedicht in dem geſungenen Lied. Beleuchtungseffekte ſind natürlich 
außerordentlich bedeutſam. Dieſe Stiliſierung ift jedoch nur eine der im Drama über- 
haupt möglichen. Sie geht auf die äußere Erſcheinungsform im Raum aus; 
ebenſo kann man aber ausgehen von der Stiliſierung des geſprochenen Wortes; und dieſe 
Stiliſierungstendenzen haben ja bekanntlich eine lange hiſtoriſche Entwicklung hinter ſich. Sie 
ſpielen in unſerer modernen Bewegung kaum eine Rolle. Wir kommen nachher darauf zurück. 
Zwiſchen den Anhängern der vollkommenen Zllufionsbühne und denen des Künſtlertheaters 
iſt ein heftiger Kampf entbrannt. Dieſer Kampf iſt nur deshalb möglich, weil beide Parteien 
allzu rückſichtslos die ganze Bühne und die geſamte dramatiſche Produktion für fih in Anſpruch 
nehmen, wenigſtens im Prinzip. Demgegenüber muß hier andeutend feſtgeſtellt werden, 
daß beide Darftellungsweifen in fih durchaus ihre Berechtigung haben, daß beide aber wie 
jede Darſtellungsweiſe bedingt ſind durch das individuelle Kunſtwerk, um das es ſich jeweils 
handelt. Alle diejenigen Kunſtwerke, welche die Handlung gebunden erſcheinen laſſen an 
die Umwelt in einer ganz beſtimmten zeitlichen und örtlichen Bedingtheit, d. h. vor allen Dingen 
alle die Dramen, die man als Kulturdramen bezeichnen könnte: das hiſtoriſche Drama und das 
tendenziöſe Gegenwartsdrama, insbeſondere das ſoziale Drama, gehören unbedingt der Zllu- 
ſionsbühne an; dasjenige Drama dagegen, welches von dieſen zufälligen zeitlichen und örtlichen 
Erſcheinungen der umwelt innerlich unabhängig iſt, oder — im Hinblick auf den alten Beſtand 
unferer dramatiſchen Literatur — ohne Schädigung feines Weſens unabhängig 
gemacht werden kann, ift dem Künſtler-Theater zugänglich und kann unter Umſtänden 
durch eine Stiliſierung des Ortlichen nur gewinnen. Und zwar ſind es diejenigen Dramen, 
welche das allgemein Menſchliche oder das nur Seeliſche (um die beiden wich- 
tigſten Gruppen zu nennen) zur Geltung bringen. Von unſeren klaſſiſchen Dramen gehören 
dahin etwa Goethes Taſſo und Iphigenie und Schillers Braut von Meſſina, für die man freilich 
weniger beengte Verhältniſſe gebrauchte, als fie das „Münchener Künſtler- Theater“ aufweiſt. 
An der Grenze würde etwa nach ſeiner Vollendung Hebbels Moloch zu finden ſein. Zu jener 
anderen Gruppe der nur ſeeliſche Vorgänge zur Darſtellung bringenden Dramen gehören 
Maeterlints Schöpfungen. Der ſchwerſte Fehler, der bisher im Prinzip des Künſtler Theaters 
gemacht worden ift, ift der, daß das ſtimmungſchaffende Element maleriſcher Art zu jel b- 
ſtändig in den Vordergrund getreten ift, und daß die Stiliſierungsprinzipien allzu ſtarr 
von außen her in gleicher Weife an die verſchiedenen Kunſtwerke herangebracht 
wurden. Dieſe Stiliſierung ging aus vom Cheater und brachte in erter Linie die Inter- 
ellen des Theaters zur Geltung; eine unanfechtbare Stiliſierung aber muß und darf nur aus- 
gehen vom Kunſtwerk, von innen heraus, und ſolange die Bühne des Künſtler Theaters 
den verſchiedenartigſten Anforderungen einer inneren Stiliſierung nicht Genüge leiſten 
kann, hat es ſchwerlich Ausſicht auf dauernden und beſtimmenden Einfluß. Anregungen 
aber für diejenigen Theaterleiter, welche lediglich von der Interpretation des Kunſtwerkes 
von innen heraus ausgehen, hat das Kuͤnſtler⸗Theater in der letzten Spielzeit fraglos in reichem 
Maße gebracht. 

Grade dieſe Bühnenleiter ſuchten naturgemäß nach einem Drama, welches ihnen Ge- 
legenheit gab, die verſchiedenſten — aus den teilweiſe außerhalb der Dichtung liegenden 
Geſichtspunkten hier und dort zur Geltung kommenden — Anregungen innerlich zu per- 
arbeiten und neue zur Geltung zu bringen als Mittel zum Zweck, wo fie bis her Gel b ft- 
zweck geweſen waren. Dieſem Bedürfnis verdankt meines Erachtens Goethes Fauſt das neue 
Intereſſe der großen Bühne. Hier bot fih eine Dichtung dar, an welcher unfer größter Dichter: 
ſein ganzes Leben hindurch gearbeitet hat, in der ſich darum alle Stilwandlungen, die der 


Goethes Fault auf der modernen Bühne 821 


Dichter durchmachte, widerſpiegeln in den verſchiedenen Entwicklungsſtufen und ihren Reful- 
taten in den einzelnen Teilen der Dichtung. Hier boten fih Szenen, welche durchaus der ver- 
vollkommneten Illuſionsbühne gehören, und andere, die durch eine gewiſſe Stilifierung eine 
neue Kraft in der Veranſchaulichung auf der Bühne gewinnen konnten und mußten. Wir 
vergleichen, um die Fauſtinſzenierungen der letzten Jahre in ihrer Bedeutung für die Ent- 
wicklung richtig einzuſchätzen, fünf Aufführungen: die der Düſſeldorfer Goethe- 
feſtſpiele, die des Münchener Künſtler- Theaters, die Rein hardts im 
Deutſchen Theater in Berlin, die Hagemanns im Nationaltheater in Mannheim und die 
Marterſteigs im Stadttheater in Köln. 

Die Aufführung der Düſſeldorfer Goethefeſtſpiele, die den erſten und zweiten Teil brachte, 
war durchaus alten Stiles und in derſelben Weiſe Iden vor Jahren zur Geltung gebracht wor- 
den. Hier haben wir die Illuſionsbühne ohne beachtenswerten Einfluß von den neuen Reform- 
bewegungen her, ja in den Szenerien des zweiten Teiles fanden wir fogar noch die alte Kuliſſen- 
bühne. Gegenüber den modernen Beſtrebungen, welche ungleich tiefer gehen, kommt dieſe 
Aufführung eigentlich kaum noch in Betracht. Sie litt zudem unter Mängeln, welche nicht nur 
im Prinzip der Kuliſſen- und Illuſionsbühne lagen, vor allem unter der fatalen Muſik Bungerts, 
die an Außerlichkeit, beſonders im erſten Teil, wirklich nichts zu wünſchen übrig ließ. Die Auf⸗ 
führung litt ferner unter der ſchauſpieleriſchen wie ſprachtechniſchen Stilverſchiedenheit der 
Hauptdarſteller. Heute kann und ſoll jeder Schauſpieler ſeine individuelle Auffaſſung im erſten 
Teile des Fauſt durchaus in realiſtiſcher Technik, entſprechend dem Realismus der Dichtung, 
zur Geltung bringen. Das geſchieht auch auf allen modernen Theatern; es gibt aber neben der 
individualiſtiſchen Auffaſſung der Einzelrollen auch noch die der Einzel ſz e n en, welche Sache 
des Regiffeurs ift. Er muß die Auffaſſung feiner Schauſpieler mit feiner eigenen Szenenauffaj- 
ſung in Einklang zu bringen ſuchen durch Abdämpfung und Aufſetzen von Lichtern. An eine 
einheitliche klaſſiziſtiſche Sprachſtiliſierung wird niemand im Ernſt beim Fauſt denken. Aber in 
Düſſeldorf fehlte diefe ausgleichende ſzeniſche Individualiſierung und wird, wenn man nicht 
mit dem Prinzip, ſich Künſtler der verſchiedenſten Art allerorten zuſammenzuholen, bricht, 
um zu Enſemblegaſtſpielen überzugehen, niemals eintreten können. Es ift unmöglich, in einer 
Woche eine ſolche Einheit aus den heterogenſten Elementen zu gewinnen. Der Fauſt Gre- 
goris bot im einzelnen vortreffliche Interpretation, war aber unerträglich pathetiſch und manie- 
riert. Der Mephiſtopheles Kleins, eine ausgezeichnete Leiſtung ohne jede Prätenſion, von 
einem ganz innerlichen Realismus, wurde leider durch den Kontraſt zu Gregoris Rhetorik 
mitunter totgemacht. Vom zweiten Zeil foll hier nicht weiter geſprochen werden; ich hoffe 
darauf ſpäter einmal zu kommen, wenn in der nächſten Spielzeit auf allen großen Bühnen 
der zweite Teil inſzeniert wird. In Düſſeldorf wurde er durchaus zur Oper und zum Ging- 
ſpiel degradiert, wenn auch einzelne Szenen für ſich ausgezeichnet zur Geltung kamen, wie 
z. B. der ganze Schlußakt. 

Den denkbar größten Gegenſatz bot dazu die Aufführung des Münchener Künſtler⸗ 
Theaters. Haben wir in Oüſſeldorf die Illuſionsbühne ohne jedes Zugeſtändnis an die neuen 
Tendenzen und mit Benutzung aller äußerlichen Effekte einer Illuſionsbühne gehabt, fo haben 
wir hier ebenſo einfeitig und ebenſo gewalttätig vom Standpunkt der Interpretation der Dich- 
tung die Einzwängung von Goethes Fauſt in die Theatertendenzen der neuen Bewegung. 
Fritz Erler hat den Fauſt ſo zurechtgemacht, daß er auf dieſer Bühne möglich wird. Der Fauſt 
gehört aber nicht zu jenen Oramen, die man, wie oben ausgeführt, unbedingt dem Künſtler- 
Theater zugeſtehen darf, weil er im Einzelnen zuviel „Milieu“ zur Geltung bringt: das Klein- 
bürgertum in all feinen Schattierungen, das Studentenweſen in Auerbachs Keller, die phanta- 
ſtiſche Szenerie der Hexenküche, der Walpurgisnacht uſw., alles Momente, die für das Weſen 
der Dichtung unbedingt notwendig find. Es iſt alſo ein Irrtum, den erften Teil des Fauſt von 
der fo bezeichnenden Umwelt loszulöſen. Das allgemein Menſchliche aber und die Begebenheiten 


822 Goethes Fauſt auf der modernen Bühne 


in der Zdealwelt, deren örtliche Verfaſſung ja ganz der Phantaſie anheimgegeben ift, gelang 
auf dieſer Bühne naturgemäß vortrefflich, wie z. B. der Prolog im Himmel, während ſchon der 
Spaziergang vor dem Tor im Gänſemarſch und die Gartenſzene, erſt recht aber die übrigen 
bürgerlichen Szenen viel weniger farbig fih darboten, als die Dichtung es verlangt. Viele 
Szenen diefer Art mußten fih denn auch der Zllufionsbühne mehr nähern, als es wohl mit dem 
Stilgeſetz der Bühne ſich vertrug. Je innerlicher, ſeeliſcher die Handlung, um ſo gelungener 
war die Sarftellung auf dem Künſtler⸗-Theater; jo hat die Szene im Dom offenkundig eine 
ſtarke Wirkung auf die Theaterdirektoren ausgeübt. Hier wurde die weite Kirche im Dämmer⸗ 
ſchein nur angedeutet durch einen offenen Raum, in dem einzelne Kerzen ſchwelten. Gretchen 
lehnt an einem Pfeiler des Nebenſchiffes, welches die Bühne darſtellt, und in dem ſich noch einige 
Weiber befinden. Die Bildwirkung iſt hervorragend, die Stimmung bezwingend. Wenn man 
dagegen eingewendet hat, daß dieſes maleriſche Schauftüd die Aufmerkſamkeit von den Worten 
des böſen Geiſtes ablenken könne, ſo ſcheint mir dieſer Einwand geradezu lächerlich zu ſein. 
Denn es iſt ja gerade umgekehrt der Fall. Die früher beliebte, in der Tat auch von Goethe ſo 
gedachte bunte Kirchenverſammlung lenkt in Wirklichkeit ab, während hier die düſtere Stim- 
mung des dunkel-drohenden Chors, aus dem die Stimme des Geiſtes hervortönt, unſere Seele 
beſtändig bereit hält. 

Die übrigen Darſtellungen bei Reinhardt, Hagemann und Marterſteig 
gehen lediglich aus von der Interpretation der Dichtung und haben damit end- 
lich wieder den richtigen Standpunkt in der Inſzenierung von Goethes Fauſt gewonnen. Fret 
lich ift dieſer Standpunkt nur zu gewinnen auf Grund folder Inſzenierungsmittel, wie fie die- 
ſen drei Bühnen zur Verfügung ſtehen. Szenenzuſammenlegungen und Szenenverſchiebungen, 
wie fie die alten Einrichtungen ſtrupellos ſich geſtattet haben, find hier ſtreng verpönt. Das 
Ideal iſt, Goethes Fauſt ſo zur Darſtellung zu bringen und in eben der Folge der Szenen, 
wie Goethe ihn geſchrieben hat. Reinhardt und Marterſteig ermöglichten das durch die Ger- 
wendung der Drehbühne, Hagemann verſuchte ein älteres Verfahren neu zu beleben: die Ber- 
wendung der Bühnenwagen. Er ging von der Meinung aus, daß die Drehbühne deshalb nicht 
geeignet ſei, eine ſchnelle Szenenfolge, wie ſie der Fauſt erfordert (22 Szenenbilder), zu ſichern, 
weil die nötige Tiefe nicht gegeben fei. In der Tat können ja ſchon drei große Bilder mit größe 
rer Tiefenwirkung auf der Drehbühne nicht geboten werden, wenigſtens nicht, wenn eine gleich; 
mäßige Ausdehnung im Hintergrunde erſtrebt wird. Der verfügbare Raum läuft ja im Winkel 
auf das Zentrum der Kreisbühne zu. Hagemann baut deshalb ſeine Szenen auf rechteckigen 
Wagen auf, welche natürlich im Hintergrunde genau dieſelbe Breite haben wie im Border- 
grunde. Dieſe Wagen werden vor die Bühnenöffnung geſchoben; es gibt alſo keine andere 
feſte Bühne mehr hinter der Bühnenöffnung. Sie werden zum Teil von den Seiten her an 
einer Ecke davor gedreht, zum Teil aus dem Hintergrunde nach vorn geſchoben. Hagemann hat 
fraglos durch dieſe Methode vortreffliche Wirkungen erzielt: räumlich-weite Bühnenbilder 
aufſtellen können und es möglich gemacht, daß die Gretchenſzenen mit Pauſen von mitunter 
nur einer halben Minute aufeinander folgen konnten. Dieſe Bühnenwagentechnik verlangt 
natürlich ein außerordentlich geſchultes Perſonal, damit nicht ſtörende Geräuſche in den Bu- 
ſchauerraum eindringen. Nun iſt jedoch die Vorausſetzung Hagemanns nicht ganz ſtichhaltig; 
denn die Drehbühne braucht ja im Fauſt und ebenſo in anderen ſzenenreichen Dichtungen 
nicht immer Szenen von großer Tiefe. Einige Szenen wurden überaus wirkungsvoll ſowohl 
in Köln als auch in Berlin als Flächenbilder gegeben, wie z. B. bei Marterſteig Gretchen am 
Spinnrad in einem Bilde, das als Viſion aus dem Ounkel auftaucht, um wieder ins Dunkel 
zurückzufinken. Gretchens Zimmer wurde überall als Eckausſchnitt dargeſtellt, hinter dem nun 
ſchon wieder ein neues Bild inſzeniert werden konnte. 

3% kann nicht fagen, daß Reinhardt und Marterfteig in der Fähigteit, die Szenen ſchnell 
aufeinander folgen zu laffen, merklich hinter Hagemann zurüdgeftanden hätten. Marterfteig 


Goethes Fauſt auf der modernen Bühne 825 


hat ſogar noch manche Szenen in getrennten Bildern geboten, die Hagemann in ein Bild au 
ſammengelegt hatte. 

Soll man nun dieſe drei von der Interpretation der Dichtung ausgehenden Auffüh- 
rungen in ihrem Weſen einander gegenüberſtellen, ſo wäre die Hagemanns als gefällig, die 
Reinhardts als pikant und idylliſch, die Marterſteigs als großartig zu bezeichnen. Die größten 
ſchauſpieleriſchen Leiſtungen bot Reinhardt, die größere Auffaſſung dagegen Marterſteig. In 
Oüſſeld orf wurde wirklich alles geſpielt, die Zueignung und das Vorſpiel auf dem Thea- 
ter hier allein; der Prolog im Himmel durfte natürlich nirgends fehlen. In Düffeldorf wurde 
er wiederum opernhaft gegeben, die Monologe der Erzengel wurden z. B. unter Trompeten- 
geſchmetter und Trommelgeraſſel als Arien geſungen und blieben vollkommen unverſtändlich. 
Es war ſchauderhaft. Bei Hagemann fehlte es auch dem Prolog an Größe, dagegen fehlten 
nicht die beiden Engelköpfe der Raffaelſchen Madonna! Der gefällige Charakter kam auch darin 
zur Geltung, daß die Engel von Mädchen dargeſtellt wurden, während Marterſteig Männer- 
geftalten in feierlicher Haltung auf einer im Hintergrund ruhenden Wolke zeigte und Rein- 
hardt in pikanter Weiſe nur männliche Stimmen hören ließ, während von den unſichtbar 
Sprechenden Lichtſäulen in den Weltenraum hinabfielen, in dem Mephiſtopheles auf einer 
Wolke ſchwebte. Die Studierſtube Fauſts gab Reinhardt als dumpfes Kellerloch in einer doch 
ſehr einſeitigen Betonung des nekromantiſchen Elementes. Die Linienwirkung war vortreff⸗ 
lich, das ganze Gemach wirkte wie ein hoher Kamin, den Vordergrund füllte der Schreibtiſch 
Fauſts, der, dahinter ſitzend, mit dem Antlitz dem Publikum zugewandt, während der 
ganzen erſten Szene feinen Seſſel nicht verläßt, ſelbſt nicht bei der Beſchwörung des Erdgeiſtes, 
der als feurige Säule hinter dem Stuhl erſcheint. Bei Marterſteig war all das nicht ſo raffiniert, 
aber wundervoll abgeſtimmt in Ausſtattung und Farbe. Reinhardt dachte fih die Ortlichkeit 
für die bürgerlichen Szenen etwa in einem thüringiſchen Landſtädtchen; der „Oſterſpaziergang“ 
führt uns über eine Berghalde an der Stadtmauer entlang und war ſehr hübſch und fiir das 
kleinbürgerliche Milieu, das ſich entfalten ſollte, ſehr charakteriſtiſch. Marterſteig aber zeigte 
ſich hier unendlich überlegen. Er ging auf die große Unterredungsſzene am Schluß zwiſchen 
Wagner und Fauſt aus, welche bei Reinhardt geradezu verſtümmelt erſchien. Hier hat ſich, 
wie mir ſcheint, Marterſteig anregen laffen durch das Münchener Künſtler-Theater; aber er 
hat die beobachteten Wirkungen mit den Mitteln der Illuſionsbühne außerordentlich vertieft. Eine 
unendliche Ebene breitet ſich vor unſeren Blicken aus, die wir uns mit den Schauſpielern auf einem 
Hügel befinden, der den Vordergrund der Bühne bildet, eine Ebene mit fruchtbaren Wieſen, 
Feldern und eingebetteten Dörfern, über welche ſich allmählich alle Beleuchtungen des fteigen- 
den und ſinkenden Tages breiten, bis die tiefblauen Abendberge am Horizont in die Oamme- 
rung hinabgleiten. Der Vordergrund iſt erfüllt von den Spielen der Kinder und dem Tanz 
der Bauern, während der Weg in leichter Erhöhung um das Vordergebiet herumführt, alſo 
am höchſten über die Bühne leitet. Infolgedeſſen zeichnen ſich alle Perſonen, beſonders Fauft 
und Wagner, ſcharf ſilhouettenhaft gegen die Luft ab. Haltung und Gebärde kommen zu einer 
Geltung, die voll ausgenutzt wird zur ſtimmungskräftigen Erläuterung des geſprochenen Wor- 
tes. Unvergeßlich iſt das Bild des feierlich ergriffenen und das Bild des zu den Gefilden hoher 
Ahnen fih erhebenden Fauſt. Die Hexenküche war bei Hagemann etwas matt, aber die Len- 
denz, fie mehr zurückzudrängen und nicht zu einer großen Ausſtattungsſzene werden zu laffen, 
die nur theatraliſch wirkt, war ſehr anerkennenswert. Marterſteig und vor allen Dingen Rein- 
hardt zeigten hier dem Publikum, was fie leiſten können. Und in Anbetracht deffen, daß ſolche 
Momente ſchließlich ein Anziehungsmittel ſind, das der Bühnenpraktiker nicht entbehren kann, 
mag das gern gelten. Die Straßenbilder, die Brunnenſzene uſw. waren bei Reinhardt wieder 
ganz kleinſtädtiſch und überaus reizvoll; bei Marterſteig dagegen kam eine Szenerie zur Gel- 
tung, welche lebhaft an das Straßenbild einer größeren mittelalterlichen Stadt erinnerte. 
Wundervoll war zum Beiſpiel eine mächtige Domfaſſade, in welche der Brunnen eingebaut 


824 Goethes Fauft auf ber modernen Bühne 


war („Straße“). Im Zdylliſchen mußte natürlich Reinhardt nach dem ganzen Charakter feiner 
Auffaſſung Marterſteig überlegen ſein; ſo war ſein Garten und Marthes Haus viel ſchöner 
als die gleichen Szenen bei Marterſteig. Gleich wirkungsvoll und unheildrohend ſchwer war 
bei beiden der Zwinger mit dem Madonnenbild. Die Walpurgisnacht konnte ich bei Reinhardt 
nicht ſehen, da fie im Anfang noch nicht vorbereitet war. Bei Hagemann war fie mir zu opern- 
haft; es gelang ihm nicht entfernt ſo wie Marterſteig, das für die innere Entwicklung Fauſts 
Charakteriſtiſche für ſich in Wort und Bild gleicherweiſe zur Geltung zu bringen. Darin hat 
Marterſteig nach meiner Meinung ſchlechthin Vollendetes geleiſtet in ſeiner Walpurgisnacht. 
Sie verdient in ihrer glänzenden Auflöſung des Vielfältigen ins Große auch im Dekorativen 
das höchſte Lob. Auf einer wild- natürlichen Brücke, hinter der Fauft und Mephiſto herauf- 
ſteigen, ſpielen fih die Hexentänze ab, während die nackte „Schöne“ aus dem ſchwarzen, auf- 
flammenden Schlund darunter hervortanzt und Gretchens Idol aus dem Hintergrund heran 
ſchwebt. Von aller Tradition weicht ſchließlich die Inſzenierung der Kerkerſzene ab, die ſehr 
ſchön und groß war, wenn fie auch die Dichtung hier ſtatt zu interpretieren, eher um- 
färbte, weshalb ich mich im Prinzip nicht dafür erwärmen könnte. Der Wandel der 
Sternennacht zum Tage ſollte die Sinne mitſprechen laffen bei dem Wandel von der Ber- 
dammnis zur Erlöſung in Gretchens Sammer. So ſehen wir einen breiten Turm, zu dem 
Fauſt hinaufſteigt, ſie zu erlöſen. Und ſie ſelbſt tritt unter den freien Himmel hinaus. 
Bei Reinhardt war die Kerkerſzene im grellen Kontraſt dazu ſehr bedrückend, aber wieder äußerft 
pikant; fie hat ſicher vielfach denſelben Widerſpruch gefunden wie bei mir. Man fab nur in tie 
fem Dunkel einen ſchmalen, langen Ausſchnitt aus dem Kerker, der fo niedrig war, daß Gret- 
chen kniend ſchon die Decke berührte. Fauſt taucht nur auf der einen Seite mit dem halben 
Körper auf und verſchwindet dann wieder ſo. 

Wenn man alles zuſammennimmt, fo ift gar keine Frage, daß Marterſteigs Auf- 
führung die bedeutendfte der bis jetzt gebotenen darſtellt. Sie 
gibt ſich am innerlichſten dem vornehmſten und letzten Zweck der Interpretation der Dichtung 
hin; fie läßt am wenigſten andere, rein theatraliſche Geſichtspunkte für fih zur Geltung tom- 
men, und ſie nutzt doch beinahe alle Möglichkeiten aus, welche die neue Bewegung als Mittel 
zum Zweck der vollen ſinnlichen Veranſchaulichung bot. Bei ihm ſowohl wie auch bei Jage- 
mann nimmt die Szene Wald und Höhle die ihr in der Dichtung ſelbſt zukommende bedeut- 
ſame Stellung ein, und es kann auch an dieſer Stelle nicht energiſch genug verurteilt werden, 
daß Reinhardt den Fehler begangen hat, diefe Szene zu ſtreichen; ein ähnlicher Fehler Rein- 
hardts wurde oben in der Behandlung des Oſterſpaziergangs ſchon berührt. An der Marter- 
ſteigſchen Aufführung find, abgeſehen davon, daß Marterſteig natürlich nicht die Fülle gleich 
wertiger ſchauſpieleriſcher Kräfte zur Verfügung hat, nur einige Geſchmackloſigkeiten hervor- 
zuheben, die vielleicht in weiteren Aufführungen in der neuen Spielzeit zu vermeiden ſind. 
Zwei von dieſen glaube ich nicht verſchweigen zu dürfen. Einmal wird in der Domſzene der 
böſe Geiſt unbegreiflicherweiſe in ſichtbarer Geſtalt und magiſcher Beleuchtung vorgeführt, 
ein opernhaftes Element, das zu dem ganzen Charakter der Aufführung durchaus nicht ſtimmen 
will; die zweite Geſchmackloſigkeit iſt die Beleuchtung Gretchens bei dem Schlußwort: Sie iſt 
gerettet. Das find kleine Ausſetzungen; aber fie ſtören gerade die beſten Freunde der Marter- 
ſteigſchen Spieltendenzen aufs empfindlichſte, und deshalb fort mit ihnen aus einer ſonſt fo voll- 
kommenen Leiſtung! Dr. Carl Enders 


W 


Bücherkritie 825 


Bücherkritik 


Wer ſind unfere Rezenfenten, welche Legitimation haben fie zu ihrem Amte? 
> Der Kritiker, fo meint er, fei in den meiſten Fällen ein unglücklicher Liebhaber 
des Schrifttums, ein Außenſeiter der Zournaliftit, ein Auch⸗Schriftſteller, der fein literariſches 
Mißgeſchick durch eine ſcharfe Revanche an allem Gedruckten wettzumachen ſuche: „Jünglinge 
werden zugelaſſen, die fih über Bücher hermachen, denen fie eben noch eine beträchtliche Zu- 
fuhr an Bildungsſtoff zu danken hatten. Auch ſchöngeiſtige Frauen treiben den Sport der 
Buchkritik und laffen ſich an Stelle eines Honorars mit den Rezenſionsexemplaren beglücken. 
Die Buchrezenſenten wiſſen ja gewöhnlich überhaupt nicht, wie ein Schriftſtellerhonorar aus- 
ſieht. Die Ehre, mitarbeiten und vor ſeinem Freundeskreiſe die Rolle einer literariſchen Autori- 
tät ſpielen zu dürfen, iſt ja auch etwas. Wer wird eine Arbeit bezahlen, die Hunderte von ſchreib- 
wiitigen Meinungsferen mit tauſend Freuden ganz unentgeltlich leiſten? Die Literaturarbeit 
unferer Tageszeitungen ift der Tummelplatz des Dilettantismus geworden, und die Bud- 
kritiker find für die Leitung eine quantité négligeable. Es iſt begreiflich. Wer kann ein Gelichter 
achten, das fih mit Wolluſt auf Überrefte ſtürzt? Unſere Buchkritiker find mit geringen Aus- 
nahmen ein Heer von Schmarotzern und Kibitzen. Und der eigentliche Rezenſent fist in irgend- 
einer Studierſtube, fern von dem Freimarkte der Gratisexemplare, und geht wie der Dichter 
bei der Teilung der Erde leer aus, wenn die Schätze des Büchertifhes den Weg aller Habgier 
wandern. 

Es gilt, einen Augiasſtall zu reinigen. Man darf nicht glauben, daß fih die Verantwort⸗ 
lichen einer Zeitung deſſen nicht bewußt ſind. Es gibt auch Redaktionen, wo der Büchertiſch 
von der Gier zudringlicher Bettler verſchont bleibt. Aber dort ächzen und ſtöhnen die Ber- 
walter des literariſchen Teiles unter dem Ballaſt des Einlaufs, unter dem Maſſenandrange 
täglicher Poſtpakete. Wahllos und zahllos werden ihnen Pfundgewichte neuer Literatur aufs 
Pult geſchleudert, ballenweiſe ſchwillt der Vorrat an, unüberſehbare Buͤcherſtöße werden auf- 
geſchichtet, und ein Chaos von Autornamen und Büchertiteln tanzt vor ihren Augen. Wie Rat 
ſchaffen, wie ſich der Uberſchwemmung erwehren? Man greift zu Gewaltmaßregeln, man 
ſprengt die Papierberge auseinander und überlegt nicht viel, auf welchen Tiſch die einzelnen 
Bände fliegen. Wer in dem üblen Rufe ſteht, kein prinzipieller Verächter der ſchriftſtelleriſchen 
Produktion zu fein, wird vom Kopf bis zu den Füßen mit Novitäten beworfen. Und dem un- 
gluͤcklichen Opfer feiner Neigung bleibt nichts anderes übrig, als ein Maſſengrab zu errichten. 
Wenn er beſonders gewiſſenhaft iſt, ſchichtet er ein wenig Humus des Wohlwollens darüber 
und errichtet eine Gedenktafel, die mit den Namen der Autoren, den Titeln ihrer Buͤcher und 
den Verlegerfirmen eng beſchrieben ift. — 

Den überbürdeten Literaturpropheten darf man es nicht weiter verübeln, wenn ſich bei 
ihnen ein Widerwille gegen die Maſſenproduktion aufſpeichert, wenn fie mit unwirſchen Han- 
den in dem hundertbändigen Tageszuwachs herumſtöbern. Ihre Abneigung gegen ein Syſtem 
der Gerechtigkeit und Gleichmäßigkeit entſpringt der Ohnmacht. 

