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Full text of "Der Türmer 15.1912 13, Band 1"

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HARVARD COLLEGE 
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FROM THE BEQUEST OF 


MRS. ANNE E. P. SEVER 
OF BOSTON | 


Widow of Col. James Warren Sever 
(Class of 1817) 


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Der Türmer 


Monatsſchrift für 
Gemüt und Geiſt 


Herausgeber: Jeannot Emil Frhr. v. Grotthuß 


Fünfzehnter Jahrgang - Band I 
Oktober 1912 bis März 1913) +++ - 


Stuttgart 
Druck und Verlag bon Greiner & Pfeiffer 


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NOV 19 1920 
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Snbalts-Bergeidnis 


Alterns, Prof. Metſchnitoff und bie 
Krankheit des . 83 


Gedichte 

l Seite Seite 
Anſchütz: Rundſchauuu .. 844 Münchhauſen, Börries Frhr. v.: Die 
Bertram: Der Prophet 224 Freunden 9 
— Flucht nach Agypten 361 Puſch: Kinderland. 355 
Bröger: Das Kind . . 35 Reimer: Am Kreuzwegge 664 
— Der füniter . . .... .... 5538 — In fhwarzer Nacht. 815 
Findeiſen: Der Kinderkreuzzunn: . . . 59 Schmidt, Hans: Fahrt durch die Weih- 
— Nach Haufe .......... 385 HODE Er ee ae '.. SAL 
— Die tote Mutter 540 Schmidt, Karl: Altes Bild . . ... 217 
Greffel: Sorojfop. . : . 22.2... 682 — Weihnachten 376 
Köpp: Wille 542 Soltau: Tod komm im Herbft. . . . 40 
Lee: Sehnſuchheet et 185 Stemmann: Unfer . - er . 688 
Leonhard: Entſchlummern 697 — Die Neiſee a‘ala‘l‘ť 839 
Maſſé: Einmal verſchließ' ich das Haus 55 Zech: Abendlicher Strom 62 
Müller: Der Krieg ... 215 — Zum Abenndd 2... . 704 
— Entfagung . . - : > Ls 701 Ä | 
| . Qiobellen und Skizzen 
Baecker: Den Geſchmack verderben 683 Hofer: Der Scheidegg 831 
Bodisco: Das rote Diner 41 Keller: BerufununnFhn-LRLs | 377 
Brettauer: Sein Bild 58 Matthes: Wie ich einmal geſtorben bin 223 
Diakonoff: Das Tagebuch einer ruffi- Max: Die Kinder des Sebaſtian Grün 360 

ſchen Studentin 11. 184. 542. 529. Michaelsburg: Menſchen, die vorüber- 

| AE: 665. 816 gehen CE 840 
Diefenbach: Peter Kleinholz 545 Müller (Zürich): Rauchen und Nicht- 
Fendrich: Vom Zurückſchauen 829 beihäftigten - . . . - he OS 
Frey: Gedankenleſen 689 — Da müßte ich ja Tinte geſoffen haben 702 
Fried: Abſeits vom Wege 218 Schultheis: Der Pflegeſo,: 202 
Gerhardt-Amyntor: Gloſſen 570 Gparr-Hoffftedt: Dezember 539 

SC Aufſätze 

Adler: Die Seele des modernen Ar- Anonyme Briefff ee 308 

1 MEME 386 Bahr: Der Balkankrieg unb das Oeutfd- 
Alt: Hodler unb feine Zeitgenoſſen 626 nm eee e 


— Das Problem der Zugendlichen 73 


Beck: Zur Oſtmarkenpolitie 


IV 


Bieberſtein: Jugendwehren 
Biedenkapp: Lag das Paradies am 
Nordpol? 
Boſchan: Hiſtoriker und Politiker 
Corbach: Die Zukunft des Angelfachfen- 
tums 
— Geburtenrückgang und „agrariſche 
Heimatspolitit“ 
D.: Ramſch 
— Wagners Opern in Berlin 
— Von deutſchem Wefen und vom Nord- 
deutſchen Lloyd 
Dehn: Slawien in Europa 
— Die Mönchsrepublik Athos 
Deinhard: Die Radioaktivität des 
menſchlichen Körpers 
Dobsky: Kinderbilder aus drei Jahr- 
hunderten 
Doerk: Mein Buchhändler 
Dürdheim, Graf Wolf von: Graf Beppe- 
lin als Kundſchafter 
Fendrich: Wenn die Liebe ſich rächt 
Freimark: Die moderne theoſophiſche 
Bewegung 
German: Darwinismus und ariſche 
Weltanſchauung 
Gieſe: Das Erwachen 
Gr.: Groß iſt, Mutter Natur, deiner 
Erfindung Pracht 
— Der Reſpekt vor dem Mann 
— Der hungernde Dichter 
— Schiller und wir 
— Die wild gewordenen Sparer 
— Die Hagia Sophia 
— SI eine Lex Parſifal — möglich? 
— Raifer Wilhelm II. über feine Gym- 
naſialzeit 
Gurlitt: Der vaterländiſche Gedanke 
in der Jugendliteratur 
Haage: „Unbewußtes Chriſtentum“ und 
„moderner Atheismus“ 
Hartmann: Theophraſt von Hohenheim, 
genannt Paracelſus 
Heyck: Monarchen und Geldmagnaten 
Holland: Tod und Todesfurcht 
Hornig: Heuchler unter den Tieren 
Hutter: Ein offenes Wort zu unſerer 
kolonialen Arbeit 
Kämpfer: Frieda Gentes 


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Inhalte · Verzeichnis 
Seite 
Kemmerich: Gibt es Prophezeiungen? 78 
Kienzl: Berliner Theaterrundſchau 271. 
478. 620. 754 887 
— Napoleonerinnerungen aus der 
.. a 225 
— Das Perſönliche in Gerhart Haupt- 
manns Werken 433 
Klemperer: Das Wiedererwachen der 
hiſtoriſchen Dichtung 612 
Korf: Eine Reiſe ins Weltall 66 
Kurpiun: Zum Schutze des bedrohten 
Oeutjjfums .......... 230 
L.: Das magnetiſche Gefeß . . . - - 579 
Leinburg: Graf Georg v. Rofen 773 
Sevenjtein: Arbeiterfrage . . . - . - 386 
Lienhard: Noch einmal bie theoſophiſche 
Bewegung 404 
— Chriftentum und Moderne . 521 
Mackay: Das ritterlich - ariſtokratiſche 
A/ 2 e oS Se e 705 
Meſſer: Heilkunſt und Philoſophie . 721 
Meyer: David Livingftone . - . - - S47 
Mietskaſernen, Der Kampf gegen die 237 
Miller (Zuͤrich): Stoffe ...... 120 
Niemeyer: Die deutſche Schule in An- 
age 8 93 
Nithack⸗Stahn: Die Schwierigkeit der 
Theologie in der Gegenwart . 698 
Nonnemann: Das artige Kind .. 684 
Nötzel: Dinge, die man nicht fagt . . 60 
Rieth: Verblüfferren 393 
Ritenthaler: Die Albaner 571 
Roloff: Chriften im tüͤrkiſchen Heere. 845 
Sch.: Graf Zeppelin als Kundſchafter 
1820: un wem ER a 403 
Schnurre: Ludwig Uhland 268 
— Volksſtimmung und Voltswiinide im 
Jahre 181u;ꝝ33ss8ss8s8s 851 
Schuſter: Näſſeperiode 1912 i . 236 
— Der Pfeudofrühling zur Zahres- 
wende 1912/13 . 2... 2... 860 
Seeliger: Phantaſten und Dichter. 275 
Sprengel: Kinderſ chu 236 
St.: Die Rückkehr des Genrebildes 146 
— Rlaffiter der unt . . . . .. . 151 
— Vom wirtſchaftlichen Kampf der Mu- 
e ee 158 
— €. Jacques-Dalcroge als Romponiſt 161 
— Der Zmpreſſionismus vor Gericht 305 


Inhalts -Verzeichnis 
Selte 
St.: Ein Schubert Roman ... 322 
— Biographien 442 
— Erlebniſſe eines Königlichen Rapell- 
meiſters in Berlin 504 
— Der Träger des „Kleiſt“ Preiſes 624 
— Hauptmanns „Atlantis“ . . . . . 760 


— Das Zubiläum des Königlich sr 
ſchen Generalintendanten . . . 763 


— Muſikaliſches Notizbuch 922 
Stanjet: Die Rabitztwand . . 575 
Steglich: Ehrenrettung des Oresdener 
Madonnen bildes 149 
Storck: Schönlebteen. 129 


— Das Kunſtwerk der Zehntauſend . 152 
— Die neuen Stuttgarter Hoftheater 282 


— Stätten der Arbeit ....... 297 
— Beethoven als Held 308 
— Der ferne Klang 317 
— Zum Vergnügen des Verſtandes und 
Witze s. 493 


Store: Mufiterelend . . . ... . * 


— Das beut(de Opernhaus 
— Magister Elegantiae 
— Zum Neubau des Königlichen Opern- 

hauſes in Berlin 
— Unfer Opernſpielplas 
— Künſtlerorganiſatio bn 
— Zur deutſchen Ausgabe der Werke 

Friedrichs des Großen 
— Wieland der Schmie 
Strafvollzugsbeamter, Ein: Eine Ge- 

fängnispreſꝶ e 


Strecker: Hebbel und Ludwig 


Thimne: Der Weg zum kirchlichen 
Fiedee nan 
Umfried: Das Geſpenſt des Hungers. 
Verbrecher, Der, in der Literatur 
Von der Pflicht. Ai 
Wie alt ijt ber Menſch9s28 
Zimmer: Ulrich von Lidtenftein . . 


Beſprochene Schriften 


Altſchul: Italieniſche Lyrik des Mittel- 


Ges. EE 462 
Aſter: Große Denkte 447 
Atlas: Die Befreiunnl ge 275 


Balzac: Menſchliche Komödie . 462 
Bartſch: Bitterſüße Liebesgeſchichten 279 
— Schwammerl 32³ 


Becker: Beethoven ES. 
Bellermann: Schiller . 450 
Benzmann: Zugendſchriften 468 
Berger: Theodor Körner 450 
Bettelheim: Beaumarch ais 452 
Bilderbücht tet: 468 
Buber: Chineſiſche Geifter- und Liebes- 
geſchichte nn 457 


— Die Legende des Baalſchem. Ge- 
ſchichte des Rabbi Nachmann 458 

Burte: Wiltfeber, der ewige Deutſche 624 

Conrad: Klaſſiker des Altertums . . . 458 


Corvey: Garben und Kränze . . 462 
Dahms: Schubert 454 
Diderot: Nameaus Neffe 462 
Diederich: Von unten auf 462 
Dolle: Das magnetiſche Geſetz . 579 
Dreyer: Sojepb Führich . 453 


Ehrhard und Necker: Grillparzer 451 


Hauptmann: Atlantis 


Enking: Kantor Liebte 
Falke: Die Stadt mit den goldenen 

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Federer: Pilatus 
Fuller-Maitland: Joh. Brahms . . . 


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Falke: Herr Renning oder ber Tönnies- 


freſſer von Hildesheim 
Friedrichs des Großen Werke in deut- 
ſcher Ausgabe 
Geitel: Entlegene Spuren Goethes 
Georges: Übertragungen der „Gött- 
lichen Komödie 
Gundolf: Shakeſpeare in deutſcher 
Sprache 
Gurlitt: Louis Gurlitt m 
Hagen: Kenophons Gaftmabl . . . . 
Hartmann: Ludwig Uhland 


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Hegeler: Die frohe Botfhaft . . . - 
Herzog: Heinrich von fRleijt . . . . - 
Heubner: Karoline Kremer 
Huch: Enzio: 
Hüffer: Annette von Drofte-Hülshoff 1 
Heſſe: Gertrud 
Hladny: Der heilige Judas 
Sacoby: Herder als Fauft 


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V 


Seite 
639 


VI 


: Seite 
Kapp: Richard Wagner unb die Frauen 455 
Klaſſiker der Kunde 151 
Köhler: Edmond und Jules de Goncourt 453 
Krauſe: Das ſtille Leuchten 279 
Krehl: Muſikere led. 639 
Kühnemann: Herde 445 
Kurz: Die Guten von Gutenburg . . 465 
Ritter: Platon 444 
Levertin: Jaques Callot ...... 453 
Loewenfeld: Unſer Opernrepertoire 782 
Longfellow: Sang von Hiawatha . . 461 
Ludwig: Schiller 450 
Mainzer Volks- und Jugendbücher. 475 
Mãͤrchenbü che 469 
Mendelsſohn: Grönländer und Fae- 
ringer Geſchichten 460 
Marlowe: Eduard VII. 400 
Mekler: Helleniſches Dichterbuch . . 459 
Mentzel: Wolfgang und Cornelia Goe- 
thes Lehrerrr 448 
Metz: Friederike Brion . . . . . .. 448 
Molo: Ums Menſchentum 467 
Müller: SokratWeeeeees 444 
Miller-Gutenbrunn: Die Glocken der 
Ning er Ee =. W 
Murafati Shikibu: Die Abenteuer des 
Prinzen Genji ......... 457 
Niedner: Thule, Altnordiſche Dichtung 
unb rofa. . ..... . . 460 
Oppeln-SStonitotvsti: Aucaffin und Ni- 
Sete x 462 
Paquet: Kamerad Fleming 46⁴ 
Pfohl: Richard Wagner 455 
Offene 
Deutſchtums, Zum Schutze des be- 
drohten 239 
Erwachen, das 89 
Heilkunſt und Philoſo phie 721 
Kirchlichen Frieden, Der Weg zum . 594 
Schule, Die deutſche, in Anklage. 93 


Theoſophiſche Bewegung, Die moderne 244 


Türmers Tagebuch 


Zur Pſychologie der Politik. — Regie- 
rung oder regierte Maſſe? — Das 
deutſche Grbübel, — Grofgerma- 


Inhalte -Verzeichnis 
Seite 
Pirro: Joh. Seb. Bach 454 
Port: Hermann Linggg 452 
Preconi: Omar Khayyam, bie Spruͤche 
der Weisheit 458 
Preußens Zuſammenbruch im Sabre 
/ a E e 473 
Rouffeau: Emi 462 
Salgari: Gm Lande des ewigen Cifes 471 
Rofen: Tuti⸗Name· nh 458 
Sandt: Im Ather 275 
Schlaf: Der alte Weismann . . . . 279 
Schnabel: Die Tragödien des Sophokles 459 
Schneider: Schloß Meersburg . . . . 451 
Schröder: Obpffee . . . . . . . . 459 
Settegaſt: Dantes „Göttliche Romóbie" 461 
Siebert: Dreihundert berühmte Deutſche 443 
St.: Zur Weltliteratueterrt 456 
— Neue Erzͤͤhlungs bücher 463 
Steinitzer: Richard Strauß 456 
Storm: Theodor Stormnm 452 
Strobl: Elengabal Kuperuuns 276 
Silat: The arctic home in the Veda 357 
Swinburne: Ausgewählte Gedichte unb 
Balladen 461 
Tennyſon: Königsidy lle 460 
Tornius: Der goldene Chriſtus 467 
Traumann: Goethes Fauft . . . . 449 
Velhagen & Klaſings Boltsbider . . 475 
Weftermann: Lebensbüchen 476 
Wieland: Werte . . .. 2 2 20... 749 
Wilde: Erzählungen und Märchen 461 
Woerner: Henrik Zbſenn 455 
Zoozmann: Dantes poetifde Werke. 461 
Halle 
Theoſophiſche Bewegung, Noch einmal 
J| Ar . 404 
„Unbewußtes Chriſtentum“ und „mo- 
derner Atheismus 402 
Weſen, Von deutſchem, und vom Nord- 
deutſchen Llond 94 
Zeppelin als Kundſchafter 1870 . . . 403 
nien. — Schwert oder Pflug? — 
Gedenke, daß du ein Oeutſcher 
ff A es ̃ ae 95 


Snhalte-Dergeidnis 
Seite 
Diplomaten-Dämmerung. — Eine ruf- 
ſiſche Satrapie. — Vom fterbenden 
Manne. — Oer aus der Hand ge- - 
ſchlagene Trumpf. — England als 
Erzieher. — Warum ſie bleiben. — 


Vivant sequentes! s 244 Wie ward es? — Welche Töne! — 
/ aux ees 405 Was uns ein Amerikaner zu fagen ` 
Byzanz. — Eine chriſtliche Abrechnung. hat. — „Brüder in Chriſto“ 

— Der Türke. — Ehrfurcht. 596 

Literatur 


Berliner Theaterrundſchau: Theater- 
kultur 271. — Geſchäft iſt Geſchäft 
478. — Die Haupt-Stadt 620. — 
Lebende und Lebendige 754, — Wo 


find bie Meiſte “797... 887 
Büchertiſch, Vom weihnachtlichen. 442 
Buchhändler, Mein 118 
Dichter, Der hungernde . . 121 
Hauptmanns „Atlantis 760 
Hauptmanns Werken, Das Perſonliche 

N / dre es 435 
Hebbel und Ludwig 880 
Hiſtoriſche Dichtung, Das Wieder- 

erwachen de. 612 
„Kleiſt“-Preiſes, Der Träger des. 624 
Lichtenſtein, Ulrich von 115 
Magister Elegantiae . . . ....... 749 
Phantaſten und Dichte 215 
OTANI e a eS Be ee Sou odsg 123 
Schiller unb wink 4458 

UA cou E an 120 
Ubland, Ludwig 268 


Werte Friedrichs des Großen, Zur deut- 
[ben Ausgabe der 


Um deine Sache geht's. — Der alte ehr- 
liche Dreibund. — Der Schrei nach 
„Männern“. — Über den Umgang 
mit Engländern. — Rote Frrlichter. 
— Gold für Eiſen | 


Leſe 


Verbrecher, Der, in der Literatur . . 
Allgemeingut, Geiſ tiges 
Autorenhonorare im Altertum. 
Elend des deutſchen Büchermarkts, Das 
Finden Sie mich interef[ant? . . . . 
Gedicht, Ein galantes, aus dem 17. 

ahne Sook Res 
Grimms Märchen 
Hauptmann, Der überfeierte $63 
Körners „Zriny“, Die Uraufführung von 
Literatur und Gerichtsvollzieher . 
Raabe über feine Chronik der Sperlings- . 

ge Zu een 
Schiller, Der abgeſchlachtete Bus didh 
Strindberg über Goethe . . . . .. 
Tolſtois Borodinoſchilderung 9 
Unſtetheit, Die, des Schriftſtellers . 
Verlagstheater, g ass 
Wortidioſynkraſiie 


Bildende Kunſt 


Genrebilbes, Die Rückkehr des . 146 
Gentes, Frie·edda e 906 
Hodler und feine Zeitgenoſſen 626 


Impreſſionismus, Der, vor Gericht 304 
Kinderbilder aus drei Jahrhunderten 483 


Klaſſiker der Runte 151 
Künſtlerorganiſationl, . . . .... 897 
Madonnenbildes, Ehrenrettung des 
innerer E a CN A ep 149. 
Opernfpielplan, Unfer ....... 782 


Randgloffen zu Texten des Tages 
Rofen, Graf Georg von 
Rudolf Schäfers Bilder nach der Hei- 
S qo adhe Os 
Schönleber, Guſtaoaoaoaya s 
Stãtten der Arbeit 
Stuttgarter Hoftheater, Die neuen 
Unfere Bilder 637. 
Zum Neubau des Königlichen Opern- 
hauſes in Berlin 


.. 802 


Seite 


779 
773 


491 
129 
297 
282. 
909 


VIII Znhalts · Verzeichnis 
Muſik 
Seite Seite 
Beethoven ber Hedt 309 Notizbuch, MuſikaliſchGes 922 
Der ferne Klang 318 Opernhaus, Das deutſc . . . . . . 648 
Erlebniffe eines Königlichen Rapell- Parſifalfrage, une. 165 
meiſters in Berlin 504 Schubert-Roman, “in 322 
gacques-Dalcroze als fomponijt . . 161 Wagners Opern in Berlin 525 
Kunſtwerk, Das, ber Zebntaufend . . 155 Wieland ber Schmied ....... 915 
Muſiker, Vom wirtſchaftlichen Kampf der 159 Zum Vergnügen bee Verſtandes und 
Muſikereled tee 639 SBIBOS ae 9 o ds ered Be 3 493 
Auf der Warte 
Abſchied, Scdhlidter ........ 175 Fremdmannsfudt, Die deutſche — Anno 
Amerika, unnötige Reklame für . . . 795 III/ ĩ Ä diim $6 350 
Auch ein Denkmalall. 515 Gelehrtenrepublikaniſ ches 331 
Auch Terrorrh;?ss ee ee 929 Geſpräch, Ein, aus Berlin W. W. W.. 799 
Auf dem Lago Maggiore 172 Handgreiflico he 520 
Aufheben! eͤ“ nnn 655 Heil, Bebel, Di”WkmꝘ‘ê . .. 169 
Aus ſeinem Redaktionspapierkorb 956 Hervorragend ſchöne Landſchaften 940 
Beſchä mend 519 Hetzjagd, Die edllle 515 
Beſtraften, Das Volk der 168 Hotel Wartburg- Kulm 329 
Bilanz, eiiie 167 Hof und Geſellſchaft m. b. h. . 929 
Colignyverehreruru 512 gumanit lte 354 
Der dunkle Punkt 796 Zdyll, Ein zerſtörteess 655 
Der Geburtstag des Raifers. . . - - 926  genjeite der Selbſtgerechten 336 
Der Zug zur Geilbeit ....... 930 Sm Jahrhundert des Kindes 655 
Deutſche unb Polen 927 Zm Zuge des „Organiſationsgedankens“ 928 
Die ,gntellettuellen" . . . . . . .. 938 Interview, Das ſouveräne 652 
Die Deutſchen in der Front 514 Site geſtattetteeees 167 
Die Frau Geheimrale 655 Katholiſche Wãäſ che 797 
Die Marſeillaiſe und Die Wacht am Kinder, Viele und geſunde 332 
Rhein in Peutihland . . . . . . 927 Rino-Moral. . . 2 2 2... eee. 519 
Die verhängnisvollen Schnäpfe . . . 931 Kleindeutſch for ever. ....... 551 
Diſziplin ohne gefunden Menfchen- Kleine Sorgen in großer Beit. . . . 651 
petftanb ............ 9335 Körperverletzung durch Zeitungsartikel 334 
Dollar-Kronprinz, ein 328 Kraftwagen, Der in den Alpen . . 333 
Dreadnoughts und Krebsforfhung . . 332 Krieg und Chriſtentun mm 654 
Ein Feſt der Schönheit 936 Kritik der Krit 938 
Ein kleines ArgerniQss 652 Ländlich — [itti . ........ 174 
Ein Maſſenattentat auf die Sittlichkeit 932 Lebemannes, Der Rhythmus des 799 
Ein Rekord 928 Mehr Gänſefuüßchen 17⁰ 
Eine „große patriotiſche 1915 Sache“. 515 Menſchen und „Beſtiemnn? .. 797 
Er it es noo gg 798 „Mir kann keenennn. 331 
Erft bie Hottentotten 654 „National“ begrenzte Vohltätigkeit . 517 
Ethik und Schlagworte 795 Noch mehr „Freiheit 652 
Frankreich als Erzieher 514 Opfer des Momentphotographen . 934 
Franzoſenknechte, Noch nicht befreite. 794 Orden und Adel billiger 517 
Freifahrerrre 792 Pappſchachtel, Die unerſetzliche .. 173 


Snhalte-Derzeichnis 


Seite 
Parſifal in Monte Carlo 940 Synagoge, Die patriotije . . . . . 
Parſifalkommiſſarrtrtrtrre 800 Theater — Tee — Mode 
Patrioten S Il Sme EE 
Plage, Die, bes Sffens. . . . . . . 1295. QUSE ass ccce oot E Gees aeo ER 
Poſtliches hüben und drüben 169 „Und wenn Europa Ruhe hat“ 
Puppenmüttte 172 Unbeiliger Hunger nach Gold. 
Raſſentheoretiker, Auch ein 651 Untertans, Das Geſuch des 
Reklameſeu ce 335 Verhältniſſe, Die modernen 
Reklamewort, Das neueſte 172 Vogelmord, was er bedeutet Mr 
Rotes Kreuz unb roter Halbmond. 166 Vom deutſchen Nationalgefühl . . . . 
Ruffe, Deutſchruſſe oder Deutſcher? Don Puffern Seka SS 
Schlachthausqualen, Verminderung der 798 Von unferen Vorneh men ö 
Schmach der Chriſtenheit, Eine 792 Warnung post festum, Eine 
Schneeball- Hetze gegen Deutſchland 512 Weihnachten im „Vorwärts“ e ee ng 
Schundliteratur, Eine Million für, . . 800 Wenn bie Maske fällt 
Seid wahrhaftig; 518 Wenn nicht Nathan Rothſchild . 
Seelenvolle Rarnevalsdamen / Sk 2o de ES 
Senſation um jeden Preis 935 Wie Theater gegründet werden. 
Sprachgeburte nn 939 Wo liegt Byzanz 
/ ae 923 DOIN se prot a Rec RR ee he 
Senſations- Hyänen, Die 797 Wozu rüften wir? . . . . 2 . . ... 
etanbaL Cit vo v see xoxo 799  Beitungsfutterr. . . . . 22020. 
Sozialdemokratiſche Freiheit. . . . - 238 Zum Kapitel von der „ſtarken Monar- 
Steuer, Eine empfehlenswerte 171 VV “Se ES a eee 
Strindberg als Frifurmodell . . . .. 174 Zweierlei Mhh 
Ototenbeilagen 
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Baumert: Verſchneit. Gedicht von Z. E. "E Frey: Drei Rinderlider . . . . . . 
Frhr. v. Grotthuß 5 Hübner: An den Herrn. Gedicht von 

Boß: Am Abend. Gedicht von Martin Schl! e es SE 

Greif. — Nebel. Gedicht von Lenau. Sacques-Dalcroge: Regenlied. Gedicht 

— 5b will dich immer grüßen. Ge- von Bierbaum. — Das Lied von 

dicht von Ludwig Finth . . . . . 5 ferne. Gedicht von Bierbaum. — 
Cornelius: Auf eine Unbekannte. — Gruß. Alter Text. — Hat geſagt — 

Abendgefühl. Gedichte von Hebbel 6 Bleibt's nicht dabei 
Erb: Herbſtſtändchen. — Glaube. Ge- Lederer: Prãlud ius 

dicht von Lienhard dz 2 


Kunſtbeilagen und Illuſtrationen 


Bildnis von Otto Ludwig 
Chardin: Das Kartenhaus 
Faur: Vor hundert Jahren. Blatter aus 
feinem Skizzen buch 
Feuerbach: Erinnerung an Tivoli 


Frohberg: Kohlenkarrer a. bet Arbeit 


Gainsborough: Der blaue Knabe 


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Gentes: Zwei im ſomnambulen Zuſtand 
angefertigre Zeichnungen 
Grethe: Dampfhammer 
Hals: Die ſingenden Knaben 
Heggendorf: Sand bagger 
Joukowsky: Herbſtfarben. — Denkmal 
Raifer Alexanders II. "m 


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Kayſer: Der alte Brunnen. — Blick auf 
Weſſelburen. — Fr. Hebbel 

Kluge: Abendlied. — Der Ruhe zu. — 
Sterben 

Roerner: Ronftantinopel 

Kruger: Zunges Mädchen mit Blumen 


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Littmann: Foyer des Großen Hauſes. 


— Der Zuſchauerraum des Großen 
Hauſes. — Der Zuſchauerraum des 
Kleinen Haufes. — Die neuen Stutt- 
garter Hoftheater (Modell). 
Macco: Im ewigen Eiſe 
Murillo: Oer trinkende Knabe 
Paeſchke: Muſeumsbau in Berlin 
Pennell: Eingang zum Schacht 
Reynolds: Unſchuld 
Roſen, Graf Georg v.: Nordenſkiöld. — 
König Erich XIV. — Karin Mäns- 
dotter. — Königin Dagmars Er- 
weckung auf dem Totenbett. — 
Pierrot. — Neujahrsglückwuͤnſche. — 
In Gedanken 


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Heft 


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Rubens: Bildnis eines Kindes bes Meiſters 3 


Inhalte Verzeichnis 


Schäfer: Weihnachten 
Schönleber: Birkenmühle. — Rothen- 
burg o. b. Tauber. — Mondnacht. — 
Fiſchzug. — Nacht im Dorfe. — 
Vliſſingen. — Blick ins Neckartal. — 
Frühling in Dinkelsbühl. — Am 
Keſſelwaſen. — Heimat. — Unter 
der Brücke. — Dürrmenz. — Herbſt 
in Brügge. — Blühendes Land. — 
Der Turm von Lerici. — Dorf in 
Holland. — Hohentwiel. — Alter 
Zaun. — Pragozzi. — Zypreſſen. 
— Straße in Genua 
— Winter am Wafferhaufe 
Senger, von: Karfreitag in Oberbayern 
Soltau: Zwei Senfen. — Strandwache 
Strich Chapell: Das neue Stuttgarter 
Hoftheater (Kleines Haus). — Das 
neue Stuttgarter Hoftheater (Großes 
Haus). 
Vos: Rinbetbilbnis 
Vatteau: Der Tanz 
Zumbuſch: Rinderbild 


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Eingeſandte neue Schriftwerke 


Auf den Beilagen. 


Auf den Beilagen. 


Briefe 


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(Besitzer: Wilh. Keller, Stuttgart) 


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SA für Gemüt und Geiſt = 
Derausgeber:Jeannot Emil FreihertonGrotthuss 


XY. Jahrg. Oktober 1912 Heft 1 


Monarchen und Geldmagnaten 
Von Prof. Dr. Ed. Heyck 


P Jahren ging in Hamburg der Schnack, nach Wilhelm II. werde 
dann Ballin „drankommen“. Es war um die Zeit, da der Verkehr 
E) der beiden ungleichartigen Machthaber fid) zuerſt der Öffentlichkeit 
eindrucksvoll zeigte. Ich hielt es für einen Straßenwitz von mittlerer 
Güte, vernahm aber denſelben Meinungsausdruck bald aus einem Kreiſe von 
Hamburger Damen. Und hier hatte man Geſichtspunkte, wenn ſie an Naivität 
und Unbeftimmtheit auch dem Darankommen ſelbſt entſprachen. Kein Grund, 
ſie nicht anzuhören. Die Geſcheitheit der Frauen beſteht nicht immer am meiſten 
in ihrer Einſicht, ſondern in ihrer Unmittelbarkeit: daß fie wie Röntgenftrahlen 
durch die geltenden Paragraphen, Konventionen und die ſonſtigen Scheuleder 
der Männer glatt hindurchſehen. 

Die Natur aus ihren Gründen gab dieſem Geſchlecht die geſteigerte Senſivität, 
die auch den eigentlichſten Selbſtſchutz enthält, dafür jedoch den Gedachtheiten, 
den Geſetzlichkeiten, den Tatſachen, den Vernunftgründen unfügſamer ift. Jahr- 
tauſende iſt das menſchliche Syſtem hiermit parallel gegangen, indem man die 
Weiblichkeit weder über Offentliches, Staatliches, Rechtliches noch über Geſchlecht⸗ 
liches behelligend belehrte und ſie auf dieſen Gebieten im Naturzuſtand beließ, 
der im ganzen geſehen unzweifelhaft ein günſtiger und ſchöner war. Das Weib 
iſt reiner oder ſchlimmer als der Mann, aber mit Recht hat man immer, wo die 

Der Türmer XV, 1 1 


2 Heyd: Monarchen und Gelbmagnaten 


Geſchichte der Frauenwelt ſtärker das letzte hervortreten ließ, ber Männerwelt die 
Schuld gegeben. Sekt neuerdings, nachdem man dieſe Dinge in eine allgemeine 
Verwirrung gebracht und Millionen von Frauen mit ben Äpfeln der überhafteten 
Erkenntniſſe und Selbſtändigkeiten in Aufruhr geſetzt hat, macht man Treppenwitz 
Entdeckungen, ſpricht bänglich von der Geſetzloſigkeit, der Willkür des Weibes 
und ſchreibt über ſeinen moraliſchen Schwachſinn Bücher. Die altgermaniſchen 
Deutſchen, die nicht bloß in dieſem Punkt unvergleichlich feinfühliger und weniger 
roh waren, als unfere aufklärungseingebildete Modernität, erkannten ein sanctum 
aliquid et providum der Frauen an, oder, aus dem Tacitus zurüdüberfeßt: eine 
Ehrfurcht verdienende intuitive und vorausſehende Kraft, bie auf einem unmittel- 
bareren Verhältnis zum Heiligen, Göttlichen, zur Allgemeinheit der Empfindungen 
beruhe. 

Es mag kühn ſcheinen, Ähnliches noch für die Weisſagung hamburgiſcher 
Pythien in Anſpruch zu nehmen, die in Deutſchland nach dem kaiſerlichen Reiche 
das Ballinſche prophezeien. Aber nimmt man nur die diskurſiven Begriffe heraus, 
von denen ſie trotz allem Mitreden nichts verſtehen, ſo löſt dieſer ſibylliniſche 
Meinungsausdrud immerhin Gedanken aus, die nicht bloß mehr ſpaßhaft find. Zum 
erſten [don den, daß ſolche unbeengten Gemüter aufrichtig die Sache fo verſtehen, daß 
ſicher doch reichlich ſo ſehr als den Hamburgern der Kaiſer, dem Kaiſer die Ham- 
burger imponieren. Wie aber die Nennung des Herrn Ballin natürlich nur Parabel 
iſt, ſo auch nicht anders ſelbſt die des Kaiſers, in deſſen Majeſtät das lebendige 
Deutſchtum verſinnbildlicht wird. Und damit bekommen die Dinge eine zeitgeſchicht⸗ 
liche Geſtalt. Nach den Begeiſterungen und Zielideen der Treitſchke- und Bismard- 
zeit iſt in der Tat eine neue, fühlbar andere nationale Idee ſchon ſichtlich genug 
„drangekommen“, und die Hapag mit dem, was ſie iſt und was drum und dran 
hängt und ihr eine befliſſene Publiziſtik ſchafft, iſt eine wohlgeeignete Hieroglyphe 
dafür. 

Das wäre immer noch Einzelerſcheinung, ginge nicht ſo viel Ahnliches damit 
parallel. Ganz Oeutſchland ſteht nicht bloß im Zeichen des Verkehrs, ſondern in 
dem des Geldes und der business. Das iſt möglicherweiſe für die Kultur nützlich, 
was hier nicht unterſucht werden ſoll; man mag es alſo gelten laſſen. Verherrlicht 
man es aber in dem Maße, wie dies jetzt geſchieht, fo bringt man dadurch Guter 
in Verluſt, die denn doch unzweifelhaft die höheren find. Unfere Anpaſſung an 
amerikaniſche Lebensideen und Menſchenwertungen — womit nicht die Wertungen 
eines Emerſon oder nur Noofevelts gemeint find —, an dortige ſoziale Macht- 
verhältniſſe iſt eine außerordentliche geworden. Auch die ſonſt traditionellſten 
Standesgefühle ſchwenkten ſchon in dieſe Richtung um. Welche Leutnantserregung 
im Theater, wenn in einer Loge vermutlich reiche Amerikanerinnen ſind! Bis 
zu ganz hohen Inſtanzen im neuen Oeutſchland wird den Einführungen und 
Wünſchen, womit die Geldzelebritäten von drüben den alten Erdteil mit ſeinen 
„Baſalten und Schlöſſern“ beſuchen, Genüge getan, obwohl das praktiſch Politiſche 
gerade mit dieſen Leuten wenig zu tun hat und jene Wünſche und ihre Genugtuung 
kaum anders denn als begehrte hochklaſſige Reiſeſouvenirs einzuſchätzen find. 
Wenn man übrigens meinen ſollte, daß ſolche Ehrgeize den ſelbſtſicheren homines 


Hepd: Monarchen und Gelbmagnaten 3 


novi einer neuen Welt fernliegend, widernatürlid fein müßten, fo ift man mächtig 
im Irrtum; fie find ihnen überaus wichtig. Gehört es doch in dieſelbe Pſychik, 
wenn die gewöhnlichſten drüben reich gewordenen Muller oder Miller oder Smith 
ſich phantaſtiſche Stammbäume konſtruieren laſſen, die nur manchmal auf einen 
berühmten Indianerhäuptling, weit lieber und häufiger auf alte europäiſche 
Marquis familien aufgebaut werden, oder wenn man die geſellſchaftlich prominenten 
Amerikanerinnen zum Full dress bie Diademe und Halbkronen tragen ſieht, die 
genau denen unſerer Fürſtinnen und Herzoginnen nachgebildet find. Die Ge- 
neigtheit, fid) europäiſche Carl- und Herzogsſproſſen als Schwiegerſöhne bei- 
zulegen, erwähne ich weniger, man kommt nach allerlei Erfahrungen etwas 
davon zurück und — kommt auch weiter ohne ſie. 

Gewiß, mancher von uns, wenn er in die Wahl geſtellt wäre, entweder 
mit jenen äußerlich und innerlich ihr Leben als unbeſchränkt auffaſſenden Größen 
der Kapitalmacht zwanglos zu verkehren oder mit den nicht immer prominenten 
Geiſtern aus der diesſeitigen Ariſtokratie, auch er würde jenen den Vorzug des 
Intereſſierenden geben. Aber das geht dann nur ihn an. Er ſteht nicht auf dem 
allſichtbaren Punkt, wo aus jeder einzelnen Handlung ganze Bündel von Wir- 
kungen, von kritiſchen und kritikloſen Folgerungen ausgehen, die Einfluß auf 
Gedantenverbindungen und Anſchauungen, die ſich feſtſetzen, üben. Immer aber 
wird durch derartige Gedankenbildungen und Suggeſtionen das lebendige Ver- 
hältnis eines Volkes zu den monarchiſchen Imponderabilien beſtimmt, und nie 
durch Paragraphen. 

Gewiß nicht Nok, nicht Reifige ſichern die fteile Höh' —. Aber die Steilheit 
ift Vorausſetzung und Notwendigkeit, wenn dieſe Höhe geſichert zu bleiben 
wünſcht. Nicht nur die Liebe des freien Mannes, der Takt der echten Volksnatur, 
das Hochgefühl des Stolzes der Nation auf ihre Vorderſten, ihr oberſtes Haupt, 
verlangen ſie von ſich aus. Erſt recht die viele Subalternität erfordert ſie, die 
es in der Welt gibt und die neuerdings von der Anbetung der nicht mehr ſo ſteil 
entrückten Monarchen und Prinzen [don bemerkenswert zum Baalsdienſt der 
aufſteigenden „Geldkönige“ umzudenken begonnen hat, wovon noch für ſich zu 
ſprechen iſt. 

Es ſind nun noch insbeſondere der Sport und die dem Bourgeois auf den 
Leib geſchnittene Luxus- und Vergnügungstechnik unſerer Tage, die die Gelegen- 
heiten zum Verlaſſen der fürſtlichen Sphäre ſehr verbreitert haben, — falls man 
darin jid) nicht innerlich gehemmt fühlt, wie vorläufig doch ein Teil der Fürften- 
häuſer noch. Das Automobil und die Jacht haben einen anders gearteten Gefell- 
ſchaftskreis, als das Pferd und die Schußwaffe. Dieſe Verſchiebung in dem, was 
fuͤr höheren Sport gehalten wird, hat ja ihre einzelnen wohltuenden Seiten. 
Schon dadurch, daß nicht mehr fo ausſchließlich der Ruhm der Jagdſtrecke geſucht 
wird, der oft empörend bequem gemachte Rekord im Töten von vielen oder auch 
von ſeltenen Tieren. Sie hat aber doch auch ihre ſehr nachdenklichen Seiten. Das 
Mitmachen im neueſten Sport gibt bewährte alte Zurüdhaltungen nicht bloß 
darin auf, daß es der Schauluſt der Menge ſich als genähertes Objekt ſtellt; was 
bei der Jagd nie ſo der Fall iſt, ſelbſt wenn man den Photographen mitſchleppt. 


4 Send: Monarchen und Gelbmagnaten 


Die römischen Zulier ober Claudier waren Parvenũs, verglichen mit unſeren 
deutſchen Dynaſtien, ihre Smperatorengewalt war erft ein Kompromiß mit der 
hiſtoriſchen Staatsform. Aber noch vor ben ſchon reichlich entmännlichten Römern 
hat es den Kaiſer Nero, dem es ſonſt an Eſprit nicht fehlte, am nachhaltigſten 
entwürdigt, daß er perſönlich in der Arena ſichtbar ward. Wie ein hervorragender 
Hiſtoriker des alten Rom noch kürzlich wieder ausgeſprochen hat — mit jener 
gelehrten Achtloſigkeit auf die Gegenwart, die der Geſchichtſchreibung ſo oft nicht 
zu wiſſen erlaubt, wie grob fie iſt —, „ſank der gekrönte Dilettant und Sports- 
menſch ſo tief“, daß er ſich vor ſeinen Untertanen als Virtuoſe und Wagenlenker 
produzierte und eine förmliche Kunſtreiſe zu den Wettfpielen von Olympia und 
Delphi unternahm, um Kränze und Ehrenpreiſe einzuheimſen. 

Nun brauchen wir es ganz ſo tragiſch nicht zu nehmen. Es bleiben gegen 
das alte Rom immerhin andere Bedingtheiten, wenn wir die Angehörigen regie- 
render Häufer mit dem Kraftwagenlenken und Bobfleighlenten oder dem Tennis- 
radet — an fid) höchſt gönnenswerte, geſunde Vergnügungen — fic in bie Menſchen⸗ 
Haffe der Champions geſellen ſehen. Aber von anderer Gedankenſeite her bleibt 
dafür die Frage aufzuwerfen, ob es noch für die Unverbrüchlichkeit der monar- 
chiſchen Ehrerbietung im Publikum beweiſt, daß kein volkstümlicher Widerſtand 
fih regt und nur in empfindlichen Einzelnen fih ein Gefühl zurüdlehnt. Die 
ſtädtiſche Menge bekundet den Beifall ihrer platten Neugier und ihrer einebnenden 
Inſtinkte. Vielleicht liegt es alſo ſo, wir ſind darin, was man aus dieſem Publikum 
gemacht bat, gegenüber der Nerozeit fogar — (don weiter. Das Tempo ber 
Zeitwandlungen und Anſchauungswandlungen ift ein fo beſchleunigtes geworden, 
wie noch nie in irgend einer Menſchheitsperiode, die Evolution raſt dahin, wie 
es kaum bie motorische Kraft exploſiver Umgeftaltungen ihr nachzutun vermöchte. 
And am deutlichſten zeigt fid das auf jenen Gebieten, die am harmloſeſten er- 
ſcheinen, am wenigſten Sorge verurſachen und doch am meiſten für das vor ſich 
Gehende ſymptomatiſch ſind. 

Nun ſtachen zwar auch früher die Brüder und Prinzen der Fürſten, auch dieſe 
ſelbſt, Turniere mit. Aber in jeder vernünftigen Kulturgeſchichte kann man leſen, 
was alles durch dieſen Luxusſport zerſtört und zugrunde gerichtet worden iſt, 
voran der Ernſt und die Sachlichkeit des Waffenweſens, dem angeblich jener zu 
dienen beſtimmt war. Und dann ſind immer noch Unterſchiede gegen heute. Heute 
ijt an die Stelle der einjt fo ſorgſam geprüften Stammbäume, die ſicherlich nicht 
alles, aber doch Beſtimmtes garantierten, jene Art Beſitz getreten, bei dem nach 
der Herkunft nicht exkluſiv gefragt wird. Ein fernerer Unterſchied ift vollends nicht 
gleichgültig: daß der fürſtliche Erbbeſitz, wie alles derartige, allmählich im Ber- 
mögenswert zurückgeht, während das automobile Kapital fid) beſtändig multi- 
pliziert und jenen an Pferdeſtärken immer mehr überholen muß. Indem der 
Fürſtenſtand fih auf das Feld der Vergleichung mit dem internationalen Luxus- 
reichtum überhaupt begibt, bringt er fid) freiwillig in Ungunft und ſtetiges Über- 
trumpftwerden, das bald nicht ohne Folgen bleiben kann. Es iſt zwar vorurteils- 
frei, modern, ſozuſagen demokratiſch gemeint. Aber da das Volk doch nicht bloß 
aus ſolchen beſteht, die nur darüber nachzudenken haben, wie ſie ihre Zeit und ihr 


Send: Monarchen und Gelbmagnaten 5 


Geld modemäßig verfporten follen, fo ijt jenes vielmehr höchſt undemokratiſch 
gehandelt und am unpaſſendſten für bie wirklich moderne Monarchie, bie wegen 
aller über allen ſtehen ſoll. 

Wenn ein Prinz, ein nicht regierender Herzog aus älteſtem Fürſtenhauſe 
ſich in den Reichsdienſt ſtellt und auf einen kolonialen Poſten geht, wo nichts als 
Tüchtigkeit und Pflichterfüllung ausſchlaggebend ſind, ſo iſt das in ſehr ſchönem 
Sinn vorurteilsfrei und nur zu wünſchen, daß es Nachahmung finde. Es iſt aber 
nicht dasſelbe, wenn ein regierender Landesherr ſich mit ſeinem Automobil an 
einer Jagd auf Luftballons beteiligt, die allerdings zum Beſten des Vaterlandes, 
wie heute fo vieles Militäriſche und Nautiſche, arrangiert wurde, und wenn dann 
ein Herr X. aus einer kaufmänniſchen Seeſtadt vor ihm ſiegt, während er den 
letzten Preis bekommt. Es wird auch in ſeinem ſehr loyalen Lande mancher das 
Gefühl gehabt haben, daß diejenigen, die ſich die Allerhöchſten Herrſchaften nennen, 
dann auch von Gottes Gnaden hors concours von Veranſtaltungen geſtellt ſeien, 
wo Qualitätspreife verteilt werden. Überhaupt die umſichgreifende Pramiierung 
als Erſatzmittel für den erſchlaffenden kategoriſchen Imperativ — es führt hier 
nur zu weit; aber man leſe Jakob Burckhardts wunderbare griechiſche Kultur- 
geſchichte über die verhängnisvolle Wirkung des agonalen Preisweſens bei den 
Hellenen. 

Doch weshalb, mag jemand fragen, jene höchſtgeborenen Wettſportneigungen, 
ſofern man fie nicht gerne erlebt, vor der Öffentlichkeit noch unterſtreichen? Weil 
man die Erhaltung der monarchiſchen Vorausſetzungen, nicht die Bourgeoiſierung 
der Fürſtenhäuſer wünſcht, von Herzen und aus Überzeugung, und weil man, 
zumal wir den konſtitutionellen Staat haben, das Recht beſitzt, unter Umjtänden 
fürſtlicher als der Fürſt zu denken. Weil wir das Recht haben, Landesherren und 
Prinzen zu wünſchen, die Wichtigeres für „Leiſtung“ erkennen, als bei jedem Sport- 
feſt auch dabei zu ſein, oder z. B. neue Hotels, die auf zahlungskräftige Sportgäſte 
rechnen, höchſtſelbſt mit einzuweihen, Fürſten, die auch nicht im Anſchein ſich mit der 
reichen Vergnügungsſchicht amalgamieren, bie „ernſte Männer“ find, wie ber Kaiſer 
von feinen Söhnen rühmte und wie er ſelbſt ganz gewiß im erhabenen Herrfcher- 
ſinn es zu ſein vermag und davon immer wieder erlöſende Zeichen ſeiner Sorgen, 
ſeiner Fähigkeit der Kritik und des Zorns, ſeines richtigen Vorausblicks gibt. Wie 
der Fürſt nach der autokratiſchen Seite hin nicht mehr verantwortungslos ift und 
Geſetzlichkeiten geſchaffen find, um diefe Verantwortung verfaſſungsmäßig aus- 
zudrücken, ſo iſt er es auch nicht in den Dingen, wodurch er oder ſeine Familie 
die monarchiſche Form einer fahrläſſigen Verflüchtigung ausſetzen, ſo wenig man 
früher zwar an ſolche Gefahr denken mußte und ihr vorzubeugen brauchte. Uns 
iſt es nicht gleichgültig, was aus dem monarchiſchen Staatsgefüge wird und wen 
man in abſehbarer Zukunft an der Spitze finden wird, geſchichtliche Fürſten oder 
deſpotiſche Finanzhäupter, die es vielleicht gar nicht angeſtrebt haben, aber die 
von ihren gigantiſchen Geſchäftsintereſſen ſchließlich gezwungen werden, den 
Staat nur auch gleich direkt mitzubeherrſchen. Mit anderen Worten: im heutigen 
Maßſtab vergrößerte Medici, zu was dieſe Kreiſe auf der jetzigen Vorſtufe ja auch 
ſchon von Kunſthändlern und augurenhaften Oberkunſtbonzen mit Macht heran- 


6 Heya: Monarchen und Gelbmagnaten 


gebildet werden. (Denn Cofimo und Lorenzo beherrſchten bekanntlich den Staat 
Florenz und ſein toskaniſches Gebiet als ungefürſtete allmächtige Geldleute, und 
wenn die Kunſtgeſchichte ihnen Großes dankt — und es damals hohe Künſtler 
gab —, fo vermag es weniger die Geſchichte der öffentlichen Nechtlichkeit und 
der ſtaatlichen Wohlfahrt.) Oder ſollen wir andernfalls, unwahrſcheinlichenfalls, 
die Sozialdemokratie als Erretterin von dem Zuſammenfließen des Regierenden 
mit dem Plutokratiſchen begrüßen? Sie dreſchflegelt ja ſchon ſeit je auf die 
Monarchie, indem fie die Geldherrſchaft zu meinen behauptet, und wenn dieſer 
Widerſinn allmählich noch recht bekommt, ſo liegt es nicht an ihr. 

Das könnten übertriebene Beklemmungen ſcheinen, wenn man mit dieſen 
Sachlagen allein zu tun hätte. In der Tat iſt, was die Parteien wollen, noch nie 
das Gefährlichſte geweſen, oder das eigentlich Geſchichtsbildende. Der wilden 
Bauernerhebung im Anfang des 16. Jahrhunderts, die die ſozialen und rechtlichen 
Verhältniſſe revolutionär umformen wollte, ſchlug man auf den Kopf, aber die 
waffenloſe Reformation ſiegte, unb fie bildete Staat, Geſellſchaft, Rechtsverhält⸗ 
niſſe um. Das Ausſchlaggebende iſt das, was in der Geſamtheit ſcheinbar ohne 
politiſche Bedeutung vor ſich geht und wohin dieſe Geſamtheit im Guten oder 
Üblen allmählich gelenkt wird, ohne ein Vorhandenſein folder Abdämmungen, 
wie ſie in der ſichtbaren Politik doch immer von Gegenparteien aufgerichtet werden. 
Dahin gehört es, wenn man heute von zahlloſen Seiten am Werk iſt, das bisherige 
Gefühl, womit das Bürgertum auf ſeine Gekrönten ſieht, in eine bewundernde 
Devotion vor dem puren Geld, den reichſten Leuten und von deren Tun und Treiben 
umzuzüchten. Hier gibt es jene Parteidämme nicht. Auch bie tonfervative Zeitung 
übernimmt die Hofberichte des Reichtums, wie man fie nennen könnte, dieſe Be- 
rechnungen, wie viele Dollarmillionen bei Neuporker Dinergelegenheit beiſammen 
waren, oder wieviel Rockefeller ſtündlich, minütlich und in der Sekunde einnimmt, 
dieſe von Lüſternheit geſchmalzten Katalogiſierungen der reichſten Erbinnen, dieſe 
unanſtändigen Kabeltelegramme, wie bie Heiratsausfidten von Aſtors (viergehn- 
tägiger) Witwe beſchaffen ſeien. Sie verweiſt fie nur eben unter den Strich ins Nicht- 
politiſche. Dieſe feuilletoniſtiſche, neutrale Behandlung macht ſich aber mitſchuldig 
daran, daß jene neuere Umerziehung ungeſtört die Nation von jeder geſunden 
Kritik entwöhnen darf, weit mehr als je ſolche Kritikloſigkeit gegen die Geburts- 
fürſten geübt ward. Hier werden die perſönlichen Qualitäten nun als gänzlich 
nebenſächlich genommen, man leitet dazu an, die Frage nach ſolchen überhaupt zu 
unterdrücken, Carnegie iſt längſt nicht der am eheſten Bewunderte, ſondern die 
möglichſt Brutalen ſind es am meiſten, man bringt die Geldgötzen der Reihe nach 
einfach auf die Pfundwage und ſtellt das Refultat in ſtereometriſchen Würfeln 
dar. Oder formt es zu ſonſtigen Anſchaulichkeiten, beiſpielsweiſe zur Ausrechnung, 
wieviel deutſche Erbfürſten auf einmal der ober jener amerikaniſche Maſſenmillionär 
auskaufen könnte, wenn er zufällig Luſt dazu hätte. Beſorgniſſe, byzantiniſch zu 
werden, die der Freiſinnige, wenn nicht hat, ſo doch haben ſollte, kommen ihm 
nicht, ſobald er von dieſen Olympiern erzählt. Die Vergötterungen feiner un- 
begrenzten Macht, womit man einſt einem Ludwig XIV. gehuldigt hat, werden 
von dieſen Feuilletoniſten und Notizenreportern des Reichtums erneuert, über- 


Sepa: Monarchen unb Gelbmagnaten 7 


boten — und dabei geſchehen fie viel ſpontaner, abſolut freiwillig, aus nichts und 
wieder nichts, als aus der Ekſtaſe, in die das goldene Kalb verſetzt. „Keine Zoll- 
grenze erkennt er an, um kein ſtaatliches Ausfuhrverbot von Kunſtwerken tüm- 
mert er ſich“, behauptete kürzlich von Pierpont Morgan die in Selbſterhitzung 
geratene Phantaſie eines derartigen Schreibers; wie bei Arioſt die Meerungeheuer 
an ben Küſten erſcheinen und mit den erſtarrten Bewohnern machen, was fie 
wollen, ſo naht nach dieſer Schilderung Pierpont Morgan mit ſeiner Luxusjacht. 

Aber auch andersartige Zeitſymptome treten auf, die für den kritiſch beob- 
achtenden Monarchiſten vielſagend ſind. In weiten Schichten bei uns zeigt ſich 
ſchon länger ein auffälliges Wiederaufleben des Napoleonkults, der nun auch 
mehr als früher nach Norddeutſchland übergreift und den Buchhändlern gute 
Geſchäfte bringt. Eine nationale Zeitung erregte ſich vor nicht lange über dieſe 
Beobachtungen, inſonderheit über die geplante Begründung einer deutſchen 
Napoleongeſellſchaft. Aber in dieſem Fall war ihre Deutung kurzſichtig; hier er- 
ſcheint nicht eigentlich bie deutſche Fremdtümelei als der meiſtbeſtimmende pſychiſche 
Ausgangspunkt, ſondern das naive Verlangen nach der bewußt gebietenden, 
folgerichtigen Perſönlichkeit, das an den Monarchen neueren Schlages ſich nicht 
enthuſiasmiert. Auch aus der italienischen Nenaiffance heraus, die mit ihrer ein- 
ſeitigen Geldkultur, ihrem Kunſttaumel und ihren Aretinos unſerer Gegenwart 
ſo ähnlich iſt, nur daß ihre Kunſt und ihre Kultur beſſer waren, erhob Macchiavelli 
den Ruf nach dem rückſichtsloſen, tyranniſch objektiven „Fürſten“. Zu ſpät; die 
„Fürſten“ kamen, aber ſpaniſche, franzöſiſche, mit deutſchen und ſchweizeriſchen 
Landsknechten. 

Alle jene intimen Vorgänge unſerer Zeit finden nun aber längſt nicht 
die Würdigung, die ſie verdienen. Sobald von einer Seite politiſche Anträge 
geftellt werden, bie dem Monarchen ein äußerliches Paragraphenteilchen nehmen 
wollen, fo entſteht bei Regierungsinſtanzen und regierungs freundlichen Parteien 
heftige Aufregung dagegen; daß aber von ſelbſt die feineren Wurzeln der monar- 
chiſchen Kraft verkommen und wegſchimmeln, von welchen doch deren geſunde 
Ernährung abhängt, das macht nur wenigen nachhaltige Sorge. Während man 
ſich bei den ſogenannten ſtaatserhaltenden Schichten hierüber und über das, was 
die Fürſten ſelbſt dazu beitragen, freimütige Gedanken machen ſollte, unterdrückt 
man dies meiſtens aus einer falſch verſtandenen Loyalität und überläßt gewohn- 
heitsmäßig die Gelegenheit, wo die Monarchen durch weitgehende Exkluſivitäts- 
verzichte merkwürdig auffallen, denjenigen Witzblättern, die den Vorgang aus 
ihrem unmonarchiſchen Standpunkt eigentlich anerkennen müßten, aber die Gloſſen 
darüber doch nur wieder in ihre Giftbrühe tauchen. 

Und glaubt man etwa, daß bie Kreiſe, wo die händleriſchen Geſinnungen 
und Kräfte die ausſchlaggebenden ſind, für die beeiferten Huldigungen, Beſuche, 
Telegramme von höchſten Stellen mit Zuverläſſigkeit auch dankbar ſeien? Eine 
Weile iſt man geſchmeichelt, ſolange die Sache ungewöhnlich iſt, die Eitelkeit brüſtet 
ſich, der Profit wird mitgenommen, der gekrönte „beſte Handlungsreiſende“ des 
deutſchen Großgeſchäfts ward längſt ſchon witzelnd gelobt. Aber „monarchiſch 
bis in die Vendée“ macht man auf diefe Weiſe nicht die Traditionsloſen des Ge- 


8 Send: Monarhen unb Gelbmagnaten 


ſchäfts, wie man die einft fo aufſäſſigen Zunter dadurch gemacht bat, daß man — 
fie unterhielt. Schritt für Schritt rückt das mit dem Kapitalismus verquickte maß- 
gebliche Großſtädtertum gegen die monarchiſchen Traditionen vor. Wem danken 
ſie, wen belohnen ſie? Sieht man nicht hohen Beamten, deren von der Krone nicht 
gebilligte einzelne Meinungen dafür das Wohlgefallen jener Kreiſe finden, demon- 
ſtrativ das Aſyl der pekuniären Verbeſſerung darbieten? Liegt nicht in dieſer 
Erſcheinung, zumal bei den höchſt reviſionsbedürftigen Verhältniſſen der ſtaatlichen 
Penſionierung, geradezu eine Verlockung für Beamte, nächſtens die hohe Staats- 
Helle nur noch als das Schwungbrett aufzufaſſen zu kumulierten Aufſichtsrats- 
Gantiémen, hohen repräſentativen Bezügen und ähnlichen modernen Gütern? 

Nun meine ich mit dem allem am wenigſten, daß die Monarchie als ſolche 
reaktionär werden ſoll. Sondern ſo: daß ſie ſich etwas mehr Rechenſchaft über 
fi ſelbſt und die Erhaltung ihrer Fundamente geben möge. Woblmeinend 
allſeitige, aufgeklärte Beſtrebtheit iſt ſchön und wichtig, aber zur richtigen Auf- 
geklärtheit gehört als allererſtes die ſichere Selbſtorientierung. 

Die Bedingungen ihres Amtes werden nicht immer am meiſten von den 
für die Throne Geborenen durchgedacht. Sie haben das Amt „geerbt“, nicht er- 
worben, und auch da gilt leicht das tiefſinnige Wort: Weh dir, daß du ein Enkel 
biſt. Ganz anders diejenigen, die ihre Stellung ſich erſt ſtreng und mühevoll, 
ſei es aus dem monarchiſchen Verfall, wie König Friedrich Wilhelm I. von Preußen 
nach dem Luxus- und Scheinweſen Friedrichs I., oder gar frei cäfariftifch zu ſchaffen 
haben. Mit ſchärfſter Konſequenz hat Napoleon die Bedingungen, unter welchen 
die Reiche und Throne in Kraft erhalten werden, durchgedacht, und ihm perſönlich 
lag es in erſter Linie nahe, die Entwicklungserſcheinungen zu unterſuchen, aus 
welchen das römiſche Imperium verderben mußte. Daraus ſind ſeine heftigen 
Oxymora gegen bie Plutokratie, die „Handelswelt“, zu verſtehen, die, wie er 
ſagte, auf den Zuſtand des fränkiſchen Gallien „zurückzuwerfen“ fei, daraus feine 
Befliſſenheit, das engliſche Ideal zu verdunkeln durch das der Ehrenlegion und 
des Marfchallitabs im Torniſter. Und der philanthropiſche Benjamin Franklin 
ſpricht 1787 aus, bie republikaniſche Verfaſſung werde hoffentlich nicht dahin führen, 
das Volk der Vereinigten Staaten durch den Materialismus ſoweit zu korrum- 
pieren, daß dann zur Wiederherſtellung ſeiner frugalen Geſundheit — ein Monarch 
nötig würde. Wir Heutigen aber in Oeutſchland ſollen froh ſein, daß unſere ſozialen 
Verhältniſſe bis jetzt noch nicht die kaiſerlich römiſchen oder nur die großbritanniſchen 
— übermäßige Zerklüftung zwiſchen abhängiger Beſitzloſigkeit und Reichtum — 
ſind, unſere Welterfolge nicht jene mühelos ungehemmten, die einſt das manueliſche 
Portugal rapide reich machten und infolge davon die große Mehrzahl deſto arm- 
ſeliger und geſchwächter. Unſere oberſte nationale Bemühung ſoll mit Klarheit 
und Weitſicht der Geſundhaltung unſeres Volkes fid) widmen und feiner Lebens- 
bedingungen, wie der Einzelne fie ſpürt, nicht aber dem Zdeal, mit haſtender Ge- 
ſchwindigkeit auch bei uns jene verhängnisvolle Art von imaginärer Blüte berbei- 
zuführen, die wenige glücklich macht, die meiſten proletariſiert, und der nur noch 
das Abblühen folgen kann. 

&2 


Die Freunde | i 
Ballade von Börries, Frhrn. v. Münchhauſen 


Auf einem Schiffe und dreißig Jahr' — 

Das ſchmiedet Freundſchaft, wie keine ſonſt war, 
Grau wurden die Schläfen, wie der Sand 

Auf der Räuber-Reede vor Helgoland, 

Und grau ihre Seelen von Sünden, 

Und ſuchtet ihr Freundſchaft bis über See, 

Ihr könnt keine treuere finden! 


Klaus Störtebecker der eine hieß, — 

Den mächtigen Arm im blauen Fries 

Auf Tücke Hayens Schulter er tat: 

„Wi blivt toſammen, min ole Maat, 
Solang de Winde weihen, — 

Wenn du ſlecht büſt, will ick ok ſlecht fin!“ — 
„„Nu ſwieg man ſtill!““ ſagte Hayen. 


Auf Seeraub fuhren ſie dreißig Jahr', 
Und mit ihnen lag eine wilde Schar 
Bei Sommerregen und Winterſchnee 
Auf ſchmutziger Kuff in der Norderſee 
Unter der beiden Befehlen, — 

Und wie ſie ſtarben ſo jämmerlich, 

Das wollen wir heute erzählen. 

Die Hamburger Ratsſtube roch nach Staub, 
Die Akten raſchelten wie welkes Laub, 
Und Puder wölkte darüber her. — 

Die Hamburger Ratsftube roch nach Teer 
Und Olzeug, firnisdurchwoben, 

Als Störtebecker und ſeine Schar 

In die Stube herein geſchoben. 


„Wir wiſſen all, was ihr beſtimmt, 

Und wiſſen, was der für'n Ende nimmt, 
Der dreißig Fabre von Seeraub gelebt, 
Wir wollen nicht mehr, als ihr uns gebt, 
Doch haltet die alte Sitte 

Und gönnt mir, wenn ich denn ſterben ſoll, 
Eine allerletzte Bitte!“ 


Sprach Störtebecker, und zog ſich hart 
Verlegen am eisgrauen Schifferbart, 

Oer mächtig quoll aus des Hemdes Rand: 
„Ich habe kein Weib auf Helgoland, 
Hab' die nur, die hier ſtehen, | 

So laßt mid, wenn mich der Henker geköpft, 
Noch einmal zu ihnen gehen! $. o 


Stellt meine Leute in eine Reih’ 

Und laßt mid) tappen an ihnen vorbei, 
Und foweit an der Reihe der Fuß mich trägt, 
Die Ketten von ihren Armen legt, 

Als hätten ſie nichts verbrochen, 

— Nur die, bis zu denen die Kraft nicht reicht, 
Denen tut, wie der Richter geſprochen!“ 


„Dumm Tüg!“ ſagte Hayen, „bliv man dabi, 
Wi ſeilt toſam un wullt ſtarven mit di! 
Du heſt för uns in mennicher Nacht 

Beede Wachen op Oeck gewacht, 

Hit bliv man ſtill bi liegen. — 

Nich, Jungens, dat ſchall de Raptein daun?!“ 
Die andern nickten und ſchwiegen. 


10 


Die Ratsherren aber: „Dod foll es geſchehn, 

Das Spektakulum wolln wir gerne beſehn! 

An welche du kömmſt, wenn der Henter dich 
ſchlug, 

Für die iſt Blut gefloſſen genug, 

Des Gerichtes ſei'n ſie ledig, — 

Nun laß uns ſehen, ob Freund du biſt, 

Oder biſt bloß ruhmredig!“ 

Im dieſigen Nebel das Grasbrook liegt, 

Man hört die Möwe wer ſieht, wo fie fliegt! — 

Zehntauſend umwarten das Balkengerüſt, 

Und die vierzehn, die das Beil heute frißt, 

Sie mußten die Pfähle einrammen, 

Nun warten ſie oben auf Henker und Rat, — 

Die vierzehn reden zuſammen. 


Momme Gödle hob die grobe Hand 

Wie wohl vordem auf Helgoland, 

Und drehte ſie ſo: „Nordweſt to Weſt! 
Wat ſchall en Storm in dat Kramerneſt!“ 
Nis ſtrich durchs Maul den Finger: 

„Zwei Strich na Weſten, un hei dreiht rechts, 
Dat gift op Ded gode Springer!“ 


gay Hunke ſchnupperte im Nebel lang: 
„Nu rök noch eenmal Teer un Tang!“ 
Doch Tuͤcke Japen: „So ſwiegt nu ſtill! 
Zi ſitt hier nich an Ankerſpill, 

Wat klönt ji da von Wedder, — 

Zi fpürt den Wind un rött de See, 
Aber hoiren — ed hoir je nie wedder!“ 


9,Ründjbaufen: Die Freunde 


Da kam der Rat, und der Henker kam, — 

Hand von Hand ihren Abſchied nahm, 

Kein Wort tropft in die Stille herein, 

Als Tücke Hanens „Adjüs Kaptein!“ 

Zehntauſende rings ſich breiten, 

Und war bie Wieſe doch totenftill, — — 

Ein Kindlein weinte von weiten 

Sein Kopf kollerte. — Der Tote ſtand auf, 

Mit blindem Fuße ein ſtockender Lauf, 

Taumelnd und ſtolpernd die Reih' entlang, 

And kannten doch alle ſeinen 
Gang! 

Vorbei an Nis, der ward blaſſer, 

Vorbei Momme Södke, der ſeufzte auf, 

Und Hunke ſchielte aufs Vaſſer. 


Aber als er an Tücke Hayen kam, 

Der zwiſchen die Zähne die Lippe nahm, — 
Ein ſchmaler Streifen blankes Blut, — 
Vor ſtieß er den Fuß, wie ein Zorniger tut, 
Da ſtolperte — ſtürzte fein Retter, 

Plump, wie ein Anker ins Waſſer ſchlägt, 
Polterte er auf die Bretter. 


And wie ein Anker Glied um Glied 
Der Kette durch klirrende Klüfe zieht, 
So zog der [türgenbe Rapitdn 

Nach ſich zum Tode die letzten zehn, 
Tücke Hayens Kopf hinrollte, 

And er heuerte wieder mal gleiche Fahrt 
Mit dem Freunde, wie er wollte. 


| 


d 


N 


. Ld 
Eliſabeth Diakonoff 
Das Tagebuch einer ruſſiſchen Studentin 
Einführung 
CE letzte Manuſkriptſeite liegt vor mir. Nicht eine Romanheldin, — 
ein lieber, guter, armer Menſch, das ruſſiſche Mädchen Eliſabeth Dia- 
konoff ſelbſt hat Abſchied genommen, um durch die dunkle Pforte 
zu gehen. 

Kein Buch, — ein Leben mit all ſeinen ſcheinbaren Widerſprüchen und doch 
fo tief verankerten Notwendigkeiten, mit all ſeinen verzehrenden Gluten und eifi- 
gen Schneeſchauern hat feinen Abſchluß gefunden, — „die Geſchichte eines ein- 
ſamen Sterbens, des Sterbens einer Seele, die ſchön iſt wie Porzellan, allein 
ebenſo zerbrechlich. —“ 

Noch ſchwer unter dem Bann dieſer erſchütternden, ſchonungsloſen Wahr- 
haftigkeit ſinne ich vor mich hin; dann muß ich aufſtehen und ein paarmal das 
Zimmer auf und ab ſchreiten, um den Rhythmus dieſer Lebenstragödie in mir 
ausſchwingen zu laſſen — 

Es ijt etwas Heiliges, was einen nach dieſem doch fo reinmenſchlichen Frauen- 
ſchickſal anweht, etwas, das einen zwingen möchte, die Hände zu falten: O Herr, 
nimm du dieſe arme flüchtende Seele in deine Arme auf! — 

Die Tagebücher der Marie Baſchkirzeff find weltberühmt, fie haben inter- 
nationales Aufſehen erregt: — Hier iſt mehr als Marie Baf Atir- 
ze ff. Das hat auch die ruſſiſche Kritik und Öffentlichkeit richtig erkannt. „Ver- 
gleicht man“, ſo urteilt der berühmte ruſſiſche Philoſoph und Publiziſt Roſanoff, 
„dieſes Tagebuch mit demjenigen der leichtſinnigen Marie Baſchkirzeff, — wie- 
viel Seele und Seelenkraft, wieviel Nachdenklichkeit! Was für herrliche Seiten 
ſind der Religion gewidmet, was für Gedanken über den Tod gedacht! Wieviel 
Sorge fürs Volk, für die Kinder, für die Familie! Es find keine Sorgen, die Taten 
folgen laſſen, aus phyſiſchem Unvermögen nicht. Aber in der Seele ſind ſie ſtark.“ 

Dieſer Vergleich mit Marie Baſchkirzeff kehrt immer wieder: „Wenn die 
Negative der Marie Baſchkirzeff häufig theatraliſche Poſen bringen, ſo iſt Eliſabeth 
Diakonoff wahr bis zur Reſtloſigkeit.“ Ja diefe unerhörte Wahrhaftigkeit, die un- 
erbittlich gegen ſich bis zum Selbſtmord iſt, der alle Senſation fremd iſt bis auf den 


12 Elifabeth Oiatonoff 


Begriff, macht die Größe dieſer Bekenntniſſe eines Seelengenies aus, macht dieſe 
Tagebücher ſelbſt zu einer Senſation. 

Eliſabeth Diakonoff — ich folge hier frei den Witteilungen ihres Bruders, 
Alexander Diakonoff — begann ihr Tagebuch wie die berühmte Marie Bajchlir- 
zeff in früheſter Kindheit, mit elf Jahren. Die Tochter eines reichen Fabrikbeſitzers 
in der kleinen Provinzſtadt Nerechta im Koſtromaſchen Gouvernement, verliert 
fie früh den Vater und bleibt bis zum 21. Jahr in der Obhut der Mutter, einer be- 
ſchränkten, zur Erziehung völlig unbefähigten Frau. Nachdem Eliſabeth das Gym- 
naſium in Jaroslaw mit der ſilbernen Medaille abſolviert hat, bleibt ſie hier noch 
vier Jahre, da die Mutter von dem ſehnſüchtigen Wunſche der Tochter, die Kurſe 
an der Petersburger Univerſität zu beſuchen, nichts wiſſen will. Die Zeit von 
1886 bis 1895 verbringt ſie in peinvoller Erwartung der Zukunft, dabei unter dem 
ſtändigen Drud einer verſtändnisloſen Umgebung. Aber mit Energie überwindet 
fie alle Hemmungen und geht mit 21 Jahren in bie erjebnten Frauenkurſe, die fie 
auch, trotz ihrer Beteiligung an der ſtudentiſchen Bewegung, glänzend erledigt. 

Wir ſehen ſie in Paris wieder, wo ſie an der Sorbonne Zura ſtudiert, mit 
dem für fie fo bezeichnenden Ziele, nach ihrer Rückkehr nach Rußland den Frauen 
den Weg zur Anwaltſchaft zu erkämpfen. 

In Paris ſchreibt fie in den Jahren 1900 — 1902 ihr letztes Buch, das hier 
zum erſten Male einer deutſchen Leſerſchaft dargebotene 
„Tagebuch einer ruſſiſchen Studentin“. Es waren ihm neben Veröffentlichungen 
in Zeitſchriften und Zeitungen zwei andere Bücher vorangegangen, die auch ſchon 
gleich nach ihrem Erſcheinen großes Aufſehen erregten und in wenigen Wochen 
vergriffen wurden. 

„In rührender Weiſe berichtet Eliſabeth Diakonoff in dieſem Buche über 
ihre erſte Liebe — die Liebe zu einem Arzte, einem Pariſer. Dieſes poetiſche, 
zarte Buch der Liebe hat ſie mit einer qualvollen, fieberhaften Eile geſchrieben, 
als fühlte ſie die kalte Nähe des Todes. Und wirklich: nachdem ſie die letzten Seiten 
geſchrieben — Seiten des Leides — Seiten tiefer Tragik, fand ſie wenige Tage 
ſpäter den Tod —“. So der bekannte Prediger und Schriftſteller G. Petroff über 
unſer Tagebuch: „Es iſt kein Tagebuch mehr, es iſt ein Gedicht in Proſa, erfüllt 
von tiefer, leidenſchaftlicher Melancholie. Es iſt die ruſſiſche ‚intellektuelle‘ Frau, 
die fid) in der Schönheit, in der Schnee-Reinheit dieſes Gedichtes [piegelt — — 
Warum wurde fie ein Opfer des Todes — war fie nicht viel mehr zu einem Lebens- 
ſiege beſtimmt?“ 

Als fie fühlte, erzählt ihr Bruder, daß der Roman mit dem Internen im 
Hoſpital Brock, Dr. Lencelet, endgültig abſchließen mußte, babe fie in nervöſer Haft 
jene letzte Stimmung vor einem Selbſtmord aufgezeichnet. Aber dieſe Stimmung 
fei nichts weiter als die Ekſtaſe ihrer ſchaffenden Seele, ihrer aufs höchſte gefpann- 
ten künſtleriſchen Phantaſie. Denn alle darauf folgenden Ereigniſſe, der Tod, 
ſeien für ſie ſelbſt unerwartet gekommen: — „Zufall!“ 

„Eliſabeth Diakonoff hatte von Natur aus viel Liebe zum Leben. Obgleich 
überaus ſenſibel, häufig körperlich ſehr leidend, trug ſie die zahlloſen Prüfungen 
eines harten Schickſals äußerlich ruhig, gefaßt. So erſchien fie, wenn auch inner- 


Eilfabeth Diatonoff 13 


lich unbefriedigt und oft heftig erregt, äußerlich freundlich entgegenkommend, ja 
in manchen Fällen febr expanſiv. In den Tagen, wo die Notwendigkeit, mit ihrer 
Liebe zu Dr. Lencelet abzuſchließen, unerbittlich vor ihrer Seele ſteht, arbeitet ſie 
angejtrengt zum Examen. Sie beſteht es und reift zu ihrer Erholung in die Hei- 
mat. In der erſten Hälfte des Auguſts 1902 beſucht fie auf ihrer Rückreiſe nach 
Paris eine Verwandte in Tirol, am Achenſee. Schon am erſten Lage foll fie früh 
ohne Führer in die Berge gegangen und — nicht mehr wiedergekehrt fein. — — 

Ihre Leiche wurde, trotz angeſtrengten Suchens, erſt einen Monat ſpäter 
an einem Waſſerfall gefunden, der fie ans Ufer geſpült hatte. Sowohl der Ort 
des Unglücks als auch verſchiedene andere Anzeichen, die durch gerichtliche und 
mediziniſche Nachforſchungen feſtgeſtellt wurden, ſprechen dafür, daß es fih nicht 
um einen Selbſtmord, ſondern um einen unglücklichen Zufall handelte.“ 

Wer möchte ſich anmaßen, hier das letzte Wort zu ſprechen? Wer die ab- 
gründige Tiefe dieſer Löſung eines tragiſchen Lebensproblems ausmeſſen? Auch 
der „Zufall“ iſt hier nur ein armſeliger Geſelle. 

Tragiſch wie ihr Tod war ihr Leben, war ihre Liebe. Die Frau, die ſich 
gegen bie Herrſchaft des Mannes aufbäumt, erliegt ihr in unerbittlich hoffnungsloſem 
Kampfe. Erliegt der Leidenſchaft zu einem Manne, der ihr in jedem Betracht 
völlig weſensfremd iſt, der als Perſönlichkeit ohne Zweifel unter ihr ſteht, deſſen 
eiſiger Kälte ihre ſo keuſch und doch ſo leidenſchaftlich werbende Liebe nichts abringen 
kann als kalt abweiſende Philiſterweisheit und — ärztliche Rezepte. — Warum? 

ga, warum? Weil er Mann und fie Frau ift. Weil in den Beziehungen der 
Geſchlechter geheime magiſche Kräfte walten und Geſetze herrſchen, die nach keiner 
Logik und Philoſophie fragen. Ob die Frau dem Manne oder der Mann der Frau 
unterliegen foll, das wird in allewege von keinem geſchriebenen Frauen- oder 
Männerrechte entſchieden werden. Alle dahin zielenden Beſtrebungen und Ge- 
ſetze können nur die Oberfläche dieſer Beziehungen kräuſeln, nie ihre geheimnis 
vollen Tiefen bewegen. Die ſtillen, vulkaniſchen 

3. E. Frhr. v. Srotthuß 


* * 
* 


Paris, 1. Dezember 1900. 

Es ijt jo weit gekommen, daß ich den größten Teil der Nacht ſchlaflos ver- 
bringe, beim geringſten Geräuſch fahre ich zuſammen. Erſt des Morgens ſchlafe 
ich ein 

Es ijt kalt ... durch die Fenſter dringt kaum der matte Schein eines an- 
brechenden, grauen Tages ... Unſaubere Gardinen, ein kleiner Tiſch an der Wand, 
ein Vorhang, der meine Kleider ſchützt, ein Ofen in der Ecke, ein Stuhl, ein Waſch⸗ 
tiſch ... das (inb die wenigen Gegenſtände in dem engen Raum, „cabinet“ heißt 
ſo etwas hier. 

Kein Licht, keine Luft — es iſt ja auch das billigſte Zimmer in der Heinen 
Penſion! 

Meine Wirtin, eine Schweizerin von Geburt, ermuntert mich in ihrer gut- 
mütigen Art. „Sie find eben leidend. Sie haben Kopfſchmerzen; das ijt weiter 
nicht ſchlimm: die vergehen ſchon wieder.“ 


14 Elifabeth Dtatonoff 


Sie vergehen [don wieder — wann? Von Tag zu Tag leide ich mehr. Da- 
bei habe ich keine phyſiſche Krankheit. 

Ich bin völlig geſund und doch zu nichts fähig, zu nichts . . . ich bin Schlimmer 
daran als eine Kranke. Ich tue alles nur mechaniſch. Geſtern habe ich um Auf- 
nahme an der juridiſchen Fakultät nachgeſucht ... ob es einen Sinn hat, wenn 
ich doch nicht imſtande bin zu arbeiten? 

6. Dezember. Zch glaube, mein alter Zuſtand ſtellt ſich wieder ein. 
Dieſer quälende Zuſtand! Wie eine giftige Schlange ſchleicht er ſich an mich heran 
— und ſchon fühle ich den Biß des Giftzahnes! 

Mein Kopf iſt wie eingezwängt in einen eiſernen Ning, der ihn immer feſter 
und feſter umſchließt. Ich kann nichts mehr tun, zum Arbeiten fehlt mir die Kraft, 
die geiſtige Kraft. Die quälenden Kopfſchmerzen machen ſie völlig zunichte. Und 
bae Bewußtſein dieſer Kraftloſigkeit, der Unfähigkeit, mich aufzuraffen, weckt mir 
Verzweiflung, nein, noch Schlimmeres — eine entſetzliche Angſt! Meine 
Seele iſt wie ein großer Schmerz; nichts Geſundes iſt in ihr, ſie iſt ganz voll von 
Troſtloſigkeit und unſagbarem Lebensüberdruß. 

Wie viel, wie viel habe ich getan, um geſund zu werden! Wieviel Berühmt- 
heiten ſuchte ich in Petersburg auf... Es koſtete uns Studierenden nichts. Und 
ging man hin, fo fragte die Berühmtheit einen flüchtig, murmelte: „Hm — Sie 
müſſen ſich ausruhen“, verſchrieb ein Rezept und wies mit Würde das Honorar 
ab. Sd) beſtellte die Medizin, ich ſuchte Erholung am Meer — anfangs zerſtreuten 
mich die neuen Eindrücke .. Und dann — dennoch, immer dasſelbe! Bald ſchwächer, 
bald ſtärker, je nach den Umſtänden. 

Als ich mein Studium beendigt hatte, wollte ich ein Jahr ausruhen, alle 
Bücher von mir fernhalten — in der Hoffnung, geſund zu werden. Die neue Um- 
gebung, die wechſelnden Eindrücke ließen mir das Leben anfangs erträglicher er- 
ſcheinen. Als ich jedoch zu den früheren Orten, zu den alten Erinnerungen zurück- 
kehrte, und namentlich in die alten Familienverhältniſſe wieder hineinwuchs, war 
es vorbei mit der Erholung ... Ich kann ja nicht das ganze Leben hindurch reifen?! 
Am ſchmerzlichſten iſt mir der Gedanke an meine Schweſter; es iſt faſt wie eine 
Bitte, die ich dabei hinmurmle: „Erinnerungen, quält mich nicht!“ 

Sie quälen mich! 

Die Erkenntnis meiner Schuld ſteht anklagend vor meinem Gewiſſen, der 
ſchwere Eiſenring drückt ſich immer feſter und feſter um meine Schläfen — und 
kraftlos fall' ich auf mein Bett. So niederdrückend iſt das alles. 

8. Dezember. Heute erhielt ich einen Brief von Wallja. Wie gewöhn- 
lich — ein ſchwermütiger Brief — als ob er unter einem ſchweren Oruck entitan- 
den wäre. Zn jeder Zeile fehe ich ihre traurigen grauen Augen. Aus jedem Wort 
höre ich ihre Stimme: „Warum habt ihr mich zugrunde gerichtet?“ Ich kann nicht 
einmal daran denken, ihr nicht mehr zu ſchreiben. 

Ihr Leben iſt zu bitter. 

And doch iſt ein jeder Brief — wie ein glühendes Eiſen, das eine offene 
Wunde ſtreift. Ich habe ſie verdient, ich habe ſie verdient — dieſe Leiden. 

Doch nein. So ſchuldig bin ich nicht. Ich war fo jung — zwei Jahre älter 


Elifabeth Diatonoff 15 


als fie. Wie konnte ich bie Folgen überjeben! Wir wuchſen zuſammen auf und 
wußten gleich wenig vom Leben und von ben Menſchen. 

Sind dieſe Vorwürfe dann wirklich verdient? 

11. OSezember. 8d bin krank. Heute morgen erfaßte mich ein jo ſtarker 
Schwindel, daß ich mich nicht einmal aufrechthalten konnte. Ich muß mich an einen 
Arzt wenden. | 

12. Dezember. Sd war in der Ecole de Médecine, Der Pförtner wies 
mich in die Klinik von Dr. Raimond. Sprechſtunde von neun bis elf Uhr. Es war 
halb zehn. So hatte ich noch Ausſicht, empfangen zu werden. 

Der Morgen war kalt und grau. Die Pariſer gingen nicht, ſondern liefen 
auf der Straße, um ſich zu erwärmen. Der Winter iſt hier unerträglich, er erſcheint 
faft noch kälter als bei uns in Rußland, denn es gibt hier keinen Schnee. Man 
fühlt nur die kalten Pflaſterſteine unter den Füßen. Im Zimmer iſt es auch kalt, — 
es gibt keine Sonne — nur eine ewiggraue, matte Beleuchtung, ſelbſt die Häuſer 
erſcheinen dabei grau. Bei meinem jetzigen Zuſtande legt ſich dieſe Witterung 
ſchwer auf die Seele. 

Der Weg zum Krankenhaus erſchien mir unendlich lang. „Salpêtrière“, 
dieſer Name verbindet ſich mir eng mit demjenigen von Charcot, und ich war 
faſt erfreut, als ich beim Eintritt ins Krankenhaus ſeine Statue erblickte. 

Das iſt alſo das berühmte Krankenhaus! Hinter der hohen Steinmauer 
liegt es wie eine Stadt in beſonderem Stil: fünf mächtige Häuſerkomplexe und 
zwiſchen ihnen einſame Straßen. 

„Wo iſt die Klinik von Dr. Raimond?“ fragte ich eine Angeſtellte. 

„Das dritte Haus links.“ 

Es war ein kleines, reines, einſtöckiges Haus mit zwei Türen. 

Ich öffnete eine Tür, trat ein — und — blieb ſtehen. Das große, febr niedrige 
Zimmer war überfüllt von Studenten und Studentinnen. Vorn teilte ſich die 
Eſtrade ab, auf der anſcheinend einer der mediziniſchen Götter, umringt von ſeinen 
Aſſiſtenten, in ſehr läſſiger Stellung thronte. Vor ihm ſaß auf einem Stuhl eine 
junge Frau in Trauer und weinte bitterlich. Neben ihr ſtand ihr Gatte, ein Mann 
in mittleren Jahren. 

„Immer dieſe Tränen, diefe ſchwarzen Gedanken“, fagte der Profeſſor ver- 
ächtlich, indem er die Kranke nicht einmal anſah. Die unglückliche Frau ſchwieg, 
ſie hatte den Kopf tief hinunter geneigt und ſchluchzte nur leiſe. 

„Seit dem Tode des Sohnes iſt ſie ſo“, antwortete der Mann. 

„So?!“ war die erneute Frage des Profeſſors. 

Dann erfolgte noch eine Frage, noch eine Antwort des Mannes, noch 
ein herablaſſendes „So?“ Damit ſchien das Geſpräch mit der Kranken be- 
endigt. 

Man führte ſie die Treppe der Eſtrade hinunter. Der Profeſſor verſchrieb 
ein Rezept und reichte es dem Manne. Nachdem ſie weggegangen waren, begann 
er den Studenten die Krankheit zu erklären, ihre Symptome und Folgen. 

Was er auseinanderſetzte, war entſchieden klug und zutreffend — aber eins 
ſchien mir dabei zu fehlen — und zwar die Hauptſache: Mitleid zum leidenden 


16 Eliſadeth Oiatonoff 


Menſchen, — und mit feiner kurzen, unfreundlichen Art im Verkehr mit den Kranken 
mußte er ſeinen Schülern ein ſehr ſchlechtes Beiſpiel geben. 

Dann trat ein kleiner, blaffer Zunge, geführt von feinen Eltern — anſcheinend 
Arbeitern —, auf die Eſtrade. Er fab mit einem verlorenen, verſchüchterten Blick 
um ſich. 

„Na, was fehlt uns denn?“ ertönte von neuem die herablaſſende Stimme der 
Berühmtheit. Er hatte ſich beim Erſcheinen des Kranken nicht einmal umgeſehen. 

Mein Herz ftodte mir... 

Unmöglich werde ich da hinaufgehen und dieſe kalten Fragen vor Hunderten 
von neugierigen Augen ertragen. Soll ich in mein zerquältes Leben auch das noch 
hineinnehmen, dieſe Erniedrigung meiner Perſon; ſoll ich meine Seele der Wiffen- 
ſchaft als Material vorlegen — ja, als ein Material, das hier mit fold) einer Ber- 
achtung behandelt wird? N 

Und die Eſtrade erſchien mir wie ein Schafott — der Profeſſor wie ein Henker. 

Sollte ich es freiwillig beſteigen? 

Der Kopf begann mir zu ſchwindeln. 

„Mein Herr ... was bedeutet das alles?“ 

Der Student, der neben mir während der Vorleſung ſo eifrig nachſchrieb, 
wandte ſich unwillig um. „Das iſt eine Demonſtration von Kranken im Anſchluß 
an die Vorleſung. Gehen Sie ins Empfangszimmer und warten Sie, bis Sie an 
die Reihe kommen.“ 

„Aber geht es nicht — auf eine andere Weife? . 

„In der Klinik iſt es immer ſo —“ 

Er hatte offenbar keine Luſt, ſich auf Erklärungen einzulaſſen; der Profeſſor 
las und er mußte nachſchreiben. Alle die Umherſtehenden und Sitzenden ſchrieben 
jedes Wort aufmerkſam nach. 

3m ging aus dem Saal hinaus, machte noch einige Schritte und öffnete die 
gegentiberliegende Tür. 

Es war ein mittelgroßes Zimmer, in dem eine Reihe von Bänken ſtanden, 
auf denen die wartenden Kranken ſaßen. Eine kleine magere Frau in Leinwand- 
kittel und kokettem Kopfputz mit breiten Bändern trat an mich heran. 

„Sie find zum Empfang zu ſpät, es werden keine Nummern mehr aus- 
gegeben.“ 

Aus dem Nebenzimmer blickte ein junger Mann in weißer Bluſe. 

„Wann empfängt der Profeſſor bei ſich?“ 

Der junge Mann verſchwand im Zimmer. Ich hörte, wie er jemand fragte, 
dann trat er wieder ein und ſah in das Einſchreibebuch: „Am Mittwoch und Freitag.“ 

„Vie heißt der Profeſſor und wie iſt ſeine ir ?“ fiel es mir ein zu fragen. 

„Dejeune.“ 

„Wieviel zahlt man für den Beſuch?“ 

„Gegen 40 bis 50 Franken.“ 

„Danke, mein Herr.“ 

8d war wieder auf bem Hof, inmitten dieſer grauen Steingebdude. Eine 
Verzweiflung, eine wilde, kalte, grenzenloſe Verzweiflung erfaßte meine Seele. 


Eliſabeth Dtatonoff 17 


Was blieb mir zu tun übrig? Yn die Sprechſtunde zu geben, hinauf aufs 
Schafott ... hier, wo die Seele eines lebenden Menſchen, fein Schmerz, fein 
Unglück zum Material, zur Sache wird, der man keine Rüdficht mehr ſchuldig ijt. 

Nein, lieber gehe ich in feinen Privatempfang. Von wo foll ich bie 40 Franken 
bekommen? Der Herr ſagte ja nicht, daß die Studierenden von der Zahlung befreit 
ſind — alſo ſind hier andere Beſtimmungen als in Petersburg — wahrſcheinlich 
wird nur in der Klinik koſtenloſe Behandlung gewährt. 

Was ſoll ich tun, was ſoll ich tun?! 

Wie im Nebel, ohne Gefühl für meine Umgebung, ging ich nach Haufe. 

Die Oroſchkenkutſcher ſtießen mich, die Elektriſche ließ mich hart zufammen- 
fahren. 

Um mich herum erſchien mir alles fremd, als wäre ich das erſtemal auf dem 
Platze St. Michel. 

„Ach, ſind Sie's, Diakonoffa! Guten Tag und Adieu zugleich, ich habe keine 
Zeit — und muß eilen!“ 

Es war Kornewskaja, die einzige Juriſtin in dem zweiten Rurfus an der 
Sorbonne. Ze lernte fie kennen, als ich mein Geſuch einreichte. Fröhlich, lebhaft — 
mit dem typiſchen Geſicht der ruſſiſchen Popentochter. 

„Wohin eilen Sie?“ 

„Ich will Jeanne Chovaine ſehen — heute leiſtet ſie den Eid.“ 

„Heute, wirklich?“ 

„Um zwölf Uhr — es ſtand ja in allen Zeitungen. Auf Wiederfeben! Sch 
muß eilen — Bekannte erwarten mich auf der Brücke.“ 

Das war die lebens vollſte Nachricht für mich feit der Zeit, wo das Geſetz, 
das den Frauen das Recht auf Advokatenſtellen gibt, in der Deputiertenkammer 
durchgegangen war. Mit Ungeduld hatte ich auf den Tag gewartet, an dem Jeanne 
Chovaine vereidigt werden follte — die erſte franzöſiſche Zuriftin — Doctor juris 
der Pariſer Univerſität. Und nun iſt heute der Tag! Und ich wußte es nicht. 

„Warten Sie einen Augenblick, es werden ſicher viel Menſchen fein, haben 
Sie ein Billett?“ fragte ich. 

„Ja, ein bekannter Advokat führt mich hin.“ 

„Geht es nicht auch ohne Billett?“ 

„Verſuchen Sie es — vielleicht — doch wird es ſchwer ſein. Auf Wiederſehen!“ 

Und Kornewskaja verſchwand in der Menge. Dieſe Egoiſtin! Beſtändig leih’ 
ich ihr Geld und ſie kann mir nicht einmal einen kleinen Freundſchaftsdienſt leiſten. 

8d fab nach der Uhr. Es war halb zwölf. In der Penſion wird um zwölf 
Ahr gefrühftüdt, die Wirtin ijt pünktlich und liebt keine Verſpätung. 

Aber die Vereidigung von Jeanne Chovaine ſchien mir wichtiger — außerdem 
konnte ich doch nicht eſſen. 

8d beſchloß, ins Palais de Zuſtice zu gehen. Das Volk drängte fid) an der 
Sür der Deputiertenkammer, in bet die Vereidigung ftattfinden ſollte. Mit Neugier 
betrachtete ich die Umherſtehenden, als mich eine Hand plötzlich zärtlich ergriff. 
In der Menge tauchte der hübſche, blonde Kopf der Bilbesko auf, Studentin der 
hiſtoriſch-philologiſchen Fakultät. l 


Der Türmer XV, 1 2 


18 Eliſadeth S$iatonoff 


Ich batte fie nad) einer Vorleſung kennen gelernt. Dieſes angiebenbe junge 
Mädchen, faſt noch ein Kind, redet mich immer fo zärtlich an, als wäre es ihr Wunſch, 
mich näher kennen zu lernen — aber jemand ſcheint ſie darin zu ſtören, ich glaube 

ihre Eltern. 
| „So, wollen Sie auch Jeanne Chovaine fehen?“ 

„Vir auch. Geftatten Sie, daß ich Sie mit meiner älteren Schweſter bekannt 
mache. Sie ift Medizinerin im letzten Semeſter.“ 

Eine hohe, ſchlanke, ſchöne Brünette reichte mir lächelnd die Hand. 

Und immer noch unter dem Eindruck der Vorgänge im Krankenhaus, begann 
ich ihr von meinem Zuſtande zu erzählen, von der Unfähigkeit zu arbeiten uſw. 

Ich fühlte unklar, daß es vom Standpunkt geſellſchaftlicher Formen nicht 
gerade taktvoll war, daß ich ausſchließlich von meinem Leiden ſprach. Und doch 
mußte ich ſprechen, ſprechen! 

„Seien Sie ruhig, ich kann Ihnen behilflich ſein. Ich werde Ihnen einen 
Empfehlungsbrief an einen „Internen“ geben, einen ſehr tüchtigen Arzt, mit dem 
ich gut Kamerad war.“ 

„Interne“, in dieſem Zuſammenhang verſtand ich den Sinn des Vortes 
nicht, doch war ich zu ſchüchtern, um danach zu fragen. 

In meiner Seele wurde es leichter, das unerwartete Mitgefühl der Schweſtern 
beruhigte mich. 

Seanne Chovaine kam immer noch nicht. Wahrſcheinlich war die Vereidigung 
verſchoben; das Publikum begann ſich zu verziehen. 

Auch wir drei gingen hinaus und verabſchiedeten uns auf der Straße. Die 
Schweſtern Bilbesko mußten nach rechts gehen, ich nach links. 

Wie ermüdet mich dieſes Schreiben. Und warum ſchreibe ich eigentlich, wenn 
ich das nur wüßte! Es iſt einfach alte Gewohnheit. Und dabei iſt es ſo trübe — 
ſo dunkel in meiner Seele — ich will nichts tun. 

So ſchreib' ich denn — es ijt eine Art Ablenkung, das Papier ift fo duldſam. 

17. Dezember. Als ich geſtern abend aus der Vorleſung heimkehrte, 
fand ich vor meiner Tür den verſprochenen Empfehlungsbrief der Bilbesko — 
auf den Namen von monsieur Lencelet, interne de médecine. Héspital de la 
Salpêtrière, 

Der Brief war wohl mit Abſicht nicht geſchloſſen, fo konnte ich ihn ohne Ge- 
wiſſensbiſſe leſen: 

„Verehrter Herr! Sch empfehle Ihrer Sorgfalt Fräulein Diakonoff, die an 
Kopfſchmerzen, Schwindel uſw. leidet.“ 

Fa! Aw. . .. So beſtimmen die Arzte unſeren Zuſtand ... kurz und klar. — 
Schön, ich werde morgen hingehn. 

18. Dezember. Sch ſtand beſonders früh auf, um rechtzeitig in der 
Calpétriére zu fein. Und das fällt mir fo ſchwer, ich ſchlafe ja die Nacht nicht, 
erſt des Morgens ſchlummere ich etwas ein und habe das Bedürfnis, ſpät auf- 
zuſtehen. 

3m wandte mich an den Pförtner. 

„Wohin? — Herr Lencelet. — Das dritte Haus rechts.“ 


Eliſabeth Piatonoff 19 


Ein ähnliches Haus wie die Klinik von Doktor Raimond. Die ſchwarzen 
Buchſtaben auf einer matten Glastür bezeichnen das Sprechzimmer. Zch öffne. 
In dem kleinen Zimmer ſitzt eine junge Frau in weißem Leinwandkittel mit einer 
weißen Haube und näht. 

„Herr Lencelet?“ fragte ich. 

„Er iſt noch nicht gekommen, Fräulein. Vielleicht finden Sie ihn drüben in 
der Klinik des Doktor Charcot.“ 

Und ſie zeigte mir das Haus rechts. Die Klinik war bereits von Kranken 
belagert, auch viele Studenten ſah man hineingehen. — Eine Schweſter mit röt- 
lichem Haar lief kokett aus dem Auditorium ins Krankenhaus und wieder zurück. 

„Ach, bitte Fräulein, iſt Herr Lencelet hier?“ 

„Nein, aber Sie finden ihn vielleicht im Sprechzimmer.“ 

Das ſah ja wie ein Verſteckſpiel aus. 

Es waren hier ſo viele Angeſtellte, daß man von keinem eine befriedigende 
Antwort erhalten konnte. Ich kehrte ins Sprechzimmer zurück. Noch einmal machte 
ich den Spaziergang in die Klinik und wieder zurück. 

Ich blieb noch eine halbe Stunde. Es war halb elf — wieviel verlorene Zeit, 
ich war ſo müde und alles umſonſt! Und dabei hatte die Rumänin geſchrieben, 
er ſei von neun Uhr an zu treffen. Wahrſcheinlich kam er nie vor elf. 

Verde ich noch ein zweites Mal hierher kommen müſſen? — Wie ſollte es 
anders ſein? — ich werde es tun müſſen. Und ein bitteres Gefühl ſtieg in meiner 
Seele auf. Eine ähnliche Stimmung werden alle diejenigen erleben, die in den 
Empfangszimmern der Reichen warten müſſen, und denen ſchließlich verkündet 
wird: heute wird nicht mehr empfangen. 

Dieſes Leben, dieſes Leben! Und warum müſſen wir dieſe Erniedrigung 
erdulden? Nur, weil wir einem guten Arzte keine 40 Franken zahlen können! — — 
Und ich fühle mich fo elend, daß mir nur ein guter Arzt helfen kann. 

20. Dezember. Geſtern ſchmerzte mein Kopf ſo ſehr, daß ich den ganzen 
Tag liegen blieb. Heute beeilte ich mich nicht; ich ſtand ſpät auf, und kam erſt gegen 
11 Uhr ins Hoſpital Galpétriére. Die Schweſter im Sprechzimmer ſtürzte mir 
vertraulich entgegen und ſagte vorwurfsvoll: 

„Sie waren gerade weggegangen, als Herr Lencelet kam. Sie hatten ſo 
lange gewartet, warum warteten Sie nicht noch länger?“ 

Noch länger! Sa, glauben dieſe Leute, daß wir nur für die Arzte da find? — 
wenn wir ſie ſprechen wollen, können wir uns zu Tode warten! 

Doch wohlweislich enthielt ich mich der Antwort, und fragte nur: „Iſt er 
jetzt hier?“ 

„Ja, Fräulein ... er ift hier, dort kommt er“, unb fie zeigte auf zwei Herren, 
bie auf den Hof binaustraten, der eine weiß gekleidet, der andere ſchwarz mit 
ſchwarzem Hut. Sie gingen an der Pforte vorbei und verſchwanden. 

„Wieder iſt er weggegangen, wieder ein Mißerfolg!“ dachte ich verzweifelt. 

Als die Schweſter mein verſtörtes Geſicht ſah, wurde ſie über die Maßen 
liebenswürdig und führte mich ſelbſt zum Ausgang. In dieſem Augenblick erſchienen 
die beiden Herren wieder auf dem Hofe. 


20 Eliſabeth Diatonoff 


„Sehn Sie, der Weiße ijt Herr Sencelet", und fie führte mich wie ein Kind 
zu ihm hin: „Da ijt er, Fräulein“, und fie ging, anfdeinenb febr zufrieden mit 
ſich ſelbſt. 

„, Mein Herr, ich habe einen Brief für Sie“, ſagte ich ſchüchtern und ſenkte 
meinen Kopf, als ich ihm den Brief reichte. 

„Dante, Fräulein“, ſagte er ernſt und las den Brief aufmerkſam bis zum 
Schluß. 

„Sie waren ſchon geſtern hier?“ 

„Ja, mein Herr.“ 

Er bat um Entſchuldigung. Ich meinerſeits ſagte aus Höflichkeit, daß es nicht 
nötig fei, da ihn die Schuld keineswegs treffe, wenn die Sprechſtunde falſch an- 
gegeben worden ſei. Er ging zur Tür der Klinik und ſah ins Auditorium hinein. 
Die Vorleſung war zu Ende, und nur die Stühle, die nach allen Richtungen ſtanden, 
zeigten, daß das Auditorium einige Minuten vorher noch voll von lebensfroh ſich 
betätigender Jugend geweſen war. 

„Treten Sie ein, Fräulein!“ 

Dieſes große Zimmer, an deſſen Wänden Bilder von kranken Frauen in den 
verſchiedenſten Stellungen hingen, mit bloßen Armen und Schultern, mit ge- 
öffneten Haaren, machte einen ſchrecklichen Eindruck auf mich. Er wies auf einen 
Stuhl am Schreibtiſch und ſetzte ſich dann ſelbſt. 

Ich zitterte am ganzen Körper und wagte nicht, ihn anzuſehen. Die Ein- 
drücke dieſes Zimmers erdrückten mich. 

„Von wo ſind Sie, ſind Sie ſchon längere Zeit in Paris? Womit beſchäftigen 
Sie ſich? Sind Sie lange krank?“ 

Dieſe Fragen konnte ich alle beantworten, als ſie jedoch „mediziniſcher“ 
wurden, fiel es mir ſchwer, ihn zu verſtehen. Meine Aufmerkſamkeit war fo ge- 
ſpannt, daß mein Herz fühlbar zu klopfen begann. 

„Wieviel Stunden arbeiten Sie am Tage?“ fragte er, nachdem er von den 
mediziniſchen Fragen Abſtand genommen hatte, da ich immer nur verneinend er- 
erwiderte, ich hätte keine Krankheit. Es war mir überaus ſchmerzlich zu ſagen, daß 
ich ſchon längſt nicht mehr geiſtig arbeiten könne, daß der entſetzliche Gedanke mich 
immer quäle: „Dieſer Zuſtand fei der Anfang völliger Umnachtung.“ 

Darauf hatten die Petersburger Berühmtheiten immer ein nachſichtiges 
Lächeln gehabt, wie für ein törichtes Kind: „Was für Einbildungen. Das iſt einfach 
ein Zuſtand großer Ermüdung! Ruhen Sie ſich zwei Wochen im Dorfe aus — 
und alles wird vorüber ſein“. 

Aber wenn mich doch dieſer Zuſtand zu einem ganz untauglichen Geſchöpfe 
macht! Dieſer Gedanke drängte ſich mir ſo auf, daß ich ihn laut ausſprach. 

„Nun, das ſoll Sie nicht weiter beunruhigen“, ſagte er in einem Ton, der 
keinen Widerſpruch duldete. „Sehen Sie, das Pariſer Leben iſt zu kompliziert. 
Hierher muß man als fertiger Menſch kommen, ſo zwiſchen fünfundzwanzig und 
achtundzwanzig.“ r- 

„Ich bin ſchon fünfundzwanzig Sabre alt.“ 

„Oh, bae ift ja ganz ausgeſchloſſen!“ ſagte er in aufrichtigem Erftaunen. 


Elifadeth Oiakonoff 21 


$d war zu niedergefchlagen, um auf dieſen Ausruf hin auch nur zu lächeln. 

„Ein kleiner Hund bleibt bis in ſein Alter hinein ein Hündchen!“ wollte 
ich ihm fagen — wußte es aber im Franzöſiſchen nicht auszudrücken. Daher be- 
ſchränkte ich mich darauf, müde zu erwidern: „Es iſt doch fo. Warum auch nicht?“ 

Ich bin zu ſtolz — und zu ſehr gewöhnt, vor den Menſchen meinen Zuſtand 
zu verbergen. — So erſchien mir ſelbſt das Gefprad mit dem Arzt wie eine Er- 
niedrigung, und ich litt bei dieſem Verhör wie eine Kranke, deren Wunden unter- 
ſucht werden. 

Endlich hörte er auf zu fragen und ſchwieg in Gedanken. 

„In Ihrem jetzigen Zuſtande wäre es das beſte, wenn Sie nach Haufe zu 
Ihren Eltern zurückkehrten.“ 

Oieje Worte ſchnitten mir ins Herz. 

„Nach Hauſe!“ ſchrie ich auf — und dann weiß ich nicht mehr, was mit mir 
geſchah. Vor den Augen tanzte es — in den Ohren ſummte es — und ich ſchluchzte 
auf, verzweifelt — unaufhaltſam. 

„So beruhigen Sie fid) doch! Seien Sie ruhig, ruhig —“ hörte ich un- 
deutlich — wie aus weiter Ferne — hinter der Wand. Alles, was mich noch den 
Augenblick vorher fo ſtark gemacht hatte, verſank — mein Stolz, meine Zurück- 
haltung — brachen wie ein Kartenhaus zuſammen gegenüber ſeinem einfachen, 
ſo natürlichen und für mich ſo ſchrecklichen Ratſchlag. 

Warum ſagte er mir das, warum erinnerte er mich daran? 

„Beruhigen Sie fic, beruhigen Sie ſich.“ Aber ich konnte nicht. 

Als ich endlich zu mir kam — war ich wie zerſchlagen. Ich ſchämte mich, 
daß ich mich hatte gehen laſſen und vor dieſem fremden Menſchen wie ein Kind 
geweint hatte. Dann war mir alles unſagbar gleichgültig. Mit einer mir fremden 
Stimme ſagte ich das übliche: „Ich bitte um Entſchuldigung, mein Herr.“ Dann 
drückte ich mich an die Lehne des Stuhles, bedeckte das Geſicht mit den Händen 
und ſchwieg — eine ſchreckliche Müdigkeit hatte mich überfallen. 

Er begann zu ſprechen: „Sehen Sie, Sie ſind krank — nicht phyſiſch, ſondern 
ſeeliſch. Sie dürfen nicht ſo allein leben. Sie müſſen jemand um ſich haben, der 
für Sie ſorgt, ber Sie zerſtreut. Sie müſſen Bekannte haben. Allerdings lebt man 
in Paris febr zurückgezogen.“ — Er ſtand eine Weile. „Ich werde Ihnen eine 
Medizin verſchreiben — aber ſehen Sie, bei Ihrer jetzigen Lebensweiſe ijt es febr 
ſchwer, geſund zu werden. Die Arzneien allein tun es nicht.“ 

Ich ſaß unbeweglich und ſchwieg. 
Er mochte die ganze Grauſamkeit ſeines Urteils fühlen und fügte nach einer 
Weile hinzu: „Wo wohnen Sie. Ich werde Ihnen jemanden ſchicken ... eine 
Dame, die für Ihre Unterhaltung ſorgen wird.“ 

Sch brauche niemand, wollte ich fagen. Mein ganzer Stolz empörte jid, 
aber die phyſiſche Ermattung war ſo ſtark, daß ich meine Finger nicht rühren konnte, 
geſchweige denn mich moraliſch dagegen auflehnen. 

And fo ſagte id mechaniſch: „36. Rue de l'Arbaléte." 

Er nahm ſein Notizbuch und ſchrieb die Adreſſe hinein. 

„Ich werde Ihnen eine Medizin geben. Es iſt ein Kampferſpiritus. Sie 


22 Elifabeth Siatonoff 


erhalten ihn in jeder Apotheke, ohne Rezept. Reiben Sie Ihren Körper damit ein, 
zweimal am Tage, morgens und abends, aber nicht ſelbſt, in keinem Fall.“ 

„Ich habe niemand, der es mir tun könnte. Sd) lebe in einer Penſion; außer 
mir ſind nur Studenten da. Mein Zimmer liegt hoch oben — die Wirtin lebt 
unten, ſie iſt den ganzen Tag beſchäftigt — und dann iſt es mir peinlich, mich mit 
fold) einer Bitte an fie zu wenden ...“ 

„Können Sie es nicht doch irgendwie einrichten? Es wäre notwendig! Dann 
ſind hier Pillen. Nehmen Sie ſie dreimal am Tage vor den Mahlzeiten. Wie 
ſteht es mit elektriſcher Behandlung? ſagt ſie Ihnen zu?“ 

„Ja, ich habe ſie in Petersburg verſucht.“ 

„Kommen Sie dreimal in der Woche zum Elektriſieren her. Ich werde Ihnen 
eine Karte geben. Aber eins behalten Sie immer im Auge: erwarten Sie nicht 
direkten Erfolg von der Medizin — ſie wird Ihnen vielleicht überhaupt nicht helfen.“ 

Er reichte mir das Rezept. Ich ſtand auf. Er geleitete mich zur Türe und fagte: 
„Kommen Sie von Zeit zu Zeit zu mir ... wir werden ein bißchen plaudern.“ 

Ich ging wie im Nebel nach Haufe. 

„Bei Fhrer jetzigen Lebensweiſe können Sie nicht geſund werden!“ — eine 
unklare Erkenntnis ſagt mir, es ſei Wahrheit. 

Das war alſo der Grund, daß die Seebäder, die Medizinen nicht geholfen 
hatten. Er hatte recht, er hatte recht! Aber es iſt nicht möglich, es iſt undenkbar, 
meine Lebensweiſe zu ändern, es ſei denn, daß ich ein Elternhaus ſchaffe — ich 
habe ja keins — ich habe auch ſonſt keinen Menſchen, mit dem ich leben könnte. 

And wenn ich allein bin, wer kümniert fid) um mich? Und dann die Haupt- 
ſache — läßt ſich aus meiner Seele die Erinnerung auslöſchen? Wie ich auch gegen 
die Umwelt kämpfte, in der ich groß geworden bin, die Tatſache blieb: ich bin ein 
Menſch dieſer Sphäre, und meine Geele ift vergiftet! tni 

So ift das Urteil einfach und klar: Ich kann nicht gefunden. So muß id 
denn unter dem Druck bieles Zuſtandes weiter leben. 

Laut hinausſchreien wollte ich es: Menſchen, in eurer Mitte geht ein Menſch 
zugrunde, er braucht fo wenig, fo wenig ... nur ein wenig Teilnahme, nur einen 
Funken Liebe, Zärtlichkeit ... Gebt fie mir, und ich werde aufleben! Sch werde 
wieder imſtande ſein, zu arbeiten! 

8 weiß, mein Stolz verbietet es mir, den Menſchen zu zeigen, wie ich leide — 
aus dem Grunde bin ich auch während meiner Studienzeit ſo einſam geweſen. 
Ja, die Menſchen werden es nicht einmal verſtehen, worum ich ſie bitte So 
hat auch niemand mir etwas zu geben. — 

Ich habe ein Gillett für „Salpêtrière“ bekommen. Die Schweſter und der 
Wärter wahren nicht einmal den Schein der Unbeſtechlichkeit, obwohl an allen 
Wänden bie Aufſchrift ſteht: Es ijt ben Bedienſteten aufs ſtrengſte unterſagt, von 
den Kranken Geld oder Geſchenke anzunehmen. 

Nach dem Elektriſieren ſteht die Schweſter an der Tür, und die ſilbernen und 
kupfernen Münzen fallen in Mengen in ihre Schürze. Niemand entgeht ihr — 
mich verfolgt ſie ſtets mit einem langen, zornigen Blick, — denn natürlich gebe ich 
grundſätzlich nichts. 


Elifabeth Diatonoff 23 


25. Dezember. Es iſt Weihnachtsabend. Zwei Tage werden keine 
Vorleſungen fein. Geſtern abend ging ich auf die Straße ... Sd wählte mit Ab- 
ſicht die nächſte von uns, wo die Arbeiter leben — rue Mouffetard. 

Das Weihnachtsfeſt wird hier mit derſelben Lebhaftigkeit begangen wie bei 
uns das Oſterfeſt. Wenn die Mitternachtsmeſſe vorbei iſt, wird in den Häuſern ge- 
ſchlemmt, und die heißen Würſte dampfen. 

Es war zehn Uhr abends. Die Straße, ſchmal wie ein Korridor, war voller 
Menſchen. Alle Läden waren geöffnet und ſtark beleuchtet, überall hörte man Ge- 
ſang, Lärm, Muſik, Geſchrei, Gelächter. Und ſo iſt es in dieſer Nacht in allen 
Straßen von Paris. 

Welch ein Unterſchied zwiſchen der bunten Pariſer Weihnachtsnacht — und 
unſerer in Rußland! Der Gedanke fliegt weit, weit dahin, zu den unendlichen 
Schneeflächen der Heimat, auf denen Städte, Dörfer ganz verloren, vereinſamt 
auftauchen. Wieviel Schönheit liegt in dieſen Dörfern bei Mondſchein, wie phan- 
taſtiſch wirken die Wälder. 

Durch die Stille der Winternacht ertönen Glocken, gleichmäßig ziehen ſie 
weit übers Land und entſprechen ſo unendlich tief der Stimmung dieſer Land- 
ſchaft. Geheimnisvolle, myſtiſche, wunderbare nordiſche Nacht! Wieviel Poeſie 
liegt in ihr, wieviel eigentümliche Melancholie — man möchte über fid) ſelbſt hin- 
ausgehen, fic) ſelbſt entfliehen und wegfliegen in ein Ungekanntes, — nur hinaus 
aus dieſer Welt, hinaus aus dem Raum, aus der Zeit. — 

Aber ich bin hier, hier. Der Schmerz drückte mir das Herz zuſammen, als 
ich aus dem ausgelaſſenen Geſchrei und der lärmvollen Luſtigkeit in mein ein- 
james, kaltes Zimmer kam. — — —— — — — — — — — — — — — — 

31. Dezember. Noch einige Stunden — und bie Menſchheit geht einem 
neuen Jahrhundert entgegen. 

Wenn man darüber nachdenkt, welches Meer bedruckten und beſchriebenen 
Papiers das neunzehnte Jahrhundert feinem Nachfolger aus dieſem Anlaß hinter- 
läßt ... Die Feder fällt mir aus der Hand — ich kann nicht ſchreiben .. In allen 
Teilen der Welt ſind Menſchen, die es erwarten, ſie ſchreiben, ſie reden darüber, 
ſie gießen Blei — jeder möchte wenigſtens ein Zipfelchen des Vorhangs lüften, 
der die Zukunft birgt, und einen Blick hineintun, diesmal nicht nur in ein neues 
Fahr, fondern ins neue Jahrhundert. 

Und die Phantaſie hat reichlichen Stoff. Noch kein vorangegangenes Beit- 
alter ift unter fo ſpannenden Umftänden ins Leben getreten. Unſere Zeit ſteht im 
Zeichen des Fortſchrittes, und wozu früher Jahre, Jahrzehnte erforderlich waren, 
dafür genügen jetzt Monate. Nie hat ſich der menſchliche Geiſt mit ſolch einer 
Kraft betätigt wie jetzt, nie umfaßte er in dem Grade alle Seiten des Lebens, 
nie drang er ſo tief in die feinſten Verzweigungen des Lebens ein! Es ſcheint 
faft, als ob die Menſchheit ihre Kindheit hinter ſich gelaſſen hätte und aus dem un- 
bewußten Zuſtand des Wilden in das Zünglingsalter eingebe, im Bewußtſein 
ihrer Kraft — mit hochklopfendem Herzen. Der Jüngling erkennt noch nicht völlig, 
was er tun foll, aber feinem Bewußtſein liegt das Tieriſche, jene wilden, ungezügel- 
ten Inſtinkte, die in der Kindheit ſo heftig zum Ausbruch kommen, fern. Er ſchämt 


24 Elifabeth Oiakonoff 


fid) diefer Außerungen, fein Gewiſſen wird garter, es tauchen moraliſche Fragen 
in feiner Geele auf. | 

Wir treten ins zwanzigſte Jahrhundert, mit Tolſtoi und Gbjen. Mögen unfere 
Nachkommen daran denken! 

Nach hundert Jahren werden nicht nur wir tot fein, ſondern auch die Rin- 
der, die jetzt geboren werden, auf die wir unſere Hoffnungen, ja unſere Zukunft 
ſetzen. 

Es wird auch meine Nichte ſterben, von deren Geburt mir Wallja neulich 
ſchrieb, und die an der Schwelle des zwanzigſten Jahrhunderts den Namen Nadeſchda 
[Nadeſchda bedeutet auf ruſſiſch: die Hoffnung] erhielt. 

Auch fie wird das Wort „Einundzwanzigſtes Jahrhundert“ nicht ausſprechen. 

And trotzdem leben wir und rechnen nicht mit dem Tode, — und wenn er 
auftritt — überraſcht er uns. Der Tod — eine ſchreckliche, geheimnisvolle, ewig 
neue Macht, wie die Liebe. Nicht umſonſt vereinigt die menſchliche Phantaſie ſo 
gern die Liebe und das Sterben. 

In der Liebe liegt ſchöpferiſche Kraft, ſie formt die Zukunft — die Kinder 

Die Liebe wird häufig allegoriſch durch Frauen in den verſchiedenſten Stel- 
lungen dargeſtellt. Ich würde ein einfaches Bild entwerfen — nur Kinder, eine 
Menge Kinder! Zn ihnen liegt ja die Zukunft der Menſchheit, die das Leben über- 
haupt zum Gegenwartswerte macht ... Auf der Schwelle bes zwanzigſten Jahr- 
hunderts fliegen meine Gedanken der Heimat zu 

5. ganuar 1901. Wir hatten eben die Mahlzeit beendet, als die Wirtin 
mich auf den Korridor rief, eine Dame mün[de mich zu ſprechen. Eine ältere Dame 
in einem beſcheidenen ſchwarzen Kleid und ebenſolchem Hute erhob ſich vom Stuhl: 
„Ich komme von Herrn Lencelet.“ „Wollen Sie mir, bitte, folgen!“ Und wir 
ſtiegen in den dritten Stock. Ich heizte den Ofen, zündete die Lampe an und be- 
gann den Tee zu bereiten, wobei ich nicht ohne Neugier die Fremde betrachtete. 

Dichtes, nur leicht angegrautes Haar umgab ein friſches, ſympathiſches Ge- 
ſicht mit lebhaften blauen Augen. Ihrem Äußeren nach konnte man fie nicht für 
allzu bemittelt halten — ſicherlich war ſie Witwe. 

Sie begann fid) ſogleich ungezwungen mit mir zu unterhalten: „Herr Sence- 
let hat mich geſchickt. Er bittet mich häufig darum, ſeine Kranken zu beſuchen. 
So fagte er mir auch jetzt: ‚Marie, ich habe eine Patientin — ein junges Mädchen 
Gehen Sie zu ihr hin.“ So bin ich denn gekommen.“ 

Sie fab mich liebevoll an — auf ihren Zügen lag ein kindlich -vertrauliches 
Lächeln. Unwillkürlich lächelte ich auch. 

„Sie find febr gut —“ 

„Ach, laſſen Sie das. Ich verſtehe vollkommen, wie bitter es iſt, in der Fremde 
krank zu fein. Seien Sie nur mutig und geben Sie ſich nicht Ihren trüben Ge- 
danken hin. Sind Sie Studentin?“ 

„da.“ 

„Kennen Sie die Bibliothek St. Genevidve?“ 

„Ja, gewiß.“ 

„Ich habe dort oft zu tun.“ 


Eliſabeth Diatonoff 25 


„Womit beſchäftigen Sie jid) ?^ fragte ich vorſichtig mit einigem Erſtaunen, 
da ſie ihrem Außeren nach ſo gar nicht wie eine Studentin oder Schriftſtellerin 
ausſah; andere Frauen beſuchen aber kaum die St. Geneviève. 

„Ich brauche Bücher — Nachſchlagebücher. Ich beſchäftige mich mit der 
Dahomeſprache.“ 

„Zu welchem Zweck?“ fragte ich mit erhöhtem Erſtaunen. 

„Sehen Sie, wir hatten hier auf der Ausſtellung vor einiger Zeit eine Truppe 
kleiner Dahomeneger. Ich lernte fie kennen und beſuchte fie im Verlauf von feds 
Monaten täglich. Das war ſehr intereſſant! Zuerſt verſtändigten wir uns nur 
mit Zeichen. Dann lehrten ſie mich einige Worte; ſo bekam ich Luſt, die Sprache 
zu erlernen, ging ſelbſt in die Bibliothek St. Geneviève, bat um Wörterbücher, 
eine Grammatik ... fo habe ich fie denn fo weit erlernt, daß ich die Kinder ver- 
ſtehen konnte. Ich beſuchte ſie häufig und ſaß bei ihnen. Frauen und Kinder kamen 
dann zu mir; ich lehrte fie nähen, häkeln ... erzählte ihnen bibliſche Geſchichten. 
O wie fie mich liebten! Sie können ſich nicht vorſtellen, wie ſchwer uns der Ab- 
ſchied fiel! Sie baten mich, nach Afrika zu kommen, und verſprachen mir dort das 
beſte Auskommen.“ 

Mit großer Teilnahme folgte ich der Erzählung. Was fie ſprach, war fo ein- 
fach — und doch ſo eigenartig. Wie viele Menſchen waren da auf der Ausſtellung 
geweſen — und kaum einer hatte ſich gefunden, der in den Negern nicht nur ein 
Ausſtellungsobjekt (ab, ſondern ein Geſchöpf mit lebendigen Zntereſſen. 

„Gott hat es den Weiſen verborgen und den Unmündigen offenbart“, dieſes 
Wort fiel mir ein. Dieſe einfache Frau gab den Wilden unbewußt jenes Licht der 
Ziviliſation, das ſonſt nur mit Feuer und Schwert — mit kühner Siegermiene in 
ihr Land getragen wird. Und ich empfand plötzlich lebhaft in dieſer Frau die ganze 
unmittelbare Güte und Herzlichkeit, wie ſie oft klugen, gelehrten Menſchen fehlt — 
und es wurde mir leichter, fröhlicher in der Seele. 

„Ja, ſehen Sie,“ fuhr ſie fort, „es ſind recht liebe Kerlchen, dieſe kleinen 
Neger. Ich habe mich an ſie ſehr gewöhnt und bin traurig, daß ſie weggereiſt ſind.“ 
Sie ſeufzte und ſchwieg. 

„Warum reifen Sie denn nicht hin?“ ſcherzte ich. 

„Ach, wo denken Sie hin! Das ift unmöglich — fold) eine Reife ... unb 
teuer iſt ſie, und dann fürchte ich mich vor dem Meer!“ 

Anterdeſſen kochte das Waſſer in der Teekanne auf, und ich bot ihr Tee an. 

„Ah, wie dieſer ruſſiſche Tee ſchmeckt! Unſer franzöſiſcher läßt ſich damit nicht 
vergleichen. Aber er iſt ſo teuer in Paris — eigentlich kaum zu erſchwingen.“ 

„Leben Sie hier allein?“ wagte ich endlich zu fragen, obgleich es mir pein- 
lich war, ſie auszuforſchen. 

O nein, id habe eine Tochter von vierzehn Jahren. Ein ſehr fröhliches, 
gutes Kind — ſie geht noch zur Schule. Sie heißt Jeanne. Wiſſen Sie, ich gebe 
ihr eine religiöfe Erziehung. Das iſt ein Halt für die Frauen.“ 

Von jeher war mir dieſe Auffaſſung von Religion zuwider. Meine Mutter, 
die ſelbſt nichts glaubte, hielt mit einigem Zynismus an dieſem Standpunkt feſt. 
Sie ſchickte uns Töchter regelmäßig zur Kirche, während ſie den Knaben völlige 


26 Elifadeth Diatonoff 


Freiheit ließ. Aber bieje Frau vor mir wirkte fo naiv in ihrer Güte, daß ich nur 
fragte: 

„Warum denn?“ 

„Weil das Leben der Frauen ſchwerer it; fie brauchen eine Stütze, einen 
Halt, einen Croft. Das finden fie alles in der Religion. Jeanne bat zum Glüd 
einen gleichmäßigen Charakter, ſie iſt immer mit allem zufrieden. Wir leben in 
zwei Zimmern. Das eine ijt Schlafzimmer, das andere Salon ... Nun babe ich 
aber lange genug bei Ihnen geſeſſen. Es iſt bald zehn.“ 

And ſie erhob ſich. „Erlauben Sie, daß ich Ihnen meine Adreſſe aufſchreibe. 
Wenn Sie etwas brauchen, ſchreiben Sie. Zetzt ijt es Zeit, zu Bett zu gehen... 
Gute Nacht, liebes Fräulein.“ 

„Gute Nacht!“ — Der Beſuch der Dame hat mir wohlgetan. — 

7. Januar. Heute traf ich in der Vorleſung im Collège de France unter 
all den vielen Studenten die ſchöne Sorel. Dabei fiel mir ein, es war vor etwa 
vier Jahren, ich ſtudierte damals das letzte Jahr in Petersburg, wie Sorel in das 
Auditorium trat, — es war, als ob plötzlich ein ſtarker Sonnenſtrahl hineinfiele. 
Wir machten damals Bekanntſchaft. Dann ſchloß ſie ihre Studien früher ab als 
ich, und ich verlor fie aus den Augen; neulich erfuhr ich zufällig, daß fie den Journa- 
liſten Sorel geheiratet hätte. Jetzt trafen wir uns hier. 

Sie hatte auch die Abſicht, zu ſtudieren. „Aber vorausſichtlich erft im näch⸗ 
ften Jahr. Jetzt babe ich ein Kind, nähre es ſelbſt und babe keine Zeit. Kommen Sie 
doch zu uns; hier iſt meine Adreſſe.“ Und Frau Sorel ſchrieb ſie auf ihre Viſitenkarte. 

Die Vorleſung begann; wir ſaßen weit voneinander entfernt. Ich freute mich 
über dieſe Begegnung, ein Menſch mehr aus der Heimat. 

12. ganuar. Wie öde fid) die Zeit hinzieht! Die Tage gehen nicht dahin, 
fie ſchleppen fih dahin — ſo ſchrecklich grau, trübe. gd will nirgendwohin; all- 
mählich höre ich auf, die Vorleſungen zu beſuchen. Ich finde die Vorleſungen des 
erſten Kurſus unerträglich, alle intereſſanten Vorleſungen werden im letzten 
Studienjahr geleſen ... Die Studenten find wie Jungens — kleine, reinliche Bour- 
geois, unendlich praktiſch (don von der Schulbank an... Sch habe noch keinen ein- 
zigen näher kennen gelernt .. 

Elektriſiert werde ich nicht mehr drei-, ſondern nur noch zweimal in der Woche, 
am Mittwoch und Freitag; am Montag lieft zu der Stunde gerade Lemonnier 
Kunſtgeſchichte. Ich höre ihn regelmäßig, ich liebe die Kunſt über alles. 

Die Kunſt iſt mir unbedingt notwendig, ſie iſt wie ein Teil meines Weſens. 
And dabei bin ich für die Kunſt ſehr wenig vorgebildet, wie die meiſten Ruſſen. 
Irgend etwas treibt mich inſtinktiv zu antiken Kunſtgegenſtänden, Gravuren, 
Büchern, und lange kann ich auf ein altes italieniſches Bild ſehen. Sch liebe die 
holländiſche, die flämiſche Kunſt; ich liebe gerade dieſe Bilder mit ihren einfachen, 
alltäglichen Sujets — liebe es, mit ihnen weit in die Vergangenheit zurückzu- 
gehen — es iſt dann, als ſtänden die Menſchen lebendig vor einem. 

Zehn Vorleſungen wiegen ein einmaliges Verſenken in ſolch ein 
altes Dokument der Vergangenheit nicht auf. Und was iſt die Hauptſache dabei? 
Doch vor allem das Vermögen, fid) in all biejen verſchwundenen Menſchen wieder 


Clifadeth Olatonoff 27 


zufinden — dann wird bie ganze Vergangenheit verſtändlich und auch der Grund, 
warum ſie lebten, dachten, handelten. 

In den Vorleſungen von Lemonnier werden viele Photographien, Gravüren, 
Bücher gezeigt; ich bin nicht imſtande, mich dieſer Freude zu entziehen. Ernſt 
arbeiten kann ich ja doch nicht. Mir fehlt die Kraft dazu. 

15. Sanuar. Um mich etwas zu zerſtreuen, ging ich zur Corel. Sie lebt 
nicht weit vom Obſervatoire. Es iſt ein ſtiller, abgelegener Stadtteil in der Nähe 
des Jardin Luxembourg. Sie ſelbſt öffnete die Tür: „Ich bin febr, febr froh, 
Sie zu ſehen“, ſagte ſie und führte mich in einen hübſch eingerichteten kleinen 
Salon. „Setzen Sie ſich. Mein Mann iſt nicht zu Hauſe, ich bin allein.“ 

ich blickte mit Neugier umher. Zum erſtenmal war ich in einer Pariſer 
Wohnung. Große Fenſter, dicht verhängt mit Spitzengardinen, weiche Seſſel, über- 
all dicke Teppiche, wohl als Schutz gegen die Winterkälte — — alles das machte 
einen ſehr angenehmen, wohnlichen Eindruck. Und die Sorel in einer eleganten 
Pariſer Toilette ſchien mir noch ſchöner als gewöhnlich. 

Sie legte Holz in den Kamin und forderte mich auf, am Feuer Platz zu 
nehmen. 

„Wie geht es Ihnen? Arbeiten Sie viel? Gd) babe jetzt gar keine Zeit, da 
ich mein Kind ſtille.“ 

„Wie alt iff Ihre Kleine?“ fragte ich. 

„Fünf Monate. Sie ſchläft gerade, und ich kann ſie Ihnen nicht zeigen. 
Ach, wie ich müde bin! Heute nacht war ſie krank und weinte, ich habe bis ſechs 
Ahr nicht gefchlafen.“ 

Sie reckte ſich müde und warf ſich im Lehnſtuhl zurück, aber ihr Geſicht 
ſtrahlte in reinem, ungetrübtem Glück. Und fie begann mir zu erzählen, wie fie 
ihren Mann kennen gelernt und geheiratet hatte. 

Dieſes Ehepaar hatte ſich aus zwei verſchiedenen Gegenden Europas an der 
Pariſer Univerſität zuſammengefunden. Beide gleich alt, beide Südländer, beide 
ſchön, talentvoll, ſchriftſtelleriſch veranlagt, — beide Sozialiſten. Es ſchien, als 
habe das Schickſal, das ſo viele unglückliche Ehen zuſtande bringt, der Menſchheit 
ein Geſchenk machen wollen, indem es hier Mann und Frau verband, die über 
eine Fülle von Vorzügen verfügten, angefangen mit dem Äußeren. Wie glücklich 
ſind die Menſchen, die ſolch ein Geſchenk ſein dürfen! 

Sie ſprach, die Zeit flog, ich ſaß gegen zwei Stunden bei ibt ... Und 
diefe ganze Zeit über fragte Frau Sorel nicht ein mal nach mir, wie ich lebe, 
was ich treibe ..., als ob fie allein ein Leben hätte und ich keins. 

3a, habe ich denn wirklich ein Leben? Sie iſt fo erfüllt von ihrem eigenen 
Glück, was kümmert fie fremdes Leid. 

20. Januar. Mein Zuſtand iſt unerträglich, ich werde in die Klinik gehen. 

Der Pförtner hielt mich wie ein Cerberus an: „Wen wünſchen Sie?“ — 
„Monſieur Lencelet!“ — „Gebäude C, erſtes Stockwerk, im Saal rechts.“ 

8d ging in den dritten Hof und befand mich zu meinem Erftaunen in einem 
Zelt von blaugrauer Farbe. Die weißen, hohen Betten mit den vorgezogenen 
Vorhängen waren alle beſetzt. Es war erſchütternd, auf alle die kranken Frauen 


28 | Eilfabeth Siatonoff 


zu ſehen. Hübſche und häßliche, junge und alte — aber alle des Verſtandes be- 
raubt — ſaßen ſie umher, laſen, ſtrickten, flüſterten, oder lagen unbeweglich auf 
ihren Betten und betrachteten ſtumpfſinnig die Dede. 

Die Vorſteherin in einem ſchlichten Kleide und einer Tüllhaube auf dem 
Kopfe kam mit leiſen Schritten auf mich zu. 

„Warten Sie ein wenig, Herr Lencelet wird gleich kommen.“ 

ich fette mich an den Tiſch und öffnete die Zeitung. Die Umgebung und 
die unglücklichen Kranken wirkten ſo niederdrückend, daß ich meine Augen ſtarr 
auf die Zeitung richtete. Als ich ſchließlich aufſchaute, fab ich, wie die Vorſteherin 
mit dem Arzt auf und ab ging. Sie gingen von Bett zu Bett und näherten ſich 
dann dem Tiſch an der Tür. Abgebrochene Sätze drangen bis zu mir. 

Im erſten Bett, gleich an der Tür, lag eine ältere Frau. Als ſie den Arzt 
erblickte, begann ſie bitterlich zu weinen und ſchien ſich zu beklagen. Umſonſt ſuchte 
ich etwas von ihren Worten zu erhaſchen. Nur das abgebrochene Schluchzen drang 
bis zu mir. Er ſagte ihr irgend etwas, die Kranke fchüttelte verneinend den Kopf 
und weinte nur noch mehr. 

Es fiel mir ein, wie eine Bekannte ſich über die Grobheit der hieſigen Arzte 
geäußert hatte. Es wurde mir bange; ich fürchtete, es anſehen zu müffen, wenn er, 
durch die Klagen der Frau ermüdet, fie abweiſen würde. Ich fühlte, daß, wenn er 
es tun würde, ich weggehen und nie mehr wiederkommen würde. — Doch nein... 
die Frau ſchluchzte, und er ſtand vor ihr und ſprach leiſe und zärtlich auf ſie ein. 

„Beruhigen Sie ſich ... hörte ich ihn fagen. Auf feinen Zuſpruch beruhigte 
ſich die Kranke wirklich; ſie hob den Kopf und trocknete die Tränen. 

Er ſagte der Vorſteherin einige Worte und trat dann zu mir. 

„Guten Tag, mein Fräulein. Wie geht es? Zch bin gleich zu Ihrer Ber- 
fügung. Warten Sie nur eine Minute.“ 

Die Vorſteherin legte einen ganzen Stoß Zettel auf den Tiſch, und er be- 
gann ſie raſch zu unterſchreiben. 

„Kommen Sie mit mir!“ 

Wir gingen auf den Hof hinaus. Es war derſelbe, wo ich ihn zum erſtenmal 
geſehen hatte. Er ging raſch in die Klinik, kam aber dann gleich zurück. „Das 
Zimmer iſt beſetzt. Kommen Sie in ein anderes.“ 

Sn demſelben Haufe war auf ber Qtüdjeite eine Tür mit der Aufſchrift: 
„Cabinet de médecine“. 

Er ſah hinein. „Hier iſt es frei. Bitte, treten Sie ein.“ Der Raum, etwas 
dunkel, war einfach, aber behaglich eingerichtet. Der Kamin war angeheizt. Die 
ſchwarze Uhr tickte ihr eintöniges Lied. 

„Es geht Ihnen alſo nicht beſſer, mein Fräulein?“ 

„Nein, Herr Doktor“, ſagte ich leiſe. 

„Haben Sie ſich elektriſieren laſſen? Wenn Sie wollen, gebe ich Ihnen ein 
Billett fürs Hoſpital Brocat. Das wird Ihnen näher und bequemer ſein.“ 

„Danke.“ 

„Der Zuſtand iſt alſo immer derſelbe? Sie arbeiten nicht, beſuchen keine 
Vorleſungen?“ 


Clifadeth Olatonoff 29 


„Nein, ich bin nicht imſtande, zu arbeiten. Jd habe meine geiſtigen Fähig- 
keiten völlig eingebüßt.“ 

„Ach, das ift Anfinn“, ſagte er in lebhaften, energiſchem Tone. „Das haben 
Sie fid einfach eingeredet. Dieſe Gedanken miiffen. Sie durchaus aufgeben.“ 

„Aber wenn ich doch nicht kann ... dann brauche ich auch nicht zu leben.“ 

„Ich habe erwartet, daß Sie bas fagen würden. Ihr Slawen ſeid febr fen- 
ſibel, myſtiſch, zu exaltiert. Warum denken Sie an Selbſtmord? Sie ſind ja gar 
nicht hoffnungslos krank. Sie müjjen fid) nur zuſammennehmen — das ift alles. 
Um in dieſer Welt zu leben — muß man ein Ziel haben. Was für ein Ziel 
haben Sie?“ 

„Was für ein Ziel?“ ſagte ich — und mechaniſch, wie auswendig gelernt, 
fügte ich hinzu: „Ich ſtudiere Sura, um der Frau neue Wege zu eröffnen — um 
ihr die rechtliche Gleichſtellung mit dem Manne zu erkämpfen. Sie ſoll Zugang 
zur Anwaltſchaft haben.“ 

„Sie wollen Ihr Leben der Verteidigung der Intereſſen der Frau widmen? 
Gut. Dann ſammeln Sie eben auch all Ihre Kräfte darauf, überwinden Sie ſich, 
nehmen Sie ſich zuſammen, um auch wirklich etwas zu leiſten.“ 

„Ich kann nicht, ich kann nicht — dieſe unausgeſetzten Kopfſchmerzen ver- 
nichten mich ... ch will lieber fterben.“ 

Meine Stimme zitterte und brach ab. Wieder ergriff mich die entſetzliche 
Erinnerung, und ſchluchzend ſagte ich: Wenn ... Sie ... im Leben eine große 
Schuld auf jid) geladen hätten ... wenn Sie das Leben eines anderen Menſchen 
zerbrochen hätten ... was dann?“ 

„Was haben Sie getan? Was für eine Schuld haben Sie begangen? Sagen 
Sie es mir. Sie können ſich mir als Arzt ruhig anvertrauen.“ 

„Fragen Sie mich nicht danach, Herr Doktor. Ich werde es Ihnen nicht 
fagen ... ich kann es nicht..“ 

„Man muß ſeinem Arzte alles ſagen.“ 

Trotz meiner Erregung fühlte ich, daß in ſeinem Ton etwas Kaltes lag; mit 
dieſer Frage wollte er wie mit einem anatomiſchen Meſſer meine Seele öffnen. 

„Ah! nein! nein!“ 

Und ganz überwältigt von meinen ſchweren Erinnerungen brach ich zu- 
ſammen; ich ſchluchzte auf, und die Vergangenheit ſtand vor meiner Seele — 
als wäre alles geſtern geweſen. 

„Sagen Sie es, ſagen Sie es!“ wiederholte er zäh. 

Mir ſchwindelte. 

„Nun ja, eine Schuld, und mit ihr iſt das Leben meiner Schweſter erkauft! 
Hören Sie, Herr Doktor ... Es war vor feds Jahren. Wir waren damals jung, 
faſt Kinder ... Wir find Waiſen, wir haben keinen Vater; meine Mutter, eine 
Defpotin, hielt uns febr kurz — wir kannten keinen Herrenverkehr. Er unter- 
richtete meine Brüder und verliebte ſich in meine jüngere Schweſter. — Sie liebte 
ihn anfangs nicht ... Da fpielte er ein ganzes Drama, er geſtand mir feine Liebe, 
zugleich ſchrieb er meiner Schweſter, daß er gelogen hätte, daß er fic ſelbſt zu be- 
trügen ſuchte — aus Verzweiflung — er verliere den Verſtand aus Liebe zu ihr 


30 Elifadeth Diatonoff 


Ich war damals ganz erfüllt von der Zdee, bie Frauenkurſe zu beſuchen; ich las, 
arbeitete den gangen Tag und wartete nur darauf, mündig zu werden, um nach 
Petersburg zu reiſen. Auch meine Schweſter wollte ſtudieren, ſie war zwei Jahre 
jünger als ich. Er verſtellte ſich, ſuchte Teilnahme zu zeigen, verſprach meiner 
Schweſter, ihr das Studium zu gewähren, wenn fie nur einwilligte, ihn zu þeira- 
ten... ch glaubte, daß er meiner Schweſter wirklich helfen könnte, und ſuchte 
ihr zur Heirat zuzureden, ermöglichte ihr ſelbſt eine Rorrefpondeng mit ihm — 
meine Mutter wollte aus Herrſchſucht, Eigenſinn nicht einwilligen. Sie ſuchte 
unſern Willen überall zu unterdrücken. Und dann heiratete ihn meine Schweſter. 
Gleich nach der Hochzeit änderte er feine Taktik. Jetzt brauchte et fih ja nicht 
mehr zu verſtellen. Schon von den erſten Tagen an war meine Schweſter in 
Umſtänden. Sie ift febr charakterlos. Er begann fie zu überreden, daß fie an die 
Kurſe nicht denken ſolle — ich ſei eine Phantaſtin und lerne ganz umſonſt. An- 
ſtatt in Petersburg eine Stelle zu ſuchen, nahm er eine in N. an. So verlief das 
Leben meiner Schweſter im engen häuslichen Kreiſe. Nun ſagt ſie es mir ja nicht 
geradezu, daß fie mit ihm unglücklich ift, aber fie hört auch nicht auf, mir vorzu- 
werfen, daß ich die Veranlaſſung dieſer Ehe geweſen bin. Und war ich damals 
nicht naiv, unerfahren, wie ſie ſelbſt? Kannte ich die Männer denn beſſer als ſie? 
Sch hatte keine Romane erlebt — ich dachte ausſchließlich an das Studium ...“ 

Ich erſtickte unter Schluchzen. Es war mir, als ob mein Herz verblute in 
dieſem Schmerze. — Wenn ich doch nur ſterben könnte! 

Es war ganz (till im Zimmer — nur die Uhr tickte gleichmäßig. 

Dann begann er zu ſprechen: „And die Erkenntnis dieſer Schuld quält Sie 
jo febr? ... Sie haben doch unabſichtlich gefehlt. Sie (agen ja ſelbſt, daß Sie un- 
erfahren waren und wenig Menſchen kannten. Und ut Ihre Schweſter wirklich 
ſo unglücklich, wie es Ihnen ſcheint? Hat ſie Kinder?“ 

„Ja, zwei Kinder.“ 

„Dann bat fie doch einen Troſt ... Und wenn fie wirklich fo febr unglücklich 
wäre, würde ſie doch ihren Mann verlaſſen. Wenn ſie mit ihm lebt, ſo hat ſie doch 
auch Berührungspunkte mit ihm. Und dann hat ſie auch kein ſo ſicheres Streben 
zur Wiſſenſchaft gehabt wie Sie.“ 

„Das iſt wahr; ſie ſprach immer mehr, als ſie tat.“ 

„Nun ſehen Sie, dann find Sie nicht fo ſchuldig, wie Sie glauben. Und 
wenn Sie Ihnen das Zuſtandekommen dieſer Ehe vorwirft, wo ſie darum weiß, 
wie tief Sie leiden, wie Sie fich quälen in der Einſicht Fhres Vergehens — dann 
ijt das einfach grauſam von ihr ... Sch werde noch mehr (agen: undankbar. Den 
Schwachen ſchlägt man nicht.“ 

Er ſprach feſt, mit Überzeugung, und der Ton feiner Stimme bewirkte, daß 
ich ruhiger wurde. Er aber fuhr fort: „Sie müſſen jetzt Ihre ganze Kraft einſetzen, 
um etwas für andere zu tun. Verſuchen Sie Ihre Kräfte wiederherzuſtellen, um 
mit Nutzen arbeiten zu können..“ 

Dann ſchwieg er. Es ſchien mir, als ob er flüchtig nach der Uhr blickte. 
Ich ſtand auf. Es war zwölf Uhr, für den Franzoſen die heilige Zeit des 
„Dejeuners“. 


Elifabeth Diatonoff 31 


„Ich wiederhole: Beunruhigen und quälen Sie fid) nicht. — Das ift unnütz 
und ganz zwecklos ... Sch habe es Ihnen ſchon gejagt, daß Sie nicht fo ſchuldig 
ſind, wie Sie glauben.“ 

Er führte mich bis zum Tor und fügte noch beim Abſchied hinzu: „Wenn Sie 
etwas brauchen, wenden Sie fid an mich. Sch ſtehe immer zu Ihren Dienſten.“ 

8. Februar. Wenn man mich fragte, wozu ich lebe und wie ich lebe, 
ich wüßte keine Antwort darauf. 

Bedeutet denn das leben? 

Seine Exiſtenz ſo mühevoll, ſo langſam zu ſchleppen wie eine gebeugte 
Greiſin ... Ich bin noch fo jung und habe doch kein Leben, keine Kraft in mir. — 
Der Schmerz erdrückt mein Herz, ich kenne nur eins: den Widerwillen vor allem. 
Vor mir liegt Nietzſche: „Alſo ſprach Zarathuſtra.“ Ich kann nicht eine Zeile leſen, 
meine Arme hängen ſchlaff herab, das Buch fällt ... meine Krankheit heißt: 
moraliſche progreſſive Paralyſe. 

21. Februar. Meine Großmutter ift geftorben ... Ich ſchreibe mit 
Mühe. Dieſer Todesfall bat mich endgültig gebrochen ... Meine Großmutter — 
tot. Sie iſt ſchon im Grabe, und ich habe die Todesnachricht erſt geſtern abend 
erhalten. Ich ging an der Poſtabteilung Claude Bernard vorbei, ging hinein und 
fragte: Sind Briefe da? 

Sie nahmen einen Brief, einen zweiten, einen dritten. Ich bin nicht ver- 
wöhnt mit Nachrichten und freute mich über ſo viele Briefe. Einer von ihnen hatte 
einen Trauerrand. Wer von ihnen war geſtorben? dachte ich gleichgültig. Wie 
eigentümlich, mir es auf diefe Weiſe mitzuteilen, anſtatt in einer Depeſche. Ich 
öffnete den Brief und las — 

Meine Großmutter iſt geftorben ... 

Meine teure Großmutter, die ich fo geliebt, fie iſt nicht mehr! 

Es kam mir wie ein ſchlechter, unpaſſender Scherz vor. Sie hatten mir ab- 
ſichtlich dieſe Einladung zur Beerdigung gejandt. — Aber es iſt nicht wahr, es 
kann nicht fein. Ich babe ja kein Telegramm erhalten ... Sch zerriß das Kuvert 
mit der Handſchrift meines Bruders Wolodja. Er ſchrieb, daß die Großmutter am 
1. Februar geſtorben ſei und mir ein Telegramm geſchickt worden wäre 

„Wo iſt das Telegramm auf meinen Namen?!“ fragte ich den Beamten. 

„Sehen Sie nicht, daß Leute vor Ihnen gekommen ſind? Warten Sie, bis 
die Reihe an Ihnen iſt!“ war die ſcharfe Antwort. 

Ich kam zu mir und ſtellte mich an die Wand. Dann, als ich an der Reihe 
war, erfuhr ich, daß ein Telegramm nicht vorhanden war. So war es nicht bis 
hierher gelangt. 

Zu Haufe angekommen, ſchloß ich mein Zimmer ab, las die Briefe — auch 
daß die Telegrammadreſſe von Wolodja falſch aufgeſetzt worden war, ſo hatte mich 
die Nachricht nicht erreichen können. 

Die Großmutter tot. 

3m konnte und kann es nicht glauben 

Ein ſchrecklicher Schmerz ergriff meinen Kopf — es ſchwindelte mir vor den 
Augen, ich fiel hin 


32 Elifabeth Piafonoff 


Als id) am andern Morgen in den Spiegel blickte — fab mir ein Ge[penft 
in ſchwarzem Trauerkleid entgegen, — — — — — — — — — — — — — — 

9. März. Heute erhielt ich einen Brief von Hauſe. Es ſtellt ſich heraus, 
daß meine Großmutter ein Teſtament hinterlaſſen und mich zur Teſtaments⸗ 
vollſtreckerin beſtimmt hat. Die praktiſche Nadja hat ſich ſchon an einen Advokaten 
gewandt. Für die Beglaubigung des Teſtaments hat er eine unverhältnismäßig 
große Summe gefordert — 250 Rubel. Dabei wiſſen wir nicht einmal, wieviel 
ein jeder von uns erhält. Die Großmutter war recht unbemittelt 

„Komm lieber ſelbſt und ordne hier alles. Die Fahrt wird Dir billiger zu 
ſtehen kommen als die Zahlung an N.“, ſchreibt die Schweſter. Sie hat recht. Es 
wird billiger ſein, und die Geſchwiſter werden nichts zu zahlen haben. 

Und dennoch — dorthin zu reifen — zur Familie, in diefe ſchrecklichen Ber- 
hältniſſe, die mir das Herz gebrochen haben 

Die Mutter wiederzuſehen .. . es iſt ſchrecklich! 

8d kann nicht, ich kann nicht! 

Es bleiben nur wenige Tage bis zur Abreiſe. — Die letzte Bitte eines ſo 
überaus teuren Menſchen außer acht zu laffen, ift nicht möglich. Meine Groß 
mutter hat gehofft, daß ich es tun werde; ſo darf ich nicht abſagen. Ich will morgen 
in die Klinik fahren. 

14. März. Sch fahre hin. Dieſelbe Schweſter teilte mir mit, daß Lencelet 
nicht mehr hier, ſondern von jetzt an im Krankenhaus Boncicant angeſtellt ſei. 
8d machte mich gleich auf den Weg. 

In dem neuen Gebäude blitzte alles von Sauberkeit: das Zimmer des Por- 
tiers, die Türen, die Fenſterſcheiben, die weißen Flieſen des Flurs. Im Garten 
ſtanden viele kleine Pavillons aus roten Ziegelſteinen. Ich wurde nach dem zweiten 
Pavillon rechts gewieſen, trat in den ſchmalen Korridor und ſetzte mich auf eine 
golzbank. Sd hatte den Kopf geſenkt und achtete auf nichts. 

„Guten Tag, Fräulein! Wie geht es Ihnen? Sie haben einen lieben An- 
gehörigen verloren?“ fragte teilnahmsvoll eine bekannte Stimme. 

3m ſtand auf. 

„Ja, Herr Doktor, meine Großmutter. Ihrem letzten Wunſch nach bin ich 
Teſtamentsvollſtreckerin und muß hinreiſen 3 

„Haben Sie da Ausſichten?“ fragte er, eine Tür öffnend. 

Dieſe Frage berührte mich unangenehm. Ihm ſchien ſie natürlich und 
einfach. 

„Ich weiß nicht“, ſagte ich mit der größten Gleichgültigkeit. 

„Kommen Sie mit mir nach oben; hier, bitte, die Steintreppe herauf!“ 

Auch hier blitzte alles vor Sauberkeit — die Wände bes Korridors, die Türen. 
Er öffnete ein Zimmer, in dem ein Feldbett ftanb; in der Ecke lag zuſammen⸗ 
gelegtes Bettzeug. Das Hoſpital ſchien noch nicht endgültig eingerichtet zu ſein. 
Er ſchob mir einen Stuhl hin, während er ſich ſelbſt aufs Fenſterbrett ſetzte. 

„Waren Sie krank?“ 

„Ja, als ich den Brief mit der Nachricht erhielt.“ 

„And ſeit der Zeit iſt Shr Zuſtand ſchlimmer?“ 


Elifabeth Diatonoff 33 


„Ich muß nach Rußland reifen.“ 3d verfuchte deutlich und gefaßt zu ſprechen, 
Tränen preßten meine Kehle zuſammen; ich ſchwieg. 

„Sie können nicht? Warum?“ 

„Wieder dort zu fein, in meiner Familie ... ich kann nicht. Zh weiß nicht, 
was ich tun ſoll.“ 

„Sehen wir einmal zu, mein Fräulein, was ich für Sie tun kann. Sind Sie 
heute abend frei, um acht Ahr?“ 

ich bejahte. 

„Alſo auf Wiederſehen heute abend acht Uhr!“ — — — 

Ein Stubenmädchen, rein und weiß, ganz im Stil des Hofpitals, öffnete 
mir die Tür, als ich um die bezeichnete Zeit wiederkam. 

„Herr Lencelet wird Sie gleich empfangen.“ 

Er trat auch wirklich gleich in den Flur hinaus. 

„Guten Abend, mein Fräulein. Bitte, treten Sie ein.“ 

8d folgte ihm durch den dunklen Korridor. Er öffnete eine Tür und drückte 
auf einen elektriſchen Knopf. Ein mattes Licht, gedämpft durch einen grünen 
Lampenſchirm, erhellte ein Zimmer mit hellen Gardinen und modernen Möbeln 
aus gelbem Holz. Längs der Wand und in der Mitte des Zimmers ſtanden zwei 
Tiſche mit Büchern. Der Kamin war angeheizt. 

„Setzen Sie ſich hierher!“ ſagte er und ſchob mir einen niedrigen Seſſel 
zu. Sch ſetzte mich hin — der lange Trauerſchleier hing über mein Geſicht herüber 
und bedeckte ſeinen Ausdruck und die Spuren der Tränen. 

Es wurde mir plötzlich ſo behaglich in dieſem Zimmer! 

8d) wollte mich weder bewegen noch ſprechen. Welch wohltuende Stille in 
dieſem warmen, gemütlichen Zimmer! Das Holz kniſterte im Kamin; über meinen 
Körper ergoß ſich angenehme Wärme. 

Es war wie ein großes Ausruhen nach einer langen, ſchweren Wanderung. 
Sh ſchwieg unb ſaß unbeweglich im Stuhl. 

8d wollte feine Fragen nicht beantworten. 

„So ſind Sie wieder ganz elend und wiſſen nicht, was Sie tun ſollen?“ 

„Ich kann nicht reifen — es iſt ſchrecklich zu Haufe ... dort..“ 

Meine Stimme tönte gleichmäßig, ruhig. Meine Nerven waren völlig erſchlafft. 

„Müſſen Sie notwendig reiſen?“ 

„Ja, ich bin Teſtamentsvollſtrecker; ich liebte meine Großmutter über alles. 
Ich muß ihre letzte Bitte erfüllen, und doch fällt mir der Entſchluß fo ſchwer, wenn 
ich daran denke, was mich dort erwartet.“ 

In dieſem Augenblick fühlte ich mich ſchwach und kraftlos. Ich ſchämte mich 
und wollte ihm ſagen, daß ich nicht immer ſo war. 

„Glauben Sie nicht, daß ich den Meinen ſolch eine Schwäche zeige. Ich habe 
aus Stolz mein Leiden immer zu verbergen geſucht, ich erſcheine fröhlich und leb- 
haft, aber dieſe Komödie raubt mir meine letzte Kraft.“ 

Er ſchwieg einige Zeit, als beſänne er ſich. 

„Reiſen Sie nach Rußland. Tun Sie, was Sie tun müſſen; erfüllen Sie 
Ihre Pflicht“, ſagte er in kurzem, befehlendem Ton. 


Der Türmer XV, 1 3 


34 Eliſabeth $iatonoff 


Sch wunderte mich darüber, aber wurde nicht böſe. Es war mir faſt an- 
genehm, daß er gerade in dieſer Weiſe zu mir ſprach. Ich, die ich mich noch keinem 
gefügt hatte, fühlte, daß ich ihm gehorchen würde ... Und dieſer Gehorſam hatte 
einen eigentümlichen Reiz für mid ... als Gegenſatz, als etwas ganz Neues für 
meine ſelbſtändige Natur. | 

„Und wiſſen Sie, was ich Ihnen noch ſagen werde, verehrteſtes Fräulein“ 
— und er ſenkte dabei feine Stimme —: „es ſteht ein ſchönes Wort im Evangelium: 
‚Violenti rapiunt illud‘ .. . das heißt: ‚Die Heftigen erreichen es!. Man muß in 
dieſem Leben kämpfen und leiden können. — Zeigen Sie den Menſchen nie Ihre 
Leiden ... fie werden Sie doch nicht verſtehen .. Und dann gebe ich Ihnen 
noch einen Rat — — heiraten Sie! Sie leben zu einſam. Der Mann ift nicht ge- 
macht, allein zu fein, die Frau aber auch nicht..“ 

„Heiraten?! Niemals!“ rief ich aus, aufgebracht durch dieſen unerwarte- 
ten Rat. 

„Und warum nicht? Der Mann iſt doch kein Feind. Das gemeinſame Leben 
mit einem pofitiven Menſchen würde gut auf Sie wirken; gemeinſame Inter- 
eſſen, die gegenſeitige Stütze will in dieſem Leben viel ſagen. Und wenn Sie 
einen Menſchen finden werden, der Ihnen gefällt — ſeien Sie vorſichtig, ſagen 
Sie ihm nicht, daß Sie ihn lieben, warten Sie, bis er es Ihnen ſagt. Man muß 
febr vorſichtig fein ...“ 

„Ich will mich aber nicht verheiraten!“ ſagte ich eigenſinnig. 

„Das fagen Sie mit Unrecht. Es ift beffer für Sie. Ich wiederhole Ihnen, 
Sie ſind nicht geſchaffen um allein zu leben. Wo wollen Sie nach Beendigung 
dbres Studiums leben? Hier oder in Rußland?“ 

„Natürlich in Rußland.“ 

„Sehen Sie, dann dürfen Sie den Zuſammenhang mit der Heimat nicht 
verlieren. Fahren Sie unbedingt hin. Vielleicht treffen Sie da einen Menſchen, 
den Sie lieben können. Laſſen Sie den Mut nicht ſinken, ſeien Sie gefaßt und ſtolz 
vor den Menſchen. Wenn Sie wiederkehren, beſuchen Sie mich und ſagen Sie 
mir, wie es Ihnen geht.“ 

Ich fab auf die Uhr. Der Zeiger ſtand auf halb elf. 

„Ich muß nach Haufe ... Fd danke Ihnen. — Fd werde nach Rußland 
reiſen.“ | 
Er begleitete mich zum Ausgang: „Auf Wiederſehen! Glückliche Reife!“ 

Die Tür öffnete fid) und ſchloß fid) nach mir. 8d ging die ſtille, einſame 
Straße hinunter — beruhigt — in Gedanken über feinen eigentümlichen, un- 
erwarteten Rat. 

Heiraten! 

Wie merkwürdig das auch klingen mag, bis jetzt hatte ich nie damit gerechnet! 
Heiraten — das heißt lieben! Und ein neuer Gedanke ſtürmte auf 
mich ein. Ich hatte noch nie geliebt — und auch mich batte noch keiner geliebt! 

3m hatte keine Zeit gehabt! 

Bis zum einundzwanzigſten Jahre war ich ausſchließlich beherrſcht vom Ge- 
danken des Studiums — ganz aufgebraucht durch den ewigen Kampf mit meiner 


Bröger: Das Rind 35 


Mutter, durch bie Bemühungen, mich ihrer Herrjdhfudt zu entziehen. Dann in 
den Frauenkurſen war ich vertieft in die Bücher. Die Sehnſucht, eine feſte Stel- 
lung im Leben zu gewinnen, die vielen Gedanken über die Berechtigung des Lebens 
— die geiſtige Atmoſphäre Petersburgs nach dem Stumpfſinn der Provinz — alles 
das erſchien mir wie eine Quelle, die mich mit ihrem Waſſer wegipulte — ve 
Widerftand! Wo blieb ba noch Zeit für die Liebe? 

Dann die Ehe der Schweſter. Dieſes ftille, vor den Augen der Verwandt⸗ 
ſchaft verborgene Drama, deſſen Veranlaſſung ich geweſen war, flößte mir Zwei- 
fel, ja Haß dem ſtarken Geſchlechte gegenüber ein. Daher vermied ich in den Frauen- 
kurſen den Verkehr mit Studenten. 

Im Bewußtſein meiner Schuld ſuchte ich Ablenkung, — ich fand fie in den 
Büchern. Von Männern geſchriebene Bücher, das war mein einziger „männ- 
licher“ Verkehr; zu ihnen hatte ich faſt Empfindungen der Freundſchaft — viel- 
leicht ganz weibliche. Ich war erſtaunt, wie meine Kommilitoninnen ſich verlieb- 
ten, heirateten, kokettierten und zu gefallen ſuchten. 

Was gab es denn da zu gewinnen?! on der Mann denn deſſen gei daß 
wir mit ihm kokettieren, ihn zu feſſeln verſuchen, uns bemühen, ihm zu gefallen? 

Wenn einige ſich über mich wunderten — ich wunderte mich nicht weniger 

uͤber ſie. | 
| And nun plötzlich biejer Rat 
Doch es ijt ſpät. 8d muß morgen früh aufſtehen und mich zur Reife rüften. 
(Fortſetzung folgt) 


S2 


Das Kind Von Karl Bröger 


In feinen Traum vom Leben fällt Die Sehnſucht zweier Seelen blaut 
Verworrenen Lichtes nod) kein Schein, Zn feinem Blicke ſtill und groß, 
Denn lauter gehn und unverſtellt Und dennoch ringt ſich nicht ein Laut 
Die Dinge ſeinem Schauen ein. Von den geſchloßnen Lippen los. 
And was es ſieht und was es hört, Die Wunder, die es rings gewahrt, 
Genießt es ganz und ungemiſcht, Die ſind ihm wohl im Tiefſten kund; 
Weil keines Wortes Fremdͤheit ſtört Ooch daß es keines offenbart, 


And ihm das reine Bild verwiſcht. Verſiegelt ihm ein Gott den Mund. 


ean) A = 
* 

» 
OS 
SA V 


Graf Zeppelin als Kundſchafter 1870 
Von Graf Wolf von Dürckheim 


Cs K in ſchwüler Zulimorgen. Der Krieg zwiſchen Frankreich und Deutich- 
a AS m land war bereits erklärt; in der Nacht hatte es geregnet, und ein 
: feiner Nebeldunſt übergog Wälder unb Wieſen bes Hochplateaus von 


— tg Fröſchweiler. Die Ernte war zum größten Teil zu Hauſe, im Felde 
waren ſchon einige Pflüge tätig, die Erde für die Herbſtfrucht umzuſtürzen. Am 
Abend vorher waren noch zwei Zägeroffiziere (Chaſſeurs d' Afrique) zu Pferd, 
deren Abteilungen hinter dem Schloßpark ihre Aufſtellung hatten, bei uns zum 
Tee. Dieſe Chaſſeurs d Afrique mit ihren hellblauen Uniformen, Offiziere mit 
ſilbernen Schnüren und Knöpfen, Mannſchaft ſchwarz verſchnürt, erweckten unſer 
lebhaftes Intereſſe. Sie gehörten zur Avantgarde des Korps von Mac Mahon, 
welches direkt von Algier kam und zuerſt mobiliſiert wurde. 

Das Chaſſeur-Regiment war mit Araberpferden, durchaus Schimmeln, be- 
ritten. Es waren lauter Hengſte, da der Araber bekanntlich die Stuten nicht ver- 
kauft. Dieſe kleinen Berberpferde mit langer Mähne und Schweif, kleinem, trode- 
nem Kopf und ſehnigen, dünnen Beinen ſind trotzdem ſehr ausdauernd. 

Die Reiter, die keine Afrikaner, ſondern Franzoſen waren, ſchienen mir für 
dieſe Pferde zu groß und zu ſchwer. Man nahm damals noch in Frankreich die 
größten und ſtärkſten Leute zur Kavallerie. Auch waren die armen Pferde mit 
viel Gepäck belaſtet, denn jedes hatte nebſt Mantel, Hafer und Eßſchale noch einen 
Teil des Zeltes zu tragen, welches für drei Mann diente, und rückwärts am Sat- 
tel war noch ein Netz befeſtigt, das rechts und links herunterhing, und in dem 
die Heuration untergebracht war. Dieſe Netze ſchlugen den Pferden beim Trab 
und Galopp fortwährend in die Flanken und pendelten hin und her, was auch für 
den Reiter nicht vorteilhaft war. Dennoch ſchienen ſie ſehr beweglich. Einzelne 
Reiter ſprengten mehrmals des Tages durch das Dorf mit ſchußbereitem, auf den 
Schenkel aufgeſetztem Karabiner. Von ſonſtigen Truppen kann ich mich nur er- 
innern, daß im oberen Dorf und auf den Feldern längs der Straße nach Reichs 
hofen die Brigade des guten alten Generals Moreno lagerte, welcher im Schloß 
einquartiert war. Er war ein lieber alter Herr, der unſern ſauren, felbjt- 
gekelterten Wein jedem andern Getränk vorzog. „C'est le vin du oru,“ ſagte er, 
„ich habe mich überall daran gehalten, den Wein zu trinken, wo er wächſt.“ Dies 


Dürdheim: Graf Zeppelin als Runbfdafter 1870 37 


mag wohl aud in Frankreich ganz gut möglich geweſen fein, aber bei uns im Unter- 
elſaß war jedenfalls Klima und Boden zu kalt, um einen guten Tropfen zu er- 
zeugen. 

General Moreno zeigte uns auch die Mitrailleufen, die gegen Nehweiler 
aufgeſtellt waren, um die Straße zu beſtreichen, ſowie das gegen Sulzbach ab- 
fallende Tal. Ich denke, die armen Bayern, die dort ſo große Verluſte erlitten, 
werden ſie zu ſpüren bekommen haben. Damals wurde auch ſchon die Klage 
laut, daß kein Brot da fei, und daß die Intendanz ſchlecht funktioniere. Ich er- 
innere mich noch, daß der Vater in die verſchiedenen Dörfer ritt, um die Bürger- 
meiſter zu veranlaſſen, Brot backen zu laſſen für die Intendanz. Auch machte die 
Aufklärung der Gegend dem General viel Sorge. Er hatte jedenfalls den Befehl 
erhalten, gegen die Pfalz aufzuklären, und hatte keine Karten der Gegend. Er 
phantaſierte fortwährend von der Papperlik, einem wichtigen Punkt, den man 
halten müſſe. Es war damit die Pfaffenſchlick, der Abergang von Lembach nach 
Weißenburg, gemeint. Ich konnte mir nicht erklären, warum der General mich 
öfters fragte: „Où est la Papperlik?“ und hielt es für einen Witz. Erft fpdter 
wurde mir klar, was er meinte. 

Es war an dieſem Julimorgen etwa acht Uhr geworden, und ich kam gerade 
in den Hof, um im Stall nachzuſehen, als der Burger Jakob, unfer Nachbar, atem- 
los gelaufen kam und erzählte: „Gerade jetzt ſind Preuße bei mir vorbeigeritte, 
auf zehn Schritt hinter dem Schloßgarte im Feld, wo ich geackert hab'! Die eine 
have die Karte in der Hand gehalte, de ondere den Säbel und Piſtol. Sie han mi 
gor nid) angeſehn und fin gegen Reichshoffer Wald geritte.“ Ich meinte, es fei 
eine franzöſiſche Abteilung geweſen, die er noch nicht geſehen hätte. „Nein,“ 
ſagte er. „ich kenn die Franzoſe, war ja ſelbſt dabei [er hatte bei der Artillerie ge- 
dient], es find Preuße mit der Pickelhaube.“ 

Nun war ich ſelbſt überzeugt und lief, ſo ſchnell ich konnte, zum nächſten 
Poſten. Es war dies der Leutnant, der am Abend vorher zum Tee bei uns war. Ich 
fand dort ſchon alles in Aufregung. Gerade war ein berittener Gendarm aus Wörth 
angelangt, der die Meldung überbrachte, daß eine feindliche Abteilung von un- 
gefähr 12 Mann, von Selz kommend, Wörth paſſiert hätte. Der nächſte Poſten 
Chaſſeurs war bereits aviſiert und rückte heran, während der Zug des Leutnants 
fich in den Sattel ſchwang. Die zwei Züge Chaſſeurs bildeten eine halbe Esta- 
dron, zur Aufklärung und zur Verfolgung bereit. 

„Wohin?“ rief mir der ältere der zwei Offiziere zu. „Wir haben keine Rar- 
ten und kennen die Gegend nicht; haben Sie niemand, der uns den Veg zeigen 
kann? Eigentlich ſind wir hier auf Vorpoſten und ſollen die Linie nicht unbewacht 
laſſen, es können ja andere nachkommen.“ 

„Geben Sie mir ein Pferd, und ich reite mit“, ſagte ich. 

„Das kann ich nicht, aber wenn Sie nachkommen könnten, wäre ich Ihnen 
ſehr dankbar; ich werde einſtweilen die Meldung an das Brigadekommando nach 
Niederbronn ſchreiben und auf Sie warten.“ 

Sch lief zum Stall. Das einzige Pferd, das uns geblieben, war eine Nor- 
männer Stute mit ihrem vierzehn Tage alten Fohlen. Alle anderen Pferde waren 


38 Diirdheim: Graf Zeppelin als Runbidafter 1870 


ausgehoben worden. Afo fchnell einen Sattel auf die brave Stute Katheline, 
einen Wiſchzaum über den Kopf, und im Galopp ging die Alte mit mir die Pla- 
tanenallee hinunter zum Parktor hinaus in das Wiefental, das ſich gegen den 
Reichshofer Wald ausbreitet. Ich hatte die Abteilung Chaſſeurs bald eingeholt, 
die bereits ihre Eklaireurs im Galopp vorausgeſandt hatte und ſich nun im Trab 
gegen den Wald zu bewegte. Sehr bald ſahen wir im naſſen Boden die Huffpuren 
der feindlichen Abteilung, die wir bis zum Walde verfolgten. Zwiſchen den beiden 
Offizieren gab es nun eine kleine Auseinanderſetzung. Der jüngere wollte die 
Verfolgung fortſetzen, um den Feind zu ſtellen und unſchädlich zu machen. Der 
ältere Oberleutnant bemerkte, man dürfe ſich ohne Erlaubnis nicht ſo weit von 
ſeinem Poſten entfernen, noch dazu in einem ausgedehnten Wald, wo man ſich 
verirren könne. Trotz meines Anerbietens, die Abteilung zu begleiten, da mir ja 
von der Jagd her alle Wege und Stege bekannt ſeien, wurde kehrtgemacht, und 
die zwei Pelotons (Züge) bezogen wieder ihre früheren beobachtenden Stellungen. 

ach muß nun erwähnen, wie geſchickt und ſicher Generalſtabshauptmann 
Graf Zeppelin, denn dies war der Führer des feindlichen Streifkorps, feine Ab- 
teilung geleitet hat. Er hatte Wörth paſſieren müſſen, da nur dort Brücken über 
den Sauerbach führen. (Nur bei Bruckmühl viel weiter oben und bei Gunſtedt 
weiter unten find wieder Übergänge.) Die Sauer mit ihren fteilen, teilweiſe riffi- 
gen und ſumpfigen Ufern ift ſonſt für Kavallerie unpaſſierbar. 

Die Abteilung bog dann, nach Paſſierung von Wörth, links von dem Hohl- 
weg, ber nach Fröſchweiler hinaufführt, ab und benützte bie Einſenkung des Ge- 
[andes zwiſchen Fröſchweiler und Elſaßhauſen, überquerte die von Fröſchweiler 
nach Elſaßhauſen führende Straße und bewegte ſich — wieder in der Niederung — 
gegen den Großewald (Reichshofer Wald). Nur fo war es möglich, daß die Ab- 
teilung nicht von den aufgeſtellten Poſten der franzöſiſchen Chaſſeurs erblickt wurde, 
da dieſe ſüdlich und weſtlich unmittelbar hinter dem Schloßpark ſtanden, von wo 
man allerdings eine weite Fernſicht bat, aber gerade bie Einſenkung bei Eljaß- 
hauſen nicht überſieht. Auf demſelben Platz, denſelben Weg benützend, haben am 
6. Auguſt die franzöſiſchen Küraſſiere ihre denkwürdigen Attacken ausgeführt. — 

Ich war auf ber alten Ratheline nach Haufe geritten und hatte die Mutter 
ihrem Fohlen zurückgebracht. Inzwiſchen war General Moreno nach Straßburg 
abberufen worden, und ein anderer General war an ſeine Stelle getreten, den 
wir jedoch nicht zu ſehen bekamen, da er in Reichshofen blieb, wo auch der Divifio- 
nat, früherer Feſtungskommandant von Straßburg, General Ducrot, fein Haupt- 
quartier aufſchlug. 

Wir hatten nun wirklich alle das Gefühl: „Es wird ernſt.“ Die Meldung des 
Chaſſeuroffiziers war inzwiſchen nach Niederbronn gekommen, und nachmittags 
brach der Brigadegeneral mit zwei Eskadronen zur Verfolgung des Feindes auf. — 
Wer die Franzoſen damals durch den Wald führte, oder ob ſie ſelbſt den Weg 
zum Schirlehof fanden, weiß ich nicht. Ich habe nur folgendes erzählen gehört. 

Als die deutſche Abteilung den Schirlehof — einen in einer Lichtung des 
ziemlich ausgedehnten Waldes gelegenen Bauernhof — erreicht hatte, wurde Raft 
gemacht. Die feds Offizers - unb fede Mannſchaftspferde wurden im Stall unter- 


Dhirdheim: Graf Zeppelin als Kundſchafter 1870 39 


gebracht, und während bie übrigen fid) bei den Pferden zu ſchaffen machten, begab 
ſich Hauptmann Graf Zeppelin in die Bauernſtube. Plötzlich ſah er aus dem Walde 
die Spitze der franzöſiſchen Reiterabteilung auftauchen. Dieſe hatte, ſcheint es, 
keine Vorhut ausgeſchickt und ahnte daher nicht, daß fie ſich ſo nahe am Feind be- 
fand. Da krachte plötzlich ein Schuß aus dem Stall heraus, ein Reiter fiel getroffen 
vom Pferde, die ganze Abteilung ſtutzte. Einige ſprangen ab und feuerten gegen 
den Stall. Mittlerweile war das Pferd des getroffenen Reiters weiter gelaufen 
und hatte das Haus paſſiert. Dieſen Vorgang batte Graf Zeppelin von der Bauern- 
ſtube aus beobachtet. Da das Haus wie die meiſten Bauernhöfe zwei Eingänge 
hatte, benützte er den rückwärtigen, um ungeſehen zu entkommen. Da kam ihm 
das leere Pferd entgegen; raſch [hwang er fid) hinauf und verſchwand in entgegen- 
geſetzter Richtung im Wald. 

Ein einzelner franzöſiſcher Chaſſeur ſoll den Grafen einige Zeit verfolgt haben, 
ohne ihn einholen zu können. Als Graf Zeppelin ſich nicht mehr verfolgt ſah, ſtieg 
er vom Pferd und ließ es frei. Dann legte er an demſelben Abend und in der Nacht 
zu Fuß den weiten Weg in die Pfalz zurück. 

Es iſt mir unbegreiflich, wie er ſich in dem Hügelland und anſchließenden 
Mittelgebirge zurechtfinden konnte, da er ja die öffentlichen Straßen vermeiden 
mußte und lediglich auf Wald und Saumwege angewieſen war. 

86 habe auch erzählen gehört, daß an demſelben Abend ein deutſcher Offizier 
(jedenfalls Graf Zeppelin) bei Nehweiler, aus dem Walde kommend, einem dort 
arbeitenden Bauern befohlen habe, ihm Milch und Brot zu bringen. Er habe ge- 
droht, ihn zu erſchießen, falls er ihn verrate, habe ihm aber nach Erfüllung ſeines 
Wunſches ein reichliches Trinkgeld gegeben. — 

Von welcher Bedeutung die Rekognoſzierung des ſchneidigen Reiteroffiziers 
war, kann man ſich leicht denken. Er überbrachte jedenfalls die Meldung, daß bis 
zur Stunde keine größeren Streitkräfte bei Wörth verſammelt waren. Seine 
Geiſtesgegenwart, Ruhe und Kühnheit haben ihn damals vor der Gefangenſchaft 
bewahrt, und heute erkennt in ihm die ganze Welt den kühnen, ausdauernden 
Luftſchiffer, auf den ganz Deutſchland mit Stolz und Bewunderung blickt. 

Die übrigen Offiziere und Mannſchaften des deutſchen Streifkorps wurden 
zu Gefangenen gemacht. Leutnant von Wisloo, ein Offizier engliſcher Abſtam- 
mung vom 2. badiſchen Dragonerregiment, batte eine Kugel durch die Lunge er- 
halten, als von franzöſiſcher Seite gegen den Stall gefeuert wurde. Er zog fid) 
in eine Ecke zurück, hatte noch die Kraft, den Säbel zu ziehen und verweigerte die 
Übergabe desſelben an die hereinſtürzenden Franzoſen, bis er endlich erſchöpft 
zuſammenbrach. Man bettete ihn auf einen Leiterwagen, auf welchem er nach 
Niederbronn transportiert wurde. Hinter dem Wagen mit den anderen Gefange- 
nen wurde auch Windsloos leeres Pferd geführt. Er ſoll gebeten haben, es 
noch einmal beſteigen zu dürfen, da er ja wiſſe, daß er ſterben werde. Rührender 
Zug eines tapferen Reiteroffiziers! Er ſtarb in betfelben Nacht in Niederbronn 
und wurde von franzöſiſcher Seite mit militäriſchen Ehren beſtattet. 

Am folgenden Tag wurden in der ganzen Gegend Streifungen veranſtaltet, 
um den entkommenen Pruſſien zu ſuchen. Wie zu einer Wildfehwein- oder Bären- 


40 Soltau: Tod, tomm im Herdft.. 


jagb, mit Gewebren, teils aber aud) mit Senjen und Gabeln bewaffnet, rüdten 
bie Bauern aus. Vergeblich — das feltene Wild war längſt in Sicherheit. 

Auf franzöſiſcher Seite herrſchte großer Jubel ob der gewonnenen „Schlacht“, 
und in den Zeitungen erſchienen Artikel über die „Grande Victoire du Schirlehof“. 

Dem Sieger blieb jedoch nicht viel Zeit, ſich ſeines Ruhmes zu freuen. Bei 
Fröſchweiler ſammelten fid) größere Heeresmaſſen, die, ſchlecht verpflegt, viel- 
fach ohne Zweck hin und her geſchoben wurden. Unzufriedenheit und Mißtrauen 
bemächtigten jid) der Truppen. Schlag auf Schlag kamen dann bie ſchweren 
Niederlagen von Wörth und Spichern, bei denen zwar bie Franzoſen Tapfer- 
keit und Heldenmut zeigten, jedoch der Führung, Ausbildung und Organiſation 
der deutſchen Truppen weichen mußten. 