Man kann dieſe Übelftände entſchuldigen, beſchönigen niemals. An der Aberproduktion 
tragen nicht die Schriftſteller, ſondern die Zeitungen gleiche Schuld wie die Verleger. Ein 
Unfug hat den andern erzeugt. Die Zeitungen ſind außerſtande, die tägliche Flutwelle des 
Buͤchermarktes zu bewältigen. Aber fie hätten die Macht, überflüſſige Quellen zu verſtopfen, 
das Übermaß zu bändigen, die Spekulationsſucht der Verleger zu ernüchtern.“ 

Hierzu bemerkt Richard Weitbrecht im „Eckardt“ (Berlin SW. 68) ſehr richtig, daß es 
gunddjt ein ganz unberechtigter Anſpruch eines Menſchen fei, der zufällig ein Buch geſchrieben 
hat, es müſſe nun auch von den Zeitungen beſprochen werden. „Ich weiß mich in die Gefühle 


826 Bidhertritiz 


namentlich junger Autoren oder älterer, die endlich einen Verleger gefunden haben, ſehr wohl 
hineinzuverſetzen, wenn ſie Woche um Woche auf eine Beſprechung warten, und ſie kommt nicht. 
Und doch liegt verhältnismäßig wenig an einer Beſprechung; denn der Erfolg eines Buches 
hängt von ſo vielen unberechenbaren Faktoren ab, daß es ganz gleichgültig iſt, ob es gute oder 
ſchlechte Beſprechungen findet. Übrigens läßt ſich auch aus der böſeſten Kritik noch ein Sätzlein 
herausfiſchen, das anerkennt, wie die Zuſammenſtellungen von herausgegriffenen Sätzen aus 
einem Dutzend von Kritiken, die die Verleger zu machen pflegen, zeigt. Darum das heiße 
Verlangen, daß überhaupt über das Buch referiert wird, ganz gleich wie. Ein Buch trägt aber 
ganz allein in ſich ſelbſt, in ſeinem Wert den Anſpruch auf öffentliche Beſprechung, und weder 
hat ein Schriftſteller von berühmtem Namen ein Recht darauf, wenn ſein Buch ſchlecht iſt, 
noch darf man, wie vielfach geſchieht, deshalb ein Buch auf die Seite legen und unbeſprochen 
laffen, weil der Verfaſſer gänzlich unbekannt ift. Deshalb überlaffen es vernünftige Nedal- 
teure ihren Kritikern, ob ſie ein Buch der Beſprechung für wert halten oder nicht. Nur daß 
mancher Rezenſent, wenn er einmal Zeit und Mühe an das Lefen eines minderwertigen Buches 
gerückt hat, nun wenigſtens ein paar Groſchen durch die Beſprechung verdienen will. Die Bei- 
tungen müßten alſo eigentlich ihren Kritikern die Zeit bezahlen, die ſie auf ein Buch verwendet 
haben, nicht bloß die paar Sätze, die ſie darüber ſchreiben. Aber davon wird kaum die Rede 
ſein können, obwohl es eigentlich das Natürlichſte wäre. 

Es ift immer noch finanziell das ſchlechteſte Geſchäft, Bücher zu beſprechen; obwohl es, 
ernft genommen, eine große geiſtige Leiſtung und dazu fo verantwortungsvoll ift, daß ein ge- 
wiſſenhafter Kritiker feine Sätze, ja feine einzelnen Worte zwei- und dreimal überlegt; was 
einer nicht zu tun braucht, wenn er ein gut bezahltes Feuilleton hinſudelt! Denn eine Kritik 
kann den Autor verwunden, ja töten, wie ſie heilen und zum Leben helfen kann. 

Vor allem aber müßte mit dem Gebrauch namenloſer Kritiken vollkommen gebrochen 
werden. Der Autor hat ein Recht, zu erfahren, wer ſein Kritiker iſt, und das Publikum einer 
Zeitung hat dasfelbe Recht, damit es weiß, wem es fih anvertrauen kann und wem nicht, 
handle es ſich um anerkennende oder ablehnende Kritik. Und iſt der Name des Kritikers nicht 
ſchon von vornherein Bürgſchaft, jo gewinnen im Lauf der Zeit doch die Lefer einer Zeitung, 
die ja gottlob nicht alle urteilsunfähig find, ein Urteil über die Beſprechungen des Kritikers und 
wiſſen bald, ob ſie ſich ihm anvertrauen können oder nicht. 

E. Faktor tritt ſchließlich für Einſchränkung der Bücherproduktion ein; aber freilich, 
wer will damit den Anfang machen? Er meint, die Verleger müßten einſehen, daß es zweck- 
los iſt, gleichzeitig Dutzende von Büchern auf den Markt zu werfen, wenn die Aufmerkſamkeit 
nur auf jedes zehnte gelenkt würde. Und die Zeitungen, die außerſtande ſind, die tägliche 
Flutwelle des Büchermarktes zu bewältigen, würden wie von einem Alpdruck erlöſt aufatmen, 
wenn der Wuſt, der ſie täglich bedroht, auf einmal verſchwände. Gewiß, doch ſehen wir noch 
keine Verminderung der Schriftſteller, eher eine Vermehrung. Aber allerdings glauben wir 
ſchon leiſe Anzeichen zu verfpüren, daß die Flut der Bucher abebben will, weil man einzuſehen 
beginnt, daß in den letzten Jahrzehnten der literariſchen Produktion eine viel zu große Wichtig 
keit für das Geſamtleben der Nation beigelegt worden ift, wie man allmählich auch zu der Er- 
kenntnis kommt, daß das Theater durchaus nicht den hervorragenden Platz im Leben der Nation 
einnimmt, wie es nach dem Weſen, das die Zeitungen aus jeder Theateraufführung machen, 
den Anſchein hat. Das Buchmachen und Bücherbeſprechen beſchränken und die Theaterrezen- 
ſionen auf ein beſcheidenes Maß zurückführen, dann könnten wieder geſündere Zuſtände bei 
uns einkehren. Wir glauben freilich nicht, daß es, wie Faktor hofft, jemals wieder, wie zu unje- 
rer Väter Zeiten, dazu kommt, daß ‚das Erſcheinen eines neuen Buches wieder ein Ereignis 
werde, vom Kritiker mit Spannung, vom Publikum mit Sehnſucht erwartet“, es ſei denn, 
daß das Buch von Sudermann oder Frenſſen ſtammt und die Reklame das Zhrige getan hat. 
Es wird nach wie vor trotz aller Bemühungen vernünftiger Zeitungen und einſichtiger, un- 


Vom Zug ber Toten 827 


beftochener Kritiker viel Gutes in der Maſſe ertrinken und viel Schlechtes auf kurze Zeit obenauf- 
kommen; aber ganz weniges von der Maſſenproduktion unferer Tage, ſelbſt von den berühm- 
teſten Schriftſtellern, wird bei der Nachwelt auch nur literargeſchichtlich oder dem Namen nach 


bekannt fein.“ 
a 
Vom Zug der Toten 


fo heiteren Augen und Sinnen zu nehmen verſtand, ift das viel mißbrauchte Bei- 
Se: wort „liebenswürdig“ nicht abgegriffene Phraſe, fondern gute Charakteriſtik. Es 
gilt zunächſt für den Menſchen, der wohl nie einen Feind gehabt hat: fo durchſichtig und lauter 
war fein Weſen, fo edel und vornehm fein Streben, fo voll echter Güte und geſunder Deutſch⸗ 
heit feine ganze Art. Aus dem Boden des Volkstums und der echten Humanität, wie fie die 
Geiſtesarbeit unſerer Klaſſiker uns erworben, war dieſe Art gefloſſen. Im nordiſchen Stettin 
geboren (am 27. Juli 1848), hatte er Philologie ſtudiert und war Doktor und Gymnaſiallehrer 
geworden; die meiſte Zeit in Städten und Städtchen des Nordens: Stettin Stolp, Danzig 
und Berlin. Aber auch er trug die Sehnſucht nad dem Süden im Herzen, zu deſſen Beſuch er 
zweimal auf längere Zeit die Lehrtätigkeit unterbrach. Und auch für ihn war Süden wohl 
gleichbedeutend mit Freiheit, die er wenigſtens in der Löſung von beruflicher Feſſel ſeit 1879 
genoß. Seit einigen Jahren war er Generalſekretär der Schillerſtiftung in Weimar; umfang- 
reiche Beleſenheit. hervorragende Rednergabe und Vielſeitigkeit des Geſchmacks haben ihn in 
dieſer Stellung eine bedeutende Tätigkeit entfalten laſſen. 

Eine feine Kulturerſcheinung, ohne jede Beimiſchung von Kälte oder künſtlicher Mache, 
ift der Dichter Hans Hoffmann. Im Umgang mit den Beſten ift er gereift, aber treu feiner eige- 
nen Art. Mit Abſicht, d. i. ohne inneren Drang und perſönliche Überzeugung, hat er nichts 
übernommen; mit Abſicht auch nichts abgelehnt. Mit offenen Sinnen und reicher Aufnahme- 
fähigkeit ſtand er der Kunſt gegenüber und ließ bei ſich wirken, was ſeiner Art eben entſprach. 
So wuchs er ganz von ſelbſt in den Kreis der Keller, Storm, K. F. Meyer, Raabe hinein, nicht 
fo bedeutſam wie diefe, aber doch mit eigenen Werten auch hier beſtehend. Dieſe liegen ein- 
mal in feiner Sprache, die er zum bewundernswert fügfamen Inſtrumente ſich gemeiſtert hatte, 
und dann in jenen lebensſatten und beweglichen Figuren, die er ſelber ſo über alles liebte, daß 
er ſie oft zu wichtig nahm und ſich von ihnen die Kompoſition ſeiner Werke ſprengen ließ, die 
ihn ſelber aber nun uns fo liebenswürdig machen. Es ift für Hoffmanns Art charakteriſtiſch, 
daß man wohl den Aufbau, ja den Inhalt feiner Geſchichten vergeſſen kann, nicht aber diefe 
Geſtalten: etwa den wohl ein gutes Stück Selbſtbildnis gebenden genußfrohen, ja ſcheinbar 
ſelbſtſüchtigen, in Wirklichkeit aufopferungsfähigen Stadtphyſikus Gugelmann („Der eiſerne 
Rittmeiſter“, den urmännlichen Dr. Wiegand („Ruhm“), den weltflüchtigen Chriſtian Dinſe 
(„Oandſchrift A), den Schiffer Puſt („Wider den Kurfürſten“), die vielen Männer und Frauen 
aus den „Bozener Mären und Geſchichten“ und den „Oſtſeemärchen“, vor allem aber die köſt⸗ 
liche „Tante Fritzchen“. 

In einigen feiner Werke wächſt Hoffmann dann in die erſte Reihe. Sein großer drei- 
bandiger Roman „Der eiferne Rittmeiſter“ gehört zu den wertvollſten Schöpfungen auf dem 
Gebiet des hiſtoriſchen Romans. Kommen die beiden andern Romane „Landſturm“ und „Wider 
den Kurfuͤrſten“ dieſem nicht gleich, fo geht die hiſtoriſche Novelle „Der Hexenprediger“ noch 
darüber hinaus als ein Meiſterwerk erfhütternder Erzählungskunſt. Ganz ausgezeichnet ift 
auch das Geſchichtenbuch „Das Gymnaſium zu Stolpenburg“, das in der rieſig angeſchwolle⸗ 
nen Literatur der Schulprobleme eine weit hinausragende Sonderſtellung einnimmt. — Daß 


828 Neue Bilder 


aber Hoffmann, der gewiß gern vor dem Tageslärm ins „Land der Phäaken“ flüchtete, offene 
Augen für das Leben der Gegenwart behielt, bezeugen ſeine formvollendeten Gedichte „Vom 
Lebenswege“. 
* * > 

Einige Wochen früher (am 29. Juni) ift Artur Fit ger (geboren 1840 zu Delmenhorft) 
geſtorben, der als Maler und Dichter Bedeutendes geleiſtet hat. Seine großen Wandgemälde 
zieren öffentliche Bauten in Bremen, Hamburg und Oldenburg; ihr künſtleriſcher Reiz beruht 
in der Vereinigung einer ſcharf zugeſpitzten, die Herkunft von Cornelius und Genelli nicht ver- 
leugnenden Zeichnung mit reicher, tieftoniger, von Makart beeinflußter Farbigkeit. Künſt⸗ 
lerifch reiner ſteht der Dichter da. Freilich nicht als Dramatiker, trotzdem Fitger ſelber wohl in 
der von Kulturkampfphraſen ſtrotzenden „Hexe“ fein Beſtes geſehen hat. Nein, aber die Gedicht 
ſammlungen „Fahrendes Volk“ und „Winternächte“ ſind Bekundungen eines echten Oichters 
von ſtarker Phantaſie und eigenartiger Schaukraft, der für Humor wie fiir tiefen Ernſt das 
volltönende Wort findet. Auch dem Tode, der ihn jetzt abberief, hat er ein Lied geſungen, das zu 
den beiten Odenſchöpfungen gehört: 


Unter den Freunden der erdumwohnenden 
Menſchen vor allen preif’ ich den Tob. 

Ob Dionyfos, ob Eros dem fronenben 
Fammergeſchlechte mit köſtlich belohnenden 
Stunden verſüße die Jahre der Not, 

Ob in dem Boot 

Seligen Traums dle betrogenen Geiſter 
Schaukeln von Eiland zu Elland fort — 
Schlaf iſt Geſelle; — Tob aber, der Meiſter, 
Führt uns zum Port. 


2 
Neue Bücher 


Lori Graff. Roman von Hans v. Hoffensthal. (Berlin 1909, Egon Fleiſchel & Ro.) 

Schon zweimal, in „Maria-Himmelfahrt“ und „Helene Laaſen“, hat uns Hans von 
Hoffensthal, der tief und zart empfindende Bozener Poet, die traurigen Schickſale unglücklicher 
junger Frauen bis zu deren frühem Ende vorgeführt, und auch in ſeinem neuen Romane wirbt 
er wieder für fo ein armes Geſchöpf beim Lefer um inniges Mitleid. Sünde, die man an ihr 
begangen hat, verwickelt Lori Graff in Schuld, und da die Scheinheiligkeit der Geſellſchaft ihr 
verwehrt, wieder gutzumachen, fo flüchtet fie ſich aus Verirrung und Verwirrung in die Arme 
des letzten Freundes der Elenden, des Todes. Alles Unheil geht von einer tüdifchen Geſchlechts⸗ 
krankheit aus, die ſich Valentin von Alfreider als junger Mann zugezogen hat. Er wähnt ſich 
längſt geheilt, als er der reizenden Lori Graff die Hand reicht. Aber er täuſcht ſich, und bald 
zeigen fih an der Unglüdlichen die furchtbaren Folgen der Seuche. Von Ekel erfaßt, an ihrem 
Leibe geſchädigt und geſchändet, um die Hoffnung auf Mutterglück betrogen, wendet fie fi 
von dem ſchuldig- unſchuldigen Gatten ab, von dem fie ſich nur aus Rüdfiht auf ihre Eltern 
nicht ſcheiden läßt. Umſonſt ſucht er durch demütige Güte ihre Verzeihung zu gewinnen. Ihr 
Haß treibt ſie bis zum Ehebruch. Als Valentin Beweiſe ihrer Untreue in Händen hat, fordert 
er den andern und ſchießt ihn nieder. Langſam reift dann in Loris Herzen die Erkenntnis der 
eigenen Schuld. Die Gatten verſuchen ein neues Zuſammenleben. Aber jetzt ift es die haden- 
frohe Engherzigkeit der ſelbſtgerechten Geſellſchaft, die das arme Weib zu keiner Ruhe kommen 
läßt. Geächtet, gedemütigt, gehetzt, von der niemals ganz abgeſtorbenen Krankheit zermürbt, 
räumt fie dem Gedanken Macht über ſich ein, ihren Jammer in den Abgründen des Gandkofel 
zu begraben. And eines Tages finden fie dort die freiwillig Abgeſtürzte. 


St. 


Neue Bücher 829 


Arzt und Dichter haben fic in dieſem Buche zu einem engen Bunde vereinigt. Hoffens- 
thal ſtellt in dem hofrätlihen Ehepaar Graff Typen jener unvernünftigen Eltern auf, denen es 
nur um eine gute Verſorgung für ihre Tochter zu tun iſt, ohne ſich um weiteres zu kümmern, 
und die, wenn dann die Ehe ſchlimm ausgefallen ift, fih vor nichts fo ſehr als vor der Peinlich 
keit eines Skandals fürchten. Er eifert aber auch gegen die Gewiſſenloſigkeit der Erzieher, die 
die Jünglinge unaufgeklärt und wehrlos gegen die ihre Geſundheit bedrohenden Gefahren 
ins Leben hinausſchicken. In einem an den Leſer gerichteten „Abſchied“, der einigermaßen aus 
dem Rahmen des Ganzen fällt, bringt er ſolche Gedanken zum direkten Ausdruck. Mit tiefem 
ſittlichen Ernſt geht er dem Problem nach, das ihm Herzensſache ift. In fo vornehmer Behand- 
lung wirkt darum auch das an und für ſich höchſt heikle Thema durchaus nicht verletzend. Und 
in dem Roman ſelbſt drängt ſich die Tendenz nicht ungebührlich hervor, geht vielmehr in der 
poetiſchen Darſtellung vollſtändig auf. Mit großer Folgerichtigkeit baut fih die pſychologiſche 
Entwicklung auf; es gibt keine Lücken oder Sprünge, wodurch manches allerdings ein wenig 
weitſchweifig und umſtändlich anmutet. Der Dichter meidet alles Spitzfindige, verzichtet auf 
ſenſationelle Wirkungen. Er ſchreibt auch diesmal wieder einen einfach edlen Stil, der ſich mit 
dem Inhalt des Romans aufs ſchönſte deckt. Seine Kunſt oder vielmehr ſeine Naturgabe, in 
der heimatlichen Landſchaft die Stimmung für die Vorgänge im Menſchendaſein zu finden, 
feiert wiederum, namentlich in den letzten Kapiteln, Triumphe. Wie wundervoll weiß er die 
allgütige Natur als Tröſterin zu ſchildern! Wenn fih bei Lori traurige Gedanken vordrängten, 
dann, heißt es auf Seite 304, brauchte fie „nur ein paar Schritte vor das Haus zu gehen, hinüber 
in den nahen Wald, da wurden dieſe Gedanken ſtill. Denn da ſtanden die Bäume, die auch Wun- 
den trugen, Male, die ſie doch vernarbten, in einer zähen Lebensbejahung vernarben wollten 
und vernarben konnten. Einer Linde nahe dem Hauſe hatte der Blitz ein Mal gehauen, an dem 
ſie lange geblutet. Aber der Baum hatte ſich wieder erholt, ſtand ungebeugt, und das friſche 
Grün, das von den gefunden Alten niederhing, verdeckte die Wunde.“ Das außerordentliche 
Feingefühl, mit dem dieſer Tiroler Heimatdichter das ewige Leben der Natur und die Schick⸗ 
ſale der Sterblichen harmoniſch zu verſchmelzen verſteht, bringt ſeine poetiſchen Gaben unſern 
Herzen beſonders nahe. Rudolf Krauß 

* 
Hermann Kurz. Die Schartenmättler. Roman. — Stoffel Hiß. Ro- 
man. (ge 3 M, geb. 4 M, Berlin, Wiegandt & Grieben.) 

Man ſchilt, zumal in Norddeutſchland, die Schweizer fo gern als formlos. ZH will 
auf dieſen Punkt, der auf den Streit zwiſchen Süddeutſchem und Norddeutſchem hinausläuft, 
nicht eingehen, aber jene leichtfertig Urteilenden darauf verweiſen, daß vor allem in der deutſchen 
Profa die ſchweizeriſchen Schriftſteller ein Formgefühl beweiſen, das dem der Norddeutſchen 
weit überlegen ift. Der bewußte Stil der Profa ift hier fogar fo weit gediehen, daß er für man- 
chen Jüngeren leicht eine Gefahr werden kann. Zu ihnen rechne ich auch dieſen Hermann Kurz, 
deſſen Sprache einen Holzſchnittcharakter mit ſo unjugendlicher Strenge bewahrt, daß einem 
bei dieſer kalten Sicherheit Angſt werden kann. Denn nicht wahr, das Ganze ſtammt ja doch 
nicht aus erſter Hand; da ſind Gottfried Keller und K. F. Meyer, vor allem beim zweiten Buche 
aber auch Hermann Heſſe deutliche Anreger. Beſonders eine vom Letztgenannten wieder über- 
wundene Art, manches undeutlich zu laſſen, das erſt mit ſtarken Worten angekündigt wurde, 
findet ſich hier bereits ſehr ſtörend. Dennoch will ich mit dieſen Bedenken die Freude an dieſen 
beiden kräftigen Büchern niemandem verderben. Es iſt nur begreiflich, daß der Kritiker des 
neuen Literaturlebens allmählich ſchier bedenklich wird gegenüber den fo fideren Anfängen; 
denn in wie vielen Fällen iſt die Entwicklung dann nicht weiter gegangen. Und dieſe 
Sicherheit ift doch ſchließlich nicht Zugend; wer aber wollte diefe mit all ihrer Unreife und Un- 
ſicherheit, aber doch auch der ihr allein gehörigen Schönheit des Überfchwanges miffen? 


ZER 


( 197,7) 
III SW 27 


Walter Firle 


Von 


Arthur Dobsky⸗Stuttgart 


Inmitten des unruhigen Lebens einer nervenmordenden Runftbetäti- 
x gung, die, nach allen Richtungen der Windrofe ſtrebend, fih in ein 
uferloſes Meer verloren hat, ſoll ich über einen Künſtler ſchreiben, 
=> Oder ſo ganz und gar nicht mitgeholfen hat an dem Werke, das man 
gewiſſermaßen eine Auflöſung des Begriffes „Kunſt“ nennen könnte. Soll ich 
über einen Künſtler berichten, der, aus einer ſtark konſervativen Handelsſtadt ftam- 
mend, eben auch einen ſtarken Hang zum Konſervatismus im Leibe trägt. Und aus 
einem Gemiſch von pſychiſchem und phyſiſchem Können heraus eine Kunſt geübt 
hat und noch übt, die heute, da er auf der Höhe feines Lebens ſteht, ihm Anerken- 
nung und Hintanſetzung zu gleichen Teilen einbringt. Wir wiſſen es ganz genau, 
daß Walter Firle niemals ein Himmelsſtürmer war, noch ſein wird, daß er niemals 
in den Kreis derer eintritt, die das Verdienſt auf ihr Haupt bürden, die Kunſt in 
ihren Grundmauern erſchüttert zu haben. Wir wiſſen auch, daß nicht einſtmals 
freundwillige Autoren aufſtehen werden, die mit zungenbrecheriſchen Definitio- 
nen ihn zum verkannten Träger einer neuen Kunſtepoche auspoſaunen werden. 
Die ihn mit dem Glorienſchein eines problematiſchen Künſtler- und Menfchen- 
ſchickſals umſchwängern wollen. — Nein, das alles wird ihm nicht beſchieden ſein. 
Ruhig und ſtill ift die Jugend des Menſchen Firle dahingefloſſen. Nach Überwin- 
dung des berühmten Elternwiderſtandes gegen das Künſtlerwerden ihrer Spröß- 
linge hat er ſeinen Weg genommen, wie ihn tauſend andere auch nahmen. Und 
getragen von einer heiteren Natur und einer gerade richtigen und notwendigen 
Dofis Selbſtbewußtſein ift er ihn entlang gegangen bis zum heutigen Tage. 
Hier und da mal ift ein Sturm gekommen und hat ihn gerüttelt, aber er hielt ſtand 
und wartete ruhig auf die Windſtillen. Und zu guter Letzt, wenn man das Fazit 
feines Lebens zieht, erkennt man, daß die heiteren, ſonnenhellen Tage die Ober- 
hand behalten haben. 
Und eine helle, ſonnenhelle Stunde ſoll es ſein, ein den Körper und Geiſt 
gleich erfriſchender Spaziergang in eine Welt ſorglos blühender Kunſt und Schön- 


LA 


Oobsty: Walter Firle 831 


heit, den wir jetzt unternehmen. Manche Blume wird unbeachtet am Wege ſtehen 
bleiben müſſen, denn alle können wir nicht mitnehmen. 

Ser Verſuch, Walter Firles Lebenswerk im Rahmen dieſer Zeitſchrift auch 
nur einigermaßen zu erjchöpfen, ift von vornherein unmöglich. Das, was hier, 
unterſtützt durch einige Illuſtrationen, genannt werden wird, genügt, um den Namen 
Walter Firle feſt in das Gedächtnis zu bannen. Nicht chronologiſch ſäuberlich ge- 
ordnet oder nach mutmaßlichen Qualitäten ſollen ſie genannt werden, nein, wie 
ſie juſt gerade kommen, ſo ſollen ſie am Auge vorüberziehen. Nicht einmal alle 
die Gemälde, mit denen Firle in ſiebzehn öffentlichen Galerien — das bedeutet 
einen Rekord! — vertreten iſt, können genannt werden. 

In dem geſamten Oeuvre, das ihm ſeinen Namen gab, iſt das epiſche Moment 
vorherrſchend. Als Maler des feinen deutſchen Genrebildes ift er ein Begriff ge- 
worden. Aber dieſer Begriff ſchließt höchſte künſtleriſche und äſthetiſche Forde- 
rungen in ſich, und um deſſentwillen ſind ſeine Werke, mit welchen Augen man 
ſie auch betrachtet, Produkte einer vollwertigen Künſtlerperſönlichkeit. 

München, die Stadt, die dem in Breslau geborenen Firle zur zweiten Heimat 
wurde, beſitzt ſein weltbekanntes Triptychon „Vater unſer“. Ein Kommentar zu 
den drei Szenen „Unſer täglich Brot gib uns heute“, „Dein Wille geſchehe“, „Und 
vergib uns unſere Schuld“ iſt überflüſſig. Selbſt wer die Bilder, durch die Walter 
Firle in der vornehmſten modernen deutſchen Gemäldegalerie repräſentiert wird, 
nicht kennt, vermag ihren Inhalt nachzuempfinden. Es wird keiner an dieſen Bil- 
dern vorübergehen ohne eine tiefe Ergriffenheit. Und wer dem legendären Inhalt 
nichts abzugewinnen vermag, der wird an der künſtleriſchen Löſung vollſte Be- 
friedigung finden. Es erſcheint müßig, Firles Kunſt in ein Verhältnis zu anderen 
Künſtlern zu bringen. Freilich wäre es mit wenigen Worten getan. Aber ſchließ⸗ 
lich ſieht ja jeder ſelbſt, wer Augen hat zu ſehen, daß ſeine Kunſt auf einem ge- 
ſunden, mild beſchönigenden Realismus baſiert, der weder nach der einen noch 
nach der anderen Seite ausſchlägt. Er ſtimmt ſeine Bilder auf einen ſchlichten, 
alltäglichen Ton und läßt auch durch das maleriſche Werk Gielen Ton weiter- 
klingen. Seine Bilder tragen nicht das unſichere Gepräge ewigen Herum- 
experimentierens. j 
| Sc) weiß, daß man die Maler, die etwas erzählen, die mit jedem ihrer Werke 
ein Stück Seele von ſich wälzen, etwas über die Achſel anſieht. Das iſt nun mal 
ſo gekommen ſeit den Tagen, da neuartige Kunſtrichtungen in der Leere eines 
Bildes deſſen größten Inhalt proklamierten. Seit der Emanzipation der Kunſt 
vom Gemüte. Aber man wird darüber hinwegkommen. 

Und ehrliche Menſchen, zu welcher Kunſtrichtung fie auch ſchwören, werden 
dem Künſtler, der ſeinem Schaffen ein ſo eminent reiches künſtleriſches Können 
zugrunde legte, niemals ihre Achtung verſagen. Und keiner wird Firle den Ruhm 
nehmen können, in feiner „Sonntagsſchule“ eines der ſchönſten und wundervoll 
ften Genrebilder der letzten Dezennien geſchaffen zu haben. Ein Bild ſtelle ich ihm 
zur Seite: Ubdes „Laſſet die Kindlein zu mir kommen“. Hiermit ſollen keine 
kunſtverwandtſchaftlichen Saiten angeſchlagen werden. Beide Künſtler, wenn fie 
fic aud nicht ganz fremd geblieben find, gingen eigene Wege. Das Grundmotiv 


832 Dobety: Walter Firle 


ift bei Uhde und Firle dasſelbe. Und wenn bei jenem die ganze Handlung unter 
das Heilandswort „Laſſet die Kindlein zu mir kommen“ gedrängt wird, wenn wir 
durch die Chriſtusperſon einen großen, feierlichen religiöfen Moment fühlen, wir 
können dasſelbe ohne Mühe bei Firles „Sonntagsſchule“. 