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255 
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Tod, komm im Herbit... 
Von Heinz Soltau 


Tod, ernſter Freund, holſt du mich einſt zum herben 
Und letzten Gang — komm nicht, wenn's Frühling wird. 
Auch nicht im Sommer. Bitter iſt das Sterben, 
Wenn rings umher ſo heiß das Leben flirrt. 


Im Winter will ich gern mein Haus bereiten 
Und einſam harren, bis auf kaltem Flies 
Ich deine harten Schritte hire ſchreiten. 
Indes: ein ſchweres Sterben wär’ auch dies. 


Einſam zu ſterben, wo ſo weich der Schnee 

Wie helles Feſtgewand das Land umſchließt, 

Wo ſpiegelblank die Nächte wie ein See, 

Wo traulich im Kamin die Flamme grüßt — — — 


O komm im Herbſt! Der Herbft iſt wie ein wilder 
Taumel des Lebens noch an Abgrunds Rand, 

Bis dicht davor ein ſanfter, guͤt'ger, milder 

Hauch der Ergebung alle Stürme bannt. 


Und ſo in Leidenſchaften, leuchtend bunten, 
Die zart erblaſſen, will auch ich vergehn, 
Will in das rätſelhafte, ſchwarze Drunten 
Als Blatt im Blätterwirbel mitverwehn. 


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Von Theophile bon Bodisco 


C er Lord betrat den Speiſeſaal und überflog prüfend die feſtlich ge- 
deckte Tafel: gold, rot und weiß ſchimmerte es ihm entgegen. Un- 
hh boörbar huſchten die Diener, die heute ausnahmsweiſe rote Frade 
2 · s trugen, auf dem weichen Teppich hin und her; die Kerzen in den 
antiken Armleuchtern wurden entzündet — es war alles bereit. 

Die hohen Fenſter ſtanden offen; leiſer Regen fiel, denn es war heute ein 
echter melancholiſcher römiſcher Wintertag. In der Luft begegnete ſich der Klang 
der Kirchenglocken: laut fordernde, leiſe bittende, hohe freudige und erregt vibrie- 
rende — ſie waren wie Lebenswellen, die ſich kreuzten. Das Straßenbild unten, 
auf das der Lord hinſah, war farblos, unruhig, nicht künſtleriſch harmoniſch, wie 
der helle warme Raum, von deſſen Wänden Gobelins nach veroneſiſchen Bildern 
grüßten. Aber obwohl der Lord mit ſeinen Nerven den Gegenſatz, den das trübe 
Bild da unten zu ſeinem ſchönen Heim bildete, prickelnd empfand, ſah er doch 
nicht fo aus, als erwarte er frohen Herzens feine Gäſte. Ja, er runzelte die Brauen, 
als er auf die roten Teller und roten Roſen hinſah. Dieſes ganze Arrangement 
in Rot — denn et hatte feinem Koch anbefohlen, bae Menü auch möglichſt in Rot 
zu halten — erſchien ihm mit einemmal als ein Taktfehler gegen ſich ſelbſt. Zwar 
war ihm dieſer Einfall gekommen, als er einer ſchönen Frau, deren rotes Gewand 
er bewunderte, geſagt hatte: „Sie inſpirieren mir eine Symphonie in Rot“, aber 
gerade heute, wo etwas aus ſeinem innerſten Weſen zutage treten ſollte, hätte 
nichts dargeboten werden ſollen, das auch nur an Reklame ſtreifte. 

Der Lord erwartete einige ihm befreundete Künſtler und ſie, jene Frau, mit 
der er in letzter Zeit täglich zuſammen geweſen war, ſei es in der Campagna reitend 
oder in den Galerien aufs angeregteſte diſputierend. Sie, von der er nichts Näheres 
wußte, und die er auch nie nach ihrem Leben gefragt hatte. Es war ihm genug, 
daß er in ihrem Weſen bie Nachklänge verwehter Schmerzen und ſeltener Freuden 
herausſpürte, die aber doch nicht ſo ſtark geweſen waren, daß ſie etwas von ihr 
für immer zerſtört hätten. Sie alfo, und drei Freunde batte er heute dazu aus- 
erſehen, als beſtimmende Faktoren in ſeinem Leben zu wirken. 

Der Lord verließ den Speiſeraum, ging durch den großen Saal und ſtieg 
die wenigen Stufen hinunter, die ins türkiſche Rauchzimmer führten. Hier blieb 


€ 


42 Bodisco: Das rote Diner 


et vor feinem Porträt ftehen, bas von einem jungen, ihm befreundeten Porträtiften 
gemalt war, der bereits anfing, fid) einen Namen in Europa zu machen.! Das 
gemalte und das wirkliche Geficht glichen fid) nicht unbedingt; das gemalte war 
wie in größeren Linien angelegt, das Kinn war durch einen hellen Lichtrefler 
ſtark hervorgehoben, um den Mund lag ein Zug von Trotz. Etwas Tatkräftiges 
und Tüchtiges war in dieſem Geſicht. 

Es war ſeltſam: ſtets fühlte der Lord etwas wie einen Kontakt zwiſchen ſich 
unb jenem vertrauten und doch wieder fremden anderen Ich. Es ſchien etwas 
von ihm zu wollen, ja, es hatte ſofort damit begonnen, ihn zu quälen. Und ſo 
war es denn gekommen, daß er jetzt entſchloſſen war, ſich Klarheit zu verſchaffen. 
Zwar, es war nicht ohne Reiz geweſen, gewiſſermaßen ein Doppelleben zu führen. 
Wer hätte in ihm, der die Rolle des Kunſtmäcen fo erfolgreich ſpielte, den ver- 
ſteckt ſchaffenden Künſtler vermutet? Wer wußte etwas von den Augenblicken des 
Ehrgeizes, des Zweifelns und Verzagens? Geheim war der Künſtlertraum ge- 
halten worden, doch heute ſollte er offenbart werden. 

Aber nicht nur die Hoffnungen und Befürchtungen der Künſtlerſchaft ſollten 
fih heute entſcheiden. Er wußte es: erkannte fie, bie feinem Herzen jetzt fo nahe 
ſtand, daß er ein verſteckter, großer Künſtler war, fo würde ihre ftets wache Phan- 
taſie ihn umfaſſen und — 

„Buona sera!“ rief die Stimme des kleinen, ſchwarzen Dichters, der eine 
ſo entzückende formale Beanlagung, beſonders für das Lyriſche, hatte, und den 
man nur in Geſellſchaft ſchöner Frauen oder mit ſeinem Freunde, dem langen 
Holländer, zu ſehen pflegte, von dem er auch eben begleitet war. Der Lord ſtieg 
ſchnell zum Saal hinauf und begrüßte ſeine Gäſte. Als er die kühle Hand des 
Landſchaftsmalers in der ſeinen fühlte, ſah er ihn prüfend an. Wie ruhig blickten 
dieſe hellen, leicht geröteten, wimperloſen Augen in die Welt, wie ſicher führten 
dieſe Hände, die in ihrer wunderbaren Schönheit nur durch Sommerſproſſen 
verunſtaltet wurden, den Pinſel! Der kennt keinen Zweifel, durchfuhr es den Lord, 
und in ſeinem Geiſt ſah er das zarte Gemälde des nordiſchen Sommerabends. 
Er ſah die milchweiße, glatte See, den roſigen Abendſchimmer am Horizont, die 
ſehnſüchtig auftauchenden ſchwarzen Seehundsköpfe ... Ein großer Friede, 
aus einer ſtarken Seele geboren, ſchwebte über dieſem Bilde, wie der ewige Geiſt 
über ben Waſſern ſchwebt. 

„Ihre wunderſchöne Freundin,“ rief der kleine Poet, „fuhr neben uns, bod) 
fie hatte ihr abweiſendes Geſicht und ſchien nichts zu ſehen. Aber unſeren be- 
rühmten Menſchenmaler, erwarten Sie den heute nicht?“ — „Doch, ich erwarte 
ihn.“ — „Das freut mich, man ſieht ihn jetzt faſt nie mehr in Geſellſchaft, er ſieht 
jetzt aus, als hätte er keinen Frieden. Oh —“ Er brach ab, denn der Lord hatte 
ſich ſchnell umgekehrt. Mit ſtrahlendem Geſicht meldete der alte Diener den Namen 
der Dame, die ihn ſoeben freundlich nach dem Stande feiner Gicht befragt hatte. 
debt trat fie ein, ruhig und natürlich, auf ihrem vornehmen ſchmalen Geſicht 
ſpielte ein feines Lächeln. Der Lord war ihr lebhaft entgegen gegangen, aber ſo 
febr ihm auch heute wie [tete die Art ihres Hereinkommens gefiel, jo ſpuͤrte er 
doch etwas wie ein leiſes Zurückſtoßen bei ihrem Anblick: er hatte erwartet, ſie 


Bodisco: Oas rote Diner 43 


im ſchleppenden roten Gewande zu ſehen, das ihm feine rote Symphonie in- 
ſpiriert hatte, ſie aber trug ein blaßgrünes Kleid. Zwar kleidete es ſie ausnehmend, 
zwar ſchufen die gelben Roſen und der lange gelbe Schleier mit dem lichten Grün 
einen entzückenden Farbenakkord, aber es war doch heute alles auf Rot eingeſtellt. 
„So lange hat man ſich nicht geſehen?“ fragte ſie leiſe, als er ſie begrüßte. Es 
ſchien ihm, als läge es wie Zärtlichkeit in ihrer weichen Stimme, und ſchon war 
er verſöhnt: „Wir wollen fpäter alles beſprechen“, antwortete er gleichfalls leiſe. 

„Das war ein guter Typus, mit dem Sie heute ſprachen, gnädige Frau“, 
fagte der lange Holländer in feiner fachlichen Art. — „Wie, was?“ rief der kleine 
Poet. — „Ein Jude mit einem langen Bart war es, und ich kaufte von ihm einen 
ſiebenarmigen Leuchter,“ ſagte ſie und blickte dabei auf den Lord, der auf die Tür 
ſah. „Nun, wen erwarten Sie noch?“ fragte ſie. „Den berühmten Porträtiſten 
doch“, rief der Dichter. „Ah den“ — es ſchien dem Lord, als wechſelte ſie die Farbe, 
und da trat es ihm ins Bewußtſein, was er unbewußt vorbereitet hatte: das Zu- 
ſammentreffen dieſer beiden Menſchen, vor dem er — Mit einem Schlage ward 
feine Stimmung eine ſchärfere, zugeſpitzte. „Sie kennen bie Geſchichte von feinem 
erſten bedeutenden Porträt, wodurch er bekannt wurde?“ fragte der lange Hol- 
länder. Die Dame in Grün ſchüttelte den Kopf. „Er malte in London einen 
Staatsmann, deſſen Bedeutung noch nicht allgemein gewürdigt wurde. Auf der 
Ausſtellung erregt dieſes Porträt großes Aufſehen, alle Welt ſagt: welch einen 
bedeutenden Kopf hat doch eigentlich dieſer E.! Und fo, wechſelſeitig durch e in 
ander unterſtützt, kamen Staatsmann und Porträtiſt beide ans Licht.“ 

Als der lange Holländer dieſe letzten Worte ſagte, trat der beſprochene Künſtler 
ſchnell herein. Sung und elaſtiſch ſchritt er, nur den Lord ins Auge faſſend, auf ihn 
zu: „Verſpätet? Verzeihung. Man hielt mich auf — Amerikaner, die ſind immer 
aufdringlich. Haben ſie Geld, ſo haben ſie gleich zu viel, und ſind die Damen 
ſchön, ſind ſie es gleich zu ſehr.“ „Bitte, darf ich Sie bekannt machen“, ſagte der 
Lord und bemerkte, daß die Dame in Grün lebhaft einige Schritte entgegen ge- 
kommen war. Mit Spannung ſah er der Begrüßung der beiden zu. Der Porträtiſt 
ſah ſie mit ſeinem ſchnellen, wie alles umfaſſenden und durchdringenden Blick 
von Kopf bis zu Fuß an, und ſie hielt lächelnd und ruhig dieſem Blick ſtand. Als 
ſie aber begann: „Ich freue mich ſehr, Sie zu ſehen, Ihre Bilder —“ da ging es 
wie Abwehr durch ſeinen ganzen Körper, ſchnell wandte er ſich, begrüßte die anderen 
und ſetzte ſich dann. Zerſtreut, ſichtlich innerlich beſchäftigt, blickte er vor ſich hin. 
Wie denn, dachte der Lord, hat er ſie überhaupt nicht bemerkt, ſind dieſes Lächeln 
und biejer gelbe Schleier zu überſehen, fo ijf es doch unmöglich für einen fein- 
fühligen Mann, dieſe Stimme und dieſe Art, zu ſprechen, zu überhören? Und 
doch, während ihn dies auch erſtaunte, fühlte er ſich erleichtert. Mit Neugier 
ſah er auf ſeinen Gaſt und hätte in dieſem Augenblick nichts lieber gewußt, als 
wie es mit dem Verhältnis dieſes jungen Künſtlers zu Frauen überhaupt beſtellt 
war. War er ihnen gegenüber ein Inſtrument, bereit, bei jedem neuen Reiz zu 
vibrieren? Etwas ſagte ihm, daß das hier nicht der Fall war. Konnte es nicht 
fein, daß dieſer Künſtler fo viel auf feine eigene Perſon hielt, daß er nur unüber- 
windlichem innerlichem Zwang nachgab? Za, trotzdem der Lord feinen Freund 


44 | Bodisco: Das rote Pines 


nicht für einen Heiligen hielt, ahnte er bei ihm eine gewiſſe [tole feujd)beit, unb 
gerade eben war es ihm angenehm, ſich dies zu vergegenwärtigen. 

Da wurden die großen Flügeltüren geöffnet, und er erhob ſich ſchnell und 
reichte der Dame in Grün ſeinen Arm. 

* * 
% 

In gleichem Rhythmus ſchritten fie dahin. Ihre Art, fid) jeder feiner Be- 
wegungen anzupaſſen, erfüllte ihn ftets, wenn er mit ihr ging, mit ber Sllufion, 
als gehöre ſie ihm. Der kleine Poet flüſterte dem Holländer zu: „Ein elegantes 
Paar.“ 

Sie ſtanden im Speiſeſaal: Gold, Silber, Kerzenſchein und rote Rofen. 
Rechts vom Lord die Dame in Grün, links der Porträtiſt. Der kleine Poet 
blinzelte ſeinen langen Freund herausfordernd an, diesmal nur mit den Augen 
ausdrüdend, was er dachte, nämlich: Wir beide find heute zu Statiſten auserſehen. 
Der Lord beobachtete, wie ſeine Dame mit Neugierde den Porträtiſten anſah, auf 
deſſen Geſicht nun ein weicher Ausdruck lag. Er iſt heute nicht in Stimmung, 
dachte der Lord, aber der kleine Poet, mit ſeiner Gabe des vorſchnellen Formu- 
lierens, ſah vom Porträtiſten zur Dame in Grün und dachte: Das ſind heute 
die beiden Hauptakteure. 

Die rote Suppe ward herumgereicht. „Freuten Sie ſich geſtern nachmittag 
über den Nebel?“ fragte die Dame in Grün den Holländer. — „Ja. 3d) ritt gerade 
in der Campagna.“ — „Und ich verfehlte ein Rendezvous, und zwar ein wichtiges“, 
rief der kleine Poet. — „Oh, ein wichtiges? Vielleicht dann eins mit Ihrem Ber- 
leger?“ — „Ich erſtaune, gnädige Frau!“ — Oer Holländer ſchmunzelte: „Der 
Verleger erzählte mir übrigens, er hätte Sie ſeinerſeits gar nicht verfehlt, aber 
Sie hätten derartig vertieft im Nebel vor der Peterskirche geſtanden, daß er ver- 
mutet hätte, Sie dichteten, und da hatte er nicht ſtören wollen.“ — „Vermutlich 
achteten Sie aus Gewohnheit nur auf das Weibliche, das ſich Ihnen näherte, 
und vergaßen es, die Männer anzuſehen?“ fagte der Lord, und alle lachten.) 

Der Porträtiſt fragte den Holländer, was er von der Ausſtellung hielte. 
Wenn er ſich an jemanden wandte, geſchah es in einer Art, die alle andern An- 
weſenden gleichſam ausſchloß. Der Poet beugte ſich zur Dame in Grün: „Sie 
entſinnen fih, was mein Freund über die Art des Debüts unjeres Menfchen- 
malers ſagte?“ — „Ja — und?“ — „Und — er hat nämlich ein Geheimnis oder 
eine geheime Kraft.“ — „So? Welche denn?“ — „Ich will Ihnen bloß ein 
Reſultat feiner Kunſt erzählen. Ich verehrte emt eine Dame, die zwiſchen Mon- 
dänität und Heiligkeit ſchwankte. Sie ſtand gewiſſermaßen wie im Zwielicht, ſehr 
intereſſant. Er malt fie, und zwar fo, daß er ihren Augen nur den weichen, ekſtati- 
ſchen Blick gibt, ja, etwas Heiliges legt er über ihr Geſicht. Darauf malt er den 
Beſatz ihres Kleides undeutlich, aber fo, daß es ausſehen könnte, als trüge fie eine 
große weiße Krankenſchürze. Sie ſieht ihr Bild wieder und wieder an, und ich 
könnte es beſchwören, daß es daran ſchuld war, daß ſie plötzlich der Welt entſagte 
und eine Heilige wurde. Jetzt leitet ſie ein großes Kinderhoſpital und behauptet 
ſogar, glücklich dabei zu ſein.“ — „Das iſt ſehr merkwürdig, was Sie ſagen.“ — 
„Nicht wahr? Und die Vicomteſſe Z. hat er eigentlich erſt zur Schönheit gemacht. 


Bodisco: Das rote Diner 45 


Er zeigte ihr ihren Stil.“ — Die Dame in Grün ſah ſtaunend unb neugierig zum 
Porträtiſten hinüber. 

Der Lord fah zurückgelehnt da, rechts und links von fid) fab er zwei Paare 
fid) lebhaft unterhalten, und da war es ihm plötzlich, als ſäße er unter lauter fremden 
Menſchen. Als die großen roten Hummern herumgereicht wurden, hörte er den 
langen Holländer ausführlich erzählen, wie er im vorigen Sommer mit den Fiſchern 
vor Sonnenaufgang zum Fiſchfang gefahren fei. Das war ja ganz ſtilvoll anzu- 
hören, aber was ging es ihn eigentlich an? Aber wenn alle ſprachen, ſo mußte 
er es wohl auch tun, und da riß er die Unterhaltung an ſich. Er erzählte von einer 
Kunſtauktion, ſprach lebhafter, unterſtrichener, als es ſonſt ſeine Art war, und 
ertappte ſich dabei auf einer neuen Geſte. Was rede ich hier nur, durchfuhr es 
ihn, und er ſah mit einemmal, wie eine Viſion, den Parlamentsſaal vor ſich, und 
dachte: Dort ſollte man Reden halten, in dem Lande ſollte man leben, wo man 
feinen Grundbeſitz hat. Aber warum denke ich das eben, was ift- das nur? Sd 
habe heute doch alles auf eine Karte geſetzt? Er brach ab in ſeiner Erzählung, 
weil die Spaltung, die er mit einemmal in ſeinem Weſen fühlte, ihn verwirrte. 
Haftig trank er ein großes Glas Wein unb fab auf die Dame in Grün; er be- 
gegnete einem erſtaunten, fragenden Blick, da ſchob ſich eine kunſtvoll zum Schiff 
geformte Paſtete, die in einem roten Meer ſchwamm, zwiſchen ſie. 

„Was macht denn das Porträt Ihrer nordiſchen Schönheit?“ fragte der 
kleine Poet den Porträtiſten. — „Es wird nicht viel daraus.“ — „Es iſt die ſchöne 
Frau v. Y.“, erklärte der Poet der Dame in Grün. Darauf fragte dieſe: „Warum 
wird denn nicht viel daraus?“ — „Dies Geſicht bietet kein Problem“, meinte der 
Hollander, und der Lord ſagte faſt gereizt: „Warum überhaupt haben Sie ſich 
darauf eingelaſſen? Eine kleine, fertige, äußerft konventionelle und unintereſſante 
Welt.“ — „Za, aber wie müßte denn Ihr Ideal für ein weibliches Porträt be- 
ſchaffen ſein?“ fragte der kleine Poet. — „Nun, ich denke,“ ſagte der Porträtiſt 
lächelnd, „es müßte nicht zu offenbar fein.“ — „Ja, ein gewiſſes Inkognito müßte 
ba fein“, fügte der Lord hinzu. — Fest ſieht der Kleine auf die Dame in Grün, 
dachte der lange Holländer. So geſchah es, und es geſchah noch mehr, denn der 
Poet fragte: „Sind Sie ſchon einmal gemalt worden, gnädige Frau?“ — „Nein.“ — 
Sollte er noch weiter gehen? dachte der lange Holländer mit Neugierde. Richtig: 
„Das wäre dann doch eine Aufgabe für Sie.“ Und während der Dichter dieſe 
Worte ſagte, wandte er fid) wie auffordernd von der Dame zum Künſtler. Dieſer 
lachte herzlich auf: „Sehr liebenswürdig, über uns zu beſtimmen.“ 

Der Lord war durch das Wort „uns“ unangenehm berührt; die Dame in Grün 
hatte ſich gerade aufgerichtet und ſagte abweiſend: „Oh, ich wünſchte nie gemalt 
zu werden, es muß nicht angenehm fein, fid) fo feft gefaßt zu ſehen.“ — „Ich würde 
Sie auch vor dieſem Künſtler warnen,“ ſagte der Lord ſchnell, „der kann nämlich 
ſuggeſtiv fein.“ — „Wie meinen Sie?“ fragte der Porträtiſt, und als er mit durch- 
dringendem Blick auf den Lord hinſah, blitzte in deſſen Augen etwas Feindliches 
auf. „Ich komme hier ja in den Verruf der Hexerei, wie es ſcheint,“ wandte er 
ſich darauf an die Dame in Grün, „ich hörte auch einiges von dem, was Ihnen 
Ihr Nachbar erzählte. Aber nicht id) zaubere, jeder tut es an (i, ich verhelfe 


46 Bodisco: Das rote Diner 


bem Menſchen nur etwas zu dieſer Möglichkeit.“ — „Bitte,“ fagte die Dame in 
Grün, „wie tun Sie das, und welche Mittel eben Ihnen dazu zur Verfügung?“ 
Ser Porträtiſt lächelte und antwortete nicht gleich, dann aber ward mit einem 
Schlage ſein Geſicht verändert. Es wurde wie älter in einem feſten und ſtarken 
Ernſte. Und alle warteten aufmerkſam darauf, ob er wohl etwas von ſeiner Kunſt 
ausſagen würde, was ſonſt nicht zu geſchehen pflegte. Da begann er: „Wenn ich 
einen Menſchen male, ſo ſuche ich nicht nur das augenblickliche Sein, ſondern das 
Werden wiederzugeben, ich ſuche die Seinsmöglichkeit des Menſchen zu faſſen 
und etwas von ihm mit zum Ausdruck zu bringen. Denn wenn ſchon in der Hand 
Charakter-, ja Schickſalslinien zu leſen ſein ſollen, wieviel mehr muß da nicht der 
Erkennende aus dem Geſicht erjeben, wenn auch der hin und her huſchende Aus- 
druck manches verwiſcht? Ich gebe eine gewiſſe Steigerung der Perſönlichkeit, 
aber nicht nur aus der Intuition oder Phantaſie heraus, nein, ich habe meine 
eigene mathematiſch genaue pſychologiſche Wiſſenſchaft. Vielleicht gelingt es mir, 
einigen Menſchen zur Wahrheit zu helfen, indem ich ſelbſt mit Anſtrengung und 
Ehrlichkeit nach Erkenntnis und Wahrheit ſuche.“ 

Die Herren ſchwiegen nach dieſen Worten in einem Gefühl ehrfürchtiger 
Zurückhaltung, die Dame in Grün ſagte lebhaft: „So werden Ihre Bilder zuſammen 
ein Werk bilden?“ Oer Künſtler nickte: „Man wird aus ihnen ein Stück unſerer 
Zeit erſehen — einſt.“ Dann richtete er ſich gerade auf, ein halb verlegenes Lächeln 
umſpielte ſeinen Mund, und er vermied es, die anderen anzuſehen. Die Dame 
in Grün fagte ernft: „3a, Ihr Material ijt ein lebendiges, wir alle find es.“ — 
„Sehr ſchön, ſehr ſchön,“ rief da der kleine Poet, „aber geben Sie mir zu: nach 
dieſem Prinzip iſt es doch leichter, Männer zu malen, als Frauen?“ — „Es könnte 
ſein“, ſagte der Porträtiſt. „und warum meinen Sie das?“ — „Oh, warum 
meine ich das wohl, ſchöne Frau?“ rief der Poet und erhob in drolliger Hilfloſigkeit 
die gefalteten Hände: „Es kommt, weil die Frauen ſo wunderbar und ſo rätſelhaft 
find. Warum aber find fie fo? Das fagen Sie uns, Madonna.“ — „Oder beffer,“ 
fügte der Holländer ſachlich hinzu, „ſagen Sie uns, warum ſie uns ſo erſcheinen.“ 

Alle Augenpaare hatten ſich mit geſpanntem Ausdruck auf die Dame in Grün 
gerichtet; der Champagner hatte die Wangen gerötet, die Stimmung geſteigert. 
Als die Dame in Grün nun alle dieſe glänzenden Männeraugen auf ſich gerichtet 
ſah, fühlte ſie mit einemmal deutlich, daß ſie die einzige Frau unter lauter Männern 
war; ſie errötete langſam und tief. Ihr Blick fiel auf den Porträtiſten, deſſen 
Augen halb geſchloſſen, flimmernd zu ihr herüberſahen. Da ſtand etwas in ihr 
auf, zwang ſie, die ſonſt ſo Vorſichtige, aus ſich herauszutreten, etwas von ſich 
zu zeigen. Ihr Herz klopfte ſtark und ſchnell, aber ſie ſagte kühl und ruhig: „Nun, 
was wollen Sie denn eigentlich von mir, meine Herren? Etwa eine Tiſchrede 
über das Weſen der Frau?“ — „Ja, ja“, rief es von allen Seiten; der kleine Poet 
zappelte entzückt auf ſeinem Stuhl, der Lord beugte ſich auffordernd zu ihr, der 
Porträtiſt aber klopfte leicht und wie lockend mit einer goldenen Fruchtgabel an 
ein hohes Kelchglas. 

Da begann die Dame in Grün, zuerſt langſam, ruhig, dann allmählich mit 
ſich ſteigerndem Tonfall, zu reden: 


Bob uco: Das rote Diner 47 


„Meine Herren! Sie wollen, daß ich in Worte faſſen ſoll, was Ihnen unfaß- 
lich iſt?. Nichts anderes kann ich, als nach dem Grunde dieſer Unfaßlichkeit forſchen. 
Nichts ſcheint mir natürlicher, als daß Ihnen die Pſyche des Weibes rätſelhaft 
iſt, Denn Mann und Weib find einander fremd, ja es iſt eine große Fremdheit 
zwiſchen ihnen, die nur in ganz ſeltenen und tiefen Augenblicken ſchwindet. Ber- 
ſchieden ſind ſie in ihrem Weſen, ſtellen etwas anderes dar. Durch die ganze 
Natur ſehen wir es, wie zwei Prinzipien gehen: das des Genius und das des Me- 
diums, die, ungleich in ihrem Weſen, einander zuſtreben. Im Menſchen treffen 
ſie ſich in verſchiedenem Maße, doch iſt es im ganzen wohl mehr ſo, daß der Mann 
das Prinzip des Genius, die Frau das des Mediums vertritt. 

Sa, ihrer Natur nach iſt die Frau Medium, mit ihrem Körper Medium des 
Mannes, der Naturidee überhaupt, aber auch in ihrem Geiſte empfängt und be- 
wahrt ſie das Schöpferiſche, das ihr vom Manne zuſtrömt. Wenn der Mann die 
Weltidee auch als Medium empfängt, ſo iſt er der Welt gegenüber, in der wir 
leben, doch der Geſtalter, der Genius. Sein Geiſt iſt auf die Welt eingeſtellt, der 
Geiſt der Frau aber auf den Mann. Ze bedeutender eine Frau ihrer Qualität 
nach Weib iſt, um ſo mehr iſt ſie Medium, hat ſie daher auch die Fähigkeit, das 
Auslöſende für den Mann zu fein. Im männlichen Geiſte liegt eine gewiſſe Starr- 
heit der Idee, Geradlinigkeit, und ſo muß es ſein, denn er gibt die Richtungen. 
Der weibliche Geiſt, als der ausgeſtaltende, denkt in Formen: er paßt ſich dem 
Willen und der Energie des männlichen Geiſtes an, bildet ſo ſeine Fortſetzung. 
aft er ſchön und ſtark, fo kann er die höchſte Plaſtizität beſitzen, denn dem weib- 
lichen Geiſte ſtrömen die Seelenkräfte ungehinderter zu, als dem männlichen. 
Dieſe Seele oder dieſer Seelengeiſt der Frau, leicht beweglich, ſich umwandelnd, 
iſt natürlich nicht leicht zu faſſen. Wie wollen Sie das Leben faſſen? Und die 
Seele der Frau iſt in ſteter Schwingung. Ja ſie geht dem Lebendigen nach, ſucht 
und hält es. Alles was wachſend iſt und werdend, iſt ihr verſtändlich, ſo das junge 
Menſchengeſchlecht, ſo der Künſtler, der ihr außerdem in ſeinen Mediumeigenſchaften 
nah verwandt iſt. Vor allem aber ſcheint es mir nur die höchſte Konſequenz zu 
bedeuten, wenn die Frau ſolche Männer bevorzugt, in denen das geniale Prinzip 
klarer hervortritt, in Energie und Willen. Und als Letztes möchte ich ſagen, daß 
die klarſte Verkörperung des genialen Prinzips, daß das Genie, der Genius, für 
die Frau das Wunderbarſte bedeuten muß. Von Wiedergeburt zu Wiedergeburt 
geht ihr Weſen, von Wiedergeburt zu Wiedergeburt auch das ſeine, doch in ſtärkerer 
Schwingung, und aus eigenen Kräften vollzieht ſich das in ihm. Ja, eine Kraft 
iſt in ihm, von Ewigkeit zu Ewigkeit, und er durchdringt ſie, die ruht und durch 
die doch der Strom des körperlichen Lebens geht, nun auch mit dem Strom des 
ewigen, des lebendigſten Lebens.“ 

Hier endete die Dame in Grün ihre Rede, die ſchließlich nichts anderes ge- 
worden war, als eine Liebeserklärung an das geniale Prinzip im Mann. Und 
alle Männer wurden irgendwie perſönlich betroffen und erregt durch dieſe ihre 
Worte. „Danke“, ſagte der Lord warm, erhob ſein Glas und trank ihr zu. „Danke“, 
ſagten auch der Holländer und der kleine Poet, deſſen Augen jetzt wie verſchleiert 
blickten. Einzig der Porträtiſt ſchwieg. Während die Dame in Grün geſprochen, 


48 Bodisco: Das rote Diner 


hatte er zuerſt vor (id) hingeſehen mit ſeltſam ſehnſüchtigem Ausdruck, als höre 
er einem Beethovenſchen Adagio zu, dann hatte er langſam die Augen auf fie 
gerichtet, und der tiefe, bannende Blick ſeiner Augen verließ ſie nun nicht mehr. 
Sie fühlte dieſen Blick febr wohl, und fie fühlte auch die kurzen, dunklen, wie faffen- 
den Seitenblicke des Lords, aber ihr Geſicht hatte wieder den Ausdruck der Wind- 
ſtille angenommen. Und auch ihre Seele hielt ſtill, ließ ſich vom Fatalismus be- 
herrſchen. Es griffen die Lebensſtrömungen nach ihr, ſie aber verzichtete ihrerſeits 
auf jegliche Handlung. Ein geſpanntes Gefühl hatte eingeſetzt, als ſie hierher 
gekommen war, war es das Vorgefühl kommenden Lebensrhythmus geweſen? 

Da ſprach der lange Holländer: „Es war ſehr ſchön, was Sie ſagten, gnädige 
Frau; wer an ſeine Geliebte denkt, wird heimlich freudig erſchrecken und hoffen 
es wäre fo. C'est cependant vu par un tempérament extrémement artistique. 
Wenn ich mir meine dicke Wirtin vorſtelle —“ — „Oh,“ unterbrach ihn die Dame 
in Grün lebhaft, „auch in ihr, als fie liebte oder ein Kind zur Welt brachte, formte 
ſich ihr Weſen in wunderbarer Wiedergeburt.“ — „Ja, aber wie ſoll man nun 
je von den Frauen genug haben, wenn ſie ſo wunderbar ſind!“ rief der kleine 
Poet in komiſcher Verzweiflung. Alle lachten dazu, außer dem langen Holländer; 
der ſah beſorgt auf ſeinen jungen Freund, denn er wollte den göttlichen Funken 
in ihm ſchützen, und zitterte vor der Gefahr der Zerſplitterung, ja Verflachung, 
die ihm drohte, wenn er fortfuhr, den Frauen gegenüber in derſelben Lebenstechnik 
zu verharren. Sehr ernſt ſagte er: „Die tiefen und großen Geiſter haben tief und 
groß geliebt; ſie alle haben ſchließlich etwas gefunden, worin ſie ausruhen konnten 
von ihrer tiefen Sehnſucht.“ Niemand ſagte ein Wort hierauf, aber es ſchimmerte 
auf allen Geſichtern etwas wie Abglanz verſteckter Sehnſucht. 

* * 
* 

Als der Lord mit ſeiner Dame den andern voranſchritt, fragte er: „Nun, 
wie finden Sie ihn?“ — „Er muß oft falſch verſtanden werden.“ Dieſe Worte 
berührten ihn unangenehm. „Da,“ fagte er, indem fie die Stufen ins Rauchzimmer 
hinunterſtiegen, „hängt das Bild, das er von mir gemalt hat, wie iſt es?“ Die 
Dame in Grün trat neugierig vor, ſie zog beim Betrachten des Bildes die Stirn 
in Falten. „Es gefällt Ihnen nicht?“ — „Ich weiß nicht“, fagte fie unſicher. „Doch 
heute muß ich wohl ſagen, daß Sie dieſem Bilde ähnlich ſind.“ Da traten die 
anderen herein. „Ich habe eine Überraſchung für Sie“, rief ihnen der Lord ent- 
gegen und kam ſich ſelbſt wie überrumpelt vor, als er dieſe Worte geſagt hatte. 
Keinem entging die Aufregung, die ſich in ſeinem Tonfall verriet. Der Porträtiſt 
trat vor, blitzſchnell, faſt wie drohend, ſah er vom Lord zur Dame in Grün, 
dann aber trat er wieder zurück und ſagte angeregt: „Überrafhung? Pas ift ja 
wundervoll. Alſo was?“ Als der Lord ihn ſo ſprechen hörte, fühlte er wieder eine 
plötzliche, heiße Feindſchaft in fid) auflodern, aber er fagte, fid) verbindlich ver- 
neigend: „Sie geftatten mir, mich etwas zurückzuziehen, um Ihnen die Über- 
raſchung vorzuführen.“ Damit verließ er das Zimmer. 

* * 


* 
Er ſchritt ſchnell durch die lange Zimmerreihe zu ſeinem Atelier. Er war 
von leidenſchaftlichſtem Gefühl bewegt: Liebe, Furcht, Ehrgeiz, Eiferſucht, alles 


Bodisco: Has rote Diner 49 


drängte ſich in ihm zuſammen. Er wußte ſehr wohl, daß dieſer Verſuch, den er 
heute wagte, von keinem gewagt zu werden brauchte, der fih als Rünftler ficher 
fühlte, oder der der Liebe einer Frau gewiß zu ſein glaubte. Aber er verſtand ſie 
nicht, jene Frau, in ihrem Gefühlsleben, hatte es ihm nicht viele Mal ſo geſchienen, 
als liebte ſie ihn? Doch als eine Warnung erſchien ihm eben, was er die ganze 
Zeit über als ein günſtiges Zeichen gedeutet hatte: ihre vollſtändige Gleichmäßig⸗ 
keit ihm gegenüber. 

Im Atelier war es hell. Da ſtand das Bild, ſein Bild, von einem indiſchen 
Schal verhängt. Aber er ſah es vor ſich, ſah die leuchtenden Farben, und es erſchien 
ihm ſchön. Ja, es war wie ein Traum von Schönheit, ein Werk, das ihm alles 
auszudrücken, zuſammenzufaſſen ſchien, was er in der Beziehung zu geben hatte. 
Er nahm ſich vor, jetzt nur an die Entſcheidung ſeiner Künſtlerſchaft zu denken. 
Da erſchien ihm das Geſicht des langen Holländers, und ſein Herz klopfte ſchnell: 
es konnte etwas unbarmherzig Klares in den Augen dieſes Menſchen liegen, der 
ſo wundervoll den Nebel zu malen verſtand. 

Unruhig ging der Lord einigemal durch den Raum, er ſtieß dabei an einen 
Tiſch, auf dem verſchiedene Waffen lagen — ein kleiner Revolver blitzte ihm be- 
ſonders hell entgegen. Was ſollten die Waffen hier? Ach ja, er hatte ſie geſtern 
abend gereinigt. Aber die blauen Scheine daneben? Das waren Billette einer 
Reiſegeſellſchaft nach Kairo. Geſtern beim Friſeur hatte ein Bekannter fie ihm 
fast aufgedrängt. Er hatte doch nicht die geringſte Abſicht gehabt, mit nach Kairo 
zu gehen, wozu hatte er ſie denn da gekauft? Er konnte ſich das eben, wo er die 
Scheine aufhob und durch die Finger gleiten ließ, nur durch die Unklarheit ſeiner 
damaligen Stimmung erklären, es erſchien ihm jetzt, als hätte er geſtern doch 
eine Sekunde lang an die Möglichkeit dieſer Reiſe gedacht, als hätte ihn etwas 
dazu getrieben in einem Augenblick, da er für ſein Gefühlsleben alles auf eine 
Karte ſetzte, die Chancen in der Peripherie ſeines Lebens auch nicht ganz außer 
acht zu laſſen. Dasſelbe war es geweſen, das er jetzt öfters in ſich empfand; ein 
bisher Unbewußtes, das in ihm aufſtand und ihn beſtimmen wollte. Er blieb 
mit einem Ruck ſtehen: was geſchehen mußte, ſollte nun geſchehen. Da ging er 
und ſchellte. 


* * 
* 


Die im Nauchzimmer wartenden Herren waren unſchlüſſig ſtehen geblieben. 
Die Dame in Grün batte fid auf das Eckſopha geſetzt und ein Album aufge- 
ſchlagen. Sie ſaß da, den Kopf in beide Hände geſtützt und ſah die ganze Zeit 
auf dasſelbe Blatt hin. Der kleine Poet überflutete den Porträtiſten mit Bered- 
ſamkeit, indem er ihm ſeine Anſicht über den Zufall auseinanderſetzte. Der Porträtiſt 
hörte zerſtreut zu und ſah mit ſeinem flimmernden Blick zum Eckſofa hinüber. 
Der lange Holländer ſtand an den Kamin gelehnt da, ruhig, als erwarte er etwas, 
über das er ſeinen Richterſpruch zu fällen hätte. 

Endlich hörte man Schritte, aber der Lord war nicht allein, ſchleppende 
Schritte wie von Männern, die etwas Schweres tragen, folgten ihm. Der Porträtiſt 
fuhr nervös auf und trat zur Tür, der kleine Dichter ahmte ihn in Poſe und Aus- 
druck nach. Die Dame in Grün ſpürte ein plötzliches heftiges e und 

Der Türmer XV, 1 


50 S&3obisco: Das tote Oiner 


erhob jid. Da fab fie, daß man einen verhängten Gegenſtand hereintrug. Es 
geſchah dieſes mit einer gewiſſen Feierlichkeit, faſt als vollziehe fih etwas Myſtiſches. 
Sie erſchauerte, es gemahnte fie etwas an trübe, ſchwere Stunden... Die Er- 
innerung, da man ein Liebes davontrug zur ewigen Ruhe, zog ihr durch die 
Seele. Warum mußte ſie daran denken? Sie ſah auf den Lord Wie verändert 
er ausſah! Er hielt den Kopf ſehr aufrecht, war bleich. Intereſſant ſah er aus. 
Sie hatte alles andere vergeſſen, wollte nichts anderes eben, als das voll erleben, 
was er ihnen da zugedacht hatte. Sie ſah, daß auf ein Zeichen von ihm die Herren 
eine Staffelei heranrückten, die wartend in einer Ecke geſtanden hatte. Die Männer 
ſtellten den verhängten Gegenſtand darauf, dann gingen ſie. 

„Ein Bild, das Sie gemalt haben?“ unterbrach der kleine Poet die Spannung. 
Der lange Holländer ſagte langſam: „Ja? Das iſt überraſchend.“ 

Der Lord veränderte die Beleuchtung, jetzt trat er ans Bild. Er ſagte nichts, 
aber er erhob die Hand, eine wohlgepflegte Hand, deren Fingerſpitzen breiter 
waren, als die ſpitz zugeſchnittenen Nägel es erkennen ließen. Noch nicht, möchte 
er nur ein Wort ſagen! dachte die Dame in Grün, und da hörte ſie ſeine Stimme: 
„Ja, ein Bild von mir. 8d wünſche febr, Ihr Urteil darüber zu erfahren.“ Dann 
ſah ſie, wie er mit einer ruckweiſen Bewegung das goldgeſtickte Tuch abzog und 
zur Seite trat. 

Die Herren ſtanden dicht beieinander, die Dame in Grün ein wenig abseits, 
es ging eine Bewegung durch ſie alle, als ſich das Bild entſchleierte; dann ſtanden 
ſie ſtill und ſchauten. 

Der Lord aber, während er auf ihre Geſichter ſah, erlebte die chaotiſche Tiefe 
des Augenblicks, in dem man ein Werk, das man liebt, zum erſtenmal preisgibt. 

Was ſich nun den Beſchauern auf dem großen Bilde darbot, war folgendes: 
Schöne Farben, viel Farbe, das war wohl der erſte Eindruck, dann die Erfaſſung des 
Sujets: das Urteil des Paris. Die Gruppierung der Geſtalten war eine ähnliche wie 
auf vielen Oarſtellungen dieſes Themas: rechts ſtanden die Frauengeſtalten, links der 
Paris. Sie ſtanden in einem Orangenhain, einem Milieu, das dem Botticelliſchen 
Frühling nachgeahmt war. Das Modell zum Paris mußte ſchön geweſen ſein: 
ein feingeſchnittenes, dunkles Geſicht, ſchwarze Locken. Aber wenn auch dieſe 
phyſiſchen Eigenſchaften zur Geltung kamen, fo fehlte dieſem Geſicht doch das 
Wunſchvolle, Unfichere, das jid) im Auge des Paris widerſpiegeln mußte. Der 
Körper, ſchön von der Natur gebildet, ſtand ſteif da, in der Haltung eines preußiſchen 
Soldaten, keine feurige Beweglichkeit drückte er aus, nicht das Schmiegſame, 
weibliches Begehren Entfeſſelnde, das dem Amant des amants der Weltgeſchichte 
doch wohl nicht abgegangen war. Die Damen, denn dieſer Ausdruck paßte am eheſten 
auf die Göttinnen, ſtanden korrekt in ihren ſchönen Gewändern da und ſahen 
ihrerſeits denn auch keineswegs gnädig, geſchweige denn neugierig oder begehrend 
auf den ſchönen Jüngling, ber feinen Apfel wie einen Säbelknauf in der Hand 
hielt. Auf ihren Geſichtern — ſie hatten eine gewiſſe Familienähnlichkeit — war 
ein hochmütiger Ausdruck, als wäre es ihnen, den vornehmen Damen, keines- 
wegs angenehm, einen Apfel aus der Hand eines Hirten zu empfangen. Wohl 
war der Verſuch gemacht worden, Sonne auf das Bild zu bringen, wohl verriet 


$3obisco: Das rote Diner 51 


ber rote Faltenwurf der Hera, bae künſtliche Muſter auf Aphroditens Gewand, 
Fleiß und dekoratives Geſchick, allein es machte doch den Eindruck, als hätte ſich 
der Schaffende zum griechiſchen Mythus zum mindeſten ſkeptiſch verhalten, ja 
alles Oionyſiſche, auch nur wirklich Lebendige, [dien ſorgſam ausgeſchaltet zu fein. 

Alles dies ſahen, empfanden nun die Beſchauer. Sie ſagten nichts, aber 
auf ihren Geſichtern war das Urteil über das Bild deutlicher zu leſen, als in den 
Augen des Paris das Urteil über die Göttinnen zu erſehen war. Und wie die 
Göttinnen den dargebotenen Apfel ablehnten, lehnten die Geſichter der Beſchauer 
dieſes Bild ab. Und ſie ſtanden alle der Kunſt zu nah, um zu heucheln. 

Dies alles fühlte der Lord, einen Augenblick lang verwirrten ſich ihm die 
Gedanken, ſo daß es ihm war, als träume er, oder als hätte er das alles ſchon 
einmal erlebt. Er dachte: Warum ſchmerzt es mich nicht, warum ſetzt es mich nicht 
in Erſtaunen? Da löſte ſich aus der Gruppe der lange Holländer, wieder ging er 
zum Kamin, nahm dieſelbe Stellung ein, wie vorhin, doch ſeine Augen blieben 
geſenkt. Der kleine Poet trat von einem Fuß auf den andern, die Dame in Grün 
ging zum Eckſofa zurück. Nur der Porträtiſt ſchien unerſchüttert: „Ja,“ ſagte er, 
„das haben Sie alſo gemacht? Wo bekamen Sie dieſes ſchöne Modell zum 
Paris her?“ 

Der Lord antwortete nicht, ſeine Augen hafteten auf der Dame in Grün 
und ſuchten ihren Blick. Aber er begegnete ihren Augen nicht, ſie ſahen, leicht 
zuſammengekniffen, an ihm vorbei. Ihr Geſicht war bleich, ſah gequält aus. Er 
fühlte, daß fie litt, aber was er heute ſelbſt gewollt, bezweckt batte, eine Stellung- 
nahme von ihr zu ihm, durch ein Werk von ihm bedingt, das empfand er jetzt, 
wo es zutage trat, als kränkend und verletzend. Deutlich fühlte er, daß die Liebe 
einer Frau weder durch Werke gewonnen noch verloren würde, daß aber die Freund- 
ſchaft ſchwer verwinden konnte, was heute geſchehen. Und zum zweitenmal heute 
abend fühlte er, daß Taktloſigkeit hier mit im Spiel war, und daß es dieſes Mal 
nicht nur Taktloſigkeit ſich ſelbſt gegenüber war. Alles dies ſtand in ihm auf: ein 
Gefühl von Scham, Schmerz und Ekel durchwühlte ihn, und plötzlich verließ er 
das Zimmer, ohne auch nur an konventionelle Rüdjichten zu denken. 

* * 


* 

Der kleine Dichter brauſte auf: „unerhört! Kommen Sie doch, ſchnell!“ 
Wieder kehrte der lange Holländer zum Bilde zurück. Er rieb ſich langſam die Hände 
und ſagte: „Sehr bedauerlich, ſehr bedauerlich!“ 

Der Porträtiſt trat zur Dame in Grün: „Es ſtimmte ſchon lange etwas 
nicht mit ihm.“ Ihr Geſicht verfinſterte fih: „Für mich ift das alles kein pſycho⸗ 
logiſches Experiment.“ Er trat hochmütig zurück. Sie ging wieder zum Bilde. 
„Das Koſtüm der Hera iſt pompös, aber was für ein Stilfehler, dieſe Koſtüme!“ 
ſagte der Poet. Auch dies verletzte ſie. Hilflos ſah ſie zum Holländer. „Nun, 
nun“, ſagte der wie ermutigend. Zetzt ſtand der Porträtiſt hinter ihr. „Es brauchen 
nicht alle Menſchen gerade Bilder zu malen“, ſagte er. — „Wenn es aber ſchon 
gemacht ift!” rief fie ungeduldig. Sie fühlte etwas wie Auflehnung, ja Feindſchaft 
gegen feine Überlegenheit. „Es müßte jemand zu ihm gehen“, fagte fie. — „Aber 
nein, durchaus nicht,“ antwortete er, und leiſer, eindringlich bittend fügte er hinzu: 


52 Bodisco: Das tote Diner 


„Es ift doch eben eine Lebenskriſis für ihn, aber er wird fid) (don durchringen.“ 
Bei dieſen Worten legte ſich alle ihre Feindſchaft, und ein warmes Gefühl von 
Vertrauen durchſtrömte ſie wieder. Nein, an ſeiner Stellung zu den Menſchen 
durfte ſie nicht zweifeln. Er war der Helfende, wenn er auch zuweilen hart ſcheinen 
mochte; hatte ſie nicht ſelbſt heute geſagt, er muß oft falſch verſtanden werden? 
Aber fühlte er auch eben, daß ſie einen Freund verlor und darunter litt? Denn 
dieſes ſchreckliche Bild würde von jetzt an immer wieder zwiſchen ihr und dem 
Lord ſtehen. 

Da rief der kleine Dichter: „Es lief jemand durch den Saal!“ Die Dame 
in Grün fuhr auf: „Was ift —?“ Auch der Holländer ſchüttelte den Kopf, wie un- 
ſicher. „Ich weiß nicht, ich bin beunruhigt,“ ſagte der kleine Poet, „wozu braucht 
der Giacomo ſo zu laufen, das geſchieht doch ſonſt nie hier im Hauſe?“ Sie hörten 
nach dieſen Worten den Porträtiſten ungeduldig, faſt ungezogen laut aufſeufzen. 
Da gingen der kleine Poet und die Dame in Grün und ſtellten ſich auf die erſte 
Stufe der Treppe, ſie ſahen in den Saal hinein, ſprachen aber nicht mehr. So 
erwarteten in Spannung und teils in Befürchtung die Gajte des Lords die Dinge, 
die da noch kommen ſollten. 

* * 
* 

Der Lord ſtand wieder in ſeinem Atelier. Sein erſter Blick fiel auf die leere 
Staffelei; die würde nun leer bleiben für alle Zeiten! Aber wie viel Zeit und Kraft- 
gefühl war nicht in dieſem Raum vergeudet worden! Ein derartiges Gefühl von 
Schmerz, von Lebensleere, Farbloſigkeit packte ihn, daß er erſchauerte. Nein, 
ich kann nicht, ich kann nicht auf alles verzichten, worauf ich gehofft, ſchrie es in 
ihm. Er hatte das Gefühl, als müßte er etwas zerbrechen, gleich handeln. Etwas 
tun, etwas tun! rief es in ihm, und ſiehe da — es fiel ſein Blick auf die bunten 
Scheine, die neben den Waffen lagen. Er eilte zur Tür — ſchellte. Aber als der 
Diener erſchien, ſtarrte er ihn an, er konnte im Augenblick keinen Gedanken faſſen. 
Erſt als er den Diener erſtaunt zurückprallen ſah, faßte er ſich wieder zuſammen. 
Langſam begann er zu ſprechen: „Der ſchwarze Kaffee — bringen Sie ihn dorthin! 
Und ich laſſe die Herrſchaften bitten, ſich nicht ſtören zu laſſen. Sagen Sie aber 
games“ —, und hier hörte er fid) zu feiner eigenen Verwunderung plötzlich fließend 
ſprechen, während er blitzſchnell viele Gedankenreihen durchlief, —, er foll meinen 
Koffer packen fiir einen Monat und ſofort auf den Zentralbahnhof bringen. Schnell.“ 
— gest atmete er auf. Eine Linie war gezogen, das Schickſal hatte eine Direktive 
bekommen. Schnell zog er ſeinen Nod an. Er vermied es, durch den Saal zu gehen. 
Als er im Vorzimmer alle die fremden Sachen hängen ſah, begann ſein Herz wieder 
ſchnell und ſchmerzlich zu klopfen. Er ſah einen duftigen Frauenſchal über einem 
hellen Mantel, und ein derartiger Durft nach Frauenliebe kam für einen Augen- 
blick über ihn, daß es ihn an der Kehle packte. Aber er richtete ſich ſtramm auf, 
ja er rang geradezu nach Fronie über fido ſelbſt. Er hatte ſich in eine Situation 
gebracht, in der er für alles in der Welt keinen Freund gern gewußt hatte... 
Was bie da wohl machten im Rauchzimmer? Warum ſchwiegen fie denn alle? 
Wie ein hellgrüner Schimmer war es vor ſeinen Augen. Fort, ſchnell! Er griff 
nach ſeinem Hut. Als er ihn aufſetzte, dachte er: Oft habe ich gedacht, wenn nach 


$3obleco: Das rote Diner 53 


einem Schauſpiel ber Vorhang hinunterging: Jetzt könnte eigentlich das Stüd 
ebenſogut beginnen! Dann ging er. 
* * 
* 

Denen im türkiſchen Nauchzimmer hatte es geſchienen, als hätten ſie einen 
Schritt gehört. „Jemand ging im Vorzimmer,“ rief der Dichter. — „Zetzt ging bie 
Haustür“, ſagte der Holländer nach einiger Zeit. Der Porträtiſt ſtand auf. „Der 
Lord?“ fragte er. Er wollte ſchellen, da kam aber ſchon gerade der jüngere Diener 
und brachte den ſchwarzen Kaffee. „Die Exzellenza laſſen die Herrſchaften bitten, 
[ib nicht ſtören zu laffen. James bringt gleich den Koffer des Herrn auf den Zentral- 
bahnhof. Der Herr iſt abgefahren.“ 

Es ging wie ein Aufatmen durch den Raum. Der kleine Dichter fuhr in die 
Taſche und gab dem erſtaunten Diener fo viel Silbergeld, als er nur darin fand. 
Der Porträtiſt hatte kurz aufgelacht und reichte nun der Dame in Grün eine Taſſe 
Kaffee. Die ſtand da mit großen Augen und bemerkte ihn nicht gleich. Als ſie ihn 
aber anſah, las ſie in ſeinen Augen ſo viel Güte, Aufmunterung und Kraft, daß 
fie lächeln mußte. Und als er (ab, welcher Art ihr Lächeln war, da machte er un- 
willkürlich eine Bewegung, als ſchuͤttle er eine Laſt ab, die ihn bedrückt hatte. 

„Oh, bewundernswert iſt der Lord!“ rief der Poet. „Er bringt es zuſtande, 
ſogar im Mißgeſchick Chic zu haben!“ Alle lachten. — „Sprechen wir nicht darüber“, 
ſagte der Holländer. „Sprechen wir gar nicht. Wollen wir in die Natur gehen? 
Kommen Sie.“ Nach dieſen Worten verabſchiedete er ſich, und der kleine Poet 
tat das gleiche. | 

* » * 

So blieben denn an dieſem denkwürdigen Abend der junge Porträtiſt, der 
bereits anfing, ſich einen Namen in Europa zu machen, und die Dame in Grün 
im roten Rauchzimmer des Lords in Geſellſchaft des ſchönen, ſtrammen Paris 
und der hochmütig vornehmen Göttinnen in den koſtbaren Toiletten. Sie hatten 
ſich ans Kaminfeuer geſetzt, einander gegenüber, in tiefe Seſſel, und es ſchien 
ihnen nicht einmal der Gedanke zu kommen, daß auch ſie, gleich den anderen, 
nun hätten aufbrechen können. Sie ſprachen nicht; es war ein wohltuendes Schwei- 
gen zwiſchen ihnen; es verſank darin alles Enttäuſchende, Erregende, und alles 
ward wie ausgeglichen. 

Er ſah ihr von weichem, bauſchigem Haar umgebenes Geſicht, ihren weißen 
Hals auf roten Atlaskiſſen ſchimmern. Er ſah, daß ſie tief und regelmäßig atmete, 
aber ihren Blick konnte er nicht auffangen, denn noch war er verſchleiert und,un- 
deutlich, und jetzt ſchloß ſie gar die Lider. 

Sie aber fühlte durch die geſchloſſenen Augenlider hindurch ſeinen Blick, 
und feine Stimme war faſt wie eine Liebkoſung, als er anfing zu ſprechen: „Ent- 
ſinnen Sie ſich,“ begann er, „wie Baſil Hallward Lord Henri erzählt, daß er in 
Dorian Grays Geſicht die Anregung zu einem neuen Stil gefunden hätte? Solch 
eine Ahnung eines neuen Erlebens, Offenbarens packte mich heute, als ich Sie 
ſah. Verzeihen Sie mir, daß ich Ihnen das gleich ſage, aber —“ Er brach ab, 
ſie hatte ſich aufgerichtet. „Nein, ſprechen Sie nur“, ſagte ſie und griff nach einem 
Eiſen und begann das Feuer zu ſchüren. — „Nun denn,“ fagte er ſchnell, „ich dachte 


54 Bodisco: Das rote Olner 


nicht nur an bie Runft, ich fühlte vielmehr, daß in Ihnen etwas liegt, das meine 
Seele, meine Exiſtenz erweitern könnte.“ Sie ließ das Eiſen fallen, doch noch 
blieb der Blick verſchleiert. „Glauben Sie das?“ fragte ſie langſam. „Sie ſind 
nicht umſonſt Porträtiſt, Pſycholog, das Rätſel eines neuen Menſchen lockt Sie, 
Sie wollen es löſen, es iſt vielleicht nichts als das?“ Er ſtand auf, ging einmal 
ſchnell durch den Raum. Er hatte ihr ſo viel geſagt, warum wollte ſie es nicht 
verſtehen? Aber als er wieder zu ihr trat und in ihr Geſicht (ab, in dem das zurück- 
gedrängte Leben vibrierte, ſagte ihm ſein tiefes menſchliches Erkennen, daß er 
(id) hier doch deutlicher fein müßte, damit fie fid nicht am Ende auf den un- 
nützen Umwegen verloren gingen, anſtatt aufeinander zuzukommen. Er ſetzte 
(id) wieder, und die Beweglichkeit feiner Natur half ihm, daß er, deffen Geelen- 
ausdruck doch nicht Worte waren, in Worte zu faſſen vermochte, was er wollte, 
daß ſie erkennen ſollte. „Nein,“ ſagte er, „es iſt in dieſem Fall nicht ein Problem 
mehr oder weniger; wenn andere mir Problem waren, ſo werde ich mich Ihnen 
gegenüber ſelbſt als Problem empfinden; das tjt ber Unterſchied. Gd fühlte gleich, 
daß fih Ihnen gegenüber mein Weſen ſpannt, ſammelt, wie verdichtet, und das 
war ein rechter Inſtinkt, denn in Ihnen ſchlummert die Auslöſung. Sie werden 
mich als Menſchen und als Künſtler verſtehen, denn Sie wiſſen und verſtehen 
vieles. Immer ſenſitiver, immer ausgebildeter muß durch meine Art, das Leben 
unb bie Menſchen anzuſchauen und wiederzugeben, mein Weſen werden, ja da- 
zwiſchen hat es mir jetzt geſchienen, als ſchwände etwas von meiner Konzentrations- 
kraft. Ich habe geſucht, ſchon lange. Ich ſuchte — werden Sie mich verſtehen? 
gewiſſermaßen ein Opfer.“ Er brach ab, ſah ſie durchdringend an und bemerkte, 
wie beim Worte Opfer etwas Starkes und Leuchtendes über ihr Geſicht ging. 
Dringlich, warnend, und doch beredend fügte er hinzu: „Das Erleben ſeiner ſelbſt 
an einem anderen, ſehr lebendigen Menſchen, verſtehen Sie, was das für mich 
bedeuten muß?“ Sie ſah ihn an, und er ſah zum erſtenmal auf den klaren Grund 
ihrer Augen. „Ich glaube,“ ſagte fie febr ernſt, „daß ich Sie verſtehe. Wären 
Sie bloß ein febr Talentierter, fo würde fid) dies alles als ein Irrtum erweiſen. 
Sd würde dann bloß als ein Erlebnis durch Ihr Leben gehen, wie andere auch. 
Sie werden im Verkehr mit jeder Ihnen näher ſtehenden Frau etwas von ſich 
erlebt haben, ja, ich wiederhole, Sie könnten ſich dann irren... Und Sie ſelbſt 
wären dann für mich auch nichts anderes als eine aufleuchtende Farbe mehr im 
Gewebe des Lebens geweſen. Es wäre dann das Beſte, unſere Bekanntſchaft 
gleich bei dieſem Geſpräch abzubrechen —“. „Aber, aber, da —?“ unterbrach 
er ſie ungeduldig und voll Angſt, denn es ſchien ihm, als könnte ſie vorbeiſprechen 
an ihrem Innerſten. „Da ich aber fühle,“ begann fie ganz feft und ruhig — et 
faßte ihre Hand und drückte ſie ſo hart, daß es ihr hätte weh tun können, wenn 
ſich ihr nicht alles, was von ihm kam, zur Freude gewandelt hätte —, „da ich aber 
fühle,“ wiederholte fie nun verwirrt, „daß Sie — ein Genius find — —“ — „Za,“ 
ſagte er ernſt, leiſe, wie unter einer ſchweren Verantwortung, und gab ihre Hand 
frei. Sie ſchwiegen einen Augenblick lang, dann ſprach er wieder: „Sie ſagten 
vorhin, der Genius ginge von Wiedergeburt zu Wiedergeburt. In jedem Schaffen- 
den iſt Orang nach Selbſtoffenbarung. Der Künſtler offenbart ſich am Werk, es 


9naffé: Einmal verſchließ' ich das Haus 55 


kann aber geſchehen, daß die lebendige Seele ſich erſt in ihrer ganzen Schönheit 
an der Seele eines anderen offenbaren kann. Da findet, erkennt ſie ſich, und die 

Seele des anderen wird dann gewiſſermaßen zum Kunſtwerk der eigenen Seele.“ 
ö Als er diefe Worte geſagt hatte, erhob fie fic) impulſiv. Für einen Augen- 
blick legte ſie ihm die Hand aufs dunkle Haar, und hätte er gewußt, was ſie ſchon 
wußte, ſo hätte er es gefühlt, daß von dieſer Stunde an ein Segen über ſeinem 
Leben lag, ein Segen, gegeben aus jenen geheimen Kräften, die vielleicht be- 
ſtimmender ſind für unſer Leben, als äußere Schickſale. „Ja,“ hörte er ſie mit 
weicher Stimme ſagen, „das könnte vielleicht ſchon ſein. Vielleicht bin ich ein 
Reich, das nicht regiert wird, und da könnte res (don geſchehen, daß ein junger 
König vorbeikommt und bie gerrſchaft an ſich nimmt.“ Dann ging fie mit 
leichtem Gang zur Tür und nickte ihm zu. 

Er folgte ihr, überraſcht, enttäuſcht, daß fie ging. Aber als man ihr den 
Mantel um die Schulter legte, ſah er auf ihrem Geſicht das feine Lächeln, das 
ihm an ihr fo gefiel. Sie ging ſchnell die Stufen hinab und ftieg in eine berbei- 
gerufene Droſchke. Er ſtand vor ihr — fie ſahen fid) an, ohne ein Wort zu finden, 
das ſie ſich hätten ſagen können, und er verſtand es nun, warum ſie fort gegangen 
war nach dieſem ſeltſam tiefen Geſpräch ihrer kurzen Bekanntſchaft. Jetzt fuhr 
der Wagen fort. Er kennt nicht einmal meine Adreſſe, dachte fie, aber das be- 
unruhigte ſie nicht, ſie wußte, er würde ſie ſchon zu ſuchen und zu finden wiſſen, 
wenn auch das Dunkel des Weltalls zwiſchen ihnen läge. 


Se 
DE S WAS 


Viet — ra el 


Einmal verſchließ' ich das Haus 
Von Grete Maffé 


Einmal verſchließ' ich das Haus Glück, nicht erfaßt, nicht erkannt 
And verlaſſe Bruder und Sdwefter, In meinen ſtürmiſchen Tagen, 
Soling’ um die Schultern feſter Sekt muß ich dich reuvoll erjagen 
Mein Tuch und ſchreite gradaus. An meiner Tage Rand. 

Im Herzen fühl’ ich den Tod Brenn auf mit blauer Glut 

Und die Wangen fühl’ ich erblaſſen. Als Flamme, treib mir entgegen 
So eil' ich durch Straßen und Gaſſen Auf meinen Todeswegen 

In meiner bitteren Not. Als Blüte, rot wie Blut. 

Bevor die Wimper ſinkt, Strahl überm Firnenkranz 

Zum Todesſchlaf, erſtrahle Als Sternenlicht, erſcheine, 

Vor mir zum letzten Male, Daß ich erlöft aufweine 

Glid, das mir einſt gewinkt. Und daß ich ſterbe ganz. 


W 


Wenn die Liebe fid) rächt. 
Von A. Fendrich 


/ie tut es auf tauſend ſonderbaren Wegen. Aber der Ausgang ijt, fo 
überraſchend er dem Betroffenen immer kommen mag, jedesmal 
ganz der gleiche: es geht einer hinaus, neigt das Haupt und weint 
bitterlich. 

Trotz der Bitternis ſind es immer die Tränen des Glücks, die ihm über die 
Wangen rollen. Es iſt immer die gleiche, nie für möglich gehaltene und in ihrer 
eigenſinnigen Monotonie immer wieder alles umſtürzende und im Umjtürzen be- 
ſeligende Geſchichte, daß ein Mißtrauiſcher, von der Scham über (id) ſelbſt über- 
wältigt, zuſammenbricht, weil fic ihm alles, alles als viel größer und herrlicher und 
gütiger erwieſen hat, denn er es ſich in ſeinem kleinen Herzen und ſeiner ſchwachen 
Vernunft träumen ließ. 

Die Rache der Liebe ſchlägt nie Wunden, ohne daß aus deren rotem Herz- 
blut Roſen wachſen. Ihre Narben verheilen, aber bleiben. Und wenn der Getroffene 
ihrer inne wird, dann überfällt ihn wieder die Seligkeit der Scham, und der 
Schmerz, der mehr iſt denn Reue. Wenn der Haß ſich rächt, dann iſt es um- 
gekehrt. Beim Anblick ſeiner Narben reißt den Geſchlagenen die Unſeligkeit des 
Zorns mit ſich oder gar die des Ruhms. 

Die Heimtücke, mit welcher die Liebe ſich rächt, iſt gar nicht zu beſchreiben. 
Mit ihr verglichen ijt die Tücke der Bosheit arglos wie die Tauben. Ihre glühen- 
den Kohlen brennen, wie alle Liebe, von der niemand nichts weiß. Und der Nie- 
mand, das find nicht bie andern, ſondern der andere, der dann hinausgeht. 
Wem das paſſiert, dem bricht meiſtens gar nicht das Herz entzwei, das ein viel 
haltbareres Geräte iſt, als die meiſten glauben. Und auch das iſt Nache der Liebe, 
wenn das Herz trotz ſeines heute fo ſchlechten Rufes leidet, leidend liebt und lie- 
bend weiter ſchlägt. 

Manchmal bricht nun allerdings etwas entzwei: die Vernunft oder der Ver- 
ſtand oder das, was wir dafür halten. Wahrſcheinlich nur das Gehirn. Das paj- 
ſiert denen, die nicht wiſſen, wie ihnen geſchah. Da iſt das Verrücktwerden eine 
Gnade. Sie würden“ die Glut nicht aushalten und das Licht. Darum ijt es, daß 
jedesmal, wenn die Liebe ſich rächt, ihr ein Bote vorausgeht: Fürchte dich nicht. 


Fendrich: Wenn die Liebe fi rächt 57 


Denn es i ft furchtbar. So ijt der alte König Lear verrückt geworden an der ſchwei⸗ 
genden Liebe Cordelias; fo waren die kleinen Teufel ganz außer fid) über Zwan 
den Narren, der immer nur ſagte: „Nun, meinetwegen.“ 

Das iſt aber auch der Zauberſtab, mit dem die Prinzeſſin Wieduwitt ihre 
Feinde ſchlug, bis aus ihrem verhärteten Herzen der ewige Quell herausbrach; 
und das iſt der alles wie eine Glutlawine niederſengende und niederbrechende 
Segen, den der größte aller Menſchenkinder noch vom Galgen herabſprach. Die 
unheimliche Zähigkeit und die nicht zu erſchütternde Ausdauer, das Schleichende 
und Verſteckte in ihren Bewegungen und das Mörderiſche in ihrem Überfall, das 
iſt es, was die ſich rächende Liebe ſo in Verruf bringt, daß die Menſchen immer 
wieder an ihr irrewerden und immer wieder das Entſetzen des Glücks empfinden, 
wenn der Feind auf ihrer Bruſt kniet und das Schwert zückt, auf einmal das Viſier 
lüftet und in ſeinem Angeſicht das ewige Lächeln des gütigen Allüberwinders zeigt. 

Ich kannte ein kleines Mädchen, das an einem ſeltſamen Eigenfinn litt. 
Kein Menſch wußte in Wirklichkeit, was dies war. Eines Tages ſaß es auf dem 
Schoß feiner Mutter und war damit beſchäftigt, aus deren Kleid ein kleines Zäd- 
chen herauszuziehen. „Laß das!“ hatte die Mutter ſchon an die ſieben Male ge- 
ſagt, freundlich, ernſt, geduldig und ſchließlich warnend. Aber die Kleine ſah die 
Mutter immer wieder ſchelmiſch an, gerade als ob ſie ihre Geduld auf die Probe 
ſtellen wollte, und fing das alte Spiel immer wieder von neuem an. Auf einmal 
fpiirte bie Schelmin einen nahdrüdlichen Schlag auf der Hand, und zwar zum erſten⸗ 
mal in ihrem jungen Leben. Heller Purpur brach durch die kleinen Wangen, eine 
Träne wollte aus den reinen Augen rollen, — aber das Kind gab ſich im Herzen 
einen Ruck und ſagte nach einem kurzen Schweigen: „Und du biſt doch meine liebe 
Mutting.“ Da neigte die Mutter das Haupt ... 

Die meiſten Menſchen meinen, das Göttliche habe keinen Humor. Sehr viel 
ſogar. Es iſt das große Neckiſche an der Liebe, daß ſie ſo gerne Verſteckenſpiel 
treibt und ſucht, indem ſie ſelber ſuchen läßt, und gerade dann, wenn der Menſch, 
der ihr nachläuft zwiſchen den wunderlichen Bäumen im Irrgarten des Paradieſes 
ſich über die hindernden Hecken und dornigen Büſche ärgert, auf einmal da iſt, 
leife zu ihm ſagt: „Du Kleingläubiger!“ und ebenſo raſch wieder hinter den Bäumen 
verſchwindet. Denn die Liebe, die ſich rächt und die vom Allzumenſchlichen ſchon 
lange nichts mehr an fic trägt, tut eines nicht. Sie ſchulmeiſtert nicht. Sie 
hält nicht mit der trockenen Würde eines allwiſſenden Oberlehrers ſtändig den 
Zeigefinger in die Höhe und ſagt nicht jedesmal: „Siehſt du, ich bin die Liebe, 
die ſich rächt und die es dir ſchon immer geſagt hat.“ Sondern ſie iſt einfach da 
oder auch nicht, wie alles Große, alles Selbſtverſtändliche, alles Göttliche. 


Sein Bild 
Von Clotilde CBrettauer 


’ s ſteht vor mir und grüßt mich, und bas Mutterherz jubelt: „Er iſt's!“ 

y. Mit dieſen Augen hat mich mein blondlodiger Junge ange- 

ſehen, als er zu meinen Füßen den Märchen gelauſcht und die Welt 
noch fo jung war. 

„Weiter, weiter, ich fürdb mich fo gern!“ drängen die leuchtenden Rinder- 
augen. | 

Glückliche Kinderſeele, bie weiß, daß alles Gruſeln und Grauen ein Ende 
hat, wenn der Schluß kommt. Denn Mutter erſinnt immer einen guten Schluß. 

Mein Junge! Lieb und vertraut, als wäre er geſtern in die Welt gezogen. 
Und es liegen doch Jahre dazwiſchen — Jahre! — 

Auch nach Jahren war es, als ich das Haus wiedergeſehen und den Garten, 
in dem ich als Kind einſt geſpielt. Ich meinte jeden Stein zu kennen und jede 
Blume. Aber fremde Menſchen bewohnten das Haus und fremde Hände pflüdten 
die Blumen | 

Biſt du es wirklich, mein Sohn? 

Ich blicke dir tief, tief in die Augen, ſo wie nur Mutterliebe blicken kann — 
but du es wirklich ... 

Ach —! Fremde Menſchen bewohnen das Haus, und fremde Hände pflücken 
die Blumen 

Ja, ſieh mich nur an, mit den fragenden, wiſſenden Augen. Und auch bein 
ſtummer Mund ſcheint nicht mehr ſtumm. Doch ſprich nicht, nein, ſprich nicht! 
Ich weiß ſchon, ich weiß — — | 

Und ich will dir wieder ein Märchen erzählen, mein Sohn, wie damals, 
als die Welt noch jung war: 

Es gibt ein Land, das ift fo weit und groß, daß keiner es ermeſſen kann. 
And höher iſt es als die höchſte Luſt, und tiefer als alles Leid und alle Schuld. 
In dieſem Lande wird kein Paß verlangt, der rettende Hafen ſteht immer offen, 


Findeiſen: Her Nindertreuzzug 1212 59 


And ſo einer naht, der arm iſt und bedrückt, wird er mit Engelszungen getröſtet 
und mit allen Schätzen der Erde beladen. 

Mutterliebe nennt ſich das Land. — 

Wenn das Leben dir Märchen erzählt, mein Sohn, wo es keinen Ausweg 
gibt für das Gruſeln und Grauen, dann komm nur, komm! 

Mutter erſinnt immer einen guten Schluß 


S ONSE NOSE 
CADETS 


Ser Kinderkreuzzug 1212 


Zum Gedächtnis der Not der Zeit vor 700 Jahren 
Von Kurt Arnold Findeiſen 


Das warf ein Traumnetz über Bach und Berg 
And prophezeite Rinderparadiefe. — _ 


Stumm liegt vor mir ein greifes Chronitbud 
Voll Menſchenirrtum, Sehnſuchtsglück und ⸗fluch. 
Ein Meſſingſpänglein hält's mit Müh“ umſpannt. 
Da ſtöhnt auf einmal leis der Foliant Und wo der Knabe hinkam, löſte ſich 

Und dehnt fidh, poltert auf und macht fic breit. — Der Ringeltanz, der um die Linde ſtrich; 


Und ſchaudernd blick' ich in verſchollne Zeit. 
Geklirr von Waffen. Hohenſtauf' und Welf! 


Kreuzfahrerwahn und wut. Zwölfhundertzwölf: 


Ein alter Stich: Ein Herz mit Dornenruten. 
Und tauſend Mutterherzen fühl’ ich bluten, 
Und tauſend flinke Füßlein feb’ ich gehn, 
Und übers Land hör' ich ein Weinen wehn; 
Denn auf die Kinder fiel wie Froſt im Mai 
Gar eine tränenvolle Phantaſei: 


Ein Knäblein zog im Reiche hin und her 
Und fang ein Lied, das war fo rätſelſchwer; 
Das machte wiinfdefatt und wünſchetoll, 
War einer fremden, fanften Süße voll; 
Das klang wie Geigen aus dem Hörſelberg, 
Wie Davidsharfen und wie Chriftusgrüße; 
Das ſang von Bethlehem und Nazareth 
Und drang betörend über Wald und Wieſe; 


And wo ſein Kehlchen girrte, warb und bat, 
Flog in den Winkel Fangball und Donat. 


Er fang: Geſchändet ijt das Kreuz des Herrn! 
Er ſang: Errette, räche, bete, büße! 

Er ſang vom Morgen bis zum Abendſtern. 
Wie Engelsklage tlang’s und Zeſusgrüße. 
Er ſang bald hier, bald dort, bald nah, bald fern, 
And hinter ihm frohlockten Rinderfüße, 

Und tauſend, taufend heiße Knabenherzen 
Brannten ihm nach wie gottgeweihte Kerzen. 


Er zog von Land zu Land in ſtetem Schritt, 
Und tauſend, tauſend Bübchen zogen mit. 
Er führte feine Schar — — Fns Chriſtuslicht? 


Die alte Chronik ſchweigt; fie weiß es nicht. — 
Anſagbar traurig klingt, was fie noch weiß: 
Ein einz'ger kehrte heim — als irrer Greis. 


Dinge, Die man nicht jagt 
Von Dr. Karl Mötzel 


s 2 
d gibt gewiſſe, ganz offenſichtliche Zuſammenhänge des Geſellſchafts- 
> lebens, bie man nicht ausſpricht, weil das unbequem ift. Da ift gu- 
nächſt durch ein überwältigendes Zahlenmaterial nachgewieſen, daß 
die überwiegende Mehrzahl der Verbrecher in allen Kulturländern 
den ärmſten Bevölkerungsklaſſen entſtammt. Nun werden freilich die Herren 
Gefängnisgeiſtlichen gleich wieder darauf zu entgegnen haben, daß die wenigſten 
Diebſtähle aus direkter Not geſchähen. Wir wiſſen das längſt. Damit iſt indeſſen 
bloß bewieſen, daß direktes Elend Krankenhäuſer und Kirchhöfe füllt, nicht Ge- 
fängniſſe und Zuchthäuſer. Für uns iſt das freilich ein geringer Troſt. Und dann 
handelt es ſich doch auch hier vornehmlich um die Nachkommen dieſer Elenden, um 
fie, die mit Naturnotwendigkeit degenerieren mußten, weil fie im Entwicklungs- 
alter unterernährt und unbeaufſichtigt blieben, weil ihre Eltern krank, und ihre 
Umgebung von Laftern und Verbrechen infiziert war. Und ſchließlich noch eines: 
wenn auch erwieſenermaßen die Mehrzahl aller Eigentumsvergehen nicht aus 
direkter Not hervorgeht, ſondern vielmehr aus der Unfähigkeit des in Betracht 
kommenden Individuums, fid) einer wirtſchaftlich veränderten Lage anzupaſſen, 
z. B. auf gewiſſe gewohnte Lebensgenüſſe (Tabak, Alkohol uſw.) zu verzichten, 
ſo dürfen wir doch nicht überſehen, daß es ſich hier tatſächlich eben vornehmlich um 
Degenerierte handelt, und daß dieſe dazu noch in den allermeiſten Fällen um 
das Exiſtenzminimum herum leben. Dabei haben wir alle vielfach erfahren, daß 
in wirtſchaftlich geſicherten Rreifen auch ausgeſprochen verbrecheriſche Veranlagung 
(namentlich ſolche zu Diebſtahl und zu Betrug) nur ganz ausnahmsweiſe zu Bue 
ſammenſtößen mit dem Strafgeſetz führt. 

Aus alledem ergibt ſich nur der eine Schluß, daß der wirtſchaftlich Ungeſicherte 
über eine größere ſittliche Widerſtandskraft verfügen muß, um unbeſcholten zu 
bleiben, als der, welcher in geordneten wirtſchaftlichen Verhältniſſen herangewachſen 
iſt und lebt. Und darum wiederum, fo follte man wenigſtens meinen, gebührt dem 
unbeſcholtenen Mann aus dem Volk eine ganz beſondere Hochachtung. Wird er 
aber einmal zum Verbrecher, fo dürfen wir nie vergeſſen, daß wir gar nicht wiſſen 
können, ob wir ſelber der gleichen Berſuchung hätten zu widerſtehen vermocht. 
Wie aber iſt in der Regel unſer tatſächliches Verhalten zu dem Manne aus dem 


Nöhel: Dinge, die man nicht fagt 61 


Volke? Solange er unbeſcholten ijt, verweigern wir ihm bie Gleichachtung, fällt 
er aber, ſo verachten wir ihn und machen ihn leiden. Wir alle laſſen uns eben 
durch unſere wirtſchaftliche Lage, die wir für die normale halten, zu moraliſchen 
Bewertungen verleiten, die zwar ausnahmslos unſerer Selbſtgefälligkeit ſchmei- 
cheln, die aber als tatſächlich unbegründete Uberhebung von den wirtſchaftlich Un- 
geſicherten erkannt werden müſſen. 

Das find Dinge, die man in der Regel nicht ſagt, und an denen man fih nach 
Möglichkeit vorbeidrückt. Denn einmal iſt es ſehr unangenehm, an dieſe Dinge zu 
denken. Man fühlt gleich allen Boden unter ſich wanken, und man ſieht ſich vor die 
Notwendigkeit geſtellt, ſeine ganzen ſittlichen Fundamente von neuem aufzubauen. 
Es geht aber nun einmal nicht anders. Freilich ſind nicht wir allein ſchuldig an 
unſerem Mißverſtehen unſerer Mitmenſchen und an unſeren Ungerechtigkeiten 
ihnen gegenüber, das ſei zugegeben. Die Einrichtungen, innerhalb derer wir uns 
bewegen, zwingen uns faſt zu dieſem Mißverſtändnis. In dieſen Einrichtungen aber 
wirkt der Wille unſerer Vorfahren weiter. Das alles ſei zugegeben. Aber auch das 
ſpricht uns nicht frei. Wenn wir uns auch ſeufzend an die Neuaufrichtung der 
Grundlagen machen, auf denen unſere Seele ſo ſicher ruhte, und wenn wir dabei 
begriffen haben, daß dieſe Aufgabe unſer ganzes Leben dauern wird, ſo ſchweigt 
auch damit nicht in uns die Beſorgnis vor der neuen Erkenntnis unſerer Ungerechtig⸗ 
keiten denen gegenüber, die wirtſchaftlich unter uns ſtehen. Gerade die feineren 
Gewiſſen, die ſich uneingeſtandenermaßen in ihres Herzens Grunde mitverant- 
wortlich fühlen an dem Schickſal der ganzen Menſchheit werden ſich immer wieder 
die Frage vorlegen, ob die gegenwärtige Menſchheit auch imſtande iſt, die maje⸗ 
ſtätiſche Wucht ihrer unzerſtörbaren Unſchuld zu tragen. Aber nur dann wird es 
möglich ſein, den Menſchen zur Einſicht des Guten zu führen, ohne ihn zu beſchämen 
und ohne ihn leiden zu machen, nur dann, wenn die Menſchen begriffen haben, daß 
jeder Mitmenſch ihnen gegenüber unſchuldig iſt, daß er ihnen gegenüber zu dem 
werden mußte, der er iſt, und daß wir bis zu einem gewiſſen Teile alle unſchuldig 
ſind an unſerem eigenen Tun und Laſſen, bis zu einem Teile freilich, deſſen Grenzen 
wir nie erkennen werden (und dieſes Nichtkennen ſchützt uns davor, uns ſelber zu 
entſchuldigen, wenn wir der Verſuchung unterlegen ſind). Die Erkenntnis aber davon, 
daß auch in unſerem eigenen Tun und Laſſen Gezwungenes iſt, ſolches, das uns 
vorgeſchrieben wurde von aller Ewigkeit her, dieſe Erkenntnis wird uns mehr und 
mehr unentbehrlich, denn wir begreifen immer tiefer unſere Schuld und müßten 
an unſerer Willensſtärke verzweifeln und uns ſelber verachten, wenn wir nicht er- 
kannt hätten, daß nicht wir allein die Verantwortung tragen für unſere Taten. 
Freilich rettet dieſe Erkenntnis vor Verzweiflung bloß den, der zu denken weiß. 
Denn nur der Oenkende iſt geneigt, alle Schuld zunächſt bei ſich ſelber zu finden, 
nur der Denkende ſpricht fic ſelber niemals frei, wenn er auch weiß, daß er nicht 
allein der Urheber ſeiner Taten iſt. Es mag dieſer Seelenzuſtand der menſchlichen 
Natur unangemeſſen fein. Ihn verlangt aber nun einmal der augenblickliche Er- 
kenntnisſtand von dem, der aufrichtig fein will zu fid und zu den Mitmenfchen. 
Und wenn es auch jenſeits der Aufrichtigkeit keine Rettung gibt für den Menſchen, 
ſo gibt es aber auch vielleicht keinen Untergang für den, der aufrichtig iſt. Und 


62 Sech: Abenblicher Strom 


unſere Aufrichtigkeit ſagt uns: Wenn wir auch hineingeboren wurden in ein Schuld- 
verhältnis zu denen, deren Darben unſeren Hunger ſtillt, und deren Sorgen uns 
vor Hunger bewahren, wenn auch unſere Vorfahren mitſchuldig ſind daran, daß 
wir heute nicht leben können, ohne die Arbeit unſerer Mitmenſchen zu beanſpruchen, 
und daß wir nicht aufhören können, die zu mißachten, deren Mühen wir nicht zu ent- 
behren imſtande ſind, ſo bleiben wir trotzdem ſchuldig vor denen, die für uns arbeiten. 
And nicht vor ihnen allein bleiben wir ſchuldig, auch vor allen denen, die im Elend 
ſind und ſo Schaden nehmen an Leib und Seele, während wir das, was uns an 
Zeit und Mitteln bleibt über das Bedürfnis hinaus, zu Spielereien verwenden. 
(Und alles andere iſt Spielerei gegenüber dem Elend des Volkes, alles, außer 
Geiſtesforſchung und Kunſtſchaffen.) Es bleibt dem, der aufrichtig ſein will, nichts 
anderes übrig, als ſich darüber ſchlüſſig zu werden, bis zu welchen Opfern er ſeiner 
ſozialen Schuld gerecht werden will. Iſt er an dieſer Grenze angelangt, ſo ſoll 
er ihrer bewußt werden. Und er ſoll nicht fid) ſelber und anderen vorlügen, er 
habe alle Opfer gebracht, die er ſeiner ſozialen Schuld gegenüber zu bringen im- 
ſtande ſei; denn das kann niemand. Die Opfermöglichkeit iſt hier unbegrenzt: 
auf jeden freien Augenblick von dir hofft in Bangen unb Sagen irgendwo ein Lei- 
dender, und nach jedem Pfennig von dir ſehnt ſich ſchwankend zwiſchen Hoffnung 
und Verzweiflung irgendwo einer, der Hungers ſtirbt. Und wenn du auch die 
Geiſtesſchätze und das Kunſtſchaffen der Menſchheit mehrſt, ſo glaube nicht, daß 
du auch damit deiner Schuld entrinnſt. Denn du kannſt nicht wiſſen, ob nicht der, 
den du vom Untergang retten könnteſt, wenn du dich ihm widmeſt ſtatt deinem 
Werke, ob nicht der gerade berufen iſt, viel Höheres zu ſchaffen, als es dir ſelber ge- 
geben iſt. Dieſe Möglichkeit iſt da, wenn ſie auch noch ſo unwahrſcheinlich iſt, ſie 
kann nicht beſtritten werden. Du aber, du mußt dir alle diefe Möglichkeiten ein- 
geſtehen. Das verlangt deine Aufrichtigkeit. Sie ſagt dir, daß du nie aufhörſt, 
Schuldner zu ſein allen Leidenden gegenüber. Eines nur mag dich beruhigen: die 
Grenzen der Opfer, die ein jeder von uns bringen will ſeinen ſozialen Schulden, 
dieſe Grenzen werden erlebt, durch Gewiſſensberuhigung erlebt. 


X 
Abendlicher Strom Bon Paul Bed 


Ruhig fließt der Strom hinaus, Fährt ein einſam Schifflein nur, 
Fließt durch abendwelke Wieſen. Spannt die rote Bordlaterne 
Wellenſchwung und Wehrgebraus Eine Purpurperlenſchnur 

Starben mit den letzten Brijen ... Bis ins Dunkelmeer der Ferne. 
Ruhig fließt der Strom hinaus. Fährt ein einſam Schifflein nur. 


Bald verliſcht auch dieſer Schein. 

Ruht der Strom dann wie ein Spiegel, 
Wie ein blankgeſchliffner Stein, 

Drückt der Mond darauf fein Siegel. 
Bald verliſcht auch dieſer Schein. 


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Rauchen und Nichtbeichäftigten.... 
Von Fritz Müller (Zürich) 


00 gehe jeden Morgen an einem Neubau vorbei. Vor dem ſteht eine 


; 25 Tafel: 
— Sez) Rauchen und Nichtbeſchäftigten 


iſt der Zutritt verboten. 


Die Bauverwaltung. 


Die Infchrift ſieht ganz unſchuldig aus auf den erſten Blick. Wie alle böſen 
Dinge. Aber es ſtecken geheime Angelhaken darin. Erſt nach einer Weile merkt 
man, daß man daran fibt und gappelt. Ich fing beim Mittagefjen zu zappeln 
an. Zwiſchen der Suppe und dem Braten fiel mir wieder diefe Inſchrift ein. 
Wie eine Zwangsidee kam's über mich. | 

„Rauchen,“ ſagte id) für mich hin, „Rauchen und Nichtbeſchäftigten ift“ — 
halt, ſteckt da nicht ein Fehler drin, ein geheimer? — Nicht, daß ich wüßte — „iſt 
der Zutritt verboten.“ — Hm, zum Teufel, es ſteckt doch ein Fehler drin. Herr 
Ober, bitten Sie mal den Herrn Wirt zu mir!“ 

Der Wirt nämlich, das war ein ehemaliger Neuphilologe, der ſpäter zur 
Gaſtronomie übergegangen iſt. 

„Sie wünſchen?“ ſagte er, und gab mir die Hand. 