Dort iſt es der Gottmenſch, der dem Augenblicke die Weihe aufdrückt, hier 
der in den Augen der Kinder zum Gott werdende Menſch. Und daß dieſes dürre 
Männlein in feinem ſchlecht ſitzenden Rock feiner ganzen unbedeutenden Körper- 
lichkeit, ſeiner naiven Schlichtheit den Kindern als etwas Bedeutendes erſcheint, 
wer möchte es leugnen? Fünfzehn Kinder in den verſchiedenſten Altersſtufen lau- 
ſchen ſeinen Worten. Nicht eines ähnelt dem andern, jedes iſt ein ganz individuell 
durchgebildeter Typ einer ärmlichen Menſchenklaſſe. In dieſem leider nicht im 
deutſchen Lande gebliebenen, ſondern im Muſeum zu Budapeſt hängenden Bilde 
hat Firle den ganzen Reichtum feines Könnens und die Intenſität feiner Beob- 
achtungsgabe von ſich gegeben. Dieſes wundervolle Bild ift die zweite feiner größe 
ren Schöpfungen. Ihm vorangegangen war die „Morgenandacht in einem þol- 
ländiſchen Waiſenhauſe“. Die Frucht einer Studienreiſe nach dem Lande der 
Mynheers brachte ihm den erſten großen Erfolg von ungeahnter Durchſchlags- 
kraft. Es trug ihm die goldene Medaille ein, wurde für die Berliner National- 
galerie angekauft und machte ſeinen Namen mit einem Schlage populär. Das 
mußte den damals kaum 29jährigen Künſtler wohl zu neuen Taten regen. In der 
Einſamkeit des Dorfes Polling bei München ging er ans Werk. Hier finden wir 
ihn vertieft in das Menſchen- und Naturſtudium. Hier läßt ein raftlofer Fleiß die 
Hand über das Papier fliegen, weniger um korrekte Treue bekümmert als um das 
raſche Fixieren des empfangenen Eindrucks und des vorſchwebenden Bildgedan- 
kens. In raſcher Folge entſtehen neue Werke, aus denen immer eine neue Note 
feiner lyriſch-muſikaliſchen Seele klingt. 

Da entſteht das von düſterer Tragik erfüllte „Im Trauerhaus“, das vom 
Muſeum ſeiner Vaterſtadt Breslau erworben wurde. Ein ſtummer, aber endloſer 
Schmerz liegt über der alten Frau, die ihr Liebſtes betrauert. Auch über den 
vielen zur Teilnahme herbeigeſtrömten Menſchen liegt Mitleid und Schmerzemp⸗ 
finden, aber es iſt doch ein fremdes, kühles. Firle hat dieſe Trauergemeinde meifter- 
lich charakteriſiert. Dann wieder folgen eine Reihe jener Bilder, die ihm zu einer 
ungeheuren Popularität verhalfen. Jene feinen, ſonnen und ftimmungsdurd- 
fluteten Interieurs, in denen junge Mädchen ihre Morgen und Abendlieder er- 
klingen laffen. Hier und da tritt ein altes Mütterchen aktiv oder paſſiv in die Er- 
ſcheinung. Begleitet die Mädchen am Klavier zu ihrem Geſange oder ſitzt ſtill im 
Eckchen und kämpft mit der Erinnerung. In dieſen Interieurs iſt Firle dem Pro- 
blem des Lichtes beſonders nachgegangen. Die meiſt ſchmuckloſen, nüchternen 
Räume werden verſchönt durch das einfallende Sonnenlicht. Es verklärt dieſe 
glücklich zufriedenen Menſchen in ihrer ſtillen Weltabgeſchiedenheit und wirft ſeine 
Strahlen zurück auf den Schöpfer. Er hat das Thema ſeiner ſingenden Mädchen 
oft variiert. Aber er hat immer verſucht, etwas Neues herauszuholen. Und immer 
wieder ſucht er mit Schönheit zu beglücken. Firle verachtet die Oarftellung des 
Häßlichen keineswegs, und mehr als eine ſeiner Studien beweiſen, daß er die 


Pobsty: Walter Firle 833 


flüchtigſte Zufallserſcheinung feſthält, ob fie auch häßlich iſt, wenn fie ihm nur 
maleriſch reizvoll dünkt. 

In der „Geneſung“ (Muſeum Magdeburg) und „Der Glaube“ (Muſeum 
zu Leipzig) ſchlägt er wieder ergreifende und packende Akkorde an, die ſich in der 
grandioſen „Pietà“ zu erſchütternder Tragik ſteigern. Worte vermögen die monu- 
mentale Schwere dieſes Bildes kaum zu erſchöpfen. Firle hat hier alles, was er 
zu geben vermochte, auf den Körper des Heilandes konzentriert. Der iſt, trotzdem 
er nur Leiche iſt, von einer Größe erfüllt, die erſchauern macht. Wer dieſes Bild 
einmal in der Dämmerung eines Spätwintertages gefehen, wird es niemals wie- 
der vergeſſen. Dieſes von einer koloſſalen Plaſtizität erfüllte Bild bedeutet gleich 
ſam den Schlußgeſang einer an Erfolgen reichen Periode des Künſtlers. 

In den letzten Jahren hat Firle fich viel der Oarjtellung des Kindes und der 
Welt, in der es ſich bewegt, zugewandt. Er zeigt allerliebſte Kinder, einzeln und in 
Gruppen in einer individuell beſtimmten Umgebung, umfloſſen von einer Atmo- 
ſphäre des Traulichen und Gemütlichen. Er zeigt kleine Mädchen, die vergnügt 
in die Gluten des Herdfeuers gucken, die ſich mit der ſchweren Beſchäftigung des 
Strickens abplagen oder in traulicher Gemeinſchaft mit der Großmutter eine ſtille 
Stunde halten. Seine letzte große Kompoſition ift gewiſſermaßen auch ein Kinder- 
bild, nur ernſteren Inhaltes. „Die erſte Kommunion.“ Dieſem an maleriſcher 
Qualität ſteht ohne Zweifel über das Bild „Die goldene Hochzeit“, aus dem wir 
das junge Paar veröffentlichen. Es iſt im vorigen Jahr in den Beſitz des Muſeums 
zu Lübeck übergegangen. 

So nähern wir uns nun dem Firle der Gegenwart. Er ijt ein anderer gewor- 
den und im Grunde genommen doch derſelbe geblieben. Aber er hat ſich einer neu- 
artigen Kunſtbetätigung zugewandt — dem Porträt. Freilich iſt er weit davon 
entfernt, das, was ihm einſt die Wege zur Höhe ebnete, achtlos beiſeite zu ſchieben. 
Aber ein Künſtler wie er, kraft und lebenſtrotzend, warum foll er nicht auch ein 
mal einen Ausflug auf ein bisher fremdes Gebiet unternehmen? Die Grundlage 
iſt ihm ja gegeben. Er hat gelernt, Menſchen zu malen. Menſchen mit all ihren 
Schwächen und Mängeln. Er hat ſie ſtudiert, und in wundervollen Zeichnungen 
und Skizzen dieſes Studium feſtgelegt. Ein glänzendes Dokument find hierfür 
die „Tioler Bauern beim Mittageſſen“, die ich für ein ganz bedeutendes Opus 
halte. Da ſind ferner eine endloſe Menge von Studien, die ein koloſſales Eindringen 
des Künſtlers in die menſchliche Seele erkennen laſſen. 

Firle iſt ein eminent ſicherer Zeichner. Und vor allem da, wo er frei und ohne 
beſchränkende Vorſchriften und Wünſche walten kann, da offenbart fih am nady- 
drucksvollſten die ihm innewohnende Kraft. Was Wunder alſo, daß Firle eines 
Tages zum Porträt kam! Das heißt, er gefteht es ſelber, er wäre vielleicht nie- 
mals drauf gekommen, wenn nicht Inſpirationen von anderer Seite her auf ihn 
gewirkt hätten. Kein Geringerer als Joſef Israels — der holländiſche Altmeiſter — 
hat das Verdienſt. So hat Firle, wie man im gleichen Falle beim Schauſpieler 
ſagen würde, ſeinen Abergang vom Liebhaber zum geſetzteren Helden vollzogen. 
Der Vergleich ift nicht ganz fo ſchlecht, wie es ſcheinbar der Fall ijt. Der Genre- 
maler, der immer und immer mit dem Gefühl malt, hat es ebenſo . a" der 

Der Türmer XI, 12 


834 Dobsty: Walter Fitle 


Liebhaber, ihm fliegen alle Herzen zu. Der Porträtmaler — der gefektere Held — 
er muß weit, weit ernſter ans Werk gehen, um zu überzeugen und zu packen. Denn 
ſein Publikum iſt ein viel kritiſcheres und auch viel undankbareres. 

Das Porträt hat den zweifelhaften Vorzug, von drei grundverſchiedenen Ge- 
ſichtspunkten aus betrachtet zu werden. Einmal vom Standpunkt des Abgebilde- 
ten, ein andermal von dem des Abbildenden und ein drittes Mal von dem des un- 
beteiligten und doch meiſt febr ſtark beteiligten Bildbeſchauers. Und die Gefidte- 
punkte dieſer drei ganz verſchiedenen Menſchen ſind wieder in ſo vielerlei und 
oft widerſpruchsvolle Anſichten zerlegt, daß ſich um das Porträt als ſolches ein 
Reichtum der Problematik herumwindet, wie um kaum eine andere Kunſtgattung. 
Das Problem des Hauptbeteiligten, des Dargejtellten oder Darzuſtellenden, formt 
ſich in die kategoriſche Forderung: Male mich, ſo ſchön du kannſt, male mich recht 
bedeutend, denn der Augenblick, da ich mich malen laſſe, iſt ein bedeutender. Feder, 
und nehmen wir den denkbar beſcheidenſten Menſchen her, iſt der Augenblick an 
ihn gekommen, wo der Photograph oder gar der Maler ſein Abbild nehmen ſoll, 
fühlt dieſen Augenblick mit gewichtiger Schwere. Und das Bewußtſein feiner Menſch⸗ 
bedeutung läßt ſeine Bruſt höher ſchwellen, läßt ſeine Haltung zuſammenraffen, 
ſein Geſicht und ſein ganzes Exterieur ſo annehmbar wie möglich machen. Kurz, 
man macht fic. Man ſtreift die ureigene Perſönlichkeit ab und wird zur Puppe. 
Und auch die moderne Bildniskunſt inkluſive ihrer nicht unwichtigen Dienerin, 
der Photographie, iſt darüber noch nicht hinaus. Wenn freilich zugeſtanden werden 
muß, daß fie dem Weſentlichſten des Porträts, dem Antlitz, jenen ſüßen Allerwelte- 
heiligenſchein genommen hat, den man früher als das typiſche Übel aller Bildnis 
malerei empfand. 

Im Frühjahr dieſes Jahres ift Walter Firle zum erſten Male mit den Friid- 
ten einer knapp zweijährigen Tätigkeit als Porträtmaler herausgetreten. In der 
Galerie Schulte fand das Debut mit etwa vierzig Gemälden ſtatt. 

Man benutzte den Anlaß, um Firles Uberfiedelung nach Berlin zu prophe- 
zeien, aber es war eine unbegründete Meldung. Der Künſtler denkt nicht daran, 
Berliner zu werden. Spart er ſich doch allemal eine halbe Tagereiſe, wenn er, 
was nicht ſo ſelten vorkommt, einmal einen Abſtecher nach ſeinem geliebten Rom 
macht. 

Die kollektive Vorführung der Ergebniſſe ſeiner neuen Kunſtbetätigung glich 
einer reichbeſetzten Tafel. Es war alles da. Vom Bildnis des regierenden Fiirften 
bis hinunter zum lieblich anmutigen Porträt des einfachen Kindes aus gut bürger- 
lichem Haufe. Dominierend war das Frauenbildnis. Und wenn man aus den 
ausgeſtellten Bildern Schlüſſe ziehen kann, ſo muß man ſchon zugeben, daß er der 
prädeſtinierte Maler der Frau ift, ohne jedoch auf eine ganz bedeutende Befähi- 
gung zum Maler des männlichen Porträts verzichten zu müſſen. 

Sicher hat Firle mit dieſer Ausſtellung bis zur Evidenz bewieſen, daß er aus 
dem Enſemble der deutſchen Porträtmaler einfach nicht mehr hinauszudenken iſt. 
Der Boden dieſer ihm neuartigen Kunſtprovinz iſt eben auch ein durchaus ſolider 
und ſicherer, auf den er mit Zuverſicht bauen kann. Man kann nicht ſagen, daß 
Sirle einen Stil geſucht habe. Und wenn man ihm zehnmal Lenbachſche Ten- 


Dobety: Walter Firle 835 


denzen unterſchiebt. Bedeutet dies einen Vorwurf? Nein — denn ſchließlich iſt 
kein Künſtler der Erde frei von Anlehnung geblieben! Der Monarchismus in der 
bildenden Kunſt iſt eben doch ein recht zweifelhaftes Ding. 

Aber wie jeder ernſthafte Künſtler Prinzipien hat, nach denen er geſtaltet, 
ſo auch Firle. Und ſelbſt der mit tödlicher Sicherheit zu erwartende Widerſpruch 
mancher Auftraggeber konnte ihn nicht bewegen, ſie über den Haufen zu werfen. 
Hier aber liegt der Wert der Perſönlichkeit. Freilich iſt Firle weit davon entfernt, 
ein Porträtmaler allermodernſten Schlages zu fein. Reformatoriſche Senfations- 
gelüſte hat er nie gehegt. Aber der Wunſch, auch als Bildnismaler ein Stück des 
eigenen inneren Weſens durchblicken zu laſſen, iſt deutlich erkennbar. Denn das 
Bild der Frau von ſoundſo oder des Herrn von X. foll nicht nur ein getreues Ab- 
bild jener Perſonen ſein, es ſoll auch die Perſon ſeines Schöpfers erkennen laſſen 
und ſoll ſeine Handſchrift tragen, auch wenn es nicht ſigniert iſt. Wohl unterſtreicht 
Firle gern und mit weltmänniſcher Courtoiſie den anziehenden Zug ihrer Natu- 
ren — aber ihnen devot zu opfern, das liegt ſeinem Naturell nicht. 

Aus der Reihe der prominenten Perſönlichkeiten, die Firle porträtiert hat, 
iſt zunächſt das des greiſen Prinzregenten von Bayern zu nennen. Er hat es in 
mehreren Varianten wiederholt. Das abgebildete iſt das beſte und bedeutendſte, 
und man kann es füglich eine Glanzleiſtung nennen. Unter ſtrenger Vermeidung 
alles Nebenſächlichen und ſtärkſter Betonung alles Charakteriſtiſchen iſt hier ein 
Porträt allererſten Ranges entſtanden, das unter den Bildern, die den Fürſten 
verewigen, immer an exkluſiver Stelle ſtehen wird. Von einer wundervollen Milde 
ſind die vom Alter zernagten Züge des alten Herrn übergoſſen. Schon dieſem Bilde 
nach müßte man dieſen Mann liebgewinnen, auch wenn er ſich nicht ſelbſt in ſeinem 
ganzen Leben fo liebenswert gemacht hätte. Wir ſehen hier nur den dem Armſten 
feines Volkes gleichgeborenen Menſchen. Nichts von Fürften- und Gottesgnaden- 
tum iſt hier zu ſpüren. In der Tat ein wundervolles Bild, das die Hochachtung, 
die man dem Oargeſtellten entgegenbringt, auch auf den Schöpfer übertragen muß. 
Als künſtleriſche Leiſtung dürfte dieſem das Bildnis des Herrn von B. am nächſten 
ſtehen. In der Haltung iſt es ebenſo frei und ungezwungen wie das des Regenten. 
Und ebenſo geiſtreich prägnant. Techniſch, das heißt nicht im Sinne des Pinfel- 
virtuoſentums, ſondern in dem höheren einer künſtleriſchen Kultur ift es ausgezeich⸗ 
net. Vielleicht daß vergleichsbereite Menſchen hier eine fühlbare Anlehnung an 
Lenbach konſtatieren wollen. Möglich — aber nur äußerlich und ſcheinbar. Auch 
mir iſt es ſo gegangen, und doch mußte ich bei eingehendem Betrachten den erſten 
Eindruck umſtoßen. Dieſes Bild gehört in die dritte Stufe Hebbelſcher Definition 
des Kunſtwerkes: es muß ſo ſein. Andere Porträts kann man ſich ſo oder auch ſo, 
beſſer oder geringer vorſtellen. Hier hört eine Unſicherheit der Anſchauung auf, 
und aus dem Poſitiven folgert man mit konſequenter Logik: ſo und nicht anders 
mußte der Mann dargeſtellt werden. Käme noch ein drittes Männerbildnis: das 
des Herzogs von Arcos. Der auf der Höhe des Lebens angelangte Ariſtokrat iſt 
noch immer eine imponierende, reckenhafte Erſcheinung. Auf dem mit der un- 
vermeidlich bunten Uniform angetanen Körper ſitzt der ungemein charakteriſtiſche 
Kopf. Das krauſe Lockenhaar gibt ihm nach oben zu einen mehr menſchlichen Ab- 


836 | Hobsky: Walter Fike | 


ſchluß. — er wird beinahe ein ausgeſprochener Charakterkopf. Wenn ich mit der 
Behandlung des maleriſchen unmaleriſchen Beiwerkes mit Firle nicht ganz kon 
form gehe — das Porträt ſelbſt ift vollkommen gelöſt. Hier ift etwas von Rem 
brandtſcher Kraft zu ſpüren. Und die Intenſität ſeines Menſchenſtudiums konnte 
kaum ausdrucksvoller in fühlbare Geſtalt umgeſetzt werden. 

Vor dem Übergang zum weiblichen Bildnis dürfte noch die Erwähnung 
eines Doppelbildniſſes intereſſant ſein. Das heißt, dieſe letztere Bezeichnung 
nicht wörtlich genommen. Denn in der Tat ſind es zwei räumlich getrennte, ganz 
ſelbſtändige Bilder. Nur ihre perſönliche und künſtleriſche Zuſammengehörigkeit 
läßt die Bezeichnung zu. 

Wie nicht anders zu erwarten, ift die engliſche Huldigungsausſtellung in 
Berlin im Frühjahr 1908 nicht ohne Einflüſſe geblieben. Der großartige Triumph- 
zug der engliſchen Meiſter des achtzehnten Jahrhunderts wird noch manche ſtille 
Spur geſchlagen haben, die man eben noch nicht entdeckt hat. Vielleicht daß die 
Nachwirkung mehr auf der Seite des Publikums als der Künſtler zu ſpüren ift. 
Das mag ſein. Die Porträts des Prinzen und der Prinzeſſin Biron von Kurland 
find eklatante Beweiſe dafür. Man wollte eben im Stile der alten Engländer ge- 
malt werden. Das iſt noch nichts weiter, wenn ich an jene Wiener Ariſtokratin 
denke, die ihr Söhnchen im Charakter des Quattrocento malen laſſen wollte. Wollte 
— bemerke ich. Das Refultat war ein merkwürdiges Ding. — 

Firle hat ſich ſeiner Aufgabe mit der bei ihm ſelbſtverſtändlichen Nobleſſe 
entledigt. Am engliſchſten iſt die landſchaftliche Folie in beiden Bildern. So un- 
gefähr hat Gainsborough auch gemalt, wenn er den ſchönen Ladies einen ftimmungs- 
vollen Hintergrund ſchaffen mußte. Die Porträts ſelber ſind deutſch — urdeutſch. 
Da iſt kein fremder Akkord angeſchlagen. Wenigſtens nicht einer, der aus dem 
18. Jahrhundert herüberklänge. Das Bild des Prinzen ift vorzüglich, und auch 
in dem anderen iſt der Künſtler mit auserleſenem Geſchmack und vornehmer Ge- 
ſinnung zu Werke gegangen — die im Atelier noch zu empfindenden Härten im 
Antlitz waren in der Ausſtellung verſchwunden. Alles in allem — beides ſtärkſte 
Eindrücke von des Künſtlers hochkultivierter Malerindividualität. 

Unter den weiblichen Bildniſſen erſcheint das der Frau Baronin von Bl. ge- 
wiſſermaßen als der Clou. Es iſt reich an koloriſtiſchen Schönheiten, und doch kann 
man nicht behaupten, daß nur der optiſche Zuſammenklang farbiger Werte das 
Reizmittel geweſen ſei. Firle ſah, das iſt ihm von ſeiner früheren, keine Vorſchriften 
kennenden Tätigkeit her treu geblieben, alle die Perſonen, die ſich ihm als Modelle 
darboten, als pſychologiſche Objekte. Das Hohle, künſtlich Arrangierte und Zu- 
ſammengeſchweißte ijt ihm keine künſtleriſche Befriedigung. Und er wäre wohl 
noch manchmal weiter gegangen in der Loslöſung von der Modellerſcheinung, 
wenn ſich ihm nicht ein energiſches Veto entgegengeſtellt hätte. Aber das Gefühl, 
Senden mit Fleiſch und Blut vor fih zu haben, behielt immer die Oberhand. 
So hat er auch dieſes Bildnis, mag es dem oberflächlichen Beſchauer zunächft 
noch ſo ſehr als rein koloriſtiſches Malwerk imponieren, mehr Seele geſchaffen als 
Körper. Oder um es vielleicht genau zu präziſieren: verkörperte Seele. Ein zwei- 
tes Bild der gleichen Dame zeigt dieſe und auch den Künſtler in ganz anderem 


H a 


Dobsty: Walter Firle 837 


Lichte. Dort farbenglühendes, impuljives Leben — hier ruhige, vornehme Ab- 
geklärtheit mit einem Hauch geiſtreich-kapriziöſer Lebendigkeit. Und dabei doch 
der Typ der mondänen Oame. Das Kleid bildet im Gegenſatz zu dem die ganze 
Geſtalt einhüllenden wundervollen Schal auf dem erſten Bilde hier ein ganz ande- 
res Problem. Daß Firle Stoffe und deren wundervolle Reize, wenn ſie ſich dem 
Frauenkörper in Hunderten von Falten und Fältchen in beſtrickenden Flächen 
wirkungen anſchmiegen, malen kann, hat er hinreichend bewieſen. Hier ijt ihm die 
Löſung ausgezeichnet gelungen. Das ſchwarze, ſchwere Kleid mit wenigen licht- 
ſpendenden Schmuckſtücken beſetzt, bildet eine raffinierte Folie zu dem leuchtenden 
Inkarnat. Eine ungemeine Körperlichkeit und ſeltene pſychiſche Klarheit zeichnen 
das Bild vor allen anderen aus. Den Gemälden der großen Damen, von denen 
noch das der Gräfin von B. zu nennen wäre und die der Frau und des Fräulein 
von Ch., in denen das Charakteriſtiſche wieder ganz beſonders betont wurde, folgen 
noch eine Anzahl von Bildern kleiner Damen. 

Da ift zunächſt das ganz entzückende Bild der jungen Komteſſe S. Herz- 
erfriſchendes junges Leben pulſt durch dieſes Kind mit den nachdenklich in die Welt 
hinausſchauenden Augen und dem herrlichen, üppigen Blondhaar, das über das 
ganze Figürchen hinabfällt. Firle hat das kleine Fräulein durchaus künſtleriſch 
und mit geſundem Empfinden dargeſtellt, und das Bild hat trotz ſeiner beſtrickenden 
Lieblichkeit nichts von abgeſchmackter porzellanener Glätte an ſich, mit der andere 
Maler die Kindesanmut ſo gern übertünchen. Die beſtimmende farbige Note hat 
Firle im Haar des Kindes gefunden, das an den wundervoll beleuchteten Stellen 
in ſanfteſten goldigen Tönen flimmert. Sehr reizend iſt auch die Gruppe, die 
die Kinder des Grafen von M. darſtellt. Die beiden ganz leger und ungeſucht da- 
ſitzenden Knaben und das vor ihnen am Boden liegende Mädchen find kräftig und 
doch mit liebevollem Unterſcheiden der kindlichen Pſyche gemalt. Man fühlt, daß 
hier nichts Unwahres hinzugemacht iſt und jede Schöntuerei vermieden wurde. 
Die Gruppe ift trotz aller Zwangloſigkeit vorzüglich in den Raum geſtellt und auch 
nach der koloriſtiſchen Seite hin in der glücklichſten Weiſe gelöſt. Mir ſcheint, dieſe 
Kinder müſſen einmal glücklich ſein, wenn ſie als erwachſene Menſchen dieſes Bild 
betrachten. Das wird wohl auch bei dem allerliebſten Perſönchen der Fall ſein, 
das wir in farbiger Wiedergabe vorführen. Iſt das nicht ein ganz entzückendes 
Geſchöpfchen, das uns da mit glückſtrahlenden Augen anſieht, als wollte es ſagen: 
Seht, wie ſchön ich gemalt bin! Den Kopf hat Firle wundervoll durchgearbeitet — 
die Reproduktion vermag die Qualitäten dieſer Malerei natürlich nicht voll zu er- 
ſchöpfen. Alles übrige iſt nur leicht angedeutet, Arm und Hand ſind noch nicht 
einmal fertig. Aber als Ganzes iſt es doch fertig, iſt es ein echter, vollkommener 
Firle. Ein liebenswürdiges Werkchen, das, wenn es auch in irgendwelchem Salon 
ein weltabgeſchiedenes Daſein friſtet, doch ein glänzendes Zeugnis bildet für die 
Zeit, da Walter Firle begann, Porträts von Menſchen zu malen. — 

So könnte dieſer Verſuch, von der Künſtlerperſönlichkeit des zum Münchner 
gewordenen Schleſiers ein Bild oder eine Skizze zu entwerfen, eigentlich geſchloſ⸗ 

ſen werden. Doch es ſoll nicht geſchehen, ohne des Anlaſſes zu dieſer Niederſchrift 
zu gedenken. Walter Firle ſchließt in dieſem Jahre und in dieſem Monat das erſte 


838 Kunſtakademiſcher Rabenjammer 


halbe Jahrhundert feines Lebens ab. Gewöhnlich jagt man das zu Beginn. Aber 
das Beſtreben, dieſem Aufſatz den Charakter eines Geburtstagshuldigungsartikels 
zu nehmen, war ausſchlaggebend. Denn auch ohne dieſen äußeren Anlaß hätte 
der Künſtler diefe Würdigung im Türmer gefunden. Firle hat während des Viertel- 
jahrhunderts ſeiner ſelbſtändigen künſtleriſchen Ausübung ſo endlos viel Schönes 
und Gutes geſchaffen, hat fih durch alle Phaſen des Lebens und der Kunſt hindurch 
gearbeitet zu der Höhe, auf der er heute ſteht, und darf das, was man heute über 
ihn ſchreibt und noch ſchreiben wird, als ſelbſtverſtändliche Anerkennung hinnehmen, 
die die Mitwelt einer künſtleriſchen Erſcheinung von ſeinem Range ſchuldig iſt. 


Kunſtakademiſcher Katzenjammer 


J ` sie Münchener Kunſtakademie hat ihr hundertjähriges Beſtehen gefeiert. Mit vielen 
SN N ſchönen Reden verkündete man ſelbſtzufrieden, welch hohe Aufgabe die Akademie 
Ein, ali dieſer Zeit gut erfüllt habe. Dieſe Aufgabe lautet nach der von Schelling 
entworfenen Stiftungsurkunde: daß der Kunſt die ihr gebührende Stellung im Staatsorganis- 
mus und im öffentlichen Leben gewährt werden ſolle. Hebung der Kunſt als Bildungsmittel 
für das Volk war das Ziel. Ein ſchöͤnes Ziel, dem man nach der Meinung an maßgebender Stelle 
wohl recht nahe gekommen iſt. Denn man hat ſich von der Akademie zur Hochſchule befördert. 
Andererſeits hat der Staat im Laufe des 19. Jahrhunderts allerorten immer größere Mittel 
fiir ſeine Kunſtakademien aufgewendet. In Berlin z. B. iſt der Etat innerhalb 50 Jahren auf 
das Fünffache angewachſen. Auch muß zugegeben werden, daß es im 19. Jahrhundert nur 
wenige Künſtler von Ruf gibt, die nicht wenigſtens zeitweilig ein akademiſches Lehramt be- 
kleidet haben. 

Trotz alledem drängen ſich die Fragen auf, ob die Kunſtakademien wirklich ihre Auf⸗ 
gaben erfüllt haben? Was lehrt die mehr als hundertjährige Erfahrung? Wie ſtehen wir heute 
dem Inſtitut der Kunſtakademien gegenüber? Welche Erfolge find zu fpüren? 

Dieſe Fragen ſtellt Eugen Nalkſchmidt in der Halbmonatſchrift des deutſchen 
Werkbundes „Das Werk“ und beantwortet fie in jo allgemein bedeutender Weiſe, daß wir feine 
Ausführungen hier auszugsweiſe wiedergeben wollen. „Es iſt noch gar nicht lange her, ein 
paar Jahre erſt, da wurde viel und heftig über die Kunſtakademien geſtritten. Eigentlich nicht 
fo jehr ‚über‘ fie, ſondern gegen fie. Recht ſcharfe Stimmen wurden laut; aber nicht eine von 
tieferer Aberzeugungskraft ſprach f ù r diefe Form des ſtaatlichen Kunſtunterrichts. Zm Gegen- 
teil: „Jede Akademie, die ſteht, ift wert, daß fie zugrunde geht!“ Dieſes Todesurteil, das Her- 
mann Obriſt im Herbſt 1900 geſprochen hatte, klang in allerlei Variationen wieder. Wenn es 
ſeither ſtiller geworden iſt, fo erklärt ſich das durch die Ventile, die ſich der Unmut geſchaffen hat; 
durch die Abwanderung der Mißvergnügten in die Werkſtätten der angewandten Künſte, durch 
das ſichtbare Aufblühen eines neuen Kunſthandwerks, bei dem das Wort Runft wieder Zweck 
und Sinn hat. Und gerade dieſes Aufblühen gibt uns ein Recht zu der erneuerten Frage: 
Was iſt's mit den Akademien? 