„Kann man das ſagen, Herr Wirt: ‚Rauchen iſt verboten“?“ 

„Natürlich kann man's ſagen. Freilich, tun darf man's dann nicht.“ 

„Tun? Was darf man nicht tun?“ 

„Das Rauchen eben.“ 

„Ach, machen Sie die Geſchichte nicht noch komplizierter. Alſo: darin ſteckt 
kein Fehler?“ 

„Nein.“ 

„Und kann man das jagen: „Nichtbeſchäftigten ift der Zutritt verboten“?“ 

„Natürlich, reines, unvermiſchtes Behördendeutſch.“ 

„Aber grammatikaliſch richtig?“ 

„Vollkommen.“ 


64 Müller: Nauden unb Nichtbeſchäftigten 


„Schön — alfo das eine ift richtig und das andre richtig. Folgt nicht daraus, 
das beides richtig ſein muß?“ 

„Selbſtverſtändlich.“ 

„Alſo paſſen Sie auf; ich heise es Ihnen vorſagen: „Rauchen und Nicht- 
beſchäftigten iſt der Zutritt verboten!“ Nun, was ſagen Sie?“ 

Er ſagte nichts, ſondern verſank in tiefes Nachdenken. Als ich beim Käſe 
angelangt war, ſagte er dumpf: 

„Irgend etwas ift nicht richtig dran, irgend etwas, irgend...“ 

Und dann verſank er aufs neue in Nachdenken. Ich ließ ihn allein, weil ich 
ins Bureau mußte. Aber beim Abendeſſen traf ich ihn wieder. Er hatte ein be- 
kümmertes Geſicht und ſah abgeſpannt aus. Er brachte drei Bücher angeſchleppt: 
Engelmanns Schulgrammatik, Wuſtmanns „Allerlei Sprachdummheiten“ und 
Profeſſor Spinnhubers „Vergleichende Sprachwiſſenſchaft“. 

„Ich habe in allen drei Büchern nachſtudiert,“ ſagte er mit einer matten 
Stimme, „aber ich habe nirgends was gefunden. Vielleicht finden Sie. 

Ich ließ das Abendeſſen ſtehen und ftudierte bis viertel nach zwölf Ahr. Da 
kam noch Profeſſor Nothnagel, der berühmte Germaniſt, von einer fidelen Vereins 
ſitzung herein. Warte, dachte ich mir, deine Fidelität wird dir gleich vergehen, 
wenn id... And dann erzählte ich ihm die Geſchichte mit der Inſchrift auf dem 
Neubau. Ruhig hörte er mich an und ſagte: 

„Schön. Und was wollen Sie mit den drei Büchern da?“ 

„Ich habe gedacht, daß man darin vielleicht eher...“ 

„Ach was, ſo was entſcheidet man aus dem Handgelenk, mein Lieber.“ 

3h fab bewundernd zu ihm auf. 

„Alſo, wie haben Sie geſagt?“ fuhr er fort. 

„Rauchen und Nichtbeſchäftigten ift der Zutritt...“ 

„Richtig, richtig. Alſo zunächſt: Was iſt das Subjekt?“ 

„Rauchen!“ ſagte ich. 

„Blech!“ ſagte er. 

„Blech?“ antwortete ich, „Blech kommt ja überhaupt gar nicht drin vor.“ 

„Das was Sie ſagen, iſt Blech, mein Herr.“ 

„Ach ſo.“ 

„Alfo weder ‚Rauchen‘ noch Nichtbeſchäftigten“ ijt Subjekt, ſondern Subjekt 
ijt ‚der Zutritt“, verſtehen Sie?“ 

„Natürlich“, ſagte ich und atmete auf. Der Mann packte den Stier bei den 
Hörnern. 

„Schön, alſo das Subjekt haben wir. Nun das Prädikat. Was iſt das 
Prädikat?“ 

„ist verboten‘, nicht wahr?“ 

„Stimmt“, ſagte er. „Und nun noch das Objekt. Wie heißt das Objekt?“ 

„Es find zwei Objekte, ‚Rauchen‘ und ‚Nichtbe—“ 

„Warten Sie, warten Sie, mein Lieber“, ſagte er und verſank in ein langes 
Sinnen. Sein vorher ſo heiteres Geſicht bekam tiefe Falten. Durchdringend 
ſah er mich hinter ſeinen buſchigen Augenbrauen heraus an und klopfte nervös 


Müller: Rauchen und Nichtbeſchäftigten 65 


mit ſeinem Bleiſtift auf den Marmortiſch. Ich weiß nicht, ob er's nicht doch noch 
herausgebracht hätte. Aber der Ober fagte, es fei ein Uhr und Polizeiſtunde. 
Und dann mußten wir leider nach Haufe gehen. Unterwegs verſprach mir Herr 
Profeſſor Nothnagel, der berühmte Germaniſt, morgen früh ſeine Kollegen Dr. 
Grübler und Dr. Wurzler zu interpellieren. 

Am Nachmittag kamen ſie dann alle drei zu mir ins Bureau und ſagten, 
ich ſollte ſie an den Neubau führen, wo die merkwürdige Tafel ſtehe. Ich führte 
ſie an den Neubau. 

„Da,“ ſagte ich, „da ſteht die Tafel.“ 

Sechs blitzende Brillengläſer richteten ſich auf die Inſchrift. Und dann 
begann eine gelehrte Auseinanderſetzung zwiſchen den dreien, bei der ich nicht 
mehr mittun konnte. Folgende Brocken habe ich mir gemerkt: Indogermaniſche 
Doppelwurzel — Kauſalitätsprinzip — zwingende Sprachlogik — metaphoriſche 
Lizenzen 

Sie ſtritten heftig miteinander, aber einig konnten ſie nicht werden. Mich 
hatten fie ganz vergeſſen. Nur daß mir einmal Dr. Wurzler meinen Regenſchirm 
aus der Hand riß und abwechſelnd damit auf das Subjekt und das Prädikat der 
Inſchrift einbieb, um den andern feine Anſicht beizubringen. Aber dieſe ließen 
ſich nicht überzeugen, ſondern ſchrien den Dr. Wurzler noch ärger an, als er mit 
meinem Schirme auf die Inſchrift klatſchte. 

Von dem Lärm kam der Polier herbei und ſagte, wir ſollten machen, daß 
wir weiterkämen von dem Bauplatz. Da gingen wir weiter. Aber die Geſchichte 
war leider damit noch nicht fertig. Denn die drei Gelehrten hatten ihren Streit 
weiter getragen. Täglich kamen ganze Trupps von Oberlehrern an die Bauſtelle 
und ſtudierten das Schild heiß und eifrig. Aber es half ihnen nichts. Sie wurden 
nur trübſinnig davon und ſchlichen mit hängenden Unterkiefern wieder weg. Es 
war eine Epidemie unter der geiſtigen Oberſchicht unſerer Stadt ausgebrochen. 
Es half auch nichts, daß der Polier von Zeit zu Zeit den Oberlehrern, die jeweils 
um die Tafel verſammelt waren und diſputierten, daß er dieſen mitteilte, ſie ſeien 
alle miteinander „ſpinnende Tröpf“, und daß er einmal ſogar die Waſſerſpritze 
auf fie richtete, weil fie den Verkehr der Mörtelweiber hemmten — die Debatten 
gingen fort. In die friedfertigſten Familien der Stadt niſtete der Streit ſich ein 
und brachte alte Freunde auseinander. Es war eine jammervolle Stimmung 
in der Stadt, und eine Maſſenmelancholie begann ſich einzuſtellen. 

Ein Preis wurde ausgeſetzt. Die Akademie der Wiſſenſchaften ventilierte 
die Frage in ihrem Jahresbericht. Sachverſtändige wurden von auswärts ge- 
laden. Und für nächſten Herbſt ſoll der „Internationale Kongreß für vergleichende 
Sprachforſchung“ in unſere Stadt eingeladen werden. Hoffentlich wird dieſer 
Licht in die verzweifelte Angelegenheit bringen und unſrer Stadt den Frieden 
wiedergeben, Frieden und die grammatikaliſch einwandfreie Löſung jener felt- 


famen znſchrift. 
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Oer Türmer XV, 1 5 


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Eine Reiſe ins Weltall 


Betrachtungen und Vergleiche über die Konſtruktion des Weltgebäudes 


lingt es nicht vermeſſen, etwas über die Konſtruktion des Weltalls fagen zu wollen, 
} RN da wir wijfen, daß das Weltall unendlich ift und wir über bie Unendlichkeit nichts 
EN ausfagen können? Ja, der genaue Titel hätte eigentlich heißen follen: „Betrach- 
tungen und Vergleiche über die vermutliche Konſtruktion des für uns wahr- 
nehmbaren Teils vom Weltall“. Denn etwas anderes als Vermutungen können wir 
über das All nicht zum Ausdruck bringen, weil die unendliche Ausdehnung vom menſchlichen 
Geiſt intellektuell nie erfaßt und daher auch nicht beſchrieben werden kann. 

Es wird uns aber gelingen, mit Vergleichen und an Hand von Zahlen immer weiter 
in die Tiefen des Weltalls einzudringen, uns geiſtig in ungeheure Fernen zu verſetzen, ſo daß 
wir wenigſtens etwas von der Unendlichkeit zu ahnen vermögen. 

Wir wiſſen von vornherein, daß es ſich um ganz gewaltige Strecken handeln wird, mit 
denen wir es bei einer Reife in das uferlofe Weltenmeer zu tun bekommen werden. Wollen 
wir mit unſerer kosmiſchen Weltenreiſe etwas bezwecken, müjfen wir die durchdachten Strecken 
auch meſſen, und dazu gebrauchen wir einen Maßſtab. Auf der Erde haben wir unſere Reife- 
ſtrecken, die wir auf dem Ozeandampfer, im Schnellzug, Automobil oder in jüngjter Zeit auch 
im Flugzeug zurüdlegten, in Metern und Kilometern angegeben und die erreichten Geſchwindig⸗ 
keiten nach Sekunden und Stunden gemeſſen; da wir uns aber von Entfernungen von Zaufen- 
den von Kilometern (don keine rechte Vorſtellung mehr machen können, kann uns beifpiels- 
weiſe eine Strecke von einigen Millionen Kilometern, mit denen wir gleich zu operieren haben, 
für unfer Verſtändnis nichts nützen; wenn wir über die individuelle Begriffsgrenze hinaus find, 
iſt es ziemlich einerlei, ob von 100 Millionen oder von 10 Billionen die Rede iſt, beide Zahlen 
find uns gleich ungeläufig; es fehlt uns jegliche Überficht über ſolche Größen. 

Um uns die unbegreiflichen Größen verſtändlicher zu machen, wollen wir einen Ber- 
kleinerungsmaßſtab anwenden, der uns das Univerſum in ähnlicher Weiſe bildlich werden läßt, 
wie Provinzen, Länder oder Erdteile durch eine Landkarte. Danach wollen wir uns ein Bild, 
ein Modell in Gedanken von Erde, Sonne und Entfernungen innerhalb und außerhalb des 
Sonnenſyſtems konſtruieren. 

Reduzieren wir zunächſt ein Kilometer auf ein Millimeter, dann bedeutet jedes Meter an 
unſerem Modell 1000 km; das ift ein Maßſtab von 1: 1 000 000, der wohl geeignet fein wird, 
uns die Größenverhältniſſe im Weltall überſichtlicher zu machen. Der Verſuch wird es lehren. 

Oer Burchmeifer unſerer Erde ift faft 13 000 km, der millionſte Teil hiervon ift 15 m, 
und der Durchmeſſer der Sonne von rund 1 300 000 km betrüge nach dieſem Maßſtab immer 


Eine Reife ins Weltall 67 


noch 1500 m. Leider miiffen wir ſehen, daß die Dimenſionen nach biefem Maßſtab noch reich- 
lich groß bleiben; deswegen wollen wir den Maßſtab kühn noch um einen weiteren millionſten 
Teil verkleinern, dann heißt er 1: 1 Billion, und jedes Millimeter unſeres Modells entſpricht 
nun 1 Million Kilometer! 

Nach dieſem Maßſtab ſchrumpft der Durchmeſſer der Sonne zu etwa 1½ mm zuſammen, 
und unſere Erde iſt dadurch zu einem Sandkörnchen kleinſten Kalibers geworden; ſie hat nach 
dieſer Reduzierung nur noch einen Ourdmeffer von 1/49 mm. Die Entfernung Sonne - Erde 
von zirka 150 Millionen Kilometer machen wir dadurch zu einer Spanne einer Kinderhand 
von 15 cm Rlafterung. Nach ben neueſten Beſtimmungen von Artur Hints foll die genaue Ent- 
fernung der Sonne 149 228 000 km ſein; um glatt operieren zu können, wollen wir damit 
einverftanden fein, daß wir derartige Zahlen abrunden; wir geben die Sonnenentfernung 
hiernach einfach mit 150 Millionen Kilometer an. !/;; mm (Erde) verhält (i zu 1½ mm 
(Sonne) etwa wie eine Kegelkugel zu einem großen Freiballon. Der Abſtand der Sonne von 
der Erde betrüge nach dieſem Verhältnis etwas über 2 km. 

Hängen wir nun in Gedanken in der einen Ecke unſeres Wohnzimmers eine der kleinſten 
Glasperlen auf. Das ift das Modell unſerer Sonne. In 6 em Entfernung kreiſt der Merkur 
als ein Stäubchen von 1/130 mm Durchmeſſer. In 11 om Entfernung ſchwebt der Planet 
Venus, der an Größe der Erde ungefähr gleich iſt; dann kommt das Sandkörnchen „Erde“ in 
zirka 15 em Entfernung, der Mars in 23 om, der Jupiter in 34 m Entfernung, Saturn in 1,42 m, 
Uranus in 2,85 m und endlich Neptun in zirka 4½ m Entfernung. So haben wir das ganze 
Sonnenſyſtem mit den Verhältniſſen der einzelnen Planetenentfernungen nach unſerm Maß- 
[tab von 1: 1 Billion in unferm Wohnzimmer bequem untergebracht und gewinnen auf dieſe 
Weiſe eine leichte Überficht. 15 om bedeuten alfo die Sonnenferne und unſere Wohnzimmer 
länge von 415 m den Halbmeſſer des ganzen Sonnenſyſtems. 

Bevor wir unſere Betrachtungen fortſetzen, wollen wir uns einmal vergegenwärtigen, 
was die Zahl Billion bedeutet. Wenn wir eine Billion Regentropfen von 4 mm Dicke ſammeln, 
dann bekommen wir die ſtattliche Waſſermenge von rund 30 Millionen Liter, mit der wir ein 
Waſſerleitungsrohr von 15 mm lichter Weite in einer Lange von 143.000 km anfüllen tönn- 
ten; das ift eine Rohrlänge, die wir Ilmal um den Aquator unſerer Erde legen können. 

Ein anderes Beiſpiel: Die gebräuchliche Bezeichnung fir etwas recht Winziges — eine 
Haaresbreite — kann uns die Größe einer Billion vielleicht noch leichter begreiflich machen. 
Nehmen wir das Haar eines Erwachſenen zwiſchen die Fühler einer Mikrometerſchraube, dann 
ermitteln wir eine Dicke von 0,1 mm. Wenn wir nun 1 Billion folder Haaresbreiten neben- 
einanderlegen, dann bekommen wir die ſtattliche Strecke von 100 Millionen Meter; 1 Billion 
Haaresbreiten reichen demnach 2½ mal um den Aquator der Erde. 

Es darf angenommen werden, daß der Lefer nun orientiert ijt, mit was für einem Mah- 
ſtab wir es zu tun haben, wenn wir die Meſſung des Weltenraumes gleich vornehmen. 

Wir wollen uns zunächſt einmal in unſerem kosmiſchen Wohnzimmer (Sonnenſyſtem) 
umſehen. Um es zu durchſchreiten, müjfen wir uns zu einer Reife bequemen, und damit 
uns dieſe nicht langweilig wird, genügt uns die Geſchwindigkeit des ſo vertraut gewordenen 
Schnellzuges nicht mehr; denn ein ſolcher würde uns bei einer Stundengeſchwindigkeit von 100 km 
erſt in 170 Zahren zur Sonne bringen. Selbſt wenn wir mit der Anfangsgeſchwindigkeit eines 
modernen Znfanteriegeſchoſſes, die faſt 1000 m pro Sekunde beträgt, reifen würden, brauch; 
ten wir immer noch zirka 5 Jahre von hier bis zur Sonne. Wie eine Erlöſung ſcheint uns die 
Möglichkeit, mittels unſerer Gedanken ein ſchnelleres Vehikel benutzen zu können; das iſt der — 
Lichtſtrahl, der eine Sekundengeſchwindigkeit von 300 000 km hat und den Weg von der Erde 
bis zur Sonne in 81/, Minuten durcheilt. Bis zum Jupiter braucht er 41 Minuten, bis zum 
Saturn zirka 1½ Stunden, bis zum Neptun etwa 4 Stunden. 

Würden wir dieſe Geſchwindigkeit zu dem Verhältnis des in Gedanken in unſerm Zimmer 


68 Eine Reife ine Weltall 


tonftruierten Sonnenſyſtem-Modells übertragen, dann müſſen wir ſchon außerordentlich lang- 
ſam zu Werke gehen, um die Geſchwindigkeit unſeres Lichtexpreß im Verhältnis richtig zu 
kopieren: 8 Minuten „Langſamkeit“ brauchen wir zu der 15 om betragenden Modellſtrecke 
Sonne — Erde. Eine Schnecke kriecht in der Sekunde 115 mm; die würde alfo ſchon in 17/, 
Minuten die Sonnenentfernung bei unſerem Modell „durcheilen“. 

Wir ſehen, daß bei unſerm Maßſtab von 1: 1 Billion die gigantiſche Fortpflangungs- 
geſchwindigkeit des Lichtes für Entfernungen im Sonnenſyſtem tatſächlich dem Kriechen einer 
Schnecke durchs Zimmer gleichkommt; ja, das „Kriechen“ des Lichtſtrahls vollzieht fid) im Ber- 
hältnis fogar noch 5mal fo langſam als der Schneckengang. 

Schwingen wir uns mit Hilfe unferer Phantaſie auf einen Lichtſtrahl, um in das 
Weltall zu reiſen und es nach Möglichkeit zu durchforſchen. Es iſt uns leicht dabei ums Herz; 
denn wir brauchen von niemand Abſchied zu nehmen, handelt es ſich doch „nur“ um eine Reife 
des Geiſtes, bei der wir unſern Körper, bequem auf der Chaiſelongue ruhend, daheim laſſen. 
Zweckmäßig iſt es allerdings, daß wir im Zimmer allein ſind, damit niemand unſern Weg der 
Phantaſie durch eine Anrede kreuzt; denn ein wenig Gedankenkonzentration gehört dazu, wenn 
man den rechten Genuß von einer Gedankenreiſe in den Kosmos haben will. 

Alſo fahren wir von der Erde ab. Wir reiſen jetzt mit der Lichtgeſchwindigkeit von 
300 000 km in der Sekunde; da der Mond nur 386 000 km von der Erde entfernt iſt, paffieren 
wir ihn bereits in 11/, Sekunden. In etwas über 8 Minuten faufen wir an der Sonne vorbei 
und können froh fein, daß wir dies nur im Geiſte tun; denn unſer Körper würde in einem ein- 
zigen Augenblick in Dunſt und Licht verwandelt fein, wenn uns die gewaltige Hitze der Sonne 
auch nur während des Bruchteils einer Sekunde berührte. Die neueſten Meſſungen von 
Profeſſor Nordmann am Pariſer Obſervatorium haben nämlich ergeben, daß auf der Sonne 
eine Temperatur von 5320 Grad Geljius herrſchen foll. Andere Forſcher geben die Sonnen- 
temperatur bis zu 7000 Grad Celſius an. Auch die Lichtfülle hat Prof. Nordmann berechnet. 
Die Zahl für die ermittelte Kerzenſtärke hat eine ſolche Länge, daß uns das Verſtändnis für 
ihren Wert vollſtändig fehlt. Es iſt eine 18 mit 27 Nullen dahinter. Um das zu verſtehen, 
macht Nordmann folgenden Vergleich: Das Lichtquantum, das die Sonne in den Welten- 
raum fendet, ijt 51 000 billionenmal fo groß wie die Beleuchtung der Avenue de l'Opéra, einer 
der beſtbeleuchteten Straßen von Paris. Und da die Sonne eine Oberfläche von ca. 6 Billionen 
Quadratkilometer Ausdehnung bat, ſtrömt 1 Quadratzentimeter der Sonnenoberflaͤche 319 000 
Kerzenſtärken Licht beſtändig aus. 

Allerdings bekommt unſere Erde nur den 2700 millionſten Teil ber geſamten Licht; und 
Wärmemenge. Alles andere ſtrahlt, bis auf das, was die wenigen Planeten erhalten, in den 
kalten und finſteren Weltenraum hinaus. 

Wir wollen unſerer lieben Sonne nun ſchnell den Rüden kehren und unfere Reife fort- 
ſetzen, damit wir aus unſerm Sonnenſyſtem, das doch nur eine Miniaturwelt gegen das ift, 
was außer ihm liegt, herauskommen. 

Nachdem wir Jupiter, Saturn und Uranus flüchtig begrüßt haben, erreichen wir, vier 
Stunden nach unſerer Abfahrt von der Erde, den Grenzwächter unferes Planetenſyſtems 
„Neptun“, von dem wir herzlich Abſchied nehmen; denn nun beginnt erft die eigentliche Welten- 
reiſe, indem wir in den interplanetaren Raum hinaustreten. 


* & * 


Wir ſchwimmen im Athermeer. Unſer Lichtſtrahl bringt uns in einem Tage um rund 
26 000 Millionen Kilometer von Sonne, Mond und Erde fort in die Welttiefe hinein. Die 
erſte Station, die wir zu erreichen ſuchen, ift der nächſte Fixſtern, der im ſuͤdlichen Rentaur 
belegene Stern „Alpha“. Ob wir ihn wohl in einigen Tagen mit unſerer gigantiſchen Ge- 
ſchwindigkeit erreichen? Er iſt 285 000 mal ſo weit von der Erde entfernt, wie die Sonne, 
nämlich 45 Billionen Kilometer. Unſer kosmiſcher Expreß bringt uns nicht in Tagen, Wochen 


Eine Reife ins Weltall 69 


oder Monaten bis dahin; er braucht zur Zurücklegung dieſer Strecke 415 Jahre, bie der Ajtro- 
nom mit 4½ Lichtjahre bezeichnet. Ein Lichtjahr iſt alſo eine Strecke, zu deren Zurücklegung 
das Licht 1 Jahr gebraucht; das find rund 10 Billionen Kilometer. 

In welcher Einſamkeit unſer Sonnenſyſtem ſeine Bahn durch das Weltenreich zieht, 
geht am beſten daraus hervor, wenn wir den Vergleich mit dem in unſerm Wohnzimmer 
untergebrachten Weltmodell wieder aufnehmen. Der Durchmeſſer der Neptunbahn um die 
Sonne, die die Grenze unſeres Gonnenfyfiems ijt, beträgt bei unſerm Modell 9 m. Im Ver- 
hältnis hierzu müffen wir uns den „nächſten“ Fixſtern Alpha in 45 km Entfernung denken. 
Wenn wir unfer Modell in der goldig ſchimmernden Kuppel des Reichstagsgebäudes in Ber- 
lin unterbringen, dann befindet ſich die nächſte Sonne (Fixſterne ſind Sonnen) erſt in der 
Nähe von Brandenburg. 

Anſere zweite Station ſoll der Sirius, der ſchönſte und hellſte Fixſtern, ſein; er iſt über 
eine Million Sonnenweiten von uns entfernt, und wir erreichen ihn mit unſerem Lichtexpreß 
in ca. 15 Jahren. Den Modell-Sirius müſſen wir [don in der Entfernung von Berlin bis 
Leipzig unterbringen. 

Der Sirius foll nach Profeſſor Nordmann etwa Somal fo viel Hitze entwickeln wie die 
Sonne, das ſind 109 600 Grad Celſius. 

Der Polarſtern, der dem Seefahrer des Nachts bie Nordrichtung anzeigt, ijt 45 Licht- 
jahre entfernt; den würden wir alfo in unjerem beiten Mannesalter erreichen, wenn wir von 
unſerer Geburtsſtunde an ununterbrochen mit der Lichtgeſchwindigkeit gefahren wären. Nach 
unſerm Billionen-Maßſtab befände fid) der Polarſtern 450 km von Berlin entfernt. Man ver- 
gegenwärtige fid) nun einmal das Verhältnis: Das reduzierte Sonnenſyſtem von 9 m Durch- 
meſſer hängt im Zentrum Berlins und der Polarſtern befände ſich in Norderney. 

Doch der Polarſtern iſt immer noch eine „nahe“ Station für unſere Lichtreiſe. — Nach 
170 Zahren, alfo in drei Menſchenaltern, erreichen wir eine Region, wo auch Sonnen ihre 
Kreisbahnen zeichnen. Dort befand ſich die am 22. Februar 1901 aufflammende Nova (neuer 
Stern), der plötzlich als hellſter Stern am Himmel aufleuchtete, um bereits nach 24 Stunden 
nur noch als Stern dritter bis vierter Größe zu ſcheinen. Man fand bald, daß es ſich um einen 
Doppelftern handelte, deſſen beide Kerne dort draußen im weiten Raum zuſammengeſtoßen 
waren. Da alle Fixſterne, oder doch wohl die meiſten Fixſterne, Planeten um ſich haben wie 
unſere Sonne, ſo können wir ruhig annehmen, daß dort in der Entfernung, die für unſer 
Modell 1625 km bedeutet, der Untergang zweier Welten ſtattgefunden hat. Für unſer Modell 
in Berlin ein Ereignis, als wenn in Spanien eine Granate explodierte. 

Wenn der Weltendther nicht fo abſolut rein und klar wäre, hätte uns kein Lichttele- 
gramm eine Kunde von dieſem grandiofen „Weltereignis“ bringen können, das alles Srdifche 
und alles, was ein Menſch nur erdenken kann, in den Schatten ſtellt. Myriaden Weſen; ihre 
Häuſer, ihre Städte, ihre Länder, ihr feſter Grund, bie Planetenkugeln, auf denen fic die 
etwaigen Bewohner ebenſo ſicher fühlten wie wir auf unſerm taumelnden Ball; ihre Sonne 
und die andere Sonne mit ihren Myriaden Kindern — ſie alle — alle ſind in einem einzigen 
fürchterlichen Augenblick zerſchmolzen, verdampft und in ein chaotiſches Meer von überhitzter 
Glut und gleißendem Licht verwandelt worden. Vergeſſen wir allerdings nicht, daß dieſe 
Kataſtrophe bereits im Jahre 1731 ſtattgefunden hat, denn als der Lichtſtrahl uns im Jahre 
1901 die Kunde von dieſem Weltenbrand überbrachte, war er bereits 170 Jahre unterwegs. 
Nun wirbelt dort eine große Wolke feuriger Gaſe, die ſich in Jahrmillionen zu flüſſigen Gluten 
verdichten werden; und wenn die Wogen ſich beruhigt haben, werden ſie geordnete Formen 
annehmen; es bilden fid) eine große und einige kleinere Rotationszentren (Globen), die klei- 
neren werden zuerſt erkalten und erſtarren zu Planeten; die größte bildet ihre Sonne, weil 
fie am längſten feurig-flüffig, leuchtend und erwärmend bleibt; der Hauch des Lebens wird 
über die neu erſtandene Welt kommen, es wird grünen und wachſen; Wälder, Berge, Zlüffe 


10 Eine Reife ins Weltall 


und Geen werden entſtehen; Lebeweſen werden fid) entwickeln, Tiere aller Art aus dem 
Schoße der nie aufhörenden Entwicklung hervorgehen, und ſchließlich wird auch dort ein 
Menſchengeſchlecht oder ein menſchenähnliches Geſchlecht die Krone der Schöpfung ſein. Das 
iſt der Welten Lauf. So wird es auch mit unſerer Erde und Sonne geweſen ſein. Freilich, 
ob bie Geſchöpfe anderer Welten fo ausſehen wie die, welche die Erde beleben, das weiß kein 
Irdiſcher; anzunehmen iſt, daß auf unſerer kleinen Erde nicht alle Formen und Eigenſchaften 
erſchöpft find, die auf den Millionen und aber Millionen Weltkörpern als Möglichkeiten voraus- 
geſetzt werden können oder vorausgeſetzt werden müſſen. 

Doch wir befinden uns ja auf einer Forſchungsreiſe und dürfen uns durch „kleine“ 
Sehenswürdigkeiten am Wege nicht allzu lange aufhalten laſſen; denn eine einzige Minute 
Aufenthalt bedeutet für unſere Lichtreiſe 18 Millionen Kilometer Streckenverluſt. Verlaſſen 
wir daher den kosmiſchen Trümmerhaufen und überlaſſen ihn ſeinem Entwicklungsſchickſal 
in der ungeheuren Einſamkeit, wo meilenweit — pardon, ich dachte eben irdiſch — ich meine, 
wo ſonnenweit, d. h. in einem Umkreis von ca. 100 Lichtjahren nichts als die dunkle Leere, 
die den größten Anteil am Weltall hat, iſt; wo nichts als der Raum in einer Ausdehnung gähnt, 
die kein menſchliches Auge abzuſehen vermag. 

So begegnen wir auf unſerer ununterbrochenen Lichtreiſe Sonnen über Sonnen in 
ſonnenhaften Abſtänden. Wir reifen tauſend Jahre, dort treffen wir ebenfalls Sonnen. Wollen 
wir dieſe Entfernung im Verhältnis zu unſerm Modell anbringen, ſo müſſen wir uns ſchon 
9800 km von Berlin entfernen; das wäre etwa bei Neuyork. Wir erſehen hieraus, daß der 
Vergleich unſeres Sonnenſyſtems mit einem „kosmiſchen Wohnhaus“ durchaus zutreffend 
und daß die Bezeichnung „Sandkörnchen“ oder „Stäubchen“ für unſere Erde keine über- 
treibende Phraſe iſt, ſondern der Wirklichkeit voll entſpricht; denn der Durchmeſſer unſerer 
Erde verhält ſich zu der Fixſternentfernung von 1000 Lichtjahren wie unſer Stäubchen von 
½o mm Ourchmeſſer zu der Strecke Berlin —-Neuyork! Fixſterne, die mehrere tauſend Licht- 
jahre entfernt ſind, können wir nach unſerm Billiontel-Maßſtab ſchon gar nicht mehr auf 
unſerer „großen“ Erde unterbringen, da dieſe Modellſtrecke bereits die Größenausdehnungen 
unſerer Erde überſteigt. 

Dringen wir nun weiter hinein in den Sternenozean, dann kommen wir in eine „Gegend“, 
die vollſtändig ſternenleer iſt; demnach mußten wir uns bisher durch einen ungeheuer großen 
Sternhaufen bewegt haben. Das war ein Weltſyſte m, das wir ſoeben — das heißt in ein 
bis einigen tauſend Jahren — geradlinig mittels des Lichtſtrahls durchquert haben. Unter 
Weltſyſtem verſtehen wir eine Anordnung von vielen, vielleicht Millionen von Sonnen, die 
gemeinſam um eine Zentralſon ne kreiſen. Um dieſe gähnende Leere, dieſen ungeheuren 
Abgrund des Nichts mit unſerm Lichtſtrahl zu überbrücken, brauchen wir auch mehrere taufenb 
Lichtjahre. Zenfeits dieſer Leere gelangen wir nach einem andern Sternhaufen; das iſt nach 
unferem das zweite Weltſyſtem, das wir kennen lernen, das auch aus Millionen von Sonnen 
beſteht und die ſich auch um eine — um ihre — Zentralſonne drehen. Von der Erde aus ge- 
ſehen, erſchien uns dieſes — aus Gonnenfyftemen beſtehende — Weltſyſtem wie ein Nebelfled, 
und nun erkennen wir, daß es eine Rieſenwelt von Sonnen iſt, zu deren Durchquerung wir 
vorausſichtlich Hunderte oder Tauſende von Lichtjahren bedürfen. 

Hier wollen wir einmal kurze Raft machen und unſern Blick nach rückwärts wenden. 
Wir ſehen am entgegengeſetzten „Ufer“ dieſes Ozeans der Leere eine ebenſolche unergründliche 
Sternenwelt wie vor uns in der Richtung, aus der wir gekommen ſind, dort gewahren wir 
auch einen kleinen Nebelfled — das iſt gewiß unſer Sonnenſyſtem! O nein, unfere Sonne 
finden wir günſtigenfalls als einen der kleinſten Lichtflecke in dem fernen Nebel wieder. Was 
wir dort aus der Weltenferne ſchimmern ſehen, ijt das ungeheure Weltſyſtem, deffen Zentrum 
wir vor einigen tauſend Jahren mit dem Lichtſtrahl verlaſſen haben. Es beſteht aus den vielen 
Sonnen, von denen unſere Sonne nur eine der kleinſten iſt. Während unſerer Reiſe fiel 


Eine Reife ins Weltall 71 


es uns Iden auf, daß wir die Wilchſtraße, bie wir als ein unveränderliches Symbol der 
Ewigkeit zu betrachten gewohnt ſind, allmählich verſchwinden ſaheu. 

John Herſchel, der Sohn des berühmten Aſtronomen Wilhelm Herſchel, hatte ſchon 
anfangs des 18. Jahrhunderts die Auffaſſung von der Welt (die von den heutigen Aſtronomen 
geteilt wird), daß das Sonnenſyſtem der Teil eines Syſtems höherer Ordnung von linfen- 
förmiger Geſtalt fei. Wir befinden uns ziemlich in der Mitte dieſes von Gonnenfyftemen 
erfüllten Raumes. Da der Raum zwiſchen den Linſen flächen bedeutend kleiner bzw. dünner 
ift als der Raum zwiſchen den Linfen r än òd ern, fo muß unſerm Auge in der Richtung nach 
dem Rande dieſer Weltenlinſe der Himmel mit viel mehr Sternen erfüllt erſcheinen, als in der 
Richtung nach der Linſenfläche. Im erſteren Falle ſehen wir durch eine Sternſchicht von 
großer Tiefe, ſo daß die hintereinander befindlichen Sterne einen gedrängten ſchimmernden 
Streifen bilden, der unfer Sonnenſyſtem kreisförmig umſpannt; dieſer in der Bucchficht durch 
die Sternenmenge als Nebelſtreifen erſcheinende Ring iſt die Milchſtraße. Wenn wir nun in 
der Ebene der größten Linſenausdehnung reiften, dann find wir allmählich durch den Mildh- 
ſtraßenring, d. h. alfo zwiſchen all den ungezählten Sonnen hindurch gefahren. Das bedeutet 
mit anderen Worten: In dem Maße, wie wir zu der Wilchſtraße die Oiſtanz verringerten, 
änderte fid) das Bild der Milchſtraße; bie Nebelmaſſe löfte fic zuerſt in Sternhaufen und diefe 
in Einzelſterne auf, und ſchließlich fuhren wir durch bie Zwifchenräume dieſer Sonnen hindurch, 
ohne zu merken, daß wir uns mitten in der Milchſtraße befanden. Nun haben wir fie weit hinter 
uns gelaſſen und von unſerer entfernten Weltwarte aus erſcheint uns dieſes Syſtem, das ſich 
von der Erde aus geſehen in unermeßlichen Fernen befindet, als eine kleine Nebel flocke, in der 
Erde, Sonne, Millionen anderer Sonnen und die ganze Wilchſtraße fa nahe beieinander 
wohnen, wie die winzigen Stoffteilchen in einem Nauchwölkchen. 

Demnach war unſere bisherige Lichtreiſe während einiger tauſend Jahre erſt ein Sprung 
bis zum nächſten Weltſyſtem; und wenn mit uns zugleich Tauſende von der Erdoberfläche 
aus nach allen Richtungen mit einem Lichtſtrahl in den Raum ausgewandert wären, dann 
würden fie jetzt alle in der Nähe irgend eines anderen Weltſyſtems angelangt fein. Wir und 
unſere kosmiſchen Mitſtarter befänden uns gewiſſermaßen auf der Oberfläche einer ge- 
dachten, unfaßbar rieſenhaften Kugel, die (die Oberfläche) aus einer ungeheuer großen An- 
zahl Weltſyſtemen beſteht. Im Mittelpunkt dieſer Kugel befindet ſich unſer Sonnenſyſtem 
als winziges Lichtpünktchen, und der Durchmeſſer dieſer Kugel iſt beiläufig 4000 Lichtjahre; 
in Kilometern ausgedrückt 40 000 Billionen. 

Nebelflecke gibt es natürlich eine unbegrenzte Anzahl, und ihnen ſteht der unbegrenzte 
Raum, die Unendlichkeit, zu ihrer Ausdehnung und Anordnung zur Verfügung. Für die Erd- 
bewohner ſind etwa 10 000 Spiralnebel ſichtbar geworden, und man hat ſie katalogiſiert, wie 
etwa der Naturforſcher die Inſekten. Mit Hilfe der modernen Himmelsphotographie iſt es 
jedoch möglich, wie die neueſten Berechnungen ergeben haben, unter Benutzung der licht- 
ſtärkſten Inſtrumente 100 000 Nebelflecke zu erreichen. 

Uber die optiſche Sichtgrenze hinaus nämlich gibt es eine „chemiſche“ Sichtgrenze. Ze 
länger man eine photographiſche Platte bei der Aufnahme von Sternen exponiert, um ſo mehr 
Sterne kommen auf die Platte; einmal, weil die Bromſilberſchicht der Platten empfindlicher 
als unſere Netzhaut ift, und zweitens, weil bei der fortdauernden Expoſition die Lichteindrüde 
ſich auf der chemiſchen Schicht ſummieren können, was beim menſchlichen Auge nicht mög- 
lich iſt. Deshalb kann man mittelſt der Photographie viel mehr Sterne wahrnehmen, als 
mittelſt der direkten Beobachtung. 

Nicht alle Nebelflecke ſind Sternhaufen, ſondern ein Teil beſteht aus feurigen Gaſen; 
ſie ſind entweder eine im Werden oder Vergehen begriffene Welt. Trifft dies zu, dann 
befinden fih die glühenden Maſſen im Stadium der Abſchleuderung; einzelne Teile haben 
ſich losgeriſſen von ihrem Kern oder Zentralpunkt und wirbeln nun in Spiralform um ihn 


72 Eine Reife ins Weltall 


herum, bis zwiſchen der Zentrifugalkraft und der Rotationsgeſchwindigkeit ein Ausgleich ftatt- 
gefunden hat. Mit der abnehmenden Rotationsgefhwindigkeit beginnen bie Maſſen zu ihrem 
Zentralpunkt zurückzukehren. Inzwiſchen hat eine Abkühlung der abgeſchleuderten Maſſen 
ſtattgefunden; ſie haben ſich zu Planeten verdichtet, die um ihre Sonne kreiſen. Dies iſt das 
Stadium einer werdenden Welt. Es beginnt eine „Schöpfung“ im kleinen. Allerdings 
iſt kein nach unſeren Begriffen „gegenwärtiges“ Beginnen gemeint; das Anfangsſtadium, 
die erſten vorbereitenden Entwicklungen einer Weltwerdung erſtrecken fid) über einen Beit- 
raum von vielen Millionen von Jahren; denn nach Mutmaßungen hat ein Sonnenſyſtem 
eine Lebensdauer von einigen hundert Billionen Jahren. 

Ein in kosmiſcher Ferne ſchwebender Spiralnebel wird alfo nach Jahrbillionen viel- 
leicht aus Sonnen und erſtarrten Planeten beſtehen, die wahrſcheinlich allerlei Lebeweſen — 
vielleicht auch menſchenähnlichen, denkenden Weſen — zur Wohnftätte dienen werden. 

Das Schickſal einer jeden Sonnenwelt ijt die einſtige Auflöſung in feurige Gafe; denn, 
nachdem die Abſchleuderung ihr Ende erreicht hat, beginnt das Zurück, fallen“ der Planeten 
zu ihrer Sonne; und bei dem heftigen Zuſammenprall der großen Weltkörper entſteht eine 
derartige Hitze, daß ſich alles in flüſſige und gasförmige Gluten verwandelt. 

In dem Stadium des Zurückfallens befindet ſich gegenwärtig unſer Sonnenſyſtem. 
Der Mond fällt auf die Erde, die Erde und die anderen Planeten auf die Sonne. Dieſes 
Fallen zur Sonne iſt allerdings vorläufig noch ein ſehr langſames. Unſere Mathematiker 
haben aus der Anziehung ber Maſſen und der Rotationsgeſchwindigkeit abgeleitet, daß ber 
Mond mit einer Geſchwindigkeit von 2,72 mm pro Sekunde zur Erde fällt, und die Erde mit 
einer Geſchwindigkeit von 2,95 mm in der Sekunde zur Sonne. Während die Planetenkugeln 
alfo von ihren höchſten Abſchleuderungspunkten aus zur Sonne zurückfallen, vollzieht fid auf 
unſerer Erde und auch wohl auf anderen Globen das, was wir Entwicklung nennen. Menſchen 
werden geboren und ſterben. Generation auf Generationen ſinken in die Gräber. Die Nady- 
kommenden bauen auf das Wiſſen und Können der Voraufgegangenen. Eine herrliche Kultur, 
Kunſt, Wiſſenſchaft, Technik, Ethik, Religionen, alles ſteigt empor aus der Pſyche der Menſch⸗ 
heit, die die Erde bevölkert, während ſie — ein Tröpfchen aus der Sonne geboren — in 
dieſe zurückkehrt; während des Fallens eines verſprühten und erkalteten Tropfens kosmiſcher 
Subſtanz! 


% % 
* 


Die Beſchäftigung mit unferer kleinen irdiſchen Heimat lenkte uns von unferer großen 
Reiſe ab; wir befinden uns immer noch auf dem Lichtſtrahl, der durch das Weltall eilt. Wenn 
wir nun 52 000 Sabre mit der Lichtgeſchwindigkeit gereiſt find, dann befinden wir uns etwa 
in Geſellſchaft derjenigen Sterne, Spiralen uſw., die wir hier auf der Erde mit unſern beſten 
Fernrohren und mittelſt der Photographie noch eben wahrzunehmen vermögen. 

Wir müſſen nun wohl annehmen, daß jenſeits dieſer Peripherie der Wahrnehmung 
ſich Tauſende und Millionen ſolcher „Welten“, die wir ſoeben im Geiſte durchmeſſen haben, 
befinden; denn wir können zu keinem anderen Gedankenreſultat kommen, daß die Fortſetzung 
in dem für uns unſichtbaren Weltall — unſichtbar wegen der Entfernung — dem bisher er- 
kannten Teil analog fein muß. Sonnenſyſteme bilden ein Weltſyſtem, das mit vielen anderen 
um ein Syſtem höherer Ordnung kreiſt u. ſ. f. Fahren wir mit unſerem Lichtſtrahl Jahrmillionen, 
dann kommen wir immer und immer in neue Welten; unb reifen wir mit der Lichtgeſchwindig⸗ 
keit Billionen Jahre, dann ijt es nicht anders. Ja, vermillionenfachen wir unſere Reiſegeſchwin- 
digkeit, fo ändert dies nichts an unſerm Reifebild. Wir begegnen Welten, Welten — nichts 
als Welten, die ins Meer der Unendlichkeit und Ewigkeit dahinſinken und untertauchen in den 
Oze an des Verborgenſeins. 

Wir find an der Grenze unferes Faſſungsvermögens angekommen; keine Berftandes- 
ſpekulation kann uns einen Weg mehr bahnen in das wirkliche Weltall — in die Unendlichkeit, 


Das Problem der Zugendlichen 75 


bie hier ihre unbegrenzte Fortſetzung findet, wo das Hirn des Menſchen aufhört, Entfernungen 
und Größen zu begreifen. 

Selbſt unſere Phantaſie, der ſonſt alles möglich iſt, verſagt bier vollſtändig. Die Un- 
endlichkeit kann nicht von endlich begrenzten Gehirnen, das Ewige nicht vom zeitlich begrenzten 
Menſchengeiſte begriffen werden; darum wird das menſchliche Gehirn auch nie den Raum 
begreifen. Der Raum iſt die Wohnung der Ewigkeit, und die ungezählten Sonnen und Welten 
ſind im All nichts anderes als Sandkörnchen am Meere. 

Kehren wir nun um; denn die Fortſetzung unſerer Veltenreiſe böte uns nichts Neues 
mehr; und unſere Phantaſie vermag fid in den fernſten Fernen nichts anderes als ſchon Be- 
kanntes vorzuſtellen. 

Mit der Schnelligkeit des Gedankens, die die Geſchwindigkeit des Lichtes um ein Be- 
liebiges übertrifft, kehren wir jetzt zurück zu unſerm heimatlichen Sonnenſyſtem; wir finden unſere 
traute, liebe Erde noch an derſelben Stelle, abgeſehen von den 50—60 000 Kilometer, um welch 
kleinen Betrag fid) die Erde bei ihrer Bahn um die Sonne von der Stelle entfernt hat, wo fie 
fid) beim Antritt unſerer Gedankenreiſe befand. Unſer Körper ſitzt noch behaglich im warmen 
Stübchen und hat keine Ahnung davon, daß fein Gebieter, der Get, auf Schwingen, die nicht von 
irdiſcher Natur ſind, in Tiefen der Welt eingetaucht war, die dem Stofflichen ewig verſagt ſind. 

Unwilltürlich aber fragen wir uns mit Jeſaias: „Hebet eure Augen in die Höhe und 
ſehet, wer hat ſolche Dinge geſchaffen?“ Es muß, wie eine Kraft aller Kräfte, auch ein Geiſt 
aller Geiſter, eine Urintelligenz, ein Ur-Wille, ein Ur-Weſen fein, von dem alles Sichtbare 
und Anſichtbare des Univerſums nur ber äußerſte Saum feines Kleides ift. Es ift ein eigen- 
artiges Zeichen unſerer Zeit, die Rieſenſchöpfung, die wir uns heute vor Augen zu führen 
verſuchten, als ein Werden oder Gewordenes aus dem geiſtigen Nichts aufzufaſſen, das vom 
blinden Zufall geleitet wird. Woher kam der Urſtoff, woher kam das erſte Bewußtſein, die 
erſte Intelligenz, das erſte Leben? Das ſind dieſelben unbeantwortbaren Fragen als: Wie 
groß iſt die Welt; was iſt Unendlichkeit; was iſt Ewigkeit? Welt, Unendlichkeit und Ewigkeit 
ſind nun einmal da; ob wir ſie begreifen oder nicht, das ändert nichts an ihrer Wirklichkeit. 
Intelligenz, Bewußtſein und Leben ſind in der ganzen Natur auch vorhanden, auch an ihrer 
Wirklichkeit wird nichts geändert, ob Bewohner des Stäubchens Erde fo oder fo über den Ur- 
ſprung aller Dinge denken, grübeln und ihre Meinungen verfechten. 

Freuen wir uns Ober die Welt, die an Größe und Schönheit nicht zu übertreffen iſt; 
denn jede Möglichkeit, die wir uns auszumalen vermöchten, iſt in der Welt enthalten. Und 
wenn wir auch bei der Betrachtung der Welt zu dem Endreſultat gekommen ſind, daß wir 
nichts anderes als Mikroben gegenüber den unfaßbaren Größen im All ſind, ſo wollen wir 
doch freudig konſtatieren, daß es etwas Wunderbares um die Geiſtesgröße des Menſchen iſt: 
in der ſich die ungeheure Welt widerſpiegeln kann. Georg Korf 


DE 
Das Problem der Jugendlichen 


( 5) j N E on ben Jugendlichen möchte ich heute reden. Nicht von den Jugendlichen, wie fie 
SR, E (die Strafrechtspflege per[tebt; auch nicht von denen bes Arbeiterſchutzes und der 

LA) unterſchiedlichen Novellen zur Gewerbeordnung. Oder doch von ihnen; nur in ein 
wenig anderem, wenn man will: innerlicherem Sinne. Die Sozialpolitik begreift unter den 
„jugendlichen Perſonen“ die Leute von vierzehn bis achtzehn Jahren und erklärt: Das ſind 
Menſchen, die noch mitten in ihrer Entwicklung ſtehen und infolgedeſſen geſchützt werden müf- 
ſen. Läßt man ſie in gefährlichen oder geſundheitſchädlichen Betrieben überhaupt zur Arbeit 
zu, fo bedarf es beſonderer Rautelen; erhöhter Sicherheitsvorkehrungen, außerordentlicher Be- 


74 Das Problem ber Zugendlichen 


ſchränkung der Arbeitszeit und vor allem des Verbots der zerrüttenden, den Organismus ver- 
wüjtenben Nachtarbeit. Aber auch in den an und für fid als zuläſſig erkannten Betrieben 
verlangt die Sozialpolitik eine Beſchränkung der Arbeitszeit auf ein Maß, das den körperlichen 
Kräften dieſer Jahre angepaßt erſcheint; fordert fie, daß neben der Arbeit noch genügend Spiel- 
raum für die geiſtige Fortbildung durch den Beſuch von Fortbildungs- und Fachſchulen bleibt. 
Die Geſetzgebung iſt dieſem kategoriſchen Soll und Muß der Sozialpolitiker in den einzelnen 
Ländern nicht gleich weit gefolgt — das Leben bleibt nun einmal immer hinter der idealen 
Forderung zurück —, aber ſie iſt ihr doch gefolgt, und was die Hauptſache iſt: der Angelpunkt 
der ganzen Frage ijt überhaupt nicht mehr Gegenſtand bes Streitens. Daß wir dieſe jugend- 
lich ungelenken Glieder vor Überlaftung zu ſchützen haben, bie ein Raubbau wäre an der Bu- 
kunft der Nation, gilt uns allen als ſchlechthin ſelbſtverſtändlich. Leider find wir dabei auf 
halbem Wege ſtehen geblieben. Die Leiber ſchützen wir vor wucheriſcher Ausbeutung, die 
Seelen dieſer Halbflüggen, Werdenden, langſam Erwachenden laſſen wir verderben. 

Bitte, da ift gar nichts übertrieben. Ich babe bier Iden gelegentlich im Vorübergehen 
ber widerwärtigen Greuel der vorortlichen Tanzböden von Groß Berlin gedacht; man kann 
ber Verwilderung unferer banbatbeitenben Zugend aber auch anderwärts begegnen. Wer zum 
Beiſpiel in einem kleinen Betriebe gezwungen ift, mit jugendlichen Ausläufern und Rad- 
fahrern zu arbeiten, wird immer auf die gleiche, überaus bedenkliche ſoziale Erſcheinung ſtoßen. 
Pflichtgefühl und ſoziale Gewiſſenhaftigkeit ſind unbekannte Begriffe; um ſo regelmäßiger 
find Verlogenheit unb die anderen ſympathiſchen Eigenſchaften der Lümmeljahre anzutreffen. 
Dabei handelt es ſich nicht etwa um den Abſchaum der Bevölkerung; dieſe „Jugendlichen“ 
ſind ja nun freilich nur ungelernte Arbeiter; aber die Väter ſind es zumeiſt keineswegs, und 
wenn man ſich mit dem einzelnen Mühe gibt und weiter forſcht, findet man häufig, daß der 
Großvater noch als kleiner Ackerbürger oder Dorfhandwerker auf ſeinem Eigenen ſaß. Alſo 
an dem Milieu liegt's nicht. Auch nicht, woran zu denken ſchon Torheit wäre, etwa an der 
natürlichen Verderbtheit aller dieſer jungen Menſchen. Jugend bat keine Tugend, und Lümmel 
jahre (wer's nicht tat, lügt) haben wir alle durchgemacht. Nur daß bei uns Vaters Bakel in 
erreichbarer und Reſpekt heiſchender Nähe ſtand und hier nicht: das erklärt alles. Irgendwo 
— ich bin kein Ethnologe und kein wiſſenſchaftlicher Geograph — bei irgendeinem intereſſanten 
afrikaniſchen Volksſtamm ſoll es Sitte ſein, daß die jungen Mädchen mit neun Jahren von den 
Herren Eltern unter erheblichem Freudengeheul der Oorfgenojfen eine eigene Hütte dediziert 
bekommen: damit hört die patria potestas auf, und fie können tun und laſſen, was ihnen be- 
liebt. Die Stelle der eigenen Hütte vertritt in Berlin N. und O. der HYausichlüffel. Der tritt, 
ſobald die Schulpflicht aufgehört hat und das Einſegnungskleidchen praller zu ſitzen beginnt, 
in feine Rechte. Sie „jeht“ mit Ihm und Er mit Zhr; fünfzehnjährige Laufjungen nennen 
gleichaltrige Lehrmädchen ſonder Scham und ohne eine Empfindung für die Unnatur ihre 
„Bräute“. Und die Eltern? Die haben einfach „nix tau ſeggen“; wagt aber Vater wirklich 
einmal in einem beſonders ſchweren Sonntagsrauſch aufzumucken, jo wirft der Sproß brbb- 
nend die Tür ins Schloß und droht: „Oenn zieh ick in Schlafſtelle.“ Droht, ſage ich. Denn die 
Wirtſchaftsführung der Eltern iſt in nicht geringem Maße von dieſen Jugendlichen abhängig; 
die „geben“ (ich halte mich hier an die aus langjähriger Beobachtung vertraute berliniſche 
Terminologie) „Roftgeld ab“; in der Regel 10 K wöchentlich, manchmal wohl auch noch mehr. 
50 K aber im Monat mehr oder nicht wollen in einem Arbeiterbudget ſchon etwas bedeuten. 
So kommt es zu einer Umkehrung aller Familienwerte. Es iſt wieder wie in der patriarchali- 
ſchen Großfamilie: die heranreifenden Söhne und Töchter machen den Reichtum des Hauſes 
aus; je mehr Kinder „uff Arbeet“ gehen, um ſo öfter brodelt „wat Fleeſchernet“ im Topf. 
Aber der Patriarch war der gefürchtete Oefpot, der über Knecht, Magd, Vieh und alles, was 
ſein war, unumſchränkt gebot; der Vater hingegen der modernen proletariſchen Familie iſt 
— von wenigen erfreulichen Ausnahmen abgeſehen —, was der Berliner in feiner anfchau- 


Das Problem ber Zugendlichen 75 


lichen Bilderſprache einen „Nulpe“ heißt. Eher bat ſchon noch „Mutter“ was zu melden; viel 
auch nicht. Auf Schleichwegen nur und in der Sámmer[tunbe ift, um nochmals um gut Wetter 
zu bitten, die Mutter ſo eines Laufburſchen zu mir gekommen: „Aber verraten Sie mir ja 
nich, Herr Dokter. Der Zunge bleibt mir ſonſt weg.“ Auch hier die bleiche Angſt vor dem 
drohenden pekuniären Ausfall: die Zugendlichen die Tyrannen des Arbeiterhauſes! 

Daß unter ſolchen Umftänden von irgendwelchen erzieheriſchen Einflüſſen des Eltern- 
hauſes nicht gut die Rede ſein kann, liegt auf der Hand. Erziehung iſt eben ohne Autorität nicht 
möglich, und die metalliſchen Beziehungen haben die längſt zerſtört. Die moderne Werkſtatt 
aber iſt kaum geeignet, die von der Familie gelaſſene Lücke zu ſchließen. Der Großbetrieb hält 
wenigſtens während der Arbeitsſtunden die Jugendlichen mit den eiſernen Klammern ſeiner 
Diſziplin in Zucht. Der Kleinbetrieb iſt ſelbſt dazu nicht imſtande. Hier haben ſie wieder genau 
wie daheim bei Muttern dies Gefühl ihrer Unentbehrlichkeit; ſie wiſſen, daß der mehr oder weniger 
väterlichen Sermabnung bie Diſziplinarſtrafe der Entlaſſung in der Regel gar nicht folgen kann, 
weil der Meiſter, der im Augenblick für ſie keinen Erſatz fände, ſich ſo nur ins eigene Fleiſch 
ſchnitte. Ganz abgeſehen davon, daß, was fie ſonſt im Haufe des Lehrherrn erleben, nicht immer 
dazu angetan ift, gerade erzieheriſch zu wirken. Vor Jahr und Tag find in den von Hans Oft- 
wald herausgegebenen Großſtadtdokumenten die Memoiren eines Muſikerlehrlings erſchienen. 
Was in den erſten Abſchnitten dieſes erſchütternden Buches über das häusliche Beiwerk der 
„Lehre“ erzählt ward, iſt typiſch. 

86 refümiere mich: in den Jahren, wo der Menſch erft langſam Menſch wird, in den 
auch für das Seelenleben ſo bedeutſamen wie gefährlichen Zeiten des körperlichen Reifens 
ift der junge Arbeiter ſchutzlos allen Unbilden der Großſtadt preisgegeben. Das mag zur Not 
auch gewiſſe Vorzüge haben; er lernt fo früher auf eigenen Füßen ſtehen und wird widerftands- 
fähiger für das im allgemeinen doch rauhe Leben, das ſeiner harrt. Aber alle zarten Regungen 
— und das ſind in ſozialer Wertung die beſten — werden dabei rückſichtslos totgetreten. In 
anderen Geſellſchaftsſchichten ijt der Jüngling zumeiſt bis an die Mitte der Zwanzig von Papas 
Portemonnaie und gutem Willen abhängig. Das wird mitunter, zumal wenn der alte Herr 
mit Kürzung des Wechſels oder Einheimſen droht, vom jungen Lebensdrang unliebſam emp- 
funden. Wird man älter, fo preiſt man den heilſamen Zwang, der uns zügelte, ſolange wir uns 
ſelbſt noch nicht zu zügeln lernten; der unſerem wagemutigen und zuweilen auch tollkühnen 
Weiterſtreben die Erfahrung des Gereiften an die Seite fekte. Das alles fällt bei den Jugend- 
lichen des Arbeiterſtandes fort; daher denn wohl auch der unverkennbare Zug zur Refpett- 
loſigkeit; die geringe Neigung, Autoritäten anzuerkennen und ſich ihnen zu fügen. 

Was dagegen zu tun ijt? Ich weiß es nicht, und mir will (deinen: andere, die an be- 
deutſamerer, verantwortlicherer Stelle ſtehen, wiſſen es auch nicht. Der preußiſche Kultus- 
miniſter hat neulich in einem febr löblichen und würdigen Erlaß auf dieſe ernſten Dinge bin- 
gewieſen, und der Landesgewerberat hat ſolchen Hinweis durch allerlei kluge, zutreffende und 
menſchenfreundliche Beobachtungen unterſtützt. Aber im Grunde bleiben beide doch in der 
Schilderung des Zuſtändlichen ſtecken, und den rechten Ausweg vermögen auch ſie uns nicht 
zu künden. Wie ſtellen wir es an, daß wir dieſe Großſtadtjugend, die, wofern ſie nur notdürftig 
auf Arbeit geht und pünktlich Koſtgeld abliefert, keine Hand fdübt oder leitet, vor der Ber- 
wahrloſung und innerlichen Verarmung bewahren? Fach- und Fortbildungsſchulen, die Rultus- 
miniſter und Landesgewerberat vornehmlich empfehlen, reichen, fürcht' ich, dazu nicht aus, 
und die militäriſche Dienftzeit übt ihre gar nicht hoch genug einzuſchãtzenden erzieheriſchen Wir- 
kungen vielfach erſt zu ſpät und lange nicht an allen, die dieſer Zucht bedürftig ſind. Was alſo 
follen wir tun? Denn darüber durfen wir uns nicht täuſchen: ſolange wir keine Organifativ- 
nen gefunden haben, die die jungen Seelen ſtützen, bleibt der von der Sozialreform propagierte 
körperliche Schutz der Jugendlichen Stückwerk. Der große Peſſimiſt von Frankfurt würde viel- 
leicht fagen: „Ein zielloſes Streben ins Leere“ Dr. Richard Bahr 


* 


76 Tod unb Tobesfurcht 


Tod und Todesfurcht 


* kir wiſſen alle, daß wir einſt ſterben werden, aber wir erachten den Tod nicht als 
Notwendigkeit, als etwas Gutes und Selbſtverſtändliches, ſondern als eine 
| Ohnmacht und eine Ungerechtigkeit, denn er raubt uns das, was wir als das 
Höchſte empfinden — die Perſönlichkeit. Alle Verſprechungen der Religion und alles Wiſſen 
um die Anſterblichkeit der Materie, um das, was unſeren ſichtbaren Körper ausmacht, können 
uns nicht darüber tröften, daß ein Toter nicht mehr „Ich“ fagen kann. Und trotzdem wir jede 
Nacht, ſofern unſer Schlaf traumlos iſt, einen Vorgeſchmack des Todes genießen, ein Ausruhen 
und Unbewußtſein unferer eigenen Perſönlichkeit, können wir uns doch im wachen Bewußt 
fein nicht mit dem Gedanken vertraut machen, daß wir eines Tages nicht mehr exiſtieren wer- 
den, daß es kein Aufwachen aus dieſem letzten Schlaf mehr gibt. Das, was in uns „Zch“ ſagt, 
fühlt ſich nicht als endliches und beſchränktes Weſen, ſondern als unendlich und ohne Schranken 
der Zeit. Aus dieſem unheilvollen Widerſpruch zwiſchen dem unerbittlichen äußeren Geſchehen 
und unferer innerlichen, faft unbewußten Überzeugung reſultiert das Grauen und die Furcht 
vor dem Tod. Er ift uns Menſchen des zwanzigſten Jahrhunderts ebenſo fürchterlich und un- 
begreiflich, wie er dem Menſchen war, der zum erſtenmal aus dem Walde brach, um ſich die 
Welt zu unterwerfen. Wir finden Geſchmack am Leben. Es iſt uns bis zu einem gewiſſen Grad 
begreiflich, wir finden uns zurecht, diktieren ihm Geſetze, zwingen ſeine tauſend Geheimniſſe 
zur Entſchleierung und empfinden es im letzten Grunde, trotz aller Ragen, als etwas Röft- 
liches und überaus Liebenswertes. Die Bewegung, der ſtürmende Rhythmus des Lebens ge- 
fällt uns, die Buntheit ſeiner wechſelvollen Erſcheinungen, das Spiel des Zufalls, das Fagen 
und Greifen nach dem Glück wollen wir nicht aufgeben. Das wundervolle Glück des Atmens 
allein, das Herz zu ſpüren, das, von einer geheimnisvollen Kraft getrieben, Blutwelle auf Blut- 
welle durch den Körper jagt, das Glück des Sehens und Hörens — das alles find unſchätzbare 
Güter, die allerdings dem durchſchnittlichen Menſchen erſt dann ganz zu Bewußtſein kommen, 
wenn er Gefahr läuft, fie zu verlieren, das heißt, wenn die Hand des Lebens ſchwerer und un- 
mittelbarer auf ihm liegt — wenn er krank ijt. Die Kranken wijfen nämllich etwas, was die Ge- 
ſunden ſonſt nicht wiſſen: daß es ſchließlich nicht darauf ankommt, wie man lebt, ſondern daß 
man lebt. Die Kranken und Sterbenden haben alle den inbrünſtigen Wunſch des Peliden, 
lieber das Feld als Tagelöhner beſtellen, „als die Schatten geſchwundener Toten beherrſchen“. 

Alles Pathos und alle Überlegung hilft uns über das fatale Gefühl der Todesfurcht 
nicht hinweg, denn Pathos b e w e ift nicht, ſondern überredet, und wo es an die letzten 
Dinge geht, wird alles Pathos ſchwach und ohnmächtig — die inſtinktive, tieriſche Furcht iſt 
das herrſchende Prinzip. Und Mephiſto, der große Menſchenkenner, läßt fid) durch die erhabe- 
nen Deklamationen Fauſts nicht irremachen, ſondern ſagt trocken: „Und doch ijt der Tod nie 
ein willkommener Gaſt.“ Dieſes Grauen und die Todesfurcht ift allen Geſchöpfen gemeinſam, 
dem Tiere ebenſo wie dem Menſchen und vermutlich auch den Pflanzen. Von den Pflanzen 
können wir es nur vermuten, da das Seelenleben der Pflanzen — das unbeſtreitbar vorhanden 
ijt — in feiner Wirkung auf uns fid) nicht zu einem analogen pſychiſchen Prozeß verdichtet, 
ſondern rein als ſinnliche Wahrnehmung auftritt (Anderung des Geruches, andere Stellung 
der Blätter und Blüten, allgemeiner Widerſtand gegen die Vernichtung), die wir dann nach 
Belieben pſychologiſch interpretieren können. 

Gehen wir aber der Todesfurcht logiſch oder pſychologiſch zu Leibe, ſo iſt ſie einiger 
maßen unverſtändlich. Denn wir können doch unmöglich vor etwas Angſt empfinden, was 
wir jeden Tag freiwillig und gern tun — ſchlafen, un bewußt fein. Selbſt wenn dieſe Un- 
bewußtheit in alle Ewigkeit dauern ſollte. Gm traumloſen Schlaf oder in der Ohnmacht hört 
die fubjettive Exiſtenz auf, die Empfindung für Raum und Zeit verſinkt, da unfer intellektueller 


Tod und Todesfurcht 77 


Apparat und mithin die Erkenntnisfähigkeit ausgeſchaltet iſt. Weiter: wenn die Todesfurcht 
bie Angſt vor der Nichtexiſtenz wäre, fo müßten wir, wie Iden Schopenhauer in feiner genialen 
Abhandlung „Über den Tod und die Unzerſtörbarkeit unſeres Weſens an ſich“ ſchreibt, das gleiche 
Grauen vor dem Zuſtand empfinden, dem wir vor unſerer Geburt unterworfen waren. Aber 
welcher Menſch denkt mit Grauen an die Zeit vor ſeiner Geburt? Welcher Menſch — ſofern 
er nicht gerade Buddhiſt oder überzeugter Theoſophe iſt — denkt überhaupt an dieſe Zeit, die, 
richtig geſprochen, gar keine Zeit iſt, da die Zeit ſelbſt nach Kant „die Anſchauungsform des 
inneren Sinnes iſt“, „an und für ſich“ vermutlich gar nicht exiſtiert, ſondern erſt dann auftritt, 
wenn ein Intellekt ſeine Funktionen beginnt. 

Auch vor dem eigentlichen Akt des Sterbens können wir unmöglich dieſes namenloſe 
Grauen haben, denn die Natur iſt in allem einfach, ehrlich und betrügt uns nicht. Sie zeigt 
uns an tauſend und abertauſend Fällen, daß das Sterben nicht ſchmerzhaft und fürchterlich 
iſt, ſie zeigt es uns von den Blättern, die im Herbſt müde und gelb zu Boden taumeln, bis zu 
dem Menfchen, der im Bette oder auf dem Schlachtfeld ſtirbt. Nach Ausſage aller Menſchen, 
die kurz vor dem Sterben noch gerettet wurden (Erhängte, Ertrinkende, Erſtickende uſw.), iſt 
das Sterben nichts weniger als fürchterlich, es wird in faſt allen Fällen als abſolut ſchmerzlos, 
ja ſogar als ſehr angenehm empfunden. Damit ſtimmt auch die etwas feltfame Tatſache über- 
ein, daß z. B. Ertrinkende und Erhängte nicht übermäßig dankbar für ihre Rettung ſind und 
ſich bitter über den blitzartigen Schmerz beklagen, den das Erwachen ſie gekoſtet habe. Eine 
Frau, die vom Tod des Ertrinkens gerettet wurde, teilt die nachdenkliche Tatſache mit, der 
Schmerz, der mit dem Wiedererwachen verbunden geweſen ſei, habe dem Schmerz geglichen, 
den ſie ſonſt während des Gebärens empfunden habe. 

Das Sterben kann man ſich vorſtellen wie eine Ohnmacht, die man denn auch den 
„Zwillingsbruder“ des Todes genannt hat. Dabei fällt es auf, daß zuerſt die Eigenſchaften der 
Pſyche ſchwinden, welches Verſchwinden durch das Verſagen der Sinne bedingt iſt. Wie bei 
dem Eintreten der eigentlichen Ohnmacht (abgeſehen von den voraufgegangenen Schwindel 
und Unluſtgefühlen) zuerſt die Augen den Dienſt aufgeben, fo auch beim Sterben. Daher bie 
Frage aller Sterbenden: „Warum wird es ſo dunkel?“ und ihre Bitte nach Licht. Und daher 
wohl auch der ergreifende Ruf des ſterbenden Goethe. Die übrigen Sinne ſchwinden raſch nach- 
einander, das Bewußtſein erliſcht, und das was folgt, iſt, ſcharf geſehen, ſchon ein Akt nach 
dem Tode. Denn der Tod tritt in dem Augenblick ein, wo das Bewußtſein (das die Perſönlich⸗ 
keit ausmacht) feine Funktionen einſtellt. Von dieſem Augenblick an ift der Schmerz verfdwun- 
den wie die Freude und wie alles, was an das Bewußtſein geknüpft iſt. Die Einführung der 
Narkoſe beruht auf dieſer Erſcheinung. All die ſchauerlichen Krämpfe, die ganze Entſetzlich⸗ 
keit des Todeskampfes, ſind nur für den Beſchauer ſo ſchmerzhaft, für den Sterbenden ſelbſt 
nicht, da er ſie nicht mehr ſpürt. Was nach dem Schwinden des Bewußtſeins vor ſich geht, 
kann uns nicht mehr intereſſieren, da es unſere Perſönlichkeit nichts mehr angeht, ſondern ledig- 
lich phyſiologiſche und chemiſche Prozeſſe find. Epikur ſagt daher ganz richtig: 6 Varvatos 
undev zoos uas, und Schopenhauer fekt hinzu: Wenn wir find, ift der Tod nicht, und 
wenn der Tod iſt, ſind wir nicht. 

Wenn man will, kann man die Todesfurcht vielleicht mit einem Geſetz der Phyſik erklären, 
und zwar dem „Geſetz der Trägheit oder des Beharrungsvermögens“. Jeder Körper verſucht, 
in der Lage zu verharren, in der er ſich augenblicklich befindet, oder anders: jeder Körper ſetzt 
einer Lageverdnderung einen Widerſtand entgegen. Zeder Menſch, der in einem Zug fährt, 
kann dieſes Geſetz am eigenen Leibe ſtudieren. Zieht der Zug an, ſo fällt man nach hinten, 
d. h. nach der entgegengeſetzten Seite der Fahrtrichtung; hält der Zug an, fo geſchieht das Um- 
gekehrte. Je briister das Anfahren oder Anhalten geſchieht, deſto ſtärker ift die Reaktion. Nun 
kann es ſein, daß dieſes Geſetz nicht nur für die Körper, ſondern auch für die Seele Geltung 
hat, wo es ſich eben als rein pſychiſcher Vorgang aufſpielt. Jede ſtarke Veränderung in unſerem 


78 Gibt es Proppezeiungen? 


Leben ruft eine gewiffe Furcht in uns hervor, unb da die Veränderung, bie mit dem Tod ge- 
ſchieht, die ſtärkſte und unwiderruflichſte iſt, ſo iſt auch die Furcht davor die größte. 

zu Wie dem auch fei, das Rätfel des Todes wird von den Lebendigen nicht gelöſt, ſondern 
wie alle Dinge, die uns umgeben, nur beſchrieben werden können. Vielleicht find wir nach dem 
Tode das, was wir vor der Geburt waren. Vielleicht auch etwas anderes. Wir wiſſen es nicht 
aber wir werden es alle erfahren Fr. A. Holland 


en 
Gibt es Prophezeiungen? 


ür den Gebildeten von heute iſt die Frage der Prophetie gar nicht diskutierbar. 
Sie ſteht auf gleichem Niveau etwa mit dem Glauben an Wetterzauber oder Teufels- 
bündniffe. Das kann auch gar nicht anders fein, ſolange das Dogma des Materialis- 
mus „modern“ iſt — denn ſelbſtredend ſind auch die höchſten Probleme der Weltanſchauung 
und die Art ihrer Beantwortung der Mode unterworfen —, ſolange nichts anderes als Kraft 
und Stoff anerkannt wird und durch fehlerhaften Analogieſchluß die phyſikaliſchen, chemiſchen 
und biologiſchen Geſetze ohne weiteres auf die Geiſtestätigkeit übertragen werden. 

Der Fromme wird ſich der meſſianiſchen und anderer Weisſagungen erinnern und die 
Wahrheit der Prophetie zugeben, jedoch mit der Einſchränkung, daß ſie ihr Ende erreicht habe 
mit Abſchluß der Evangelien. Darüber exiſtiert eine reiche theologiſche Literatur, die ſich nahezu 
einſtimmig in dieſem Sinne entſcheidet. 

Es handelt ſich alſo in beiden Fällen um Glauben. Der „Gebildete“ glaubt an die Un- 
möglichkeit des zeitlichen Fernſehens, der „Fromme“ macht die Einſchränkung, daß das in 
bibliſcher Zeit anders war, während das ungebildete, abergläubiſche Volk, die Hyfterifden und 
Schwärmer, heute noch zu Wahrſagerinnen laufen und Karten und Kaffeeſatz befragen. 

So ſcheint wenigſtens der Fall zu liegen. Läge er in Wahrheit fo, dann würde es fid 
um ein unlösbares Problem handeln. Denn mit dem Glauben läßt ſich wiſſenſchaftlich nichts 
anfangen, und mit dem niedern Volke als Eideshelfer ſtützt man eine Sache nicht. 

Nun gibt es aber eine Reihe ganz merkwürdiger, hiſtoriſch einwandfrei erweisbarer 
Fälle, von denen ich einige an dieſer Stelle bereits mitteilte, die es immerhin dem Vo r- 
urteilsloſen ratſam erſcheinen laffen, das Problem erft zu prüfen, bevor es in die Rumpel- 
kammer des Volksaberglaubens geworfen oder in das Gebiet der bibliſchen Wunder verwieſen 
wird. Das wäre ja in praxi für die erdrückende Mehrheit das gleiche. 

Macht es nicht ſtutzig, wenn Papſt Pius II. (Aneas Silvius Piccolomini) bezeugt, daß 
Friedrich III. träumt, er werde vom Biſchof Tommaſo Parentucelli zum Kaiſer gekrönt, ſich 
darüber wundert, daß ein einfacher Biſchof dieſe hochbedeutende Zeremonie vornimmt, und 
tatſächlich Parentucelli als Nikolaus V. den Stuhl Petri beſteigt und den Habsburger krönt? 

Oder wenn Pierre d' Ailly, der auf dem Konſtanzer Konzil eine große Rolle ſpielte, in 
einem Buche, das 1490 im Oruck erſchien, vom Jahre 1789 ſchreibt: „Wenn die Welt bis zu 
jenen Zeiten ſtehen wird, was allein Gott weiß, dann werden große und erſtaunliche Umwälzun- 
gen und Wandlungen geſchehen, die am meiſten die Geſetze und das Paxteiweſen betreffen.“ 

Alſo eine Vorausſage der großen Revolution aufs Jahr genau! 

Es iſt ja auch nichts Alltägliches, wenn Tycho Brahe einen 1572 neu auftauchenden 
Stern als Urſache der Geburt eines tapferen Fürſten deutet, deffen Waffen Deutſchland über- 
ſtrahlen und der 1652 wieder verſchwinden würde. Wer denkt nicht an Guſt ar Adolf? 
Übrigens fagte ber Aſtrologe Andreas Goldmayer im Jahre 1632 in Straßburg den gewalt- 
(amen Tod des großen Schweden bei Lützen voraus. 

Merkwürdig iſt auch gewiß, daß Joachim Greulich Viſionen hatte, in deren einer er 


Gibt es Prophezeiungen? 79 


mit klaren Worten — die Niederfchrift erfolgte 1655 — die Belagerung Wiens vorherſagte, 
in einer andern aber den Sturz der Bourbonen in Frankreich. 

Die Beiſpiele ließen fid) ins Endloſe vermehren. So fagte bereits im Jahre 1868 der Eng- 
länder A. 8. Peare für den jetzigen König, ein damals zweijähriges Kind, voraus: „Dieſer 
Prinz wird, wenn er am Leben bleibt, König von England werden mit dem Namen Georg V.“ 

Doch nennen wir einige große Namen! Bekannt ift Goethes Viſion bei Orufen- 
heim, die fid) acht Jahre ſpäter bis auf die Kleidung genau erfüllte (vgl. Dichtung und Wahr- 
heit, 3. Teil, 11. Buch), weniger bekannt Bismarcks Brief an ſeinen alten Heldenkaiſer, 
in dem er ihm ſeinen Traum vom Frühjahr 1863, der ſchwerſten Konfliktszeit, mitteilt. Er iſt 
intereſſant genug, um teilweiſe wiedergegeben zu werden: 

„Mir träumte, und ich erzählte es fofort am Morgen meiner Frau und anderen Zeugen, 
daß ich auf einem ſchmalen Alpenpfad ritt, rechts Abgrund, links Felſen; der Pfad wurde 
ſchmaler, fo daß das Pferd fid) weigerte, und Umeehr und Abſitzen wegen Mangel an Platz un- 
möglich war; da ſchlug ich mit meiner Gerte in der linken Hand gegen die glatte Felswand und 
rief Gott an: die Gerte wurde unendlich (ang, die Felswand ftürzte wie eine Kuliſſe und eröffnete 
einen breiten Weg mit dem Blick auf Hügel und Waldland wie in Böhmen, preußiſche Truppen 
mit Fahnen und in mir noch im Traum der Gedanke, wie ich das ſchleunig Eurer Majeſtät 
melden könne. Dieſer Traum erfüllte ſich, und ich erwachte froh und geſtärkt aus ihm.“ 

Durch einen Traum des Khedive wurde der berühmte Agyptologe Brugſch Paſcha ge- 
rettet, indem ein Telegramm des Zürften ihn veranlaßte, ein anderes Schiff zu nehmen — er 
wollte über Bremen, ſchiffte ſich aber in Trieſt ein —, während das ins Auge gefaßte ver- 
unglüdte. 

Diefe unb eine Fülle anderer richtiger Vorherſagen — faſt jedes Ereignis der Welt- 
geſchichte ift in irgendeiner Form vorherverkündet — dazu die heute feſtſtehende Tatſache räum- 
lichen Fernſehens, die Meinungen großer Denker, wie Platon, Kant oder Schopenhauer, be- 
weifen zum mindeſten, daß die Frage nach der Exiſtenz von Prophetie nicht fo ohne weiteres 
als Dummheit abzutun iſt, wie es die öffentliche Meinung heute will. Ich entſchloß mich alſo, 
das Problem eingehend zu prüfen, auf die Gefahr hin, entweder zu einem negativen Refultat 
zu kommen, d. h. alles für Zufall erklären zu müſſen, oder — ſollte ich mich von der Wahrheit 
überzeugen — als Phantaſt verſpottet zu werden. (Prophezeiungen. Alter Aberglaube oder 
neue Wahrheit? München 1911, Albert Langen.) 

Tatſächlich handelt es fid) darum, den Zufall auszuſchließen. In allen oben angeführ- 
ten Fällen iſt das nicht möglich, weil man mit Recht einwenden kann: Das iſt ja gewiß alles 
merkwürdig, aber man erinnert fid) eben nur der eingetroffenen Ankündigungen und vergißt 
die falſchen. Daß es aber unzählbare falſche Propheten und haarſträubend einfältige Vorher- 
ſagen gibt, wird gewiß niemand beſtreiten. 

Wie aber, wenn wir das geſamte Material eines und des ſelben oder mehrerer (angeb- 
licher oder wirklicher) Seher kritiſch prüfen können? Wenn wir dann tatſächlich Perſonen 
finden, bei denen die erdrüdende Mehrheit der Ankündigungen ſich erfüllt? 

And ſolche Seher gibt es! Etwa den Elbfiſcher Chriſtian Heering aus Proffen, der er- 
ſtaunliche Daten aus dem Siebenjährigen Kriege vorherſagte, und den ich an dieſer Stelle be- 
reits früher erwähnte. Oder Johann Adam Müller, der die weite Reife von feiner badiſchen 
Heimat ohne Geld, ohne Bildung und Ausſicht auf Erfolg zu König Friedrich Wilhelm III. 
nach Memel antritt, um ihm in der Zeit der tiefſten Erniedrigung Preußens die künftige Größe 
der Monarchie zu verkünden. Auch von ihm beſitzen wir ganz genaue protokollariſche Angaben 
ſeiner Viſionen. 

Aus der Gegenwart möchte ich die in Berlin lebende Somnambule be Ferriem (an- 
genommener Mame!) anführen und einige ihrer Viſionen. Selbſtredend find dieſe vorher 
im Oruck erſchienen! Sie fab im Jahre 1898 den furchtbaren Brand der Lloydſchiffe im Hafen 


80 Gibt es Brophezelungen? 


pon Neuyork vorher, und zwar mit genauer Angabe des Stadtnamens. Gab bie Erdbeben- 
kataſtrophe von Martinique — allerdings ohne Namensnennung — richtig an, unb zwar drei 
Sabre vorher, desgleichen den Untergang des deutſchen Schulſchiffes Gneifenau und anderes mehr. 

Als Beiſpiel einer ſolchen Viſion ſei hier der ſtenographiſch aufgenommene Wortlaut, 
wie er im Jahre 1897 in verſchiedenen Blättern erſchien, angeführt: 

Erſtes Geſicht. (Die Dame ſchließt die Augen und ſpricht:) „Schrecklich, die Men- 
ſchen alle bier bei der Grube! Wie bleich ſie ausſehen! — Wie die Leichen! — Ach, das ſind 
ja auch lauter Leichen. Ja, ſie kommen heraus und werden jetzt alle fortgebracht. Und die 
ganze Gegend iſt ſo ſchwarz, und es ſind lauter kleine Hütten. Die Leute, die ich ſehe, reden 
eine andere Sprache, auch verſchiedene Sprachen, alles durcheinander. Und ſo leichenblaß ſind 
fie alle! — Sekt wird da einer herausgebracht, welcher einen Gurt mit einer blanken Schnalle 
umhat. 's ift Weihnachten bald, eine Hundekälte. Dort ift einer, der bat eine Lampe mit einem 
Gitter. Es ijt ein Rohlenbergwerk. Es ift alles fo ſchwarz und fo kahl. ch fehe bloß 
die alten Hütten. Die ganze Gegend ift fo öde. — Ich verſtehe, was der eine da ſagt. Er fagt: 
‚Die Arzte kommen alle aus Brüx“ . . . Ach, das ift ein böhmiſcher Ort... Siehſt 
du denn nicht?“ (8d, d. h. der Stenograph, ſehe nicht.) „Was? du ſiehſt nicht!“ (Dies 
ſagt die Seherin ſozuſagen erſchreckt und ſchlägt die Augen auf.) 

Zweites Geſicht (am Nachmittag des auf die erſte Viſion folgenden Tages). „Wie 
traurig das hier ausſieht! Die Menſchen alle. O weh, ſo viele! — So viele Frauen ſind da; 
wie fie weinen! Die Männer find tot; es leben nicht viele mehr. Sie find alle herauf⸗ 
gebracht worden. Ach Gott, die Armen tun mir ſo leid! Sieh mal, die Kinder alle! Wie die 
Männer ausſehen, fie find ganz von Rauch geſchwärzt, find gewiß alle in der Erde erftidt. — 
Das ſind Böhmen. Pie Weiber und die Kinder haben Kopftücher um. Za, das find Böhmen. 
Ach, die armen Menſchen, nun gerade um die Weihnachtszeit. Sft doch ſchrecklich! — 
Mit ſolch einem Zug, der eben angekommen, bin ich ſchon gefahren. Da ſteht es dran; der kommt 
doch über Eger. Ja, es ift Böhmen. — Wie fie dort liegen! — Das find wohl Arzte, die ba 
reiben? — Feine Männer. Viele haben Binden mit einem Kreuz um die Arme. — Was haben 
die Frauen und Kinder denn da in der Hand? Eine Kette. Wozu haben ſie die Kette? Ach, 
ſie bekreuzigen ſich jetzt. Das iſt ein Roſenkranz. Ach, ſie beten; aber ſie weinen doch alle! — 
An dem Eiſenbahnzug ſehe ich einen öſterreichiſchen Adler, einen Doppeladler. — Ach, das ift 
wohl ein Schaffner, der da ſteht? Ich höre, was er ſagt: „In ben Kohlengruben von Du x“, 
ſagt er; ich lefe aber Br x. Der da hat's an der Binde. — Ach, fie find von der Sanitäts- 
wache. — Aber ſie können nichts machen mit den armen Menſchen. Sie fahren ſie alle auf ſo 
komiſchen Wagen fort.“ (Die Somnambule erwacht.) 

Im Jahre 1900 fand in den RKohlenbergwerken von Dux bei Brür in 
Böhmen ein Grubenunglück ſtatt, bei dem ſehr viele Bergleute 
ums Leben kamen! 

Zufall? Nun, jedenfalls ein ſehr merkwürdiger. 

Freilich läßt ſich nicht leugnen, daß ſoundſooft auch Vorherſagen nicht eintreffen. Auf 
die Gründe dafür einzugehen, iſt hier nicht möglich, immerhin können wir einige andeuten. 
git etwa eine Rataftrophe vorhergeſagt ohne Angabe der Namen, dann wird man einwenden, 
ſie hätte auch wo anders ſtattfinden können. Erblickt die Seherin ein Stadtbild ganz deutlich 
— etwa das von Neupork — verwechſelt es aber und nennt daher einen falſchen Namen, fo ift die 
Viſion richtig, die Kataſtrophe trat gemäß der Vorherſage ein, aber infolge des Snterpretations- 
fehlers der Somnambule war bie Lokaliſierung falſch. Ferner ift die außerordentliche Empfind- 
lichkeit dieſer Perſonen zu berüdfichtigen. Sie reagieren auf Gedanken und werden auch — das 
geht aus ihren eigenen Ausſagen klar hervor — durch Wünſche beeinflußt. Daher find die er- 
zwungenen Vorherſagen der berufsmäßigen Wahrſagerinnen faft immer falſch. Frau be Fer- 
riem weigert fid) ausdrüdlih, auf Fragen zu antworten, vielmehr ſtellen fid) bei ihr Viſionen 


Gibt es Prophezeiungen? 81 


fo fpontan ein, wie etwa ein Meteorfall. Sowenig es nun möglich ijt, einen Aſtronomen mit 
Geld und guten Worten zu einem Meteorfall zu veranlafjen, fo wenig kann das Phänomen 
echter Prophetie willkürlich hervorgerufen werden. Wir können uns ja noch nicht einmal zu 
beſtimmten Träumen zwingen! ` 

Es handelt (id) nun darum, das Verhältnis der richtigen Vorherſagen zu den falſchen 
bei derſelben Perſon feſtzuſtellen. Hierbei iſt zu beachten, daß wir ein durchaus falſches Bild 
erhielten, wollten wir etwa ſagen: A. iſt ein Seher, denn von 4 Prophezeiungen traten 3 ein. 
Denn der Inhalt ift durchaus un gleichwertig. Es ift ein himmelweiter Unterſchied, ob 
ich in einem Kartenſpiel vorherſage, jemand würde eine Karo ziehen (Wahrſcheinlichkeit 1: 4) 
oder in einer Lotterie das große Los (Wahrſcheinlichkeit 1: 100 000 oder mehr, je nach Zahl 
der Loſe), oder ob ich mit Beſtimmtheit angebe: Ameier wird von Bmüller mit einem Dolch 
in Xdorf ermordet werden. Denn während fid) in jeder Lotterie ein großes Los befinden muß, 
iſt das letzte nichts weniger als notwendig. 

UAnfere Aufgabe muß es alfo fein, möglichſt hochwertige Vorherſagen zu gewinnen. 
Denn nur wenn es uns gelingen ſollte feſtzuſtellen nicht nur, daß ein Seher ſich ſelten täuſcht, 
fondern auch, daß der Inhalt einer Vorherſage derart ijt, daß die Berechnung völlig, der Zu- 
fall nahezu völlig unmöglich ijt, erſt dann iſt der Beweis für das Vorhandenſein einer beſonderen 
Kraft des zeitlichen Fernſehens — etwa analog der drahtloſen Telegraphie — geliefert. 

Mit andern Worten: Wenn es uns gelingt, die Formel zu erhalten: w (Wahrſcheinlich⸗ 
keit, Zufall) = n (Zahl der wirklichen Fälle) dividiert durch m (Zahl der möglichen Fälle) = 
unendlich klein oder O, alfo w = = = 0, ift das Problem mathematiſch gelöft. 

Eine folhe mathematiſche Löſung ift unmöglich, da wir niemals eine unendlich große 
Zahl möglicher Fälle gewinnen können. Wohl aber iſt es möglich, eine ſo außerordentlich große 
Zahl zu erzielen, daß das Reſultat praktiſch das ſelbe ijt. 

Dafür möge folgendes Beiſpiel aus der Wahrſcheinlichkeitsrechnung zeugen: Stellen 
wir uns vor, jemand werfe hundertmal eine Münze auf, und zwar ſo, daß jedesmal das Wappen 
nach oben kommt. Die Wahrſcheinlichkeit hierfür iſt 200 Nun ift aber 2100 mehr als 1039 
Quintillion. Darum, ſagt der Mathematiker Grimſehl, weil eine ſo große Zahl von Würfen 
von allen Menſchen der Erde erſt in 20 Billionen Jahren ausgeführt werden können, kann die 
Wahrſcheinlichkeitsrechnung hier O anſetzen, wiewohl ja bekanntlich der Begriff der Unendlid- 
keit bei Abzug noch ſo enormer Zahlen ſich nicht vermindert. 

Wenn alfo die reine Mathematik bei einem fo ungeheuren Diviſor aus praktiſchen Grün- 
den zum Reſultat O gelangt, können wir das um fo eher. Es handelt fih nur darum, äußerft 
hochwertige Prophezeiungen zu finden. 

Sie liefert uns der berühmte Michael Noſtrad am us in ſtattlicher Zahl. Nicht nur, 
daß er in ſeinen erſtmalig 1555, vollſtändig 1566 zu Lyon erſchienenen Quatrains u. a. ſchreibt: 
„Im Sabre 1792 wird man glauben, eine neue Zeitrechnung einzuführen“ — der Revolutions- 
kalender trat am 22. September 1792 in Kraft —, die Regierungsdauer Napoleons auf 14 
Jahre angibt und dergleichen; es finden ſich in feiner dunklen Sprache auch folgende Dier- 


e Le lys Dauffois portera dans Nanci 
Jusques en Flandres electeur de l'Empire; 
Neusve obturée au grand Montmorency, 
Hors lieux prouvés delivró à clere peyne. 