Ein Jahrhundert liegt hinter uns, und wir ſehen klar: die Akademien haben ebenfowenig 
der Kunſt die Ziele gewiefen, wie fie dem Volke die Wege zur Kunſt geebnet hätten. Sie haben 
nicht einmal die viel kleinere Aufgabe erfüllen können: Hüterinnen der kunſttechniſchen Tra- 
ditionen gu fein. Die hohe Runft von akademiſcher Beſtallung zog fih vornehm in ihre Meifter- 


Runſtakademiſcher Rabenjammer 839 


ateliers zurück; fie ſtand neben dem Leben wie ein fremder verirrter Gett, wie ein Schatten 
Daß ſich trotz der akademiſchen Lehre manch eigenwillige Künſtlernatur durchgeſetzt hat, be- 
weiſt nichts gegen die „unzähligen Bekenntniſſe der Rünftler, und nicht der ſchlechteſten, wie 
ſehr die akademiſche Richtſchnur die Talente irregeführt und zeitweiſe gelähmt, den fügſamen 
Mittelmäßigkeiten dagegen zu ſchnellem Anſehen verholfen hat. Gewiß find auch Irrwege und 
Umwege förderlich dem, der die Kraft hat, fih ſelber zurechtzufinden. Aber fie können un- 
möglich eine Lehre verteidigen, deren Gang und Ziel doch wohl zuerſt auf die Vermeidung von 
Irrtümern gerichtet ift, weil die Kraft des Schülers geſpart und an dem erprobt werden ſoll, 
was ſeiner beſonderen Begabung gemäß iſt. 

Sobald die Runft von der Höhe einer Akademie gelehrt wird, entgeht fie der Gefahr 
einer Überfpannung ihres eigentlichen Lehrzieles nur ſchwer. Gerade der eifrige und vielleicht 
auch bedeutende Meiſter wird immer eher verſuchen, ſeine eigene Sonderart, nicht nur ſeine 
techniſche Handwerkserfahrung fortzupflanzen. Das ift ja ſehr menſchlich. Was foll dabei ande- 
res herauskommen als eine unverſtandene Manier? Wie iſt auch zu verlangen, daß ein jeder 
Künſtler, der ſich einen Namen erworben hat, ohne weiteres ein guter Lehrer fei? Das Gegen- 
teil ift viel wahrſcheinlicher: wer ſich künſtleriſch durchſetzen will, muß in eine gewiſſe Einfeitig- 
keit verfallen, muß das, was er treibt, und wie er's treibt, für das einzig Wahre halten. Giele 
geiſtige Verfaſſung ift für eine Lehre die denkbar ungünſtigſte pſychologiſche Vorausſetzung. 
Sie führt beim einen Meiſter, der gewiſſenhaft iſt, zum geiſtigen Zwang und bei den Schülern 
zu Zwangsprodukten; beim andern führt ſie zur Gleichgültigkeit gegen das läſtige Amt. Das 
iſt dann der, der jahraus, jahrein denſelben ſuperben Akt neben die falſche Zeichnung des Schü- 
lers ſetzt und ſich ſchleunigſt und wortlos empfiehlt. Was hat der Jünger davon? Das erhebende 
Bewußtſein, Schüler des berühmten K. zu fein, mehr nicht. Fälle, wo der berühmte X. zugleich 
ein guter Lehrer iſt, die eingeborenen Fähigkeiten des Schülers hervorguloden weiß — oder 
vielleicht gar einſichtig genug iſt, zu ſagen: Lieber Freund, ich bin nicht der Mann für dich, geh 
zu dem und dem — der alſo einen menſchlichen Rat zu erteilen weiß wie ein Seelenarzt, ſolche 
Fälle find in der Geſchichte der Akademien fo außerordentlich ſelten, daß fie kaum ins Ge- 
wicht fallen. 

Die alte Malerwerkſtatt, wo der Lehrling mit dem Pinſelwaſchen und Farbenreiben 
begann, hatte gewiß keinen Aberfluß an ‚höheren Direktiven“. Das Zdeal verſtand fih da bis 
auf weiteres von ſelbſt. Aber das iſt gewiß, daß ſie dem Schüler von Anfang an auch mit den 
kleinen Aufträgen und Aufgaben die Möglichkeit gab, nicht nur zu ſtudieren um des Studiums 
willen, ſondern mitzuarbeiten an einer Sache, die irgendeinen Zweck erfüllte. So wuchſen 
die jungen Leute mit der täglichen ſimpeln Handwerkserfahrung fepe bald in jene kräftigende 
Befriedigung hinein, die aus jeder ehrlichen und zweckmäßig angewendeten Arbeit quillt. 
Ihre Lehrzeit war Arbeitszeit im profanen Sinne, kein Studium. Sie brauchten nicht allwöchent 
lich einen neuen Kopf zu beginnen und beiſeite zu werfen, fie durften mithelfen am Werke des 
Meiſters und fühlten fic fo trotz der Beſcheidenheit ihrer jeweiligen Aufgabe als nützliche und 
brauchbare Glieder der Allgemeinheit; fie hatten die Zuverſicht zum Leben, weil fie die Freude 
an ihrer Arbeit hatten. 
| Die Akademien aber, die der Staat freigebig mit Lehrern, Räumen und Lehrmitteln 
ſpeiſt, brauchen ſich um die praktiſchen Lebensausſichten ihrer Schüler nicht zu kümmern. So 
nehmen fie auf, wen immer ein noch fo beſcheidenes Nachahmertalent auszeichnet. Und fo zücd- 
ten fie ein Rünftlerproletariat heran, Jahr um Jahr, das nach Vollendung feiner Studien- 
jahre ſo ziemlich allen Bitterkeiten des Lebenskampfes ausgeliefert iſt. Wo ſollen ſie hin mit 
ihrer Kraft? Wer kauft ihnen ihre Bilder, ihre teuren Dentmalsentwürfe, ihre Palaſtpläne ab? 
So viel Kunſt, hohe und idealgeſättigte oder auch nur geſchickt nachgeahmte Kunſt können wir 
ja gar nicht brauchen. Wohin damit? Wo bleiben all dieſe entſetzlich gleichgültigen Leinwände 
unſerer rieſenhaften Bilderbafare? Wie ſchwer hat es gehalten, nur durch die Fury zu 


840 | Kunſtatabemiſcher Rabenjammer 


ſchluůpfen. Wieviel ſchwerer ift es, den Ausweg zu finden und ben freien Platz in der 
Gegenwart! 

In jeder größeren Kunſtſtadt gibt es Hunderte folder Künſtlerexiſtenzen, die mit Galgen- 
humor oder Verzweiflung zwiſchen Leben und Sterben ſchwanken und doch nicht die Kraft 
aufbringen, ihrer akademiſch beglaubigten künſtleriſchen Zukunft zu entſagen und ein recht 
ſchaffenes bürgerliches Gewerbe zu ergreifen, folange es noch Zeit iſt. Zeder rät es dem andern, 
keiner will den Anfang machen. Oer akademiſche Bildungsdünkel, das ift die Krankheit, die 
an ihnen frißt. Eine Abart unſerer allgemeinen Bildungsphiliſterei, ift er ethiſch, äſthetiſch, 
volkswirtſchaftlich gleich verhängnisvoll. Er legt uns einen Teil hoͤchſt brauchbarer Kräfte 
lahm. Sind wir denn wirklich ſo reich, dieſen dauernden Aderlaß ohne Schaden vertragen 
zu können? 

Was iſt da zu tun? Sollen die Akademien mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden? 
Sollen wir zum Werkſtättenbetrieb der alten Handwerksmeiſter zurückkehren? 

Das eine wäre fo ſchwer und ausſichtslos wie das andere. Ein autoritdres Gebilde wie 
der moderne Staat wird nie zugeben können, fih fo gründlich mit einer hundertjährigen Cin- 
richtung geirrt zu haben, daß er ſie freiwillig aufheben könnte. Er kann es auch gar nicht, es 
hängen viel zu viel Perſonalfragen daran. Als die Klöſter aufgehoben wurden, war eine Re- 
formation des Geiſtes vorhergegangen, die zum guten Teil ihren Weg aus den Klöſtern her 
nahm. Wer wollte aber ernſthaft glauben, daß die heutigen Akademieprofeſſoren einen ſolchen 
Umſturz einleiten würden? Die find in ihrer Mehrzahl überzeugt, daß die Zuſtände, fo wie 
ſie ſind, ganz erträglich ſind. Wenn viele von ihnen auch über die geringe Erſprießlichkeit der 
eigenen Lehrtätigkeit ehrlich genug denken, fo werden fie doch den Anſpruch auf ſtaatliche Unter- 
ftüßung ihres eigenen künſtleriſchen Schaffens mit allem Nachdruck aufrechterhalten. Es herrſcht 
auch in der Kunſt angeſehener und wirklich tüchtiger Meiſter heute eine Uberproduktion. Die 
Abnehmer: öffentliche Sammlungen und Privatkäufer konſumieren kaum den zehnten Teil 
dieſer anerkannten Kunſt. Wer Akademielehrer iſt, ſein Staatsgehalt bezieht, fühlt ſich den 
ſchlimmſten Sorgen um die Exiſtenz enthoben; fühlt ſich aber auch im guten Recht, eben auf 
Grund feiner Leiſtungen, ihnen enthoben zu fein. Es kommt hinzu, daß für weite Kreiſe die 
Kunſt noch des akademiſchen Anſehens bedarf, einer ſtaatlich ſanktionierten Organiſation, die 
ohne weiteres befagt: diefe bildenden Künſte find wichtig für das Volk, daher muß der Staate 
haushalt ihrer gedenken. 

Naive Leute könnten nun vorſchlagen: Wohlan, gebt jenen Künſtlern, die nach dem Ur- 
teil der Sachkundigen gezeigt haben, daß fie Meifter find — gebt ihnen getroſt den Staate 
gehalt, auf beſtimmte Zeit, und ohne die leidige Lehr verpflichtung. Laßt fie lehren, wenn fie 
wollen, und wo und wie fie wollen, nur zwinge der Staat durch fein Anftellungsdelret fie nicht, 
Profeſſoren zu ſein, wenn ſie es eben nicht ſind. Laßt die Akademie einzig aus dem freien 
Verbande dieſer freien Rünftler beſtehen, die in ihren Zuſammenkünften das öffentliche Wohl 
der Kunſt und Kunſtpflege wie das Wohl und die Intereſſen ihres Standes zu wahren hätten. 
Es wäre ein ganz ſchrecklich naiver Vorſchlag, und kein Menſch würde ihn ernſt nehmen. 
Schon deshalb nicht, weil dann doch die ſchöͤnen Akademiepaläſte eigentlich keinen Zweck 
mehr hätten. 

Zum zweiten: die Rückkehr zum Schulbetrieb der alten Handwerksmeister. Geht auch 
nicht mehr. Die Künſte find ja ‚frei‘, find perſönlichſte Arbeiten der einen Meiſterhand gewor- 
den. Allenfalls die Baukunſt erlaubt in untergeordneten Teilaufgaben die Mitarbeit der Schuler 
hand. Vor allem aber: die beiden Hauptkünſte, Malerei und Plaftit, arbeiten ja das meiſte 
nicht mehr auf Beſtellung, ſondern aufs Geratewohl, im freien Angebot ihrer Zdeen; für irgend 
einen Fleck, der fic erſt finden foll. Eine Arbeit für die gute Stube des Alltags; für den Sonn- 
tagnachmittag. Es gibt aber nur 52 Sonntage im Jahr. Giele guten Stuben find gefüllt, von 
alter und neuer Kunſt, von Antiquitäten und Ruriofitäten. Wohin mit der neueſten Kunſt, 


Kunſtalademiſcher Katzenjammer 841 


die da kommen will? Die gleich auf feſte Beſtellung aus der Meiſterwerkſtatt kommen will, 
ohne in all und jedem Tüpfelchen dem glücklichen Beſitzer zu verſichern, ein ‚echter‘ K., ein be- 
ſonders ſchöner Z. aus der beſten Zeit des Meiſters zu fein? 

Nein, die Akademien ſtehen unangreifbar feſt, ſolange der Grundbegriff der Kunſt 
eingewurzelt iſt in der Vorſtellung von etwas, das ſehr ideal, d. h. ſehr blau, ſehr unverſtändlich, 
rieſig koſtſpielig, und eigentlich unnötig, aber doch fehe Schön ift und zur Bildung gehört. 
Fängt dieſer Begriff an zu wackeln, ſo iſt's vielleicht auch um die Feſtigkeit und das Anſehen 
des heutigen Kunſtunterrichts auf den Akademien geſchehen. 

Und es ſcheint wirklich, als finge das Wackeln an. Schon feit einem Oegennium tönt das 
Rafjeln, Bohren, Hämmern, Feilen, Walzen aus den Werkſtätten der angewandten Kunſt 
verdächtig hell in die hohen Akademieſäle hinein. Jener Rünfte, die man in früheren Tagen 
vornehm diſtanzierend ‚das Kunſtgewerbe“ getauft hat. Wenn es dieſer geſchäftigen Wert- 
arbeit nicht gelingt, das ſtolze Akademiegebäude von unten her zu erobern, dann gelingt es 
überhaupt nicht, unb in aber hundert Jahren kann eine noch viel glänzendere Säkularfeier 
abgehalten, können noch viel ſtolzere Worte von der Weihe der Kunſt geſungen, deklamiert 
und geſprochen werden. 

Aber wie geſagt: dieſe Arbeitsgeräuſche klingen verdächtig hell und geſund. Schon 
haben wir geſehen, wie aus den Reihen der unzweifelhaft akademiſch gebildeten Künſtler der 
und jener beiſeite trat und reſolut Schurzfell und Hammer ergriff. Wir ſehen weiter alle Tage, 
wie ein guter Teil des kunſtfreudigen Nachwuchſes, teils mit, teils ohne akademiſchen Ragen- 
jammer, dieſen geſchäftigen Werkſtätten zueilt und im begrenzten Wirkungskreiſe ſeine Kräfte 
probt und übt. Sind dieſe neuen Handwerker mit ihren tauſend Einfällen für die praktiſchen 
Gebrauchsdinge des Lebens auf dieſem Abwege vom Wege der Kunſt, zum innerſten Zentrum, 
zur feinſten Verdichtung inneren Schauens rettungslos verirrt? 

$d glaube es nicht. Fragt ihr einen ganz großen Künftler, Goethe etwa, fo antwortet 
er: „Mir iſt's einerlei, ob ich Töpfe geformt oder Götter gebildet hätte. Der Geiſt wehet, wohin 
er will.“ Und ſo wird es ſein. Was ſchadet es der jungen Begabung, wenn ſie den Lehrgang von 

unten her beginnt, fidh praktiſch umtut, nicht nur die eine Technik, die der Hand beſonders leicht 
fällt, erlernt, ſondern auch in die des Nachbargebietes einzubringen ſtrebt! Was ſo gewonnen 
wird, ift lebendige Werkſtatterfahrung, Materialtenntnis, Gefühl für die Grenzen der Künſte 
wie für die Begrenzung des eigenen Könnens; ift weiterhin Einſicht in die äſthetiſchen Bufammen- 
hänge, in das rhythmiſche Zuſammenwirken der Künſte zum Geſamtkunſtwerk. Nicht jeder wird 
zum Kapellmeiſter geboren, aber welcher Muſikant wird der wertvollere im Orcheſter ſein: 
der die Partitur leſen und ſein Ohr, ſein Inſtrument auf die Polyphonie einſtimmen kann, 
oder ber nur feinen Part ſieht und weiter nichts? Den ganzen Baum begießen, nicht nur feine 
Wurzel, ſagt Hebbel einmal. 

Und ſo ließe ſich die Forderung ſtellen: Wer zur Akademie will, müßte 
erſt ein paar Zahre Werkſtättendienſt getan haben. Einen durchaus 
obligatoriſchen Oienſt, der ganz ſicher dazu angetan fein würde, Hunderte von jungen Bürfch- 
chen, denen die Locken zu wild fürs bürgerliche Leben wachſen, die den freien und ſtolzen Rünftler- 
traum träumen, — vor dem akademiſchen Katzenjammer durch heilſame Abſchreckung zu be- 
wahren. Orei Jahre lang ſind genug zur Beſinnung. Wer dann ſein Vollen und Können, 
die Richtung ſeines Talentes noch nicht ſo weit erkannt hat, um ſich zu ſagen: Entweder oder, 
ja oder nein?, der foll die Hände von der Kunſt laſſen. Und tut er's nicht, ſondern läuft er als 
unverſtandenes Genie wehklagend irgendwelchen Pfuſchern in die Hände, die ihm das Blaue 
vom Himmel verſprechen gegen ſchönes Lehrgeld — fo iſt's weiter nicht ſchade um ihn. Der 
Staat jedenfalls ijt der Verantwortung für ihn ledig. Solange die ſtaatliche Kunſtſchule aber 

die ſtattlichſten Summen verbraucht, um das buͤrgerliche Leben mit mittelmäßigen Künſtlern 
voll atademiſch hohen Anſpruͤchen zu belaſten, fo lange klingt fie innerlich hohl, weiſt fie eine pom- 


842 Neue Bücher 


pöſe Faſſade vor auf ſchlechtem Fundament und kann leicht in Gefahr geraten, bei einem bat, 
tigen Sturmwinde neuen Geiſtes einzuſtürzen wie ein Kartenhaus.“ —— — 

ich halte dieſen Gedanken von einem pflichtmäßigen Werkſtättenunterricht vor dem 
Beſuche einer Akademie geradezu für eine Erlöfung. Einmal für Hunderte menſchlicher Eri- 
ſtenzen. Aber auch für die Kunſt an fih. Was unſere Runft zumeiſt ſchädigt, ift einmal die Lor- 
löſung vom Leben und fodann in rein künftleriſcher Hinſicht die unzureichende Technik. Was 
das erſte anlangt, fo zeigt jede Kunſtausſtellung, daß die Mehrzahl der Bilder ohne Nüchſcht 
darauf gemalt ift, was wir in unfern Wohnungen wirklich aufhängen können (aus den ein- 
fachſten Raumgründen), und was man überhaupt bei ſich aufhängen wollen kann (aus Volt, 
lichen Gründen). Ein Verhältnis zwiſchen Auftraggeber und Künftler gibt es kaum mehr; die 
Art der Preisnotierungen ſchließt den Mittelſtand vom Bilderkauf geradezu aus. 

Zn der Technik aber offenbart fid der Mangel an handwerklichem Können am erjchredend- 
ften in der Plaffit, wo wir nur ganz wenige Künſtler haben, die noch im Material zu arbeiten 
verſtehen, wo die meiſten darauf angewieſen find, ihre Arbeiten fo vor der Öffentlichkeit er- 
ſcheinen zu laſſen, wie ſie aus den Handwerkerhänden des Steinmetzen oder Bronzegießers 
hervorgehen. Und das Farbenelend unſerer Maler. Wie viele Bilder — man ſehe ſogar die 
Menzels — reißen vorzeitig, weil die Künſtler ſich nicht mehr ihre Farben reiben können, weil 
fie alles fo benutzen müſſen, wie es aus den chemiſchen Fabriken kommt. In kunſtmoraliſchet 
Hinſicht aber wiſſen nur die wenigſten noch den Wert der A r b e it an fidh zu fchäßen, verſtehen 
auch gar nicht, fold) gediegene Mal- und Zeichenarbeit zu leiſten. Und doch beweiſt die Runft- 
geſchichte immer wieder, daß in dieſer Arbeit an fih ein unvergänglicher Wert liegt. St. 


2 
Neue Bücher 


Bunte Blätter aus aller Welt. Herausgegeben vom Runftverlag Ri mmiet 
& Zonas in Dresden. (Das Blatt 50 H.) 

Die Sammlung tritt äußerlich allzuſehr als Seitenftüd zu der bekannten Bilderver- 
öffentlichung des „Kunſtwarts“ auf. Man hätte wenigſtens „ſelbſtändig“ genug ſein ſollen, um 
eine andere Farbe des Umfchlagpapiers zu wählen. Im übrigen aber ift der Beginn des Unter- 
nehmens gut. Die vier Blätter, die bis jetzt erſchienen find: Raffaels Sixtiniſche 
Madonna; Rembrandts Staalmeeſters; Franz Hals' Singende 
Knaben und Tizians Zinsgroſchen ſind gut gedruckt. Bei einer Bildgröße von 
etwa 24: 31 cm wirken dieſe Farbendrucke recht anſchaulich und vermögen in der Tat eine Art 
von Erſatzgenuß des Originals zu geben. Der Preis von 50 9 für das Blatt iſt ſehr niedrig 
bemeſſen und wird der Sammlung ſicher die Verbreitung erleichtern. — Die Abſicht, auch far- 
bige Naturaufnahmen der Sammlung einzuverleiben, ſollte lieber fallen gelaſſen werden. Es 
ſei denn, daß man ſich darauf beſchränkte, in freier Natur ſtehende Kunſtwerke — Architektut, 
Plaſtik und bemalte Häuſer — wiederzugeben. Vor allem unter den letzteren würde ſich 
manch herrliches Werk finden. Schöne farbige Naturaufnahmen an ſich wären gewiß ein dant 
bares Unternehmen, aber man ſollte ſie nicht mit Kunſt vermengen. 


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Vom Mufiforama der Gegenwart 


Dr. Karl Storck 


aul Bekker, einer der klügſten Köpfe in der jüngeren Muſikſchrift⸗ 
ſtellerwelt, hat in der Sammlung „Kunſt und Kultur“ ein Bändchen: 
„Das Muſikdrama der Gegenwart“ veröffentlicht 
(Stuttgart, Strecker & Schröder, M 1.60), das Veranlaſſung gibt, 
dieſer Frage einmal wieder etwas näher zu treten. Denn das Muſikdrama iſt noch 
immer das feſſelndſte Problem der heutigen Kunſtäſthetik. Gerade weil die un- 
geheuere Bedeutung des Wagnerſchen Kunſtwerkes allgemein anerkannt iff, müffen 
wir eine klare Stellung zu ihm finden. | dë 

Nicht nur die geſchichtlichen Ereigniſſe, das völlige Verſagen des eigentlichen 
Wagnerianertums haben uns gezeigt, daß eine Feſtlegung des Muſikdramas auf 
die von Richard Wagner aus innerſter Notwendigkeit und kraft ſeiner einzigartigen 
Perſönlichkeit geſchaffene Form einer Bankerotterklärung gleichkommt; auch die 
Aſthetik muß einſehen, daß, was ſo durchaus nur durch bis jetzt ein einziges Mal 
vorhandene Eigenſchaften einer Perſönlichkeit möglich war, ſelbſt wenn es der 
höchſte Ausdruck der betreffenden Kunſtgattung geworden iſt, nicht der alleinige 
ſein kann. Andererſeits kann man auch nicht auf das Neuſchaffen in einer Gattung 
verzichten. Auch das Beharren beim größten Kunſtwerk bleibt Rückſchritt, wenn es 
nicht durch neues Schaffen Gegengewicht erhält. Und wenn wir gern zugeben, 
daß die große Kunſt etwas Ewiges in ſich trägt und für ihre Wirkung außerhalb 
der Zeitbedingungen ſteht, ſo vermögen wir eben von dieſer großen Kunſt allein 


nicht zu leben. Wir brauchen daneben gerade die durch die Zeit be 


dingte Kunſt, die vielleicht von der nächſten Zeitwelle wieder verſchlungen 
wird, in dieſem Augenblick aber der unmittelbare und damit ſtärkſte Ausdruck 
unferes Lebens iſt. Kommt dazu die Runft der Unterhaltung, als 
Verſchönerung des Lebens. Auch dieſe Kunſt muß ſchier notwen- 


844 Stord: Vom Muſitbrama der Gegenwart 


digerweife eine neue Kunſt fein; wenigſtens für die breite Maſſe, die nicht die Reize 
des Altertümlichen zu empfinden vermag. N 

Es heißt aber die Augen vor einer ganz natürlichen und dabei noch keines- 
wegs betrübenden Tatſache verſchließen, wenn man nicht zugeben will, daß der 
große Teil des Verlangens nach Oper ein Verlangen nach Unterhaltung iſt. Aus 
allen dieſen Gründen drängt ſich uns immer wieder die Beſchäftigung mit dem 
Problem Oper und Muſikdrama auf. Denn natürlich wollen wir nicht das einmal 
Errungene wieder preisgeben; wir können es auch gar nicht. Es kommt kein 
Opernkomponiſt heute mehr um die Erſcheinung Richard 
Wagners herum, und keiner von uns kann ohne die Gedanken an den Bay- 
reuther eine Oper hören. Es geht alſo nicht, einfach wieder die Fäden dort 
anzuknüpfen, wo ſie durch das Hindurchſchreiten dieſes Giganten abgeriſſen 
worden ſind. 

Paul Bekker gibt im vorliegenden Büchlein feine Bemerkungen und Empfin- 
dungen über dieſes wichtige Thema in mehr aphoriſtiſcher Weife, ohne eindringliche 
Begründung ſeiner Auffaſſung, ohne Eingehen auf die Einwände, die er doch ſelber 
offenbar hört, wie die Tonart feines Buches zeigt. Das Büchlein ift über das per- 
ſönliche Bekenntnis hinaus wertvoll durch eine Reihe kluger Urteile, die aus einer 
Kunſtauffaſſung herausgewonnen find, der die Kunſt eng mit dem Leben ver- 
wachſen iſt. Außerdem wird hier ohne Koketterie mit offener Wahrheitsliebe ge 
ſprochen. Um ſo mehr reizt es mich, bei einigen Punkten mit dem Verfaſſer zu 
rechten. 

Er eröffnet feine Oarlegungen mit einer Unterfuhung über das NRN u f it- 
drama als Kulturfaktor, dazu gedrängt durch die Erſcheinung Richard 
Wagners, der, wie kein Muſiker vor ihm, fein Nunſtwerk als nationalen Wert hin- 
ſtellte, und in das Volkstum als Geſamtheit geſtaltend und beſtimmend damit 
eingreifen wollte. Wagner wies deshalb immer wieder auf die antike Tragödie 
hin. Bekker dagegen ſagt: „Es gab Zeiten, in denen die Pflege nicht nur der 
Tragödie, ſondern aller Künſte eine nationale Angelegenheit war. Dieſe Zeiten 
kennen wir nur aus den Erzählungen alter Geſchichtsſchreiber. Heute beſteht ein 
gemeinſames, öffentliches Intereſſe an künſtleriſchen Bingen nicht mehr. Die 
Kunſt ijt aus jenem einzigen Zuſammenhange mit ſtaatlichen, politiſchen, wirt- 
ſchaftlichen Intereſſen der Allgemeinheit herausgeriſſen worden. Sie hat fidh ſpeziali⸗ 
ſiert, um ſich gleichſam als „Kunſt an ſich“ weiter zu entwickeln. Sie iſt auch ihrem 
Ziel auf dieſem Wege näher gekommen, als es früher möglich geweſen ware — 
allerdings unter Preisgabe eines großen Teiles ihres Wirkungsgebietes. Der ge- 
waltige Widerhall, welchen fie zu wecken vermochte, als fie ſich damit begnügte, 
allen bedeutenden Allgemeinintereffen in verklärender, reinigender Form als Aus- 
druck zu dienen, mußte fih verringern, ſobald fie ſich abſonderte und ihren Inhalt 
nach eigenem Gutdünken wählte. Bei den Alten war der Künſtler der höchſte, 
weitblickendſte Geſtalter nationaler Erlebniſſe. Das Volk ſelbſt fühlte fih gleich 
fam als handelnde Perſönlichkeit, die ihre Dichter zum Schaffen inſpirierte, ihnen 
Anregungen gab, Ziele ſteckte, Preiſe zuerkannte. Zene Kunſt, welche uns heute 
im klaren Lichte reinſter Objektivität erſcheint, war im Grunde genommen ebenſo 


Storck: Dom Muſikdrama der Gegenwart 845 


ſubjektiv wie die unſerige. Nur das Subjekt ijt ein anderes geworden — damals 
war es die ganze Nation, heute iſt es der einzelne.“ 

Der letzte Satz hat etwas Beſtechendes. Aber die ganze Auffaſſung beruht 
doch auf einer Verwechflung von Nation mit Staat, wie gleich aus dem folgenden 
Abſchnitte hervorgeht, wo Bekker die alte und die heutige Kunſt in folgender Weife 
gegenüberſtellt: „Dort Kunſt als höchſter Willensausdruck einer nationalen Gefamt- 
heit, einer imaginären Perſönlichkeit, welcher der Dichter nur als auserwählter 
Sprecher erſcheint. Hier Kunſt als Lebensäußerung des einzelnen, der auß e r- 
halb der Allgemeinheit ſteht, oft jedes Zuſammenhanges 
mit ihr entbehrt, ja meiſt mit ihr kämpfen und mühſam um Gehör 
tingen muß.“ 

Faſt alle deutſchen Künſtler ſtanden außerhalb der Maſſe und rangen ſich im 
Gegenſatz zu ihr durch. Aber ſie ſtanden doch deshalb nicht außerhalb der 
Nation, waren vielmehr die ſtärkſten, oft die einzigen Vertreter des Volks- 
tums. ge mehr der Begriff Staat an eigentlich geiſtiger und ſeeliſcher Bedeutung 
verliert, je mehr der Staat gewiſſermaßen nur noch der Verwalter unſerer ötono- — 
miſchen und geſellſchaftlichen Verhältniſſe ijt; je mehr wir alfo auch das Heil der 
Zukunft in einer Verwiſchung dieſer ſtaatlichen Unterfchiede, einer Aufhebung der 
Grenzen, in möglichſt weitgehendem Zuſammenſchluß der Einzelſtaaten ſehen, um 
ſo ſtärker und reiner muß ſich der Begriff des Volkstums herausſchälen. Das iſt 
das unverlierbare und immer neue Werte geftaltende geiſtige und ſeeliſche Leben 
des Volkes, ift die Perſönlichkeit des Volkes. Mit dieſem Volkstum 
aufs innigſte verbunden bleiben muß die Kunſt. Sonſt wird ſie haltlos, ſonſt wird 
ſie Artiſtentum. Hier zeigt ſich, was Wagner eigentlich wollte. Deshalb konnte er 
auch die Hoffnung haben — und fie hat ihn nicht betrogen —, indem er längſt ab- 
geſtorbene Mythen zum Stoff ſeiner Dramen machte, dem Volkstum etwas zu 
geben. Denn jene Mythen ſind Geſtaltungen dieſes Volkstums; und wenn ſie 
ſelber nicht mehr lebendig wirkende Kräfte werden können, ſo ſprechen ſie als lyriſche, 
ſeeliſche Werte zum Volke und regen die ſchlummernden Geſtaltungskräfte dieſes 
Volkstums zu neuem Schaffen oder doch wenigſtens zu neuem Genießen an. 

Faſſen wir den Begriff des Nationalen ſo, ſo wird man niemals ſagen können, 
daß heute die Allgemeinheit als Nation kein Intereſſe mehr an künſtleriſchen Dingen 
habe. Im Gegenteil. Niemals haben wir als Nation diefe gei- 
ſti gen und ſeeliſchen Werte fo dringend notwendig ge 
habt, wie jetzt. Denn ſonſt gehen wir überhaupt als Nation zugrunde. 
Gerade weil die rein ſtaatlichen Intereſſen in ſteigendem Maße immer weniger 
national werden. 

Darum aber können wir auch das Schaffen auf dem Gebiete des Mufit- 
dramas nicht fo lediglich als geſellſchaftliche Unterhaltung betrachten. Und vor 
allen Dingen müſſen wir als kulturſchädigend zurückweiſen jene Behandlungsart 
von Stoffen, die unfer nationales, d. i. unſerem Volkstum entſprechendes Emp- 
finden verletzt oder gar ſchwächt, fo wie es bei Richard Strauß’ „Salome“ und 
„Elektra“ der Fall war. Ich habe ſelber wohl als Erſter immer wieder dargetan, 
wie das Wagnerſche Kunſtwerk durchaus der Ausdruck feiner Perſönlichkeit ift, wie 


846 Store: Vom Mufitbrama der Gegenwart 


es darum auch nicht nachgeahmt oder im gewöhnlichen Sinne fortgeſetzt werden 
kann. Aber wenn Bekker aus der Tatſache, daß Wagners Stoffgebiete und Welt- 
anſchauung „individuelle Ausdrucksformen“ ſind, die Folgerung ziehen will, daß 
„deshalb alle Weiter bildungsverſuche der dichteriſchen Grundtendengen Wagners 
als haltloſe Spekulationen in ſich zuſammenfallen“, daß „der dichteriſche Gehalt 
feiner Werke nur als individuelles Bekenntnis zu faſſen fei und daher im Ger 
hältnis zu allem Voraufgegangenen und Zukünftigen nicht mehr als eine Epiſode 
bedeute“, fo iſt das ein Verkennen der Stellung des künſtleriſchen Schaffens über 
haupt. Seit Oante, ja ſchon zuvor in einem großen Teil der mittelalterlichen 
Literatur ift alles wirklich künſtleriſche Schaffen nichts anderes als individuelles 
Bekenntnis, aber darum doch keineswegs bloß Epiſode. Sondern gerade dieſer 
Perſönlichkeitsgehalt, dieſe individuelle Wahrheit gibt einem Stoff, der an ſich 
veralten könnte, dauernde Wirkung. 

Oarum ſcheint es mir auch voreilig, wenn Bekker meint, daß Wagner es nicht 
erreicht habe, „über die Anerkennung feiner Perſönlichkeit hinaus als Verkünder 
einer neuen Weltanſchauung oder auch nur als Reprdfentant eines großen einigen 
den Zeitwillens anerkannt zu werden“. Denn das, was man gewöhnlich als Welt- 
anſchauung aus den Dichtungen Wagners herauslieſt, iſt künſtleriſche Amgeſtaltung 
der Lehren Feuerbachs und Schopenhauers. Da ſcheint es mir zunächſt doch ſehr 
fraglich, ob nicht gerade Wagners Werke viel dazu beigetragen haben, daß dieſe 
beiden Philoſophen in immer ſteigendem Maße auf die Weltanſchauung weiter 
Kreiſe Einfluß gewonnen haben. Darüber hinaus glaube ich freilich, daß gerade 
durch die Verbindung dieſer Weltanſchauung mit Mufit 
etwas Neues, durchaus Wagner Gehöͤrendes entftanden ift. Und zwar möchte ich 
es als einen bejahenden Peſſimis mus bezeichnen. Wagners Erlifungs- 
idee geht viel weiter, als die Worte es ahnen laffen, 
die bloß eine Erlöſung des Schuldbeladenen durch den Reinen verkünden. Sie iſt 
auch eine Erlöfung von der Verneinung des Willens zum 
Leben in einer vergeiſtigten Auffaſſung des Tranſzendentalismus, wofür vor 
allem „Triſtan und Fſolde“ Beleg ift. Ich kann das hier nicht weiter ausführen, 
zumal dieſer Teil der Weltanſchauung lediglich in der Muſik Wagners liegt. Aber 
ich meine doch, daß erſt auf dieſe Weiſe der Peſſimismus lebensfähig wird, daß er 
ſich erſt ſo mit Lebensbetätigung verträgt. 

* * 
* 

Ourchweg ſehr wertvoll und vielfach richtunggebende Geſichtspunkte auf- 
deckend, iſt, was Bekker über die wichtigſten Opernkomponiſten der Gegenwart 
ſagt. Am ausgiebigſten iſt natürlich Richard Strauß behandelt, daneben Pfitzner, 
Schillings, Humperdinck, d' Albert, Blech, Taubmann. Daß des letzteren „Sänger 
weihe“ Erwähnung fand, zeigt allerdings auch wieder die Gefahr dieſer Art von 
aphoriſtiſcher Darftellung; denn daß des im übrigen ja hochzuſchätzenden Muſikers 
„Chordrama“ für die Gattung irgendwelche grundſätzlichen Werte aufweiſt, wird 
auch Bekker nicht behaupten. Zur Beurteilung der Perſönlichkeit von Richard 
Strauß iſt wichtig, was Bekker über die induſtrielle Seite bei dieſem meiſt genannten 
Muſiker unſerer Tage bemerkt: „Weder Klatſchſucht noch Senſationsbedürfnis 


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Stord: Bom Muſitbrama der Gegenwart 847 


veranlaßt mich, dies Kapitel hier mit hereinzuziehen. Ich will überhaupt weder 
loben noch tadeln, ſondern Perſönlichkeiten nacherleben. Und gerade die Behand- 
lung und Bewertung materieller Güter deckt mehr Charakteriſtiſches für den Men- 
ſchen auf, als mancher vermutet. In Strauß' kommerzieller Gewandtheit offenbart 
ſich ein bedeutender ſozialer Grundzug der Gegenwart: der Künſtler hat jetzt volles 
Bürgerrecht erworben. Er baut nicht mehr auf luftigen Stützen in die Welt hinein, 
wie in alten Hiſtorien ſo romantiſch beſchrieben und ſo ſchön zu leſen iſt. Er wartet 
nicht mehr auf penſionſpendende Fürſten oder Mäzene. Seine wirtſchaftliche 
Exiſtenz iſt feſt gegründet — er ſorgt jetzt ſelber für ſich. Nur die Menſchen haben 
ſich noch nicht daran gewöhnt. Während ſie ſich freuen über Mozarts Leichtſinn, 
lächeln über Beethovens Zerſtreutheit und Wagners ewige Geldverlegenheiten, 
während ſie die trübſeligen Folgen bei allen recht herzlich bedauern, finden ſie es 
im übrigen ganz in der Ordnung, daß jene Großen mit Kummer durchs Leben 
gehen mußten. Dagegen rümpfen ſie die Naſe, wenn in ihrer eigenen Zeit einer 
vorkommt, der nicht nur Schaffer, ſondern auch Erraffer iſt. Seine Kunſt ſcheint 
ihnen profan, weil ſie ſich gern von guten, realen Dingen nährt. Strauß ſeinerſeits 
ſcheut auch hierin nicht vor den äußerſten Konſequenzen zurück. Er wurde nicht nur 
Mitbegründer und eifrigſter Förderer der Tonſetzergenoſſenſchaft — er geniert ſich 
auch nicht, als Abſchluß feiner amerikaniſchen Tournee ein Warenhaustonzert zu 
dirigieren, für Buchhändlerſpekulationen als Aushängeſchild zu dienen, ja ſelbſt 
in Berlin Konzerten zweiten und dritten Ranges feine Mitwirkung zu leihen, 
wenn er entſprechend honoriert wird. Auch der legendäre Stolz des freien Rünft- 
lers findet in Strauß keinen großen Liebhaber. Kleineren Geiſtern ſieht man 
Kniebeugen und krummes Rückgrat nach — bei Strauß ſchmerzt fo etwas. Aber 
auf diefe Weiſe fegt er ſich durch. Paris vaut une messe — wohlan: hier ift ein 
Feſtmarſch für die, Salome“! Das find Streiflichter aus dem Leben der Gegen- 
wart. Sie ſollen nicht verkleinern, nur beleuchten. Wer wäre berechtigt, Strauß 
Vorwürfe darüber zu machen, daß er mit ſich handeln läßt? Er nur hat den Mut 
dazu, ſo etwas en gros und öffentlich zu betreiben — das allein unterſcheidet ihn 
von anderen. Er iſt der Großinduſtrielle, der Muſikkönig im amerikaniſchen Sinne — 
wir müſſen uns begnügen, ihn fo zu nehmen, wie er ift.“ 

Aber wir dürfen doch wohl ſagen, daß wir dieſe Art von Richard Strauß ſchwer 
bedauern und auch als kulturelle Schädigung empfinden. Und da iſt nichts von 
Phariſäertum drin. So gewiß die Künſtler ein Recht dazu haben, für ihr mate- 
rielles Fortkommen zu ſorgen, fo muß doch immer noch ein Unterſchied zwiſchen 
Künſtler und Börſenmakler fein. Auch auf dieſem Gebiete muß es wahr bleiben, 
daß „der Menſchheit Würde in ihre Hand gegeben“ iſt. Wenn ein armer Teufel einen 
weniger künſtleriſchen Auftrag annimmt, weil er ihm Geld einbringt und vielleicht 
inſtand fegt, ein ihm am Herzen liegendes Werk zu ſchaffen, fo lebe der Grundſatz, 
daß der Zweck die Mittel heilige. Wenn aber ein Mann wie Richard Strauß, der 
jederzeit ſchon als Dirigent imſtande ift, ſich in einem Fahr ein Vermögen zu 
erraffen, ſich, wie Bekker aufzählt, an unwürdigen Veranſtaltungen beteiligt, weil 
er gut bezahlt wird, ſo muß es als das bezeichnet werden, was es iſt: als Verkauf 
der Wurd ez nicht nur der künſtleriſchen, ſondern auch der menſchlichen. Darüber 


848 Storck: Bom Mufitdrama der Gegenwart 


hilft nichts hinweg. Nicht einmal im ausgeſprochenen Geſchäftsleben läßt fic der 
Grundſatz rechtfertigen, daß ein angeſehener Raufmann feinen Namen für Unter 
nehmungen zweifelhaften oder gar unreellen Charakters hergibt, wenn er dabei 
verdient. Es ift aber ſicherlich eine Unreellität, eine ſchwere Schädigung am Kunſt⸗ 
leben, wenn ein von vornherein minderwertiges Unternehmen ſich dadurch in den 
Vordergrund drängt oder überhaupt erhält, daß es mit dem Namen Richard 
Straußens hauſieren gehen kann. 

Bei der Weitherzigkeit des Bekkerſchen Kunſtempfindens habe ich mich ge 

wundert, daß er, der dem franzöſiſchen Drama Debuſſys ausführliche Behandlung 
gönnt, die Italiener nach Verdi von beſonderer Erwähnung ausſchließt, „weil fie 
ſich der ordinärſten Theatermacherei ergeben haben“. Ich habe nie zu den Lob 
preiſern der veriſtiſchen Richtung gehört, ſehe allerdings bei den Zungitalienern 
auch Ermano Wolf-Ferrari mit ſeiner Konverſationsoper. Aber auch davon ab 
geſehen, halte ich es für unrecht, die ganze Bewegung lediglich als Theatermacherel 
abzutun. Für Stalien bedeutet Mascagni jedenfalls viel mehr, und da die Oper 
nun doch einmal auch Theater ift, ſcheint mir das Theaterblut immer noch wert- 
voller, als Debuſſys Blutloſigkeit. 
Zum Schluß feiner Betrachtungen kommt Bekker auf die zukünftige 
Entwicklung des Muſikdramas zu ſprechen. Das Charakteriſtikum 
der Hauptentwicklungslinie von Richard Wagner zur Gegenwart iſt das Hingelangen 
zur Sinfonieoper, wie ich hier ſchon wiederholt ausgeführt habe. Die Dramen 
von Richard Strauß zeigen am ſchroffſten bereits das völlige Verſchieben des von 
Wagner hergeſtellten Gleichgewichts zugunſten des Orcheſters. Bekker begegnet 
ſich hier mit meiner Anſchauung: „Es läßt ſich doch nicht leugnen, daß die prür 
zipielle Herabdrückung des geſungenen Teiles, die Auffaſſung der Szene nur als 
Schaubühne, eine ebenſo große Einſeitigkeit in ſich trägt wie das ehemalige abſo⸗ 
tute Regiment des Sängers. Nicht etwa weil dadurch eine gewiſſe Runftfertigteit 
unſerer Sänger verloren ginge. Geſangstechniſche Geſichtspunkte kommen hier 
nicht in Betracht. Doch die Virtuoſität des Orcheſters, wenn fie fih zum SGelbjt 
zweck fteigert, kann ebenſo verderblich wirken wie die früher herrſchende Virtuoſitat 
der Primadonna. Wir gehen der Gefahr entgegen, am Ende in eine Ara ber leben- 
den Bilder mit Orcheſterbegieitung hineinzugeraten. Dieſem drohenden Übel tön 
nen wir nur dadurch vorbeugen, daß wir der Szene eine möglichſt weittragende 
Bedeutung zugeſtehen, in ihr trotz aller Reichhaltigkeit der orcheſtralen Sprache 
ſtets das primäre Element des Dramas erkennen, welches durch die muſikallſche 
Einkleidung nur in eine neue Sphäre gehoben wird. Die rein dichteriſche Bedew 
tung des Dramas alſo muß groß genug ſein, um allen muſikaliſchen Zutaten zum 
mindeſten gleichwertig gegenüberzuſtehen. Die Frage nach der Zukunft unſeres 
Muſikdramas faſſe ich daher in erſter Linie als ein Textproblem. Es fehlt 
uns keineswegs an ſchöpferiſchen muſikaliſchen Talenten — wir beſitzen ihrer viel 
leicht mehr als manche andere Zeit. Doch diefe Talente werden niedergedrückt, 
an ihrer Entfaltung gehindert — ihnen fehlt die dichteriſche Form, in der ſie ſich 
erſchöpfend zur Geltung bringen können.“ 

„Wo aber kommen wir damit ſchließlich hinaus? Wollen unſere beſten Ton 


Storck: Vom WMufitbeama der Gegenwart 849 


dichter immer wieder ihre Kräfte an Texte vergeuden, die ihrer durchaus unwert 
find? Sollen wir ſtets von neuem den alten Opernunſinn in moderniſierter Auf- 
faſſung geduldig hinnehmen, und uns achſelzuckend mit der unabwendbaren Tat- 
ſache tröſten, daß daran nun einmal nichts zu ändern iſt? Den Ausweg aus dieſem 
Zwieſpalt ſieht Bekker in der Benutzung des ſelbſtändigen Literaturdramas. ,,Deu- 
ten nicht die Verbindungen Strauß’ mit Wilde und Hofmannsthal, Dukas' und 
Oebuſſys mit Maeterlind auf eine neue Art der Vereinigung von Dichtkunſt und 
Mufik? Freilich haben fih alle diefe Komponiſten immer noch an das hiſtoriſche 
Koſtüm gehalten, während der Mehrzahl der modernen Dramen Stoffe aus der 
Gegenwart zugrunde liegen. Doch warum ſcheuen ſich unſere Komponiſten, zeit- 
genöſſiſche Menſchen auf die Bühne zu bringen? Woher dieſe Zaghaftigkeit? 
Stellen fie nicht dadurch der Illuſionskraft, der Glaubwürdigkeit ihrer Muſik ein 
großes Armutszeugnis aus? Zch will hier nicht dem niedrigen Naturalismus, 
der ſich in photographiſcher Nachahmung der Wirklichkeit gefällt und damit genügen 
läßt, das Wort reden. Doch wenn es ſchon dem wahrhaft berufenen Oichter ge- 
lingt, aus der knappen Lebenswahrheit, die fih in einer Zeitungsnotiz wieder- 
geben läßt, hindurchzudringen auf den innerſten Kern der Geſchehniſſe, leiſeſte 
Seelenregungen, intimſte pſychologiſche Vorgänge anzudeuten und darzuſtellen — 
müßte da nicht der Muſiker mit beiden Händen zugreifen und ſchaffen — er, deſſen 
Kunſt bereits aus fih ſelbſt jeder banalen Realität den Schimmer einer tranfzen- 
denten Weihe zu geben vermag? Sollte nicht vielleicht eine literariſche Rückſtän⸗ 
digkeit, oder die Furcht vor dem ungewohnten, manche Komponiſten von der 
Geſtaltung moderner Stoffe abhalten? Was diefe an Reichhaltigkeit in fih tragen, 
läßt ſich kaum an mittelalterlich koſtümierten Sujets ausſchöpfen. Dieſe Fülle 
von Charakteren, diefe ſubtile Abſtufung der Gefühlsnuancen, diefe feine Ber- 
legung der Stimmungen, welche gerade die heutige Muſik braucht, um ihre Vor- 
züge zu entfalten — wo kann ſie ſie beſſer finden als in der Stoffwelt, auf welche 
ſich auch der moderne Dichter angewieſen ſah, als er nach dem paſſenden Ausdruck 
für die ihn bewegenden Motive ſuchte ... „Unſere Muſik ift fähig, den ver- 
ſchlungenſten yſychologiſchen Rätſeln nachzugehen. Sie vermag eine Dichtung 
reſtlos in ſich aufzunehmen und zu reproduzieren. Gehen wir vielleicht 
einer Ara des literariſchen Muſikdramas entgegen? Jd ziehe aus den vorhandenen 
Werken den Schluß, daß eine folgerichtige, fruchtbare Entwicklung den Weg durch 
eine ſolche Ara führen muß.“ 

Wenn man an das Beiſpiel von Richard Strauß und das der Franzoſen 
Debuffy und Dukas denkt, fo erſcheint es durchaus nicht ausgeſchloſſen, daß wir 
einem ſolchen mit Mufik verbundenen Literaturdrama entgegengehen. Aber es 
gehört ein völliges Verkennen des Wefens des Muſikdramas dazu, wenn man 
glaubt, auf dieſe Weiſe zu wirklich lebensfähigen und vor allem muſikdramatiſchen 
Schöpfungen zu gelangen. Das beweiſen doch die Werke der genannten Künſtler 
auch bereits, daß man fo allenfalls zu einer Art ſinfoniſchen Dichtungen kommen 
kann, mit Szenerie und Text, niemals aber zu Muſikdramen. Dieſe Art von Muſik⸗ 
dramen ſteht der unglüdlicheren Art des Melodramas durchaus nahe, ift ein Aus- 
beuten, Umdeuten, Unterſtreichen und leichtes Verbinden eines bereits 5 

Ser Türmer XI, 12 


850 Richard Wagner in Bapreuth 


denen, fo wie es Bekker felber eigentlich unfreiwillig bereits geſagt hat in den Wor- 
ten, daß „die Muſik eine Dichtung reſtlos in ſich aufzunehmen und zu re pro- 
duzieren vermag“. Wir wollen aber Produktion von der Muſik im 
Muſikdrama und nicht Reproduktion, — neue ſchöpferiſche Werte. 

Daß wir nicht aufs neue dem Fluch des alten Opernlibrettos verfallen wollen, 
ift felbſtverſtändlich. Davor bewahren kann uns aber nur die Erkenntnis, daß das 
Muſikdrama etwas vom gewöhnlichen Drama weſent— 
lich Verſchiedenes iſt: eine künſtleriſche Ausdrucksform, die unter gewiſſen 
Verhältniſſen als die natürliche erſcheint. Dieſe Verhältniſſe find vo m Dichter 
für den Muſiker zu ſchaffen. Alles weitere ift Nebenſache. Ob durch- 
komponierte, ſinfoniſch gehaltene Muſik; ob Behandlung einer einzelnen Szene; 
ob Nummernoper, das alles ſteht in zweiter Linie. Weſentlich iſt nur das eine, 
daß ein Inhalt geſtaltet wird, der die gemeinfame Wir 
kung von Dichtung und Muſik zu ſeinem vollgültigen 
Ausdrucke braucht. Wenn die beiden Techniken der Dichtung und Muſik, 
die dieſen vollgültigen Ausdruck ermöglichen, nicht in einem Menſchen vereinigt 
ſind, ſo müſſen ſich eben zwei zu gemeinſamer Arbeit vereinigen. Der Wortdichter 
muß dann ſo viel muſikaliſches Empfinden haben, um fühlen zu können, wie weit 
die Muſik an der urſprünglichen Geſtaltung des Stoffes, alſo bereits für 
Szenenbildung und Auffaſſung der Charaktere mitwirken kann. Der Muſiker um- 
gekehrt muß ſoviel dichteriſches Empfinden beſitzen, daß er nicht komponiert, was 
der Dichter beſſer geſagt hat, als er es felber tun kann. Die Erſcheinungsformen 
ſind Nebenſache. Es kommt nur darauf an, daß wir die geiſtigen und inhaltlichen 
Werte bekommen. Sobald es gelingt, einen Inhalt vollgültig auszudrücken, iſt 
eine Form entſtanden, die ihre Lebensberechtigung in ſich trägt. 


SC 


Richard Wagner in Bayreuth 


pon Leſſing, der doch aller kleinlichen Schnüffelei abhold war, ſtammt der Ausſpruch, 
9) 2 daß Kleinigkeiten und häusliche Umſtände auf den Charakter großer Männer „oft 
— ein größeres Licht werfen als alles das, was ſie vor den Augen der Welt verrichtet 
Ge Aus gleicher Überzeugung haben Dr. Heinrich Schmidt und Ulrich Hartmann in Bay 
reuth die Erinnerungen geſammelt, die ältere Bewohner der Stadt am roten Main an „Rich ar d 
Wagner in Bayreuth“ bewahrt haben. Das mit 14 Abbildungen geſchmückte Buch- 
lein ift im Verlag von Karl Klinner in Leipzig erſchienen (geh. 3, geb. A M) und bringt natie- 
lich nichts uͤberwältigend Neues, wirft aber manches Schlaglicht auf Wagners menſchliche Art. 
Gerade von der aber weiß die Welt nicht genug oder vielfach Unrichtiges. Die Verfaſſer haben 
ſich zumeiſt an die einfachen Leute aus dem Volke gehalten, die ſeinerzeit zwar ebenſowenig 
die Bedeutung Wagners ahnten wie die „Gebildeten“, aber jedes Erlebnis mit ihm für ſehr 
wichtig nahmen, weil er für ſie der Freund des Königs war. 
Recht viel wiſſen die Handwerker zu berichten, die beim Bau des „Wahnfried“ mit Wag- 
ner zu tun hatten. Die Gediegenen unter ihnen fühlten bald, daß der ja ſehr reizbare Künſtler 


EO ` "TEE c eee TN TN eee UG Te 


Richard Wagner in Bayreuth 851 


in Wirklichkeit ein herzensguter Menſch fei und es mit allen gut meine. Wagner hat beim Haus- 
bau natürlich ebenfoviel Ärger durchgemacht wie andere Leute in gleicher Lage und ſprach da- 
mals zumeiſt von feinem „Argerheim“. Seine Unerfahrenheit wurde vielfach ausgenutzt, 
und die Arbeiten nahmen einen ſchlechten Fortgang. Vielfach gab es auch Entzweiungen. So 
kam es bald mit dem Malermeiſter zum Zerwürfnis, und Wagner ließ fih zwei ſtumme Maler 
aus Nürnberg kommen. Aber dieſer Verſuch wäre ihm bald teuer zu ſtehen gekommen, denn 
diefe Stummen gerieten bei feinen tadelnden Vorſtellungen fo in Wut, daß fie ihn einmal 
ſchwer mißhandelt hätten, wenn ihnen der bis in die letzten Lebensjahre ſo flinkbeinige und 
ſpringfertige Meiſter nicht entronnen wäre. Der Zimmermeiſter Strunz, der dieſen Vorfall 
berichtet, erzählt auch Beachtenswertes über die Anlegung des Grabes in Wahnfried. Als das 
Haus bezogen wurde, war die Gruft längſt fertig. „Während des Grabbaues ging der Meifter 
jeden Tag an die ernſte Stätte, um zu ſehen, wie weit die Arbeiten gediehen ſeien. Der Weg 
zur fertigen Gruft war ſein liebſter Gang. Oft ſtieg er auch in das Grab. Wenn er ſich mit 
einem dort befand, dann war er ein ganz anderer Menſch, ernſt und doch freundlich. Einmal 
war ich mit ihm in ſeinem Grabe. Er ſprach mit mir vom Sterben und vom Tode; doch iſt mir 
der Inhalt des Geſpräches nicht mehr in der Erinnerung. Ich lobte ihn, hob ihn heraus und 
bemerkte, er habe noch keine Zeit zum Sterben, er habe noch vieles vor ſich und große Werke 
zu ſchaffen. Darauf fagte er: Ach, ich wollte, ich läge Iden drinnen!“ — 

be Begeiſterte Verehrer des Meifters find der Schloſſermeiſter Ghamel und der Buch- 
binder Chriſt. Senfft. Beide erfuhren zahlloſe Male die durchaus zwangloſe Art Wagners, 
zu dem ſie ſich z. B. im Arbeitsgewand begeben mußten, und ſeine echte Leutſeligkeit, die allem 
Groß; und Feierlichtun abhold war und offenbar auch nichts von Goͤnnertum an fih hatte; 
denn das hätten dieſe biederen Handwerker wohl ganz anders empfunden. Für Wagners 
übergroße Vertrauensſeligkeit bringt Ghamel einen kennzeichnenden Zug bei: „Nach Voll- 
endung des Baues ſchlug ich die Fenſter und Türen an. Danach beſah ſich Wagner den Bau 
und bemerkte, daß ich an einigen Türen Schlöſſer angebracht hatte. Er ließ mich ſofort rufen 
und fagte zu mir: „Was machen Sie da für dummes Zeug? Sie machen mir ja an die Türen 
lauter Schlöffer, die zum Zuſperren gerichtet find! Zn meinem Haufe wird nichts geſchloſſen; 
bei mir muß alles offen fein.“ Ich entgegnete: ‚Meifter Wagner, wer weiß, ob Sie nicht einmal 
recht froh find, daß Sie Ihre Zimmer abſperren können.“ Unwillig erwiderte er: „Bei mir ift 
das nicht eingeführt, es wird nichts zugeſperrt!“ Bevor er feine Reife nach Palermo antrat, 
ftellte er mich der Beſchließerin vor und gab mir die Weiſung, während feiner Abweſenheit 
allen ihren Anordnungen zu entſprechen. Ich wurde nun gar oft in den Wahnfried geholt, 
um Kommode oder Schränke auf- oder zuzuſperren. Das kam mir ſchließlich verdächtig vor, 
und als ſie gar einen alten Schrank geöffnet haben wollte, weigerte ich mich, das zu tun. Ich 
ſetzte den Bürgermeiſter Munder von meinen Wahrnehmungen in Kenntnis, der mein Ber- 
halten billigte und Wagner telegraphiſch von der Sachlage verſtändigte, da die Verwalterin 
gedroht hatte, ſich eines anderen Schloſſers bedienen zu wollen. Bald kam die Antwort: ‚Alles 
abſperren, auch die Türen!“ Nach feiner Zurüͤckkunft ſagte Wagner zu mir: ‚Es ift doch gut, 
daß es Schlöſſer zum Abſperren gibt. Sie hatten recht getan, als Sie damals Schlöffer an die 
Süren machten.“ 

Beſonders umfangreich ift das Kapitel „Richard Wagner, ein Tierfreund“. Daß des 
Meiſters früh hervortretende und auch in ſeinen Kunſtwerken betätigte Liebe zur Tierwelt 
nicht eine Narretei, ſondern auf feiner Weltanſchauung des Mitleids beruhte, dürfte allgemein 
bekannt ſein. Er war aber auch im wirklichen Leben von aller Selbſtſucht gegenüber den Tieren 
frei, was man bekanntlich nicht von allen Tierliebhabern ſagen kann, denen die eigene Freude am 
Tier höher ſteht, als das Wohlergehen der Kreatur. Sehr bezeichnend iſt hier, daß Wagner als 
leidenſchaftlicher Freund des Vogel-, insbeſondere des Nachtigallengeſanges es trotzdem ver- 
ſchmähte, Waldſänger zu fangen und ſich Singvögel im Haufe zu halten. Die Freiheit, um die 