Zu deutſch mit Kommentar: Die Lilie des (bisherigen) Dauphin wird nach Nancy 
kommen und wird bis nach Flandern einen Kurfürſten des Reichs unterftüben. (Bekanntlich 
war die Lilie Wappen der Bourbonen.) Neues Gefängnis dem großen Montmorency. Auker- 
halb des dazu beſtimmten Ortes wird er ausgeliefert werden dem Clerepeyne. 

Ser Türmer XV, 1 


82 Gibt es Prophezeiungen? 


Sm Jahre 1633 drangen die Truppen Ludwigs XIII. in Nancy, der Hauptſtadt des 
damals ſelbſtändigen Lothringen, ein und 1635 bis nach Flandern, um die Sache des Kur- 
fürſten von Trier, der im gleichen Jahre in ſpaniſche Gefangenſchaft geraten und nach Brüſſel 
entführt worden war, zu unterſtützen. Dieſe Gefangennahme war Anlaß der Kriegserklärung; 
Ludwig XIII. belagerte Löwen in Flandern. 

>‘ Damals — im Jahre 1632 — wurde Heinrich II. Montmorency wegen Rebellion gegen 
den König im neuerbauten Gefängnis des Rathaufes zu Toulouſe eingeſperrt, dann durch be- 
fondere Gnade nicht dem Henker, fondern dem Soldaten Clerepeyne übergeben, der 
ihm nicht an der dafür beſtimmten Richtſtätte, ſondern im verſchloſſenen Hofe des Rathaufes, 
noch dazu vor der Statue ſeines Paten König Heinrichs IV., den Kopf abſchlug. 

Dieſer Quatrain ift alfo — 66 Jahre nach dem Tode des Sehers — im vollſten Umfange 
in Erfüllung gegangen. 

Während ſich der Inhalt der erſten Zeilen einer rechneriſchen Bearbeitung entzieht, ge- 
ſtatten ihn die beiden letzten wenigſtens teilweiſe. An die Namen Montmorency und Clere- 
penne anknüpfend können wir unter Zugrundelegung der damaligen Einwohnerzahl Frant- 
reichs — wie mir Geheimrat Ferdinand Lindemann, der große Mathematiker, beſtätigte — 
einen Nenner von 5000 Milliarden errechnen. 

Wer alſo behauptet, daß Noſtradamus durch Zufall die Namen Montmorency und 
Clerepeyne zuſammenbrachte, wettet 1 gegen eine vierzehnſtellige Zahl! 

Greifen wir noch einen Quatrain (IX, 34) heraus, zum Beweiſe, daß Noſtradamus 
nicht nur Daten, Orts- und Perſonennamen, ſondern auch die kleinſten Nebenumſtände richtig 


vorherſehen konnte! 
berſeh Le part soluz mary sera mitré 


Retour: conflict passera sur le thuile 
Par cing cens: un trahyr sera tiltré 
Narbon: et Saulce par coutaux avous d’huille, 


„Der Gatte wird einſam betrübt mit der Mitra geſchmuͤckt werden nach feiner Rüde 
kehr. Ein Angriff wird geſchehen auf den Tuille durch fünfhundert: ein Verräter wird ſein 
Narbon mit (hohem) Titel und Saulce, unter feinen Vorfahren Hüter des Os (habend).“ 

Verſetzen wir uns in die letzten Tage Ludwigs XVI.! Der betrübte Gatte, Ludwig XVI., 
wurde allein nach feiner verunglückten Flucht mit der Fatobinermige „geſchmückt“. In der 
Nacht vom 9. auf den 10. Auguft 1792 erfolgte der Angriff auf die u i l er ien (die zu Noftra- 
damus’ Lebzeiten noch gar nicht ſtanden ), als die fünfhundert fédérés marseillais, der ſchlimmſte 
Abſchaum des Pöbels, ſich in die Hauptſtadt ergoſſen hatten. Die Folge war die Ermordung 
der Schweizergarde. Der Kriegsminiſter Graf Narbonne war zwar kein Verräter, aber 
kein Mann, der feinem König durch dick und dünn folgte. Wohl aber war Sauce, der Gajt- 
wirt in Varennes, der Mann, der Ludwig auf der Flucht erkannte und anhalten ließ. Seine 
Vorfahren hatten bereits in Varennes einen Kramladen gehabt, waren „Hüter des Oles“, 
wir würden vielleicht „Jeringsbändiger“ fagen. 

Sedes Wort ſtimmt! 

Die Berechnung der Perſonennamen Narbonne und Sauce ſowie des Ortsnamens 


Tuilerien ergibt einen Nenner von 6000 Milliarden. Dabei find Momente wie etwa das mitré, 
ein in der Geſchichte einzig daſtehender Fall, nicht berückſichtigt. 

Nach alledem dürfte es kaum beſtritten werden können, daß wir das praktiſche Refultat 
Null für den Zufall errechneten und demnach die Exiſtenz einer Kraft des zeitlichen Fernſehens 
zwingend bewieſen haben. 

Aufgabe der Zukunft müßte es ſein, die Wirkung dieſer Kraft, die Bedingungen ihres 
Zuſtandekommens, die Fehlerquellen uſw. uſw. näher zu ermitteln. 

Was tut nun die moderne Kritik? 


Profeſſor Metſchnikoff und die Krankheit bee Alterns 83 


Während Fachblätter das Buch zu den beſten auf metaphyiſchem Gebiete erklären und 
behaupten, daß es der Seelenforſchung neue Bahnen weiſe, während in pſychologiſchen Ge- 
ſellſchaften über dieſe neue, d. h. erſtmalig bewieſene Wahrheit die lebhafteſten Diskuſſionen 
ſtattfinden, verhält (id) — mit wenigen Ausnahmen — die Preſſe entſchieden ablehnend, was 
ja ihr gutes Recht iſt — oder aber ſie ſchweigt. 

Wer daran zweifeln ſollte, daß auch der Liberalismus, der ſich leider vielfach mit dem 
Monismus zu identifizieren ſcheint, ſeine Dogmen hat, nicht ein Atom toleranter iſt als die 
Gegner, wird vielleicht durch folgendes Vorkommnis eines Beſſeren oder vielmehr Schlechte 
ren belehrt: 

Der Chefredakteur eines großen liberalen Blattes wollte einen politiſchen Artikel von 
mir nicht annehmen unter der Begründung, daß ich mich durch meine Studien über Prophetie 
unmöglich gemacht hätte! 

Solche Fälle, wenn auch vereinzelt in folh unverhüllter Ignoranz auftretend, find in 
milderer Form nicht ſelten. Das gibt zu denken. Denn es iſt der gleiche Geiſt, der über die 
Möglichkeit des Meteorfalles fo gut lachen ließ wie über die der Gasbeleuchtung, des Auto- 
mobils oder des lenkbaren Luftſchiffes. 

Mag man mit ſtrengſter Kritik an eine neue Frage herantreten — es iſt dabei ja gerade 
nicht nötig, daß man Saulce und Narbonne zu Stadtnamen machen möchte, wie ein Kritiker, 
der vergißt, daß eine Stadt keine Vorfahren hat, ſo wenig wie einen Titel —, ſie a limine ab- 
zulehnen iſt nicht — vorſichtig. Die Liſte entgleiſter Autoritäten, die ich zuſammenſtellte, be- 
weiſt bae. 

Andererſeits regen fid) im Volke Kräfte, die den Materialismus gründlich fatt haben 
und endlich ſein Fiasko einſehen. In den Naturwiſſenſchaften — und es handelt ſich hier ganz 
ausſchließlich um eine naturwiſſenſchaftliche Frage — darf man eben nicht Tatſachen an Theo- 
rien prüfen, ſondern muß diefe nach jenen formen. Sft aber kein Platz für derartige Phä- 
nomene in unſerem theoretiſchen Weltgebäude, dann muß es durch ein beſſeres erſetzt werden; 
je eher, deſto beſſer. 

Zahlreiche Zuſchriften mit wertvollen räumlichen und zeitlichen telepathiſchen perfin- 
lichen Erlebniſſen geben mir den Mut, die Leſer des „Türmers“ um Mitteilung deſſen zu bitten, 
was ſie an ſich beobachteten. Denn wir ſtehen noch am Anfange der Kenntnis einer Kraft, 
deren praktiſche Bedeutung ſich nicht im entfernteſten vorherſehen läßt, fo wenig wie ihre Wir- 
kung auf die höchſten Probleme des Weltgeſchehens. Dr. Max Kemmerich 


wy 


Profeſſor Metſchnikoff und die Krankheit 
des Alterns 


Ju- eit Monaten find die wildeſten Gerüchte im Umlauf über die neueſten Forſchungen 
A A 7/9, des Profeſſors Metſchnikoff, die fih mit der Frage der Möglichkeit einer fünjt- 
lichen Stärkung der Lebensenergien befaſſen. Der berühmte ruſſiſche Gelehrte 
he fih daher veranlaßt gefehen, in ber Moskauer „Rußkija Wjedomoſti“ bie febr realen Grund- 
lagen ſeiner Unterſuchungen darzulegen, die mit mittelalterlicher Magie nicht das geringſte 
gemein haben. 

Prof. Metſchnikoff iſt, wie ſich aus ſeinem Bericht ergibt, vom Studium des Tieres 
ausgegangen. Er fand, daß die Lebenslänge bei Tieren um fo größer ift, je kürzer ihr Dick- 
darm, und er ſchloß daraus, daß die Bakterien der Darmflora hauptſächlich an dem vorzeitigen 


84 Profeffor Metſchnikoff und die frantpeit des Alterns 


Verfall auch des menſchlichen Organismus die Schuld tragen, wobei die in dieſen Mikroben 
produzierten Gifte die erte Rolle ſpielen. Gifte ſolcher Art find die Phenole (Abkömm⸗ 
linge aromatiſcher Kohlenwaſſerſtoffe), das Indol und Skatol. Ihr Vorhandenſein im 
Dickdarm der Menſchen und Tiere bewirkt einen Fäulnisprozeß der Eiweißſtoffe im Organis- 
mus. Die Gifte gehen vom Darmkanal in das Blut über und werden durch den Urin aus- 
geſchieden. Die von Blut umſpülten Organe find alfo ihrem Einfluß unterworfen. Während 
die Phenole eine akute Vergiftung nur in den Fällen hervorrufen, wo fie in großen Dofen 
eingenommen werden, können ſchon ganz geringe Doſen des Giftes die ſenile Degeneration, 
d. h. den Vorgang des Alterns, weſentlich beſchleunigen. Die Zellen des Gehirns, der Leber, 
Nieren uſw. verwelken unter ſeiner Einwirkung. 

Dieſe experimentell einwandfrei feſtgeſtellte Tatſache bildete nun die Grundlage für 
die weitere Unterfudung, durch welche Maßnahme die Produktion der oben genannten Gifte 
in unfern Gedärmen verhindert werden könnte. Es lag nahe, die Säuren als Gegenmittel 
zu benutzen, um den Fäulnisprozeß, wenn auch nicht aufzuhalten, fo doch wenigſtens zu ver- 
langfamen. Nun iſt bekannt, daß in erſter Linie die Säuren dem Fäulnisprozeß hinderlich find. 
Es wurden deshalb unter die Speiſe gemiſchte Milchſäurebakterien eingegeben, die bis in 
die entlegenſten Winkel des Darmtraktus eindrangen und erfolgreich den Kampf gegen die 
Fäulnis aufnahmen. Es ergab ſich aber bald, daß dieſe nützlichen Bakterien die nötigen 
Nahrung im Körper fehlte, fo daß fie allmählich, durch Hunger geſchwächt, den Fäulnis“ 
mikroben erlagen. Dem konnte nur abgeholfen werden dadurch, daß Zucker, die Haupt- 
nahrung ber Milchſäurebakterien, künſtlich in den Blind- und Dickdarm hineingeſchickt wurde. 
Nach zahlloſen mübfeligen Verſuchen gelang es, die Kulturen eines zuckerbildenden Bakteriums 
herzuſtellen, das Stärke in Zucker verarbeitet, ohne die Eiweißſtoffe zu zerſtören. Nach Ein- 
nahme ſolcher Kulturen wurde ſowohl bei Tieren als auch bei Menſchen eine bemerkenswerte 
Abnahme der Phenole feſtgeſtellt. 

Mit dieſer Entdeckung war ein entſcheidender Schritt im Kampfe gegen die ſenile 
Degeneration getan. Damit das neue Bakterium feine Wirkung äußere, ift eine be ſt immte 
Ernährungsweiſe notwendig. Das Bakterium braucht vor allen Dingen die Stärke 
enthaltende Kartoffel. Außerdem darf Fleiſch nur in geringem Quantum genoſſen werden 
(beim Friihftid und beim Mittageffen, im ganzen etwa 100 bis 120 Gramm Fleiſch); ferner, 
da das zuckerbildende Mikrob nur febr wenig Säure gibt, jo müſſen zu feiner 2Interjtüung 
noch Wilchſäurebakterien durch faure Milch oder in irgend einer anderen paſſenden Form 
zugeführt werden. 

Nahezu zehn Fabre ſtrengſter wiſſenſchaftlicher Arbeit waren erforderlich, um diefe 
Ergebniſſe zu erzielen. Das Problem ift damit natürlich noch keinesfalls endgültig gelöft. 
Profeſſor Metſchnikoff hat jedoch die Wege gewieſen, die die Forſchung zu gehen hat, und iſt 
wohl berechtigt, folgende Perſpektive zu eröffnen, mit der er ſeine hier nur in den wichtigſten 
Zügen wiedergegebenen Darlegungen ſchließt: „Irgendwelche beſtimmte Vorausſagung Ober 
Verlängerung des Lebens, bei Einhaltung des neuen Nahrungsregimes mit 
Milchſäure und zuderbildenden Bakterien, ijt ſelbſtverſtändlich unmöglich. Ich hoffe jedoch, 
daß bei rationeller Anwendung desſelben die Chancen, die Geſundheit und 
die geiſtige Energie zu erhalten, ſteigen werden.“ 


ef 


Groß lit, Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht! 85 


Groß iſt, Mutter Natur, deiner Erfindung Bradt! 


18 Re arum tragen in den Garten der Großftadt Obſtbäume, die dod fo überreich, fo 
aC LG; märchenſchön geblüht haben, keine Früchte, während die felben Sorten auf 

dem flachen Lande oft unter der Laft ihrer Früchte zuſammenbrechen wollen? 
Den Grund legt A. Pelzig in der Wochenbeilage zum „Berl. Tagebl.“ „Haus, Hof und Gar- 
ten“ dar, und man muß geſtehen, er läßt einen wiederum in ehrfürchtiger Bewunderung vor 
der göttlichen Weisheit und Güte verſtummen: 

Nirgends in der Pflanzenwelt wird Nachkommenſchaft in befriedigendem Zuſtande er- 
zielt, wo ausſchließlich nur Innenzucht ſtattfindet, das heißt die Befruchtung einer Blüte nur 
von ihrem eigenen Pollen möglich iſt. Das gilt auch vom tieriſchen Leben, und jeder Land- 
wirt weiß es. Darum ſind ja auch Ehen unter Geſchwiſtern oder ſonſt nahen Verwandten 
nicht geſtattet, ſondern geſetzlich verboten, und es iſt nicht ſelten, daß die Kinder, welche aus 
einer Ehe zwiſchen Couſin und Couſine hervorgehen, nicht normalen Weſens ſind, ſondern 
mangelhafte Veranlagungen zeigen. Der erfahrene Landwirt ſorgt dafür, daß durch Zu- 
führung fremder Zuchttiere ftets eine Blutauffriſchung ſtattfindet innerhalb feines Vieh; und 
Geflügelſtandes. Es muß alſo auch, um es zu wiederholen, Blütenſtaub von fremden Blumen 
derſelben Art auf die Narben übertragen werden, foll eine Pflanze Früchte hervorbringen, 
und diefe Übertragung des Pollens beſorgen die Inſekten, inſonderheit die Bienen und Hum- 
meln. Ohne deren Beihilfe würde ſchwerlich an eine Obſternte zu denken ſein. 

Dabei ift es nun hochintereſſant, feſtzuſtellen, wie Blumen und Znſekten ſich gegenſeitig 
anzupaſſen pflegen, damit die Pflanzenbefruchtung in zweckmäßiger Form zuſtande kommen kann. 

Zunächſt ift es (don eine gewiſſe Art von Anpaſſung, daß die Bienen auf einem Aus- 
fluge nicht Blumen verſchiedener Arten abwechſelnd bzw. gleichzeitig aufſuchen. Die Biene, 
welche z. B. auf einem Ausfluge Apfelblüten beſucht, bleibt ausſchließlich bei dieſen Blüten 
und geht nicht etwa vom Apfelbaum auf den Kirſch- oder Birnbaum; die Biene, welche die 
Linde aufſucht, bleibt bis zur Sättigung beim Beſuche von Linden, und ſtünden blühende 
Pflanzen anderer Art mit dem reichſten Honiggehalt daneben. Ebenſo verhalten ſich andere 
Inſekten. Das gnjeft, das augenblicklich den weißen Klee beiſpielsweiſe beſucht, wird kein 
Rapsfeld beſuchen und umgekehrt. So übertragen die Inſekten den Pollen ein und derſelben 
Art von Blüte zu Blüte und vermitteln die zur Hervorbringung der Samen unbedingt not- 
wendige Fremdbeſtäubung. Bei Kätzchenträgern, Zapfenträgern ui, vermittelt der Wind 
die nötige Übertragung. 

Ganz beſonders überrafchend aber iſt die gegenſeitige Anpaſſung zwiſchen Inſekt und 
Blüte bei dem in der Umgebung Berlins nicht ſeltenen Wiefenfalbei (Salvia pratensis), auf 
den wir etwas näher eingehen müſſen. Er gehört bekanntlich zu den Lippenblütlern, beſitzt 
aber nicht vier, ſondern nur zwei normale Staubgefäße. Dieſe, alfo die männlichen Befruch⸗ 
tungsorgane, liegen für gewöhnlich in der ſogenannten Oberlippe verborgen. Sie find un- 
gleicharmige Hebel, denn die unteren, kürzeren Enden gehen über die Anhaftungsſtelle am 
Rande des Schlundes der Blüte etwas hinaus. Sowie nun etwa eine Biene oder Hummel 
ſich mit ihrem Kopfe in den Schlund der Salbeiblüte hineinzwängt, um zu den Nektarien oder 
Honigbehältern zu gelangen, drückt fie dieſe kürzeren Hebelarme ins Innere des Schlundes 
hinein. Infolgedeſſen treten die oberen langen Enden der Staubgefäße aus der ſie verborgen 
haltenden Oberlippe heraus. Die Staubbeutel ſenken ſich mit ihrem hervorquellenden Pollen 
bis auf den behaarten Hinterleib der Biene herab, und dieſe ſtreift den Staub beim Verlaſſen 
der Blüte an ihren Haaren ab und trägt ihn weiter. 

Nun kommt das Tierchen zu einer zweiten Blüte. Dieſe iſt ſchon etwas älter; Pollen 
bietet fie auch nicht mehr dar. Aber die Narbe diefer älteren, zur Befruchtung reifen Blute 


86 Der Reſpekt vor bem Mann 


iſt nicht geradeaus gerichtet wie bei ihren jung aufgeblühten Schweſtern, ſondern ſie hat ſich 
tief hinabgebogen, und will die Biene ins Innere des Schlundes zu den Nektarien gelangen, 
was doch ihr Zweck ijt, fo ſtreift fie die mit klebrigem Stoffe verſehene Narbe, und der Blüten- 
ſtaub von der vorher beſuchten Blüte bleibt daran hängen, die Fremdbeſtäubung ift vollzogen. 

Dieſe Anführungen werden genügen, zu beweifen, wie wichtig bie wechſelnden An- 
paſſungen zwiſchen Blumen und Znſekten für die Befruchtung der Pflanzen find. Es fei aber 
auch noch auf einen anderen Umftand hingewieſen, der ebenfalls nicht unweſentlich ift: das 
iſt die verſchiedene Färbung der Blüten der verſchiedenen Pflanzenarten. 

Man könnte vielleicht meinen, die verſchiedene Färbung der Blumen fei einfach des- 
halb ba, um das Farbenbild abwedflungsvoller, reicher zu geſtalten. Alles, was die Natur 
hervorbringt m oe. ift lediglich auf einen Punkt gerichtet, das ijt die Erhaltung und 
Fortpflanzung der Arten. So bieten die verſchiedenen Farben der einzelnen Arten den Augen 
der Inſekten Anhaltspunkte und Wegweiſer dar, die ſie in den Stand ſetzen, immer nur bei 
einer und derſelben Art zu verkehren, was doch notwendig iſt, ſoll von Blüte zu Blüte der Pollen 
übertragen werden. — Denfelben Zweck haben auch bie verſchiedenen Düfte der Blüten, Blat- 
ter uſw. Auch ſie zeigen den Inſekten die Wege, den Pflanzen die größten Liebesdienſte zu 
erweiſen, die im Leben der Natur möglich ſind, nämlich auch ihrerſeits zur Befruchtung und 
Erhaltung der Spezies beizutragen. — So webt auch hier eins mit und in dem anderen, und 
das zu ſehen und zu erfahren, das iſt es, was es wert macht, den Geheimniſſen des Kosmos, 
des Weltganzen und des Lebens nachzugehen. Fürwahr, wir ſtoßen bei jedem Schritte auf 
eine unendliche Menge von Einzelheiten im Naturganzen — und dennoch ſehen wir überall 
wiederum, wie alle die Vielheiten und Einzelheiten zuſammengehören zum großen Ganzen! 
Aber kluge Zeitgenoſſen meinen, es gibt keinen Gott und daher auch keinen göttlichen Willen. 


2 
Der Reſpekt vor dem Mann 


RS & (n einem Auffa „Der Kulturwert des Krieges“ glaubt Oskar H. Schmitz in ber 
5 „Zukunft“ ein Schwinden der männlichen Autorität feſtſtellen 
EWS zu dürfen: „Oer männliche Geiſt kann und foll nicht Alleinherrſcher fein. Philo- 
ſophiſche Dottrinen und Theorien vermögen die Welt nicht zu leiten, vielmehr bedarf der Get 
der Vermählung mit dem Stoff, an dem er fid) nährt und den er doch bändigt. Als Deutſch- 
lands materielle Lage infolge des Dreißigjährigen Krieges beklagenswert war, hat ſich der 
Seutjde ganz in der geiſtigen Welt zu tröſten geſucht. Das war die Zeit einſeitiger Sntellet- 
tualität. Heute, nach unſerem ungeheuren Aufſchwung, hat das materielle Leben ein viel zu 
großes Übergewicht über das geiſtige gewonnen; und wenn auch die Behauptung paradox 
klingt, daß der vormärzliche Deutiche tiefere menſchliche Werte beſeſſen habe als der Reichs- 
deutſche von heute, ſo iſt darin doch ein Kern von Wahrheit. Von dem deutſchen Weſen, an 
dem nach dem Dichterwort einmal die Welt geneſen ſoll, ift jedenfalls heute weniger vorhan- 
den als einſt. Wir wollen unſeren Handel und unfere Induſtrie nicht ſchmähen, denn ihre Ber- 
treter haben gewiß ihr Teil zu unſerer heutigen Größe beigetragen, ebenſo wie die Männer, 
die ihr Blut auf dem Schlachtfeld verſpritzten; aber es iſt klar, daß die Ideale einer auf Erwerb 
gerichteten Klaſſe andere werden als bie einer Klaſſe, der die Pflege der männlichen Ehre Gelbft- 
zweck ift. Giele Verſchiebung der Sbeale hängt mit bem wachſenden Wohlſtand zuſammen; 
das Leben wird leichter, das äfthetifche Niveau der Kultur hebt fi, die Zahl intellektueller 
und künſtleriſcher Menſchen von geiſtigem Niveau wächſt, aber die einzelnen wahrhaft ſchoͤpfe⸗ 
riſchen Geiſter werden dann immer ſeltener. In ſolchen Zeiten aber verliert die Frau 


Der 9tefpelt vor dem Mann 87 


allmählich den Reſpekt vor dem Mann und verlangt, ſelbſt ein Wort mitzu- 
reden; man kann es ihr nicht übelnehmen, denn ſo, wie die Frau geartet iſt, wird ſie auf die 
Dauer niemals aus Pflichtgefühl, ſondern immer nur aus einer inneren Überzeugung heraus 
die Überlegenheit des Mannes anerkennen; wenn fie auch hundertmal in Gehorſam und Demut 
erzogen wird: ſolange ſie in dem Manne keinen Mann fühlt, wird ſie gerade aus der Echtheit 
ihrer Natur heraus feine Autorität verlachen und fie höchſtens äußerlich aus praktiſchen Gründen 
anerkennen. Deshalb kann den Frauen kein Vorwurf daraus gemacht werden, daß ſie ſich 
die Autorität des Mannes im allgemeinen nicht länger gefallen laſſen wollen. Wo die Frauen 
erft einmal fo weit find, ba ift immer der Mann daran ſchuld. Wir haben eine Frauen- 
bewegung, weil die männlichen Werte nicht mehr ſtark genug ſind. Aber auch die Männer ſind 
individuell nicht für dieſen Zuſtand verantwortlich zu machen. Wer nicht von Haus aus be- 
ſonders ſtarke männliche Inſtinkte hat, der verweichlicht nur allzu leicht in einem Leben, das 
zwiſchen Erwerb und äſthetiſchen Freuden dahinfließt. Wenn die Frauen auch gewiß den 
materiellen Beſitz zu würdigen wiſſen und meiſtens auch eine äfthetifche Ausgeſtaltung des Da- 
ſeins lieben, ſo imponiert ihnen doch als männlicher Typ weder der Er werbende 
noch der Aſthet. Auf die Dauer kann ihnen nur das gefallen und ihre Inſtinkte klären 
und bändigen, was ſie ſelber nicht beſitzen: körperliche Männlichkeit, in der ein klarer Geiſt 
wohnt. Beſonders der ſteril gewordene männliche Geiſt vermag heute der Frau keinen tiefen 
Eindruck mehr zu machen. So groß die Errungenſchaften der Wiſſenſchaften ſind: der einzelne 
Vertreter dieſer Wiſſenſchaften iſt ein flinker Mechanikus oder ein alexandriniſcher Aufſtapler 
von allerlei mehr oder weniger gleihgültigem Wiſſen. In der Kunſt aber herrſcht das rein 
Aſthetiſche, die Nerven Reizende, Bekenntnishafte; die wirklich geſtaltete Form fehlt. Warum 
ſoll nun die Frau (ſo denkt ſie ganz logiſch) in einer Zeit ſo allgemeinen geiſtigen Tiefſtandes 
nicht ebenſo gut oder ſchlecht Bücher ſchreiben und Reden halten wie der Mann? Wirklich iſt 
nicht einzuſehen, warum Frauen in ihren Debatten nicht durch Erziehung das Niveau der 
Reichstagsreden erreichen follen, die wir heute hören. Warum follen fie nicht ebenſo fenfatio- 
nelle Bekenntnisromane verfaſſen, warum nicht eben ſolche unbeherrſchten Farbenorgien auf 
die Leinwand pinſeln, warum nicht ein ebenſo neuraſtheniſches Geheul und Geſtöhn als Muſik 
ausgeben wie die modernen Männer? Das einzige Mittel, die Frau aus der Politik und dem 
geiſtigen Leben als Mitwirkende zu verdrängen, iſt, durch ihr verſagte Schöpferkraft 
dieſes Leben wieder auf ein ſo hohes Niveau zu erheben, daß ſie nicht konkurrieren kann. In 
wirklich ſchöpferiſchen Kulturepochen haben die Frauen zwar eine ſehr große Rolle geſpielt, 
als die Freundinnen und Anregerinnen der bedeutenden Männer, als feine Verſteherinnen und 
geniale Geliebte; aber warum ſollen ſie ſich neben den erſchöpften oder ungehobelten Männern 
von heute mit ſolchen Rollen begnügen? Warum follen fie den Mann zu den Mittelmäßig 
keiten anregen, die fie felber können? Das lohnt fid) nicht. Man hört heute febr viele gut ver- 
anlagte Mädchen und Frauen ſagen: Wie gern würde die Frau die Autorität des Mannes 
anerkennen, ja fogar ihm dienen, wenn er danach wäre! Die größte Frauenenttdu- 
ſchung iſt die, ſich ganz hingegeben zu haben und dann die Lächerlichkeit des erwählten Herrn 
und Meiſters zu erkennen.“ 

Gegen all dies ſei nun weder durch Erziehung noch durch Erkenntnis irgend etwas zu 
tun. Nur ein Rr ieg könne den Kurs der Männlichkeit wieder ſteigern: „die einzige Gelegen- 
beit, wo nur männliche Werte gelten, wenn auch zunächſt die brutal phyſiſchen. Die aber 
haben den Vorzug der Meßbarkeit. Und niemand wird behaupten, die Frauen könnten 
gerade ſo gut ins Feld ziehen wie die Männer. Ganz anders ſteht es aber mit der 
geiſtigen Überlegenheit. Sie iſt nicht in der ſelben Weiſe meßbar. Gewiß: es hat keinen 
weiblichen Shakeſpeare, Rembrandt oder Bismarck gegeben, aber heute gibt es ja auch keine 
männlichen Shakeſpeare, Rembrandt und Bismarck; und wenn auch heute noch viel, ſehr 
viel von Männern auf geiſtigem Gebiete geleiſtet wird, was den Frauen unerreichbar 


88 Der Refpett vor bem Mann 


ijt, fo gelingt es ihnen doch mit großer Kunſt, Scheinwerte hervorzubringen und als hoch- 
wertig preiſen zu laſſen, und die Kulturloſigkeit der Zeitgenoſſen läßt ſich täuſchen. Wenn 
trotz dem Geſagten auch heute noch immer nicht eine einzige Frau in der Wiſſenſchaft, der Kunſt, 
der Literatur oder der Politik mit dem wetteifern kann, was die paar beſten Männer ſelbſt 
unſerer Zeit auf dieſen Gebieten leiſten, ſo kann doch jede darüber hin und her ſchwatzen. Das 
hört in dem Augenblick der Kriegserklärung auf. Darüber wird dann nicht geſchwatzt werden, 
daß die Männer hinausziehen und die Frauen (außer den Krankenpflegerinnen) daheim blei- 
ben. Eine andere Möglichkeit, die männliche Überlegenheit wieder einmal über alle Diskuſſion 
zu ſtellen, gibt es nicht. Ein Krieg aber wird mit einem Schlag alle die faulen Kulturtümpel 
auslaufen laſſen, und die Männer, die ein verwirrtes Heim verlaſſen haben (heute ſind faſt 
alle Heime durch die Anſprüche der Frauen und Töchter verwirrt), werden vom Schlachtfeld 
ihren weiblichen Verwandten eine überzeugende Antwort mitbringen auf alle die Fragen, die 
fie augenblicklich in Derfammlungen und Büchern ſtellen. Die praktiſche Not wird dann an die 
Frauen wieder ſo viele ihrer Natur entſprechende Forderungen ſtellen, daß das öffentliche 
Schwatzen, Tintenkleckſen und Pinſeln ein Ende nehmen wird.“ 


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Ta: Die hier veröffentlichten, dem freien Meinungsaustauſch dienenden — 
Einſendungen ſind unabhängig vom Standpunkte des Herausgebers 


Das Erwachen 


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d J 75 gnier Volk ift aufgewacht. Seit einem Menſchenalter lag es im Fiebertraum des 
D X Siegesgefühles. Der nüchterne, falte, logiſche Morgen bricht durch, und die Men- 

OS ſchen faſſen fid auf den Kopf und fragen fid: „War es ein Traum?“ Das graue 
Elend lugt uns an und grinſt dem Lande der Dichter und Denter zu. Wie ſchön es doch ift, 
wenn man Sieger bleibt. Bleibt. Aber der hinkende Bote folgt nach, denn es heißt immer, 
der Sieger nehme die Kultur des Beſiegten an. Das ſehen wir ſo recht an uns. Denn wir 
eben im ſchlechthin undeutſchen Zeitalter. Bis auf wenige Ausnahmen. And auch dieſe 
Einzelfälle ſind treue Nachfolger, würdige Vertreter des Gedankens, ein Volk in Vaffen 
zu ſein. 

Denn man vergißt dieſes wichtige Moment: daß der Staat der Feind der Kultur iſt. 
Und der einzige Hoffnungsſtrahl für die Zukunft ift, daß wir es uns abgewöhnen, das Staats- 
prinzip in den Vordergrund zu ſtellen, daß wir es höher erachten, die Kultur, denn die 
Politik zu pflegen. Wenn man immer wieder hört, daß unſere politiſche Kraft nachlaſſe, ſo 
iſt es von dieſem Standpunkt nur mit Freuden zu begrüßen. Denn damit nähern wir uns 
wieder jenen Zeiten, in denen keine Großmachtsidee uns Feſſeln auferlegte. Vergeſſen wir 
doch nie, daß unſere klaſſiſche Kulturepoche aus politiſcher Tiefe kommt. Von Leſſing bis 
Soethe, von Kant bis Hegel: kein einiges deutſches Reich! 

“IY Das tlingt zunächſt ſtaatsgefährlich. So ift es aber nicht gemeint. Nur ſollen die 
Menſchen endlich einmal dahin kommen, daß fie einſehen, Politik fei auch eine Rulturerfchei- 
nung, aber nicht die Kultur. Der ſtarke Staat geht an fic ſelbſt zugrunde. Sit er aber tot, 
dann bleibt er es auch. Geiſtige Werte hingegen verſchwinden wohl hie und da von der Bild- 
fläche, aber fie kehren immer und immer wieder, fie beweiſen die Anſterblichkeit, die ewige 
Wiederkehr des Gedankens. Der Idealismus, der unſere Väter zum politiſchen Siege 
führte, ift unwiederbringlich dahin. Dieſe Ideale kennt man nicht mehr. Denn das Sieges- 
gefühl hat andere Größen auf den Thron gebracht und unſere Ziele in Abwege gedrängt. 
Alfo doch Kultur?! Nein. Das ift es eben. Alles, was unter Leitung des mächtigen Staates, 
der politiſchen Macht erwächſt, wird ein Zerrbild, wird grobe, plumpe Außerlichkeit. Wird 
Schein und Lug und Trug. Es iſt ein Glück, daß man endlich zum Bewußtſein gekommen 
iſt, daß unſere idealen Güter verſchüttet wurden, daß unſer Erbe verloren gegangen. Dieſe 
Rlarheit verhilft dazu wieder auf die richtige Bahn einzulenken, um das höchſte den Geiſt, 
wieder in ſeine ihm gebührende Stellung einzuſetzen. Nämlich der Grundſatz: los vom 
politiſchen Drehpunkt. Das ift eben nicht der Mittelpunkt für uns. Wer es nicht glaubt möge 


90 Das Erwachen 


die Geſchichte fragen, und er wird ſehen, wie wenig Politik mit großen Zeiten, wie wenig 
Politik vor allem mit großen Männern zu tun hat. Unſere Klaſſiker hatten den Vorteil 
genoſſen, nicht in einer Großmacht aufzuwachſen. Daher ihre Größe. Und Griechenland? 
Noch gilt griechiſche Kunſt, griechiſche Philoſophie als Vorbild für uns. Und wem es nicht 
Vorbild iſt, der muß zugeben, daß wir uns daran gebildet haben. War Griechenland eine 
politiſche Macht? Hihi. Aber Rom! Die antike Weltmacht. Warum haben wir nur die 
Unfitten von ba überkommen, aber keine Kultur? Warum blieben die Römer unfruchtbare 
Nachahmer keine ſchöpferiſchen Geiſter? Weil ſie die Politik in den Vordergrund ſtellten. 
Das Weſen des deutſchen Volkes liegt nicht in dem Streben nach Weltmacht äußerlicher Art. 
Wir ſtehen den Griechen im Sinnen, Denken und Sprechen näher als alle. Die Römer 
ſitzen jenſeits des Kanals. Und wir ſollen nicht eiferſüchtig ſein. Was dem deutſchen Volke 
von jeher Namen und Klang gab, liegt in ſeinem Weſen, ſeinem Geiſte und ſeinem Gemüte, 
nicht in rein äußerlicher politiſcher Machtentfaltung. Da verleugnet ſich nie der unpraktiſche 
Michel. Das Ende iſt eine Mißgeburt, weil die Politik unpraktiſch wird weil aber vor allem 
die Geiſteskultur Irrwege einſchlägt. Irrwege. — 

Denn was iſt ſonſt das letzte ganze Menſchenalter geweſen, als eine große Kurve in 
die Tiefe hinab? Was haben wir produktiv geſchaffen? Sehen wir einmal nach. 

Ad. 1 die ſoziale Frage. Der augenblickliche Hauptpunkt des Intereſſes. Man will 
das Volk zur Individualität ſtempeln und vergißt, daß es immer Herde war und bleiben muß. 
Im Grunde iſt der Sozialismus nur eine Körperfrage. Er wird gelöſt, wenn man den Leuten 
von Staats wegen zu eſſen, zu trinken und zu lieben geben würde. Dahin zielt nur das 
gleiche Recht für alle. Das Streben nach dieſem Ziele wird unſer Reich zertrümmern. Es 
wird uns innerlich zerſplittern und zerreißen, die deutſche Einigkeit ſinkt dahin. Mag es tom- 
men wie es will: am Ende fiegt ja doch der Geiſt. Zu einer Zeit werden die Leute unbefrie- 
digt zurückverlangen nach früheren Tagen, in denen ſie noch nichts von allgemeiner Gleichheit 
und Freiheit und Brüderlichkeit wußten. Inſofern iſt der Sozialismus vom Kulturſtandpunkte 
aus zu begrüßen. Er zerfällt ſchließlich in fid) und macht den Weg frei für andere gntereffen. 
Wollten die Menſchen das nur rechtzeitig einſehen. Es würde fo viel Koſten, Menſchenleben 
und Lächerlichkeit erſparen. Aber ſchauen wir uns zum andern einmal im Geiſtesleben ſelber 
um, was da geleiſtet worden iſt. An erſter Stelle die Technik. Sie hat unſer Leben von Grund 
aus umgeſtaltet. So etwas kannte die Antike nicht. Man muß Bewunderung über die Fort- 
ſchritte, aber kaum Freude darüber empfinden. Denn die Technik im allgemeinen, wie ihre 
Produkte im einzelnen, treiben die Menſchheit von der Innerlichkeit fort. Man verdinglicht 
feine Gedanken. Dampfſchwaden und Benzingerüche umhüllen unſere Geiſtestätigkeit. Das 
Auf⸗ſich-ſelbſt-beſinnen ift ganz und gar vergeſſen. Heute ift der Menſch eine Maſchine 
wie andere auch. Und feine Lebenspole find Arbeitskraft, Unterhaltungsfoften und Nub- 
effekt. Nicht einmal außerhalb des Berufes läßt die Technik den Menſchen aus den Krallen. 
Denn dort offenbart fie ſich als Sport, als Unterhaltung, als Bildungsquelle. Das Leben 
ift ein Kinematographentheater, es bleibt dabei. Unfere Kunſt? Ei, da tummelt es fid) vom 
Schwarme ſchlaftanzender und bauchwandelnder Frauenzimmer. Ihre Produkte find lite- 
rariſche Windeier, gen Himmel duftende Kloaken. Sie glauben, es müſſe überall fo viel Faul- 
nis herrſchen, wie im eigenen Inneren, und fo erſchöpfen fie ihre Seelen in Kunſtwerken, die 
als graphiſche Darftellungen des Ichs aufzufaſſen find. Es lebe die Cigenbrddelei! Und doch 
ruht darin immer ein groß Teil Hoͤhendünkel. Wir find eben [don jetzt Abermenſchen ge- 
worden. Das ift das dritte. Unfere Philoſophie des vergangenen Dreijahrzehnts. Im erſten 
Teile ging Zarathuſtra in Kanonenſtiefeln umher und predigte ſeine Weisheit. Nun ſchleicht 
et nur als Rüdenmärkler auf Filzpantoffeln herum und wärmt fid) in der Ofenecke, der arme, 
müde, überlebte Greis. Als er jung war, ſammelte er Tauſende von Züngern um ſich, denen 
die Lehre bequem erſchien. Das Recht des Stärkeren war ſo imponierend, ſo ungemein 


Das Erwachen 91 


praktiſch, fo recht geeignet für ein Volk, das eben gefiegt hatte. Man ift davon abgekommen. 
Denn es fehlt den Jüngern bas Weſentliche: der Verſtand. Mit Redensarten kommt man 
nicht durch die Welt. Eines iſt davon geblieben, von dieſem Kampf des Stärkeren gegen die 
Vielzuvielen. Der darwiniſtiſche Kern. Nun ſchleicht Zarathuſtra ſcheu in Filzpantoffeln 
umher, denn größere Schreier beherrſchen die Maſſen. Vor fünfzehn Jahren kaufte der ge- 
bildete Mann jid) die Bibel der Modernen, in handlicher, wohlfeiler, biegſamer Taſchenaus- 
gabe. Heute gibt es — noch billiger — die neuere Richtung im grundlegenden Werke für 
jedermann zu erwerben. Und ein Hochgefühl des Stolzes durchzieht einen jeden, wenn er, 
innerlich gefeſtigt, feine Philoſophie ſtets bet fid in der Nodtafche führen kann. Er erſpart 
ſich das Denken, da er auf peinliche Zwiſchenfragen ſtets ſofort durch einen paſſenden Beleg 
ſich aus der Schlinge zu ziehen vermag. Omnia mecum porto. Selbſt die Weltratfel habe 
ich, je nachdem, in Bruſt-, Rod- oder Hoſentaſche. Da ſtehen fie, klar gedruckt, und wer was 
wiſſen will, braucht nur zu fragen: Der Menſch? Einfache Sache. Ein entarteter Gorilla. 
Die Welt? Ein Chaos treibender Gasmaſſen, Nebelflecke und zuſammengeballter Oreckkugeln. 
Dreck und Feuer. (Goethe hat das ſchon vorgeahnt.) Denn das iſt das moderne Lebensprinzip. 
Gott? Erſtens gibt es ihn nicht. Wenn es ihn gäbe, könnte man ihn kaum beweiſen. Könnte 
man ihn beweiſen, würde man ihn nicht anerkennen. Wollte man ihm eine Bezeichnung rein 
wiſſenſchaftlicher Art geben, fo könnte man fagen: diffuſes Nebelvieh. Was foll man fid) den 
Kopf zerbrechen. Es ſteht ja alles in dem Buche darin. In dem ſtreng wiſſenſchaftlichen und 
populären Werke. Es iſt überhaupt etwas Schönes um unſere Wiſſenſchaft. Wir haben noch 
nie ſo rein empiriſch, ſo abſolut vorausſetzungslos gearbeitet wie heutzutage. Und dennoch 
reden ſo viele von Hypotheſen, und dennoch wirft die moderne Phyſik das alte Gebäude, das 
ebenſo vorausſetzungsfrei arbeitete, über den Haufen. Man glaubt zu wiſſen, ohne zu wiſſen, 
daß man glaubt. 

Soll die abſteigende Linie noch fortgeſetzt werden? Es wäre ein Trauerſpiel. Wozu 
auch. Denn das eine wiſſen eine ganze Menge Menſchen doch ſchon: Es iſt ein Irrtum ge- 
weſen. Das Erwachen ijf da. Das Erwachen nach dem Rauſche. Da ſchreien die Leutlein: 
„Trennung von Staat und Kirche, Trennung von Schule und Kirche, Bildung macht frei.“ 
Ob bie Menſchen dadurch zufriedener werden? Ob fie erfolgreicher arbeiten? In allen 
ſolchen Rufen ſteckt nur der Wunſch, die Maffe zu ködern, ihr das Denten zu erſparen. Mittel- 
mäßigkeit ijt Anfang und Ende der Beſtrebungen. 

Die Entwicklung läßt ſich nicht mehr aufhalten. Der Krach aber auch nicht. Weil aber 
immer neues Leben aus den Ruinen blüht, wird auch hieraus manche fernere Folgerung zu 
ziehen fein. Die ſoziale Frage wird dazu berufen, den Menſchen die Politik gründlich zu ver- 
ekeln. Sie werden das Intereſſe an der Sache hinwegfegen und uns zu Menſchen machen, 
die denken. Sie wird uns auf den Standpunkt bringen, daß alles andere gleichgültig ſei, nur 
nicht die eigene Innerlichkeit. Man wird manchen Weiſen verſtehen, der im Leben der Politik 
gegenüber keine andere Stellung einnehmen konnte, als ihr den Rüden zuzukehren. Die Tech- 
nik wird uns von der Alltäglichkeit befreien helfen. Wir werden uns losreißen „vom ver- 
fluchten Objekt“. Die blöde, dumme Oinglichkeit der Außenwelt ſollte durch den techniſchen 
Ausbau unſeres Lebens ganz überwunden werden. Man ſoll durch die Technik irdiſch Raum 
und Zeit überwinden. Man foll duch fie dahin kommen, mit einem Minimum von Ab- 
lenkung auch den äußerlichen Bedürfniffen des Leibes entgegenzukommen, um deſto mehr 
Zeit für den Geiſt zu erübrigen. Das ift der Sinn der Technik! Giele neue Macht fei nie ihrer 
ſelbſt willen da. Sie fei nur die Magd der Kultur, des Geiſtes. Ihre Stellung ijt dienend, 
nie fördernd. Sobald ſie im Vordergrunde ſtehen wird, ſitzen wir in dem Abgrunde wie heut- 
zutage. Dieſer Geſichtspunkt wird viel zu wenig betont. 

Wenige wiſſen, daß ganz gewaltige Anſätze zu neuen Anſchauungen gemacht find, Die 
Gelehrten verachten jene erſten Reime neuer Ideen. Zu ihrem Schaden. Fahren fie weiter 


92 Das Erwaden 


fort, in gewohnter Weiſe aus Dummheit und Ohnmacht über den Okkultismus zu lächeln, fo 
geben fie mit ihrem Wiſſen ein. Bei Okkultismus denken die Leute immer ſogleich an Geifter- 
glaube und Zauberfprühe. Nichts ift verkehrter als das. Man kann jene Zweige nur als 
verpopulariſierte Ausleger des Okkultismus betrachten. Sein Weſen iſt viel tiefer. Zene 
aufgeblaſenen Wiſſensſchweinchen müſſen zu ihrer Beſchämung manches zugeben, was ihren 
Ausſprüchen zuwiderläuft. Nicht ſo die höchſt bemerkenswerte Tatſache, daß die größten 
Geiſter, gerade fie, zur Myſtik, zu okkulten Problemen bedenkliche Vorliebe beſaßen. Wie 
iſt der Fauſt ohne Myſtik zu denken, wie Shakeſpeare ohne okkulte Probleme erklärbar? 
Sit es nicht Fronie, daß Kant, Schiller, Strindberg und Schopenhauer — um wenige zu 
nennen — ſich viel mit dergleichen beſchäftigten, ſogar im bejahenden Sinne über okkulte 
Probleme geſchrieben haben? Doch das meinte ich gar nicht. Vielmehr den lächerlichen 
Rückzug, den unſere tapfere Wiſſenſchaft vor okkulten Gebieten hat antreten müſſen. Vor 
dreißig Jahren war der Hypnotismus Schwindel, einfach blanker, baarer Schwindel. Heute 
benutzen ihn unſere Arzte unb die „Pſychiater“. Tonlos, obwohl fie ihn nicht erklären können, 
mit ihren Mitteln! Vor zehn Jahren haben fie noch über die Alchemie die Achſeln gezuckt. 
Heute erwartet man vom Radium alles! Vor fünf Jahren war eine Sache wie die 
Wünſchelrute Ausgeburt myſtiſcher Phantaſie. Heute benutzen wir ſie in den Kolonien 
mit Erfolg! Wieder: ohne wiſſenſchaftliche Erklärung. Nichts kann für die Wiſſenſchaft fataler 
ſein, als wenn ſie, trotz der Scheuklappen, die ſie immer zu tragen pflegt, doch einmal ſehen 
muß. Möge fie ſich hüten, daß ihr abweiſendes Lächeln nicht die geoffenbarte Fratze eigener 
Unfähigkeit fei. Mit Energetik und Plasma und natürlicher Zuchtwahl geht es ebenſowenig 
wie mit pſychiſchen Reiztheorien und Schwingungskurven oder überhaupt „exakt“ wiffenfchaft- 
lichem Material. Die Wiſſenſchaftler vergeſſen, daß die Natur und ihre Erſcheinungen doch 
bisweilen klüger find als ein Univerſitätsprofeſſor. Der Okkultismus ift der letzte Reſt von idealem 
Sinne, der unſerem Volke geblieben iſt, ſeit wir eine Weltmacht ſind. Wenn man bedauern 
will, daß in der dunklen Sphäre unbeweisbarer Gebiete ſich das Geiſtesleben in höherem Sinne 
abſpiele, ſo kann man das vielleicht verſtehen. Aber der Grund liegt eben darin, daß unſere 
Wiſſenſchaft es nicht verſtanden bat, ſich den idealen fern zu wahren, ſondern daß fie im Strome 
der Deräußerlihung, im Schwall der Großmachtsphraſen unterging. Ich fage es immer und 
immer wieder: Politik iſt der Feind der Kultur. Das zeigt ja auch die Gegenwart. Warum 
kommt denn das Bedeutende aus Norwegen, aus Schweden? Warum mußten da Strindberg, 
Ibſen oder Björnſon leben? Weil die Länder keine Großmacht fein wollen. Warum konnte 
Rußland Tolſtoi hervorbringen? Weil ſeine politiſche Bedeutung geſunken, weil es ſich nur 
durch die Menſchenmaſſe allenfalls halten kann. Ewige Werte werden wir niemals ſchaffen 
können, wenn unſer Intereſſe ſich nur in dem Staatsgedanken erſchöpft. Man wird es nicht 
glauben, bis man es wiſſen wird ... Wenn doch nur bie Menſchen das Wiſſenwollen auf- 
geben wollten! 

Wie der Sozialismus den Staat und ſeine Politik in gebührende Form zwingen wird, 
wie die Technik als Zukunftsaufgabe die Entkörperung der Menſchen ſich ſtecken ſoll, ſo muß 
die Wiſſenſchaft von ihrer Methode laffen, foll fie fid mehr dem okkulten Denken annähern. 
Es geht nicht mit unſerer kleinen Menſchenvernunft. Das Erwachen iſt gekommen! Wir 
wiſſen, daß der Menſch nicht das Maß aller Dinge iſt. Zumal, wenn er nur Politik treibt. 
Aber auch den Menſchen an ſich kann man nie verſtehen, wenn man ihn als entartetes Tier 
bezeichnet. Er iſt etwas anderes. Zedoch iſt er auch nicht die Vollendung ſchlechthin. Ihr 
ſollt weiter. Und wenn ihr es nicht durch Denten erklären könnt, dann erklärt es durch euren 
Glauben. Aber Erklärung fordere ich! Wie lächerlich iſt es, die Augen zuzumachen, um das 
Licht nicht ſehen zu müſſen. Ihr müßt ſehen. Die Welt iſt voller Rätſel genug. Voller 
Probleme und voller Geheimniſſe. Noch ſind wir nicht fertig mit uns. Ihr ſeid erwacht 
und ſeht daß ihr nichts erklären konntet mit eurer materialiſtiſchen Weltanſchauung. Daß 


Die deutſche Schule in Anklage 95 


ihr nicht befriedigt werdet mit dieſer, durch den Weltmachtgedanken beeinflußten Veräußer⸗ 
lichung. Glaubt nicht das Märchen — denn anderes iſt es nicht. Der Sinn und das Weſen 
des Menſchen und der Natur ruht tiefer und unergründlicher, als es die geiſtreichen Erklärer 
und Löſer der Welträtſel ahnen, deren Schwerpunkt doch ſchließlich nur im verkümmerten 
Schwanzwirbel liegt. Fritz Gieſe 


Star 
Die deutſche Schule in Anklage 


geſtatten Sie einem Arzte einige Bemerkungen zu dem Aufſatze des Herrn Prof. Dr. 
Gurlitt im Sunibeft des Türmers: „Die deutſche Schule in Anklage“ zu machen. 

Gurlitt bezieht ſich auf eine Broſchüre „Der Deutſche und fein Vaterland“, 
in der er ſich mit dem humaniſtiſchen Gymnaſium beſchäftigt und dieſes einer vernichtenden 
Kritik unterzieht. Er iſt infolge dieſer Schrift ſtark angefeindet und ſcheint in Fachkreiſen wenig 
Anerkennung gefunden zu haben. Um ſo mehr erfreut ihn ein im Hilfeverlag erſchienenes 
Buch von Dr. Graf: „Schülerjahre“, das von bekannten Gelehrten, Künſtlern und ſonſtigen be- 
beutenben Männern Urteile über ihre Schulzeit und Erinnerungen an fie bringt. Solche Rund- 
fragen kamen meines Wiſſens in den ſiebziger Jahren zuerſt auf und betrafen banale Fragen 
des täglichen Lebens und der Mode; jetzt ſcheint man auch von wiſſenſchaftlicher Seite auf 
dieſe Art Rundfragen Wert zu legen und glaubt damit zur Entſcheidung der ernſteſten Fragen 
beizutragen. 

Man ſollte doch mit der Bewertung ſolcher aphoriſtiſchen Außerungen ſehr vorſichtig 
ſein. Bewieſen wird durch ſie eigentlich gar nichts. Sie ſcheinen mir nicht das Ergebnis eines 
reiflichen Durchdenkens der Materie zu fein, ſondern mehr von Stimmungen und Erinne- 
rungen herzurühren und ſomit ein trügeriſches Bild zu ergeben. 

Alle mitgeteilten Beiſpiele leiden daran, daß einzelne Erlebniſſe verallgemeinert und 
die Unfähigkeit einzelner Lehrer dem Syſtem aufgebürdet werden. Keiner gibt ſich auch nur 
mit einem Worte die Mühe zu zeigen, wie man es denn beſſer machen, was denn Neues an 
die Stelle des ſchlechten Alten geſetzt werden foll. 

Nach den mitgeteilten Urteilen über die Schule muß ein Unbeteiligter annehmen, daß 
unfere deutſchen Gymnaſiallehrer ein Konglomerat von unfähigen, herz- und geiſtloſen Fgno- 
ranten und Pedanten ſind. 

Wie kann ein ruhig urteilender Mann zu einem ſo handgreiflich ungerechten, ſchiefen 
Urteil kommen: „Solche Schule [alfo wohl das humaniſtiſche Gymnaſiuml ertötet die natür- 
liche Anlage zu lebendiger Vorſtellung, zu ſinnlichem und intellektuellem Beobachten, das Ver- 
trauen zu eignem Schaffen und Denken“?! Will der Herr wirklich behaupten, daß eine ver- 
ſtändige Beſchäftigung mit römiſchen, griechiſchen und deutſchen Klaſſikern, ein einigermaßen 
fähiger Unterricht in Mathematik und Phyſik und in der Geſchichte die natürlichen Anlagen 
zu eigenem Denken ertötet? Wenn das eigenes Erlebnis ift — will er dafür das Syſtem ver- 
antwortlich machen und nicht lieber den unfähigen Lehrer, der eben nicht zu unterrichten 
verſtand? 

Unter den Lehrern gibt es, wie in jedem andern Berufe auch, wenige ſehr gute, einen 
mehr oder weniger guten Durchſchnitt und einige wenige ſehr unbrauchbare; ſo iſt es überall, 
auf dem Gymnaſium, auch auf der Univerfität, und daran wird wohl nichts zu ändern fein. — 
Zugeben will ich, daß auch ich mit febr gemiſchten Gefühlen an die Schulzeit 3urüdbente und 
das beſtandene Abiturium als Befreiung von vieler Not und großem Druck empfand. Aber 
darum denke ich doch an einige meiner Lehrer mit der größten Verehrung und, je älter ich 
werde, mit wachſender Dankbarkeit zurück. Meinen Groll auf die Schule führe ich auf etwas 
anderes zurück. 


94 Von deutſchem Weſen und vom Norddeutſchen Lloyd 


Alle dieſe mitgeteilten harten Worte über die Schule gelten meiner Meinung nach dem 
Zwange und der Schuldiſziplin, ohne die eine Schule doch nicht wohl denkbar iſt, „dem ver- 
haltenen Grimme der Knechtung“. Sich mit Dingen beſchäftigen zu müſſen, die einem nicht 
liegen, ſie ſo zu betreiben, wie ſie vom Lehrer dargeſtellt und gefordert werden, das iſt ſicher 
läſtig und für einen fid) Iden geiſtig freier fühlenden Menſchen drüdend und Widerſpruch her- 
vorbringend. Auch beim Zurückdenken an die eigene Schulzeit haftet am lebhafteſten das Bild 
derjenigen, die mir durch Pedanterie das Leben am ſauerſten gemacht haben und die z. B. 
einen römiſchen Schriftſteller nur als eine Sammlung von Beiſpielen fiir die lateiniſche Gram- 
matik anſahen. Aber das beweiſt doch nicht, daß die lateiniſche Sprache ein ungeeignetes Mittel 
iſt, um junge Leute in logiſches Denken und Behandlung eines geſtellten Themas einzuführen. 
Schulfragen werden am Ende immer Perſonenfragen ſein; alle prinzipiellen Fragen haften 
ſchließlich am guten oder ſchlechten Lehrer; von dieſem iſt guter und von jenem ſchlechter Unter- 
richt zu erwarten; ſo wird es trotz aller Schulreform bleiben. Auch von dem Schulzwange ſollte 
man nicht ſo viel Aufhebens machen. Dr. Niemeyer 


Ges 


Von deutſchem Weſen und vom Norddeutſchen 
Lloyd 


IR Un dem Artikel „Von deutſchem Weſen und vom Norddeutſchen Lloyd“ (Heft 10, 
: TAS ) XIV. Zahrg.) ift mit vollem Necht und weiten Kreiſen deutſchfühlender Kaufleute 

2 zur Genugtuung die engliſche Art des Lloyds gebührend gebrandmarkt worden. 
Aber faſt noch ſchlimmer als die in dem Aufſatz von Peter Paul Schmidt gerügten Dinge ijt 
wohl folgende (eigentlich unglaubliche, aber durch einwandsfreie Belege erwieſene — D. T.) 
Tatſache: 

Der Lloyd Hellt für Sendungen nach Amerika nur Ladeſcheine in engliſcher 
Sprache aus! Alſo deutſche Waren, ab deutſchem Hafen, durch deutſche Linie, werden im 
ſchriftlichen Verkehr englif d) behandelt! Dazu kommt, daß der Lloyd indirekt ſt aa atlich 
unterftüßt wird, und die ſtaatliche und private Beihilfe lohnt er durch Außerachtlaſſen der 
Sprache ſeines Landes. 

Zum wenigften müßte der Lloyd ſchon mit Rüdficht auf feine deutſche Kundſchaft unb 
aus Achtung vor der deutſchen Flagge, unter deren Schutz er fährt, einen Ladeſchein in deut- 
ſcher und einen in engliſcher Sprache geben, wie es ſonſt, z. B. von der „Deutſchen Levante- 
Linie“, gehandhabt wird, die ihre Ladeſcheine in Deutſch und Franzöſiſch (der Haupt- 
orientſprache) ausſchreibt. 

Der deutſche Kaufmann ſollte eigentlich vom Lloyd die doppelte Ausfertigung v er- 
langen. Es wird übrigens veranlaßt werden, daß bei nächſter Gelegenheit beim Lloyd 
dahingehende Vorſtellungen gemacht werden! Ob's hilft? Vielleicht doch, wenn man folge- 
richtig feine Zuweiſungen wieder der Konkurrenz zuwenden würde, O. D. 


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Zur Pſychologie Der Politik Regierung oder regierte 

Mafe? Das deutſche Grbübel - Großgermanien 

Schwert oder Pflug? Gedenke, daß du ein Deutſcher 
biſt! 

. . Hit nicht ein Korn Wahrheit in dem Wort, man folle fich ſelbſt und die 
Welt, d. h. was wir dafür halten, nicht allzu ernſt nehmen? Wer kommt fic z. B. 
ernſter vor als der (ſich ja auch ſelbſt ſo nennende) „ernſthafte Politiker“? Und 
was ſteckt oft dahinter? Die Politiker zwar behaupten, und die Nichtpolitiker 
glauben es ihnen, daß die Politik realen und idealen Zwecken diene, es iſt aber, 
wie Dr. Hermann Swoboda in ber „Öfterreihifhen Rundſchau“ ketzert, leicht 
zu verſtehen, daß ihr von vielen nur aus einer Art Spieltrieb gehuldigt 
wird: „Die mannigfachen Aufregungen des öffentlichen Lebens, das Auf und Ab, 
das Hin und Her der Chancen, die fortwährende Spannung, kurz all das, was 
von den einen als das Aufreibende der Politik bezeichnet und womöglich ge- 
mieden wird, das wird von den anderen, den richtigen Spielernaturen, geradezu 
geſucht. Der eine wird von dem buntbewegten öffentlichen Leben mit ſeinen 
Raubeiten und Roheiten verwirrt, bedrückt, verängſtigt, dem anderen ift erft recht 
wohl, wenn es drunter und drüber geht; was den einen am Leben bedroht, iſt 
des anderen Lebenselement, worin er fih behaglich fühlt unb ſichtlich gedeiht. 

Auch Bismarck war ſicher kein reiner Politiker in dem Sinne, daß er 
ſeine Eingebungen ohne Nachhilfe des Spieltriebes, dem heldenhaften Vergnügen 
an grandioſen, gewagten Unternehmungen, hätte ausführen können. 

Es ijt aber nicht allein der Reiz von Gewinn und Verluſt, wodurch das poli- 
tiſche Leben für manche fo verlockend wird, ſondern auch die reichliche Gelegen- 
heit für die Betätigung der kombinierenden Phantaſie. Es gibt einen Spie- 
ler, dem der Weg zum Gewinn lieber ift als der Gewinn ſelber, das ijt der Schach- 
ſpieler. Er ift dem Gegner, der ihn in Gefahr bringt und zu ſchwierigen Kom- 
binationen nötigt, dankbar. Dieſen Schachſpieler nun, deſſen Wohlbehagen erſt 
bei verwickelten Situationen beginnt, gibt es auch in der Politik. und wenn jemand 
an einer Schwierigkeit Gefallen hat, ſo iſt ihm auch zuzutrauen, daß er ſich dieſe 


96 Türmers Tagebuch 


geliebte Schwierigkeit ſelber ſchafft, fo wahnwitzig dieſes Beginnen auch vom Stand- 
punkte des Nützlichkeitsmenſchen erſcheint. Das Spiel hat eben andere Regeln als 
das Leben; was im Leben gern vermieden wird, Kampf, Aufregung, bängliche 
Spannung, Gefühlsertreme, das wird im Spiel gefliſſentlich geſucht. Wenn nun 
jemand mit dem Leben ſpielt, fo wird er naturgemäß in den Augen vieler Men- 
ſchen ein nichtswürdiger Frevler fein. 

Allein die Spieler in der Politik ſtehen zum Publikum, deſſen Intereſſen 
ſie vertreten, keineswegs in durchgängigem Gegenſatz. Es gibt vielmehr eine 
Menge Menſchen, denen das Zuſchauen bei den politiſchen Spielen — ob dieſe 
nun einer gemütlichen Kartenpartie mit Mogeln, einem aufregenden Hazardſpiele 
oder einer genialen Schachpartie ähnlich find — ebenſolches Vergnügen bereitet 
wie den Spielern ſelbſt. Kommen auch ihre Intereſſen zu kurz, ſo gehen ſie doch 
keinesweges leer aus. Nicht jeder Gewinn läßt ſich in Barem ausdrücken. 

Mit kindlicher Offenheit läßt der Amerikaner erkennen, was ihn an der 
Politik hauptſächlich oder wenigſtens nebenbei freut. Eine Wahl verbindet er 
ſofort mit einer Wette; und der Ausgang ber Wahl wäre ihm vielleicht gleich- 
gültig, wenn nicht der Ausgang ſeiner Wette mitentſchieden würde. Man glaube 
nur nicht, daß die Verhältniſſe in Ländern, wo nicht gewettet wird, viel anders 
ſeien. Der Europäer iſt nur nicht ſo aufrichtig, ſich ſeine Spielfreude bei einer ſo 
ernſten Gelegenheit einzugeſtehen. Der europäiſche Wähler hat vorgeblich nur 
hochwichtige Intereſſen, Kulturintereſſen erſten Ranges; nach feinen Worten zu 
ſchließen, votiert er auf Grund tiefer und reiflicher Erwägungen; ſein Benehmen 
aber verrät ihn, denn es ift nicht anders wie bei einem Pferderennen .. Der 
Sieg eines erklärten Favorits, noch dazu immer desſelben Favorits, hat keinen 
Reiz; welches Vergnügen dagegen, einen Außenſeiter an die Spitze rücken zu ſehen. 

Wenn Regierungen geſtürzt werden, wenn Parteien einander in der Macht 
ablöſen oder führende Männer die Herrſchaft abgeben müſſen, ſo pflegt man dieſe 
Vorgänge mit großem Scharfſinn — immer ein verdächtiges Hilfsmittel! — auf 
politiſche Urſachen zurückzuführen oder ſonſtwie äußerlich zu begründen. Wie wird 
man einmal über die Menſchen lächeln, welche fid) dieſe Begründungen ſelber ge- 
glaubt haben! Die Welt wird ein ganz anderes Geſicht haben, bis man dereinſt 
ſo weit iſt, ſich ſeine Triebe offen einzugeſtehen und nicht mit hochweiſen Aktionen 
zu bemänteln; nicht von der Verfechtung heiliger Kulturgüter zu faſeln, wo es einem 
doch nur um die Hatz zu tun iſt. Phraſen, gedankenlos gebrauchte Redensarten 
haben das eine Gute, daß durch ſie manchmal die Wahrheit unvermerkt herausrutſcht. 
So begegnet man in politiſchen Kampfblättern öfters der weidmänniſchen Be- 
zeichnung ‚zur Strecke bringen“, einen Miniſter zum Beiſpiel oder einen mächtigen 
Parteimann. Köſtlicher Verrat an dem eigenen Innern! Zn der nächſten Zeile 
kommen dann freilich wieder die unvermeidlichen idealen Güter, für die es mit aller 
Macht zu ſtreiten gilt — zu ſpät, um den Oetektiv der Menſchenſeele zu täuſchen. 

Nur von einer Erkenntnis der Triebe, die das politiſche Leben zum großen 
Teil regieren, iſt auch eine Beſſerung ſeiner vielbeklagten Schäden zu erwarten. 
Wie foll man eine Lungenentzündung kurieren, wenn man fie für einen Rheuma- 
tismus hält? Wie ſoll man die Auswüchſe der Politik bekämpfen, wenn man, 


Türmers Tagebuch 97 


durch die Symptome irregeleitet, ihr Weſen völlig verkennt? Allein wenn die 
Menſchheit nur erſt zu unbeſchränkter Aufrichtigkeit ſich durchgerungen haben 
wird, dann werden beſondere Heilmaßnahmen gar nicht mehr nötig fein. Die krank- 
haften Erſcheinungen des öffentlichen Lebens wie ſo viele des privaten Lebens 
gedeihen nur auf dem Miftbeet der Verlogenheit und verſchwinden von 
ſelber, wenn ihnen dieſer Nährboden entzogen wird. 

Daß im politiſchen Leben die meiſte Arbeit umſonſt getan wird, iſt eine 
Tatſache, die erſt keines Beweiſes bedarf. Der Grund hiervon iſt, wie aus obigen 
Darlegungen erhellt, der, daß viele Politiker zumeiſt gar nicht die Abſicht 
haben, fruchtbringende Arbeit zu leiſten, ſondern durch ihre ſchwindelhafte Ge- 
ſchäftigkeit nur eine beſondere Art von Vergnügungsſucht befriedigen wollen. 
Man iſt jedoch ſo lange nicht berechtigt, den Politikern die Unfruchtbarkeit ihres 
Treibens vorzuhalten, als ſie ein dankbares Publikum finden. Man müßte, in 
der richtigen Reihenfolge, zuerſt die Bedürfniſſe des Publikums kritiſieren, was 
aber noch unfruchtbarer wäre als die parlamentariſche Tätigkeit. Das Volk, wie 
es nun einmal iſt, kommt auch beim wahnwitzigſten Gebaren ſeiner Vertreter 
auf die Rechnung. Panem aut circenses, eines von beiden gibt es immer. Das 
moderne Parlament ift doch eigentlich eine praktiſche Einrichtung und ein be- 
deutender Fortſchritt gegen das Altertum: es befriedigt mit einer einzigen Inſti⸗ 
tution jene beiden Volksbedürfniſſe, es iſt abwechſelnd Senat und Zirkus. 

Es wäre ungerecht, zu vergeſſen, daß ja doch viele Menſchen vom Parlament 
nur Arbeit und wieder Arbeit verlangen; aber es muß dahingeſtellt bleiben, ob 
unter dieſen Vielen nicht ſo mancher bloß deswegen Arbeit verlangt, weil er ſich 
ſchämt, daß er keine verlangt. Wo iſt der Menſch, der zu geſtehen wagte, daß ihm 
ein rechtſchaffener Krawall lieber iſt als ein ſchlechtes Geſetz! 

Anfruchtbare Politiker ſind aber nicht nur die Spieler im engeren Sinne, 
welche im öffentlichen Leben die Senſationen des Spieltiſches ſuchen, ſondern 
auch die Spieler im weiteren Sinne, dieſe eigentümliche Menſchengattung mit 
der Freude an buntbewegtem Leben, an romanartigen Verwicklungen und Löſun- 
gen, ins Leben verirrte Dichter oder Schauſpieler, vielleicht verſpätete Nachkommen 
alter Heldengeſchlechter, Menſchen, welche im Leben das ſuchen, was ein anderer 
von der Lektüre erwartet. Ein ſolcher Menſch hat kein größeres Intereſſe, als 
die Welt zu einem rechten Theater zu machen. Romantiſche Politiker könnte man 
diefe Sorte nennen. Ein folder romantiſcher Politiker war aud) Napoleon. 
Alle Verſuche, fein Wirken als fruchtbringend hinzuſtellen, find gequält, find ver- 
geblich und vor allem unnötig. Kann man durch die größten Guttaten mehr Ruhm 
und Herzensdank ernten als Napoleon? Gerade von ſeiner Nichtsnutzigkeit im 
bürgerlichen Sinne kommt die unwiderſtehliche Wirkung auf alle Sidternaturert, 
ſo auch auf Goethe. Wenn jemand trotz ſeiner offenkundigen Unfruchtbarkeit ſo 
viele begeiſterte Anhänger findet, fo wäre es gefehlt, diefe für verblendet zu er- 
klären; man muß vielmehr ſchließen, daß irgendein ver borgenes Bedürf- 
nis durch jenen Mann befriedigt wurde. 

Die Bedürfniſſe der Phantaſie find in gewiſſen Epochen des Einzel- unb 
Völkerlebens nicht weniger dringlich als die Bedürfniſſe des Magens. Seſtillt 


Der Türmer XX, 1 í 


98 Türmers Tagebuch 


kann dieſer Erlebnishunger nicht durch Lektüre und Theater werden, nicht nur 
durch ein Bild des Lebens, ſondern durch das Leben ſelber 

Der Schauſpieler iſt aufrichtig, der Politiker darf es nicht fein. SSerlogen- 
heit, Falſchheit, Wortbrüchigkeit gehört zur politiſchen Perſönlichkeit notwendig 
dazu. Wer offen zugeben würde, daß es ihm nur um ein ſchönes Spiel zu tun iſt 
und um eine glanzvolle Rolle, der hätte in der Politik ſofort ausgeſpielt. Er muß 
Zwecke heucheln. Von denen, welche an ſeiner Perſönlichkeit um ihrer ſelbſt 
willen Gefallen finden, welche für die Reize einer Perſönlichkeit empfänglich ſind, 
wird auch nicht mehr verlangt. Durch die angeblichen Zwecke wird ihr irdiſches 
Gewiſſen beruhigt, und fie können fid) nunmehr ungeſtört ihrer Illuſion hingeben. 
Das find nüchterne, an der Erde klebende Menſchen, welche einem großen Politi- 
ker aus feinen moraliſchen Schwächen ernſtlich einen Vorwurf machen. Sie wer- 
den eben für ſeine Wortbrüchigkeit nicht anderweitig entſchädigt. Auch die größte 
Perſönlichkeit iſt ihnen nur ſo viel wert, als ſich in Ziffern ausdrücken läßt; ſie 
find unfähig, fih an ihr zu beraufden ... 

Die Hochwertung gar vieler Herrſcher, Staatsmänner und Volksmänner ijt, 
neben ihre Verdienſte gehalten, un verhältnismäßig. Auch Kaiſer Fofeph II. zum 
Beiſpiel verdankt den Ruhm bei Mit- und Nachwelt keineswegs ſeinen Taten. 
Seine Regierung iſt zum größeren Teil ergebnislos verlaufen. Poſitive Leiſtungen 
werden ihm nur von jenen angedichtet, welche einerſeits von ſeiner Perſönlichkeit 
bezwungen ſind, anderſeits in der Meinung befangen, daß ſo viel Erfolg nur von 
Verdienſten ſtammen könne. Die Verdienſte werden als logiſche Prämiſſe ton- 
ſtruiert. Indeſſen war Joſeph II. vor allem eine eigenartige, höchſt reizvolle Be r- 
ſönlichkeit, welche, um zu wirken, beſonderer Leiſtungen gar nicht bedurfte. 
Genug, wenn er durch ſeine Taten den Eindruck ſeiner Perſon nicht ſtörte. Es 
gibt nun einmal Menſchen, die wie Kunſtwerke wirken: man betrachtet ſie ohne 
Rüdficht auf Vorteil und Nachteil, ohne alles irdiſche Intereſſe; man wird durch 
ihren Anblick geradezu den niedrigen Intereſſen entwöhnt. Solche Menſchen können 
ſogar ungeſtraft Schaden ſtiften, ſie können ihre Mitmenſchen in Not und Fammer 
bringen und wirken noch immer. Es hat große Männer gegeben, die man in ge- 
wiſſer Hinſicht nur als arge Schädlinge bezeichnen kann; das hat jedoch die Beit- 
genoſſen nicht gehindert, mit dankbarer Bewunderung zu ihnen aufzublicken. 

Man hört oft behaupten, die Politik ſei ein nüchternes Handwerk. Staats- 
männer brüften fid) gern mit der nüchternen Behandlung ihrer Agenden. Jede 
Abweichung der Politik vom kaufmänniſchen Standpunkt wird als abenteuerlich 
gebrandmarkt. Dieſe Anſchauung verrät einen völligen Mangel an Menſchen- 
kenntnis. Nüchternheit iſt keineswegs eine weſentliche Eigenſchaft 
guter Politik. Gute Politik iſt diejenige, welche allen Seiten der menſchlichen 
Natur Rechnung trägt, welche alle unleugbar vorhandenen Bedürfniſſe auf die 
beſte Art befriedigt. Die Menſchen ſind nicht durchaus nüchtern, und ſo darf es 
auch die Politik nicht ſein. Iſt ſie es trotzdem, dann wird ſie unpopulär, gerät in 
Widerſpruch zum Volksempfinden und muß gewärtigen, daß das ungeſtillte Be- 
dürfnis zur unrechten Zeit hervorbricht ...“ 

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* 


Zürmers Tagebuch 99 


Kann es alſo nicht ſchaden, einmal auch bie Kehrſeite ber Medaille ins Auge 
zu faſſen, iſt es ganz heilſam, Menſchliches menſchlich zu werten und es nicht ohne 
Not zu überſchätzen, ſo muß man ſich doch andererſeits hüten, in ſolchen mehr 
oder minder doch immer auf das Paradoxe zugeſpitzten Beobachtungen die ganze 
Wahrheit zu ſuchen. So oft auch Bismarcks Raten und Taten Gemüter mit ge- 
ringerer Kraft des Willens und der Vorſtellung durch ſeine Kühnheit erſchreckt 
haben mag, ſo wahrhaftig war es doch im letzten Grunde. Nur die gewaltige 
Perſönlichkeit Bismarcks, behauptet ein Ungenannter in der „Konſervativen Monats- 
ſchrift“, zwang ſeine Volksvertretung zum Staatsdienſt: „Nicht durch Gewalt, 
ſondern die ſelbſttätig werbende Kraft der großen Staatsaufgaben, für die er die 
beratende und beſchließende Mitwirkung der Volksvertretung forderte. Keine 
der großen Verhandlungen, die jene Zeit geſehen hat, erhielt ihren großen Inhalt 
von der Volksvertretung! Der war ausſchließlich Werk des leitenden Staats- 
mannes. Aber die Aufgaben, die er ſtellte, und die geiſtvolle Großheit, mit der 
er ſie vertrat, zwangen das Parlament zur Mitarbeit. Keineswegs zu kritikloſer 
Gefolgſchaft. Die Kritik mußte vielmehr im weiten Maße herausgefordert werden 
durch die kühne wahrhafte Redeweiſe des Kanzlers, der da ſchwarz hieß, was er 
für ſchwarz hielt und die grauen Sprachformeln grundſätzlich verſchmähte. Aber 
was er dem Parlament aufgab, das war ſo reine und größte Staatsaufgabe, bot 
jo gar keinen Angriffspunkt für die Geltendmachung untergeordneter und parti- 
kularer Intereſſen, daß die Volksvertretung ſich zum reinen Staatsdienſt gezwungen 
ſah. Die Parteien und Gruppen ſtanden wohl gegeneinander und wechſelnd gegen 
den Staatsmann. Aber die großen Aufgaben waren felten oder nie zu identi- 
fizieren mit engem Parteiintereſſe, ſie waren Aufgaben des Staates im allgemeinen 
Intereſſe, ſie forderten Opfer von jeder Partei, von jeder Gruppe, und machten 
das willig oder unwillig folgende Parlament zum Staatsorgan. Niemals hat 
in Oeutſchland der nackte Parteiegoismus und die gemeine Intereſſenpropaganda 
ſo wenig Raum und Einfluß gewonnen, als in der großen Bismärckiſchen Zeit, 
da von oben her der ideale Sinn wach gehalten wurde für die Tatſache, daß alles 
politiſche Leben ein Leben für den Staat fei. Man liebt es heute, die Arbeits- 
gemeinſchaft von Kanzler und Reichstag jener Zeit ſo darzuſtellen, als ſei die 
Volksvertretung damals entkräftet und ihrer eigenſten Beſtimmung untreu gemacht 
worden. Das iſt Verkehrung der Wahrheit. Es müßte der normale Zuſtand ſein, 
daß das Volk in der gewählten Vertretung der Regierung eine Arbeitsunterſtützung 
zur Seite ſtellt, daß Regierung und Volksvertretung, ſich in den gleichen Zwecken 
durch Einſicht und Entſchluß ergänzend, zuſammen Staatsregierung ſind. Das 
Parlament ſoll teilhaben an der Autorität, indem es, wie das in England geſchieht, 
alsbald nach der Wahl die Diſtanz zur Regierung vermindert, unbekümmert um 
die Vergrößerung des Abſtandes zur Wählerfhaft... Eine Volksvertretung, 
die nicht den Mut und den Staatsſinn aufbringt, nach vollzogener Wahl, ſich als 
ein von ber Vählerſchaft unabhängiges Staatsorgan, als Regierung zu 
fühlen, kann keine Autorität gewinnen, bleibt regierte Maffe, anſtatt Re- 
gierung zu werden... 

Es iſt in Oeutſchland die Anſicht, daß die parlamentariſchen Einrichtungen 


100 Farmers Tagebuch 


im Grunde allein oppofitionellen Wert haben, beſtimmend geworden für unfer 
ganzes Parlamentsleben, ſeinen parteipolitiſchen Unterbau, die Wahlen, ſeine 
Praxis und endlich ſeinen Tiefſtand. Neben dem Gedanken, daß das Parlament 
das Volk und jedes Einzelnen und jeder Gruppe Rechte und Sntereffen zu ver- 
treten hat, kommt der Gedanke an die Bedeutung des Parlaments für den Staat, 
ſeine Aufgaben und Zwecke, kaum auf. Die Tatſache, daß mit dem Parlament 
als Volksorgan ein Staatsorgan zu ſchaffen iſt, wirkt gegenüber der deutſchen 
Wirklichkeit wie eine weſenloſe abſtrakte Formel. ‚Das Volk wählt eine Vertretung 
von politiſch irgendwie wiſſenden Männern, um die Regierung in der einer reinen 
Bureaukratie nur unvollkommen ausführbaren Erledigung der vielgeſtaltigen 
Staatsaufgaben zu unterſtützen.“ — Das iſt der durch die Staatsentwicklung ge- 
botene ideale Sinn parlamentariſcher Einrichtungen. ‚Die Wählerſchaft wählt 
ihren Vertreter, in der grundſätzlichen Annahme, das Wahlrecht fei zum Zwecke 
des Widerſtandes gegen die Regierung erworben, und die ausſchlaggebende Mehr- 
heit verlangt vom Vertreter eine möglichſt robuſte Geltendmachung ihrer Sonder- 
intereſſen und anſchauungen ohne jede Rückſicht auf die Erfüllung der Staats- 
aufgaben. Der Volksvertreter wird durch die Wahl nicht Staatsdiener, ſondern 
bleibt in Abhängigkeit von ſeinen Wählern.“ — Das iſt die Wirklichkeit. Sie ver- 
langt nicht wiſſende Volksvertreter, ſondern opponierende und fordernde. Ze 
mehr nun die Staatsgeſchäfte durch die Volksvertretung erſchwert werden, je 
nachhaltiger der Widerſtand gegen die Regierung iſt, je größer die Kluft zwiſchen 
Regierung und Volksvertretung, deſto ſtärker lebt in der Maſſe das Bewußtſein, 
daß das Parlament ſeine eigenſte Beſtimmung erfüllt. Freilich fühlt die Maſſe 
in ſolchem Parlament nur ihren Willen ſtark, nicht den der Gewählten, und bringt 
dieſen nur ein ſehr geringes Maß von Hochachtung entgegen. Wo aber im Volke 
noch Autoritätsgefühl lebendig iſt, da gilt es ausſchließlich der Regierung, und 
auf das Parlament fällt nicht der leiſeſte Abglanz. Parlamente haben eben nur 
autoritatives Anſehen, wenn ſie Staatsorgan, wenn ſie nach unten 
frei find... 

Ohne Rückſicht auf die Beſtimmung des Parlaments, den Staatsdienſt, 
den die gewählten Parteivertreter zu verſehen haben, find die Parteien J n t e r- 
eſſen vertretungen geworden, und es liegt ihnen allen mehr oder minder 
bewußt der Gedanke zugrunde, daß es gilt, die Intereſſen gegen die Regierung, 
nicht an ihrer Seite geltend zu machen. Rechte ſollen die Volksboten vertreten, nicht 
Pflichten verſehen. Nur die ganze deutſche Vernarrtheit in eigene Fehler, die 
Vernarrtheit, die noch immer aus den ſchreiendſten Schwächen der Zeit ein logifch- 
ethiſches Syſtem hat bilden können, kann heut dazu kommen, die gewordene 
niedrige und ſtaatsloſe Intereſſengruppierung als die beſte der Parteibildungen 
zu erklären. Intereſſen-Parteien ſind niemals Staatsparteien, und ein von ihnen 
gebildetes Parlament muß unvermögend ſein, als Staatsorgan zu funktionieren. 
Ein Volk, dem der Zweck des Parlamentes nicht aufgegangen iſt, kann auch kein 
parlamentariſch tüchtiges Parteileben bilden. Es ift nur im[tanbe, feindſelig zu- 
einander und zum Staat und feiner Regierung ſtehende Sntereffengruppen zu 
organiſieren. Da haben wir Deutſchen es freilich bis zu einiger Vollendung voll- 


Cürmers Tagebuch 101 


bracht und können mit Sicherheit erwarten, daß, was an dieſer unfrer nationalen 
Schöpfung noch fehlt, alsbald hinzugebildet wird. Durch Mißtrauen, Anſprüche 
und Sntereffen werden aber nicht Perſönlichkeiten gewählt, die, voll weiter Sach- 
kenntnis, nach unten frei, ihre Staatspflicht im Parlament ruhig verſehen. Das 
Intereſſe wählt den einſeitigſten Vertreter, daß Mißtrauen nach oben den mib- 
trauiſcheſten, der Anſpruch den am lauteſten fordernden. Hier wird nicht auf 
politiſche Einſicht und Verſtändnis für die großen Dinge des Staatslebens geſehen, 
ſondern auf die wenigen, in allen Parteien — bis auf die ſeltenen und ſchönen 
Ausnahmen — gleichartig vertretenen Eigenſchaften, die den parteilichen Zänker 
machen, Der fid ebenſo mit dem entgegenſtehenden Intereſſe wie der niemals 
reſtlos folgſamen Autorität herumſchlägt. 

Es iſt ſehr wohl ein Parlament von politiſch Wiſſenden, von Staatsbewußten 
denkbar, in dem in vollſtem Maße von den verſchiedenen Parteiſeiten alle be- 
rechtigten Wünſche und Forderungen gegen den Anſpruch der Staatsgewalt 
ausgeſpielt werden und unter geiſtesbewegten Auseinanderſetzungen die rechte 
Löſung mit der Regierung geſucht und gefunden wird. Ein Parlament, in dem 
die überwältigende Mehrzahl ſich bewußt bleibt, daß aller Beſchluß Staatsdienſt 
ſein muß. Solche großartige politiſche Arbeit wird bei uns nur noch in den Kom- 
miſſionen geleiſtet, bie gleichſam heimlich die erkannte Beſtimmung der Volks- 
vertretung aus der Offentlidteit hinweg in die ſtille Beratungsklauſe retten. 
Das Plenum verrät von ſolcher Staatsarbeit ſelten etwas. Da iſt die von der 
Regierung geſtellte Staatsaufgabe gleichſam nur der Anruf, auf den hin jene 
Vortſchlachten anheben, die kaum mehr einen anderen Zweck verraten, als den 
erlauchten Wählern zu zeigen, was doch die Partei für eine rechte Zntereffen- 
und Rechte-Vertretung ſei, wie der Vertreter die Erwartungen ſeiner Wähler 
rechtfertige. Da iſt nichts zu ſpüren von dem Bewußtſein, daß das Parlament 
zu regieren habe, daß der Vertreter kraft ſeiner Wahl Regierer auch über die Wähler 
(ei. Da gilt es den Wählern zu gefallen ohne jede Rückſicht auf den Nutzen der 
parlamentariſchen Arbeit für den Staat und die Erfüllung ſeiner Aufgaben. Die 
Wähler haben nicht für den Staatsdienſt, ſondern den Intereſſendienſt, nicht zum 
Mitregieren, ſondern zum Gegenregieren gewählt. Unabhängige und weite Geiſter 
könnten ſich, auch wenn ſie durch die Kräfte einer ſolchen Wahl emporgehoben 
werden, doch frei bewegen und gleichmütig gegen die Torheit einer in irrigen 
Begriffen vom Verfaſſungsleben befangenen Wählerſchaft nach ſelbſtſicherem 
Urteil ihre Entſchlüſſe im Staatsintereſſe treffen. So zu handeln, waren die 
engliſchen Parlamentarier bis vor kurzem gewöhnt, ſie trennten ſich nach dem 
Wahlkampf gewiſſermaßen vom Volk, nahmen ſich den Mut zu freiem Entſchluß 
auf die Gefahr, daß damit für die Neuwahl der Verluſt des Sitzes und der Partei- 
macht in Ausſicht geſtellt war. Eine Gefahr, die ſich faſt regelmäßig nach großen 
Aktionen verwirklichte und dann die Gegenpartei ans Ruder brachte. Diefe felbe 
Freiheit ſoll ja auch in der Theorie geſichert werden durch die feſtgeſetzte Ungu- 
läſſigkeit des imperativen Mandats. Bei uns werden die Vertreter bis auf wenige 
und ſeltene Ausnahmen niemals frei. Sie werfen niemals den Wahlkampf hinter 
ſich. Sie machen aus dem ſeltenen, weiſe in relativ großen Zwiſchenräumen 


102 Sütmere Tagebuch 


angeſetzten Wahlkampf einen Dauerzuſtand. Anſtatt die Entfchlüffe nach der freien 
Erfaſſung des beſten Staatsintereſſes zu orientieren, richten ſie ſie ein nach der 
unfreien Ridfidt auf die Stimmung der Wähler, die in der nächſten Wahl aur 
Geltung kommen muß. So wird denn nicht ſachlich um Sachen geſtritten, ſondern 
um die Macht der einzelnen Parteien, aber auch nicht der Ideale, nicht der Staats- 
zwecke wegen, bie diefe vertreten, ſondern um die Parlaments- Mandate. Denn 
jeder der für das Staatsintereſſe ſo oft nur zu entbehrlichen Vertreter hält für 
bie vornehmſte Aufgabe feiner parlamentariſchen Wirkſamkeit die Behauptung 
ſeiner Würde als Volksvertreter. Alle Würde des Volksvertreters ruht aber in 
ſeinem ſtolzen Bewußtſein, daß die Wahl ihn zum Regierer, zum Staatsdiener 
erhoben hat. Der Volksvertreter, der fid) immer als argwöhniſcher, Rechte hei- 
ſchender Regierter fühlt, als Wählerdiener, hat ganz und gar keine Würde. — 

Man ſpricht vom Niedergang des Parlamentarismus und will damit ſagen, 
daß das Parlament in der letzten Zeit mehr und mehr an Anſehen und an Würde 
verloren hat. Gewiß, eine ſolche Abwärtsbewegung iſt feſtzuſtellen. Aber ſie will 
wenig beſagen neben der Tatſache, daß unſer deutſcher Parlamentarismus in einem 
überkommenen Tiefſtand lebt. Einem Tiefſtand, deſſen Urſachen liegen in der 
traditionellen und platten Erfaſſung der Beſtimmung parlamentariſcher Ein- 
richtungen, und der aber durch die Praxis des Partei- und Parlamentslebens 
verſteinert worden iſt. 