852 Richard Wagner In Bayreuth 


er für fidh felber fo ſchwer gekämpft hatte, durfte aud dem Tier nicht beſchnitten werden. So 
hat er die hartnäckigſten Kämpfe durchgefochten, bis er erreichte, daß er ſeine großen Hunde 
nicht an der Leine zu führen brauchte. Er behauptete, und das Verhalten feiner Tiere ſprach 
für die Richtigkeit feiner Meinung, daß die Hunde eben nur durch die Unfreiheit bösartig wür- 
den. Daß feine Liebe ſich aber nicht nur den Hausfreunden unter den Tieren zuwandte, zeigt 
folgender Vorfall. „Als Richard Wagner, vom Feſtſpielhügel herabkommend, eines Tages 
fiber den Bahnhofplatz ging, bemerkte er dort viele Weiber, die mit Handkörben und Netzen 
verſehen waren und ſich auf dem Boden zu ſchaffen machten Ein Fiſchhändler hatte ſich per 
Bahn Karpfen ſchicken laffen und fie hier einfach auf das Pflaſter geſchüttet, weil es ihm zu um 
ſtändlich war, fie vor dem Verkaufe noch einmal ins Waſſer zu bringen. Der Anblick der ſchlagen⸗ 
den und ſpringenden Fiſche brachte den Meiſter, dem jede Tierquälerei ein Greuel war, ſo in 
Harniſch, daß er mit feinem Stode fuchtelnd und drohend auf den Händler zuging, der ſchleunigſt 
die Flucht ergriff. Wagner, feinen Stock ſchwingend, verfolgte ihn und brachte ihm in feinet 
lebhaften Art und laut ſcheltend die Verwerflichkeit feiner Handlungsweiſe zum Bewußtſein.“ 

Wie für das wehrloſe Tier war Wagner auch voll regſten und tatkräftigen Mitleides 

für die armen Menſchen. Das Büchlein weiß hier manche febr ſchönen Züge zu berichten, 
die ein Wohltun zeigen, das ſich nicht auf die Herzenswallung des Augenblickes beſchränlle, 
ſondern zur Fürſorge für die Zukunft wurde. Das erfuhr natürlich vor allem die Jugend. 
Aber auch die eigentlichen Armen „hatten das teilnehmende Herz Wagners bald entdeckt. Schon 
in den Morgenſtunden, wenn er durch die Pforte zum Hofgarten fein Heim verließ, um fpagie 
ren zu gehen, wurde er häufig von Notleidenden erwartet. Unter ihnen befand fic nicht felten 
eine arme Frau aus dem Neuen Wege. Sie ging an Krücken, weil ihr ein Bein abgenommen 
worden war, und wurde vom Meiſter beſonders reichlich bedacht. Mit Tränen in den Augen 
pflegte ſie zu ſagen: „Ja, der gute Meiſter iſt meine einzige Stütze!“ Auch am Eingangstore 
der Villa am Rennwege harrten feiner des öfteren Oürftige. Keiner flehte vergebens um ein 
Almoſen. Hatte Wagner, was ſehr oft vorkam, kein oder nur wenig Geld bei ſich, dann be 
ſtellte er die Armen, die ihn auf der Straße um ein Almofen angingen, auf eine beſtimmte 
Stunde in ſein Haus, wo ſie ihre Gabe in Empfang nahmen. Von Zeit zu Zeit händigte et 
feinem Faktotum Schnappauf größere Geldbeträge ein mit dem Auftrage, fie an Arme der 
Stadt ohne Anſehen der Perſon oder Konfeſſion zu verteilen; die Namen der Empfänger wollte 
er nicht wiſſen. Bedürftige Günter, die in der Ferne weilten, erhielten von Schnappauf, det 
Anordnung Wagners gemäß, regelmäßig beſtimmte monatliche Unterſtützungen zugeſandt. 
Wenn Wagner Almoſen ſpendete, fo ließ er die linke Hand nicht wiſſen, was die rechte tat. 
Bald nach dem Einzuge in den Wahnfried fiel es feinen Angehörigen auf, daß er täglich früh 
einen Gang in die Stadt machte, über deſſen Zweck man nichts erfahren konnte. Später kam 
man dann durch einen Zufall darauf, daß er eine arme, im Rennweg wohnende Frau, deren 
ſchweres Siechtum ihm bekannt geworden war, auffuchte, um ihr Troſt und Unterftügung zu 
bringen.“ 

Auf die vielfachen Mitteilungen über Wagners Verhältnis zu den Künſtlern, feine Be 
teiligung an der öffentlichen Muſikpflege gehe ich hier nicht ein. Es kam mir nur darauf on, 
wieder einmal daran zu erinnern, von welcher Schönheit das ſo oft mißverſtandene und be 
kämpfte Menſchentum Richard Wagners in Wirklichkeit war. Was „ſubjektiv“ die Briefe de 
zeugen, ergänzen und beſtätigen die in ihrer Schlichtheit doppelt beredten Zeugnlſſe dieſes 
empfehlenswerten Büchleins. 


2 SS d 
LIES. SE 


Aſthetik und Konfeſſion 


in früher unbefangener Aſthetiker, Verfaſſer eines „Kunſtbüchleins“, einer „Welt- 
ſchönheit“ und ſehr zahlreicher Schriften und Oichtungen, hat ſich in den letzten 
Jahren auf Wege lenken laffen, die auf eine bedauerliche Verwechſlung zwiſchen 
äfthetifcher und konfeſſioneller Denkweiſe hinauslaufen. 

Der neulich hier angezeigten Schrift von Karl Muth Auguftbeft, S. 710 ff.) läßt Richard 
von Rralit ſoeben eine Gegenſchrift folgen (Regensburg, 3. Habbel), die leider von perſönlichen 
Beleidigungen eines ſachlichen Gegners geradezu wimmelt. Muth bemüht ſich ebenſo wie 
feine Mitkämpfer um Aufhellung des Problems: daß nämlich theologiſche und äſthetiſche Be- 
trachtungsweiſe — Geſinnung und Geſchmack — als zwei verſchiedene Funktionen ausein- 
anderzuhalten ſeien. Kralik und der Gralbund werfen von vornherein und durchgängig beides 
durcheinander. Und ſchlimmer als dies: fie bezichtigen ihre äſthetiſchen Gegner des „Modernis- 
mus“, fie ſchleudern den äſthetiſchen Kampf mit den theologiſchen Anſichten eines Schell und 
Ehrhardt zuſammen, fie rufen das treue katholiſche Volk und das Papfttum um Hilfe an. 

Deutlich hat aber einer von den Verdächtigten — der Franziskanerpater Dr. Expeditus 
Schmidt — im „Gral“ ſelbſt (I. 4) in einem Abwehrartikel gegen die Gralsritter feinen Stand- 
punkt formuliert: „Was wir wollen, ift vor allem nationale Run ft, die weder einſeitig pro- 
teſtantiſch, noch einſeitig katholiſch, noch atheiſtiſch ſein muß. Es werden Freunde und An- 
hänger aller Richtungen, ohne ſich ihrer Weltanſchauungen entſchlagen zu müſſen, an dem 
Gebäude der nationalen Kunſt mitarbeiten können und müſſen; aber es wirkt aufdringlich und 
abſtoßend auf jeder Seite, wenn immer, wie bei uns beſonders gerne, von vorn herein 
betont“ wird: Ich bin katholiſch, darum arbeite ich für das katholiſche Volk, in einem tatholi- 
ſchen Bunde, in einem katholiſchen Organe. Das legen unſere Gegner — und man kann es 
ihnen im Grunde nicht übelnehmen — natürlich dann ſo aus: Aha, die brauchen eine eigene 
Arena, weil ſie ſich auf die allgemeine nicht getrauen!“ 

Kralik ſelber — deffen Broſchüͤre jetzt in den hilfloſen Ruf ausklingt: „Helft uns im Bund 
mit dem katholiſchen Volk und dem Papſttum die große katholiſche Literatur- 
bewegung zum heilvollſten Ziele zu führen!“ — ließ einſt fein anregungsvolles Büchlein „Welt- 
ſchönheit“ (1894) in folgende unbefangene, echt äfthetifch gedachte Worte verhallen (S. 222 f.): 
„Das Schöne ift allerdings intereſſelos und hat gar keinen Zweck. Aber die Welt hat 
den Swed, ſchön zu fein; fie ift dazu erſchaffen worden. Wir leben, um ſchön zu leben, ſchön 
zu handeln, ſchön zu ſterben und den Künſtler zu loben, der dies Wunderwerk erdacht hat, wo- 
von auch wir einen nicht zu unterſchätzenden Teil ausmachen. Wir haben allerdings noch eine 
Anzahl von andren Geboten zu befolgen, die die bürgerlichen, moraliſchen 

und religiöſen Geſetzbücher uns lehren.“ [Hier trennt alfo Kralik reinlich.] „Wir 


854 Auf ber Warte 


können unfren Geiſt außerdem noch mit den Refultaten verſchiedener Wiſſenſchaften ergdgen. 
Wenn es uns aber gelingt, ſchöoͤn zu leben, fo werden wir dies alles erfüllt und übertroffen 
haben. Wir werden das Reich der ewigen Schönheit gefunden haben, ein Reich, das zwar nicht 
frei ijt von Streit und Mühe, aber voller Licht und Herrlichkeit, voller Huld und Freude.“ 

So ſchöne Worte fand einſt der Aſthetiker Kralik. Es war dies nicht bloß ein Zufalls⸗ 
wort; feine Bücher „Weltſchönheit“, „Weltgerechtigkeit“, „Kunſtbüchlein“ uſw. find durch- 
zogen von dieſer Grundempfindung, daß die Schönheit an und durch fih „vollkommene Be- 
friedigung“ gewähre. Sein oben zitiertes Buch ſchließt mit folgendem Satz: „Wer aber Schönes 
tut und ſchafft, der hat etwas Wirkliches geleiſtet, der hat handelnd das Ratfel des Lebens gelöft.“ 

Und nun? Heute iſt dieſer fleißige und ſtille Abſeitsmenſch in die Tagesparteien geraten. 
Er hat ſich in der Nähe, auf die ſein Blick nicht eingeſtellt iſt, alle Optik verwirren laſſen und — 
wendet ſich nun an Klerus, Katholikentage, Parlamentarier, Treue des katholiſchen Volkes, 
Papſttum und andre gewiß hohe und würdige Dinge, die einem Vorkämpfer auf dieſen 
Gebieten anzurufen zuſteht, die aber nicht ins Reich der ä fth etif hen Erörterung gehören. 
Es ift eine bedauerliche Entgleiſung aus der Aſthetik in die Konfeſſion. 

Perſönliche Dinge wirken im Hintergrunde mit. Kralik fühlte ſich durch lange Jahre 
verkannt und glaubte nun, durch die Bewegung Muths und der Zeitſchrift „Hochland“ nach 
Gebühr emporgetragen und gewürdigt zu werden. Sowohl Muth in ſeiner neuen Schrift 
(S. 134 ff.) als auch Expeditus Schmidt („Aber den Waſſern“, II, 14) glauben nun aber den 
Dichter Kralik ablehnen zu muͤſſen. Dieſer ſelbſt berührt unbewußt an einer Stelle ſeiner Schrift 
grade das, was jenen Kritikern an ſeinem Schaffen fehlt. „Seitdem ich denken kann,“ ſchreibt 
er, „lebe ich nur der Arbeit, Tag für Tag, ohne eine Erholung zu ſuchen. Alle meine Gedanken 
ſind dieſer Arbeit bei Tag und Nacht gewidmet. Ich habe faſt ganz auf Reiſen, Vergnügungen 
verzichtet; ich ſchreibe nur die nötigſten Briefe, mache keine Beſuche, kaufe und leſe nur ſolche 
Bücher und Zeitſchriften, die unmittelbar meiner Arbeit zugute kommen .. Meine Sache 
ijt der Fleiß ... Sch liebe meine Bücher, weil ich fie zu Schatzkammern alles Schönen und Gert, 
lichen gemacht habe, das ich aus allen Zeiten und Völkern zuſammengetragen und wohl ge- 
ordnet hatte“ (S. 120). Wohl, das iſt ehrenwert. Jedoch durch ſolche Zähigkeit mag ſich in der 
Tat ein Famulus Wagner ſelber charakteriſieren — aber ein Fauſt? ein Dichter? einer, den der 
Brand im Buſen durch alle Höhen und Tiefen treibt? Der Dichter geſtaltet doch wohl, was er 
mit Herzblut erlitten, erlebt, erliebt, nicht was er geleſen und zuſammengetragen hat. 

Der Umſtand, daß dieſer fleißige Schriftſteller nur das lieſt, was „unmittelbar ſeiner 
Arbeit zugute kommt“, erlaubt Herrn von Kralik mitunter, Urteile über Menſchen zu fällen, 
die er nicht umfaſſend genug kennt. Bei dieſem Anlaß werde ich ſelbſt in dieſen unerfreulichen 
Streit mit hereingezogen. Kralik verargt es Muth, daß er mich zur Mitarbeit am „Hochland“ 
zugelaſſen und, angeblich, Reklame für mich gemacht habe (was mir ganz neu iſt). Dabei be 
hauptet er, ich ſtünde auf einem ausgefproden „konfeſſionellen Standpunkt“ — eine Neuheit, 
die ich mir gleichfalls hier zum erſten Male ſagen laſſen muß; an einer andren Stelle ſpricht er 
mir den „echriſtlichen Idealismus“ ab. Als ich ihn wegen die ſer merkwürdigen Vorwegnahme 
des Züngſten Gerichtes freundnachbarlich zur Rede ſtellte („Wege nach Weimar“), wich er aus. 
Er ſpürt auch hier offenbar nicht die Taktloſigkeit, die ſich im Ausſprechen folder Urteile über 
unfer Heiligſtes kundgibt; fo urteilt er über mich, den Proteſtanten; und fo ſpricht er Muth, 
Schmidt, Mumbauer und andern Witkatholiken den echt katholiſchen Standpunkt ab. 

3m habe — um dies nebenbei zu fagen — ſchon in den „Wasgaufahrten“ (1895) in zwei 
Kapiteln mein Verhältnis zum Katholizismus kHargelegt. Mein Gedicht „Sankt Odilia“ ſteht 
in katholiſchen Leſebüchern; meine dramatiſierte Legende „Odilia“, mein „Gottfried von 
Straßburg“ verraten überall Unbefangenheit, ja Wärme nach beiden Seiten hin. Die zweite 
Auflage der „Heiligen Eliſabeth“ hat ſorgſame Ergänzungen erfahren; im „Luther“ hat eim 
Muſikus Gottfried Bach das Schlußwort, und das Mönchlein Silvanus ijt mir ebenfo intereſſant 


— 
di o 


Auf her Warte 855 
wie Luther ſelber; ich lebe und liebe mit meinen Menſchen als Menſchen, kann fie anders gar 
nicht geſtalten, denke weder an Konfeſſionen dabei noch an Parteien. Die Roſenſzene in der 
„Heiligen Eliſabeth“ als „rationaliſtiſche Erklärung“ () des Roſenwunders aufzufaſſen, wo 
mir doch nur eine Parallelſzene vorſchwebte, tft ein äſthetiſcher Irrtum; und Konrad von Mar- 
burg in feiner düſtren Strenge (beſonders in der neuen Auflage) ift mir nicht weniger dichte“ 
riſch intereſſant als die liebenswerte Heilige ſelber — die übrigens beiden Kirchen an- 
gehört, denn damals waren wir alle noch ein großer gemeinſamer Stamm und kannten 
noch nicht die beiden Aſte „katholiſch“ und „proteſtantiſch“. 

Sollen wir uns nun auch noch den Parnaß mit dieſer unfeligen Spaltung verunreini- 
gen laſſen?! 

Kralik, vom Kulturideal der Griechen kommend, ſündigt auf das ſchwerſte gegen fein 
eigenes früher betontes Programm einer einheitlich - großen nationalen Kunſt 
und Kultur. War etwa Homer nur für die Zonier der Dichter Griechenlands — bekämpfte 
aber programmatiſch die Dorier? So ift es mit Kraliks „katholiſchem Kulturprogramm“: er 
will die Mehrzahl aller Deutſchen, die Millionen von Nichtkatholiken, einfach ausſchließen oder 
an die Seite drücken. 

Es iſt eine bedauerliche Flucht aus der Aſthetik in die Konfeſſion. Der Irrtum iſt ſo 
elementarer Art, daß es ſich nicht lohnt, auf dieſe Frage näher einzugehen. Mögen die 
Männer, die ſich durch ihr Programm von vornherein konfeſſionell von uns andren abſondern, 
in ihrem Himmelreich glücklich fein und alles Nicht-Katholiſche als „gegneriſches Lager“ be- 
trachten, wenn ihre Lebensweisheit und Kunſtreife ihnen dieſen Standpunkt erlaubt. 


F. Lienhard 
Zi 


Verantwortlichkeitsgefühl! 


7 s geht nicht mehr viel weiter, die Flut ſteht uns bis ans Kinn. Das Schlimmſte ift: 
ſie hat uns überfallen, ohne daß wir eine Gefahr ahnten. Plötzlich war ſie da, mit 

s einem Schlage, aber gleich ſo fürchterlich, mit ſo entſetzlicher Gewalt, daß wir wie 
vor Angſt ſie gar nicht mit dem rechten Namen zu nennen uns getrauten und in lähmendem 
Schreck nur immer ſtammelten: Schundliteratur. 

„Schundliteratur“! Eine Literatur, die „nichts taugt“? Auch das Geheimnis der alten 
Mamjell und Götz Krafft find ſchließlich Schundliteratur. Aber was find neben ihnen Nick 
Carter, Texas Jad, die Blutfahne, die rote Jule, der Frauenräuber Sade, der verbubanſte 
Theodor? Völkermord, Jugendpeſt, Seelenausſatz, Gemũütsarſenik! Natürlich weiß man 
das längſt, und der Erkenntnis ift auch längſt der fordernde Ruf nach Abhilfe gefolgt. Aber 
woher ſoll ſie kommen und wie? Darüber ſchlägt man ſich faſt noch heute. Man weiß nicht 
einmal recht, wohin ſie gehen ſoll. Die einen verlangen das Eingreifen des Geſetzes, die 
anderen bauen auf die Wirkſamkeit einer lauten Mahnung an das Ehr- und Schamgefühl 
des Volks, die einen blicken mit gläubigem Vertrauen zur Schule hin, die anderen fordern 
zu wirtſchaftlichem Boykotte auf, die einen wettern gegen Kolporteure, Buchbinder und andere 
arme Teufel, die doch eben auch leben müffen, die anderen richten laute Anklagen gegen pflicht- 
vergeſſene Eltern oder die ſozialen Zuſtände, die ihnen ihre Pflichtübung ſchwer oder unmög⸗ 
lich machen. Die einen ziehen nach rechts, die anderen nach links. Nur in einem ſcheint man 
ſich einig: kein Menſch glaubt, daß eine Mahnung an das Gewiſſen der Literaturfabrikanten 
und -verleger, der vollendetſten Oeſperadotypen auf dem Schlachtfelde des modernen wirt- 
ſchaftlichen Kampfes, je von Erfolg ſein könnte. Im übrigen treibt jeden die beſte Abſicht und 
der Eifer ehrlicher Überzeugung. Es iſt weder eine leichte Arbeit noch eine dankbare. Und es 
gehört nicht nur Kraft dazu, ſondern auch Mut, viel Mut. Beide find in fo reichem Maße vor- 


856 Auf der Warte 


handen, daß den Zuſchauer tiefes Mitleid mit jo vieler Opferwilligkeit und Unerſchrockenheit 
anfaßt, wenn er ſieht, daß ſie des gemeinſamen Zuges, des feſten Zieles entbehren, daß ſie 
zum Teil ſogar gegeneinanderlaufen und ſomit nutzlos zerſplittern müſſen. 

Und dieſe Gefahr beſteht. Denn gerade vor dem nächſten Ziele wallen die Schleier, 
die harmlos tuende, aber im tiefſten Grunde böswillige Gefliſſentlichkeit ſo leiſe wie weiſe 
ſchwenkt. Eine Frage: Wo ſpielt ſich der Kampf gegen die „Schundliteratur“ ab? Wie alle 
großen Kämpfe der Öffentlichkeit von heute doch in der Preſſe. Wer ſich das recht zu Be- 
wußtſein führt, wird bald einſehen, daß der ganze wohlgerüftet ſcheinende Kampfzug gegen das 
Krebsgeſchwür am Marte unſerer Volksſeele auslaufen muß wie das Hornberger Schießen. 
Wird jemand auf den Gedanken kommen, eine Alkoholgegnertagung in den Feſtſaal einer 
Schnapsbrennerei einzuberufen und den Großdeſtillateur zum Ehrenpräfidenten zu ernennen? 
Vermutlich nicht. Oder wenn, dann doch wahrſcheinlich nur dann, wenn ſonſt kein Saal zu haben 
wäre. Der Schnapsbrenner natürlich wäre nicht unklug, wenn er feinen Saal hergäbe. Er könnte 
dem böſen Feinde zeigen, daß gerade er ein Ausnahmeſchnapsbrenner ſei, mit dem ſich leben 
laffe, könnte den Ehren vorſitz führen, alles, was man von ihm will, verſprechen, biedere Hände 
drucke austeilen und hinterher in Seelenruhe feinen Schnaps weiter brennen. Liegt der Fall 
Preſſe—Schundliteratur anders? Die Regentin der öffentlichen Meinung gibt den Gegnern 
der Schundliteratur fo freundlich Obdach, bringt ihre entruͤſteten Notizen über die verderbliche 
Kraft jenes ekelhaften Giftes und — breitet im Feuilleton derſelben Nummer fröhlich den 
himmelſchreiendſten Sumpf von Verbrechen, Blut und Schurkerei aus. 

Hat man ſich klargemacht, was das heißt? Es heißt, daß der wahre Feind, dem man zu 
Leibe will, nicht in den Stapeln der grellen Hefte hauſt — in dem dichten, ſchützenden Blätter 
walde der Preſſe ſitzt er. Zwar, natürlich, fo gar gruslich wie in den Zehn- und Zwanzigpfennig⸗ 
heften, die der kritikloſen Jugend wie der Unbildung überhaupt zugedacht find, gibt er ſich da 
nicht. Da werden die Menſchen nicht gar fo ohne weiteres in die Wurſt gehackt, aber die Schä- 
del werden ihnen auch in den ſpannenden Kriminalromanen der Zeitungen zertrümmert, und 
auf ein Dutzend Revolverſchüſſe, auf mindeſtens einen Einbruch und ein paar Kilo ſonſtiger 
Gemeinheit kommt's da gleichfalls nicht an. Aber, was das Weſentlichſte ift, di e fe Roheiten 
kommen in jedes Haus. Erfahrungsgemäß ſind es faſt immer die Zeitungen mit den großen 
Auflagen, die Senſationsblätter, die „Generalanzeiger“, wie ſie in der Fachſprache heißen, 
die das Bild der deutſchen Literatur in ihrem Feuilleton, das doch nicht minder auf der Warte 
der Zeit ſtehen ſoll wie die Spalten über dem Strich, in der Verzerrung zeigen, wie es das 
Augenglas des Detektivromanſchreibers ſehen läßt. Die Verbreitung iſt ungeheuer und von 
viel furchtbareren Folgen begleitet, als man ſo obenhin denkt. Denn die Zeitung bringt ihrem 
Leſer — und wer lieſt heute keine Zeitung? — das entſetzliche Zeug ins Haus, ohne daß er 
darum den Finger zu krümmen, ohne daß er ſich von einem Groſchen extra dafür zu trennen, 
ohne daß er einen beſonderen Entſchluß dafür zu faſſen braucht! 
Sie zwingt ſie dem Manne, der Frau in die Hände, die von der Schundliteratur gar nichts 
wiſſen, ja ſich vielleicht — gerade weil fie in dieſem ihrem Leibblatte foviel von ihren böſen 
Folgen gehört haben — mit Bedacht von ihr ferngehalten haben und die natürlich niemals 
auf den auch ganz abſurd ſcheinenden Gedanken kommen werden, daß ihre Zeitung dem 
böſen Feinde eine Heimſtatt bereiten könnte, von beffen verderblichem Wirken fie fo Ent- 
jegliches zu erzählen weiß. Jawohl — da verzweigt das ſchaurige Schlingwerk der Schreckens 
geſchichten, das dem Volke den Atem auszupreſſen droht, fein veräfteltes Wurzelwerk, und da treibt 
es fein feines Gedder bis in die entlegenſten Winkel! Und dahin haben fih die Lanzenſtöße 
derer zu richten, die dem Ungeheuer an den Leib wollen. Denn was ſie ſonſt an heißer Arbeit 
für ihre gute Sache tun, eine einzige Romanfortſetzung macht die Erfolge von Monaten, Fahren 
tapferſten Ringens glatt zuſchanden. Die blutige Beſtie im Menſchen wird wachgekitzelt, das 
ſchöne, ſaftige Stück, das ihr hingeworfen wird, reizt den Appetit nach mehr: der Maſſenkonſum 


Auf der Warte 8857 


der bunten Hefte beginnt. (Vielleicht beruht in dieſer Feuilletonpraxis der großen Zeitungen 
das Geheimnis ihres Erfolges? Man fragt fih ja unwillkuͤrlich, wie neben den fogialbemo- 
kratiſchen Parteiblättern mit ihren großen Mußabonnentenziffern die Senſationsblätter, die ſich 
in ihrer ganzen Anlage doch an dieſelben Volkskreiſe wenden, zu ſo hohen Auflagen kommen 
können. Die Antwort iſt einfach: das vorbildlich gute Feuilleton der ſozialdemokratiſchen 
Blätter intereſſiert ihre Leſer nicht, und ſo hält eben auch der Sozialdemokrat zu ſeinem 
Parteiblatt eine zweite Zeitung, den Generalanzeiger — das eine um der politiſchen Mei- 
nung, den anderen um des ſchönen, grauſigen Romans willen.) 

Dieſe Zeitungen mit den Riefenauflagen find eine Macht. Was gegen fie zu tun wäre, 
iſt mit zwei Worten nicht geſagt. Ein Feldzug gegen die Preſſe vom Stande der Konſumenten 
aus wäre gleichbedeutend mit einem Kriege der verbündeten Lebeweſen gegen das Luftmeer. 
Aber Mittel müſſen gefunden werden, und es iſt ſicher, daß es Mittel gibt. Denn wenn es 
auf die Dauer möglich fein ſollte, daß mit der ernften, raſtloſen Arbeit Hunderter die ſeeliſche 
Geſundheit von Millionen durch die Gewinnſucht einiger weniger gewiſſenloſer Gewinnhungri⸗- 
ger in der allerſchlimmſten Gefahr gehalten wird, fo wäre das ein Zuſtand, der jeder verniinfti- 
gen, gerechten Weltordnung ins Geſicht ſchlüge. Es ift überdies keine Frage, daß der Zuſtand 
noch lange nicht ſeine Entwicklungshöhe erreicht hat. Man höre, was möglich iſt. 

Eine Familienwochenſchrift, wohl das verbreitetſte deutſche Blatt überhaupt, veranſtaltet 
ein Preisausſchreiben: 

„Bei Verfolgung von Blutſpuren fanden Arbeiter im Schilfe des Muldefluſſes die Leiche 
eines Mannes ohne Kopf. Etwa fünf Schritte von dem Fußſteige entfernt, nach dem Waſſer 
zu, ſteht ein mannshoher Strauch. Hinter dieſem befanden ſich zwei etwa tellergroße und 
mehrere kleinere Blutflecken auf dem raſigen Erdboden. Bei dem Strauch ſteckte ein kleiner 
gelb und braun geſtreifter, oben ſchwach gekrümmter Spazierſtock in der Erde. Etwa einen 
Schritt davon entfernt, und zwar hinter dem Strauche, lag eine graue Mütze am Boden. Zehn 
Schritte von dieſer Stelle entfernt, dem Ufer zu, lag die Leiche auf dem Bauche, die Füße dem 
Lande zugekehrt, in dem dichten, 2 —5 Meter hohen Schilfe. Sie war mit Hemd, Unterjade, 
Vorhemdchen, Weſte, Hofentrdger, Unterhoſen, Hoſen, Strümpfen und Stiefeln bekleidet, 
jedoch ohne Rock, und war dergeſtalt mit Schilf und Blättern bedeckt, daß man ſie erſt nach deren 
Entfernung deutlich ſehen konnte. Der Kopf war glatt abgeſchnitten, der Stumpf zeigte 
noch friſches Blut. Fünfzehn Schritte von der Leiche lag ein faſt ganz zerſchmetterter und bis 
zur Unkenntlichkeit entſtellter Menſchenkopf mitten im Schilf. Eine Spur führte nicht dort- 
hin. Er war dem Anſchein nach in das Schilf geſchleudert worden. Alle Blutſpuren, welche 
man fand, waren friſch und rot. Das Geſicht des Kopfes war durch Stiche, Schnitte und durch 
zwei Schrotſchüſſe, die aus nächſter Nähe abgefeuert worden fein mußten, total unkenntlich ge- 
macht. Der in der Erde ſteckende Spazierſtock war, wie die Meſſungen ergaben, für den Er- 
mordeten zu kurz, alſo wohl nicht ſein Eigentum. Wertſachen fanden ſich nicht bei der Leiche 
vor. An der linken Hand befand ſich ein goldener Trauring ohne Gravierung. Nach dem Gut- 
achten der Gerichtsärzte hat das Abſchneiden des Kopfes eine Perſönlichkeit vorgenommen, 
die mit dem Zerlegen von Menfchen- oder Tierleichen vertraut war. In der Gegend gibt es 
viel Schmuggel und Wilddieberei. Nach der Bekleidung war die Leiche nicht zu rekognoſzie⸗ 
ren, trotzdem ſie Hunderte von Menſchen geſehen haben. 