Anſehen und Würdigkeit vor der Maſſe hat immer nur die Autorität, kann 
das Parlament nur haben als Staatsorgan, als eine Verſammlung frei befchließen- 
der Männer, die ſich ein jeder zum Regieren beſtellt fühlen. Iſt ein Parlament 
nicht ſouveräner Regulator der im Volke auf und ab treibenden Begehrungen, 
Rechtsanſprüche, Verſtimmungen und Unverſtändlichkeiten, ſondern deren getreuer, 
ſcharfer Schattenriß, was foll das Volk an ihm würdig, verehrenswert, autoritativ 
finden? So viel Eigenliebe hat auch das dümmſte Volk nicht. Wohl hat ein jedes 
aber fo viel Inſtinkt, den Meifter feiner Wünſche höher zu ad- 
ten als den Bedienten. 

Da ſagt man, das Anſehen eines Parlamentes wachſe mit der Mehrung 
ſeiner Regierungsrechte auf Koſten derer der Staatsgewalt. Was ſollen denn einem 
Parlament alle Regierungsrechte nützen, wenn es nicht die Stärke finden kann, 
überhaupt eine regierende Inſtanz über dem Volke zu werden? Oder follen etwa 
der Monarch und die kleine Zahl feiner unmittelbaren Diener die Objekte parla- 
mentariſcher Regierungskunſt fein anjtatt des Volkes? Freilich, das Volk wählt. 
Aber gerade durch die Überwindung dieſes banalen und feigen Bedenkens wird 
ein Parlament groß.. 

Man wird an biefen Darlegungen nicht achtlos vorübergehen dürfen, ſie 
enthalten des Nachdenklichen genug und beleuchten unſer politiſches Leben von 
einer Seite, die der wählenden und gewählten „Maſſe der Regierten“ zweifellos 
noch viel zu wenig zum Bewußtſein gedrungen iſt. Und doch bedürfen auch ſie, 
um richtig eingeſtellt zu werden, der Ergänzung, — durch den geſchichtlichen Werde- 
gang unſerer Parlamente. Es wird hierbei, wie die „Frankf. Ztg.“ nicht mit 
Anrecht hervorhebt, mit keinem Wort darauf eingegangen, daß „die Volks- 


Gürmers Tagebuch 103 


vertretung der monarchiſchen Gewalt erft abgerungen 
werden mußte, daß dem Volke, das mit Gut und Blut für die Rettung 
des Vaterlandes opferbereit eingetreten war, bie Mitbeſtimmung an feinen‘ Ge- 
ſchicken beharrlich vorenthalten wurde, daß das Verſprechen einer Konſtitution 
unerfüllt blieb, daß alle freien Regungen mit brutaler Grauſamkeit verfolgt wurden. 
Wo ſollte da ein Vertrauen herkommen, da doch nur gegen den urſprünglichen 
Regierungswillen die Volksrechte errungen und erzwungen worden ſind? Nicht 
das Volk und ſeine Vertretungen, ſondern die Regierungen haben die richtige 
Einſicht für das Bedürfnis des Staates vermiſſen laſſen, weil ſie der Gewährung 
von Volksrechten feind waren, und wenn die Vertreter des Volkes gewählt wurden, 
‚um von unten her etwas gegen die Regierung zu vermögen‘, fo geſchah das immer 
nur in dem Sinne, daß die Volksvertretung nach Anerkennung der Mitregierung, 
nach Anerkennung des Volkswillens ſtrebte und ſtreben mußte, wollte ſie nicht 
bloß die Bedeutung einer jaſagenden Körperſchaft haben. 

Es iſt aber eine ganz falſche Auslegung, wenn von der traditionellen Über- 
zeugung geſprochen wird, daß das Parlament die Rechte und Wünſche des Volkes 
nicht an der Seite, ſondern wider die Regierung zu vertreten habe. Es kam 
immer darauf an, ob die Regierung für die Rechte und Wünſche des Volkes 
Verſtändnis und Entgegenkommen zeigte. Fehlte es daran, ſo mußte freilich eine 
ehrliche Volksvertretung gegen die Regierung die Volkswünſche vertreten. Jede 
Regierung hat es aber leicht zu bewirken, daß das Volk und ſeine Vertretung an 
ſie heranrückt, wenn ſie eine ehrlich volkstümliche Politik treibt, 
und wenn fie dem Parlament auch vollwertige Rechte einräumt ...“ 


* * 
* 


Nicht nur die Volksvertretungen mußten der monarchiſchen Gewalt erſt 
abgerungen werden: — ſogar die Erfüllung ſeines nationalen 
Sehnens mußte ſich das deutſche Volk erſt unter ſchwerſten Verfolgungen 
von ſeinen Fürſten ertrotzen. Bis dann die Saat gereift war, die von den Ge— 
ächteten, Eingekerkerten, Verbannten mit Gefahr des Halsgerichts ausgeſtreut 
worden, und ein ganz Großer die „höchſt gefährliche Lehre von der Einheit Deutich- 
lands“ zum politiſchen Programm erhob. Und gegen welche Widerſtände, ſelbſt 
ſeines gütigen alten Herrn, auch dann noch! 

Wir leiden eben alle — auch heute noch und wie! — an dem ſelben deutſchen 
Erbübel, oder, wie es Paul Rohrbach in ſeinem ſoeben erſchienenen Buche „Der 
deutſche Gedanke in der Welt“ (Oüſſeldorf, Karl Robert Langewieſche) nennt, den 
ſelben „Hemmungen von innen her“: dem „Mangel an Gefühl für große und ge- 
meinſame Dinge“. Poſitiv ausgedrückt iſt es „der mächtige Trieb, die Befonder- 
heit — ſei es des Einzelnen, ſei es des Stammes oder irgendeiner anderen 
Gruppe innerhalb des ganzen Volkstums — zur Geltung zu bringen, der verwüſtend 
unter den Oeutſchen gewirkt bat, ſolange es eine deutſche Geſchichte gibt... 

Die erſten, durch die wir etwas Unmittelbares über unſere Vorfahren hören, 
ſind die Römer. Ihnen verdanken wir die erſte Charakteriſtik der Germanen, 
und [don damals, als es noch nichts Unnatürliches war, daß das politiſche Leben 


104 Zürmers Tagebuch 


allein in den einzelnen Stämmen pulfierte, erkannten fie bie innere Einheit 
des ganzen getmanijden Volkstums. Das zeigt uns die berühmte Stelle bei 
Tacitus: ‚Sp möge ihnen denn, ich flehe darum, wenn nicht die Liebe zu uns, 
dann doch um ſo ſicherer der Haß untereinander verbleiben, weil, ſobald Not das 
Imperium bedrängt, das Schickſal ihm Größeres nicht zu gewähren vermag, 
als die Zwietracht des Gegners!“ Dieſe prophetiſchen Worte des Römers ver- 
künden nicht nur das Schickſal Roms durch die Germanen, ſondern auch das 
Schickſal der Deutſchen durch ſich ſelbſt. Daß in Wirklichkeit 
ſchon zur Zeit Hermanns des Cheruskers die Stämme der Deutſchen ſich als ein 
Volk hätten fühlen und begreifen ſollen, ſo wie ſie von der römiſchen Kulturwelt 
aus betrachtet erſchienen, das war nicht möglich. Die ſtarke Geſondertheit der 
alten germaniſchen Völkerſchaften ſetzte ſich aber auch in die eigentlich deutſche 
Geſchichte hinein fort, und jeder einzelne von den Stämmen, die ſeit Ludwig dem 
Deutſchen das deutſche Königtum umfaßte, fühlte ſich im Grunde allein für jid 
ſchon als die höchſte der zu erſtrebenden politiſchen Einheiten. Nur widerwillig 
war man bereit, fih mit den anderen durch ein zuſammenzwingendes Band zum 
Ganzen vereinigen zu laſſen, und kein Teil wollte für dieſen Zweck etwas von 
der Willkürlichkeit ſeiner Selbſtbeſtimmung opfern. Nie hätten die deutſchen 
Stammesherzöge und ſpäter die einzelnen Territorialfürſten ſo erfolgreich gegen 
die Idee des deutſchen Einheitsſtaates ankämpfen können, wenn ſie nicht Träger 
des tief in den Stämmen, ja in den Unterabteilungen und Splittern der Stämme, 
wurzelnden Dranges geweſen wären, der Befriedigung des Selbſtgefühls am 
meiſten in der erkämpften Abſonderung und im Sieg über den Zwang zur Einheit 
ſuchte. Von der furchtbar zerſtörenden Sprengkraft dieſes dem Oeutſchen ein- 
gepflanzten Triebes ſind die Heldengeſchichte wie das Leidensſchickſal der deutſchen 
Nation ein zuſammenhängendes Zeugnis, und wenn wir uns von der Vergangen- 
heit zur Gegenwart wenden, ſo gewahren wir, daß jener Wille zur Abſonderung 
in Gruppen ſich nicht verloren, ſondern nur ſeine Wirkungsweiſe geändert hat. 
Das Parteigetriebe des modernen Oeutſchland, die ſoziale Zerklüftung der Nation, 
das deutſche Stände- unb Kaſtenweſent fie find jetzt das Feld, 
auf dem er wirkt, und wo ſein Wirken einen großen Teil unſerer Volkskraft in ziel- 
loſem Hader und unfruchtbarer Reibung zunichte macht. 

Die Völker um uns — warum waren ſie zeitweilig die Stärkeren, obwohl 
ſie alle weniger zahlreich waren und manche unter ihnen auch weniger begabt ſind 
als wir? Nur darum, weil ſie in höherem Grade als wir die Fähigkeit beſaßen, 
das Trennende hinter dem Einigenden zurückzuſtellen. Darin liegt alle Kunſt 
politiſcher Kraftentwicklung beſchloſſen. Summieren wir nun dagegen die Schäden 
und Nachteile, die aus jener Naturveranlagung der Oeutſchen für ſie entſprungen 
ſind, mit den pſychologiſchen Wirkungen des Niederganges unſerer Kultur, unſeres 
Reichtums, unſerer Bildung, unſeres Selbſtgefühls während der Periode der 
Religionskriege bis zur Wiederaufrichtung des Reichs! Wie konnte es da anders 
kommen, als daß fid) die Kraftfülle, die immer noch in der alten deutſchen Zer- 
riſſenheit ſteckte, ins Verzerrte wandelte, das Heroiſche in das Groteske, das 
Triebhaft-Natürliche ins Lächerliche? 


Türmers Tagebuch 105 


Unter den Deformierungen des nationalen Selbſtbewußtſeins, die ſich aus 
dem Zuſammenwirken dieſer Einflüſſe ergeben haben, leiden wir heute, und das 
Leiden ift gefährlicher, als die meiſten unter uns ahnen. Man kann ohne Über- 
treibung ſagen, daß trotz der vielen und großen Worte, die heutzutage unter uns 
über das Deutſchtum, fein Recht und feine Würde gemacht werden, das gewöhn- 
liche Selbſtgefühl, deffen der Seut[de fähig ijt, ſich z u er ft auf die Zugehörigkeit 
zu feiner Klaſſe oder Rafte, zu feinem Stand oder Beruf, kurz zu 
irgend einer Gruppe innerhalb der Volksgeſamtheit bezieht, und danach erſt 
auf bie nationale Idee ihrem wahren Gehalte nach. Daran ändert das Dröhnen 
der ‚nationalen‘ Phraſeologie bei offiziell-patriotiſchen oder ſonſtigen Gelegen- 
heiten nichts. Solange ein Deutſcher den andern darum als etwas Geringeres 
anſieht, weil jener einen minderen Titel hat, als Student nicht irgend ein buntes 
Band trug, keine Qualifikationen beſitzt, kann allem nationalen Reden nur ein 
ſehr bedingter Wert beigemeſſen werden. Cin Nationalgefühl, das 
die Angehörigen des eigenen Volkes nach Wertklaſſen 
ſondert, entbehrt der vollen Aufrichtigkeit. 

Natürlich wird es keinem Vernünftigen einfallen, von jedem einzelnen 
Deutſchen zu behaupten, daß er dieſen Fehler deutlich ausgeprägt an ſich trage. 
Eben ſo wenig aber läßt ſich ehrlicherweiſe beſtreiten, daß die Hinneigung zu ihm 
eine Durchſchnittseigenſchaft der Deutſchen ijf, und zwar wird die Tendenz dazu 
um ſo beſtimmter, je höher die ſoziale Schicht iſt. Das Aufſteigen von unten nach 
oben bedingt, wenn nicht ſchon in der erſten, ſo doch in der zweiten Generation 
die geiſtige Einkapſelung in irgendeins der Sonderfächer, in die ſich die mittleren 
und oberen Stände bei uns zerlegen. Die Zahl derer, bei denen die national- 
ethiſche Seite der Perſönlichkeit ſo kräftig entwickelt iſt, daß ihnen jedes Fach zu 
eng erſcheint, ift leider nur klein; bei den meiſten reicht der Horizont des Gruppen- 
bewußtſeins ſo nahe an die vorhandene Geſamtweite des Geſichtskreiſes, daß die 
darüber hinausgehende Größe eines allgemein nationalen Selbſtbewußtſeins faſt 
nur noch in der Einbildung exiſtiert. Dementſprechend ſcheinen den Angehörigen 
jeder Gruppe ihre beſchränkten Sonderintereſſen wichtiger und größer zu ſein, 
als die nationale Idee, und wenn jid) jemand über das Verhältnis dieſer beiden 
Faktoren überhaupt prinzipielle Gedanken macht, ſo reichen ſie höchſtens bis zu 
der oberflächlichen Selbſttäuſchung, dem wahren Zntereffe des Vaterlandes könne 
nicht beſſer gedient werden, als durch die vollkommene Hingabe an den allein 
ſeligmachenden Parteiklüngel! 

Vielleicht wird jemand, der ſich durch dieſe Charakteriſierung beſchwert fühlt, 
dagegen fragen: ſteht denn das alles bei andern Völkern um ſo viel beſſer, daß 
es ſolcher Bußpredigt über den politischen Charakter ber Deutfchen bedarf? Wer 
nicht ſcharf hinſieht, könnte allerdings meinen, anderwärts ſeien die Zuſtände eher 
noch ſchlechter als bei uns Deutſchen. Zum Teil ſind ſie es auch, aber den ſozialen 
Mißſtänden, die zum Beiſpiel in Frankreich, Rußland oder England herrſchen, iſt 
lange nicht in ſo ausgeprägter Weiſe wie bei uns ein beſonders gefährlicher Zug 
eigentümlich: jene Nichtachtung des Volksgenoſſen darum, 
weil er zu einer Rafte von geringerer Exkluſivität ge- 


106 Zürmers Tagebuch 


hört. Dieſe Sinnesart, die bei uns nicht im Abnehmen begriffen ijt, fondern 
ſich verſchärft und vermehrt, zerſtört innerhalb der Nation das einheitliche Bewußt- 
ſein, daß alle Schichten ſolidariſch zum Dienſt am Volksgedanken verpflichtet 


und verbunden ſind.“ 


* * 
R 


So ift denn auch, wie es uns in einer jüngſt (im Verlage bes „Reichsboten“, 
Berlin) erſchienenen Broſchüre „Eine Hochſchule für Großgermaniſche Kultur“ warm 
ans Herz gelegt wird, von allen Völkerfamilien die germaniſche am weiteſten und 
gründlichſten auseinandergekommen. „Seit dem Beginn unſerer Zeitrechnung ziehen 
ununterbrochen die Völker fort aus der alten nordiſchen Heimat, um nach einer 
kurzen Zeit der Selbſtändigkeit in den brandenden Wogen fremden Volkstums 
unterzutauchen. Verweht find die Spuren der Vandalen, verſchwunden die Weft- 
und Oſtgoten, die Longobarden, Gepiden, Heruler, die ſaliſchen Franken, Burgunden 
und andere Stämme, die tatenfroh das Erbe der antiken Kultur antraten. Unter- 
gegangen iſt der Kulturbeſitz, den fie aus der Heimat mitbrachten; das Empor- 
ſtreben der eingeborenen Bevölkerungen hat ihn aufgezehrt und mit ihm, was 
an jugendlicher Kraft und Geſundheit in die fremden Gefilde getragen worden 
war. So gründlich iſt dieſer Aufſaugungsprozeß vor ſich gegangen, daß man den 
Germanen jede eigene Kultur glaubte abſprechen zu können. Nur die Angelſachſen 
haben ſich in ihrer neuen, meerumgürteten Heimat erhalten, fortentwidelt und 
neue Koloniſationszüge in die gigantiſch erweiterte Welt hinausgeſandt. Die 
Völker, die in der Heimat blieben oder wenigſtens den Zuſammenhang mit ihr 
nicht verloren: die Skandinavier, Dänen, Holländer, Oeutſchen, Deutſch-Oſter- 
reicher, Schweizer, Nordamerikaner ſind dagegen einander fremd geworden; ſie 
haben wohl auch in blutiger Fehde die Waffen gegeneinander gekehrt, ſich ge- 
ſchwächt und fremden Einflüſſen unterworfen .. 

Iſt es ein natürlicher unb unperänderlicher Zuſtand, daß Völker gleicher 
Abſtammung, von gleichem Rhythmus der Sprache und des Denkens, von einem 
im Grunde noch immer einheitlichen Gefühlsleben, zu einer politiſchen Stellung 
genötigt werden, die ſich nicht nur gegen die Lebensintereſſen eines Brudervolkes 
wenden kann, ſondern auch den nationalen Kulturbeſitz ſchädigen muß? jt es 
auf die Dauer zu ertragen, daß ganze Räſſen aus dem jahrtauſendelangen Schlafe 
erwachen und ſich zum Anſturm auf Europas Kultur mit Waffen rüſten, die 
ihnen diefe Kultur erft in die Hand gedrückt hat? Unmöglich darf die geſchicht⸗ 
liche Tatſache, daß ſich germaniſche Völker ſeit zwei Jahrtauſenden die Entwicklung 
einander ſtreitig machten, als ein verhängnisvolles Erbe auch für die Zukunft 
betrachtet werden. Dem widerſtreben die Erfahrungen in der Geſchichte ſelbſt, 
dagegen wallt das Empfinden eines jeden auf, der nachdenklich und offenen 
Auges Urſache und Wirkung in ber endloſen Kette der Völkerentwicklung ver- 
folgt. Was in dem Auseinander- und Gegeneinanderarbeiten der germanifden 
Völker an Volkskraft und Kulturbeſitz verloren gegangen ift, zeigt faſt buchmäßig 
jede Seite ihrer Geſchichte; was an Hemmungen der menſchlichen Entwicklung 
zu verzeichnen iſt, wird vielleicht nie in ſeinem ganzen Umfange dargelegt werden, 
weil wir nur die Erfolge, nicht aber die mit ihnen und unter ihnen laufenden 


Zürmers Tagebuch 107 


Volksenergien abmeſſen können. Nur die Gewinnſeite aller Völker, die durch 
germaniſche Blutszufuhr wieder in die Reihe aktiver Nationen zurückkamen, läßt 
die Größe dieſes Verluſtes ahnen. Wie groß muß aber der Beſtand an Kraft ſein, 
wenn alle Einbußen nicht vermocht haben, die niemals raſtenden Volkskräfte ber 
germaniſchen Völker auch nur einen Augenblick zum Stillſtand zu zwingen oder 
gar aus der Aufwärtsbewegung der Erdbevölkerung auszuſchalten! 

Freilich, die entſcheidende Tat ſteht noch aus, bis ſich gezeigt haben wird, 
ob bie erwachenden Kulturen Aliens und Afrikas lebensfähig find. Unaufhaltſam 
aber dämmert die Erkenntnis auf, daß die germaniſchen Völker einen Kultur- 
beſitz haben, Dellen Schwächung oder Verluſt bie Menſchheit zu tragen hat; un- 
willkürlich macht fih die Vorſtellung der gemeinſamen Sntereffen der germaniſchen 
Völker frei. Und unbewußt — weil fie gefühlsmäßig aufſtrebt — gewinnt die 
Anſchauung Raum, daß die zeitliche Unterdrückung der völkerverwandtſchaftlichen 
Beziehungen niemals den großgermaniſchen Gemeinſamkeitsgedanken ertöten darf. 

Dieſer großgermaniſche Gedanke hat in den letzten Jahren tatſächlich an Ge- 
halt gewonnen. Nicht in dem Sinne einer nach außen gerichteten Politik, die eine 
Vorherrſchaft über andere Völker anſtrebt, ſondern mehr aus der Empfindung 
heraus, daß bei ungehemmtem Abfließen des Kulturbeſitzes gerade dieſer von den 
germaniſchen Völkern erworbene Beſitz ernſtlich bedroht ij. Denn was den euro- 
päiſchen Völkern die größte Entwicklungsmöglichkeit gab und was auch anderen 
Völkern ein Fortſchritt war, wird für diefe nicht nur eine Stütze in ihrem not- 
wendigen wirtſchaftlichen und politiſchen Kampfe gegen die europäiſche Kultur, 
ſondern es muß fic zu einer Schwächung dieſes Beſitzes entwickeln durch das Ge- 
fühl des Schwindens der Überlegenheit. Weite Kreiſe der europäiſchen Bevölke- 
rung, insbeſondere aber in den Großſtädten, ſtehen der eigenen Volkskultur nicht 
nur gleichgültig gegenüber, ſondern trachten auch in blindem Eifer danach ſie zu 
zerſtören, um eine unbeſtimmte, niemals mögliche Allerwelts- 
kultur e an ihre Stelle zu ſetzen. Je weniger Erfolge diefe Bewegung erzielt, um 
ſo eifriger wühlt ſie gegen den Boden, der ſie trägt; je weniger ſie aufbauen kann, 
um ſo ſtärker iſt der Drang, alles hinwegzuräumen, was dem erträumten Zdeal 
im Wege ſteht. Freilich wird durch dieſen einſeitigen Eifer nicht die Tatſache ver- 
hüllt, daß der aſiatiſche oder ſelbſt der romaniſche und ſlawiſche Geſinnungsgenoſſe 
ſeinen Volksgenoſſen viel näher ſteht als dem artfremden Theoretiker. 

Heute find viele ſchwach genug, fremden Einflüſſen eine große Macht ein- 
gurdumen, wenn dabei auch mehr Worte als Werte gewonnen werden. Man über- 
ſieht dabei, daß jede Kultur das Erzeugnis beſtimmter Vorausſetzungen iſt, die 
in dem Urſprungslande, der Bevölkerung und in vielen aus der geſchichtlichen Ent- 
wicklung hervorgegangenen Imponderabilien liegen; man will es — und oft gegen 
die eigne beſſere Überzeugung — nicht anerkennen, daß jede Kultur zwar Einzel- 
heiten abgeben, nie aber die Grundlage aufgeben kann, auf der ſie gewachſen iſt, 
es fei denn, daß ihre ſchlechten Früchte in den Abfällen großſtädtiſcher Engräumig- 
keit treibhausartig empor wuchern 

Es fehlt keineswegs an Anzeichen, die auf das Erkennen einer fo großen Ge- 
fahr deuten. Trotz aller einander entgegenſtehenden politiſchen Wünſche finden 


108 Zürmers Tagebuch 


fid bie lateiniſchen, ſlawiſchen und germanischen Völker immer mehr in ber An- 
erkennung einer Intereſſen· und Kulturgemeinſchaft zuſammen. Es tut dem keinen 
Eintrag, daß die Symptome dieſer Erkenntnis zunächſt nur in den vorübergehen- 
ben Wallungen der Zeitungspolemik zum Ausdruck kommen; in der Tiefe des euro- 
päiſchen Gemeinſamkeitsgefühles wächſt das Verſtändnis für die Abwehr einer un- 
gehemmten Verbrüderung mit außereuropäiſchen Raſſen. Wie einen Fanfaren- 
ton wird man dereinſt das Wort unſeres Kaiſers: „Völker Europas, wahret eure 
heiligſten Güter!“ einwerten, wenn man ſpäter Schlagbäume gegen die über- 
ſchießende Kraft Aliens und Afrikas aufgerichtet haben wird.. 

Das iſt ja auch die natürliche Lage, ſie wird aber getrübt durch das Verhältnis 
einzelner germaniſcher Staaten zueinander. Wie mißtrauiſch ſtehen ſich engliſche 
und deutſche Anſchauung über die gegenſeitigen Entwicklungen gegenüber! Es 
iſt das ein Mißtrauen, das zudem weniger der Schwäche als der Stärke entſpringt, 
das aber das Verſtändnis für die artverwandten Ziele zum Teil verloren hat. Erſt 
feit einem Jahrzehnt etwa haben ſich die unklaren Vorſtellungen über die Lebens- 
notwendigkeiten beider Völker in gegenſeitigen Befürchtungen Bahn gebrochen, 
aber mit einer Hartnäckigkeit behauptet, die zu einer tiefaufwühlenden Entfrem- 
dung treiben muß, wenn nicht die ſtarken Grundlagen der allgermaniſchen Kultur 
wieder völlig freigelegt werden. Sollte dies nicht möglich fein angeſichts der Tat- 
fade, daß die Größten unſerer Kultur beiden Völkern angehören? Sollte die gegen- 
ſeitige Entfremdung nicht wieder ſchwinden, wenn die Gleichheit der Anſchauungen, 
bie die Worte ,Fdeutſch“ und ‚englifch‘ nur äußerlich mit anderen Marken verſehen, 
auf allen Gebieten des öffentlichen und privaten Lebens ſich entfalten kann? Kein 
landfremder Dichter hat auf das engliſche Geiſtesleben eine fo tiefe Wirkung aus- 
geübt wie Goethe, keiner bie deutſche Kultur in dem Maße befruchtet wie Cbate- 
ſpeare. Dürer wird von den Angelſachſen geſchätzt wie einer der Ihren, und es iſt 
auch kein Zufall, daß der Deutſche Holbein d. J. ein halbes Menſchenleben lang 
in England wirkte. Von Bach und Händel, der die größte Zeit ſeines Lebens jen- 
ſeit des Armelkanals zubrachte, und der ſein Grab inmitten der großen Toten der 
Weſtminſter-Abtei gefunden hat, bis zu Richard Wagner, ſeit Byron und Dickens in 
Deutſchland heimiſch ſind und Friedrich der Große ſeinen beſten Schilderer in 
Carlyle gefunden hat, fluten die Beziehungen zu einer Kulturgemeinſchaft zu- 
ſammen, die in ihren einzelnen Wirkungen gar nicht mehr zu löſen ſind. Der große 
Bahnbrecher der modernen Kunſt, Gottfried Semper, gewann die Grundlagen 
für ſeine reformierende Tätigkeit in England, während die Angelſachſen Ruskin 
und Moore in ſteigendem Maße bei uns Verſtändnis finden. Ganz folgerichtig und 
aus dem innerſten Weſen germaniſchen Lebens gefloffen, dringt die engliſche Wohn- 
kultur zu uns herüber und verdrängt die letzten Erinnerungen fränkiſcher Herkunft. 

Der Schweizer Gottfried Keller gehört allen deutſchſprechenden Völkern, 
während die tiefe Gedankenwelt eines Emerſon die ſpitzfindige Logik eines Bol- 
taire längſt aus dem Sattel gehoben hat. Kants Philoſophie und Schillers Sbealie- 
mus haben Pate geftanden bei allem Guten und Schönen, was germaniſcher Geiſt 
feit einem Jahrhundert geboren hat. Und blicken wir nach Norden, wo altgermani- 
ſcher Skaldengeiſt niemals aus ſeiner Bahn gewichen iſt, da weht uns eine Stim- 


Zürmers Tagebuch | 109 


mung entgegen, bie eine ſtärkere Spur durch unfere Literatur gezogen bat als 
jemals eine andere. Der Schwede Oskar Montelius ijt es, ber in die tiefſten Schächte 
der germaniſchen Vergangenheit hinabgeftiegen ijt und ungeahnte Ausblicke auf 
den Einfluß dieſer Zeit, ſelbſt auf die antike Kultur eröffnet hat. Ein befreiender 
Luftzug weht ſeitdem durch bie Wiſſenſchaft, der immer kräftiger auf die Erkennt- 
nis drängt, daß unſere Vorfahren vor mehr als zwei Jahrtauſenden keineswegs 
rohe Barbaren, ſondern im beſten Sinne des Wortes Kulturträger waren, deren 
künſtleriſches Erbe von den Deutſchen Mohrmann, Haupt und dem Engländer 
George Baldwin Brown aus den Umſchlingungen der römiſchen Kultur freigelegt 
wurde. Mit Überraſchung, aber auch mit Genugtuung erkennen wir, daß viele 
Außerungen der gegenwärtigen Kunſt ganz unbewußt an die altgermaniſche 
Kunſtüberlieferung anknüpfen. Blicken wir nur mit offenen Augen in unſere 
Vergangenheit, dann ſehen wir, wie ber jüngſt ins Grab geſunkene Karl Rhamm 
es nachgewieſen bat, daß bie Wohngewohnheit der Urzeit noch heute in dem fad- 
ſiſchen und alemanniſchen Bauernhauſe und in dem nordiſchen und engliſchen 
Hallenhauſe weiterwirkt; mit ſtaunendem Auge entdecken wir, wie dasſelbe Haus 
aus den verſchütteten Ruinen Griechenlands wieder ans Tageslicht tritt, oder 
ſchon in den erſten Jahrhunderten unſerer Zeitrechnung ſiegreich den ganzen 
Oſten Europas erobert hat. Von den geſunden Grundlagen dieſer Überlieferung 
zeugt es, daß bie altgermaniſche Dorfverfaſſung, wie fie von dem Angelſachſen See- 
bohm, den Deutſchen Hanſen, v. Maurer und Meiken der Kenntnis erſchloſſen 
wurde, das geſamte politiſche Leben der germaniſchen Völker durchdrungen hat... 

Man könnte aus den verhängnisvollen Ereigniſſen der Geſchichte der ger- 
maniſchen Völker den Schluß ziehen, daß das Erkennen der gemeinſamen Jnter- 
eſſen erſt erfolgt, wenn die gegenſeitige Stärke durch Waffengewalt entſchieden iſt. 
Denn von den Markomannen-, Alemannen- und Sachſenbünden bis zu dem 
Bruderkampf von 1866 iſt der Gemeinſamkeitsgedanke erſt in einem Kampfe ge- 
boren, bei dem fremde Völker nicht nur Zuſchauer, ſondern häufig auch Teilnehmer 
waren. Von außen kommende Wünſche und Hoffnungen haben die Entſcheidung 
herbeigeführt; von hier aus ijt immer wieder das Mißtrauen gefdt worden, wenn 
ſich die Intereſſengegenſätze auszugleichen ſchienen. Iſt der Bruderkampf wirklich 
der ewige Fluch germaniſcher Vollkraft? Politiſch geſehen möchte es fo ſcheinen; 
aus den Kämpfen wuchs indeſſen doch immer wieder das Vertrauen zur Zufammen- 
gehörigkeit auf, das durch die Geiſtesarbeit der hervorragendſten Geiſter der ger- 
maniſchen Welt unaufhörlich vorbereitet war. 

Reifen, Freundſchaftsbeteuerungen werden indeſſen die Entwicklung der 
Gegenſätze nicht aufhalten, wenn nicht auch in der Volksſeele die Ahnung auf- 
flammt, daß Größeres und Erhabeneres für bie Menfad- 
heit auf dem Spiele ſteht, als ein zeitlicher Ausgleich. 
Ein ſtarker volklicher Wille, der die materielle Kultur nur als Grundlage geiſtiger 
und nationaler Güter anerkennt, muß die Fäden ſpinnen von Volk zu Volk, und 
damit auch die materiellen Wünſche auf eine höhere Stufe ſtellen. 

Die Kräfte, die das Gemeinſame der germaniſchen Kultur gefährden, die 
zuletzt ſelbſt jede Kulturarbeit aufhalten, ziehen ihre Nahrung aus dem Mate- 


110 Zürmers Tagebuch 


tialismus, ber der Vergangenheit der germaniſchen Völker widerſpricht, der 
ſich rückſichtslos an die Spitze drängt und unſere ganze geiſtige Kultur auszu- 
höhlen ſucht. Das treibt, wie wir es täglich vor Augen haben, zur Miß acht ung 
der geiſtigen Güter und läßt dieſe nur fo weit gelten, wie fie den mate- 
riellen Wünſchen nicht widerſtreben. Mit dem Materialismus ſtrömen fremde An- 
ſchauungen in die ſeelenloſen Volkskörper, die den Zuſammenhang der germani- 
ſchen Kultur lockern und politiſche Staatsgebilde von rein äußerlichen Formen zu 
bilden fuchen. ... 

Wer nicht gefühlsmäßig die ſchleichende Zerſetzung der männlichen Beitand- 
teile der germaniſchen Kultur wahrnimmt, wer weder für die Lebensnotwendig- 
keiten der germaniſchen Ideale Sinn hat, noch auch das zinſentragende Kapital 
einer germanozentriſchen Kultur für die Menſchheit einzuſchätzen vermag, den 
können bie von ihrem Volkstum aus berechtigten und entwicklungsfähigen Kultur- 
energien der Romanen und Slawen belehren. Bei aller gelegentlich zum Aus- 
bruch kommenden Abneigung, ſelbſt bei den ſcharfen, oft zum Kriege drängenden 
politiſchen Gegenſätzen ſind beide Völkerfamilien weit mehr als die Germanen 
durch das Bewußtſein einer gemeinſamen Abſtammung gebunden. Immer ziel- 
ſicherer und nachhaltiger drängen ſie zu einem Zuſammenſchluß, der nicht am 
wenigſten in der Erkenntnis wurzelt, daß ihre Kultur als Arbeitserzeugnis ihrer 
beſten Söhne ein unausſchaltbarer Faktor in der Menſchheitsentwicklung iſt. 

Auch bei den Germanen wird diefe Erkenntnis eines Tages zu einem Grund- 
ſatz ihrer nationalen Politik geworden ſein — vielleicht aber erſt, wenn der An- 
ſturm artfremder Raffen oder ihrer Kultur den Chor ſelbſtſüchtiger, kurzſichtiger 
Einzelwünſche gewaltſam zum Schweigen gebracht hat. Geſchlechter können dar- 
über ins Grab ſinken, hinter denen aber eine materialiſtiſche, mindeſtens ſtark 
vermiſchte Weltanſchauung ſteht, die für die eigene Volks vergangenheit nur noch 
ein antiquariſches Intereſſe hat, die nicht mehr die Fähigkeit beſitzt, ſich als einen 
vollwertigen geiſtigen Einſatz für die Zukunft der menſchlichen Kultur einzu- 
ſtellen. Gewiß iſt eine Verzagtheit nicht angebracht; die Lebensbejahung der 
beſten Söhne Germanias wird in ſolchen Zeiten der Not auch die Trägſten und 
Blindeſten aufrütteln und mitreißen in den Kampf um die höchſten Zdeale der 
Menſchheit, um das Recht elementarſter Empfindungen, um Sprache, Geiſt und 
Kultur. Gewiß wird aber auch in einer fernen Zukunft auf der Erde einmal der 
Würfel rollen um die Kultur im engeren Sinne, wie ſchon einmal, als die Welt ver- 
weichlichter Genüßlinge vor dem Sturm aus dem germaniſchen Norden zuſammen- 
brach. Aber damals ftand einem vergreiſten Volke eine geſundheitsſtrotzende Volks- 
jugend gegenüber, die für die Zukunft nicht ſo ſicher iſt, wenn wir nicht mehr die 
Mittel finden, dem ſchleichenden Gifte materieller Weltanſchauung entgegenzu- 


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Selbſt in Deutſchland begegnet man vielfach noch ganz verkehrten ober aben- 
teuerlichen Vorſtellungen vom Wert und Weſen deutſcher Kulturarbeit und den 
Mitteln, mit denen ſie geſchaffen wurde. Man erwäge nur die eine Tatſache, daß 
von ben 65 Millionen Bewohnern allein des gegenwärtigen Deutſchen Reiches 


Türmers Tagebuch 111 


mehr als 27 Millionen in Gebieten wohnen, die vor tauſend Fahren noch keine 
deutſche Heimſtätte hatten. Die beiden deutſchen Großmächte, Oſterreich 
und Preußen, — ich folge hier einem Vortrage des Profeſſors Dr. Dietrich Schäfer 
auf der letzten Jahresverſammlung des Vereins für das Deutſchtum im Auslande, 
„ſind auf Kolonialboden erwachſen, und das gleiche gilt von der Macht des Hauſes 
Wettin, die durch Jahrhunderte wetteifernd neben ihnen ſtand. Von den drei 
deutſchen Millionenftädten liegen die beiden größten, Berlin und Wien, auf 
Kolonialboden, und die dritte, Hamburg, nahe der Grenze, bie dem Deutſch- 
tum vor tauſend Jahren noch geſteckt war. Das gleiche, wie von Wien und Ber- 
lin, gilt von dreien unter den fünf Halbmillionenſtädten des Deutſchen Reiches, 
von Breslau, Dresden und Leipzig. Faßt man die Geſamtheit der 
in Mitteleuropa wohnenden Oeutſchen ins Auge, fo ergibt ji, daß Die Hälfte 
von ihnen Boden bewohnt und Fluren bebaut, die von den Vorfahren oſtwärts 
ihrer urſprünglichen Sitze gewonnen worden find ... 

Vergegenwärtigen wir uns einen Augenblick, wie dieſe Errungenſchaften 
guftande kamen. Immer und immer wieder tönt uns die Antwort entgegen: Das 
verdanken die Deutiden ihrer Rriegerfraft; fie wurden Herren, weil fie 
ihre Feinde zu Dienern machen konnten. Die Redewendung, daß man behaupten 
müſſe, was das Schwert der Väter errungen habe, ijt faſt zu einer ſtehenden ge- 
worden. Es ift erklärlich, daß das Ausland, im Weiten wie im Often, diefe Auf- 
faſſung ſich gern zu eigen gemacht, zum Teil zuerſt vertreten hat und kräftig verficht. 
Sie dient tagtäglich noch ale Hetzmittel gegen uns. Daß fie aber in 
Deutſchland gedankenlos nachgebetet wird, iſt ſchwer zu verſtehen und kann nicht 
ſcharf genug getadelt werden. Vielleicht geſchieht es im Zuſammenhang mit der 
Tatſache, daß unfer geſchichtliches Fntereffe noch ganz überwiegend weft- und fiid- 
wärts orientiert ift, nach den Richtungen, von denen her wir empfangen, nicht nach 
denen, wohin wir gegeben und erworben haben. Die finnlofe Phraſe vom ‚Zug 
nach dem Weſten“ die wohl geeignet ift, unter Umftänden eine Pariſer Reife zu 
rechtfertigen, aber geſchichtlichen Erkenntniswert nicht beſitzt, ſpielt vielleicht auch 
mit. Seit den Zeiten der Völkerwanderung hat unſer geſchichtliches Handeln, fo- 
weit es dauernde Erfolge errang, ſolche im Oſten geerntet. Die Sprachgrenze, wie 
fie fid) im Weſten damals herausbildete, ift bis heute, von unweſentlichen Ande- 
rungen abgeſehen, die gleiche geblieben. Ich möchte das hier, gegenüber ſo oft 
auftauchenden gegenteiligen Behauptungen, ſtark betonen, auch nicht weniger 
nachdrücklich hervorheben, daß bie Verſchiebungen, die ſtattgefunden haben, ziem- 
lich ebenſoſehr zugunſten des Deutſchtums wie des welſchen Wefens fid) voll- 
zogen. Auch die ebenfalls ſo oft gedankenlos nachgeſprochene Behauptung von 
bet beſonderen Neigung des Deutſchen, feine Sprache und Volksart aufzugeben, 
hält näherer Betrachtung nicht ſtand [gilt nur für die ältere deutſche Geſchichte. 
D. T.]; ſie entſtammt gewiſſen Erfahrungen des Bedientenzeitalters 
unſerer Geſchichte. Wer fie bis in die Anfänge unſeres ſtaatlichen Werdens rück- 
blickend verfolgt, der wird innewerden, daß eine unendliche Fülle von Tatkraft 
nicht nur, ſondern auch von Selbſtbewußtſein notwendig war, um zu erreichen, 
was keiner andern abendländiſchen Nation auf Europas Boden möglich war: die 


112 Türmers Tagebuch 


Erweiterung des Beſitzes auf das Doppelte feines urſprünglichen Umfangs. Fragt 
man aber nach der Löſung des Rätfels, fo gibt das Motto, das einer unſerer tüch- 
tigſten Forſcher auf dem Gebiete ber sſtdeutſchen Koloniſation feiner Erſtlingsarbeit 
voranſetzte:ʒ „Nicht das Schwert des Ritters, ſondern der 
Pflug des Bauern eroberte das Land‘, zwar nicht eme erſchöp⸗ 
fende, aber eine zugleich richtige und knappe Antwort. 

Es wird Ihnen gegenüber der Behauptung, daß die oſtdeutſche Koloniſation 
ein Friedenswerk war, vielleicht die Bemerkung auf den Lippen ſchweben: „Aber 
das Ordensland Preußen! Haben dort die deutſchen Ritter nicht durch einen 
langen, blutigen Krieg die urſprüngliche Bevölkerung faſt vernichtet?“ Die Tat- 
ſache iſt richtig; aber wie vollzog ſie ſich? Der Orden kam, zu Hilfe gerufen von 
den Polen, die ihr Land nicht zu decken vermochten gegen die Angriffe der un- 
ruhigen und kriegstüchtigen heidniſchen Nachbarn. Daß dann der Orden den Lohn 
ſeiner Taten für ſich nahm, nach vollbrachtem Werk ſich nicht wieder heimatlos 
machte, können ihm doch vernünftigerweiſe auch die Polen nicht zum Vorwurfe 
machen. Aber, hört man weiter fagen, der Orden bat dann 1310 durch Beſitz- 
ergreifung des Landes links der Weichſel, Pommerellens, auch polniſchen Boden 
ſich zu eigen gemacht. Wohl! Aber er hat das getan, als die deutſche Einwanderung 
dort unter Leitung der angeſtammten Herren, der pommerelliſchen Fürſten, deren 
Stellung auch keineswegs einfach mit polniſchem Beſitzrecht identifiziert werden 
darf, ſchon längſt begonnen hatte, und irgendwelche Gewalt iſt weiterhin bei der 
fortſchreitenden Germaniſierung des Landes nicht von ihm angewandt worden. 
Er ſtieß hier nicht auf einen Widerſtand, wie ihn die lettiſchen Preußen geleiſtet 
hatten. 

And das eben iſt nun das Bezeichnende, was beharrlich überſehen wird, weil 
man verſäumt, den Blick auf das Ganze zu richten, daß nämlich die geſamte 
Ausbreitung des Deutſchtums nach Oſten mit der einzigen 
Ausnahme des Ordenslandes und einiger mitteldeutſcher Landſtriche unter der 
Führung ber angeftammten einheimiſchen Herrſcher er- 
folgt ijt. Die mittelalterlichen Königreiche Polen, Böhmen und Ungarn, das Groß- 
fürſtentum Litauen und die anſtoßenden kleinruſſiſchen Fürſtentümer umfaßten 
das ganze, große Gebiet von Danzig bis Belgrad und von Pilſen und Agram bis 
Kjew und Wilna, Landſtriche, in ihrer Geſamtheit mehr als doppelt fo groß wie 
das gegenwärtige Deutſche Reich, in denen heute gegen 12 Millionen Deutfche 
ihre Wohnſitze haben. Das Schwert iſt aber nie und nirgends gezogen worden, 
um deren Vorfahren dort heimiſch zu machen. Sie find dorthin gekommen, g e- 
rufen von ben einheimiſchen Königen und Herrfdern, 
die mit vereinzelten Ausnahmen nicht deutſchen Urſprungs waren, oder von den 
Grundherren, die fid) wie ihre Herrſcher von den ländlichen und ſtädtiſchen Siede- 
lungen der Fremden Vorteil verſprachen. Die Kriege, die zwiſchen deutſchen Für- 
ſten und den polniſchen, böhmiſchen, ungariſchen Herrſchern geführt worden ſind, 
haben ſchlechterdings gar nichts zu tun mit der deutſchen Ein- 
wanderungz fie haben, wie die Kriege mit ſonſtigen Nachbarn, andern Zwecken 
gedient. Die Einwanderung ift von den ein heimiſchen Gewalten 


Türmers Tagebuch 115 


ohne jede deutſche Machtäußerung gewünſcht, veranlaßt, 
gefördert worden; verbriefte Zuſagen haben die Geladenen willig ge- 
macht. So kann man gegenüber heutigen polniſchen, tſchechiſchen, madjariſchen 
Anmaßungen mit gutem Grunde darauf beſtehen, daß der deutſche Bewohner 
jener Lande an dem Boden, den er bewohnt und bebaut, genau dasſelbe Anrecht 
hat wie ſein Polniſch, Tſchechiſch, Madjariſch oder ſonſt eine Sprache redender 
Landsmann, daß die Stadt, die er von der Väter Zeiten her bewohnt, ihm in 
gleicher Weiſe Heimat iſt wie dieſem. In der erdrückenden Mehrzahl der Fälle 
bat er den Acker, den er bebaut, einſt aus dem Waldland gerodet oder durch Trocken- 
legung von Sümpfen urbar gemacht. 

Es liegen beträchtliche, ehemals ſlawiſche Gebiete zwiſchen der Weſtgrenze 
der genannten Reiche und der deutſch-ſlawiſchen Sprachgrenze des 9. und 10. 
Jahrhunderts. Ihre Bewohner find zum großen Teil unter die Herrſchaft deutſcher 
Fürſten gekommen, doch auch keineswegs immer durch bloße rohe Gewalt; der Ber- 
lauf der Germaniſierung iſt dann aber auch hier ein durchaus friedlicher. In einem 
ſehr weſentlichen Teil dieſer Lande, in ganz Mecklenburg und Pommern, iſt ſie 
auch wieder unter einheimiſchen Fürſten erfolgt, die hier, wie in Schleſien, ſelbſt 
deutſch wurden. An die Stelle der Oberherrſchaft, die Heinrich der Löwe dieſen 
Fürſten mit Waffengewalt aufgezwungen batte, ijt nach feinem Tode deren Gelb- 
ſtändigkeit getreten. Die ſächſiſche Herzogsgewalt hat die Rechte des Löwen wohl 
noch beanſpruchen, nicht aber mehr üben können. Die angeſtammten Herren 
konnten in ihren Ländern ſchalten und walten wie jeder Reichsfürſt. Als deutſcher 
Fürſt lenkt ein Nachkomme Niklots noch heute Mecklenburg ...“ 

* * 


K 

Wahrlich, heilſam iſt's, einmal den Blick aus der kleinlichen Enge unſeres 
politiſchen Alltags auf die großen Horizonte unſerer Vergangenheit zu lenken. 

And uns an ihr aufzurichten! 

Denn es iſt eine falſche, undeutſche Lehre, daß unſer neu geeintes Reich der 
Inbegriff aller weltpolitiſchen Weisheit, letzte und höchſte Erfüllung deutſchen 
Weſens ſei. Deutſcher war Deutſchland wohl früher, als es noch nicht „geeint“, 
aber Weltreich war, als der Deutfche Kaiſer „der“ Kaiſer war. In [o kläglichen 
Zuckungen auch das Heilige Römiſche Reich Deutſcher Nation endlich verröcheln 
mußte, es war nicht immer ein Popanz und Kinderſchreck, es hatte — wie 
oft! — die größte Macht der mittelalterlichen Welt in ihren Grundfeſten erzittern 
laffen — das römiſche Papſttum. Und wenn gerade dieſen Stalienzügen der fhul- 
buchgeſchichtliche Fluch aufgeklebt iſt, daß ſie eitles Beginnen geweſen, nur unnützes 
Blut gekoſtet und heilloſe Verwirrung im Reiche hinterlaſſen hätten, ſo kann nur 
ein Geſchlecht, dem der Nutzen ſein Gott iſt, das herrlich Heldenhafte, Heroiſche in 
der gewaltigen Staufertragödie nicht ſehen. Als kluge, nüchterne Rechner ſind ihnen 
die Hohenzollern gewiß überlegen, an Glanz und Wuchs können ſie ſich mit den 
Hohenſtaufen nicht meſſen. Gibt es denn im heutigen Deutſchland nur diefen 
einen Maßſtab des Nutzens und Erfolges, keinerlei andere Werte? 

Ohne damit ein Urteil verbinden zu wollen: ein größerer Zug liegt denn doch 


wohl in jenen Kämpfen um die Weltherrſchaft, als in den familiären en 
Der Türmer XV, I 


114 Formers Tagebuch 


der Markgrafen mit ihrem aufſäſſigen Adel (ber aber in feinem Rechte fap) auf 
märkiſchem Sande. Sene Zeit der alten Kaiſer war es, wo das deutſche Schwert 
aus der Scheide flog, wann immer in der Fremde der deutſche Name beſchimpft 
wurde. 

Nein, es ift nicht an dem, daß der Oeutſche allezeit nur befliſſen geweſen 
wäre, fremden Machthabern aus der Hand zu freſſen, aus der eigenen Haut in 
eine fremde zu ſchlüpfen; daß er nur Sinn gehabt für den Nutzen, das Geſchäft; 
daß er vor jedem Erfolghabenden auf den Knien gelegen und nur den geringeren 
Bruder getreten hätte. Wieviel ungebrochene, überſchäumende Jugendkraft, 
heldiſche Kühnheit, trotziges Selbſtbewußtſein mit tiefſter Treue gepaart; wieviel 
Zartheit, Güte und Großmut; wieviel Ehrfurcht vor dem Göttlichen neben vor- 
wärtsſtürmendem Erkenntnisdrang und furchtloſer Wahrhaftigkeit; wieviel Liebe 
zur Natur, zur Heimat, zur Scholle, und doch dies Hinausſehnen in die Ferne: 
wieviel — Gotteskindſchaft in unſeren viel gerühmten, viel geſcholtenen, ſelten doch 
mit verſtändnisgroßen Augen erſchauten Altvordern! 

Gedenke, daß du ein Oeutſcher biſt! Nicht nur Vorgeſetzter oder Untergebe- 
ner, Kapitaliſt oder Arbeiter, Inhaber dieſes Ranges oder Träger jener Uniform, 
Mitglied dieſer oder jener Partei, dieſer oder jener Klaſſe, Kaſte, Clique, — nein, 
Deutſcher, zuerſt Deutſcher! Und auch nicht nur Katholik oder Proteſtant, ſondern 
auch hier Seutjder, zuerſt Deutſcher! Denn nie kann das Bekenntnis zu einer 
Religionsgemeinſchaft die Treue zu einer Volksgemeinſchaft löſen; tut es das 
dennoch, dann ijt es feine religiöfe Bekenntnisfrage mehr, ſondern eine politiſche 
Machtfrage, alſo ganz gewöhnliche Fälſchung, Schwindel. In unſeren Tagen ſind 
ſolche Mahnungen nicht überflüſſig, wo der unſelige deutſche Kaſtengeiſt wieder 
Blüten zeitigt, wie man ſie nicht mehr für möglich halten ſollte, wo man eifrig 
am Werke ift, den Frieden der religiöfen Bekenntniſſe zu untergraben und nach 
erprobter alter Übung Oeutſche gegen Oeutſche zu hetzen, weil ihnen ja auf andere 
Weife doch nicht beizukommen ijt. Da möchte man wahrlich Thors Hammer ent- 
leihen, um feinem fo leicht übertölpelten Volke das Deutſchgedenken in die ſpröde 
Stirn unvertilgbar einzuhämmern. 


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Alrich von Lichtenftein 
Von Hans Zimmer 


Klin ſteiriſche Burg im oberen Murtal mitten im Maienzauber des 
J Sabres 1224. Auf keckem Felſenvorſprung hebt fie fid), eine Inſel, 
OY über bas grüne Meer weit ausgedehnter Wälder, deren ftarter Harz- 
WG duft emporfteigt zu dem jungen Ritter oben im Fenſter. Oreiund- 
zwanzig, vierundzwanzig — älter iſt er gewiß nicht. Er blickt und lauſcht in die 
ſonnige Landſchaft, er atmet tief und voll Wohlbehagen, ein glückliches Lächeln 
liegt auf ſeinen Zügen, und halblaut ſpricht er zarte, anmutige Verſe vor ſich 
hin, die Lenz und Liebe, Jugend und Oichtergabe ihm in die Seele gelegt: 


„In dem Walde ſüße Töne Alſo blüht mein hoher Mut. 
Singen Heine Vdͤgelein, Im Gedanken ihrer Güte, 
Auf der Aue Blumen ſchöne Die mir reich macht mein Gemüte, 


Blühen gen des Maien Schein. Wie der Traum dem Armen tut.“ 


Dreißig Jahre ſpäter ſitzt derſelbe Ritter in demſelben Fenſterbogen, aber 
diesmal iſt ſein Antlitz nicht zu der nahen und fernen Landſchaft gekehrt, ſondern 
zu dem tonſurierten Herrn im ſchwarzen Gewande, dem er — Schreiben und 
Leſen hat er nach der Sitte der Zeit nicht gelernt — eine lange Kette holpriger 
und ſteifer Verſe in die Feder diktiert. Aus dieſen gequälten Verſen wird nach 
und nach ein dürres, ödes, umfangreiches Buch, deſſen trockener Berichterſtatterton 
ſchlecht übereinſtimmt mit den phantaſtiſchen Unternehmungen, die es berichtet. 
Es erzählt, verflochten mit ein paar Liebesbriefen in Reimen und mit den glücklicher 
gelungenen Liedern jener poetiſch fruchtbareren Jugendzeit, den „Frauendienſt“ 
ſeines Verfaſſers. Schon als Knabe, als er noch die „Gerte ritt“, hat dieſer Mann 
ſich der konventionellen Verehrung einer hochgeſtellten Dame gewidmet und 
begeiſtert das Waſſer getrunken, in dem ſie die Hände gewaſchen. Als er im Anfang 
des dritten Jahrzehnts feines Lebens die Ritterwürde empfangen, beſchloß er, 
ein Spiegel des Minnelebens zu werden, und es begann eine Reihe humorloſer 
Donquichoterien, abſtruſer Sentimentalitäten, chevaleresker Verbohrtheiten: die 


116 Zimmer: Ulrich von Lichtenſtein 


kahle Alltäglichkeit des Lebens ſollte ſich zum Romane geſtalten. Mit allen Qualen 
mittelalterlicher Chirurgie ließ ſich der junge Liebesheld von einer Haſenſcharte 
befreien, die ſeiner Dame mißfiel, höchſt eigenhändig hackte er ſich einen Finger 
herunter, von dem die Verehrte glaubte, er hätte ibn längſt in ihrem Dienſte 
verloren, als König Mai gekleidet turnierte er 1224 in Frieſach, ein paar Jahre 
danach erhob er fid mit großem Troß zu Meſtre im Venezianiſchen als Venus, 
aufgeputzt mit langen Zöpfen und angetan mit prächtigem Frauengewande, zu 
einer langen Turnierfahrt, bei der er täglich zu Ehren ſeiner Herrin eine Anzahl 
Speere verſtach und an ſattelfeſte Gegner goldene Ringe verteilte. Aber Kärnthen 
und Oberſteiermark ging der wunderliche Zug nach Niederöſterreich bis an die 
mähriſche Grenze, die am 27. Mai 1227 erreicht wurde. Ein großes Turnier, 
am 50. Mai, dem Pfingſtmontag, zu Kloſterneuburg ausgefochten, machte den 
Schluß. 

Dieſer Mann war ein Narr, und Herzog Friedrich II. von Sſterreich tat 
ganz recht daran, einen zweiten, ähnlichen Zug, den der Ritter 1240 in der Glanz- 
rolle des Königs Artus unternahm, etwas unſanft zu beenden! 

O nein! Alrich von Lichtenſtein war vielmehr ein ungewöhnlich tätiger 
und kraftvoller, ſchlauer und zielbewußter Mann, ein Diplomat, ja mehr: ein wirt- 
lich bedeutender Politiker; Rührigkeit, Weltklugheit, Geſchäftsgewandtheit, wenn 
es fein mußte, auch Rückſichtsloſigkeit, zeichneten ihn aus vor Hunderten feiner 
Standesgenoſſen. Um die Wende des 12. und 13. Jahrhunderts geboren, am 
Hofe des Markgrafen von Sitrien in allen ritterlichen Fertigkeiten geübt, trat er 
mit neunzehn oder zwanzig Jahren das Erbe ſeines Vaters Dietmar an, forg- 
fältig darauf bedacht, es zu bewahren und zu vermehren. Raſch gelangte er zu 
einflußreichen Ämtern, war ſchon 1241 Truchſeß der Steiermark, wurde von Herzog 
Friedrich dem Streitbaren mit wichtigen Miffionen betraut und trat, als in der 
herrenloſen Zeit nach der unglücklichen Leithaſchlacht von 1246 der ſteiriſche Adel 
ſelbſt im Lande zu walten und das Recht zu finden hatte, bald an die Spitze ſeiner 
Genoſſen. Fünf Jahre danach leitet er eine Bewegung der ſteiriſchen Landes- 
herren gegen die ungariſche Herrſchaft unter Bela, ſpäter unter Stephan, und 
als die Ungarn endlich wirklich vertrieben wurden, war dies zum guten Teile 
ſein Werk. Den Gipfel feiner politiſchen Laufbahn erreichte er 1272, drei ober 
vier Jahre vor ſeinem Tode, mit ſeiner Ernennung zum Landesmarſchall und 
Landesrichter der Steiermark unter König Ottokar. 

Wie ſollen wir uns dieſe Zwieſpältigkeit im Leben und Charakter Ulrichs 
erklären? Die Wiſſenſchaft hat ſich damit begnügt, fie feſtzuſtellen und zu ver- 
zeichnen: pſychologiſche Vertiefung und Streben nach lebendiger Menſchenerfaſſung 
möchten dagegen verſuchen, bae Qtátjel gu löſen. Wir erinnern uns, daß Ulrich 
beſchlo ß, ein „Minnefpiegel“ zu werden: warum ſollte dieſer energiſche Mann, 
als ihm einige Zugendlieder gelungen waren, nicht auch kalt und nüchtern be- 
ſchloſſen haben, ein Dichter zu werden? Wir wiſſen von einem engliſchen Schrift- 
Heller des 19. Jahrhunderts, daß er dies tat, und wir wiſſen von ihm auch, aus 
welchem Motiv er es tat: brennender Ehrgeiz war diefes Motiv. Benjamin Disraeli- 
Beaconsfield wußte — auch in feinem „Contarini Fleming“, feiner „pſychologiſchen 


Zimmer: Ulrich von Lichtenſtein 117 


Autobiographie“, ſpricht es fid) deutlich aus —, als er ins öffentliche Leben zu 
treten bereit war, nichts als das eine: er wollte berühmt werden um jeden Preis. 
Konnte ihm die Politik, konnte ihm die Romanſchriftſtellerei dazu verhelfen? 
Er ſchwankte in ſeiner Entſcheidung, ſeine Neigung freilich gehörte mehr der Politik; 
nur wenn in dieſer ſeine Kraft verſagen ſollte, würde ihn die Dichtung empor- 
tragen müſſen zu der Höhe des Lebens, zum Vollgenuß des Ruhmes — aber 
Erfolg haben, Aufſehen erregen, von ſich reden machen wollte er auf jeden Fall, 
ſo oder ſo. | | 

Die Parallele mit Ulrich) von Lichtenſtein liegt auf der Hand: bie ſicher be- 
kannten Tatſachen aus dem Leben Disraelis erhellen mit einem Schlage die Ber- 
wirrtheit der pſychiſchen Verhältniſſe bei Ulrich. Politik und Dichtung — Disraeli 
trieb ſchließlich die eine, ohne die andre zu laſſen: er ſchrieb ſeine zahlreichen 
Romane, und er wurde 1868 Premierminiſter von England, wie Ulrich feinen 
„Frauendienſt“, fein lehrhaftes „Frauenbuch“, ſeine Lieder ſchuf und in der Steier- 
mark der Erſte ward nach dem König. 

Für beide war die Dichtung nur ein wichtiges, aber doch minder wichtiges 
Mittel zum Zweck der Befriedigung ihrer Ruhmesgelüſte; mußten ſie in der 
Praxis des Lebens einmal wählen zwiſchen Politik und Kunſt, zwiſchen realer 
Welt und idealer, ſo ſiegte bei beiden unfehlbar die erſte, und wo im Tatenſturm 
der Politik ber volle Lorbeer zu brechen war, bedurfte es nicht des ſchmäleren 
Reiſes des Dichters oder komödiantenhafter Minnefahrten. 

Denn wir wiſſen es: auch Ulrids im „Frauendienſt“ geſchilderte Abenteuer 
ſind zum Teil — aber nicht die oben erzählten — erdichtet. Wie Ulrich, abgeſehen 
von ſeinen erſten, duftigen, natürlich empfundenen Liedern, auch als Lyriker 
nur Virtuos war, ſich immer vor Zuhörern dachte, dieſe ſtets anredete, ihnen 
immer mit wichtigtuender Geſte oſtentative und effektvolle Mitteilungen aus 
feinem ſorgfältig konſtruierten Innenleben machte, fo hat er auch in feinen epifd- 
didaktiſchen Werken nicht bloß unter der Einwirkung der höfiſchen erzählenden und 
lehrhaften Dichtung feiner Zeit geſtanden, ſondern auch hier die Wahrheit h in- 
tet die Wirkung geftellt: aud) der ſchmachtende Troubadour Ulrich war nur der 
ehrgeizige Ruhmjäger Ulrich. 

So bleibt uns von ihm als Menſch nur der Politiker, als Dichter nur der 
Lyriker ſeiner früheſten Zeit. Aber wie jener glanzvoll in der Geſchichte ſeines 
Landes weiterlebt, jo dieſer in der Literatur und — Muſik. Im Sabre 1830 ſaß 
an einem gotiſchen Spitzbogenfenſter eines ſtattlichen Hauſes in Venedig ein 
junger deutſcher Komponiſt mit feinem, ſchmalem Geſicht an einem einfachen 
Mahagonitiſchchen, ſchaute verſonnen hinaus auf den Kanal und ſchrieb dann, leiſe 
vor ſich hinſummend, auf ein vor ihm liegendes Blatt Notenpapier die holde Weiſe: 

In dem Walde ſüße Töne fingen kleine Sógelein... 


Dieſer Tondichter war Felix Mendelsſohn- Bartholdy. 


Wr 


118 Mein Buchhändler 


Mein Buchhändler 


IR ch bekam neulich ein Schreiben von einem Berliner Amtsgericht, in dem ich las: 
JAG) „Über das Vermögen des Herrn N. in Firma N. iſt das Konkursverfahren eröffnet. 
Aue, die zur Maffe etwas ſchuldig find, uſw.“ Briefe von Gerichten ſollen ja ſelten 
den Empfängern reine Freude bereiten, dieſer machte mich betroffen, nein, geradezu betrübt. 
Mein Buchhändler in Konkurs! Es war zu Ende gegangen mit dieſem guten, alten, in den 
dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts gegründeten Berliner Geſchäft! 

$86 habe Herrn N. nie geſehen und dennoch ſtets Achtung und Sympathie für ihn ge- 
hegt. Wie pünktlich, wie liebenswürdig ijt er unausgeſetzt in den zehn Jahren unſeres Ber- 
kehrs geweſen! Durch ihn wurde mir der Begriff „Kulturträger“ verſtaͤndlich. Eine Poft- 
karte an ihn, und nach zwei Tagen traf in der öſtlichen Provingftadt, in der ich lebe, ein in 
München oder Leipzig, Paris oder Stockholm verlegtes Buch ein. Er ſchickte mir die umfang- 
reichſten Anſichtsſendungen, die intereſſanteſten Probehefte, er war rührend aufmerkſam. 
Und fo geduldig! Ich hatte einen Kredit bei ihm, dehnbar wie Kautſchuk, nie berechnete er 
mir Paketporto, mochte ich mir in drei Wochen auch ſechsmal je zwei Bücher kommen laſſen. 
Was in aller Welt mochte nur das Geſchäft dieſes wahrhaft noblen Kaufmanns zugrunde ge- 
richtet haben? Unordentliche Buchführung vielleicht, wilde Börſenſpekulationen, Wetten, 
koſtſpielige Diners, enorme Toilettenrechnungen ſeiner Gattin? Ach, ich weiſe alles ab und 
will lieber meine Vermutung ausſprechen, daß die Gründe zu dieſem Geſchäftsniedergang 
anderswo liegen, und zwar in der unverbeſſerlichen Eigenheit des großen deutſchen Publi- 
tums, fo wenig Bücher zu kaufen. Es iſt hierüber ſchon fo oft geklagt worden, aber es ſcheint, 
als ob es in den breiten Kreiſen unſeres Volks — und die ſind es doch hauptſächlich, von denen 
das Beſtehen des Kaufmanns, ſelbſtverſtändlich auch der Bücherlieferanten abhängt — gar 
nicht beſſer mit dem wird, was ich den Willen zum Buch nennen möchte. 

Man ſehe fid einmal die Bücherfchränte oder -bretter der deutſchen Durchſchnitts- 
familien an. Im oberſten Fach — natürlich! — verſchiedene Gefamtausgaben von KAaſſikern, 
ſteif gebunden und nie heruntergenommen. Dann Fachliteratur des Mannes, vielleicht das 
Konverſationslexikon, und endlich, wenn man ſich nach dem umſieht, woran man denkt, wenn 
man „die Bücher“ ſagt, entdeckt man in einer Ede zuſammengepfercht ein paar achtlos an- 
einandergereihte Bände. Manchmal, ſelten, iſt etwas Gutes darunter, dann iſt es oft geſchenkt 
worden, meiſtens beſteht der ſtolze Beſitz lediglich aus Senſationsſchmökern, Reifebddern und 
Bahnlektüre. Das Wertloſe, wahllos vereint, nichts von dem Beſtreben, bedachtſam eine 
der Perſönlichkeit entſprechende Bibliothek anzulegen und weiterzuführen. Bücher kauft der 
richtige Oeutſche trotz aller in den letzten Fahren durchgemachten Wandlungen immer noch 
nur zu Weihnachten, und da nur für andere, wenn ihm nichts anderes einfällt. Man gibt ſein 
Geld lieber für Sichtbareres aus, wüͤnſcht fid auch ſolches. Ich denke an den Geburtstags- 
tiſch einer reichen jungen Frau, den ich vor kurzem fab. Schweres Silber gab es da und pradt- 
volles Kriſtall, ſchöne Schmuckſachen glänzten und feine Spitzen, und in all dieſer Herrlich- 
keit lag ein einziges unſcheinbares, braunes Bändchen: „Ibſens geſammelte Werke“ zum 
Preis von einer Mark fünfzig! Fragen wir ſolche Bekannten, warum ſie keine Bücher kaufen, 
ſo hören wir: „Das iſt ja hier nicht nötig, es gibt eine ſo gute Leihbibliothek am Ort.“ 

Sa, die Leihbibliothek, fie ift fo billig, fo bequem, man benutzt fie fleißig und freudig. 
Aber wie geſundheitsgefährlich auch das Lefen der von Hunderten benutzten Bücher ift, daran 
denken in unſerem hygieniſchen Zeitalter immer erft ſehr wenige. 8d kannte eine Dame, 
die fid) auf die Reife ſtets eigenes Trink- unb Waſchgerät aus Gummi ſowie den Inhalt eines 
halben Wäſcheſchranks mitnahm, weil fie fid) vor den Hotelfachen ekelte, und die doch ohne 
Zittern und Zagen die abgegriffenſten geliehenen Bücher las. Der einzige Roman aus letzter 


IS 


mein Buchhändler 119 


Zeit, von dem ich weiß, daß ſelbſt eingeſchworene Abonnenten der Leihbibliothek ihn kauften, 
weil ſie ihn dort nicht raſch genug erhielten, war — „Das gefährliche Alter“. 

Die beliebte Behauptung, daß ein großer Bücherbeſitz bei Umzügen gar zu läſtig — 
als ob die ſchweren, ſonſt aber fo anſpruchsloſen Bücher ſchwieriger zu befördern wären, als 
eine Gaskrone, eine Marmorbüfte etwa! — kann eben fo wenig ſtandhalten wie die, daß das 
Bücherkaufen bei den heutigen teuren Zeiten ein unerſchwinglicher Luxus fei. Es ift ja wahr, 
daß der Lebensunterhalt jetzt recht koſtſpielig iſt, aber wenn man ſich die Welt, die ich im Auge 
habe, anſieht, die ſich gern die gute, ja die gebildete, nennt, dieſe ganzen ungeheuer weiten 
Bürgerkreiſe mit ihren Ausſtrahlungen nach oben und unten, ſo muß man finden, daß ſie trotz 
aller Steuern und Teuerungen ganz vergnüglich weiterlebt, (id) nährt, fih putzt. Für Dinge 
wie eine Autofahrt, die Zulaßkarte zum Aufſtieg eines Luftballons, ein Fäßchen Kaviar, zahlt 
man ohne Wimperzucken das Drei- und Sechsfache des Betrags, den ein Buch koſtet. Wo 
findet man den Zuſchnitt des Haushalts, die Geſelligkeit, vereinfacht, wo hört man, daß Deli- 
kateſſenhändler, Schnapsbrenner trotz aller Abſtinenzbeſtrebungen, daß gewandte Konfektionäre 
bankrott gehen? Sagt beim Einkauf eines Möbels, eines Porzellan- oder Kleidungsſtücks 
der Kaufmann nachſichtig und herablaſſend: „Nun, es wird Ihnen doch nicht auf dieſe kleine 
Differenz ankommen!“ ſo bleibt ſelten einer feſt, nein, man zahlt, ſeufzend vielleicht, doch 
getröſtet von dem Bewußtſein, ſich einer Notwendigkeit gebeugt zu haben. Aber drei bis ſieben 
Mark für ein Buch ausgeben — man kann heute ſogar noch billiger meiſterlich ausgeſtattete 
Bände haben — das iſt verſchwenderiſch, töricht, beinahe anormal. 

Die Deutſchen erfüllt es von Zeit zu Zeit mit großem Stolz, wenn reiſende Ausländer 
erklären, daß Berlin die ſauberſte und modernſte Stadt Europas ſei, daß der Betrieb auf unſern 
Bahnen, in unſern Fabriken uſw., ſich durch unübertreffliche Schnelligkeit und Zuverläſſigkeit 
auszeichne. Solche Lobſprüche gehen dann durch alle Zeitungen. Noch nie aber habe ich 
geleſen, daß ein Fremder ſtaunende Anerkennung über deutſche Hausbüchereien geäußert. 
Irgendwo auf dem Lande in Schweden ſah ich einmal bei einem einfachen Gärtner zwei Wände 
ſeines Wohnzimmers von großen Bücherregalen bedeckt, in einem unbedeutenden däniſchen 
Gaſthaus fand ich den Wirt im Beſitz einer Sammlung von etwa vierhundert Büchern. Wie 
ſelten trifft man bei uns, auch bei ſozial viel Höherſtehenden, ſolchen Reichtum. Haben wir 
aber das Recht, uns ein Kulturvolk zu nennen, ehe es nicht allgemein ein unabweisbares Be- 
dürfnis geworden iſt, den Trank für unſern Geiſt aus Schalen zu trinken, die für immer unſer 
eigen ſind, und denen, die uns Führer ſind, Freunde, nie verſagende Geſellſchafter, die unſrer 
Zeit die feinſten Verte ſchenken, ein materielles Zeichen unſres Danks zu geben, indem wir 
ihre Werke erwerben? 

Muß es denn noch geſagt werden, daß die fatale Abneigung des Durchſchnittsdeutſchen 
auf einem Blatt ſteht mit dem Abſchnitt Dichterelend? Es ijt noch nicht lange her, daß für 
Liliencrons Hinterbliebene die öffentliche Mildtätigkeit in Anſpruch genommen, daß nach 
dem Tode Fife Frapans ein Brief bekannt wurde, in dem fie ihren Verleger dringlich um Geld 
bat. Doch ſolche Vorkommniſſe ſind läſtig und peinlich, man bedauert ſie, aber kann man 
dafür? — Es wird weiter geliehen. Gern brüſtet ſich der Philiſter damit, daß er einmal durch 
Zufall den bekannten Schriftſteller X., den Dichter Z. kennen gelernt hat, er beſitzt vielleicht 
ein Bild, Briefe von ihnen, aber nicht ihre Werke. 

| Agathe Doert 


Hae 


120 Stoffe 


Stoffe 


WM ie? 

IK d greife auf gut Glück dreißig Roman- und Novellenbücher aus bem Auslagefenſter 
29 einer Buchhandlung heraus — was babe id) für Stoffe in der Hand? 

— Fünfzehn brave und vierzehn verſtiegene erotiſche Probleme und, wenn's 
gut geht, einen ſchüchternen Verſuch, neben der erotiſchen Haupthandlung einen Ausblick in 
die Welt der Arbeit um uns zu eröffnen. Mächtige Atemzüge tut die grandioſe Welt der moder- 
nen Arbeit, um ſich wirft ſie mit funkelnden, mit erſchütternden Problemen, ihr Pulsſchlag 
hämmert durch die Welt — und unſere Schriftſteller wiſſen nichts davon. Sie zimmern recht- 
eckig oder in Spiralen an ihrem Liebesgeſchichtchen, ſchnitzeln an verbogenen Gliedern, malen 
erlogne Wunden auf und beſtreichen alles mit einem ordentlichen Firnis, wenn's für gute Leute 
ſein ſoll, oder durchbeizen's tüchtig, wenn's für die andern iſt. 

Woher kommt das? Warum ſchweigt den Dichtern unſre Welt der Arbeit, warum 
lockt ſie nur das Tingeltangel einer Liebesſpielerei? Die Maſchinen ſingen Eiſenlieder, Züge 
donnern über Brücken, eine Stadt erſtrahlt im Feuerwerk der Technik, Völkerteile kämpfen 
Rieſenkämpfe um das Recht auf Sonne, weithin hellen die Gelehrten dunkle Gänge auf in 
wunderbaren Labyrinthen, es wogt und gärt um uns von neuen Zeiten — da taucht der Dichter 
ſeine Feder ein, und: der brauſende Geſang der Arbeit verſtummt, die neue Welt verſinkt, 
mit angelernten geſtrigen Gebärden greift er mit den Dichterhänden in den Tag von heute — 
und wenn er feine Hände aus der Flut zurückzieht, was hat er drin? An der einen klebt ihm cin 
vertrocknetes Reimlein von Herz und Schmerz, und in der andern klappert eine dürre, mit 
Flitterkram behängte Liebesgeſchichte. 

Warum? 

Anſre Dichter ſtehen an den Rändern. Sie ſtehen nicht im brauſenden Strom der neuen 
Arbeitsrhythmen. Sie wandeln an den Ufern mild in blumigen Gefilden, nur da und dort 
läßt einer ſpieleriſch im ſeichten Waſſer den Strom an ſeine Knöchel kommen. Sie haben den 
Ruf noch nicht gehört: „Auf den Nod, herunter mit der Blümelwejte, fort mit der Lavalliére, 
die Bruſt entblößt, kopfüber in den Strom und drin geſchwommen mit großen Stößen und 
mit einem Herzen, das die Takte dazu hämmert!“ Die nickenden Blumen an den Ufern ziehen 
deshalb nicht weniger ſchön vorüber. 

Ohne Bild geſprochen: 

Der Dicher von heute gehört auf den Kontorbod. 

Der Dichter von heute gehört in ben knatternden Maſchinenſaal.“ 

Der Dichter von heute gehört ins Armenamt und Waiſenamt. 

And nicht als lächelnder Beſuch, dem man auf einem Rundgang alles zeigt, was man 
ihn ſehen laſſen will. Nicht als Volontär, der dilettantiſch ſpielt. der nicht in Reih und Glied 
ſteht, den der neue Arbeitsrhythmus nicht auf feinen Schwingen trägt — nein, fein Brot muß 
er verdienen wie die andern im Kontor und an Maſchinen — Y 

Dann fefe er die Feder an und ſchreibe — nicht früher. 

Wie aber iſt es heute? Nicht wahr, wenn einer ſich auf ſeine Vijitentarte drucken ließe: 

Ferdinand Schragmaier 
Dichter 
das wärc lächerlich, unendlich lächerlich? Aber im Ernſt: Tun ſie etwas anderes als das, wenn 
fie fid) vom zwanzigſten Sabre an darauf verſteifen, Nur-Dichter fein zu wollen? Sie ver- 
lieren die Kontakte mit dem Leben. Sie quälen fic die mühevollſten Konſtruktionen ab, und 
an den neuen blitzenden Fragezeichen des Lebens gehen ſie vorbei. 
Indeſſen dieſes neue Leben rollt und pulſt und — nach ſeinem Dichter ruft. 


Fritz Müller, Zürich 
St 


Der hungernde Dichter | 121 


Der hungernde Dichter 


Ca A ewig, ſchreibt Grete Meißel-Heß im „Allgemeinen Beobachter“ (Hamburg, Hugo 
, @ A Erdmann), ift der Dichter vor allem der, ber am Leben leidet; aber es gibt 
ën 2 zwei Arten von Leid — ſolches, das der Seele Ausblicke in Weiten gibt, die dem 
gemeinen Sinn verborgen bleiben, und ein anderes, das die Seele verſchließt, erniedrigt, zer- 
mürbt, kurzum das ſchmähliche Leid, wie es das gröbſte Handgemenge mit brutalen Sorgen 
erzeugt; und dieſes Leid, dieſer gemeine Kampf führt den Dichter nicht zu immer neuen Be- 
freiungen, ſondern ſchließlich in die Tiefe, aus der kein Lied mehr klingt. Wie es ſelbſt im natür- 
lichen Kampf ums Daſein eine Grenze gibt, bis zu der er überhaupt ausleſend wirkt, und wie 
unterhalb dieſer Grenze die blinde Vernichtung einſetzt, die der Biologe das nonſelektoriſche 
Moment nennt, fo auch im Kulturleben ... So wenig wie der Dichter ſich heute als folder 
oſtentativ durch lange Haare, ungepflegtes Außeres, weltverlorene Manieren zu markieren 
pflegt, ſo wenig gehört auch das Attribut des Elends zu einem weſentlichen Beſtandteil des 
geiſtig produktiven Menſchen ... Der geiſtig e Kampf gebührt uns und läßt uns wach- 
fen, nicht aber der beſtändige Kampf gegen gemeine Alltagsſorgen, der herab- 
mindert und ſchließlich bricht.. .. Seine Miete nicht bezahlen können und delogiert zu 
werden, ijt vielleicht noch „erſchütternder“, als kein religiöfes Dogma mehr anerkennen zu 
können oder zwiſchen intuitiver und intellektualer Metaphyſik zu ſchwanken. Dieſes Schwanken 
hat, wenn der Dichter von echtem Stamm ijt, irgendein Refultat, das die Seele ergreift 
und weitet, während der Kampf mit dem Hauswirt oder ſonſt einem Gläubiger nur gemein 
iſt und gemein macht. Man leſe einmal Strindbergs „Lebensgeſchichte“ und ermeſſe all 
die Kraft, die hier in Galle und Schwefel gewandelt werden mußte im Kampf mit be- 
ſchämender Not; oder man durchblättere, wenn einem ſchon das Leben nicht genügend ſagt, 
das Buch von Pelladan „Das allmächtige Gold“, in dem gezeigt wird, wie ein großer Muſiker 
und fein edles Weib in ein Elend geſtoßen werden, das die Danteſche Hölle ijt und mit Pro- 
ſtitution, Gelbftmord, Wahnſinn und völligem Zuſammenbruch aller Kunſt endet ... Wiefo 
ein knurrender Magen, der Kampf mit niedrigen Brutalitäten dazu verhelfen foll, die Welt- 
anſchauung zu läutern, iſt ſchlechterdings unerfindlich. Aus ſeinem Hunger macht ein Künſtler 
höchſtens einmal in ſeinem Leben ein ſtarkes Lied, wie Hamſun es tat, aber aus dem Wachstums- 
prozeß feiner Seele, aus dem unerſchöpflichen inneren Leid am Unzulänglichen wird des Dich- 
ters Lebenswerk... Wenn uns Kulturroheiten im FInnerſten trafen, fo hilft gegen den namen- 
loſen Ekel oft nur die Flucht, etwa eine Reife, die darüber hinausbringt. Um z. B. den Roheiten 
des Lärms, die uns das Blut vergiften, zu entgehen, dazu bedarf es des Geldes, und darum 
wären wir irrenhausreife Narren, wenn wir es „verachteten“. Glaubt man, daß dem Dichter 
das Wohnen in einem Haus, das inmitten eines ruhigen Gartens liegt, etwa an der Seele 
ſchadet? Sch glaube, daß ibm ein ſolches Wohnen in einem grün umfriedeten, geſicherten 
Heim, in der Nähe der Kulturzone, die er braucht, wohl mehr zu innerer Spannkraft verhelfen 
wird, als wenn er in der Dachſtube eines Hinterhauſes zwiſchen dröhnendem Fabriklärm hauſen 
muß. Es klingt ſo unſagbar töricht, ſolche Selbſtverſtändlichkeiten erſt noch ausſprechen zu 
müſſen, aber der Vorwurf fällt wohl auf die Herausforderung zurück. Und wie ſteht es mit 
dem kranken Dichter? Wird er beſſer ſchaffen können, wenn er eine notwendige ärztliche Be⸗ 
handlung oder gar eine Operation, eine Kur oder eine Erholungsreiſe ſich nicht verſchaffen 
kann, und ſind ſolche Sachen für irgendeinen andern Preis als Geld zu haben? Der kranke 
Dichter — das ift überhaupt ber wundeſte Punkt unſerer fozialen Organiſation. Man kann 
ruhig behaupten, daß für alle Stände ohne Ausnahme in dieſer Hinſicht beſſer vorgeſorgt iſt 
als gerade für den Schriftſteller. Für ihn beſtehen keine Krankenkaſſen, keine freien oder billi- 
gen Sanatorien, er kann zugrunde gehen, wenn er einmal einige Wochen am Schaffen ver- 


a 


122 Oer hungernde Didter 


hindert ijt, oder wenn ihm nicht „milde Gaben“ feiner Angehörigen helfen. Ein trauriges und 
ſchmähliches Kapitel unb höchſte Zeit, daß hier Abhilfe geſchaffen wird! Ober ijt bie Reife, 
das Hinausfliegen einmal im Jahre für den geiſtig ſchaffenden Menſchen keine Notwendig⸗ 
keit? Gibt's denn überhaupt irgend jemanden, der tiefer von der Wonne erfüllt wird, die ein 
Stück ſchöner Welt zu bieten vermag, als gerade der Künſtler? Während aber Reiſeſtipendien 
für die bildende Kunſt an der Tagesordnung ſind, exiſtiert nichts dergleichen für den Oichter, 
der doch vor übermächtiger Sehnſucht nach einer Reife, nach einer Fahrt in den Frühling oder 
Sommer oft zu vergehen meint. Ohne Preiſe und Ehrengaben kann er, falls er vermögens“ 
los iſt, nur ſchwer dieſe Sehnſucht, die gewiß in ihrer Erfüllung vielfache Verheißungen fiir 
ſeine Kunſt birgt, befriedigen. Denn ſchafft er im kleinen, ſo verbraucht er, was er auf dieſe 
Art einnimmt, zum Leben, und ſchafft er im großen, ſo darf er monatelang vorher ſich nicht 
in Kleinarbeit ausgeben, verdient alſo nichts und kann mit dem erſten Buchhonorar die Schulden 
bezahlen, die ſich während der Monate, da aller Kleinbetrieb ruhen mußte, angehäuft haben. 
Hier tut die Ehrengabe edle und notwendige Dienfte. Es ift febr billig, wenn man meint, daß 
der „Materialismus“ für das Leben des Dichters abgelehnt werden müſſe und ein Dafein 
„im Geiſt und um des Geiſtes willen“ gefördert werden muß. Gerade um dieſes Dafein im 
Geiſte führen zu können, bedarf es eines guten Zuſtandes unſerer materiellen Zellen und einer 
Aufſpeicherung aller Energien zum g e i fti gen Kampf, nicht zum materiellen! Mit welchem 
Recht man von dem Oichter fordern ſollte, was ſelbſt den größten Myſtikern nicht gelungen 
iſt, nämlich eine vollkommene Entmaterialiſierung, iſt nicht recht erfindlich. Ohne eine einiger- 
maßen wirtſchaftliche Freiheit gibt es weder eine „ſeeliſche“ noch eine geiſtige noch ſonſt eine 
Freiheit. 

Die ſoziologiſche Forderung, die neuerdings Rudolf Goldſcheid erhoben hat — die For- 
derung nach Menſchenökonomie geht davon aus, daß die heutige Geſellſchaft NM e n- 
ſchen konſumiert anſtatt bloß ihren Ertrag an Arbeitswerten, daß fie das biologiſche Ra p i- 
tal durch Raubbau verwüſtet, anſtatt ſeine Ertragsfähigkeit auf Zinſen anzulegen, — ein 
Vorgang, den wir als die „kulturelle“ Form von Kannibalismus bezeich- 
nen müſſen. Es iſt höchſte Zeit, daß auch die geiſtig Schaffenden ſich dagegen organiſieren, 
ſich auf dieſe Weiſe verzehren, vernichten zu laſſen, und daß die Geſellſchaft erkennt, daß, um 
wertvolle Produkte zu erzielen, die produzierende Kraft erhalten werden muß. 

An anderer Stelle habe ich über dieſen gemeinen Kampf der geiſtigſten Arbeiter ge- 
ſagt: „Das Zarteſte im Menſchen, das Tönen ſeiner Seele — Anima, die Stimme wird ge 
brochen von der Not.“ Und wenn ſich heute endlich die Schaffenden gegen dieſen unwürdigen 
Druck auflehnen und zuſammenraffen, ſo ſei das freudigſt begrüßt, ſie wären Toren, wenn 
ſie ſich weismachen ließen, daß die Freuden der Sonne, der Geſundheit, des blauen Meeres 
und des grünen Waldes, des geſicherten Heims und der Familie immer nur den Banauſen 
gebühren, die man überall trifft, wo Schönes für Geld zu kaufen iſt, und die am wenigſten 
daraus inneren Vorteil ziehen. Der Mitwelt aber möge es recht eindringlich zum Bewußtſein 
kommen, was ſie verliert, wenn ſie duldet, daß „Stimmen“ von der Not zerbrochen werden. 
Warum laßt ihr ſie verfliegen, verwehen, verdorren, dieſe Stimmen? Warum duldet ihr, 
daß fie in Notrufen ſich heifer gellen? Warum verwendet ihr fie ale Ausſchreier für Jahr- 
marktsbuden? 

Sorget, forget für dieſe Stimmen, wo immer Not und Jammer ſie zu erſticken und zu 
erwürgen drohen: eine nationale Pflicht, ſolange Nationen überhaupt beſtehen und nicht eine 
einzige Weltbürgerſchaft! Sorget, denn ſind es nicht die deutlichſten, die vernehmbarſten 
Stimmen der Nation? 

Dy 


Ramſch 123 


Ramſch 


* er gelegentlich das Bücherlager der modernen Warenhäufer beſichtigt, wird be- 
fremdet fein über den Namſch, der da bunt durcheinanderliegt. Man behandelt 
die Bucher wie andere Waren, wie Stoffe oder Neider und kauft und verkauft 
fie je nad Neuheit, Mode und Ausſehen, mit Vorliebe in Maſſen, Reſtauflagen zu billigen 
Preiſen mit beſonderer Berückſichtigung des Titels, der Größe, des Umfangs und vielleicht 
auch des Verfaſſers, fo daß man anpreiſen kann: Statt 5 A für 14 18 9. Das zieht, nament- 
lich wenn es fid) um fchlüpfrige Geſchichten mit pikanten Titelbildern handelt. 8m Herrenhauſe 
hat am 20. Mai der frühere Kultusminiſter von Studt beklagt, daß ein Berliner Warenhaus 
erſten Ranges höchſt bedenkliche Literatur zu Spottpreiſen verkauft. Dieſe Beſchwerden wurden 
in den Berichten jener Zeitungen, die hauptſächlich die großen Warenhausreklamen bringen, 
unterdruͤckt. Ein auch in Literatur machender Berliner Rechtsanwalt ſteht im Dienſt der Waren- 
häuſer als eine Art von Zenſor der Zeitungen, um zu ermitteln, ob ſie irgendwelche Auslaſſungen 
bringen, die den Warenhäuſern unangenehm ſind, um einzuſchreiten, formale Berichtigungen 
zu verlangen oder auch mit gerichtlichen Klagen auf Schadenerſatz zu drohen. Dieſer Zenſur 
unterwirft ſich ohne Murren die demokratiſche und parteiloſe Preſſe. Erſt das Geſchäft und 
dann Freiheit und Volkswohl! 

In einem der erſten Berliner Warenhäuſer ſah ich kürzlich ein Büchlein unter dem 
Titel: „Marie von Ebner⸗Eſchenbach, Uneröffnet zu verbrennen u. a.“ Was Marie von Ebner- 
Eſchenbach geſchrieben, kann man unbeſehen kaufen und weitergeben. Erſt zu Hauſe bemerkte 
id den Schwindel, der nun einmal im Weſen bes Warenhaufes liegt. Das Büchlein enthielt 
nur zu einem knappen Drittel einen Beitrag der berühmten Verfaſſerin. Mehr als zwei Drittel 
rührten von anderen, minder wertvollen Schriftſtellern her. (Das innere Titelblatt brachte 
nähere Angaben.) Auf dem äußeren Titelblatt ſtand allein Marie von Ebner-Eſchenbach als 
Verfaſſerin des Heftes angegeben. Man mußte alfo annehmen, daß das ganze Büchlein Er- 
zählungen von ihr enthielt. Der äußere Titel war eine falſche Vorſpiegelung. Dieſes Ber- 
fahren grenzt an Betrug. Ferner las man auf dem Titelblatt: „Verlag der Oeutſchen Bücherei, 
Berlin W.“, ohne Jahreszahl, ja ſelbſt polizeiwidrig ohne Angabe des Druckers! Wer Bücher 
in Varenhäuſern kauft, wird faft immer fo oder fo getäuſcht. 

Kurz vor Weihnachten hörte ich, wie in einem erſten Berliner Warenhauſe eine fein 
gekleidete Dame ein Buch als Geſchenk für einen Symnaſiaſten verlangte. Da lag „Immer 
manns Oberhof ftatt 6 M für 3.50 M“. „Zit das ein Roman,“ frug die Dame, „oder mehr 
landwietſchaftlich?“ Die Verkäuferin wußte nicht zu antworten. Ausweichend empfahl ſie 
ein anderes Buch: „Quer durch Afrika“, „etwas größer mit bunten Bildern ſtatt GA nur 
2.25 M“. Erfreut kaufte die Dame das Buch. Das Geſchäft war gemacht. 

In den Varenhäuſern find auch gute Bücher zu haben, aber fie koſten dann ebenſoviel 
wie in jeder Buchhandlung. Noch immer ijt der Struwwelpeter ein beliebtes Buch. Aber 
bie Warenhäufer können ihn nicht billiger als mit 1.80 A verkaufen. Da preifen dann die Ber- 
käuferinnen Nachahmungen an, Struwwelſuſe u. dgl., um den halben Preis und billiger. Dieſe 
Nachahmungen find aber wertlos und werden zu teuer bezahlt, mögen fie auch denkbar billig fein. 

Auffallend und unerklärlich iſt es, daß der Börſenverein deutſcher Buchhändler ſich nicht 
dazu entſchließen kann, diefe Warenhäuſer, obwohl fie das ehrliche Buchhändlergewerbe wie 
die gutgläubigen Bücherkäufer auf bas empfindlichſte ſchädigen, aus ihrer Vereinigung aus- 
zuſchließen, um ihnen das Geſchäft zu erſchweren. P. O. 


* 


124 Der Verbrecher in der Literatur 


Der Verbrecher in der Literatur 


n ie Entwidlungsphajen bes Verbrechers in der Weltliteratur verfolgt Karl Hans 
AG, Strobl im „Literariſchen Echo“ und konſtatiert halb reſigniert, halb ſpöttiſch: 
Da, er hat eine glänzende Karriere gemacht. 

Zuerſt freilich, als Gut und Böſe noch ſcharf getrennt einander gegenüberſtanden, hatte 
er ſchlechte Zeiten. „Alle Antipathien waren auf ihn gehäuft, zumeiſt hatte er auch die ſeines 
Dichters.“ Die Franz Moor, Wurm, Geßler waren vollſtändige Böſewichte. Schiller ift 
pathetiſcher Moraliſt, ſeine Ethik ausgeſprochen dualiſtiſch. Allein neben dem Verbrecher Franz 
Moor ſteht der Verbrecher Karl Moor. „Schiller hat den Verbrecher aus Verzweiflung, den 
Verbrecher aus Ehrgeiz, den Verbrecher ,aus verlorener Ehre“, lauter Edelmenſchen, die 
durch die Umstände auf die ſchiefe Bahn gedrängt werden. — Aber der edle Kern bleibt von 
allem Böſen undberührt.“ So illuſtriert der Fall Schiller „die künſtleriſch-ethiſche Grund- 
anſchauung von zweieinhalb Sabrtaufenben". 

Das neunzehnte Jahrhundert brachte eine Wendung. „Es begann jid) für jene Ber- 
brechernaturen ſelbſt zu intereſſieren, die Schiller noch als ein weiter nicht erklärbares fitt- 
liches Phänomen angeſehen hatte.“ Goethe ging auf dieſem Wege voran und brachte in ſeiner 
Fauſtdichtung die beiden Möglichkeiten zum Gott und zum Teufel zu klarem Ausdruck. „Für 
die Romantik, ein foon febr verfeinertes und pfychologiſch febr intereſſiertes Zeitalter, wurde 
das Verbrecherproblem ungemein wichtig. Die Goetheſche Methode der äußeren Zweiteilung 
blieb beliebt. In Hoffmanns ‚Elirtere des Teufels“ wird aus dieſer Zweiteilung ein wabn- 
ſinniger Totentanz“, und Edgar Ellan Poes Meiſternovelle „William Wilſon“ fällt in dieſelbe 
Richtung, nur daß hier an die Stelle der „raſenden Phantaſtik Hoffmanns die angelſächſiſche 
Raltblütigleit“ tritt. Allein „der Begriff des pſychologiſchen Zwanges mußte erft popularifiert 
werden. Lombroſos Arbeit liegt auf dieſem Wege und von großen Kunſtwerken Ooſtojewskis 
„Raskolnikow“. Und Nietzſche bewundert die kraftvollen, bedenkenfreien Verbrechernaturen 
der Renaiffance und wünſcht eine Zukunftsmenſchheit von gleich heiterer Gelaſſenheit im 
Bejahen der Rechte der Perſönlichkeit.“ So iſt gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts 
bie Anſicht allgemein, „daß der Verbrecher unter gewiſſen Umftänden entſchuldigt werden kann.“ 

Aber auch das genügte nicht. „Der Durchſchnittsleſer will, daß auch feine Erholung 
jenes Element der Spannung trage, die ihn den ganzen Arbeitstag fiber knechtet.“ So ent- 
ſteht folgerichtig bie Detektivgeſchichte. „Auch bier ift Poe zum klaſſiſchen Autor geworden 
Sein ‚Mord in der Rue Morgue“, das Vorbild unzähliger Geſchichten, fein ‚Geheimnis von 
Marie Rogets Tod“, das Beiſpiel einer muftergültigen kriminaliſtiſchen Unterjudung, eines 
Indizienbeweiſes von ſuggeſtiver Kraft.“ Das Beiſpiel Poes beweiſt zugleich, „daß (wie erſt 
kürzlich im T. ausgeführt) die Spannung an fid kein unkünſtleriſches und unliterariſches Ele- 
ment zu fein braucht.“ Die raffinierte Ausnutzung der Spannung hat freilich erft ein Autor 
des letzten Jahrzehnts erreicht: Conan Doyle. „Von feinem Meiſter Poe bat er die ſcharf⸗ 
ſinnige Kombination des Tatſächlichen, bie geſchickte Schürzung des Knotens, aber er erleichtert 
ſich die Arbeit, indem er ſich ausſchließlich auf den äußeren Effekt des Zuſammenſtoßes zwiſchen 
dem Vertreter der Sozietät und dem Vertreter der aſozialen Verbrecherinſtinkte beſchränkt.“ 

Bis auf Sherlock Holmes endete dieſer Zuſammenſtoß „mit der Niederlage des Ber- 
brechers und dem Sieg der ſozialen Ordnung. Sebt aber vollzieht fih die letzte bedeutſame 
Wandlung vor unſeren Augen. Die Bühne unſerer Tage iſt angefüllt von den Triumphen 
des Verbrechers. Das Smarte iſt Trumpf, das Lebenstüchtige imponiert uns unter allen 
Umſtänden. Und Verbrechertum ift Lebenstüchtigkeit in ihrer leichteſtfaßlichen Form. Die 
Erfolge des Verbrechers entſcheiden ſich vor unſern Augen, und er verdankt es ſeiner höchſt 
anziehenden Miſchung von Leidenſchaft und Kaltblütigkeit, von Frechheit und Glück wenn 


Literatur und Gerichtsvollzieher 125 


er die bewußte Million oder den fabelhaften Schmuck davonträgt. Nicht zu vergeſſen: 
die Miß!“ Kurz: „Früher wurde der Held zum Verbrecher, jetzt wird der Verbrecher zum 
Helden.“ 

„Sp ijt der Verbrecher aus dem Roman in bie Detektivgeſchichte gekommen und aus 
der Tragödie ins Senſationsſtück oder in den Schwank. Einmal in feiner Laufbahn ſchien es, 
als wolle er ſich dauernd in einem dramatiſchen Neuland, in der Komödie, niederlaſſen. Das 
war, als Gerhard Hauptmanns ‚Biberpelz‘ auf die Bühne kam.“ Aber in der Geftalt ber 
Mutter Wolfen war zuviel „deutſche Gemütstiefe“. Dieſe Mutter Wolfen war „ein altes 
Waſchweib und durchaus nicht ſalonfähig. Sie hat dem ſmarten Amerikaner weichen müſſen, 
dem Virtuoſen in feinem Fach, der ein wohlaſſortiertes Lager von Paradoxen und Aphorismen 
hat (im Wildeſchen Ausverkauf billig erſtanden) und dem die halben Millionen zufliegen und 
— nicht zu vergeſſen — die Miſſes.“ 


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ENDETE 
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Literatur und Gerichtsvollzieher 


Einem deutſchen Schriftſteller wurde kürzlich ſeine Bibliothek gepfändet. Vergeblich er- 
hob er vor Gericht den Einſpruch, daß feine Bücher fein Handwerkszeug feien und er ohne diefe 
Hilfsmittel ſeinen Beruf nicht ausüben, ſeinem Erwerbe nicht nachgehen könne. Der Richter 
meinte: da der Schriftſteller geiſtig ſchöpferiſch („produktiv“) tätig ſei, brauche er keine Bücher. 
Nun, der Fall iſt heute wohl mehr eine abſonderliche Einzelerſcheinung und wird ſich vielleicht 
ſo bald nicht wiederholen. Aber er erinnert an einen andern. Detlev von Liliencron hat das 
auch erlebt und in ſeinem „Mäcen“ ſelbſt geſchildert: 

„Daß ich hungern mußte, habe ich immer ertragen. Ich ſagte mir, daß es nicht anders 
möglich fei in Oeutſchland, ehe man fid als Schriftſteller durchgebiſſen hat; daß es vielen 
anderen auch ſo ergangen ſei. Böſe aber war es, daß die Gerichte mir bei den Pfändungen 
mein Handwerkszeug fortnahmen, meine Nachſchlagebücher und Lexika. 
Sedem Schuſter, jedem Schneider im Vaterlande wird, bei Pfändungen, das zum Leben 
Notwendigſte gelaſſen durch das Geſetz. Der Dichter macht eine Ausnahme: es werden ihm 
die Hilfsbücher genommen. Als es anfing, mir beſſer zu gehen, konnte ich jahrelang nicht vor- 
wärtskommen, weil nach jeder Rezenſion, nach jeder Kritik über Bücher von mir, mochten fie 
(die Kritiken) gut oder ſchlecht ſein, die Gläubiger mit erneuter Wut und verſtärktem Eifer über 
mich herfielen und mich peinigten. Ich zitterte, wenn ich Beurteilungen über meine Schriften 
las; ich wußte, daß mir wenige Tage darauf eine Klage überreicht wuͤrde. 

Auch das wußte ich, daß die Menſchen, die jetzt meiner Armut wegen nicht mit mir um- 
gehen mochten, fpdter prahlen würden: Ja, ja, den hab' ich genau gekannt, das war mein 
Duzbruder. 

Als mein erſtes Drama zum erſtenmal aufgeführt wurde, batte der Intendant die Lie- 
benswürdigkeit, mich einzuladen. Ich mußte unter irgendeinem Vorwande abſagen. Ich hätte 
keine fünf Mark aufbringen können, geſchweige denn die dreihundert Mark, die Fahrt und Auf- 
enthalt mich gekoſtet hätten. Statt daß ich in der Loge des Intendanten ſaß, ging ich bei ſtarkem 
Unwetter um fieben Uhr abends zu dem vor der Stadt wohnenden Gerichts vollzieher, 
um mit dieſem, der in dienſtlichen Angelegenheiten mein täglicher Beſuch war, etwas in Ord- 
nung zu bringen. Ehe ich fein Haus erreichte, geriet ich in der Dunkelheit in eine Dornenbede 


126 Geiſtiges Allgemeingut + Grimms Märchen 


unb zerriß mir Geſicht und Hände. Während im felben Augenblicke Hunderte von Menfchen 
ihre Operngläfer auf die Bühne richteten, wo mein Stück gegeben wurde, arbeitete ich mich, 
aus Hunger und Schwäche kaum mehr leben könnend, mit Anſtrengung aus den Dornen heraus. 
Blutend traf ich bei dem Exekutor ein. Dieſem muß ich hier herzlichen Dank ausſprechen: er 
blieb ſtets freundlich, blieb immer ein Menſch. Als id) wegging von ihm, entlieh ich drei 
Mark. Er war der einzige, der mir ſeinerzeit Geld vorſchoß: ein ſtrenger Gerichts vollzieher 
einem deutſchen Dichter! Mit den drei Mark wußte ich, was ich ausführen wollte: mich finn- 
los betrinken. Ich, der ich nie oder ſelten über den Durſt in den Krug ſehe, ging an jenem 
Abend ins Wirtshaus und trank, bis ich bewußtlos wurde.“ 


Geiſtiges Allgemeingut 


Aus Anlaß des Parſifalſtreits iſt zum Ausdruck gekommen, daß die weitaus überwiegende 
Mehrheit in dem Urheberrecht von heute einen Segen ſieht und die Zeiten der ewigen Schutzfriſt 
nicht mehr zurückwünſcht, ja daß man nicht einmal Sehnſucht empfindet nach einer Erhöhung 
der Schutzfriſt auf 50 Jahre, wie ſie in Frankreich, Rußland und anderen Staaten beſteht. 
Woraus erklärt ſich dieſe Wandlung? „Es iſt mehr und mehr die Erkenntnis durchgedrungen,“ 
antwortet die „Berl. Volkszeitg.“ darauf, „daß, wenn die erfolgreichen Werke berühmter Auto- 
ren von dieſen und ihren Angehörigen ſowie den Verlegern lange Jahre hindurch ausgenutzt 
ſind, das Volk und im weiteren Sinne die Welt ein Anrecht darauf haben, die Schöpfungen als 
Allgemeingut zu erklären. Oft genug hat man es erlebt, daß derartige Werke, wenn die Schutz- 
friſt beendet war, für den zehnten Teil der bisherigen Preiſe, ja bisweilen noch zu niedrigeren 
Beträgen gekauft werden konnten, weil dann die Honorare, Tantiemen und die hohen Ge- 
winne der Einzelverleger fortfielen. So mancher Urheber, deffen Arbeiten bis dahin nur kleine- 
ren Kreiſen zugänglich waren, ift erft populär geworden — 30 Fahre nach feinem Tode, ſobald 
von allen Seiten billige Volksausgaben veranſtaltet wurden.“ 


& * 


Grimms Märchen 


Hundert Jahre alt find fie nun. Eigentlich kommen fie einem viel älter vor, und in 
Wirklichkeit (inb ſie's ja auch. Aber bie Gebrüder Jakob und Wilhelm Grimm hoben einen Schatz, 
der — wer weiß, wie lange ſchon? — in unſerem Volke ruhte. Aus den Tiefen der wunder- 
ſamen Empfindungswelt deutſcher Ackerbauern vor allem holten die Brüder das Gold, das ſie 
zur Münze prägten. Unermüdlich haben die großen Sprachforſcher dann herumgefeilt, um 
eine möglichſt vollkommene Form zu ſchaffen. Sie lernten aus der Kritik, die der erſte, 1812 
abgeſchloſſene Band der Märchen fand, und vervollkommneten ihr Werk von Auflage zu Auf- 
lage. So entſtand jener ſchlichte, ſchmuckloſe und doch ſo lebendige Ton, der den unmittelbaren 
Weg zum Herzen der Kinder findet. Es läßt (id) tagtäglich beobachten, daß unſere Großjtadt- 
kinder, die oft monatelang keinen grünen Fleck zu Geſichte bekommen, zu den Grimmſchen 
Märchen in dem ſelben innigen Verhältnis ſtehen wie die Kinder vom Lande, die durch die 
Natur weit eher auf dieſe Lektüre vorbereitet ſind. Die geſunde Bildlichkeit der Sprache wirkt 
alfo auch heute noch durch fid) allein. Kann die Nachwelt größeres Lob ſpenden ? 


» * 


Strindberg über Goethe » Das Verlagstheater 127 


Strindberg über Goethe 


Goethe, ſchreibt Strindberg in feiner demnächſt bei Georg Müller erſcheinenden Gelbjt- 
biographie „Einſam“, iſt in letzter Zeit zu allen möglichen Zwecken benutzt worden, am meiſten 
zu der albernen Ausgrabung des Heidentums. Goethe hat ja viele Stadien des Lebens 
durchlaufen ... er hat alle Fragen gelöft; alles ift fo einfach und klar, daß ein Kind es begreifen 
könnte. Dann aber kommt ein Zeitpunkt, wo die pantheiſtiſchen Erklärungen des Unerklär- 
lichen verſagen. Alles erſcheint dem Siebzigjährigen fo eigentümlich merkwürdig unbegreif- 
lich. Da iſt es, wo die Myſtik hervortritt und ſelbſt Swedenborg in Angriff genommen wird. 
Aber nichts hilft; ſondern der Fauſt des zweiten Teils beugt ſich vor der Allmacht, verſöhnt 
ſich mit dem Leben, wird Philanthrop (und Mooranbauer), halber Sozialiſt und wird mit 
allem Apparat der katholiſchen Kirche von der Lehre der letzten Dinge apotheoſiert. Der Fauſt 
des erſten Teils, der aus dem Ringen mit Gott als ein ſiegender Saulus hervorgegangen ift, 
wird im zweiten Teil ein geſchlagener Paulus. Das iſt mein Goethe! Aber obwohl jeder fei- 
nen Goethe hat, kann ich nicht verſtehen, wo man den Heiden findet ... Nein, es ijt das ganze 
Leben und die darauf gegründete Dichtung Goethes, die mich anſpricht. Es war ein älterer 
Freund des Dichters, der ihm in feiner Jugend den Schlüffel zu feiner Schriftſtellerei gab: 
„Dein Beſtreben, deine unablenkbare Richtung iſt, dem Wirklichen eine poetiſche Geſtalt zu 
geben; die anderen ſuchen das ſogenannte Poetiſche, das Imaginative, zu verwirklichen, aber 
das gibt nichts wie dummes Zeug.“ ... Der Reiz, Goethe zu leſen, liegt für mich in der leich- 
ten Hand, womit er alles anfaßt. Es iſt, als könne er das Leben nicht ganz ernſt nehmen; ob 
es nun keine feſte Wirklichkeit hat oder unſeren Gram und unſere Tränen nicht verdient. Ferner 
[eine Unerfchrodenheit, mit der er fid) den göttlichen Mächten nähert, denen er jid) verwandt 
fühlt; feine Verachtung von Formen und Konventionen, fein Mangel an fertigen Anſichten; 
ein ſtetes Wachſen und Sichverjüngen, wodurch er immer der Jüngſte ijt, immer an der Spitze, 
ſeiner Zeit voraus. 

* * 


Das Berlagstheater 


Das deutſche Theaterleben, lieft man in der „Kreuzztg.“, wird immer amerikaniſcher. Ein 
Symptom dieſer Wandlung iſt das Verlagstheater — dasjenige Theater, das nicht mehr einem 
Theaterdirektor, ſondern einem Bühnenverleger gehört, der es ſich geſichert hat, um 
den Werken ſeines Verlages jederzeit eine ſichere Unterkunftsſtätte zu bieten. In Berlin iſt dieſe 
Art des Theaterbetriebes jetzt faſt zur Regel geworden. In den letzten Tagen ijt bekannt ge- 
worden, wie ſich der Münchener Dreimaskenverlag um das Neue Schauſpielhaus bemüht hat. 
Das Münchener Künſtlertheater ſowie eine Wiener Bühne beherrſcht er bereits vollftändig. Ebenſo 
ſteht es mit dem Theater des Weſtens, dem Neuen Theater und dem Trianontheater in Ber- 
lin, die völlig dem Verlag Felix Bloch Erben, hinter dem der bekannte Theaterkönig Sliwinski 
ſteht, unterworfen find. Zwei andere Berliner Bühnen, das Luſtſpielhaus und das Refidenz- 
theater, ſind in hohem Grade abhängig von dem Verlag Albert Ahn in Köln, während das 
Friedrich-Wilhelmſtädtiſche Schauſpielhaus in beſonders intimer Fühlung mit der Vertriebs- 
ſtelle deutſcher Bühnenſchriftſteller ſteht. Was für Berlin gilt, gilt auch fiir einen großen Teil 
der Provingtheater. Für die Dramatiker iſt das Verlagstheater freilich eine wenig giinftige 
Einrichtung. Sie haben nur Ausſicht auf Aufführung ihrer Werke, wenn fie zufällig dieſen Ver- 
legern naheſtehen. Hier gewinnen nun in der Gegenwart die Hof- und Stadttheater 
ihre ſtarke Bedeutung, weil ſie ſich infolge ihrer Mittel ganz unabhängig von den Verlegern 
machen können. 

* * 


123 Finden Sie mich intereſſant? + Ein galantes Gedicht aus dem 17 Jahrhundert 


Finden Sie mich intereſſant? 


Der Wiener Stephan Großmann läßt im „Berl. Tagebl.“ das Bild ſeines Lands- 
mannes Artur Schnitzler in dieſen köſtlichen Lichtern erfunkeln: 

„Ein Schulkamerad Schnitzlers erzählte mir: „In der Schule bat er nieiſtens einen ſehr 
Ihönen Samtanzug getragen.“ So ſoigniert, mit einem zart romantiſchen Anhauch, ein wienc- 
riſcher Daudet, iſt Schnitzler bis zum fünfzigſten Geburtstag geblieben. Man kann ſich den 
milchweißen und rotblonden Buben vorſtellen, der mit großen, melancholiſchen, die Erfah- 
rungen eines Jahrtauſende alten Volkes bergenden Augen dreinſchaute, auch wenn man das 
Bild des reifen Artur Schnitzler betrachtet. Seine bekannte Stirnlocke, ohne die man ſich in 
Wien einen modernen Dichter gar nicht mehr vorſtellen kann, erſetzt jetzt den Samtanzug. 
Es ſteckt in beiden eine delikat beherrſchte Freude an ſich ſelbſt, eine liebenswürdige ſtumme 
Anfrage: Finden Sie mich intereſſant? ...“ 


* * 
* 


Gin galantes Gedicht aus dem 17. Jahrhundert 


In dem erſten der von Hermann Meiſter, Heidelberg, herausgegebenen „Kleinen Saturn 
bücher“ trifft man das folgende „allegoriſche Sonett“ von Chriſtian Hofmann von Hoffmanns- 
waldau (F 1679): 

Amande, liebſtes Kind, du Bruſtlatz kalter Herzen, 

Der Liebe Feuerzeug, Goldſchachtel edler Zier, 

Der Seufzer Blajebalg, des Traurens Löſchpapier, 
Sandbüchſe meiner Pein und Baumöl meiner Schmerzen, 


Du Speiſe meiner Luſt, du Flamme meiner Kerzen, 
Nachtſtühlchen meiner Ruh’, der Poeſie Kliſtier, 

Des Mundes Alikant, der Augen Luſtrevier, 

Der Komplimenten Sitz, du Meiſterin zu ſcherzen, 


Der Tugend Quodlibet, Kalender meiner Zeit, 
Du Andachtsfackelchen, du Quell der Fröhlichkeit, 
Du tiefer Abgrund du, voll tauſend guter Morgen, 


Der Zungen Honigfeim, des Herzens Marzipan, 
Und wie man ſonſten dich, mein Kind, beſchreiben kann: 
Lichtputze meiner Not und Flederwiſch der Sorgen. 


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Gujtab Schönleber 
Von Dr. Karl Storck 


m Frühjahr dieſes Sabres veranſtaltete der Stuttgarter Galerie-Ver— 
ein in den großen Ausſtellungsräumen des Muſeums der bildenden 
Künſte eine Schönleber-Ausſtellung. Es galt eine Ehrung des Sechzig— 
jährigen. 1851 ift Suftap Schönleber in Bietigheim an der Enz ge- 

boren, das inzwiſchen durch zahlreiche Fabriken zwar ſeiner verträumten Noman- 
tik entkleidet worden iſt; nicht aber vermindert werden kann ſeine eigenartige 
Schönheit, die auf dem Gegenſatz von Intimität und großer Linie beruht. Ge— 
rade im Mittelpunkt zweier weit gefpannten Gehängslinien, vor dem Hinter- 
grunde eines weiten Höhenzuges, liegt das Städtchen. Es drückt ſich zuſammen 
und duckt ſich ein, wie es unſere deutſchen Neſter ſo gern tun, als ſchmiegten ſie 
fih wie ſchutzſuchende Kinder in den Schoß der Mutter Erde. Und doch beherrſchen 
fie auch wieder die ganze Landſchaft, zumeiſt durch den richtunggebenden Kirch- 
turm, der mit gerecktem Finger von der Erde gen Himmel weiſt, ſo gewiſſermaßen 
die andere Seite deutſchen Weſens verſinnbildend: den Zug nach oben, den phan— 
taſtiſchen Wolkenflug, den erdfremden Idealismus, der ben deutſchen Michel ja 
gewiß oftmals recht ſeltſame Schwabenſtreiche vollführen ließ, ihn aber doch auch 
in den ſchlechteſten Zeiten, die ihm reichlich beſchieden waren, davor bewahrt hat, 
in der Enge zu verphiliſtern. 

Man könnte Guftav Schönlebers Kunſt auf die Formel diefer Heimat zurück— 
bringen, dieſer Heimat, die er in ungezählten Bildern in engerem und weiterem 
Amkreiſe feſtgehalten hat (vgl. Abb. S. 155); dieſer Heimat, die ihm jene Liebe 
zur Natur ins Herz ſenkte, aus der heraus er fein großes Kunſt- und Lebens- 
bekenntnis gefunden hat, wonach er immer geglaubt hat, was mit Liebe gemalt 
ſei, müſſe auch imſtande ſein, Liebe zu erwecken. 

Sener Stuttgarter Ausſtellung hatten auch Freunde der Kunſt Schönlebers 
mit etwas Bangen entgegengeſehen. Nicht weniger als hundertfünfzig Bilder, 
zum guten Teil aus Galerien und Privatbeſitz, waren hier zufammengebradt. 
Mußte das nicht zu viel ſein? Schönleber hatte immer nur die Landſchaft ge— 
pflegt, — mußte das nicht eintönig werden? das Publikum entweder ermüden 

Oer Türmer XV, 1 9 


130 l l l Stord: Guſtav Schönleber 


Blick ins Neckartal | G. Schönleber 


oder ganz von jeder eigentlich künſtleriſchen Betrachtung auf das nur Stoffliche 
ablenken? | 

Nun, die Tatſachen gaben die Antwort. Der Beſuch wuchs von Tag zu Tag, 
ſo daß die Ausſtellung ſo weit wie möglich über den vorgeſehenen Endpunkt ver— 
längert wurde. Bei den Beſuchern aber war von Ermüdung nichts zu bemerken. 
Im Gegenteil ſteigerte ſich die Teilnahme bei dem längeren Verweilen in den 
Räumen. Dabei war es ſehr feſſelnd zu beobachten, wie es zunächſt einige in 
dekorativer Schönheit, großer Linie und leuchtenden Farben ſtrahlende Land— 
ſcheften waren, die die Aufmerkſamkeit auf ſich lenkten. An anderen Stellen ent- 
deckte der und jener ein Stück ſeiner Heimat oder bekannte Orte; von da übertrug 
ſich die ſtoffliche Teilnahme auf Ähnliches oder auch durch den Gegenſatz Reizen— 
des. Es war in der Tat unter dieſen hundertfünfzig Bildern keines, das nicht als 
. Naturausfchnitt an und für fid) bereits wirkte. Aber das drängte ſich doch gleidh- 
zeitig jedem auf: In der Wahl dieſer Naturausſchnitte, in der 
Fähigkeit, fo auszuſchneiden, offenbarte jid) bereits eine [tarte Perſönlich— 
keit. Da war eine ganz wunderbare Fähigkeit des Sehens. Um der Schön— 
heit willen berühmte Orte wirkten neu, weil ſie aus einem anderen Geſichtswinkel 
genommen waren. Alltägliches oder Gleichgültiges wuchs bedeutſam heraus, ftei- 
gerte fid zu überraſchender Eigenart; ja ein Nichts von Stoff war fo geſehen, daß 
es zu einem großen Inhalt, zu einer in ſich geſchloſſenen Welt wurde. 

Wie konnte dieſer Künſtler ſehen! Im Wandern von der holländiſchen Küſte 
den Rhein hinunter durchs Alemannen- und Schwabenland, dann hinab nach 
Italien, in verbauten Stadtwinkeln, in einſamen Tälern, auf beſchaulichen Höhen, 
in lauſchigen Dörfchen, dumpfen Stadtſtraßen, auf dem weiten Meer, in der 
Fiſcherhütte, auf Felſenſtrand und Sanddüne, im ſonnigen Mittag und in der 
Regennacht, beim aufſteigenden Tag, bei einbrechender Nacht — immer und über— 
all hatte dieſer Wanderer mit offenen Augen und weitgeöffnetem Herzen vor der 
Natur geſtanden und ihre Schönheit, den Reichtum ihrer Fülle, und die Fülle noch 
in ihrer Armut aufgenommen. 

Es war vielleicht das Charakteriſtiſchſte für die Art, wie die Natur hier ge- 
ſehen war, daß überall das Gefühl ihres reichen Inhalts papa jete, Oder vielleicht 


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132 St... Guſtav Schönleber 


ſind nur gerade wir heute dafür ſo ſtark empfänglich, weil der Impreſſionismus 
eine geradezu gewaltſame Vereinfachung der Landfchaft vollzogen hat, indem er 
nur einen einzigen Eindruck heraushebt, alles andere dagegen verſinken läßt. Die 
impreſſioniſtiſche Landſchaft erreicht dadurch auch beim Zuſchauer jene auber- 
ordentlich ſtarken erſten Eindrücke; aber dafür ſtellt ſich im Laufe längeren Beſitzes 
nicht jenes freundſchaftliche Verhältnis ein, das, gleich der dauernden Freundſchaft 
unter Menſchen, nur dann möglich iſt, wenn der längere Verkehr den Beſitz mehrt. 
Wir brauchen diefe Fülle, dieſen Reichtum des Lebens. Und wenn die Natur un- 
ausſchöpflich iſt, wenn ſie ſelbſt dem enttäuſchteſten Gemüte immer noch zu Hilfe 
kommt, wenn ſie nach der lebenslangen Beobachtung immer noch neu iſt, ſo hat 
das feinen Grund darin, daß in ihr kein totes Fleckchen ijt, daß in ihr noch der Gras- 
halm vom ewigen Leben kündet, daß auf einer mit der Hand zu bedeckenden Fläche 
das mannigfaltigſte Leben ſich entwickelt, und daß doch auf der anderen Seite 
mein Auge mit einem 
einzigen Blick die Weite 
des Horizontes umfpan- 
nen kann: die ungeheure 
Maſſigkeit des Gebirges, 
die unendliche Fläche des 
Meeres, die goldene 
Fülle des Ackerfeldes, die 
grüne Pracht des ſich 
kuppelnden Waldes. So 
ein einziger Blick vermag 
die Natur in ihrer eige— 
nen Mannigfaltigkeit und 
als Heimſtätte der Men— 
ſchen in ſich aufzuneh- 
men. — Hier aber offen- 
bart ſich das innerſte 
Grundgeſetz, dem das 
Landſchaftsbild zu folgen 
hat, wenn es gleich der 
Natur dem Menfchen 
Lebensgenoſſe, Lebens- 
inhalt werden ſoll. 
Auch das Bild muß 
beides in ſich enthalten. 
Es muß jenes Bild von 
der Natur ſein, das wir 
mit einem Blick in uns 
aufnehmen und als Gan- 
zes empfinden; es muß 


Am Keſſelwaſen G. Schönleber aber auch jenes Nach- 


Storck: Guſtav Schönleber 133 


Heimat (Beſitzer: Rich. Elch, Stuttgart) G. Schönleber 


ſuchen des Auges vertragen, mit dem wir in langem Verweilen uns das einzelne 
zu eigen machen, die Fülle und Mannigfaltigkeit entdecken, die in jenem einen 
großen Ganzen beſchloſſen ijt, und fo dann bereichert zurückkehren zum Geſamt— 
erfaffen des Ganzen. Ruskin hat einmal diefe Forderung an den Landſchafter febr 
ſchroff dahin ausgeſprochen, der Maler dürfe nicht eher aufhören, ſolange er noch 
ein einziges Fleckchen des Bildes ohne den Neiz gelaſſen habe, ben die Natur fo 
verſchwenderiſch über ihre Gebilde ausgießt. 

Es iſt ganz erftaunlid, in welchem Maße Schönleber dieſe Forderung er- 
füllt, und man konnte bei den Beſuchern der Ausſtellung immer wieder beobachten, 
wie fie zuerſt vom Geſamteindruck des Bildes gefeſſelt waren, wie fie dann nach- 
her nahe an das Bild herantraten, ſich in ſeine Einzelheiten verſenkten und dann 
wieder zurücktraten, ſich das bereicherte Ganze nun nochmals einzuprägen. Bei 
manchen anderen habe ich beobachtet, wie fie nachher im Durchwandern der Säle 
mit liebkoſendem Auge auf allen jenen Bildern verweilten, zu denen fie jenes Ber- 
hältnis gewonnen hatten, das den Zauber der Heimat ausmacht, die auch als Ganzes 
vor uns liegt und doch bis in jeden einzelnen Strauch und Baum, ja bis in einzelne 
Steine hinein uns in weiteſter Ferne bis zum Greifen nahe iſt. Ein Stück Heimat 
für unſere nach Schönheit gierende Seele, für unſere in der Lebenshaſt abgenutzten 
Sinne, für unſere im Weltgetriebe verirrte Seele kann uns das Kunſtwerk dieſer 
Art werden. Das ſind die Bilder, die wir in unſerer Wohnung haben wollen; Bilder, 
die uns vielleicht nicht ſo ſehr „intereſſieren“, aber die wir lieben. 

Es ift außerordentlich feſſelnd zu beobachten, wie Schönleber diefe Bild- 
wirkung ins Große erreicht, wie ihm dieſes Streben, die ganze Natur in Form, 
Licht und Farbe aufs Bild zu bannen, nirgendwo, wie fo vielen anderen, gefähr- 
lich wurde. Gewiß liegt es [don an der Auswahl bes Naturausſchnittes; aber da- 
mit ſetzt doch erſt die Geſtaltung ins Große ein. Die Fülle des einzelnen wird in 
mehrere große Gruppen untergebracht, die ihrerſeits wieder gegeneinander- 
geſtellt werden, zumeiſt durch die Macht des Lichtes, nach Helligkeit und Schatten 
zum großen Geſamteindruck zufſammengezwungen werden. So erreicht Schön- 
leber ſchon in den früheſten Stadien der Arbeit den Bildeindruck. Wie „farbig“ 
ſeine Zeichnung wirkt, kann man am „Frühling in Dinkelsbühl“ (S. 131) ſehen. 

Schlägt man eines der kunſtgeſchichtlichen Handbücher auf, ſo findet man ſelbſt 


134 Storck: Guftao Schönleber 


in ausführlichen Darſtellungen der Kunſt des neunzehnten Jahrhunderts über 
Schönleber nur wenige Zeilen. Sie ſind wohlwollend, aber mehr auch nicht. Der 
Kunſtkritiker hat hier keinen Grund zu leidenſchaftlicher Erregung und keine Ge— 
legenheit zu geiſtvollen Auseinanderſetzungen. Die Kunſtkritik lebt vom Streit der 
Meinungen, von der Einſeitigkeit der Anſchauungen, den Forderungen des Tages. 
Sie iſt Vorkämpfer und Bekämpfer, ſelbſt dort, wo ſie ganz zu genießen ſcheint. 
Die Naivität iſt ihr verſagt. So kommt es, daß alles Problematiſche der ausführ— 
lichen Beſprechung ſicher iſt, alles in ſich Sichere, Ruhige, Gefeſtigte, alles Gelbft- 
verſtändliche dagegen kaum berührt wird. Aber gerade dieſes Selbſtverſtändliche 
ift das Dauernde, das immer jung Bleibende. Was wir bei der Sabrbunbert- 
ausſtellung vor einem Jahrzehnt erlebten, das werden wir um 2000 wieder er— 
leben. Die Namen jener, die in den Kunſthändeln des Tages am lauteſten klangen, 
die, je nach der Parteirichtung ihrer Beurteiler, bald geprieſen, bald verdammt 
wurden, die als die Träger ber geſamten Kunſtentwicklung im Vordergrunde ſtan— 
den, verblaffen. Gerade das, was ſeinerzeit fo ſtark richtunggebend wirkte, was 
ſo ſehr die Leidenſchaften erregte, erſcheint jetzt als einſeitige Betonung, als Manier, 
als Störung zur Harmonie. Und wieder wird man erſtaunt eine große Zahl von 
„Entdeckungen“ machen: Künſtler, die ſich um all das nicht kümmerten, die ſo 
malten, wie ſie es ſahen und ſo gut ſie es konnten; denen die Mittel der Kunſt eben 
immer nur Mittel geweſen waren, die fie darum auch ohne jede Grundſätzlichkeit 
benutzten, das heißt nach dem einzigen Grundſatze, das möglichſt gut mitzuteilen, 
was ihnen als Kunſtwerk vorſchwebte. 
Schönlebers kunſtgeſchichtliche Einſtellung ergibt ſich leicht. Das mit der zu— 

nehmenden Bewegung des Lebens wachſende Verlangen nach der Natur als 
Gegengewicht gegen die menſchliche Not, die ſich in den ſozialen Problemen jedem 


Unter der Brücke G. Schönleber 


Storck: Guſtav Schönleber 


Dürrmenz 


G. Schönleber 


135 


136 | Stord: Guſtav Schönleber 


aufdrängte, führte zu jener innigen Verſenkung in die Natur, die wir nach dem 
Vorgang bet franzöſiſchen Malergruppe von Fontainebleau als „intime“ Qand- 
ſchaft bezeichnen. Selbſt Rouſſeaus Flucht zur Natur war ſentimentaliſch ge— 
roeſen. Der Menſch ſuchte hier für ſich ſelbſt Heilung von den Gebreſten, die ihm 
das Leben in der Welt geſchlagen hatte. Auch die Landſchaftsmalerei, die fid) im 
Gefolge dieſer Rückkehr zur Natur entwickelte, hat überall den Menſchen zum be— 
herrſchenden Mittelpunet. Nicht nur, daß er nach feinem Willen die Landſchaft 
komponiert, d. h. buchſtäblich zuſammenſtellt, ſie iſt letzterdings nur Staffage für 
den Menſchen, ſelbſt dort, wo dieſer Menſch nicht im Bilde ſteht. Denn das 
„Heroiſche“, was die ſo betitelte Landſchaft ausdrücken ſollte, war eben menſch— 
liches Heroentum. Nur langſam erkannte man die Heiligkeit der Natur, [ab man 
ir ihr nicht mehr die Dienerin bes Menſchen, nicht mehr feine Umwelt, ſondern 
das Eigenleben, die Eigenwelt. Natürlich wirkte die Unterſtimmung mit, daß die 
Natur auch für den Menſchen am eheſten dann ihre große Wirkung ausüben könne, 
wenn er ſich ihr ganz hingebe, alſo ſie um ihrer ſelbſt willen zu erkennen trachte. 

Bei einem jener wenigen Oeutſchen, die ihren Studienaufenthalt in Frant- 
reich nicht in den Ateliers der berühmten Hiſtorien- und Genremaler verbracht 
hatten, ſondern dem Zug des deutſchen Herzens gefolgt und zu den Malern von 


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Syetbít in Brügge (Beſitzer: Geh. Legationsrat Dr. Seyb, Karlsruhe) G. Schönleber 


Stord: Guſtav Schönleber | E 137 


Blühendes Land G. Schönleber 


Fontainebleau gegangen waren, bei dem durch die Jahrhundertausſtellung wieder 
zu Ehren gebrachten Münchener Adolf Lier, hat Schönleber feine entjcheiden- 
den Studien gemacht. Sie haben nicht lange gewährt, er hatte ſich zu Haufe nur 
ſchwer die Erlaubnis für die Künſtlerlaufbahn ertrotzen können. In Bietigheim 
hatte der junge Mechaniker ſchon hinter dem Schraubſtock geſtanden und feine 
Malluſt in den Porträts ſeiner Arbeitsgenoſſen und in zahlloſen Skizzen nach der 
ſchönen Heimat ausgetobt, als ihn der Feldzug des Jahres 1870 zur Untätigkeit 
in Eßlingen, wohin inzwiſchen die Eltern überſiedelt waren, verurteilte. Das alte 
Neckarſtädtchen mit ſeinen durcheinandergeſchobenen Winkeln, dem vielen Grün 
zwiſchen hängenden Gartenmauern und überſtehenden Giebeln, reizte bes Fting- 
lings Sinne jo ſtark, daß im Ringen um die Wiedergabe der Eindrücke dem bis- 
lang völlig Angeſchulten fo überzeugende Darftellungen gelangen, daß jetzt der 
Widerſtand gegen den unverkennbaren inneren Ruf zur Künſtlerſchaft auf- 
gegeben wurde, und Schönleber nach kurzer Lehrzeit bei Kurtz in Stuttgart zu 
Adolf Lier nach München kam. 

Die drei Bilder, die die Jahrhundertausſtellung von Lier zeigte, verrieten 
in ihren ſchweren Baumgruppen, der Art, wie eine Schafherde unter ihnen hin- 
zog, neben dem Studium der alten Holländer das der Fontainebleauer Rouſſeau 
und Dupre, zeigten aber keine eigene Handſchrift. Dagegen ift in der Münchener 


138 = Storck: Guſtav Schönleber 


Pinakothek ein Bild „Die Thereſienwieſe“, das wie wenige den Charakter der 
Münchener Landſchaft zeigt. Die weit hingeſtreckte, damals natürlich noch wenig 
bebaute Wieſe liegt ausgebreitet da und wird in ihrer ruhigen Gleichmäßigkeit 
noch betont durch einen Nebelſchwaden, ber fid) parallel zu ihr hinzieht. Links, 
ganz fern, gewahren wir kaum die Häuſer der Stadt. Den Geſamtraum des Bildes 
beherrſchend, aber doch im Verhältnis zu der davor liegenden Ebene klein, reckt 
Schwanthalers „Bavaria“ ihren Rieſenarm gen Himmel; als dunkle Maſſe ſchließt 
rechts den Horizont der Bavariapark ab. Darüber hoch hinaus der weite Himmel. 
Ein Schäfer weidet auf der Wieſe ſeine Herde und treibt ſie gerade in den Nebel 
hinein. Die Figürchen ſind ſo klein, daß die Landſchaft um ſo größer wird; das 
Getrippel ift fo bewegt, daß die Ruhe der Ebene noch ſchwerer erſcheint. 

Von dieſem Bilde aus, das ane in der Behandlung der Fläche eine Fülle 
von Einzelheiten zeigt, 
das im Hintergrunde den 
ganzen Reichtum der 
Stadt, des Parkes birgt, 
und doch in dem einen 
Akkord von Größe und 
Ruhe zuſammenklingt, 
führt ein naher Weg von 
Lier zu ſeinem Schüler 
Schönleber. Auch in rein 
maleriſcher Hinſicht. Ja, 
Schönlebers älteſte Bil— 
der, wie ſie in unſerem 
Hefte durch die „Straße 
in Genua“ (S. 144) und 
das aus Eßlingen ftam- 
mende „Am Keſſelwaſen“ 
(S. 152) vertreten find, 
zeigen noch eine ſchwe— 
rere, dunklere Farben- 
gebung als Liers Vor— 
bild. Immerhin, die bei— 
den Bilder ſind von 
Schönleber als Zweiund— 
zwanzigjähriger gemalt 
worden. Man kann es 
danach begreifen, daß er 
ſich von der Schule frei— 
ſprach und nun hinaus- 
zog in die Welt zum 
größten aller Lehrmeiſter, 
Der Turm von Lerici G. Schönleber zur Natur. 


Stord: Guftav Schönleber | 139 


Dorf in Holland G. Schönleber 


Auch die Genueſer Straße iſt trotz der Fülle von Einzelheiten, trotz des 
Gedränges von Menſchen ein Bild von einheitlichem Eindruck. Und der Gegen- 
fag von Monumentalität und Enge, von ariſtokratiſcher Bornehmbeit und armem 
Bedrängtſein, der einen in Genua bei jedem Blick in die abſtürzenden Quer- 
ſtraßen von den horizontalen Hauptſtraßen aus überkommt, iſt ohne jede Wufdring- 
lichkeit, ohne Bewußtſein wahrſcheinlich, geſtaltet. Das Stückchen Eßlingen da- 
gegen ift ein urdeutſcher Winkel, in dem Stallungen, Schuppen und Wenſchen- 
wohnungen ſich friedlich über- und ineinanderſchieben. Das Fachwerk ift ab- 
gebröckelt, die Sparren halten nur noch ächzend zuſammen. Aber einſtürzen tön- 
nen derartige Wände nicht; aus Altersgewohnheit bleiben fie ſtehen. Und was 
die langen Jahre mit Wind, Regen und Staub da alles hineingemalt haben, auf 
den Bewurf, in die dahinter hervorlugenden Ziegel, in das alte Holz! Für die 
durch ihre „mit allem Komfort der Neuzeit“ ausgeſtatteten Wohnungen ver— 
wöhnten Städter von heute ſind ſolche alten Winkel eine Art Muſeumsgegenſtand. 
Man fagt: Waleriſch! Sehr maleriſch! halt fid) die Nafe zu und macht, daß man 
wegkommt. Aber wer als Zunge in ſolch einem Winkel geſpielt hat, dem ſteht 
er bis in älteſte Tage in einem ſo goldig verklärten Lichte der Erinnerung, wie 
ſelbſt nicht die prächtigſten Gebäude der Stadt. Denn alles in dieſen alten Häuſern 
war erfüllt von Leben, als wäre im Laufe der Zeiten jeder Stein, jeder Balken 
mitfühlend geworden für das, was um ihn geſchah. Für die Städter waren ſolche 
Winkel faſt das einzige Mittel zum Heimatgefühl, ein viel ſtärkeres als die großen 
Kunſtwerke, die eine Stadt birgt. Denn deren Schönheit erſchließt ſich einem 


» 


140 Store: Gujtao Schönleber 


erft in ſpäteren Jahren; ſolche alten Winkel aber werden ein Stück eigenen Er- 
lebens, weil ſie die Heimſtätte unſerer ſeligſten Spiele geweſen ſind. 

Es gibt auch ſolche Winkel in der Natur. Sie ſind dem ordnungsliebenden 
Sinne, dem nüchternen Nützlichkeitsmenſchen, aber auch dem ſchulmäßigen Be- 
wunderer der großen Natur höchſt verächtliche und vernachläſſigte Punkte, die 
man am liebſten in weitem Bogen umgeht. Auch ſie ſind Lieblingsſtätten der 
Kinder und der Künſtler. Ein rechter Künſtler iſt ja ein Menſch, deſſen Sinne und 
Herz Kind geblieben ſind, während der Geiſt reifte. Wie wunderbar iſt dieſer 
„alte Zaun!“ (S. 141.) Wie köſtlich muß dieſer verwilderte, in überreichem Wachs- 
tum wuchernde Garten geweſen ſein, den dieſer Zaun doch höchſtens für ſchwer— 
fällige Kühe abſchließt! Denn den Planken ſieht man's ja an, wie oft die Buben 
dazwiſchen durchgekrochen ſind. Dieſe Planken! Keine iſt wie die andere, jede 
hat eigentlich ausgedient. Das Holz iſt morſch und faul. Klemmt man mit den 
Nägeln Splitter ab, ſo kriechen Käfer und Schaben herum. Aber nachts leuchten 
Johanniswürmchen daran, manche Plante ſchimmert goldig im Phosphorglanz 
des eigenen Vergehens, und Blumen und Blätter wuchern an ihnen hinauf. Man 
verſenke ſich einmal in den Weg, der dieſen Zaun entlang hinzieht. Mit welcher 
Liebe hat der Künſtler all die Formen des zerriſſenen Rains geſehen; wie ſcharf 
iſt der Anſatz der Raſenballen beobachtet; wie ſicher die vom Waſſer ausgemergelten 
Rinnſale gezeichnet! Wie lebt die Miſchung von Blau und Grün, wie ſelbſtſicher 


Hohentwiel (Sefiber: Oberamtmann a. D. Eckhard, Mannheim) G. Schönleber 


Storck: Guſtav Schönleber | | 141 


ſtehen die Diſteln im 
Weg und das alte Ge- 
ſtrüpp am Rand! Eine 
ganze Welt liegt auf die- 
ſem Stück Erde, das dem 
Bannwart ein Greuel iſt, 
ben Dorfbuben aber die 
liebſte Gelegenheit, raſch 
einmal „hinten herum“ 
zu rennen, wo man die 
rufende Stimme der 
Mutter nicht hört und 
einen das Schelten des 
Vaters nicht erreicht. 
Das ift echteſter Schön- 
leber, und ich kenne tei- 
nen anderen, der etwas 
derartiges ſo malen kann, 
jo daß es nirgendwo klein- 
lich iſt, nirgendwo den 
Eindruck der getiftelten 
Einzelheit macht, ſondern 
wahrhaftig ein Stück Na- 
tur, großzügig geſehen, 
großzügig geſtaltet, bei 
aller Einfachheit, wenn 
man will, Nichtigkeit des Alter Zaun G. Schönleber 
Inhalts. Und wie iſt das 
Ganze als Bild geſehen! Wie meiſterhaft ſchneidet der Zaun durch die Bildfläche, 
ſo daß er Richtung und Haltung gibt dem Ganzen, und doch das Grün drum— 
herum, das Leben, das wir aus eigenen Erinnerungen hinzutun, den eigentlichen 
Inhalt des Bildes ausmachen, ſo daß der alte Zaun ſchließlich nur dazu da iſt, 
damit wir unſer eigenes Schönheitserinnern vom vertrauteften Zuſammenſein mit 
der Natur (wenn wir Schmetterlinge oder Käfer fingen oder Blumen ſuchten) 
daran anhängen können. 

Solch ein Bild ift, als ob einem Wilhelm Raabe „von alten Neſtern“ erzählt. 
Es ijt ganz erftaunlich, wie früh fich Schönleber die Augen für diefe ftillen, un- 
ſcheinbaren Schönheiten der Natur geöffnet haben. Das Bild iſt bereits 1879 ge- 
malt. Und noch in einem anderen mußte ich bei Schönleber oft an ein Wort Raabes 
denken. Es iſt die Kunſt, im engſten Ringe weltweite Dinge zu entdecken. Cigent- 
lich liegt darin auch der Zauber des „alten Zaunes“. Am ſtärkſten umfing er mich 
immer, wenn Schönleber Segelboote malt. Er hat dieſe Bilder ſehr geliebt. Wir 
zeigen zur Probe eines, auf dem ſich mehrere Boote zuſammendrängen, wodurch 
der maleriſche Reiz noch geſteigert wird, das, was ich meine, allerdings nicht fo. 


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142 iv s ` Stord: Guſtav Schönleber 


ſcharf herauskommt („Pragozei“ S. 142). Man liegt im ſchweren WMeeresboot, 


das Segel iſt aufgefpannt; es iſt, als ſchließe es die Welt ab. Nur der Himmel 
iſt über uns, das Geplätſcher der Wogen um uns. Nun hinaus zur Fahrt, wo— 
hin? wozu? wie lange noch? wie weit? Das Segel hängt ſchweigend, die Wogen 
reden, aber wir ver‘tehen ihre Sprache nicht. 

Schinlesers Einſtellung zur Welt ijt heiter. Am liebſten bat er den Früh- 
ling und den lachenden Sommer gemalt, den Herbſt, wenn er in Farben prunkt, 
ſelten nur den Winter, und auch da mehr das von der Sonne überglänzte Schnee- 
feld. Aber er bat doch auch das Empfinden für das Düſtere. Die Zeichnung 
„Unter der Brücke“ (S. 134, ſie ſtammt aus Straßburg) iſt deſſen Zeuge. Der 
Bogen laſtet wie ein Verhängnis. Unwillkürlich duckt man ſich, wenn man im 
Kahn ſitzt. Auch das Dräuende, Trutzige des „Hohentwiel“ (S. 140) iſt mit ge- 
waltiger Wucht herausgearbeitet, und die ſchweren Herbſtfarben verſtärken noch 
dieſen Eindruck. Wie ſchwer und müde ift die Luft auf dem Bilde „Dliffingen“ 
(Einſchaltbild). Wie wuchtet die Mole links! In trauriger Melancholie ftarrt die 
Windmühle, und ſeltſam öde wirkt der verlaſſene Kahn. Nur ganz hinten leuchtet 
in roten Dächern Licht und Leben. | 

Wunderbar vermag ber Künſtler die Stimmung der mondbeglänzten Zauber- 


nacht zu bannen Einſchaltbild), wenn die glitzrigen Waſſer ihr eigenes Leben wir- 


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Pragogal G. Schönleber 


Schönleber 


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Straße in Genua (Beſitzer: Frau Geh. Kommerzienrat Dr. v. Steiner, Stuttgart) G. Schönleber 


ken, die Bäume leiſe raunen und die Menſchenhäuſer träumen. Auch die noch 
tiefere Stille, wo ſelbſt das Waſſer ſchweigt und der Baum den Atem verhält 
in der einſamen Nacht, wird dem Künſtler beredt (Nacht im Dorf. Einſchaltbild). 
Doch hell leuchtet der Tag, es lacht die Sonne, die Welt ſteht in Bluſt. Wie lachen 
die Bäume in Zugendprangen ums alte Dinkelsbühl, bie Wieſe trägt ſchier die 
Blumen nicht! (S. 131.) Und die Häuſer von Dürrmenz drängen ſich auf einen 


Stora: Guftan Schönleder 145 


ganz ſchmalen Streifen zuſammen, denn der Wald drückt in ſchwellender Kraft 
zum luſtigen Waſſer hinab, das hineilt in die duftſchwere Ferne. Ein Blühen iſt 
das ganze Land (S. 135). Die in weiß- grüner Seide prangenden Bäume künden 
jauchzend das neue Leben den noch kahlen Feldern, und das blaue Band des 
Frühlings iſt hinübergeſchwungen über die weiteſten Höhen. Da iſt kein Winkel 
ſo klein, er ſtrotzt noch von Leben; kein Steig ſo ſchmal, er trägt noch einen in 
Blättern ſich wiegenden Baum; kein Zaun ſo dürr, daß nicht Gerank an ihm 
empor ſich ſchlänge; keine Böſchung ſo zertreten, daß nicht Gras und Blumen 
jie ſchmückten (Sorfmiible, Titelbild). — Volle Farben künden vom überfchwellen- 
den Saft; ſchwer ſammelt ſich das Gewölk zum quellenden Regen, aber noch 
bricht die Sonne durch und alles leuchtet in verdoppeltem Glühn, ſo daß drüben 
die Stadt mit ihren Ziegeldächern prunkt wie eine Fürftin in ihrem Purpur- 
ſchmuck (Rotenburg a. d. Tauber, Einſchaltbild). — Doch die Sonne trinken, in 
ſich hineintrinken, bis ihr Gold ſich auflöſt, das kann nur das Meer. Ein Traum 
iſt's von Licht und Glanz. Das goldene Land des Märchens ift erſchloſſen (Fifd- 
zug an der Riviera, Einſchaltbild). Im Märchenlande das Märchenſchloß: dunkle 
Zypreſſen ragen als ernſte Wächter und ſchützen das einſame, ſteil abfallende 
Geſtade. Vom weithin gedehnten Meer tragen wachſame Möven die Botſchaft 
her. Der Himmel aber ijt blau, fo blau; man verſänke in der Tiefe und gewänne 
das Gefühl der Raumloſigkeit, hinge nicht da und dort ein weißer Wolkenſchimmer, 
um den Himmel mit Schleiern noch an die Erde zu binden (Zypreſſen. S. 143. 
Wir wagten das Bild nicht farbig wiederzugeben, weil keine Wiedergabe dieſen 
zarten Tönen gerecht geworden wäre). 

Und vom Süden hinauf in den Norden, aus jener farbigen Sommerluſt 
in das farbigere Sterben des nordiſchen Herbſtes: Brügge (S. 136), ſelber ein in 
Schönheit erſtorbenes Land. Selbſt der alten Brücke verwittertes Geſtein fchim- 
mert in goldiger Pracht. — Und danach wieder heim. Wie ijt das deutſche Land 
jo ſchön! Von halber Höhe hinauf zu ſchauen ins weite Land, in weitem Bogen 
ſchlängelt ſich der Fluß, als falle es ihm ſchwer, die Heimat zu verlaſſen. Matten 
und Felder breiten ſich aus, Wald und Gehölz ſchieben ſich dazwiſchen; dort hinten 
an den Hügeln wächſt der Wein, auf ihnen ſtehen die Ruinen der alten Burgen 
und zu oberſt thront der alte, ſtolze, deutſche Bergwald. (S. 130.) 

Vierzig reich geſegnete Malerjahre hat Schönleber hinter ſich. Er iſt fleißig 
geweſen, wie nur einer, und hat ſich das Handwerkszeug ſeiner Kunſt ſo zu eigen 
gemacht, daß die Hand jeder Willensregung gehorcht und unbedingt ſicher hin- 
ſetzt, was das Auge geſehen, wie es gefehen. Es find vierzig Jahre der leiden- 
ſchaftlichſten Kunſtentwicklung, von der die Kunſtgeſchichte zu erzählen hat. Es 
hat viel größere Zeiten gegeben, mit einem ſtärkeren Lebensausdruck in Kunſt, 
aber keine, wo die Meinungskämpfe über Kunſt ſo heftig aufeinanderprallten. 
Schönleber hat davon ſich nicht beirren laſſen. Er iſt derſelbe in ſeinem letzten 
Bilde wie im erſten, nur reifer, ſicherer, meiſterhafter. Wenn er ſo geblieben iſt, 
ſo war das kein Vertrotzen gegen die neue Zeit. Es iſt in ſeinem Geſamtwerk 
nichts von Polemik gegen andere Malweifen, andere Auffaſſungen, nichts von 
Syſtematik und Lehrhaftigkeit, nichts von Auftrumpfen auf die CERS = Es 


Der Türmer XV, 1 


146 Die Rückkehr des Genrebildes 


iſt eben nur die eigene Art darin. Dieſe aber beruht im innerſten Kern, im Weſen 
der Perſönlichkeit. und darum hat er unbedenklich, nein, ſelbſtverſtändlich auf⸗ 
genommen, was die Zeit ihm brachte, ſoweit es für ihn paßte, ſoweit er es ge- 
brauchen konnte. 

Es iſt eine ſehr weite techniſche Entwicklung von jenen ſchwer dunklen Bildern 
(die Straße in Genua), über die in tiefen Farben aufleuchtenden holländiſchen 
Landſchaften (Vliſſingen) zu den helltönigen Stücken aus Stalien (Fiſchzug; 
Zypreſſen), und von da bis zum farbenſtrotzenden Rotenburg und jenen ſchwä⸗ 
biſchen Landſchaften wie „Blühendes Land“, wo der Farbenauftrag ſo dünn 
und ſparſam iſt, daß der Malgrund mitſpricht. Aber nirgendwo ſtehen dem 
Künſtler diefe techniſchen Probleme im Vordergrund. Er hat immer mit Liebe 
gemalt, mit der vollen Hingabe, dem ganzen Einſetzen ſeines Könnens, um dieſe 
heißgeliebte Natur als Bild zu gewinnen und aus dem Bilde heraus wieder zu 
Menſchen ſprechen zu laffen. Was fo in Liebe gewonnen war, mußte Liebe 
wecken. Sie iſt in überreichem Maße dem Künſtler zuteil geworden, der trotz der 
ſtolzen Zurückhaltung, in der er lebt und wirkt, an äußeren Ehren alles empfangen 
hat, was wir Künſtlern heute bieten können, der auch den reicheren Lohn gewann 
der hingebenden Verehrung, der dankbaren Liebe aller derer, denen die Kunſt eine 
Herzensſache ift. 


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7 für Bilder aus dem Familienleben. Das wäre ja an ſich bei einer Familiengeit- 
T —— ſchrift nicht ſehr verwunderlich, wenn nicht unter den Preisrichtern Max Lieber- 
mann ſich befände. Der Führer der Berliner Sezeſſion hat in Reden und Aufſätzen ſehr oft 
die Gelegenheit zu äſthetiſch-theoretiſchen Auseinanderſetzungen ergriffen und damit gezeigt, 
daß er zu den ſogenannten „denkenden“ Künſtlern gerechnet werden will. Wenn er alfo durch 
die Übernahme des Preisrichteramtes das Verlangen nach ſolchen Bildern aus dem Familien- 
leben billigt und unterſtützt, muß er eine erhöhte Pflege derartiger Kunſt für künſtleriſch 
wünſchenswert halten. Ich würde fagen künſtleriſch und menſchlich, wenn Liebermann nicht 
ſo oft in ſeinen Reden den ſtrengen Ausſchluß aller derartiger menſchlicher Erwägungen bei 
Kunſtdingen verlangt hätte. Freilich hat er auch immer eine geradezu haßerfüllte Abneigung 
gegen alle literariſche oder novelliſtiſche Malerei gezeigt und tritt nun doch als Förderer einer 
ſolchen auf. Denn alle ſchönen Umſchreibungen helfen nichts: diefe Bilder aus dem Familien- 
leben ſind nichts anderes, als Genrebilder. 

Nun hat ja des alten Philoſophen kühler Spruch: „Alles fließt“ auch für die Runft- 
aſthetik immer zu Recht beftanben. Es ijt fogar immer geradezu ein Unglück geweſen, wenn die 
Aſthetik zu unabänderlichen Geſetzen zu gelangen ſuchte. Mit Recht ſpricht man bann von einem 
Erſtarren. Denn da die Aſthetik erſt eine Folge der Kunſt iſt, da ſie im Grunde nichts anderes 
zu tun hat, als die Geſetze zu erkennen, weshalb ein vor ihr geſchaffenes Kunſtwerk ſchön wirkt, 
fo muß fie fo lange in Bewegung fein, als Kunſt lebendig iſt. Aber die Frage des Genrebildes 
war eigentlich weniger eine äſthetiſche; ſie berührte den innerſten Nerv des Kunſtſchaffens 
ſelbſt, man kann fagen, daß fih hier letzterdings die Weltanſchauungsfrage der Kunſt aus- 


Die Rückkehr des Gentebilbes 147 


ſpricht. Denn das Genrebild ober, fagen wir beffer, bie novelliſtiſche Malerei, ift nur die volts- 
tümlichſte und verſtändlichſte Ausſprache für den Anteil des Seeliſchen am maleriſchen Schaffen. 

Es iſt feſſelnd, wie auf den verſchiedenen Kunſtgebieten die gleichen geiſtigen Strömungen 
einer Zeit ſich leicht abgewandelt zeigen, wie ſie durch eigentümliche Verhältniſſe, oft auch 
durch die Macht einzelner Perſönlichkeiten in der einen Kunſt ſich viel länger behaupten können, 
als in der anderen, wie dieſelben Anſchauungen hier eine gewiſſe volkstümliche Allgemein- 
gültigkeit gewinnen, während fie auf dem anderen Kunſtgebiete verlacht werden. Der Natu- 
ralismus hatte zunächſt im Gegenſatz zur vorher geltenden Wichtigkeit der Stoffwahl, des 
Herausfindens eines „ſchönen Sujets“, die Gleichwertigkeit aller Stoffe betont. Der im 
Grunde dummdreiſte Satz von Konrad Alberti dürfte noch in Erinnerung fein, der da ver- 
kündete: „Für bie Kunſt fei der Tod des größten Helden nicht intereſſanter, als die Geburts- 
wehen einer Kuh.“ Auf literariſchem Gebiete griff das Publikum zur Notwehr; es fand die 
Offenbarungen des „konſequenten Naturalismus“ langweilig oder lächerlich, beachtete ſie nicht, 
und fo mußten die Schriftſteller ſich aus eigenem Lebensintereſſe bald wieder bemühen, fir 
die nötige Spannung zu ſorgen. Konrad Alberti gab mit ſeinen gehetzten, mit ſenſationellen 
Mitteln aufgebauſchten Romanen ſelber das gute Beiſpiel. 

Viel nachhaltiger wirkte derſelbe Grundſatz auf dem Gebiete der Malerei, und es iſt 
gar nicht zu leugnen, daß er hier auch recht Gutes erzielt hat. Denn es iſt ja immer ein anderes 
um die ſchroffe Formel, in der ein Kritiker, der womöglich noch zum Widerſpruch reizen will, 
einen Grundſatz ausſpricht, und der Art, wie ihn der Künſtler im lebendigen Schaffen ver- 
wirklicht. Wenn Liebermann die Forderung aufſtellte, beim Malen habe der Kerl von Menſch 
im Künſtler ſich einfach beiſeite zu ſcheren, ſo wird das eben nur jenen Künſtlern gelingen, 
in denen dieſes Menſchliche außerordentlich ſchwach iſt, genauer genommen, in denen dieſes 
Menſchliche ganz aufs verſtandesmäßig Techniſche eingeſtellt ijt. Und Iden die Aufftellung 
eines ſolchen Satzes charakteriſiert den Sprecher nach dieſer Richtung hin. Wir brauchen nur 
auf der anderen Seite einen Thoma erſtehen zu laſſen mit ſeinem Satze: „Die Kunſt iſt uns 
Deutfchen Herzensſache“, oder den aus den Kunſtbeilagen dieſes Heftes fo beredt zu uns 
ſprechenden Schönleber zu hören, wenn er ſagt: „Was mit Liebe gemalt iſt, muß Liebe wecken“, 
ſo haben wir einfach die Weltanſchauungsgegenſätze. 

Niemand wird behaupten, daß es Liebermann an Leidenſchaftlichkeit bei der Erfaſſung 
künſtleriſcher Probleme oder bei ihrer Durchführung gefehlt habe; aber ſeine Geſamteinſtellung 
iſt eine andere. Im übrigen war Liebermann, um das hier einzuſchieben, immer ſehr klug 
bei der Wahl ſeiner Motive, und wenn er zuzeiten Albertis Satz theoretiſch als richtig anerkannt 
hätte — in der Praxis befolgt hat er ihn nie. Kommt jener Begriff der Liebe, der Herzens- 
face, hinzu, fo ſtellt (id Konrad Abertis Satz genau auf den Kopf: durch das liebevolle Erfaſſen, 
durch die Herzensanteilnahme, die der Künſtler aufbringt, kann das ſcheinbar Nichtigſte, Kleinſte, 
ja Häßlichſte, künſtleriſch viel ſchöner und bedeutſamer werden, als das im allgemeinen Sinne 
Erhabenſte, Größte und Schönſte. Und in der Hinſicht hat allerdings der Naturalismus gut 
gewirkt. Nicht nur als Gebietserweiterung, nicht nur, weil in dem Bekenntnis: ich liebe dieſe 
vom Herkommen verachteten, geringgeſchätzten oder häßlich befundenen Dinge ſo wie ſie ſind, 
ja weil ſie ſo ſind, ein edler Wahrheitsmut liegt, ſondern weil dieſe Alliebe der höchſte Sinn 
einer göttlichen Schöpfung iſt; kunſterzieheriſch aber, weil hier auch vom Beſchauer geiſtige 
und ſeeliſche Mitarbeit verlangt, weil ein jeweiliges neues Erleben des Stoffes geheiſcht 
wird. Das iſt nicht der Fall, wenn auf landſchaftlichem Gebiete mit den abgebrauchten fenti- 
mentalen „Schönheitswerten“ in herkömmlicher Weiſe weitergearbeitet wird, als da ſind: 
Mondſchein, Abendrot, kühne Bergformen und dergleichen. Das geſchieht nicht, wenn die 
tauſendmal behandelten bibliſchen Vorgänge ſchablonenmäßig weiter behandelt werden. 

In dieſem Sinne iſt der Kampf gegen das Novelliſtiſche in der Malerei berechtigt und 
notwendig geweſen und iſt es heute noch, denn in allen dieſen Fällen lenkt der Stoff, der Inhalt 


148 Die Ridtehr des Genreblldes 


des Bildes ab von ber Kunſt. An die Stelle des inneren ſeeliſchen, küͤnſtleriſchen Erlebens 
tritt ein geradezu materielles. Aber es gibt keinen hiſtoriſchen oder literariſchen Vorgang, wie 
es überhaupt nichts in der Velt gibt, das nicht Gegenſtand des maleriſchen Kunſtwerkes ſein 
durfte, wenn es künſtleriſch behandelt wird. In der Tat entſcheidet alfo das Wie, nicht das Was. 

Leider hat man aus dieſer Erkenntnis den verhängnisvollen Satz gefolgert: Nicht auf 
das Was kommt es an, fondern auf das Wie, und dieſen Satz dann einſeitig dahin weiter- 
entwickelt, daß das Was gleichgültig fei, ja daß ein gleihgültiges Was geradezu vorzuziehen 
ſei, weil ſich dann die ganze Aufmerkſamkeit beim Künſtler wie beim Beſchauer auf das Wie 
einſtelle. Damit erhalten wir die Herrſchaft der Technik als oberſtes Geſetz. 

Es iſt bekannt, wie nun ſeit einem Vierteljahrhundert dieſe techniſchen Probleme im 
Vordergrunde unſerer Malerei ſtehen. Man mißverſtehe nicht; es war für den Künſtler immer 
geradezu eine Lebensfrage ſeiner Kunſt, wie er ſich mitzuteilen habe. Er kann ſein techniſches 
Vermögen, oder vielleicht fagen wir beffer: die Ausbildung des Handwerklichen, gar nicht 
hoch genug entwickeln, weil er dadurch ja eben frei wird zur Geſtaltung des Kunſtwerkes. Aber 
er muß frei werden. In demſelben Augenblick, wo ihm das Techniſche zum Inhalte feiner 
Kunſt wird, hat er ſich von der eigentlichen Kunſt entfernt, iſt er nur Handwerker. 

Wir würden in dieſen Dingen viel klarer ſehen, wenn wir nicht zu oft das Techniſche 
in der Kunſt mit Formgebung verwechſelten, und dieſe wieder mit Problemen der ſinnlichen 
Wahrnehmung. Die ſogenannte Freilichtmalerei iſt eine Frage der Sinne. Der Kampf mit 
dem Licht, die Beobachtungen an den Einwirkungen dieſes Lichtes auf Form und Farbe der 
Dinge, das iſt alles eigentlich ein Geiſtiges, und die techniſche Seite der ſich damit beſchäftigenden 
Malerei tritt nur deshalb ſo ſtark hervor, weil es neuer techniſcher Mittel bedurfte, um dieſen 
Problemen beizukommen. Yd) glaube febr gern, daß vielen Romanen, für die bie Kunſt ja 
überhaupt viel mehr ſinnliche Formſache iſt, die Kunſt ihr Beſtes in dieſem Ringen mit ſolchen 
ſinnlichen Problemen gibt. Wir Deutſche ſind aber anders geartet. Darum empfinden wir 
in dieſer Malerei ein Überwiegen des Techniſchen, darum aber haben ſich auch eine große 
Zahl der deutſchen Maler dieſer Art einſeitig ins Techniſche verrannt. Da kommt es dann 
dahin, daß das Entſcheidende der Malerei darin liegt, ob man punktiert oder Strichelchen macht, 
alle Dinge in geometriſche Figuren zerlegt uf. Da man doch ohne ein Geiſtiges unb Seeliſches 
nicht auskommt, muß dann das unglückliche Wort „Stil“ herhalten. Man ſucht den Stil der 
Dinge. Es iſt aber lächerlich, in der Art der Technik einen Stil ſehen zu wollen, wo dieſer doch 
nur der Ausdruck einer inneren Anſchauung ſein kann. 

Weil wir Oeutſche ſo wenig Vertrauen und ſo gar keinen Stolz auf die eigene Art 
haben, haben wir uns von einer fremdſüchtigen Kritik einreden laffen, daß ausgerechnet 
die uns Oeutſchen zunächſt liegende Art von Kunſt, die eben danach trachtet, ein geiſtiges und 
ſeeliſches Erleben zu geſtalten, die überhaupt keine Erſcheinung der Natur ohne dieſes ſeeliſche 
Miterleben zu empfangen vermag, unkünſtleriſch fei, Dafür werden uns dann von derſelben 
Seite „Expreſſioniſten“ und „Futuriſten“ nun als wertvolle Stilkünder angeprieſen, dieſe 
Futuriſten, deren Werke einfach den Purzelbaum des Impreſſionismus darſtellen, inſofern 
hier alle Naturerſcheinung preisgegeben wird, um dafür eine bunte Miſchung geiftiger Eindrüde 
und ſeeliſcher Erlebniſſe als Bild auszugeben. 

Nun, man braucht das alles nicht ſo tragiſch zu nehmen. Es tut einem nur leid, daß 
weite deutſche Kreiſe fid) auf diefe Weiſe in der Irre herumführen laffen, bloß weil fie nicht 
den Mut haben, ihrem deutſchen Empfinden zu folgen. Und ſie haben es doch nun ſchon oft 
erleben können, daß ſchließlich doch auch dieſe deutſche Art wieder „in Mode“ kommt, wie es 
fich jetzt offenbart in dem von Max Liebermann geförderten Preisausſchreiben für Genre- 
bilder, das den äußeren Anlaß zu dieſen Ausführungen gegeben hat. K. St. 


. 


Ehrenrettung des Dresdner Madonnenbildes 149 


Ehrenrettung des Dresdner Madonnenbildes 


wm or längerer Zeit war in einem Tageblatt von einem namhaften Kunſtkritiker zu 
leſen, daß der Wert der Kunſtwerke in unſerer Zeit febr ins Schwanken getom- 
men ſei, daß es nicht richtig ſei, den Wert eines Kunſtwerks nur vom Namen des 
Ranitlers abhängig zu machen, viel richtiger fei es doch, am Kunſtwerk unb dem, was es bietet, 
ſich zu erfreuen und es nicht nur um des Namens des Rünftlers willen zu ſchaͤtzen, dem es in unferer 
Zeit bald ab-, bald zugeſprochen werden könnte. So würde es ihn nicht wundern, wenn einer 
käme, der nachwieſe, daß die Dresdner Holbein Madonna das Original fei, nicht die Darmſtädter. 

Stets habe ich mich für dieſe Angelegenheit intereſſiert, weil ich ihr beſonders nahe 
geſtanden. Durch die letzten Forſchungen des Kunſtgelehrten Dr. E. Major in Baſel, die 
ſeinerzeit im Anzeiger für ſchweizeriſche Altertumskunde veröffentlicht worden ſind, bin ich 
mit meinem Arteil völlig zum Abſchluß gekommen. 

Die bisherige Holbeinforſchung hat nachgewieſen, daß das Original von den Erben 
des Lukas Zfelin zu Baſel um das Jahr 1633 an den Kunſthändler Le Blond um 
taufend Gulden verkauft wurde. Dieſer brachte es nach den Niederlanden, wo er es bald dar- 
auf an Johann Löſſert in Amſterdam für dreitauſend Gulden weiter verkaufte. In 
den Niederlanden wurde um die gleiche Zeit von dem Maler Bartholomäus Gar- 
burg h eine Kopie hergeſtellt, die in den Beſitz der dort in der Verbannung lebenden Marie 
von Medici kam. Es iſt anzunehmen, daß dieſe Kopie auf Beſtellung angefertigt wurde, 
denn nach der Reformation waren Madonnenbilder kein geſuchter Artikel. Weil dieſe Kopie 
für herrſchaftliche Raumgrößen beſtimmt war, liegt es nahe, daß der Maler Sarburgh den Auf- 
trag hatte, dieſelbe größer anzufertigen als das Original. Auf dem Darmſtädter Bilde haben 
die Figuren Lebensgröße, auf dem Dresdner nur drei Viertel derſelben, ſo daß letzteres der 
Größe nach wohl den Verhältniſſen bürgerlicher Wohnräume der damaligen Zeit entſprach, 
als es von Holbein gemalt worden ift, zumal dergleichen Bilder über einem ſchmalen Altar 
angebracht waren. 

Die ſogenannte Holbein-Ausſtellung, die 1871 in Dresden ſtattfand, war nichts weniger 
als dazu angetan, die hochwichtige Frage der Originalität zu entſcheiden. Außer den beiden 
Madonnenbildern waren nur noch eine größere Anzahl Porträts, faft nur männliche in dunkler 
Neidung, vorhanden, die durch Vermittlung des Direktors Gruner aus England berüber- 
gekommen waren, alfo der ſpäteren Schaffensperiode angehörten. Außer den beiden Madonnen 
glänzten alle noch vorhandenen Holbeinſchen Figurenbilder durch Abweſenheit. Zudem war 
das Darmſtädter Bild dick gefirniſt und beſonders in den Köpfen febr ſtark übermalt, aber den- 
noch ſprachen die Herren Kunſtgelehrten das Urteil; wahrſcheinlich konnten ſie ſich nicht denken, 
daß das größere Bild die Kopie fein könne. Nachträglich habe ich den Eindruck ge- 
wonnen, man habe abſolut den Ruhm von Dresden auf Darmſtadt übertragen wollen. Zſt 
doch das Dresdner Bild Jahrhunderte hindurch als das Original geſchätzt und bewundert wor- 
den, von dem Oarmſtädter Bild hingegen hat bis Mitte der ſechziger Jahre vergangenen Jahr- 
hunderts die Welt überhaupt nichts gewußt. Derjenige Kunſtgelehrte, auf deſſen Betreiben 
diefe Ausſtellung zuſtande gekommen, war einer von denen, bie fic haben zum Maler aus- 
bilden wollen, aber die Schwierigkeiten der Technik der Malerei nicht zu überwinden vermoch- 
ten, wie ſeinerzeit auch Paſſavant. Er hatte ein mehrjähriges Studium an der Kunſtakademie 
hinter ſich, ſo daß die anderen Herren ſeine Meinung als ausſchlaggebend angenommen haben 
mögen; hätten ſie damals gewußt, was wir jetzt wiſſen, würde ihr Urteil wohl auch anders 
ausgefallen ſein. (Siehe Tagebuchniederſchrift von L. Richter.) 

Das lebhafteſte Intereſſe für die Dresdner Madonna hatte Profeſſor Hübner, 
der damals Galeriedirektor war. Er hatte über beide Madonnenbilder eine Abhandlung ge- 


150 Ehrenrettung des Dresdner Madonnendildes 


ſchrieben, die in der „Illuſtrierten Leipziger“ veröffentlicht wurde, der die Abbildungen in 
gleicher Größe beigegeben waren. Damals mußten alle Illuſtrationen, die durch Buchdruck 
vervielfältigt werden follten, in Holafchnitt hergeſtellt werden, wodurch mancher junge Riinft- 
ler mit dem Aufzeichnen auf die Holzplatte einen Nebenverdienſt hatte. Ich war beauftragt, 
die Dresdner Madonna aufzuzeichnen. Nachdem ich meine Arbeit abgeliefert und einige Tage 
ſpäter zu Xylograph Wertmann tam, ſah ich, daß die Holzplatte in Arbeit war, aber zuvor über 
den Köpfen der Knienden durchgeſchnitten und ein Streifen von der Breite eines Bleiſtifts 
eingeſetzt, die Zeichnung aber durch Hübners Hand ergänzt worden war. Er hatte einen ſehr 
eleganten Strich. Ich ſagte zu Wertmann: „Na nun, was hat denn das zu bedeuten?“ Da 
erfuhr ich, daß Hübner beim Vergleichen der beiden Aufzeichnungen, die nach gleich großen 
Photographien genau auf die Holzplatten übertragen worden waren, gefunden habe, daß auf 
dem Dresdner Bilde die Madonna weniger über die Gruppen der Knienden emporrage als 
auf dem Oarmſtädter Bilde, und er wollte nicht, daß unfer Bild dem Darmſtädter auch nur in 
irgendeiner Beziehung nachſtehe. Somit war ein Merkmal verwiſcht, das die Herren Runft- 
gelehrten hätte ſtutzig machen muͤſſen. Hübner hat irrtümlicherweiſe geglaubt, in Wahrung be- 
rechtigter Intereſſen zu handeln. Es hat über dieſer ganzen Angelegenheit damals kein guter 
Geiſt geſchwebt. | 

Bei unſerem kleineren Bilde fällt der erwähnte Umftand nur dem auf, der Kenntnis 
davon bat, um fo mehr mußte er aber dem Maler Sarburgh bei feiner Kopie größeren Maß- 
ſtabes auffallen, ſo daß er ſich genötigt ſah, die Maria mit dem Kinde über die Gruppen der 
knienden Figuren mehr herauszuheben. Es ijt eine Eigentümlichkeit der altdeutſchen Mal- 
ſchule, daß ihren Künſtlern der Blick für freie, großartige Entfaltung mehr oder weniger ab- 
ging, dafür war aber bei ihnen der Sinn für das Einzelne außerordentlich entwickelt. So zeigt 
das Dresdner Bild Qualitäten, die beſonders ſolchen Bildern eigen, die aus der erſten Schaffens 
periode großer Rünjtler ſtammen, fo die liebevolle, hingebende Durchbildung der einzelnen 
Formen bis zu den Löckchen der Kinderköpfe und gewiſſenhafteſten Genauigkeit des Neben- 
ſächlichen. Auch der Umſtand, daß das Dresdner Bild mit makelloſem, gutem Farbenmaterial 
gemalt iſt, dem die vorzügliche Erhaltung nächſt guter Aufbewahrung zu danken iſt, fällt ſchwer 
ins Gewicht. Man ſieht es dem Bilde an, daß ſozuſagen immer alle Hände darüber gehalten 
worden ſind, weil man ſich ſeines hohen Wertes bewußt war. Bei der Kopie hat man das 
weniger für nötig erachtet, daher der ſchlechte Zuſtand, in dem das Darmſtädter 
Bild befunden wurde. Dieſes Bild mag wohl jetzt auf den kunſtverſtändigen Beſchauer einen 
imponierenden Eindruck machen, was nicht nur durch die Größe, ſondern auch durch die Ber- 
beſſerungen, die der Maler Sarburgh vorgenommen hat, bewirkt wird. Holbein ſchaffte etwas, 
das noch nicht vorhanden war; Sarburgh hatte das Vorbild vor fid), konnte ſomit leicht Ber- 
beſſerungen anbringen, die ſchon durch die Vergrößerung bedingt worden waren. 

Ludwig Richter ſagt zum Schluß feiner Tagebuchniederſchrift, daß das Darmſtädter 
Bild Verbeſſerungen enthalte, aber unſeres fei das ſchönere. Es ift doch ganz 
undenkbar, daß ein hervorragender Maler bei ſeiner Kopie ſolche Verbeſſerungen nicht mit 
malt. Schon das allein beweiſt, daß das Dresdner Bild vor dem Darmſtädter gemalt ſein muß 
und ſomit das Original iſt. 

Für das Darmſtädter Bild ſpricht nur der Umſtand, daß es in Holbeins Malweiſe ge- 
malt fein foll. Nachdem aber der Kunſtgelehrte Dr. E. Major nachgewieſen, daß die Kopie 
ſeinerzeit von dem Maler Sarburgh angefertigt worden ift, der in Holbeins Art und Weiſe 
gemalt hat, wie die von ihm herrührenden guten Kopien der acht Prophetenpaare nach Hol- 
bein im Muſeum zu Baſel, die von Sarburgh ſind, beweiſen, iſt dieſer einzige Beweisgrund 
für die Originalität des Darmſtädter Bildes hinfällig geworden. 

Nur um der Wahrheit willen habe ich Vorſtehendes noch in meinem 73, Lebensjahre 
niedergeſchrieben. Julius Steglich, Kunſtmaler 


Nloffiter der Runft 151 


Klaſſiker der Kunſt 


ar S 0 n ber raſch zu großer Beliebtheit gelangten Sammlung „Kaſſiker der Kunſt“, bie 

von der Deutſchen Verlagsanſtalt in Stuttgart herausgegeben wird, find in den 
En letzten Monaten vier Bände erfchienen, die der Liebhaber (id) mit großer Genug- 
tuung in fein häusliches Bildermuſeum einſtellen wird. Denn dieſe Bände find Bilderbücher 
einer ganz eigenen Art. Für den erſten Blick mag ja eine Gefahr darin liegen, daß man ſo 
das Geſamtwerk eines Künſtlers in Abbildungen vor ſich liegen hat. Wenn man ſchon ein aus 
dreihundert Bildern desſelben Künſtlers beſtehendes Muſeum als nicht beſonders anregend, ja 
ermüdend und bie Geſamtvorſtellung von dem betreffenden Künftler ſchädigend anſehen 
müßte — in Wirklichkeit gibt es ja kaum etwas derartiges —, fo erhöhen ſich alle dieſe Ge- 
fahren vor einer Sammlung von Reproduktionen, die, mögen fie an fid) nod jo gut fein, bod) 
eine große Zahl von Feinheiten der Originale vermiffen taffen müffen. 

Aber diefe Bände follen ja auch nicht auf einmal durchgeblättert, fie follen uns 
vertraute Hausfreunde werden. Die uns bereits bekannten Lieblingsbilder eines Künſtlers 
ſchlagen die erſte Brücke zwiſchen uns und dem Buch. Bei jedem neuen Beſchauen gewinnen 
wir neue Werke hinzu. Gerade die ähnlichen Bilder locken zu Vergleichen. Die Wiederholungen 
reizen zur Unterſuchung, worin bei jeder derſelben die neue künſtleriſche Arbeit liegt. Die 
wiederholte Behandlung derſelben Gegenſtände läßt uns tiefe Einblicke tun in die geiſtige Ber- 
faſſung des Künſtlers. Die in Bildniſſen dargeſtellten Menſchen werden uns mit jedem neuen 
Sehen vertrauter, ſchließlich gewinnen ſie Fleiſch und Blut, hinter dem Bildnis erſteht der 
Menſch. Vas dem erſten Blick als ein Mangel erſcheinen konnte, eben die Darbietung des ge- 
ſamten Werkes, wird ſo zu einem Gewinn. 

Für Kunſtſtudierende und Fachleute wird dieſe Vollſtändigkeit zu einem Vorzug vor 
allen ähnlichen Veröffentlichungen, zumal alle Bände von ausgezeichneten Kennern heraus- 
gegeben find, wobei es aber trotzdem gelungen ift, die rein fachlichen Fragen aus der Gefamt- 
würdigung des Künſtlers auszuſcheiden. So hat die die Bände einleitende Biographie bei 
aller Wiſſenſchaftlichkeit doch den Charakter der vornehm volkstümlichen Darſtellung, wäh- 
rend die vielen Streitfragen uſw. in den Anhang verwieſen ſind. 

. Herzliche Freude werden viele über den Band Fra Angelico ba Fieſole 
(Des Meiſters Gemälde in 327 Abbildungen, herausgegeben von Dr. Frieda Schottmüller; 
9 M) empfinden. Seit etwa zwanzig Jahren erfreuen fid) die Engelsgeſtalten dieſes Künſtlers, 
vor allem in den vorzüglichen Knöflerſchen Farbenholzſchnitten, einer wachſenden Beliebtheit. 
Wer ihn aber erſt in Florenz erlebt hat, der hat dieſen einzigartigen Künſtler für immer ins 
Herz geſchloſſen. Man hat ſeine Kunſt eine Verkörperung des Schönſten in der Frömmigkeit 
des Mittelalters genannt und ſieht gerade in bem Übergang vom Mittelalter zur Renaiſſance 
einen ihrer wunderſamſten Reize. Ich glaube, das Höchſte, was Fra Angelico hat, iſt nicht 
mittelalterlich, ſondern ewig. Und zwar nach der menſchlichen wie nach der künjtlerischen Seite. 
Das tiefſte Weſen des Gebetes von der beſchaulichen Betrachtung bis zur leidenſchaftlichen Zn- 
brunſt, von dem glücklichen Sicheins fühlen mit der Gottheit bis zum qualvollen Zermartern 
des eigenen unwürdigen Leibes, iſt nirgendwo ſonſt ſo erfaßt worden, wie etwa in den vielen 
Bildern aus dem Leben des heiligen Dominikus in den Zellen des Kloſters San Marco, bas 
ja überhaupt eine einzigartige Stätte für die Kunſt Fra Angelicos iſt, wie ſie wohl kaum zum 
zweitenmal für das Schaffen eines Künſtlers vorhanden iſt. Künſtleriſch aber hat man wohl 
bei keinem anderen Maler fo das Gefühl des Gottesdienſtes in der Arbeit wie hier. Die Beit- 
genoſſen haben ihn den Engelgleichen genannt, ſo daß ſein Name Fra Giovanni hinter dem 
Angelico faſt in Vergeſſenheit geraten iſt. Die Bezeichnung iſt jedenfalls richtiger, als wenn 
man immer vom Mönchiſchen feiner Kunſt ſpricht. Denn mit dem Begriff bes Mönchiſchen 


152 Klaſſiker der Nunſt 


verbindet (id) uns der des Entſagens, der Weltfeindfchaft. Aber bei Fra Angelico ijt ja alles 
Reichtum des Beſitzes, Freudigkeit, allerdings Freudigkeit in Gott. 

Wenn man ein ſo ganz ausgelebtes Leben vor ſich hat, ſieht, wie jedes Wollen ſich 
in Tun umſetzen konnte, fo empfindet man als Grauſamkeit ein Dafein, wie es unferem 
deutſchen Meiſter Alfred Rethel beſtimmt war. Nicht einmal ſein großes Hauptwerk, 
die Fresken im Rathausfaal zu Aachen, hat der von ſchwerem Leiden und dem Unverſtand 
ſeiner Zeitgenoſſen gepeinigte Künſtler vollenden können. Vielleicht iſt niemals Größeres ſo 
ganz in Entwürfen ſtecken geblieben, wie hier. Hätte Rethel ſchaffen können, wie er berufen 
war, — die Hiſtorienmalerei wäre längſt für Deutſchland keine problematiſche Kunſt mehr. 
Nur wenig ijt von ihm in weiteren Kreiſen bekannt, und fo ijt es ein beſonderes Verdienſt die- 
fer Sammlung, die Entwürfe und Zeichnungen, auch die Zlluftrationen Rethels, vereinigt mit 
feinen ausgeführten Werken in einem dieſer Klaſſikerbände darzubieten (300 Abbildungen, 
herausgegeben von Joſeph Ponten; 9 &). Selbſt jene, die fid) für Kenner unferer Kunſt 
halten, werden hier vieles finden, was ihnen bislang unbekannt war. 