Unfere beiden erſten Fragen lauten: 

1. Welches Motiv kann für das Verbrechen in Betracht 
kommen? 

2. Welche Maßnahmen reſp. Recherchen wären zuerſt vor- 

zunehmen?“ 

Es muß bemerkt werden, daß es fih um ein Preisrätſel in vier Etappen handelt. Nach- 

dem in einem gewiſſen Zeitraum die Antworten auf die beiden erſten Fragen eingegangen 


858 : Auf ber Warte 
fein werden, foll der zweite Abſchnitt, der ein weiteres Stück des Kriminalfalles darſtellen 
wird, mit zwei weiteren Preisfragen veröffentlicht werden, bis in vier Abſchnitten der ganze 
Fall erſchöpft ſein wird. 

Um einen Begriff von der Bedeutung der Sache zu geben, war es nötig, hier das Preis- 
ausſchreiben, wenigſtens ſoweit es ſich mit dem Gegenſtand der Fragen beſchäftigt, ziemlich 
wortgetreu zum Abdruck zu bringen. Es wird ſich ohnehin niemand bei dem Leſen der Sache 
gelangweilt haben — das bekannte Gefühl in der Kopfhaut, als beſtrebten ſich alle Haare, 
eine radiale Stellung einzunehmen, iſt mit dem Gefühl der Langeweile ſchwerlich zu verwechſeln. 

Der Kriminalroman ift übertrumpft, zum wenigſten ift die Exiſtenz der armen Schächer 
ſchwer gefährdet, die ſich ihr von Blutdampf ſchwelendes Gehirn zermartern, um das Feuille 
ton der Tageszeitungen mit Phantaſien und Kombinationen der groteskeſten Grauſigkeiten 
zu füllen. Die find überwunden. Heute macht das der Lefer ſelbſt. Ein alter, aus der Erinne- 
rung der gedächtnisſtärkſten Leute getilgter Kriminalfall von der ungeheuerſten Scheußlichkeit 
(nach ausdrücklicher Verſicherung der Redaktion unſerer Vochenſchrift hat ſich auch das zu dem 
hier mitgeteilten Preisausſchreiben ausgeſchlachtete Verbrechen vor vielen Jahren, an ande- 
rem Orte freilich, in Wahrheit ereignet) wird einfach in ein paar Stidlein zerſägt, hinter die 
man je eine oder mehrere Preisfragen klebt, und das Phantaſieren hat nun kein mit unſerer 
deutſchen Mutterſprache ohnehin auf dem Kriegsfuße lebender Skribent nötig: die Leſer machen 
ſich das alles alleine und gewiß noch viel ſchöner. Daß fic) keiner ausſchließe, dafür ſorgt der 
ausgeſetzte Preis. 

Sollen wir wirklich machtlos ſolchen Frivolitäten gegenüber ſein? Es hält ſchwer, das 
zu glauben. In einer deutſchen Großſtadt hatte die Schauſpielerſchaft des ſtädtiſchen Thea- 
ters die Abſicht, zu wohltätigem Zweck einen ſogenannten Geſindeball zu veranſtalten. Die 
Behörde mußte ihr die Genehmigung verſagen, weil eine geſetzliche Beſtimmung die Abhaltung 
von Koſtümfeſten in der fraglichen Zeit (es war kurz nach Oſtern) nicht zuläßt. Sollte es wirt- 
lich möglich ſein, daß ein Geſetzgeber ſein Intereſſe an der Form von Harmloſigkeiten dieſer 
Art bekundet und zu gleicher Zeit gleichmütig dreinſchaut, wenn die Bazillen einer ſeeliſchen 
Peſt in das Volk geſtreut werden? Was verlangt das hier geſchilderte Preisausſchreiben ? 
Man ſehe ſich die erſte Frage an: in die Pſyche eines Mörders ſoll man ſich einleben, aus einem 
ins Haarkleine beſchriebenen Leichenfunde foll man rückwärts konſtruieren den Gang feiner 
Gedanken, bis fie zur Tat geworden find. Wer nicht in planmäßiger Übung, in jahrelangem 
Umgang mit Verbrechern einen Begriff von ihrer Pſychologie bekommen hat, kann gar nicht 
fähig fein, das Richtige zu raten, er fei denn ſelbſt ein talentierter Ber- 
brecher. Es iſt hier nicht die Frage, ob das Blatt von ſeinen Leſern eine ſo geringe Meinung 
hat, daß es fie mit dem Köder von 182 Preiſen im Geſamtwerte von 2300 Mark zum Wettſtreit 
um dieſe zweifelhafte Ehre herauslockt, es fragt ſich ganz einfach, ob man ſo ruhig zuſehen darf, 
wenn auch die ſeeliſch geſunden Schichten unſeres Volkes (um dieſe handelt es ſich ja hier) 
infolge einer Gewiſſenloſigkeit vergiftet werden, für die es keine Entſchuldigung gibt, auch nicht 
etwa die, daß das in Frage kommende Blatt ſich nur noch mit ſolchen Gewaltmitteln zu halten 
vermag. In derſelben Nummer bringt die Zeitſchrift einen guten Rat, der die als Preis für ihn 
gezahlten 300 Mark wohl wert iſt: „Lerne ein Ende machen.“ Der Verleger, der ſich durch die 
großzügige Beherztheit feines Handelns einen in der ganzen Welt mit Achtung genannten Namen 
gemacht hat, hätte hier die Gelegenheit, die Güte feiner teuren Ratſchläge einmal an ſich ſelbſt 
zu erproben. Aber es iſt ja noch nicht gejagt, daß hier wirklich ſchon folh ein Fall von Verzweif⸗ 
lung vorliegt: dann gehe unfer größter deutſcher Zeitungsverleger hin und zeige durch fein Leud- 
tendes Beiſpiel feinen zahlloſen Füͤngern im Reiche, daß die Strupellofigteit auch heute keine 
unentbehrliche Waffe im wirtſchaftlichen Kampfe ift, daß ein Zeitungsverleger moraliſche Pflich⸗ 
ten hat, daß, wenn er fi) die Bevormundung durch neue Geſetze erſparen will, er zeigen muß — 
Verantwortungsgefühl! Sollte hier aber ſchon einer der ausgeprägteſten Charat 


Auf der Warte 859 
tere im deutſchen Zeitungsverlage ſchwächlich verſagen, dann wäre es jetzt wohl endlich an der 
Zeit, daß auch die große Offentlichkeit ihr Auge für diefe Zuſtände ſchärft und eine Abhilfe 
von außen her fordert, da eine ſolche von innen heraus unmöglich zu ſein ſcheint. 


Hubert Maushagen 
* 


Schriftſtellervampire 


a, AB Inſtitute, Anſtalten und Einrichtungen, die ſich den teils offenen, teils ftillen, 
dann aber deſto intenſiver verfolgten Grundſatz gemacht haben, unerfahrenen 
; $ Schriftftellern und mit Weltfremdheit gefegneten Didtern auf hundert verſchiedene 
Arten die, meiſtens letzten, Groſchen aus der Taſche zu ködern, vermehren fih in ganz wunder- 
barer Weiſe. Hier find natürlich in erter Linie die bekannten Herſtellungskoſten Verleger zu 
nennen; dann gewiſſe literariſche Bureaus, meiſt hochtrabende Namen an der Stirn tragend, 
die fih vom Autor Manufkripte einſenden laffen, dann aber, ſobald fie in deren Beſitz find, 
poſtwendend eine Vertriebsgebühr verlangen; auf dem Gebiete des Theaters dann die neben den 
vorhandenen zahlreich emporſchießenden Agenturen und Theaterverlage, deren erſtes Lebens- 
prinzip die möglichſt ſchnelle und „gleichzeitige“ Einheimſung der Prüfungsgebühr eines Stückes, 
zwiſchen 10 und 40 Mark variierend, bedeutet. — Nebenbei eine Verachtung des primitivften 
Rechtsbewußtſeins, da eine Warenbeſichtigung noch niemals bezahlt worden ift. — Ferner als 
Neueſtes ein ſtark zirkulierender Subſkriptionsſchein auf ein Werk: „Deutſchlands ... Gelehrte, 
Künſtler und Schriftſteller in Wort und Bild“ — nach dem Proſpekt zu ſchließen eine höchſt not- 
wendige Kulturtat und die Abhelfung des allerdringendſten Bedürfniſſes der Menſchheit —, das 
die Photo- und Biographie des Subſkribenten gegen Berappung von bloß 15 bzw. 25 Mark 
bringt — was in Form und Inhalt eine geradezu unverſchämte Attacke auf die liebe Eitelkeit 
genannt werden muß. Das alles find nur einige Beiſpiele. Alle dieſe und ähnliche Leutchen, die 
immer mehr Nachahmer finden, haben nichts als das edle Ziel vor Augen, die Früchte von dem 
zu genießen, was der Schriftſteller unter Opferung ſeiner Nervenkraft ausſinnt und ausarbeitet. 

Wenn nun auch die rapide Vermehrung dieſer Anſtalten und Anſtältchen ihren Grund 
zum großen Teil darin haben wird, daß bei vielen müßigen Fünglingen und Jungfrauen die 
Dichter und Schriftſtellerei als eine Sportausübung immer mehr aufkommt, fo ift es doch für 
jeden Einſichtigen klar, welch eine Gefahr fie für den ernſthaften Schriftſteller, ja für das Schrift- 
tum überhaupt find. Erſtens wird tüchtigen Kräften gerade durch fie der Weg in die Offent- 
lichkeit unmöglich oder ſehr ſchwer gemacht, indem ſie mit den Erzeugniſſen jedes Dilettanten 
oder jeder Dilettantin, wenn fie nur zahlungsfähig find, den Büchermarkt zu einer verwirren- 
den Flut anſchwellen laſſen; wodurch ſich auch der ſolide Verleger gegenüber allen Angeboten, 
beſonders beim Belletriſtiſchen, mißtrauiſch und ablehnend verhält. Dann die größere Gefahr. 
Durch die Machereien jener Verlagsfirmen und die amerikaniſchen Reklamemittel, mit denen 
fie arbeiten, werden ſehr viele von den Leuten, die fic) noch fiir die Literatur wirklich intereffie- 
ren, abgeſchreckt oder fie ſehen nur noch mit Verachtung auf ihre Erſcheinungen herab, bejon- 
ders auf die Belletriſtik; das Publikum iſt durchaus nicht ſo zu verdammen, wenn es z. B. kei- 
nen Blick mehr in Gedichtbücher wirft. Die vielen anderen Nachteile, die aus ſolchen Zuftän- 
den fließen, weiß der Kundige und der Literaturfreund von ſelber. 

Deshalb iſt es die Pflicht eines jeden wirklichen Schriftſtellers, eines jeden guten lite- 
rariſchen Blattes, ſchon aus bloßem Standesbewußtſein für die Ausrottung dieſer ungeſunden 
Verhältniſſe mit ihrer ganzen Kette von Schwindelhaftigkeiten zu kämpfen. Die Verleger, 
Bureaus, Theateragenturen uſw., die ſich keine tüchtigen literariſch gebildeten Prüfungskräfte 
halten können, ſollten doch lieber gleich ihre Budiken zumachen, anſtatt ſich von der geiſtigen 
Mühe anderer über Waſſer zu halten. Hermann Lemmerz 


860 Auf der Warte 


Der Zeppelin⸗Jubel 


Die ein Rauſch flammte in den Tagen vom 31. Juli bis 4. Auguſt die Begeiſterung 

durch die Rheinlande. Der deutſche Michel ijt doch ein Prachtkerl. Die Bier- 

ZS und Kaffeeſteuer nötigt ihm etliche Seufzer ab, und — er bebilft fid mit Mineral- 

ee: und Malzkaffee. Um die verteuerten Streichhölzer zu ſparen, bereitet er ſich, wie einft 

zu Großvaters Zeiten, Fidibuſſerln. Um die Fleiſchpreiſe kommt er auch herum, indem er den 

Kartoffelverbrauch ſteigert. „Deutſche immer effen Kartoffel“, fagen die Italiener, ohne zu 
ahnen, welche vertrackte Oppoſition hinter den Kartoffelſäcken ſteckt. 

Aber Zeppelin! Plötzlich rollt ſich der ganze Kerl auf und ſtarrt in die Luft. Nun iſt er 
Idealiſt. Die Wurſchtigkeit den Wurſchtpreiſen gegenüber, — aber Zeppelin die Begeiſterung, 
die Freude, den Nationalſtolz! Ja, in der Tat, das erſtemal feit Anno 70 ein völlig gemeinſames 
Zuſammenfließen aller Empfindungen in eine! Ein Sichtreffen der Nation in einem Gefühl! 
Nation, wie das klingt und ſchmeckt nach Einheit! Keine gemachte politiſche Einheit, ſondern 
ein wirkliches Sich-eins-fühlen. Sit das noch das Volk des Hurrapatriotismus? 

Der Jubel rauſcht. Sonſt, bei patriotiſchen Anläſſen, erſchien zuerſt im Tagblättchen 
die obligate Aufforderung, die Häuſer zu beflaggen. Aber als Zeppelin kam, tat ſchon jeder 
von ſelbſt das Nötige. Man flaggte, man illuminierte, man ſtand auf den Dächern und ſchwenkte 
Hut, Schirm, Taſchentuch, rheinauf, rheinab in allen Städten und Städtchen. Hoch, hoch 
Zeppelin! 

Unter Zeppelin! Keinen verließ das Gefühl, daß er unfer UL Ein Deutſcher und wir 
Oeutſche, wir, die wir das erleben dürfen! Es waren wirklich Stunden rüdhaltlofer Freude. 

„Die Seele der Nation erzittert“, ſagte Oberbürgermeiſter Adickes beim Empfang in 
Frankfurt. (Es iſt merkwürdig, wie häufig das Wort Nation in dieſen Tagen gebraucht wurde.) 
„Das ift das Glück, ... daß wir den Mann unter uns ſehen, dem es gelungen iſt, di e de utſche 
Seele wieder einmal in Wallung zu bringen .., den Mann, der uns 
herausgeholfen hat, daß wir uns größeren Dingen zuwenden als den kleinen Ge- 
ſprächen am Philiſtertiſch.“ 

Tatſächlich, einen Augenblick ſchien es, als ob der deutſche Michel den Ropf merkwürdig 
weit aus der Schildkrötenſchale des Philiſteriums herausgeſtreckt hätte. Wie bald er ihn wieder 
zurüuͤckzieht? 

Eine Wallung; nur eine Wallung. Aber ein Beweis, daß doch mehr Leben in dem did- 
flüffigen Brei ſteckt, als man gemeinhin glaubt. Es iſt etwas Merkwürdiges um die Maſſe 
Volk. Das Rätſel des Individuums iſt nicht wunderbarer als das Rätſel der Maſſe. Wenn man 
A, B. den Fall Ganter betrachtet, muß man doch fagen: Das Volk ift dumm, unglaublich viel 
dümmer, als man es feit Jahrhunderten für möglich halten ſollte. Welche Unfumme von Bid- 
digkeit muß in all den Menſchen ſtecken, die auf einen albernen Waſchzettel hereinfallen ! Und 
dann wieder — Zeppelin! Dieſe Unbeirrbarkeit des Gefühls in allen Schichten; dieſe Energie 
der Liebe, der raſchentflammten, helfenden Liebe; bieles prachtvolle Aufrauſchen der Begeifte- 
rung! Diefes ſelbe Volk, das fih eben in erſchreckendſter Blödigkeit gezeigt, nun plötzlich hell 
wach, verſtändnisvoll und feurig, von wahrhaft kongenialer Kraft im Mit 
erleben der Tat des Genies. 

Wir ſtaunen. Woher dieſes Brauſen und Schäumen auf einmal? Es müſſen mächtige 
Kräfte in der Tiefe ſchlummern. Die Maſſe iſt wie die Natur. Sie ſchläft und erwacht. Sie 
hat ihre Jahreszeiten und ihre großen Ereigniſſe. Einmal ift alles zugefroren, und einmal taut 
alles. Heute alles ſtarr, verſtockt und 1 und morgen fließend, überſtrömend, Tauwaſſer, 
Hodflut. Die Seele der Nation erzittert . 

Wie geht das zu? Ein einzelner ift es, immer ein einzelner, der den Schlüͤſſel hat, welcher 
auf alle Seelen paßt. Immer ein einzelner, der das erſte ſchwerfällige Geſchiebe und Raunen 


Auf der Warte 861 


veranlaßt, das dann raſch in ein lautes, donnerndes Rauſchen und Brauſen übergeht. Immer 
ein einzelner. Das Genie, Das iſt es, worauf gewartet wird. Das Genie erreicht mit einem 
Schlage, worum ſich jahrzehntelange Kulturarbeit mit ewig mittelmäßigem Erfolg bemüht: die 
Erlöſung der Maſſen aus der Alltagsdumpfheit, die Erhebung zum Guten und Schönen, das be- 
freite Inkrafttreten eines die Maſſen ergreifenden Gefühls ſtolzen, geſunden Selbſtbewußtſeins. 
Solche Gefühle wurden in den „großen“ Tagen am Rhein wach. So, darf man wohl 
fagen, ift Zeppelin IL der deutſchen Nation ein glückhaft Schiff geworden. Civis 


* 
Biographien als Schullektüre 
END 


G CHG s gibt bei uns, zumal in den fich mit beſonderem Nachdruck als „national“ bezeich- 
G © JB nenden Rreijen, viele Leute, die ſich in einen gewiſſen Verdruß gegen alle Kunſt 
— ¶ſbineingeredet haben. Ihr Schlagwort ift „Nealpolitit“, und fie betonen, daß bei 
uns den ſchöngeiſtigen Dingen viel zu viel Gewicht beigelegt werde. Bislang haben ſie die Lage 
nur verſchlimmert. Sie tragen ein gut Teil der Schuld, daß das Judentum im Kunſtleben fo 
mächtig werden konnte. Denn die Juden fanden diefe Plätze nicht genug verteidigt. Es ift 
z. B. nicht zu verwundern, daß das deutſche Theater unnational iſt, da es ganz von Juden 
regiert wird. Aber nimmer hätten dieſe alle Direktorenſtellen beſetzen können, wenn ihnen 
von deutſcher Seite tatkräftig entgegengearbeitet worden wäre. Dann aber liegt dem Juden- 
tum das Artiſtiſche; daß unſere Kunſt ſo ganz dem wirklichen Leben entfremdet iſt, gleichgültig 
ob ſie ſich Naturalismus oder Symbolismus nennt, iſt nur dadurch gekommen, daß dieſe Kunſt 
nicht gewachſen, ſondern gemacht iſt. 

Andererſeits muß man nun freilich auch bedenken, daß der meiſte Leſeſtoff, der von 
der Welt doch nun einmal verlangt wird, von Literaten geſchrieben wird. Es heißt aber 
Anmenſchliches von dieſen fordern, wenn man erwartet, daß ihnen nicht Literatur und Literaten- 
tum ſowohl am beiten bekannt fein, wie auch am nächſten dem Herzen liegen foll. Go ift es natür- 
lich, daß in der Literatur und bei den Literaturbefliſſenen alles Literariſche eine große Rolle 
ſpielt, mag ſein eine größere, als ihm im Haushalt unſeres ſtaatlichen Lebens wirklich zukommt. 
Aber ein bißchen nach Oonquichotterie ſchmeckt es doch allemal, wenn literariſch fo gegen die 
Macht der Literatur losgezogen oder mit einer gewiſſen Schadenfreude womöglich von Berufs- 
literaten feſtgeſtellt wird, daß es mit der ſozialen Herrlichkeit der Literatur, ihrer Stellung im 
geiſtigen Leben vorbei fei, daß jetzt andere Kräfte an die Reihe kommen. Am komiſchſten ift 
es dann freilich, wenn eigentlich die Literatur ſelber aufgefordert wird, dieſen andern Kräften 
zur rechten Wirkung zu verhelfen, indem ſie — literariſch behandelt werden. 

ich bitte, mich nicht mißzuverſtehen. Ich bin wohl durch meine ganze literariſche Tätig- 
keit gegen den Vorwurf des Artiſtentums oder literariſcher Einſeitigkeit geſchützt. Ich bin der 
erſte, der eine möglichft große Vielheit von Kräften an der Arbeit ſehen möchte. Aber warum 
denn immer eins herabſetzen, um das andere zu erhöhen? Warum vorhandene Werte ver- 
drängen, wenn die neu hinzukommenden daneben Platz haben?! So fegt Dr. Georg Bieden- 
kapp in einem Artikel der „Frankf. Ztg.“ geradezu Feindſchaft zwiſchen „Poeten und Mechani- 
ker“, wo ich mir kein ſchöneres Ideal denken könnte als ein möglichſt eng verbundenes Sufammen- 
wirken dieſer Werte. Natürlich auch bei unſerer Erziehung. Nur auf dieſen Punkt des erwähn- 
ten Aufſatzes möchte ich näher eingehen, weil es mir durchaus nicht auf Polemik ankommt, 
ſondern auf den Gewinn neuer Werte. Mit Recht hat Biedenkapp gegen die allzu geringe Ein- 
ſchätzung mechaniſcher Arbeit etwa von feiten Emerſons Einſpruch erhoben, obwohl es dem 
Amerikaner mehr darauf ankam, zu betonen, daß auch im techniſchen Leben die geiſtige Arbeit 
das Wichtigſte fei und nicht der allmählich erkämpfte mechaniſche brauchbare Ausdruck der Idee. 


862 Auf der Warte 


Doch ift hier nicht zu ftreiten, da ich gern die Bedeutung der mechaniſchen Arbeit zugebe. Da- 
nach fährt dann der Verfaſſer fort: 

„Nun muß man ſich aber fragen: Wie kommt es, daß wir in der Schule mit unſäglich 
trocknem und wertloſem Notizenkram über das Leben der Dichter beläſtigt werden, dagegen 
ex officio kaum etwas über das Erdenwallen großer Mechaniker zu Ohren bekommen? Da 
lernt der Schüler, wann, wo Klopſtock geboren wurde, welche Schule er beſuchte, welche Uni- 
verſitäten, und vieles andere, was ihn kaum intereſſiert. Entſprechendes lernt er bei vielen 
Dutzenden von Poeten, aber geiſtigen Gewinn hat er nicht im geringſten davon. Wie ganz 
anders aber horcht er auf, wenn er etwas von des jungen Fraunhofers Glück im Unglück ver- 
nimmt, wie der junge Glaſerlehrling der Verſchüttung bei einem Brande eine Wendung in 
feinem trüben Lebensſchickſal verdankt, wie er, als fein eigener Lehrer, Mathematik und Phy- 
ſik treibt und ein glänzender Stern am Himmel der phyſikaliſchen und aſtronomiſchen Forſchung 
wird. Welcher Energiegehalt, wieviel Willensanſpornung tritt uns auf den Lebenswegen ſo 
vieler Mechaniker entgegen, und wie wenig oder rein gar nicht wird diefe moraliſche Gold- 
grube für die Erziehung ausgebeutet! Würde man ſtatt hundert Seiten literaturgeſchichtlichen 
Notizenkrams über das Leben von Oichtern nur drei bis vier Seiten über beſonders merktwür- 
dige Lebensumſtände der Hauptſchöpfer unſerer materiellen Kultur, alfo der großen Mechani⸗ 
ker geben, etwa im Anhang zum Phyſikbuche oder im Leſebuch, dann könnten viele gute Keime 
geſtreut, könnte mancher Wille zu höheren Dingen gefpornt werden. Über einige große Mecha- 
niker, wie Watt und Stephenſon, vermittelt ja wohl in den höheren Schulen die neuſprachliche 
Lektüre einige Nachrichten. Hier handelt es ſich aber nicht mehr um das Zufällige und Ver- 
einzelte, ſondern um einen prinzipiellen Standpunkt. Was die Poeten in der Literaturgeſchichte 
beanſpruchen, das dürfen auch die großen Mechaniker, die Werkzeugſchaffer moderner Tech- 
nik, dieſe Poeten, die mit Drahtſpiralen, Magneten, Kolben, Rädern, Zylindern, Ventilen 
ihre techniſchen Zauberlieder zuſammenreimen, ebenfalls für ſich verlangen. — — — — — 

Manche Mechaniterbiographien weiſen Züge antiker Größe auf, Züge der Selbſtloſig⸗ 
keit, wie fie in Oeutſchland felten find. Sehr bedauerlich ift, daß, während die Lebensumſtände 
mancher nicht einmal großer Poeten überſchwenglich genau erforſcht werden, eine hiſtoriſche 
Forſchung über das Leben großer Mechaniker, alfo erſter Kulturpioniere und Umgeſtalter aller 
Lebensverhältniſſe, kaum exiſtiert. Die Geſchichte der Technik und der großen Techniker iſt ein 
noch ganz vernachläſſigtes Kapitel, dem auf Koſten der Poeten ruhig etwas mehr Raum, Zeit 
und Geld gewidmet werden ſollte. Und den Anfang follte man damit machen, daß unter Ein- 
ſchränkung literaturgeſchichtlichen Notizenkrams der Phyſikunterricht mit etwas Biographie der 
großen Mechaniker geſchmückt würde. Das ware auch fogial wertvoll, denn die wenigſten großen 
Mechaniker entſtammen höheren oder mittleren Schichten.“ 

Sh weiß nicht, ob es viele Schulen gibt, an denen fo viel biographiſcher Literaturunter- 
richt gegeben wird, wie man nach den obigen Ausführungen annehmen müßte. Aber das gebe 
ich zu, daß jeder derartige Literaturgeſchichtsunterricht wertlos iſt. Eine ſolche Behandlung 
des Biographiſchen iſt nicht nur bei den Dichtern wertlos, er wäre es auch bei den Mechanikern: 
denn das iſt überhaupt geiſttötend. 

Dieſe Behandlungsart des Biographiſchen iſt vor allem deshalb ſo ſehr zu bedauern, 
weil richtige Biographien, die das innere und äußere Werden von Männern je des Berufes 
der Jugend wirklich lebendig vorführten, eines der ſtärkſten Erziehungsmittel darſtellen, die 
es überhaupt gibt. Ich habe es immer bedauert, daß es nicht ein für die Welt beſtimmtes Seiten- 
ſtück zur katholiſchen Legende gibt. Es dürften in dieſem Weltbuche auch einige — Heiligen- 
leben ſtehen. Auch hier ſind viele „Züge von antiker Größe und edelſter Selbſtloſigkeit“ zu 
finden. Gerade für die Jugend hat die Biographie großen Wert, nicht nur als moraliſches 
Erziehungsmittel, ſondern auch als Liter aturgattung. Die Zugend begeiftert ſich gern 
für reale „Helden“; — nun, hier ſind ſie. St. 


Auf der Warte 863 


Arbeit und Geſang 


K as „Zentralblatt der Bauverwaltung“ veröffentlicht folgenden Beitrag zum Rapi- 
tel „Arbeit und Rhythmus“: Als junger Regierungsbauführer hatte ich Mitte der 


Arbeiten das Rammen einer Anzahl von Pfählen für die Joche einer Hilfsbrüde zu leiten. Die 
Arbeit wurde von einer Anzahl, wenn ich nicht irre, deutſch-böhmiſcher Arbeiter mit der Bug- 
ramme ausgeführt und von dem „Schwanzmeiſter“ in der üblichen Weiſe mit Geſang beglei- 
tet. Sein Lied iſt mir ſonſt noch nirgends wieder vorgekommen und verdient vielleicht der 
Vergeſſenheit entriſſen zu werden. Vielleicht wird dadurch auch der eine oder andere Fach- 
genoſſe dazu angeregt, ähnliche Berfe aus feiner Erfahrung mitzuteilen. Sie können als Sprach- 
denkmäler und im Sinne der Beſtrebungen zur Förderung der Volkskunde von Wert fein. 
Der Schwanzmeiſter, eine rieſige Geſtalt mit einem Schlapphut, deſſen Außeres ſehr an Wotan 
erinnerte — er hatte nämlich auch nur ein Auge, während eine große Stirnlocke das andere zu 
bedecken verſuchte —, überragte ſeine Leute um mehr als Haupteslänge, was bei der Arbeit 
noch mehr auffiel, weil fih die Leute doch beim Ziehen an den Rammſträngen bücken müſſen, 
während er hochaufgerichtet, das Schwanzende des Rammtaues in der Hand, hinter ihnen 
ſtand. Mit majeſtätiſcher Ruhe ſah er auf das Gewimmel der Arbeiter unter ihm herab, wenn 
er durch ſeinen Geſang den Takt zur Arbeit angab. Sein Lied hatte folgenden Vortlaut: 

Einmal auf! — zweimal drauf! 

Dreimal hoch — und viere nod! 

Sch hab mei’ Freid’ — an meine Leit’, 

Seder zieht an, — fo ſehr er kann. 

Unb jenen Mann, — der nicht zieht an, 

Den hau'n wir naus — und jag’n ihn nach Haus 

Ins Branntweinhaus. 

Zieht a weng höher auf — fällt er a weng ſchwerer drauf. 

auf auf die Spitz', — wo's Rädel drauf fibt. 

s Radel will bon — daß wir immer drauf ſchla' n. 

Hoch! Aufgepaßt! — eins drauf und — Raft! 

Abwechſelnd ſang der Meiſter ſein Lied auch ſo, daß er die in den erſten vier Zeilen be⸗ 
gonnene Zahlenreihe bis 20 fortſetzte. 

Der Frankfurter Zeitung, die dieſe Mitteilung übernommen hatte, gingen dann aus 
ihrem Leſerkreiſe noch mehrere folder „Sprüche beim Rammen“ zu. „Mir kam ein Spruch 
ins Gedächtnis, der beim Rammen der Pfähle für die Joche der im Sommer 1865 bei Speier 
fiber den Rhein gebauten Eiſenbahnſchiffbrücke geſprochen wurde. Auch hier kommandierte 
der ſogenannte „‚Schwanzmeiſter“ die Rammarbeiter, etwa 15 Mann, die mit Handkraft den 
eiſernen Rammblock auf die Rammpfable fallen ließen, durch den folgenden Spruch: 

Er muß hinein, — 

Ourch Felſen und Stein, — 

Duch Waſſer und Sand, — 

Sem König ins Land, 

Dem Kaiſer ins Reich, — 

Zegt alle zugleich — 

Hoch auf — (Bum, d. h. jetzt flel der Bloch). 

Ich glaube übrigens, daß dieſer Spruch zünftig, d. h. den Speirer Zimmerleuten, die 
fidh damals noch an ſtrenge Obſervanz der Zunft hielten, durch die alten Vorſchriften der legte- 
ren diktiert war. — Den gleichen Spruch, allerdings mit einigen Varianten, hat ein anderer 
Leſer ‚vor vielen Jahren“ im Badiſchen gehört. ‚Bei dem letzten Vers (Hochauf — zugleich!) 
ging der Schwanzmeiſter von einem bedächtigen Sprechton zu einem zu letzter Anſtrengung 
auffordernden Zuchzen über.‘ — Im Fahre 1908 wurden die Berfe von heſſiſchen Arbeitern 


864 Auf der Warte 


bei den Vorbereitungsarbeiten für die Darmſtädter Ausſtellung mit den Endzeilen ‚Hochauf 
und eins! Hochauf und zwei!“ ſowie folgendem Bujak geſungen: 

Sch fep’ ein, ber zieht net, 

Sch fep’ ein, der will net; 

Ihr werdet ihn kenne; 

Soll ich en Eich nenne? 

Der mit de grine Müß’, 

Mit dem Hut an der Spitz 

Halt ein! 


Ki ** 
* 


Sc teile diefe Sprüche hier nicht als „Beiträge zur Volkskunde“ mit, denn was erft fo 
aus halb philologiſchen Gedanken heraus geſammelt wird, das pflegt dann in den großen Bücher 
ſärgen der Wiſſenſchaft ver- und begraben zu ſein. Hier aber handelt es ſich um einen Brauch, 
den lebendig zu erhalten nicht nur jedem Kunſtfreunde, ſondern vor allem auch jedem in ſozia⸗ 
ler Liebe an feine Mitmenſchen Denkenden am Herzen liegen müßte. Karl Bücher hat in fei- 
nem trefflichen Buche „Arbeit und Rhythmus“ nachgewieſen, wie die Menſchheit an allen Orten 
und zu allen Zeiten fih die Arbeit durch Rhythmiſierung zu erleichtern ſtrebte. Die Art, wie aus 
dieſer Rhythmiſierung der Arbeit Arbeitslieder erwuchſen, wie daraus Tanz und Spiel ſich ent- 
wickelten, offenbart dieſe Verbindung von Arbeit und Muſik als wohl ergiebigſte Quelle einer 
dem wirklichen Leben entſteigenden Volkskunſt: damit alſo auch als vornehmſtes Mittel der 
Beglückung und Verſchönerung des Dafeins. Die belebende Kraft des Rhythmus bewirkte, 
daß die Arbeit mit Freuden getan wurde; das Herz, in dem noch das Arbeitslied nachklingt, 
wird auch die Feierſtunde ſich zu verſchönern ſtreben. Es iſt ein Fluch der Maſchinenarbeit, 
daß fie von dieſer Rhythmiſierung ablenkt; es ift aber nicht wahr, daß fie fie unmöglich macht. 
Vor allem z. B. in den Fabriken — in den Spinnereien, Webereien, Kattundruckereien uſw. 
vorab — ließe ſich die Bedienung der Maſchine ſehr leicht mit Geſang vereinigen. Ich meine 
natürlich nicht, daß man hingehen und Fabrikarbeitslieder komponieren folle, Man hätte nur 
das Singen in den Fabriken nicht verbieten ſollen und ſollte es jetzt ſchleunigſt wieder erlauben. 
Es iſt nicht wahr, daß ein ſolches Singen von der Arbeit ablenkt; vielmehr erhält es den ganzen 
Menſchen friſch und wohlgemut. So aber, wie die Arbeit jetzt verrichtet wird, wo der Menſch 
ſtumm an ſeiner Maſchine ſteht, geradezu ein Teil derſelben, muß ihm dieſe Arbeit, die ihn zum 
geiſtloſen Sklaven macht, verhaßt werden. — Wie eigentlich überall im Leben geht we a 
Schönheit und Nützlichkeit ſehr wohl zuſammen. 


*. 


Lilienerons Ehrenbrot 


Ga N etley von Liliencron hatte dem ſozialdemokratiſchen „Hamburger Echo“ die General- 

. MG, erlaubnis zum Abdruck, d. h. Nachdruck feiner Dichtungen erteilt. Die Preffe war 
TER SA ihm damals noch ziemlich verſchloſſen, und es lag ihm, wie jedem Dichter ober 
Künſtler, daran, von feinem Volke überhaupt gehört zu werden. Es dauerte aber nicht lange, 
und die Militärbehörde lud ihn vor fih. Man eröffnete, fo wird im „Echo“ erzählt, ein hoch 
notpeinliches Verfahren gegen ihn mit der Beſchuldigung, daß er „für die ſozialde mo 
kratiſche Zeitung ‚Hamburger Echo“ einen Artikel „Adjutanteneitte“ 
geſchrieben“ hätte. Der hohe militäriſche Herr, der ihn vernahm, hielt dem Verſtockten 
ſchwarz auf weiß den „Artikel“ im „Echo“ triumphierend unter die Nafe: Willſt du noch leug- 
nen, du Förderer des Umfturges? In Liliencron kämpften helle Empörung und ſchreiende 
Luſtigkeit. Was man ihm vorhielt, war die „Mittagsſchlacht“, die als erſtes Stück der Reihe 


Auf ber Watte 865 
unter dem Generaltitel „Adjutantenritte“ im „Echo“ abgedruckt war. Man hatte fic) anfchei- 
nend nicht einmal die Mühe genommen, das Corpus delicti zu leſen. Der Titel, der Autor- 
name und die Tatſache, daß die Sache im ſozialdemokratiſchen „Echo“ ſtand, hatten der Militär- 
behörde genügt, um Liliencron, der nicht nur der große Lyriker, ſondern auch Offizier a. O. 
war, zu maßregeln. Es halfen ihm auch alle verſtändigen Darlegungen nicht, daß es fic nicht 
um einen Artikel, ſondern um eine vor vielen Jahren ſchon entſtandene Geſchich te handelte, 
daß er durch eine früher gegebene Gen eralerlaubnis geſchäftlich ge 
bunden fei uſw. Man erklärte ihm, wenn er nicht dafür forge, daß nie wieder von ihm 
in ſozialdemokratiſchen Zeitungen etwas abgedruckt würde, ſo 
müßte er gewärtigen, daß ihm feine Offizierspenſion und die 2000 Mark jährlichen 
Gnadengehalts, die er vom Kaiſer erhalte, entzogen würden. 

Der Dichter, durch ſolche Stockprügel auf den Magen in die Enge getrieben, ging achfel- 
gudend feiner Wege. Seine finanzielle Lage erlaubte ihm nicht, zu wählen. Und das fogial- 
demokratiſche Organ brachte keine „Artikel“ mehr von Liliencron, der bekanntlich gerade und 
zuerſt bei den „deſtruktiven“ Elementen Anklang und Beifall gefunden hat. 

Die Reminiſzenz, ſo wird dazu bemerkt, vermag auf die Perſönlichkeit des Dichters 
keinen Schatten zu werfen. Um ſo voller und ſchärfer fällt dieſer auf diejenigen, die den toten 
Detlev v. Liliencron als den Ihrigen reklamieren, nachdem fie den lebenden zu demütigen 
verſucht. 

Und in fo vornehmer Weiſe! 


A er Kaiſer hat ſich durch die beim diesjährigen Wettfingen der deutſchen Männer- 
chöre um den von ihm geſtifteten Preis gemachten Erfahrungen zu weſentlichen 
Anderungen der Bedingungen veranlaßt geſehen. Sie ſtreben, wie bereits die 
früheren, nach Vereinfachung. Wer zwiſchen den Zeilen leſen kann, bekommt hier von 
höchſter Stelle beſtätigt, was jeder mit den Verhältniſſen Vertraute längſt wußte, was wir im 
Sürmer ſchon vor Jahren ausführlich dargelegt haben. Die Vorbereitungszeit zu dem Wett- 
bewerb iſt durchaus nicht ſchön. Nehmen wir an, daß keinerlei Mogeleien mit Anwerben von 
Mitgliedern u. dgl. geſchehen: künſtleriſch ſchön ift diefe Drillerei in zahlloſen Proben 
— Darüber haben ſich ja offenbar viele Vereine beſchwert — nicht. Und nun follen die Vereine 
einfachere Stücke wählen. Ja, die Mahnung hilft doch nichts. Man will ja doch glänzen, 
will zei gen, was man kann. Man tritt ja eben in Wettbewerb. Werden einfache Rompofi- 
tionen gewählt, ſo werden ſie eben nicht einfach vorgetragen. Das wiſſen wir doch aus allen 
großen Männerchorkonzerten. Nein, künſtleriſch Wertvolles wird durch diefe Art von Wett- 
bewerben nie erzielt werden. Beſonders bedauerlich bleibt, daß dieſes Maſſenaufgebot von 
Arbeit und Roften einer Kunſtgattung geopfert wird, die ihrer Natur nach künſtleriſch minder- 
wertig bleiben muß. Bedauerlich bleibt ferner, daß dieſe Maſſenanſammlung von Stimmen 
nicht küͤnſtleriſch ausgenutzt werden kann, weil die Männerchorkompoſition keine „Gelegenheiten“ 
zu ſolchen Maſſenentfaltungen gibt. Wären z. B. gemiſchte Chöre vereinigt, fo könnten ein- 
mal Riefenaufführungen der Händelſchen Oratorien veranſtaltet werden, die ſicher eine gute 
künſtleriſche Erziehung für weite Kreiſe bedeuten würden. Zetzt aber wirkt das große „Kaiſer⸗ 
ſingen“ auch dadurch ſchädlich, daß durch dieſen Wettbewerb die Herrenkreiſe noch mehr in die 
Männerchöre gelockt werden, als es ohnehin durch die Ausſicht auf große geſellige Vergnũ⸗ 
Ser Temes XI, 12 55 


866 Auf der Warte 


gungen, wie z. B. Reiſen, geſchieht. So werden die großen „gemiſchten Chöre“, denen 
doch die Pflege der künſtleriſch wertvollſten Chormuſik, ja vielleicht überhaupt der bedeutfam- 
ſten Volksmuſik obliegt, durchweg am Mangel an Männerſtimmen empfindlich leiden, ſo daß 
erſte Chorverbände für ihre Konzerte bezahlte Sänger gewinnen müſſen. Hier, auf dem Ge 
biete des gemiſchten Chorgeſangs, würden ſolche Anregungen eher glückliche Folgen haben. 
Denn für die Pflege der Volksmuſik ſcheinen mir die Frauen überhaupt mehr berufen als die 
Männer: von ihren Müttern lernen die Kinder zuerſt das Singen. 
* 
x 

Etwas verfpätet — wer iſt im Sommer ein guter Zeitungsleſer? — kommt mir der 
Bericht in die Hände, den der Lokal-Angeiger über das Lindau Bankett im „Kaiſerhof“ 
veröffentlichte. Wir wollen das ſchöne Kulturbildchen aber doch noch feſthalten; es ſchließt 
ſich übrigens ganz paſſend an das vorangehende an: „Mit mehr Humor als geſtern Dr. Paul 
Lindau hat wohl ſelten ein Siebziger die Laſt der Jahre auf ſich genommen. Im Kaiſerhof 
bei der feſtlichen Tafel herrſchte die fröhlichſte Geburtstagsſtimmung — als gelte es, den Cin- 
tritt eines Fünglings in das Mannesalter zu feiern. Nur ein ganz intimer Kreis engſter Freunde 
war geladen — und fo war denn der große Saal zum Erdrüden voll. Unter den Herren: Se 
rühmtheiten, Größen und Leuchten der Kunſt, Direktoren, Dichter, Schauſpieler. Unter den 
Damen: alle, die ſchön ſind und Lindau lieben. Der Zubilar ſaß zwiſchen Exzellenz Grafen 
von Hülfen und Exzellenz Grafen Seebach, nicht weit davon an derfelben Marſchallstafel 
Adolf Wilbrandt, Haaſe, Niemann, Kainz, Lili Lehmann, die heute bei Lindau ſo göttlich ſang, 
von Schönthan, Hofrat Schlenther, Geheimrat Bachur uſw. Und Lindau ſelbſt, beweglich wie 
immer, ſtellte einen kaum zu überbietenden Kußrekord auf. Er küßte ſich durch alle Gratulan- 
tinnen mit wahrer Freude hindurch. Die Reden waren zahllos. Zuerſt ſprach Exzellenz Graf 
von Hülſen auf S. M. den Kaiſer, dann bekränzte Sigwart Friedmann das Geburtstagskind 
mit Verſen, Roſen und jungen Damen, dann ſprachen Wilbrandt, Chefredakteur Landau, 
Zojeph Kainz, Alex. Moßkowski, Geh. Rat Max Grube; Walden fang ein entzückendes, bril- 
lant pointiertes Couplet von Leo Leipziger, und Thielſcher machte den Schluß. Man pries 
Lindau als Freund und Kameraden, als Dichter und Charmeur und beleuchtete mit den aller- 
beſten Scherzen ſein reichentwickeltes Nachtleben. Lindau bei Nacht! Das war der Kehrreim, 
der unter nie verſiegender Heiterkeit immer wiederkehrte. Lindau dankte herzlich und gerührt. 
Ein Glidlider! Ein Mann, der ein unbändiges Talent zur Freude hat, ein Genie der Lebens 
kunſt — das war und iſt Lindau. So erſchien er geſtern im Kreiſe ſeiner Freunde, ſo dankte er 
ihnen und ſeinem Schöpfer, der ihm die herrliche Gabe in die Wiege gelegt hat: die Gabe, ſein 
Leben zu genießen. Und dieſe Lebensfreude Lindaus lag geſtern wie Sekthauch in der Luft 
und perlte wie Lebensrauſch in allen Champagnerkelchen. Das Feſt (von Dr. Artur Wolff 
trefflich arrangiert) dauerte bis ſpät in den hellen Morgen — das iſt bei einem Feſte Paul 
Lindau zu Ehren ja ſelbſtverſtändlich.“ 

Wie wäre es, wenn ein Geiſtes verwandter Lindaus getreu dieſem Vorbilde den „Fall 
Lindau“ romanhaft behandelte?! Oder noch beffer den „Fall Lindau bei Nacht“! Ein unerſchöpf⸗ 
licher Stoff. Und eine Anklage, wie fie Lindau gelegentlich für feine Fall. Behandlungen erfuhr, 
wird der betreffende „Dichter“ nicht zu befürchten haben. Der fiebzigjährige Lindau dankt 
„herzlich und gerührt“, wenn fein „reich entwickeltes Nachtleben“ beleuchtet wird. Übrigens 
ift Lindau Direktor des Königlichen Schauſpielhauſes in Berlin und hat alfo an hervorragend- 
fter Stelle Gelegenheit, dafür zu ſorgen, daß Schillers Hoffnungen vom Theater als „morall- 
ſcher Anſtalt“ in Erfüllung gehen. 

* 
* 

Die deutſche Schriftſtellerzeitung „Die literariſche Praxis“ bringt unter der 
Aufſchrift: „Ein heikles Kapitel“ die nachfolgenden Ausführungen, die wir ihrer 
Wichtigkeit wegen ungekuͤrzt wiedergeben. 


Auf ber Warte 867 


Der Berliner Verlag F. Fontane & Ko. überfandte am 21. April d. J. dem „Börfen- 
blatt für den deutſchen Buchhandel“ in Leipzig ein Inſerat, in welchem mehrere Werke Stephan 
Vacanos angeprieſen wurden. Die Redaktion des Börſenblattes lehnte die Aufnahme der 
Annonce mit dem Bemerken ab, das zu einem der Werke abzudruckende Vorwort, welches die 
Erzählung von „einer der ungeheuerlichſten Verirrungen in der Liebe“ ankündige, gebe zu ern- 
ſten Bedenken Anlaß und gehe weit über den Rahmen einer geſchäftlichen Anzeige im Börfen- 
blatt hinaus. Einer kurzen Titelanzeige ſtehe nichts im Wege. 

Das Vorwort zu dem Buche („Sündige Seligkeit. Ein Liebeswahn“) 
lautete wie folgt: „Auf die vorliegende Erzählung einer der ungeheuerlichſten Verirrungen in 
der Liebe kann ich, ſoweit der Inhalt in Frage kommt, keine Autorrechte geltend machen. Die- 
ſes erſchütternde Bekenntnis iſt mir, wie ich es hier aufgezeichnet habe, durch einen Mann ge- 
worden, der in unſerem an ſcharfumriſſenen Geſtalten ſo reichen München bis vor kurzem eine 
wohlbekannte Erſcheinung war. Er iſt nicht mehr. Nie wäre es mir in den Sinn gekommen, 
die Geſchichte feiner Liebe, die zugleich die feines Lebens war, in die Öffentlichkeit zu tragen. 
Den Büchermarkt um eine ſenſationelle Publikation zu vermehren, mußte mir um fo ferner 
liegen, als es ſich um einen lieben Jugendfreund handelte. Da fiel mir eine Schrift des Wiener 
Arztes Prof. Dr. Siegm. Freud in die Hände, die ſich ‚Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ 
betitelt. Als ich den Abſchnitt über „Infantile Sexualität“ zu Ende geleſen hatte, wußte ich, 
daß es meine Pflicht ſei, dieſe Beichte wiederzugeben. Sie iſt geeignet, Eltern und Erzieher 
auf das Seelenleben der ihnen von Gott anvertrauten Lieblinge aufmerkſam zu machen. Im 
übrigen mag man zur infantilen Sexualpſychologie beliebig Stellung nehmen; fie im „Jahr- 
hundert des Kindes“ zu ignorieren, wäre ein Verbrechen an unſeren Kindern. Dr. St. Vacano.“ 

Wenn es Herrn Dr. Stephan Vacano nicht darum zu tun geweſen iſt, „den Büchermarkt 
um eine ſenſationelle Publikation zu vermehren“, fo muß der Titel des Werkes um fo mehr be- 
fremden. Man kann auch darüber ſtreiten, ob es richtig iſt, eine wiſſenſchaftliche Frage aus dem 
Gebiete des Sexuallebens in einer Novelle zu behandeln, zumal hier nach den eigenen Worten 
des Verfaſſers ein ganz abnormer Fall in Betracht kommt. Ebenſo erſcheint es als recht über 
flüſſig, eine derartige Publikation, mit der unzweideutige Beſtrebungen verfolgt werden, mit 
ethiſchen Gründen rechtfertigen zu wollen und gar den lieben Herrgott in diefe Dinge hinein 
zuziehen. Der Autor und der Verlag ſuchen — bewußt oder unbewußt — mit der Schrift 
Aufſehen zu erregen, nicht aber pädagogiſchen Intereſſen Rechnung zu tragen. 

Es iſt daher erklärlich, daß das Börſenblatt ſich weigerte, das Vorwort abzudrucken, 
das einen recht unangenehmen Eindruck hervorruft. Wir geben auch zu, daß eine gewiſſe Ben- 
ſur von dem offiziellen Organ des Börſenvereins Deutſcher Buchhändler ausgeübt werden 
muß. Sie ift notwendig, da das Treiben der Bücherfabrikanten die buchhändleriſchen und auch 
die literariſchen Kreiſe dazu zwingt, ſich der immer höher ſteigenden Schmutzwellen zu erwehren. 
Darüber, ob die Schrift „Sündige Seligkeit. Ein Liebeswahn“ als eine pornographiſche an- 
zuſehen ift oder nicht, mögen die Meinungen auseinandergehen; die Form der geplanten Ber- 
öffentlichung mußte jedoch den Verdacht nahelegen, daß das Werk der Schmutzliteratur an- 
gehöre. Da die Firma Fontane & Ko. ſich beſchwerdeführend an den Ausſchuß für das Börfen- 
blatt gewandt hat, wird die Frage, ob die Redaktion des Börfenblattes richtig handelte, als fie 
das Snferat ablehnte, noch geprüft werden.... Bekämpfen wir mithin eine Zenſur nicht ſchlecht; 
hin — jede redaktionelle Tätigkeit bringt ja ſchließlich eine Art von Zenſur mit ſich —, jo muß doch 
eine Redaktion — bei dem Börſenblatte hat die Redaktion auch über die Annahme der Znſerate 
zu befinden — in konſequenter Weiſe vorgehen, wenn ſie ſich nicht Vorwürfen ausſetzen will. 

Nun iſt es ein eigenartiges Zuſammentreffen, daß gerade jetzt die „Oeutſche Rolportage- 
Zeitung“ gegen das Börſenblatt, deffen „literariſche Stubenreinheit“ fie verſpottet, Anſchul⸗ 
digungen erhebt. In einer Ankündigung des aus dem Engliſchen überſetzten Romans „Dra- 
cula“, die das Börſenblatt wiedergegeben habe, heiße es z. B.: „Dracula iſt keine Lektüre für 


868 Auf ber Warte 


Schwachnervige. Selbſt ein gleidgiiltiger Lefer dürfte durch den die Nerven geradezu auf 
peitſchenden Inhalt des Buches aus dem Gleichgewicht gebracht werden.“ — „Wer ſich das 
Entſetzen über den Rücken laufen laffen will, der lefe den unheimlichen Roman Oracula.“ — 
„Noch nie habe ich etwas derartig Erſchrecendes geleſen.“ — „Seit langem das eege 
Buch“ uſw. 

Dieſer Roman, der nach dieſer buchhändleriſchen Ankuͤndigung jeden Rolportagejánit 
fteller mit Neid erfüllen muß, ift alfo im "Börfenblatt empfohlen worden. Dieſe Tatſache fol 
das Börſenblatt veranlaſſen, von einer Zenſur nur in der vorſichtigſten Weiſe Gebrauch zu machen. 
Der Pfeil prallt ſonſt zu leicht auf den Schützen zurück. Schaden kann es freilich nichts, wenn 
manche Verleger in die Lage verſetzt werden, von einer unanftändigen oder doch geſchmacleſen 
Reklame, mit der ſie auch den Autor kompromittieren, Ubftand nehmen zu müffen.  Outd 
die widerliche Art, in der man viele Werke anpreift, werden auch ſolche Schriftſteller, denen det 
artige Machenſchaften von Verlegern verhaßt ſind, zu Wölportageſche ee en und Sch 
ſchriftſtellern geſtempelt. — — 

Wie berechtigt die Schlußmahnung iſt, zeigt gerade der erwähnte Roman „Draculkt, 
Ich habe das Werk gelefen, das durchaus nichts Pornographiſches oder Rolportagehaftes Hut, 
fondern das Problem des Bampyrismus mit Ernſt, wenn auch nicht durchweg mit überzeugen- 
der Klugheit behandelt und in einzelnen Teilen fogar ſehr ſtarke künſtleriſche Werte hat. Zu 
dieſen rechne ich dieſe Fähigkeit, eine unheimliche Stimmung des Grauens zu erzeugen. A 
die Art der Anzeige halte ich gerade darum für höchſt unpaſſend und, wenn ich denke, wie zer 
lockend ſie auf junge Gehirne wirken muß, geradezu für verbrecheriſch. Vielleicht iſt es bos 
ſchlimmſte Zeichen für unfer Literaturverhältnis, daß die Verlegeranzeigen fo oft die Süd | 
viel ſchlimmer und heikler erſcheinen laffen, als fie nn mm Man weiß alfo, daß g 
das „zieht“. 

Ein ganz ſkandalöſes Beiſpiel für diefe ar der Bacherangeige ift das folgende, dem m 
ſchlag der „Schaubühne ⸗ entnommene: 


ERICH REISS VERLAG, BERLIN- WESTEND. 

Soeben erschien: 

Dudarfst ehebreohen | 
Eine moralische Geschichte 
Allen guten Ehemännern ne von 
. HERBERT EULENBERG 
| ‘Preis brosch.. 75 Pfg. 

Ist es wirklich Betrug, wenn ein Mann in 
heißer Sommerstimmung einen Seitenpfad ein- 
schlägt, und ist es wirklich das Recht seines 
Weibes, diesen Fehltritt als Ende seiner Liebe 
anzusehen? 

Eulenber gs Antwort für seine Geschlechts- 
genossen lautet: 

DU DARFST EHEBRECHEN. 


Wenn Herbert Eulenberg, der in feinen Dramen mit großen Anſprüchen — ob ſie durch die 
Leiſtungen berechtigt ſind, gehört nicht hierher — auftritt, nicht den Verdacht niedriger Spehlle 
tion auf ſich ſitzen laſſen will, wird er ſeinem Verleger begreiflich machen müffen, daß diefe 
der Anzeige mit der Art, anſtändige Literatur anzuzeigen, nichts mehr gemein hat. St 


Verantwortlicher und Chefredakteur: Feannot Emil Freiherr von Grotthug, Bab Oeynhauſen in Weſtfalen. 
Literatur, Bildende Kunſt, Mufit und Auf der Warte: Dr. Karl Stored, Berlin W., Landshuterſtraße A 
Sud und Verlag: Greiner & Pfeiffer, Stuttgart. 


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Mai 1909 


ürttembergische Armeemärsche 


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Herausgeg. und bearb. von Prof. OTTO SCHMID 


1. Grenadier-Marsch des Kreisregiments von Württemberg 


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2. Marsch des Kreisregiments von Wiirttemberg 


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Marsch von Wiirttemberg 
„Garde zu Fuß“ (Regiment „Alt- Württemberg“) 


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ständig und kritisch herausgegeben von Dr. Georg Schünemann. Leipzig, Breltkopf & Hartel 


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von 
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Spring’ Hirschlein durch die Wälder, schwimm Fischlein in dem Teich! Fiieg’Finklein durch die Lüfte, ich 


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tausche nicht mit euch, ich tausche nicht mit euch, ich tausche nicht mit euch! Nein pare 


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nein nein nein nein nein! Ich iwl nichts andres sein! Nein nein,nein nein! Ich will nichts andres 
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SANDMANNLEIN 


(Dreyer) 
Frau Baronin Amelie von Egloff stein gewidmet 


B. Rothlauf, Op.21 No.2 


Allegretto 


Ein Männlein schleicht im Haus um-her und 


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dick und schwer auf 


muß ein Sack-lein, 


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stapft hin-auf die 


sei-nem Rük-ken schlep-pen! 


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kau-ert auf den Stu - fen! Und 


dro-ben still und 


wenn das Kind nicht 


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muß ihm die Mutter 


schlafen will, 


Dann greift hin-ein die 


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und streut dem Kindlein fei- nen Sand 


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XI. Jahra. 


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II. Folge 


DER KLEINE REITERSMANN 


(Dreyer) 


B. Rothlauf, Op. 21 No.3 


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Stie-fel und zwei Sporen dran 


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da hat es noch 


mit Spo-ren, 


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Die Stiefel hat jüngst mir das Christkind gebracht 


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Spo - ren,ja mit Spo - ren! 


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nicht mich bedacht, 


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Pferdchen, das schnell laufen kann, ein Pferdchen, qa ein Pferdchen! 


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Wohl hab’ ich ein Pferdchen gar keck und gar stolz, doch kann es nicht springen, es 


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ach mein Pferd - chen. 


chen, 


mein Pferd 


ist nur von Holz, 


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ie-mals ge-zagt und 


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tut ein wackrer Rei-tersmann? 


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Fein-den,da hab’ich noch n 


die Feinde, wo 
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(Léwenstein) 
Frau Professor Lina Hess gewidmet 


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B. Rothiauf, Op. 21 No.4 


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mit der Trom-mel dem Zu - ge vor-an! Trrr 


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ra - den, nun wei ter mar- schiert, nun wei ter mar-schiert! 
rom ta- ta rom ta-ta rom! 


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XI. Jahrg. September 1909 heft12 
SPIELMANNSLIEDER 

| (R. Baumbach) 

I Oskar Hieke 


GESANG 


4 ein fah- ren-der Ge- sell, ken ne kei- ne Sor gen; 
2. Kehr ich in ein Städtchen ein, spür ichs im Ge -hir - ne, 
8. Mei - ster Wirt, darfst heut nicht ruhn, schlag ber aus den Zap - fen; 


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, 1. labt mich heut der Fel - sen- quell, tut es Rhein-wein mor - gen. 
2. wo man kriegt den be- sten Wein, und die schön-ste Dir - ne. 
3.back Frau Wir-tin mir ein Huhn, und zum Nach-tisch Krap - fen. 
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in ein Rit -ter lo - be - sam, reit auf Schu-sters Rap - pen, 


‚Spiel-mann lä - chelt wohl ge - mut, streicht die Fie - del schnel- ler, 


Was ich heut nicht zah - len kann, zah - len will ichs kinf - tig. 


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