Ein Glücklicher ift dann wieder Max Liebermann (303 Abbildungen, beraus⸗ 
gegeben von Guſtav Pauli; 10 J£). Es wäre ein Streit um Worte, wenn man feine Aufnahme 
in eine Sammlung von Klaſſikern der Kunſt bekritteln wollte, denn man mag ſich zu Lieber- 
manns Kunſt ftellen wie man will, die Tatſache, daß er ſchon heute eine große hiſtoriſche Be- 
deutung hat, iſt nicht wegzuleugnen. Darüber hinaus wird er in einzelnen ſeiner Werke von 
jedem als Vollkünſtler anerkannt werden müſſen. Feſſelnd oder — das Fremdwort iſt hier 
durchaus am Platze — intereſſant ift fein Geſamtwerk. Freilich, daß es viele Leute gibt, bie 
wirklich bei feiner Runft warm werden, denen dieſe Kunſt ein Lebensgut wird, kann ich kaum 
glauben. Gerade wenn man ſo ſein Geſamtſchaffen vor ſich hat, empfindet man Liebermann 
nirgendwo als einen ganz Eigenen, Perſönlichen. Man [pürt überall die hiſtoriſchen Zufammen- 
hänge, ſo daß er einem als Aufnehmer, als Vermittler, wenn auch als außerordentlich kluger 
und Hervorragendes könnender, erſcheint. Wirklich dürftig iſt die geiſtige Ausbeute, die man 
von den mehr als dreihundert Bildern dieſes Bandes mitnimmt. Und ich meine, es ſei in 
der Hinſicht bei ihm immer ſchlimmer geworden. Immer weniger hat er das Herz mitſprechen 
laſſen, in immer geſteigertem Maße iſt ſeine Kunſt lediglich Mitteilung des vom Augenſinn 
Erfaßten. Das hat Liebermann bewußt gewollt und ja aud in feinen Reden immer verfod- 
ten. Aber darum bekommt man eben auch fo außerordentlich wenig. Selbſt bie Bildniſſe ver- 
ſagen ſchließlich, wenn man vielleicht unmittelbar danach zu dem Bande Hans Holbein 
der Jüngere greift. Auch Holbein ift in feinen Bildniſſen durchaus fachlicher Abſchilderer 
der körperlichen Erſcheinung. Es iſt einem, als hätte ſich der Meiſter gar nicht um die geiſtige 
und ſeeliſche Art feiner Modelle gekümmert. Nur der Körper ging ihn etwas an, nur ihn ftellte 
et dar. Aber in biefer beiſpielloſen Sachlichkeit, in Dieter ſtrengen Objektivität, die der Künſtler 
auch gegen ſich ſelber richtete, liegt eine Kraft der Veranſchaulichung des Körperlichen, die 
ſchließlich etwas Unheimliches bekommt. Wenn man dieſe Bildniſſe oft ſieht, fo werden einem 
die dargeſtellten Menſchen greifbar lebendig, ſie verfolgen einen wie die Erinnerung an Be⸗ 
kannte. Warum hat man ein derartiges Gefühl nie bei Liebermann? Das liegt doch am Im- 
preſſionismus; weil Liebermann ben ganz ſelbſtherrlichen ſubjektiven Eindruck wiedergibt, fehlt 
das Ringen um den Stoff. Auch dieſer Band, der von Paul Ganz herausgegeben iſt, füllt eine 
Lücke in unſerer Kunſtliteratur aus. Seit einem Menſchenalter iſt kein eindringliches Buch 
über Holbein erſchienen, feine Werke find überhaupt noch niemals in ähnlicher Weiſe voll- 
ſtändig niedergelegt worden. Der vorliegende Band enthält in 252 Abbildungen nur die Ge- 
mälde; die Zeichnungen find einem beſonderen Bande vorbehalten. Um dieſe Zahl zu er- 
reichen, hat man auch die untergegangenen Monumentalmalereien nach alten Kopien und 
Stichen wiedergegeben. St. 


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Das Kunſtwerk Der Bebntaufend 
| Von Dr. Karl Storck 


For ein, zwei Jahren war das „Theater der Fünftauſend“ fo etwas 
d wie ein Schlagwort. Mit den großen Theateraufführungen Max 
Wé 2 Reinhardts in Zirkuſſen oder rieſigen Feſthallen, wie ſie München, 
SD Mannheim, Frankfurt beſitzen, war es aufgekommen. Bald gab man 
ihm einen kunſterzieheriſchen Sinn. Das Theater follte endlich den großen Volks- 
maſſen zugänglich gemacht werden. An ideale Wirkungen, die von fold einer Zu- 
hörerſchaft ausgehen ſollten, dachte man zunächſt weniger als an die Möglichkeit, 
mit billigen Cintrittspreifen zu arbeiten. So glaubte man wieder einmal die Löfung 
des Problems: „die Kunſt dem Volke“ in der Hand zu haben, und der Verein, der 
nach einem von zahlreichen Bürgermeiſtern unſerer Städte unterſchriebenen Auf- 
rufe gegründet werden ſollte, folgte ganz der von Reinhardt meiſterhaft geſpielten 
Lockpfeife. 

Es iſt inzwiſchen um dieſes große Volkstheater der Fünftauſend recht ſtill 
geworden. Iſt man durch die Art, wie Reinhardt auf die Tragödie der alten Grie- 
chen Offenbachs „Orpheus in der Unterwelt“ als Schauſtellung der Fünftauſend 
darbot, ſich darüber klar geworden, daß dieſer gewiß eigenartige und kluge, aber 
unruhige und letzterdings richtungsloſe Geiſt in all feinem Tun nur von äußer- 
lichen Erwägungen getrieben wird? Hatte man den Aberglauben an das „Glück“ 
dieſes Mannes, deffen man fid) nun, wo er fid) zum Weltreiſenden in Theater- 
regie entwickelte, nicht mehr ſicher fühlte, und wagte man ohne ihn ſich nicht in 
das Unternehmen hinein? , 

Wie bem aud) fei, es ift ein Glück, wenn es nicht zu dieſer Art von Bolts- 
theater kommt. Denn dieſes Unternehmen wird unbedingt ſcheitern, muß an inne- 
ter Entkräftung zugrunde gehen, weil nur an feine äußere Gewandung gedacht ijt, 
nicht an feinen Inhalt. Schon die bisherigen Aufführungen Reinhardts verraten 
diefe innere geiſtige Schwäche. Es gibt wohl heute jeder zu, daß die Reinhardt 


154 Storck: Das Runftwert der Zehntauſend 


ſchen Aufführungen des „Odipus“ und der „Oreſtie“ eine Vergewaltigung am 
innerſten Weſen, aber auch am großen Stil dieſer Tragödien waren. Man war durch 
die Spezialität der Rheinhardtſchen Maſſenbewegung verblüfft, und vereinzelte 
ſchreiende Effekte konnte man im erſten Augenblick ſtatt ale brutal als groß emp- 
finden. Aber lange konnte dieſer Wahn nicht anhalten, und wenn erſt, wozu ja 
dieſe Maſſenbewegungen mit beitragen dürften, in weiteren Kreiſen der Sinn für 
die Schönheit einer rhythmiſch bewegten Maffe geweckt ijt, jo wird das dilettantiſche 
Getue und die opernhaften Alfanzereien der Rheinhardtſchen Chormaſſen un- 
ausſtehlich ſein. Inzwiſchen iſt Reinhardt auf ſeiner Bahn in die naturnotwendige 
Richtung gedrängt worden unb mit feinem in London erſtandenen „Wirakel“ dicht 
bei der Zirkuspantomime großen Stils gelandet. 

O nein! Nicht auf das Theater der Fünftauſend kommt es an, ſondern auf 
das Kunſtwerk der Fünftauſend, der Zehntauſend, des Volkes. Das Theater 
findet ſich. Der Bau von rieſigen Feſthallen, wie ſie in den oben genannten Städten 
und auch in einigen anderen bereits beſtehen, bereitet heute keine Schwierigkeit mehr. 
Es gibt ſo vielerlei Bedürfniſſe für ſolche Rieſenräume, daß auch die Verzinſung 
des darin angelegten Kapitals nicht allzu ſchwierig ſein dürfte. Endlich aber ſteht 
die Frage des Raumes erſt in zweiter Linie. Daß es zur Not ein Zirkus tut, haben 
wir erfahren. Auch die großen Feſtzelte, wie fie jetzt zu Turner -, Sänger; unb 
Schützenfeſten erſtellt werden, könnten vor und nach dieſen Veranſtaltungen be- 
nutzt werden. Endlich bleibt für den Sommer auch die freie Natur. Denn nie- 
mand wird behaupten, daß, was jetzt auf den großen Freilichttheatern aufgeführt 
wird, bereits eine Erfüllung deſſen ſei, was hier geboten werden kann. 

Gerade aus einer genauen Beobachtung ſolcher Aufführungen im Freien, 
vor allem der vielen Volksfeſtſpiele in der Schweiz, hat ſich mir die Auffaſſung von 
dem Kunſtwerk der Zehntauſend herausgebildet, die ich in den folgenden Zeilen 
der öffentlichen Erwägung unterbreiten möchte. 8d) beſchränke mich dabei nicht 
auf meine ſubjektiven Empfindungen; ich habe ganz ſyſtematiſch durch Ausfragen 
gabllofer Feſtbeſucher gleich nach den Aufführungen, dann aber auch nach monate, 
ja jahrelanger Pauſe feſtzuſtellen verſucht, worauf (tarte und nachhaltige Eindrücke 
bei ſolchen Maſſenſpielen für das Volk beruhen. Das eine kann auch der Beob- 
achter merken, der nur gelegentlich ſolchen Aufführungen beiwohnte: Faſt ganz 
verſagt der dramatiſche Dialog. Allenfalls löſt derbe Komik Lachen aus. Die ſtarken 
Eindrücke aber beruhen immer auf Aufzügen, alſo auf dem farbigen Bilde und 
auf den großen Chorgeſängen. Ganz überrafchend ift die Teilnahme, mit der Reigen- 
ſpiele verfolgt werden. Die Wirkung folder rhythmiſchen Bewegungsſpiele unb 
des Chorgeſanges, der natürlich von Soloſtimmen unterbrochen ſein kann, iſt ſo 
verhältnismäßig viel ſtärker als alles andere, daß man in der Schweiz, wo dieſe 
Aufführungen vor verſammeltem Volke (in jenem guten Sinne, daß alle Klaſſen 
der Bevölkerung gleichmäßig Anteil nehmen) am meiſten verbreitet find, die Tech- 
nik des Feſtſpiels immer mehr nach dieſer muſikaliſchen Seite entwickelt hat. Ein 
ganz bedeutſamer Fortſchritt iſt nach dieſer Hinſicht die zum großen Turnerfeſt 
in Baſel im Juli biejes Jahres aufgeführte „Schlacht von St. Jakob“ (Dichtung 
von C. A. Bernoulli, Muſik von H. Suter), wo es gelungen war, die Chöre und 


Stord: Das Runftwert der Zehntauſend 155 


die Bewegungsſpiele in die Handlung miteinzubeziehen. Immerhin foll man die- 
ſen letzten Punkt, der ſich dem Theoretiker vor allem aufdrängt, nicht zu ſchwer 
nehmen. Man erſtaunt immer wieder in der Praxis über die außerordentliche 
Willigkeit und Bewegungsfähigkeit des Volkes als Zuſchauer. Das Volk iſt gar 
nicht fo begierig auf ſogenannte „Handlung“, es koſtet mit großem Behagen ein- 
mal geweckte Stimmungen aus und findet ſich nach langen Unterbrechungen leicht 
wieder zurecht. Oberſtes Geſetz für alle Kunſtwirkung auf das Volk ijt das Ber- 
meiden ſchwerer Problematik. Man braucht nur zuzuſehen, wie in ſämtlichen 
Paſſionsſpielen das Volk mit den gewiß ſehr problematiſchen Erſcheinungen der 
Verleugnung Petri und des Verrates und Selbſtmordes des Zudas fertig wird. 
Se einfacher und elementarer bie geweckten Empfindungen und die ganze dar- 
geſtellte Sachlage ſind, um ſo ſtärker wird die Wirkung ſein. 

Noch ein weiteres iſt mir durch alte Erfahrungen beſtätigt worden. Das 
Volk verlangt nicht eigentlich nach neuen Stoffen. Die Tatſache der Beliebtheit 
des Kinematographen kann gegen dieſe Behauptung ins Feld geführt werden. 
Aber das liegt ganz wo anders, und es ift ſelbſtoerſtändlich, daß die Neugier ge- 
weckt und damit dann auch die Gier nach Neuem geſteigert werden kann. Aber das 
ganze Volksleben zeigt das Gegenteil. Das Volk erfreut fih immer wieder an den- 
ſelben Schwänken, den gleichen Geſchichten, und überall und immer, wenn das 
Drama Feſtſpiel geworden iſt, behandelte es vertraute Stoffe. Das war bei den 
alten Griechen fo, denen ihre altbekannten Götter- und Heroengeſchichten vor- 
geführt wurden, das iſt heute in der Schweiz ſo, wo alle die vielen Feſtſpiele nur 
Stoffe behandelten, die jedem Schweizer von der Schulbank an völlig vertraut 
waren. Daß das Volk durch nichts mehr ergriffen wird, als durch die Paſſions- 
geſchichte, die es in allen Einzelheiten genau kennt, belegt auch dieſe für die Ge- 
ſtaltung des dem Volke dargebotenen Kunſtwerkes außerordentlich wichtige Lat- 
ſache. Was das Volk bei allen dieſen dramatiſchen Vorführungen der ihm ver- 
trauten Stoffe ſucht, ift ſeeliſche Erhebung, lyriſche Erregung und ſinnliche Schön 
beitefreube. 

Aus alledem folgere ich, daß das Kunſtwerk ber Volksmaſſe nicht im Drama 
und nicht in der Oper zu ſuchen iſt, ſondern in einer Art von Oratorium. 
Ich fage abſichtlich eine Art von Oratorium, weil die bekannten Formen desſelben 
dieſem Bedürfniſſe nicht voll entſprechen. Am eheſten noch die geiſtlichen. Fob. 
Seb. Bachs Paſſionen, Händels „Meſſias“, „Judas Makkabäus“ und „Sirael in 
Agypten“, Mendelsſohns „Elias“ ſind Werke, die ihrer vollen Wirkung auf die 
breiteſte Volksmaſſe ſicher ſind und jederzeit als ideale Kunſtwerke der Zehntauſend 
bezeichnet werden können. Gerade bei dieſen Werken kann man es auch erproben, 
wie willig die Phantaſie des Volkes dramatiſchen Vorſtellungen folgt, auch wenn 
diefe gar nicht ſzeniſch dargeſtellt werden. Za man wird gerade hier erkennen, daß 
die Loslöſung von der Szene die dramatiſche Wirkung noch erhöht. Keine noch ſo 
ſehr durcheinandergewürfelte Volksmenge kann ſo ſtark die innere Erregtheit und 
die leidenſchaftliche Anteilnahme an einem Geſchehen veranſchaulichen, wie es der 
erſte rieſige Doppelchor: „Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen!“ mit feinen Aus- 
rufen und Fragen: „Sehet! Wen?! Den Bräutigam!“ erreicht; oder wenn die 


156 Stora: Das Nunſtwerk der Zehntauſend 


angeſammelte Erregung ſich in dem gewaltigen Satze austobt: „Sind Blitze und 
Donner in Wolken verſchwunden.“ Zn „Iſrael in Agypten“ zeigt Handel, wie 
die muſikaliſche Darſtellung äußerlicher Dinge ungemein veranſchaulichend benutzt 
werden kann: bei der Darftellung der Plagen des Regens und Hagelſchlages, von 
Sturm und Gewitter, oder des Schwirrens der Mücken und Fliegen. Aber noch 
viel gewaltiger ijt die dramatiſche Wirkung, wenn er durch die inneren Emp- 
findungen ſie mitteilt und uns erſchauernd die Verwandlung des Waſſers in Blut 
miterleben läßt, oder im unſicheren Taſten der Stimmen und in ihrer lähmenden 
Gedrücktheit die undurchdringliche Finſternis geradezu erlitten wird. 

Sehr lehrreich iſt hier auch die Beſchwörung des Regens in „Elias“. Es 
ift ganz ausgeſchloſſen, daß mit ben raffinierteſten Mitteln einer vollendeten Theater- 
regie eine ähnliche Wirkung der Spannung, des Staunens über das herannahende 
Wunder, des Zubels über fein Geſchehen ausgelöſt werden kann, wie es hier ge- 
ſchieht, wenn der Prophet zu ſeinem Gotte fleht, und als „der Himmel ehern über 
ihm bleibt“, im Gebete immer heißer ringt, bis endlich ber ausſpähende Knabe 
eine kleine Wolke gewahrt, „wie eines Mannes Hand“, die dann wächſt, größer 
wird, heranſchwebt, das Firmament verfinſtert und ſich endlich im gewaltigen 
Regenguſſe entlädt, fo daß das Volk im Chore aufſchreit: „Dank fei dir, Gott! Du 
tränkeſt das durſtige Land.“ 

Dieſe Erfahrungen zeigen, daß es keiner großen äußerlichen Mittel 
bedarf, um dramatiſche Erlebniſſe zu geben, wenn es gelingt, die innere Erregung 
der Zuhörerſchaft wachzurufen. Karl Loewe, der ja ein febr volkstümliches Emp- 
finden hatte, hat in einer ganzen Reihe von Werken verſucht, das Oratorium zu 
einer Art von großem Volksdrama auszugeſtalten, indem er dafür Textbücher 
wählte, die eigentlich ganz dramatiſch geſtaltet waren. Einige dieſer Werke, wie 
„Die Zerſtörung Jeruſalems“, „Johann Hus“, „Gutenberg“, „Die Siebenſchläfer“, 
ſind ſeinerzeit mit ſtarkem Erfolg aufgeführt, von der Kritik allerdings meiſtens 
bekämpft worden. Ich glaube, daß der Fehler der Textbücher weniger in der großen 
Zahl der verſchiedenen Perſonen beruhte, als in den ſtarken Anſprüchen an die 
ſzeniſche Vorſtellungskraft der Hörer, die zum Beiſpiel beim „Hus“ immer wieder 
wechſelt, ſo daß man ſich bald im Gemach des Königs, dann auf dem Varſch über 
Böhmens Grenze, dann wieder in der Kirche uſw. befindet. Gerade hier wird die 
Einheit des Ortes, fagen wir beffer die Idealität bes Ortes, gewahrt werden müfjen. 

Ich glaube aber, daß hier auch für die Behandlung wel licher Stoffe der 
„Erzähler“ des alten Oratoriums den richtigen Weg weiſt. Das Geſchehen wird 
in Berichten bis zu jenen Höhepunkten geführt, wo ſich im dramatiſchen Dialog, 
in der lyriſchen Arie oder auch in der nachdenkſamen Beſchaulichkeit des breiten 
Ausklanges der natürliche muſikaliſche Ausdruck einſtellt. Der Erzähler brauchte 
keineswegs immer zu ſingen, das Rezitativ muß als Einheit mit den geſchloſſenen 
Muſikformen zuſammengehen. Das Muſikaliſch-Lyriſche und das Erzählende kann 
viel [ofer nebeneinander liegen. Ich kann mir ein Epos, einen rhapſodiſchen Be- 
richt denken, der von großen Muſikſtücken unterbrochen wird, in denen ſich die 
durch das Gehörte geweckte Stimmung auslöſt. 3d) könnte mir fo zum Beiſpiel 
eine Behandlung von Bismarcks Leben und Schaffen denken, wo dieſes reiche 


Stor: Das Kunſtwerk der Sebntaufenb 157 


Leben in einzelnen dichteriſch erzählenden Bildern vorgeführt würde und zwiſchen 
dieſen erzählenden Teilen Geſänge der verſchiedenſten Art eingeſchoben würden. 
In dieſen braucht von Bismarck gar nicht die Rede zu fein. Aber die in uns ge- 
weckten Vorſtellungen von ſtuͤrmiſcher Zugendluſt, tübnem Mannestrutz, alles über- 
windender Vaterlandsliebe bis in die Alterseinſamkeit des Helden, ſeine Siege, 
fein Tod würden lyriſch begleitet; etwa fo, wie der Chor der antiken Tragödie 
die Empfindungen und Gedanken ausſprach, die ein großes Geſchehen ausldfte. 
Das natürlich nur als ein Beiſpiel. Es kommt gar nicht darauf an, von vornherein 
eine Form feſtzulegen. Höchſte Freiheit iſt hier geboten, jeder einzelne Fall ge- 
bietet die beſondere ihm gemäße Löſung. So iſt auch über die Mitwirkung des 
ſzeniſchen Bildes nicht von vornherein grundſätzlich zu entſcheiden. Wie es gewiß 
viele Stoffe — die oben genannten geiſtlichen Oratorien gehören dazu — gibt, 
bei denen jede Einbeziehung eines ſzeniſchen Bildes vom Übel wäre, für die höch- 
ſtens die künſtleriſche Geſamthaltung des Raumes erforderlich iſt, ſo wird man bei 
anderen Gelegenheiten an ein ſtarkes Heranziehen der Farbe denken, die ſich bis 
auf die Gewandung des Chores erſtreckt, oder man wird lebende Bilder einſchieben 
können. Liſzt dachte bei feiner Dante-Sinfonie an große Dioramen. Sogar der 
viel angegriffene Kinematograph könnte wertvolle Dienſte leiſten. 

Freilich, das Ideal ſcheint mir bei der höchſten Einfachheit im ganz elemen- 
taren Charakter ber Veranſtaltungen zu liegen. Die urſprünglichen Feſte des Vol- 
kes haben angeknüpft an die Jahreszeiten. Ich glaube, das neue Volksfeſtſpiel 
ſollte ein gleiches tun, und zwar deshalb, weil fid) hier am zwangloſeſten das Reigen- 
ſpiel großen Stils mit Geſang verbinden ließe; weil ferner mit ganz elementaren 
Mitteln die Szene, ja der ganze Zuſchauerraum im Geiſte des Kunſtwerkes zu ge- 
ſtalten wäre. Die Symbolik der Jahreszeit ergibt fic leicht, und noch überall be- 
ſtehen Volksbräuche, die auf alte Mythen zurückgehen und in durchſichtigem Gleich- 
nis die Naturvorgänge vorführen. Dazu kommen die charakteriſtiſchen Arbeiten 
der verſchiedenen Jahreszeiten, ihre Spiele, ihre Genüſſe, ihre Naturerſcheinungen. 
Die Beziehungen zum menſchlichen Leben find in Überfülle vorhanden. Aus alle- 
dem ließen fid) abwechſlungsreiche Spiele geſtalten, deren einzelne Szenen nur 
durch die Geſamtſtimmung zuſammenzuhängen brauchen, bei denen es btamati- 
ſcher Konflikte und ſchwieriger pſychiſcher Entwicklungen oder einer ſogenannten 
Handlung gar nicht bedarf. Ich brauche nicht erft zu jagen, daß ich für die Reigen- 
ſpiele nicht an unſere heutige Pantomime denke. Hier haben die rhythmiſchen Bor- 
führungen der Schüler von Jaques-Daleroze deutlich die Wege gezeigt, auf denen 
wir zu gehen haben. Und auch für die Raumgeſtaltung ſind die Anregungen Adolf 
Appias unverlierbar. , 

8d weiß es ſelbſt ganz gut, daß fid) viel gegen diefe Vorſchläge einwenden 
läßt, vor allem eine Unmaſſe theoretiſcher Bedenken. Aber damit kommen wir 
nicht weiter. Hier muß praktiſch probiert werden. Wir ſind uns alle darüber einig, 
daß das Theater ſeine Aufgabe gegenüber dem Volke nicht erfüllt. Wir haben 
alle das eine oder andere Mal empfunden, welch ungeahnte Wirkung in dem Be- 
griffe Volksfeſtſpiel lebt; jedes Turner-, jedes Sportfeſt vermittelt uns Ahnungen 
davon. Fremde, die in der Schweiz ſolchen großen Volksfeſtſpielen beigewohnt 


158 Vom wirtſchaftlichen Kampf der Mufiter 


haben, haben begeiſtert darüber berichtet. Ich weiß, daß wir in Oeutſchland viel- 
fach recht übel daran ſind, daß die unſelige Glaubensſpaltung, die Zerriſſenheit in 
alle möglichen politiſchen Parteien ein Zuſammenwirken des Volkes außerordent- 
lich erſchwert. Aber gerade dem geht man durch Spiele von ſo ganz elementarem 
Naturinhalt aus dem Wege. Hier gilt's nun endlich tun, handeln. Es iſt gar nicht 
notwendig, daß ſolche Werke von Anfang bis zu Ende neu entſtehen. Das Muſikaliſche 
zum Beiſpiel ließe fid) aus der vorhandenen Literatur leicht zuſammenſtellen, und 
um die ſogenannte ſtiliſtiſche Einheitlichkeit der Muſik ſollte mir wenig bange ſein, 
wenn jedes Stück in ſich wertvoll wäre. 

Hier wäre dann endlich auch ein Mittel geboten, wo das Volk ſelber für ſich 
ſpielte. Und darin liegt doch die Hauptförderung. Die Mitglieder der Chöre wür- 
ben dem Volke entſtammen. Für die großen Reigenſpiele kämen die Zurner- 
verbände aller Art, kämen auch Schulen in Betracht. Die Wirkung würde viel 
weiter geben, als man im erſten Augenblick abſehen kann. Gerade unſeren tume- 
riſchen und Sportveranſtaltungen fehlt heute ganz und gar das Element der Schön- 
heit. Deshalb find fie ſeeliſch und geiſtig fo unfruchtbar. Hier ijt ein Mittel, Schön- 
heit in fie hineinzutragen, indem fie einmal zur Mitwirkung in Schönheit be- 
rufen werden. 

And noch ein anderes würde mit ſolchen Spielen elementaren Inhalts er- 
reicht. Dieſe Veranſtaltungen könnten wirklich Volksfeſte werden, Feſte für das 
ganze Volk, nicht für einzelne Stände. Dieſe Feſte könnten Brücken werden 
zwiſchen den Klüften, die uns im geiſtigen und ſozialen Leben ſcheiden. 

Ich glaube, es ift ein edles Ziel, das fid) hier vor uns auftut, fo ganz frei von 
allem Aſtheten- und Artiſtentum, und doch echt künſtleriſch. Wenn erft der feſte 
Wille dazu da fein wird, wird ſich auch ein Weg weiſen, es zu erreichen. 


e aß heute auf keinem anderen Gebiete jo traurige Lebensbedingungen herrſchen, wie 

auf dem des öffentlichen Muſikerſtandes, haben wir im Türmer des öfteren dar- 
gelegt. Grundſätzlich verfolgt der &ürmer feit Jahren alle Erſcheinungen auf die- 
fem Gebiete, einmal aus menſchlichem Mitgefühl mit einem ſchwer kämpfenden Stand, fo- 
dann weil wir der Überzeugung find, daß die Kunſt nur dann wirklich ſegensreich wirken kann, 
wenn fie als Geſamterſcheinung im Kulturleben geſund iſt. Die letzten Fahre haben ſehr wert- 
volle Beſtrebungen einzelner Muſikergruppen gebracht. Allen voran ſteht der Muſikpädagogiſche 
Verband, weil er das Grundproblem aufgreift. Schöne praktiſche Erfolge haben bereits die 
Orechſtermuſiker erzielt; auch die Dirigenten find organiſiert. Nur die konzertierenden Künſtler 
waren bislang ohne jeden Zuſammenſchluß, was um ſo bedauerlicher war, als hier in geiſtiger 
und materieller Hinſicht ganz verhängnisvolle Zuſtände herrſchen. Nun endlich haben auch hier 
die Leidtragenden zur Selbſthilfe gegriffen. In Düffeldorf ift ein „Verband der tongertieren- 
ben Rinjtler Deutſchlands“ gegründet worden, der ſchon jetzt Aber eine große Mitgliederzahl 


Bom wirtſchaftlichen Rampf der Muflter 159 


verfügt. Damit iſt bis zu einem gewiſſen Grade vollbracht, was der Türmer im Aprilheft 1908 
forderte. Wir begrüßen diefe Gründung unb begleiten fie mit den beiten Wünfchen. Gerade 
darum iſt es unſere Pflicht, einige Bedenken geltend zu machen. 

Es ijt ganz ſelbſtverſtändlich, daß dieſen Muſikern die Beſſerung ihrer wirtſchaft- 
lichen Lage vor allem am Herzen liegt. So verdichtet ſich das Streben des Vereins eigent- 
lich zu einer Bekämpfung der Ronzertagenturen. Dieſe follen erſetzt werden durch 
eine von den Künſtlern felbft geſchaffene Organiſation, die als Wohlfahrtseinrichtung gedacht 
ijt, inſofern ihre Aberſchüſſe den Künſtlern wieder zugute kommen. Das entſpricht ganz unje- 
ren damaligen Vorſchlägen. Es wäre zunächſt das beſte, weiter gar nichts zu tun und ſich mit 
voller Kraft dem Ausbau einer Konzertagentur zu widmen, die den beſtehenden Privatunter- 
nehmungen mindeſtens ebenbürtig iſt, deren Gewinne aber nicht einem einzelnen Spekulanten, 
ſondern eben der Geſamtheit der Muſiker zugute kommen. Dazu müßte allerdings nun zuerſt 
diefe Geſamtheit gegründet werden in Form einer Genoſſenſchaft, einer Penſionsanſtalt 
oder dergleichen. Ich glaube, daß für dieſen Gedanken die weiteſten Muſikerkreiſe und das 
Publikum zu gewinnen wären. 

Seder weitere Schritt berührt dagegen grundſätzliche künſtleriſche Fragen, und hier 
ſcheint mir jeder Reformverſuch von vornherein ausſichtslos, wenn die Axt nicht an die Wurzel 
des Übels gelegt wird. Es ijt aber zu bedenken, daß bei der ungeheuren Macht der beſtehenden 
Konzertdirektionen jeder Fehlſchlag für das junge Unternehmen lebensgefährlich wird, daß 
man fid) nicht auf zwelfelhafte Verſuche einlaſſen darf. Einen ſolchen aber ſtellen die fogenann- 
ten Einführungskonzerte dar, die der Verein als erſte Neuerung unſeres Konzert- 
lebens plant. Ich glaube, es war unklug, von dieſem Plane ſchon jetzt ſo viel in die breitere 
Öffentlichkeit gelangen zu laſſen. 

Es iſt ja Tatſache, daß wohl die Hälfte aller Konzerte nur veranſtaltet wird, um „Kritik zu 
bekommen“; fo heißt's im Jargon der Muſiker. Gemeint ift natürlich vor allen Dingen die 
Kritik einiger Großſtädte, beſonders Berlins. Mit Hilfe dieſer Kritik hofft der Konzertgeber 
weiterzukommen, entweder Schüler zu gewinnen, wenn er ſich mehr zum Pädagogen berufen 
fühlt, oder bezahlte Konzertengagements zu erhalten. Qd) will nun nicht eingehen auf die 
gröblichen Mißſtände, noch auf die unglaubliche Art, wie die Konzertagenturen dieſes ganze 
Verhältnis ausbeuten. Dem wäre ja eben dadurch zu begegnen, daß von den Künſtlern eine 
neue, ehrlich arbeitende Konzertagentur geſchaffen würde. 

Durch dieſes eigentümliche Verhältnis hat jid) bei den konzertierenden Rünftlern eine 
ganz merkwürdige Auffaſſung von den Aufgaben der Kritik feſtgeſetzt. Sie meinen 
geradezu, die Kritik fei dazu da, um ihre Leiſtungen zu würdigen, um ihnen Zeugniſſe auszu- 
ſtellen. Jeder Konzertgeber glaubt dadurch, daß er ein Konzert gibt, Anſpruch auf öffentliche 
Kritik feiner Leiſtungen zu haben, und fühlt fid) nicht nur moraliſch, ſondern auch pekuniär ge- 
ſchädigt, wenn diefe Kritik ausbleibt. Da diefe Anfänger — in Berlin auch bekannte Rünftler — 
von vornherein auf kein zahlendes Publikum rechnen, erſcheint ihnen ihr ganzes Unternehmen 
als eine Angelegenheit, bie fid) zwiſchen Kritik und Konzertgeber abſpielt. Aus dieſem un- 
gluͤcklichen Mißverhältnis heraus ijt man auf den Gedanken der Einführungskonzerte getom- 
men. Der Verband will in allen größeren Städten ſolche Konzerte veranſtalten, und zwar 
ſollen ſich immer gleich vier, fünf oder ſechs Künſtler zuſammentun, weil dadurch die Koſten 
ſich für jeden bedeutend verringern. Das ijt nämlich der ſpringende Punkt. Seltſamerweiſe 
glaubt man, daß die Kritik, die man neben den Konzertvorſtänden zu dieſen Konzerten ein- 
laden will, eine beſondere Teilnahme für dieſe Veranſtaltungen haben wird. Das iſt natür- 
lich ausgeſchloſſen. Die Kritik als journaliſtiſche Einrichtung dient der Offentlichkeit; fie be- 
ſpricht Veranſtaltungen, die den Charakter der Öffentlichkeit haben; fie widmet ihnen um fo 
mehr Aufmerkſamkeit, je mehr die Öffentlichkeit durch die Veranſtaltung berührt wird; fie 
wird alfo an Veranſtaltungen vorübergehen müffen, die eigentlich durchaus privaten Charakter 


160 Bom wirtſchaftlichen Rampf der Muſiter 


tragen und lediglich dazu dienen ſollen, einigen Kunſtaſpiranten Zeugniſſe über ihr Können 
auszuſtellen. 

Man könnte einwerfen, daß hier die Aufgabe der Kritik als Dienerin der Kunſt einſetze. 
Sicher ijt eine Hauptaufgabe der Kritik, bie Ausleſe im künftlerifchen Nachwuchs vorzunehmen. 
Aber dieſe Wirkung muß ſich als Folgeerſcheinung der Geſamtbeurteilung des muſikaliſchen 
Lebens einſtellen. Dadurch, daß der Kritiker berichtet, welche Künſtler ihn durch ihre Leiſtungen 
ergriffen haben, trägt er zum Bekanntwerden der berufenen reproduzierenden feünjtler bei. 
Die konzertierenden Künſtler vergeſſen zu leicht, daß dieſe reproduzierende Kunſt für die Ent- 
wicklung der Kunſt immer doch erft in zweiter Reihe ſteht. Was bie konzertierenden Rünftler 
mit dieſen Einführungskonzerten der Kritik zumuten, iſt eine Art von Schulabgangsprüfung, 
und hier erkennen wir wieder einmal, was uns vor allem not tut. 

Es müjfen Prüfungen eingerichtet werden, die an den Konſervatorien von ein- 
wandfreier Seite abgehalten werden. Das Beſtehen dieſer Prüfung berechtigt allein zum 
öffentlichen Auftreten, wie das Beſtehen des Abiturientenexamens zum Beſuch ber Univerji- 
tät vim, Oder wenn man nicht fo ſchroff fein will, fo foll diefe Prüfung doch wenigſtens die- 
ſelbe Wirkung haben, wie das Beſtehen der Staatsexamina für die Ausübung des ärztlichen 
Berufes. Auch der ift für jedermann frei, aber die Berechtigung zur Führung des Titels „Arzt“ 
genügt zur Aufklärung des Publikums. Ganz abgeſehen davon, daß eine ſolche Prüfung von 
vornherein eine Ausleſe bewirken ſoll, daß alle jene, die es zum Lehrberuf zieht, dadurch die 
Konzerte nicht mehr brauchen, wird nur auf dieſe Weiſe unſer öffentliches Muſikleben von einer 
Fülle von Erſcheinungen befreit, die gar keinen Anſpruch auf die Offentlichkeit haben. 

Es bleibt die Tatſache, daß ſich die Kritik niemals dazu hergeben wird, dieſe Aufgabe der 
Schule zu übernehmen. Sie kann das auch künftlerifch begründen, weil es ſchlechthin aus- 
geſchloſſen ift, Programme von Konzerten, bie von einer Mehrzahl von fünjtlern und gar 
Anfängern veranſtaltet werden, künſtleriſch zu geſtalten. Wenn wir mit allen Kräften aus 
künſtleriſchen Gründen die ſogenannten „Elitekonzerte“, die das Zuſammenwirken an ſich 
hervorragender feünjtler bringen, bekämpfen, fo müſſen wir das erft recht gegenüber Erjchei- 
nungen tun, die nicht nur aus geiſtigen Gründen unzulänglich ſind, ſondern, da es ſich zum 
großen Teil um Anfänger handeln wird, nicht einmal hinſichtlich der Reproduktion befrie- 
digen können. 

Ich möchte den „Verband der konzertierenden Künſtler Deutfchlands“ aus ehrlichem 
Wohlwollen vor dem Beſchreiten dieſes gefährlichen Weges warnen. Denn das unausbleib- 
liche Fiasko dieſer Einführungstonzerte wird nur die Konzertagenturen ſtärken. Der Verein 
wird ſchon eine außerordentlich wichtige Aufgabe erfüllt haben, wenn er den Zuſammenſchluß 
der konzertierenden Rünftler und damit eine kräftige Intereſſen vertretung derſelben erreicht. 
Wir ſtehen im Muſikleben vor einer großen Zahl ſozialer Amwälzungen, die nicht ausbleiben 
können. Die Einrichtung von Prüfungen zum Beiſpiel iſt nur eine Frage der Zeit. Schon 
find bei einigen der größten Konſervatorien — ich nenne die königlichen Ronfervatorien in 
Stuttgart und Leipzig — jetzt Prüfungen eingeführt worden, die keine Komödie ſind. Der 
Staat wird nicht mehr lange feine bisherige Zurückhaltung aufrechterhalten können. So hüte 
man ſich vor Übereilung und ſchaffe das unter den heutigen Verhältniſſen Mögliche. Es iſt ſchon 
viel und ein großer Schritt vorwärts. K. St. 


- 


€. Faques-Dalceoge als Romponift 161 


E. Jaques⸗Dalcroze als Komponiſt 


Zu unſerer Notenbeilage 


l Kë N —- s ijt ein Eigenes um die Piychologie der Kritik. Da id ſelbſt einen großen Teil meiner 
a NS yo Arbeitskraft in kritiſcher Tätigkeit verbrauche, wird man mir eine abſichtliche Ver- 
(kleinerung dieſes Berufes nicht zutrauen. Freilich bin ich doch früh zu einer be- 
ſcheldenen Auffaſſung gelangt, und zwar weil ich meine Augen vor einigen auffälligen Tat- 
ſachen nicht verſchließen mochte, die mir den Wert der Kritik als recht bedingt erſcheinen ließen. 
Vom Verkennen des großen Neuen will ich dabei nicht reden, auch nicht davon, daß die Kritik 
dabei leider ſo oft die Vornehmheit, ja auch die Sachlichkeit des Tones vermiſſen läßt. Das 
alles erklärt ſich vielleicht aus der journaliſtiſchen Seite des Berufes, aus der Notwendigkeit, 
auch dort einen „intereſſanten“ Bericht zu ſchreiben, wo man ſelbſt von dem Werke, über das 
man zu berichten hat, nicht intereſſiert worden war. Für den Gebrauch des Fremdwortes im 
letzteren Fall kann man beſſer eine Verdeutſchung einſtellen: weil keine Teilnahme geweckt 
worden war. Wieviel lebendiger, innerlicher iſt die Bedeutung des deutſchen Vortes! 

Sekt möchte ich auf eine andere Erſcheinung hinweiſen, die Goethe bereits ſchmerzlich 
hat erfahren müſſen, als er es ſich erlaubte, auch auf naturwiſſenſchaftlichem Gebiete etwas 
leiſten zu wollen. Er nahm den heftigen Widerſtand, die ſchroffen perſönlichen Angriffe, die 
er darum erleiden mußte, weiter nicht übel, weil die Menſchen immer, wenn ſie einem 
auf einem Gebiete eine ſtarke Überlegenheit zuerkannt haben, es geradezu als Belei- 
digung empfinden, wenn man auch auf einem anderen ſich hervorzutun beabſichtigt. 
Eine ähnliche Erfahrung muß jetzt Jaques Dalcroze machen. Bei den Feſtſpielen in Hellerau 
ſtammte die Muſik zu einem großen Teile der aufgeführten Stücke von ihm. Neben einer 
Reihe kleinerer Stücke war es vor allem die Idylle „Echo und Narziß“. Es ftedte in alledem 
eine ſolche Maſſe von Arbeit, daß man ſchon aus dieſem Grunde eine eingehende Beſchäftigung 
mit dem Komponiſten Jaques-Oalcroze hätte erwarten dürfen. Sie ift nicht eingetreten. Die 
Muſik iſt entweder ſo nebenbei erwähnt oder auch recht abfällig als die Arbeit eines klugen und 
gewandten, aber nirgendwo eigenartigen oder Tieferes, Perſönliches bietenden Romponiften 
abgetan worden. Damit wurde einem Verfahren die Krone aufgeſetzt, das gegenüber dem 
Romponiften Jaques-Dalcroze feit einigen Jahren üblich ijt, und zwar genau feit der Zeit, 
ſeitdem die Formel „Oer geniale Pädagoge“ oder auch „Der Reformator des Tanzes“ und 
dergleichen mehr zum Kliſcheebeſtand der Kritik gehört. Seither kehren auch jene Wendungen 
immer wieder, in denen es heißt: „Die Genialität des Pädagogen bezweifelt niemand. Leider 
iſt ihm als Komponiſt jede ſchöpferiſche Veranlagung verſagt.“ 

Wie ſeltſam, daß biejelbe Kritik ben Komponiſten Jaques-Oalcroze bis zu dieſem Zeit- 
punkte außerordentlich hoch bewertet und ihn immer gerade wegen feiner eigenartigen hervor; 
ſtechenden Perſönlichkeit ausgezeichnet hatte. Es wäre eine Kleinigkeit, aus Hunderten vor- 
liegender Kritikſtimmen jene Tatſache unwiderleglich zu beweiſen. Sollte nun wirklich mit 
dem Augenblicke, daß Jaques-Oalcroze fein Ziel in pädagogiſcher Hinſicht zu einem großen 
Teil verwirklicht ſah, ſeine ſchöpferiſche Veranlagung ſich ſo vollſtändig umgewandelt haben? 
Wobei zu bemerken iſt, daß jene pädagogiſche Tätigkeit ſchon lange zuvor ihn ganz erfüllte, 
nur daß man draußen von feinen dahingehenden Beſtrebungen nichts wußte. Ja, diefe mert- 
würdige Zwieſpaͤltigkeit der Beurteilung geht noch weiter bis ins einzelne. Jaques -Dalcroze 
hat Mädchentänze für Orcheſter komponiert. Als ſie im Konzert aufgeführt wurden, erklärte 
die Kritik, die Muſik ſei ſehr ſchön, bloß müßte man eigentlich von einem Reformator des 
Tanzes verlangen, daß er tan zbare Muſik ſchriebe. Nun find in Hellerau diefe Tänze 
getanzt worden und haben das Entzücken aller Anweſenden hervorgerufen. Jetzt behauptet 
dieſelbe, buchſtäblich dieſelbe Kritik, Daleroze könne feinen Schülern febr . den für 
Der gürmer XV, 1 


162 E. Zaques-Dalcroze als Romponijt 


die entzückende Art, mit der fie die Tänze ausgeführt hätten, die leider muſikaliſch recht be- 
langlos ſeien. 

nig e Wie geſagt, ich erwähne das alles nicht, um daran billige Ausfälle gegen die Kritik zu 
knüpfen, ſondern als Symptome. Gd glaube, wir können im alltäglichen Leben febr oft ein 
Gleiches beobachten. Gerade wenn man einem Menfchen eine hervorragende Eigenſchaft zu- 
erkennt, will man ſein Verdienſt auf anderem Gebiete oder nach einer anderen Richtung hin 
nicht anerkennen. Ich glaube nicht, daß das Neid iſt, jedenfalls nur in den ſeltenſten Fällen. 
Aber Unfreudigkeit iſt es, Schwungloſigkeit, eine Art Notwehr für die eigene Trägheit. 

Sch perſönlich habe da allmählich eine ganz andere Einſtellung gewonnen. Ich bekenne 
mich zu der Auffaſſung von Genialität, wie fie Goethe Eckermann gegenũber wiederholt aus- 
geſprochen hat. Genialität ijt ſchöpferiſche Veranlagung. Das ift eine Eigenſchaft im Menſchen, 
die dieſem Geſamtorganismus Menſch gehört. Die Form, in ber fid) diefe ſchöpferiſche Ber- 
anlagung betätigt, kommt erſt in zweiter Linie. Das iſt eine Frage äußerer Verhältniſſe, der 
Erziehung, manchmal ſogar des Zufalls. Leſſings Wort in Emilia Galotti, daß Raffael auch 
dann der größte Maler geweſen wäre, wenn er ohne Hände zur Welt gekommen wäre, iſt 
kein Paradoxon, ſondern eine tiefe Wahrheit. Nur hatte (id) natürlich dann Raffaels geniale 
Veranlagung zur Malerei anders äußern müſſen. Farbenſinn, ſcharfes Auge, Gefühl fiir die 
Harmonie der Verhältniſſe, Geſtaltungskraft, höchſtes Schönheitsempfinden — das alles hätte 
ſich anderswie gezeigt. Wer will zum Beiſpiel leugnen, daß in Dantes Höllenſchilderungen 
eine rieſige maleriſche Begabung liegt? 

Aus dieſem Grunde glaube ich, daß bei einem Menſchen, deſſen ſchöpferiſche Veranlagung 
unzweifelhaft ift, dieſe Genialität ſich in alledem wird offenbaren müſſen, was er aus Schöpfer- 
drang unternimmt, wozu ibn feine Natur treibt. Nun muß jeder, der zum Beiſpiel mit Jaques- 
Dalcroze auch nur eine Stunde in künſtleriſcher Tätigkeit vereinigt ijt, der dieſen Mann ein 
einziges Mal hat improviſieren, ja der ihn nur ein einziges Mal hat Klavier ſpielen hören, die 
unbedingte Sicherheit bekommen, daß dieſer Organismus von Muſik ganz durchtränkt ijt. Ge- 
rade ſeine pädagogiſche Tätigkeit iſt für dieſe innere ſchöpferiſche Veranlagung zur Muſik ein 
Beweis, denn dieſe ganze muſikaliſche Erziehung geht darauf aus, die Muſik zu einem Teil 
des Erlebens, geradezu zu einem Teil des einzelnen menſchlichen Organismus zu machen. Auf 
ein ſolches pãdagogiſches Ziel kommt niemals eine nur reproduzierende Natur. Denn bier liegt 
ja gerade das Beſtreben vor, in der muſikaliſchen Reproduktion durch ein Übertragen auf andere 
Ausdrucksmittel (des Körpers) dem Selbſtſchöpferiſchen einen größeren Raum zu gewinnen. 

Ich verkenne die Hinderniſſe nicht, die (id) dem Verſtändnis bes Komponiſten Jaques 
Dalcroze oder ich möchte lieber (agen: der Liebe zu feinem Schaffen entgegenſtellen. Der naive 
Hörer wird darunter weniger zu leiden haben, als der Fachmann. Aber auch für jenen iſt eine 
gewiſſe Schwierigkeit vorhanden. Sie beruht in jener Eigenſchaft, durch die Zaques-Dalcroze 
muſikgeſchichtlich ſchon bedeutſam geworden ift und es nach meiner Überzeugung noch viel 
mehr fein wird, und zwar auch für bie deutſche Muſik. Zaques-Dalcroze ijt Waadtländer, 
ſtammt alfo aus der romaniſchen Schweiz. Ich habe ſchon an anderer Stelle ausgeführt, daß 
das Romanentum der Juraffier im Blute wie in der ganzen geiſtigen und ſeeliſchen Anlage 
ſehr ſtark mit Germanentum durchſetzt iſt. Bei Jaques kommt hinzu, daß die Mutter deutſchen 
Blutes war, und daß er einen Teil ſeiner muſikaliſchen Ausbildung bei deutſchen Meiſtern 
— unter ihnen ſteht der urdeutſche Anton Bruckner — genoſſen hat. Sebenfalls ift Jaques 
geiſtige Einſtellung zur Muſik, ſoweit diefe in Verbindung mit dem Worte auftritt, die deutſche. 
Das hat man in Frankreich auch deutlich empfunden, wie die geſamte, zum Teil recht bedeut- 
ſame franzöſiſche Kritik gelegentlich der Aufführung ſeiner muſikaliſchen Komödie „Sancho 
Panſa“ (1897) beweiſt. Gerade die franzöſiſchen Wagnerianer, der Überſetzer der Wagner- 
ſchen Werke A. Ernſt an der Spitze, begrüßten dieſes Werk als das erſte franzöſiſche muſikaliſche 
Luſtſpiel, das aus den gleichen Grundſätzen gewachſen war, wie ſie Richard Wagner in ſeinen 


€. Jaques - Saleroze als Romponift , 163 


„Meiſterſingern“ angewendet hatte. Aus den Charakteren der Perfonen waren für die ver- 
ſchiedenen Charaktereigenſchaften kennzeichnende Leitmotive gewonnen, die nun vom Orcheſter 
ſinfoniſch verarbeitet wurden, während die Singſtimmen ſich durchaus aus der Deklamation 
des Wortes, den innerſten Geſetzen der Sprache gemäß entwickelten. Wie der Dramatiker zu 
Wagner, ſteht der Liederkomponiſt Faques-Oalcroge zu Hugo Wolf. Zaques-Dalcroge’ Lieder 
(inb in der Singſtimme eine möglichſt eindringliche und ausdrucksvolle Deklamation des didy- 
teriſchen Wortes, während die Klavierbegleitung die ſinfoniſche Verarbeitung des aufgebote- 
nen muſikaliſchen Themenmaterials gibt. 

Nun ſollte man meinen, daß gerade dieſes geijtige Verwandtſchaftsverhältnis, das, wie 
hier ausdrücklich betont fei, nirgendwo zu einer muſikaliſchen Nachahmung der genannten deut- 
ſchen Meiſter geführt hat, die Aufnahme der Werke Zaques’ beim deutſchen Publikum erleich- 
tern müßte. Dabei aber vergißt man, daß die Sprache, aus der heraus Jaques geſchaffen hat, 
die franzöſiſche iſt, und daß die innere Sprachmelodie des Franzöſiſchen eine ganz andere iſt, 
als die des Deutſchen. Ich freue mich darum ganz beſonders, in der Notenbeilage unſeres 
Heftes deutſche Lieder des Komponiſten veröffentlichen zu können. Es find die erſten, die von 
ihm auf deutſche Texte geſchrieben worden ſind. Ich glaube, jeder wird die ausgezeichnete 
Deklamation, das innige Erfühlen der Oichterworte anerkennen. Und vielleicht wird man an 
dieſen Liedern, ſo anſpruchslos ſie vom Komponiſten gegeben ſind, merken, was ich oben meinte, 
wenn ich von einer Befruchtung auch der deutſchen Muſik durch dieſe eigenartige nationale 
Anlage des Nomponiſten ſprach. Wie Chamiſſos Formbehandlung für bie deutſche Poetit 
reiche Früchte getragen hat, fo finde ich auch hier in Rhythmik und Metrik, in der inneren De- 
klamation ein Etwas von Formſchönheit, von ſinnlicher Grazie, von einer lyriſchen Leichtigkeit 
des Ausdruckes, die jedenfalls auf mich immer einen ſtarken Zauber ausgeübt haben. 

Saquee-Saícroge" melodiſche Schöpferkraft hat bie höchſte Anerkennung gefunden, bie 
einem Komponiſten zuteil werden kann: bie der Kinder und die des Volkes. Seine Kinder- 
lieder find auch in Deutſchland bereits heimiſch geworden, trotz der ganz unmöglichen Ver- 
deutſchung. Die romaniſche Schweiz aber hat ihm geradezu ihr neues Volkslied zu danken. 
Es iſt ganz erſtaunlich, wie der Komponiſt vor allem das Empfinden des Bergvolkes, der Hirten 
der romaniſchen Schweiz getroffen hat. Auch in großen Chorkompoſitionen hat der Kom- 
poniſt ber romaniſchen Schweiz echt volkstümliche Feſtſpiele geſchenkt. Sein ,,Poéme alpestre“, 
das vierzehnmal hintereinander bei der Genfer Ausſtellung 1896 aufgeführt und mit wachſen⸗ 
dem Enthuſiasmus vom Volke aufgenommen wurde, iſt in dieſer Hinſicht noch übertroffen in 
feinem Waadtländiſchen Winzerfeſtſpiel des Jahres 1903. Die Muſik ift ſeither Volksgut, die 
darin eingeſtreuten Lieder werden in Schulen und Familien geſungen und ſind Herzensgut 
geworden, das nicht mehr verloren geht. Im deutſchen Konzertſaal gewann Zaques-Palcroze 
den erſten nachhaltigen Erfolg mit feinem erſten Violinkonzert in C-Moll. Ich möchte bier 
meine Beſprechung des Werkes bei deſſen erſter Aufführung in Berlin durch Henri Marteau 
aus der „Oeutſchen Zeitung“ vom 16. Oktober 1901 wieder abdrucken. Ich kannte damals 
weder den Komponiſten noch ſein Schaffen: 

„Dieſes Violinkonzert verrät ſo viel Können, eine ſo erſtaunliche Fülle von Geiſt, eine 
ſolche Selbſtändigkeit in Stellung und Löſung der Aufgabe, und überdies eine fo packende finn- 
liche Schönheit, daß bas Geſamtwerk des Künſtlers ſicher eine reiche Ausbeute bieten muß. 
Schade, daß der Komponiſt fein Werk einfach „Konzert“ genannt und nicht eine Bezeichnung 
gewählt hat, die die Phantaſie des Hörers ſofort in die gewünſchte Richtung lenkt. Denn dieſes 
Werk iſt eine ſinfoniſche Dichtung für Solo-Violine und Orcheſter. Ich erinnere daran, daß 
Berlioz feinen ‚Harold in Stalien‘ urſprünglich für Paganini als Bratſchen Solo mit Orcheſter 
dachte. An dieſes Werk wird man bei Jaques-Dalcroze denken müſſen. Auch Berlioz Abſicht, 
das Solo derartig mit dem Orcheſter zu verbinden, daß es die Inſtrumentenmaſſe in ihrer 
Außerung nicht beeinträchtige, wird den Abſichten des neueren Tonſetzers entſprechen, nur 


164 E. Faques-Daicroge als Romponift 


daß er, um die Waffen in dieſem Tonwettkampf etwas gleichmäßig zu verteilen, im Orcheſter 
die Blasinſtrumente bevorzugt, weil fie einen Hintergrund abgeben, von dem das Solo- Inſtru⸗ 
ment vermöge ſeiner ganz anders gearteten Farbengebung leuchtend ſich abhebt. Und das 
„Programm“ des Werkes? Der Komponiſt hat der Phantaſie des Zuhörers freien Spielraum 
gelaſſen. Mir war's ein Stück Künſtlerleben. Im erſten Satz die tauſend Eindrücke eines bunt 
bewegten Lebens, die auf die Künſtlerſeele eindringen. Sie felber leicht bewegt, jedem Ein- 
druck hingegeben, bis die Liebe in ſie einzieht (II. Satz). Reifer, reicher, in ſich gefeſtigter tritt 
fie nun wieder dem Leben entgegen, das nichts von der Buntheit feines Farbenſpiels ein- 
gebüßt hat. Aber der Künſtler ſteht nun feſter ba, er weiß feinen Weg, und mit froher Lebens- 
bejahung und kraftvoller Energie führt er ihn zu Ende. Auch in der Form iſt die Arbeit des 
Genfer Meiſters von hoher Eigenart. Daß er alle Ausdrucksmittel des modernen Satzes ausnutzt, 
wäre nichts gerade Beſonderes. Wertvoll aber iſt, wie er durch das feſte Herausarbeiten der 
Hauptmotive gewiſſermaßen einen Damm errichtet, in deſſen Umrahmung nun die wogen- 
den Fluten, aber auch die nur leiſe gekräuſelten Wellchen eines erfindungsreichen Tonmeeres 
ſich ergehen. Aber den Damm zu durchbrechen vermögen ſie nicht. So iſt das bunte Vielerlei 
zu einer einheitlichen Stimmung zuſammengezwungen. Das Werk wurde trotz einer gewiſen 
Weitſchweifigkeit, der fih leicht abhelfen ließe, von der Zuhörerſchaft mit Jubel aufgenommen.“ 

Ich möchte nur noch bemerken, daß bie geſamte Berliner Kritik damals in den Jubel 
einſtimmte, der (id) in faſt noch geſteigertem Maße beim Tonkünſtlerfeſt des Allgemeinen Mufit- 
vereins in Krefeld wiederholte. 

Ich ſtelle das zweite Violinkonzert, bas auch aus C Moll geht, noch höher. Auch dieſes 
ift ein ſinfoniſches Gedicht, wie überhaupt das geſamte orcheſtrale Schaffen von Jaques-Dal- 
croge aus einem poetiſchen Untergrunde hervorwächſt. Nur daß diefe poetiſchen Vorſtellungen 
ſo elementar wie möglich ſind. Die Kritik hat, weil die Titel natürlich etwas Abſtraktes haben, 
häufig gemeint, auf ſolche abſtrakten Ideen laffe fid) keine Muſik aufbauen. Aber das hat uns 
doch ſchon Schopenhauer gejagt, daß es gerade die Ureigenſchaft der Muſik ift, zu den Ideen ſelbſt 
vorzudringen, während alle anderen Künſte nur Abbilder geben können. Es ift das Verhäng⸗ 
nie ber Programmuſik, daß fie meiſtens fih damit begnügt, ein in Worten fid) ganz ſchön an- 
hörendes Abbild einer ſolchen Fdee zu vermitteln. Das überlaffe man der Dichtung, Sache der 
Muſik ijt es, die Idee ſelbſt zu veranſchaulichen. In Worte gefaßt wird fid dann ein ſolches 
Programm eines Muſikwerkes natürlich abſtrakt anhören. Die Muſik ſelbſt aber lebt die Idee 
aus, und gerade dank der Tatſache, daß fie nicht auf einen Einzelfall feſtgelegt ijt, bleiben un- 
zählige individuelle Deutungen. Gerade hier offenbart ſich ein echtes Dichten im muſikaliſchen 
Sinne. Wer das an ſich ſelbſt erfahren will, greife zu den plaſtiſchen Studien: Sechzehn Skizzen 
für mimiſche Oarſtellung für Klavier (Berlin, N. Simrock). Ich führe einige der Titel auf: 
Unverhofftes Glück; Unfühnbare Schuld; Licht im Dunkel; Eherne Mauern türmen ſich auf; 
Trotz aus Leid u. a. m. | 

Wie ſchon der Titel fagt, find dieſe Muſikſtücke in Verbindung oder als Unterlage für 
rhythmiſche Darſtellungen gedacht. Einige derſelben haben orcheſtriert bei den bisherigen Feft- 
ſpielen in Hellerau die ſtärkſten Erfolge davongetragen. 

Es iſt ja unmöglich, daß dieſe neue Kunſt, dieſe bisher ungeahnte Art, muſikaliſch Emp- 
fundenes körperlich auszuſprechen, von den Zuſchauern ſofort voll erfaßt wird. Sonſt hätte man 
gerade in der Art, wie nicht zwei von den vielen Mitwirkenden bei gleicher Grundlage der 
Bewegung fie nicht genau gleich ausführten, einen Beleg für das oben Geſagte erhalten 
müjjen. Die Zdee ijt für alle dieſelbe; das Abbild dieſer Idee muß nach dem einzelnen In- 
dividuum verſchieden fein. Die Idee des Fauſtiſchen lebt in uns allen; worin ſich dieſes be- 
währt, wie es ſich ausdrückt, ijt von unendlicher Mannigfaltigkeit. Der Dichter Goethe mußte 
ein ganzes Menſchenleben darſtellen, dieſen Menſchen in Hunderten von Beziehungen zur 
Umwelt zeigen, um eine Anſchauung dieſes Fauſtiſchen zu vermitteln. Der Komponiſt Beet- 


Zur Parfifalfrage 165 


boven bat es immer und immer wieder in feinen Sonaten und Sinfonien geftaltet; aber jede 
einzelne derſelben muß in tauſend Herzen eine tauſendfältige Widerſpiegelung erfahren. 

Im gleichen Verlage von Simrock in Berlin find auch zwölf Tänze für Klavier erſchienen. 
Ich hoffe, bei anderer Gelegenheit unſeren Leſern den einen oder anderen derſelben darbieten 
zu können. Hier werden nun wieder ſo viele ſagen: Das ſind Tänze, die „man“ nicht tanzen 
kann. Es kommt darauf an, wer dieſes „Man“ ijt. Die Dalcroze Schüler in Hellerau können 
ſie tanzen, und alle Welt iſt entzückt über dieſe Tanzgebilde. Nicht einem fällt dort auf, was 
der gedruckten Muſik gegenüber ins Feld geführt wird, daß der Rhythmus in dauerndem Wechſel 
fei, daß dadurch Unruhe, ja Haltloſigkeit hervorgerufen werde. Der Rhythmus in dieſer Muſik 
ijt eben kein Taktſchlagen, ſondern Bewegung; und die Freiheit dieſer Bewegung in Schön- 
heit ijt das erſtrebte und erreichte Ziel. Hier liegen Werte, deren Wirkungen heute noch ganz. 
unabſehbar find. 

Noch ijt keiner im gleichen Maße wie Jaques -Dalcroze berufen, diefe Werte zu heben. 
Darum wünjde ich fo dringend die Verbreitung feiner Muſik auch in Deutſchland, vor allem 
auch im deutſchen Hauſe. 

ech 


Zur Parſifalfrage 


( d m neu entbrannten Kampf um ben „Parfifal“ ijt der Hauptgrund, der für die alleinige 
>29 Aufführung in Bayreuth ins Feld geführt wird, Wagners deutlich ausgeſprochener 
2 Wille. Für dieſen werden drei Briefe an König Ludwig, Feuſtel und Angelo Neu- 
mann ins Feld geführt. Es bleibt nun auffällig, daß der öffentlichen Kundgebungen doch nicht 
abgeneigte Meiſter nicht eine deutlichere Ausdrucksform für feinen die Offentlichkeit treffen- 
den Willen gewählt hat, als es Privatbriefe ſein können. Ich glaube, das hat tiefere Gründe. 
Wagner war gleich Bismarck ein viel zu genialer Wirklichkeitsmenſch, um ſich theoretiſch feft- 
zulegen. Nun erſcheinen einige Zeugniſſe, die das auch für den „Parſifal“ belegen. Frau Elifa- 
beth Förſter-Nietzſche veröffentlicht fie im „Tag“ (1. Sept.): 

„sh war von der [erften] Aufführung des „Parſifal“ aufs tiefſte erſchüttert. Als nun 
Wagner den Wunſch äußerte, mich allein zu ſprechen, wagte ich es in dieſer Privataudienz, ihm 
meine Empfindungen auszudrücken und hinzuzufügen, wie innig ich es bedaure, daß mein 
Bruder nicht dieſen höchſten Genuß haben könnte. ‚Ach nein,‘ ſagte Wagner, nad Bayreuth 
kommt er nicht, aber vielleicht ziehe ich einmal mit meinen Künſtlern umher, ſo daß er den 
„Parſifal“ anderswo hören könnte.“ — Vielleicht im Kölner Som? fragte ich. Wagner lächelte 
und ſagte lebhaft: ‚Das ift ein guter Gedanke, dort wäre es freilich noch ſchöner als draußen in 
der Baracke“, womit er ſein eigenes Feſtſpielhaus bezeichnete, von deſſen Architektur er nie 
entzückt geweſen ijt. 8m Sommer darauf, 1883, war ich mit Malvida v. Meyſenbug mehrere 
Monate zuſammen. Inzwiſchen war Wagner am 13. Februar jenes Jahres geſtorben, und wie 
es natürlich war, teilten wir uns gegenjeitig unſere letzten perſönlichen Erinnerungen mit. 
Zu meiner obigen Erzählung bemerkte Malvida, daß es einen Brief gäbe, worin Wagner fid) 
ganz im gleichen Sinne ausſpräche, daß er mit feinen Künſtlern umherziehen wolle, um den 
„Parſifal“ noch an anderen Orten aufzuführen. Als Malvida und ich uns dann nach langen 
Jahren 1895 in Streſa am Lago maggiore wiederſahen, war wiederum von unſeren letzten 
Erinnerungen an Wagner und jenem Brief die Rede, von welchem aber auch Generalmuſik- 
direktor Levy zu wiſſen ſchien, der ihn als Begründung anführte, daß ber „Parſifal“ wohl auch 
anderswo als in Bayreuth aufgeführt werden könnte.“ 


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QInbeiliger Hunger nad) Gold 


Qu alles fid) vor ber Macht des Goldes 
verneigt, auch die Spitzen der Gefell- 
ſchaft und der Hof ſelbſt, auch die leitenden 
Staatsmänner, auch Kirche, Wiſſenſchaft und 
Kunſt, dann macht ſich überall der unheilige 
Hunger nach Gold bemerkbar und drängt zu- 
rück, was fid) ihm widerſetzt. Kein König und 
kein Kaiſer ſteht ſo geſichert da wie der Fürſt 
von Monako, der von ſich ſelbſt rühmt, ſeine 
Untertanen glücklich gemacht zu haben. Rei- 
nes der andern gekrönten Häupter Europas 
denkt daran, dem Fürſten von Monako vor- 
zuwerfen, er ſchöpfe aus trüben Quellen ſeinen 
Reichtum und erlaube ſittlich anſtößige und 
rechtlich ſtrafbare Handlungen, um ſich zu be- 
reichern. Es gilt für taktlos, dem Urſprung 
des großen Reichtums nachzuforſchen. In den 
meiſten Fällen ſind ſolche Forſchungen recht 
unerquicklich. 

Es ijt in Deutfchland leider nicht mehr 
ſelten, daß hohe Staatsbeamte und ſelbſt 
Generäle den öffentlichen Dienſt verlaſſen 
und in den Dienſt des Großkapitals treten — 
aus unheiligem Hunger nach Gold. Miniſter, 
Geheimräte, Generäle werden Aufſichtsräte. 
Das bringt ihnen Geld und den Geſellſchaften 
Nutzen. Seitdem das Angebot groß geworden 
iſt, ſehen dieſe nicht nur auf den Titel, ſondern 
auch auf die perſönlichen Beziehungen des 
aufſichtsratshungrigen Staatswürdenträgers, 
um ſie entſprechend verwerten, in bar um- 
ſetzen zu können. Niemand nimmt daran An- 
ſtoß, und die Exzellenz, die aus dem Amte 
ſcheidet, halbiert nicht, ſondern verdoppelt oft 
ihr Einkommen. Die Zahl jener Staats- 


. 


" 
—— 


würdertträger, die in den letzten Jahren ihre 
Dienfte dem Großkapital gewidmet haben, ift 
bedenklich geſtiegen. 

Das ſei alles ja nichts Neues? Das pfiffen 
die Spatzen von den Dächern? Das iſt's ja 
eben, daß, was vor dreißig Jahren ein öffent- 
licher Skandal war, heute eine banale Gelbjt- 
verſtändlichkeit iſt! 

Unter Bismarck hätte ein ſo unheiliger 
Hunger nach Gold, wie ihn heute führende 
Männer bekunden, mindeſtens nicht fo un- 
geſcheut hervortreten dürfen. P. D. 


Rotes Kreuz und Roter Halb⸗ 
mond 


Qí" der Italieniſch⸗Türkiſche Krieg aus- 
gebrochen war, wurden von türfen- 
freundlicher Seite in Deutſchland und Eng- 
land zwei Hilfszüge des Roten Kreuzes mit 
Ärzten und Krankenpflegern in das türtijd- 
arabiſche Lager nach Tripolitanien entſandt. 
Beide Hilfszüge find vorzeitig zurückgekehrt, 
aus Mangel an Mitteln und weil fie ein ge- 
eignetes Wirkungsgebiet nicht recht finden 
konnten. 

Es verdient feſtgeſtellt zu werden, daß der 
deutſche Hilfszug ſich eine bedenkliche Blöße 
gab. Die Leitung ließ fid überreden, das 
Zeichen des Roten Kreuzes einzuziehen und 
ſtatt deſſen den roten Halbmond aufzuſtecken, 
angeblich um die religiöſen Gefühle der Mo- 
hammedaner zu ſchonen. Das Gefühl ber 
Verachtung, das ber Mohammedaner gegen- 
über dem Chriſten hegt, wenn auch nur ſelten 
zum Ausdruck bringt, konnte durch eine ſolche 
Selbſterniedrigung nur geſteigert werden. 


Auf ber Warte 


Selbſtverſtändlich fiel es den Engländern nicht 
ein, das Rote Kreuz zu verleugnen. 

Wann werden die Oeutſchen endlich zu 
der Erkenntnis kommen, daß jede nationale 
und religiöfe Anempfinderei im Auslande, 
ganz abgeſehen von ihrer Verächtlichkeit, 
nutzlos, ja töricht iſt? P. D. 

* 


Iſt's geftattet? 


enn fonft in Bade- und Rurorten alle 

Beſucher gleich gehalten werden, ob 
es nun Ruſſen, Franzoſen, Engländer, Deutſche 
oder wer weiß ſonſt was ſind, ſo ſcheint die 
Kurdirektion in Bad Homburg von der Höhe 
darin anderer Anſicht zu fein. In einer Cin- 
ladung zur Teilnahme an Reunionsabenden, 
die in drei Sprachen am Kurhaus aushing, 
konnte man in der deutſchen Bekanntmachung 
den Satz leſen: „Die Ausſtellung von Re- 
unionskarten ift als Einladung anzuſehen. An- 
meldungen, auf welche eine Zuſendung von 
Reunionskarten nicht erfolgt, find als ab- 
gelehnt zu betrachten.“ In den Bekannt- 
machungen in engliſcher und franzöſiſcher 
Sprache fehlte dieſer Satz vollſtändig, ba gab 
es keine Ablehnung, da wurde auf Antrag 
einem jeden eine Reunionskarte ausgeſtellt. 
Alſo iſt es doch wahr, daß der Deutfche noch 
immer ein Barbar iſt, der nicht weiß, wie 
man ſich in guter Geſellſchaft aufführt; die 
Kurdirektion von Homburg v. d. 9. huldigt 
wenigſtens dieſen Anſchauungen, und wenn 
der deutſche Michel nun nach Homburg ins 
Bad reift, dann möge er recht bübjd feine 
Zipfelmütze unter den Arm nehmen und be- 
ſcheiden fragen: „Zit’s geſtattet?“ Vielleicht 
wird dann der unziviliſierte Michel auch ein- 
gelaſſen und kann noch etwas von den be- 
vorzugten Ausländern lernen: Nie allzu be- 
ſcheiden ſein! E. M. 


* 


Eine Bilanz 


Di 4700 deutſchen Aktiengeſellſchaften 
arbeiten mit 18 Milliarden Mark Kapi- 


tal. Es ſurrt in dieſen Zahlen von unzähligen 
Maſchinen. Und die Arbeit von Millionen 
Händen, groben oder feinen, wuchtet drin. 


167 


Die Milliarden Mark und die Millionen 
Hände ſchaffen einen Jahresreingewinn von 
1500 Millionen. Es klirrt in dieſer Zahl von 
Dividenden. Im Durchſchnitt iſt ſie 8 Prozent. 

Soweit gut und ſoweit recht. Es geht 
alles ſeinen Gang: Maſchinen ſurren, Hände 
fliegen, aus den Toren der Fabriken wälzen 
fi die Güter. Plötzlich feb" ich die Millionen 
Hände ſich erheben. Ihre Flächen ſehe ich 
mir zugewendet. Was ſteht darauf? 

Eine Woche Ferien! 
ſteht darauf. 

Eine Woche Ferien wollen fie im Sabre, 
bezahlte Ferien. Git diefe Forderung gerecht? 
Laßt uns ſehen. Fragen wir die Inter- 
eſſenten. 

Die nächſten Intereſſenten find die Mil- 
lionen Hände ſelber, denk' ich. Sprecht, Hände, 
ſprecht! Die gereckten Hände kommen in Be- 
wegung. Sd feb’ fie in den Gaſſen wimmeln, 
mit den Fingern in die Fenſter zeigen, wo 
ſtille Kinder ſitzen bei gebeugten Müttern. 
Sch ſeh' die ſtummen Hände auf eigne rußige 
Geſichter weiſen, die mehr bleich als rot ſind: 
ungleich verteilte deutſche Flaggenfarben. 

3m geb' das Wort den zweiten Inter- 
eſſenten, den Mietern dieſer Hände ... „Die 
Arbeitszeit war länger früher, und es gab 
doch keine Ferien.“ 

Was ſagt ihr Hände, ſtummen Hände? 
Sie zeigen in Maſchinenſäle, wo fie taufend- 
mal denſelben Handgriff machen müſſen täg- 
lich, wo entſeelte Arbeit düſter durch die 
Räume ſchwelt. Die Maſchine hat dem Werk 
der Hand die Freude ausgepreßt. Es ſtäubt 
von Fron und leerer Aſche. 

Wieder ſchau' ich fragend auf die andern: 
Sie heben einen Schild hoch, einen ehernen, 
auf dem die Antwort ſteht: Notwendigkeit! 

Notwendigkeit? Und die freie Woche — 
iſt ſie nicht notwendig? 

Der Schaden iſt zu groß — wir könnten 
nicht mehr konkurrieren — es ränge uns das 
Ausland nieder 

An den dritten Intereſſenten wend’ ich 
mich, an die Nation: Sprich und entſcheide! 

Da feb’ ich einen Griffel durch die Lüfte 
fahren und an den Himmel eine Rechnung 
ſchreiben: 


168 


Eine Woche Ferien 
macht Millionen Augen hell, 
haucht Millionen Wangen roſig an, 
ſtrafft Millionen Arme friſcher für die Arbeit, 
tráufelt Arbeitsfrieden auf das Land... 

Und die Gegenrechnung? — Die Gegen- 
rechnung drückt vielleicht die Rente jener 18 
Milliarden von 8 auf 7½ %. Vielleicht, viel- 
leicht auch nicht. 

Hm ja, ja — ich fehe tauſend Direktoren 
rechnen und erwägen — ich fehe tauſend Diret- 
toren ihre Bärte ſtreichen —: Schon recht, 
ſchon recht — jedoch, wer macht den Anfang? 
— Wir wollen dann ſchon folgen, wenn ... 

Den Anfang! Wer bringt den Stein ins 
Rollen? Wer pflüdt den Lorbeer? Wer läßt 
die Hände, die Millionen Hände, die fid) bit- 
tend reckten, aneinander in die Höhe ſteigen 
— höher — höher — und aus den Himmeln 
einer beſſern Zukunft ſich herniederholen 

eine Woche Ferien?! ry 
Fr. M. 3 


* 


Das Volk der Beitraften 


Gi find nämlich wir. Wir abnen's gar 
nicht, was für eine ſchofle Verbrecher 
bande wir ſind. Und dabei haben wir's ſchwarz 
auf weiß, und der uns dieſes Zeugnis aus- 
ſtellt, iſt kein anderer als die uns von Gott 
geſetzte Obrigkeit. Zeder fed jte männ- 
liche Staatsbürger im Deutſchen Reiche iſt ob 
irgendeines Verbrechens oder Vergehens 
gegen die Geſetze gerichtlich beſtraft. 
So hat es uns die Statiſtik als zahlenmäßig 
feſtſtehende Tatſache bewieſen. 

Seder ſechſte männliche Deutſche ein 
größerer oder kleinerer Verbrecher! be- 
merken dazu die „Deutſchen Nachrichten“. 
Jeder ſechſte Deutſche (ohne die Polizei- 
ſtrafen (D von einem ordentlichen Gericht be- 
ſtraft. Wann ward je einem angeſehenen 
Kulturvolk von feiner Behörde Ähnliches vor- 
gerechnet? Und wer von denen, die als 
Ausländer die muſterhafte Diſziplin im 
ſtaatlichen Zuſammenleben von uns Deut- 
ſchen nicht genug bewundern können, käme 
wohl auf den Gedanken, daß ſich hinter der 
faſt weltſprichwörtlich gewordenen Ehrlich 


Auf der Warte 


keit deutſchen Weſens der an „Verbrechern“ 
reichſte Großſtaat des Erdenrunds verbirgt? 

Seder ſechſte deutſche Staatsbürger ein klei- 
nerer oder größerer Verbrecher ...! Was ift 
das? Jedenfalls etwas immerhin Peinliches. 
Aber für wen? Nicht für das deutſche Volk! 
Wenn ein Volk in dieſem geradezu grotesken 
Umfang aus wirklich Strafwürdigen beſtände, 
dann müßte ſich das auch ſonſt in dem Leben 
ſeiner Tage widerſpiegeln. Dann könnte es 
nicht dieſen blühenden kulturellen Aufſchwung 
bei uns geben. Nicht dies Anwachſen unſeres 
durch ehrliche Arbeit ſich ſtändig ſteigernden 
Nationalvermögens. Nicht diefe gerade in 
unſeren Tagen neu erwachte Luſt an Kraft 
und Geſundheit, was ſchon allein ſtets als 
Zeichen moraliſchen Aufſchwungs angefpro- 
chen werden muß. Ein Volk, das jeden ſechſten 
Staatsbürger als Verbrecher beherbergt, 
ſchafft weder auf geiſtigem noch auf inbujtriel- 
lem Gebiet die Kulturarbeit, die heute das 
Volk der Oeutſchen leiſtet. Es gibt nur eine 
Erklärung für den ſtatiſtiſchen Nachweis, daß 
ausgeſucht Deutidland heute das am reichſten 
gerichtlich beſtrafte Volk der Kulturwelt iſt. 
And dieſe heißt: In Deutſchland muß wohl 
doch leichter beſtraft werden als in anderen 
Ländern. 

Da an bem guten Willen des Richter 
ſtandes nicht gezweifelt werden darf, ſo 
kann und mag man für den Umſtand, daß 
heute Millionen von Deutſchen als „gericht 
lich beſtraft“ herumlaufen müffen, in Fad- 
kreiſen verantwortlich machen, wen und was 
man will. Aber das iſt mit dieſem „ſechſten 
Staatsbürger“ als Tatſache wohl unwiderleg- 
lich bewieſen: die moderne (das heißt un- 
moderne) Verbrechensbekämpfung in Qeutfd- 
land hat nachgerade zu einer bedenklichen 
Strafvergeudung geführt. Der Heilungsweg 
hierfür liegt in jener Richtung, die Dr. grinteln- 
burg, der bekannte Leiter des Moabiter 
Zellengefängniſſes, mit den weiſen Worten 
empfiehlt: „Strafe nur, wo Strafe im All- 
gemeinintereſſe durch nichts ſonſt zur Nieder- 
haltung bedrohlicher Erſcheinungen erſetzbar 
iſt. Strafe alſo nur als letzte Wehr für das 
Gemeinwohl. Sonſt, wo immer und wann 
und wie immer es möglich, Stützung des Ge- 


Auf der Warte 


ſellſchaftskörpers aus Eigenkraft durch ſoziale 
Reform und Remedur.“ 


Heil, Bebel, Dir! 


er Reichs- und Staatsanzeiger der deut- 
ſchen Sozialdemokratie gibt feinen Unter- 
tanen kund und zu wiſſen: 

„Auguft Bebel (Auguft I. D. T.), bet 
zur Feier des 60. Geburtstages feines Freun- 
des Viktor Adler in Wien weilt, beſuchte am 
Sonnabend das öſterreichiſche Parlament. Als 
er die Abgeordnetenloge, begleitet von einigen 
Genoſſen, betrat, wurde er ſofort im ganzen 
Hauſe erkannt. Präſident Sylveſter ließ 
Bebel durch Genoſſen Pernerſtorffer in ſeinen 
Salon bitten, und Bebel weilte dort 
etwa eine Viertelſtunde in an- 
geregter Unterhaltung über die 
parlamentariſchen Verhaltniſſe Oſterreichs und 
Deutſchlands. Später erſchien auch Genoſſe 
Dietz, der gleichfalls von den Genoſſen aufs 
herzlichſte begrüßt wurde.“ 

Alſo ein richtig gehender Hofbericht: 
Monarchenbegegnung. Aber das iſt natür- 
lich kein Byzantinismus, ebenſowenig wie 
die Bezeichnung von Bedarfsartikeln mit Ge- 
noſſennamen und ähnliche, keineswegs mehr 
vereinzelte Scherze. „Heil, Bebel, Dir!“ 

| Gr. 


Poſtliches hüben und drüben 


o iſt die Poſt am wenigſten bureau- 
kratiſchꝰ 
In Zürich bekam ich die Antwort. Hier 
warf ich aus Verſehen Briefe in den Kaſten, 
von denen einer gar nicht, der andre zu ge- 
ring frankiert war. Was geſchah? Mit dem 
nächſten Poſtgang präſentierte mir der Brief- 
bote einen Bleiſtiftzettel für Nachfrankatur 
auf 35 Rappen. Ich war ſtarr. 

„Alſo hat die Poſt das Manko ausgelegt,“ 
ſagte ich, „ohne mich oder den Empfänger 
mit dem Doppelten zu beſtrafen?“ 

„Ja,“ ſagte der Briefbote, „wenn der Ab- 
ſender erſichtlich iſt, machen wir das gerne ſo.“ 

„Und die Briefe ſelbſt —?“ 

„Sind ohne Verzögerung expediert.“ 

86 frage mich, ob fo etwas auch jenſeits 


169 


Baſel möglich wäre, und komme zu einem 
betrũblichen Reſultat. 

„Strafe muß fein“, ift ein deutſches Sprid- 
wort, und die Kaiſerliche Poft wird nie dar- 
auf verzichten, flirdt’ ich. 

So wenig wie auf die Uniform. An den 
ſchweizeriſchen Schaltern ſieht man ſelten 
Uniformen. Es geht auch ohne das. Und 
man hat mir verſichert, der Reſpekt des Publi- 
kums ſei vor der bequemen Joppe gar nicht 
kleiner. Im Gegenteil. 

Das ift in Deutſchland anders. Ich ftanb 
einmal an einem Schalter in Berlin. Der 
Beamte wurde gerade abgelöſt. Der neu ge- 
kommene ſtand noch im Zivilrock da. 

„Eine Zehnpfennigmarke, bitte“, ſagte ich. 

„Rönnen Sie nicht warten, bis ich meinen 
Dienſtrock angezogen habe?“ ſchnauzte er 
mich an, ging an die Garderobe, wechſelte den 
Rock und fragte mich aufs neue: „Alſo, was 
wünfhen Sie?“ 

Nun denken Sie, er hätte im Zivilrock mir 
die Marke abgegeben! Schauderbar, höchſt 
fhauderbar ... Fr. M. 


* 


Zweierlei Maß 


em Oberleutnant Runkel vom 
» Deutſchordensregiment in Marien- 
burg, der in einem nächtlichen Zuſammen- 
ſtoß mit Zivilperſonen den Zigarrenhändler 
Wiens mit 20 Säbelhieben an Kopf, Schulter 


und Armen ſchwer verletzte und dafür vom 


Kriegsgericht zu zwei Monaten Gefängnis ver- 
urteilt wurde (die Strafe ift vom Obertriegs- 
gericht auf 43 Tage Gefängnis ermäßigt), iſt 
jetzt im Gnadenwege auch dieſe Strafe noch 
in vierzehn Tage Stubenarreſt umgewandelt 
worden.“ Mit dieſer Zeitungsmeldung in 
harmoniſchem Zuſammenklang ſteht das frei- 
ſprechende Urteil, das die Kölner Giraf- 
kammer über den Korpsſtudenten 
Knipping aus Bonn gefällt hat. K. hat zur 
Zeit des Kölner Karnevals nach einer Gett- 
fneiperei ein Mädchen in deffen Wohnung 
durch Meſſerſtiche ſchwer verletzt und dann 
noch eine andere Frau aus dem gleichen Hauſe 
attackiert. Der Freiſpruch erfolgte auf Grund 
eines Gutachtens des Univerſitätsprofeſſors 


170 


Dr. Büchler aus Bonn, welcher bekundete, der 
Angeklagte ſei erblich belaſtet: ſeine Mutter 
habe an Migräneanfällen gelitten, und Rnip- 
ping ſelbſt reagiere ſtark auf Alkohol. 
Das find innerhalb kurzer Friſt wieder 
zwei „Fälle“, bie das Rechtsempfinden im 
Volk aufs ſchwerſte verletzen müſſen. Denn 
gerade derartige Qtobeitsbelifte von Leuten, 
die ſich zu den Gebildeten zählen, erheiſchten 
eine exemplariſche und ſchonungsloſe Be- 
ſtrafung. Ausſchreitungen von Angehörigen 
der unteren Schichten pflegt man nach einem 
ganz anderen Maß zu bemeſſen, als es beim 
Oberleutnant Runkel und beim Korps- 
ſtudenten Knipping geſchehen ift. — 


Die patriotiſche Synagoge 


n Berlin ijt eine neue Synagoge ein- 
J geweiht worden. Es war ſehr feierlich. 
Der Kaiſer hatte einen Abgeſandten, und 
ſeine Fabrik Cadiner Kacheln für die Kuppel 
der Synagoge geftellt. Gr. 


* 


Mehr Gänſefüßchen! 


ie Spitzbuben kann man in zwei Klaſſen 

einteilen: ſolche mit Stehkragen und 
ſolche ohne Stehkragen. Die erſten geben ſich 
meiſt als „Kaufleute“, „Schriftſteller“ oder als 
Angehörige irgendeines anderen der fo- 
genannten freien Berufe aus; die letzten 
bezeichnen ſich gewöhnlich als „Arbeiter“. 
Von den Polizei- und Gerichtsbehörden wer- 
den dieſe Standesbezeichnungen in der Regel 
ohne weiteres hingenommen, und fo fungie- 
ren denn Schwindler und Hochſtapler, die 
niemals dem kaufmänniſchen oder ſchrift⸗ 
ſtelleriſchen Berufe angehört haben, ſowie 
Einbrecher und andere Gewohnheitsver- 
brecher, die ſeit vielen Jahren jede ehrliche 
Arbeit wie die Peſt gemieden haben, in den 
Akten der Behörden als Kaufleute, 
Schriftſteller und Arbeiter ohne 
die Gänſefüßchen, die hier in den 
allermeiſten Fällen ganz entſchieden am 
Platze wären. Es iſt gewiß ein ſehr löblicher 


Auf der Warte 


Grundſatz, daß man jeden für einen anftän- 
digen Menſchen halten ſoll, bevor man nicht 
zwingende Beweiſe für das Gegenteil in die 
Hände bekommen hat, und es ware ſehr zu 
wünſchen, daß manche öffentliche Behörde 
dieſen Standpunkt ganz zu dem ihrigen 
machte. In ben in Rede ſtehenden Fallen 
aber läßt ſich zuallermeiſt auf den erſten 
Blick feſtſtellen, ob der Betreffende ſeine 
Standesbezeichnung mit Recht oder mit Un- 
recht führt. Gibt fid ein Hochſtapler als 
„Referendar“ oder „Leutnant“ aus, ſo wird 
keine Polizei- oder Gerichtsbehörde diefe 
Berufsangabe in die Akten aufnehmen; 
genau dasſelbe Verfahren aber muß Platz 
greifen, wenn von vornherein feſtſteht, daß 
ein Mann, der fid) als Kaufmann, Schrift- 
Heller oder Arbeiter ausgibt, diefe Bezeich- 
nung zu Unrecht anwendet. Zum mindeſten 
aber wäre dann zu verlangen, daß derartige 
unzutreffende Berufsangaben mit Gänje- 
füßchen verſehen werden. Wozu hat man 
eine fo vorzügliche Sache wie die Gänfe- 
füßchen — die in ganz vortrefflicher Weiſe 
die beim Sprechen üblichen Ausdrücke wie 
„der ſogenannte“ oder „der angebliche“ er- 
ſetzen —, wenn man oft eine ganz unbered- 
tigte Scheu vor ihrer Anwendung an den 
Tag legt. 

Genau dasſelbe wie für die Behörden 
gilt für manche Zeitungen. Man kann es tag- 
lich erleben, daß in irgendeinem Blatte bei 
der Schilderung der Vergehen eines Übel- 
täters eine der erwähnten Berufsbezeich- 
nungen ohne die Gänſefüßchen vorgebracht 
wird. Um Fälle der jüngſten Zeit anzu- 
führen, ſo las man wiederholt in einigen 
Blättern von dem Baron v. Korff 
König und von dem Schriftſteller 
Rolf. In beiden Fällen aber darf man nur 
von dem angeblichen Baron von 
Korff-König und von dem angeb- 
lichen Schriftſteller Rolf oder 
von dem „Baron“ v. Rorff-Rönig 


und von dem „Schriftſteller“ Rolf 


ſprechen. Denn der erſte iſt in Wirklichkeit ein 
früherer Bankangeſtellter namens Stall- 
mann, und der zweite iſt nie Schriftſteller 
geweſen; er hat mehrere Jahre im Zuchthaus 


Auf ber Warte 


zugebracht und hat (id dann auf Grund ge- 
fälſchter Papiere, in denen er fid) als „Schrift- 
Heller Rolf“ ausgab, in eine Vertrauens- 
ſtellung eingeſchlichen, in der er umfangreiche 
Unterfchlagungen verübt hat. 3. St. 


* 


Gine empfehlenswerte Steuer 


($^ ber unangenehmſten Eindrücke, die 
man von der Reife mitbringt, hinter- 
läßt die in Oeutſchland leider noch recht häufige 
Streckenreklame. Ganze Bahnſtrecken 
entlang ſtören dieſelben Reklameplakate das 
Landſchaftsbild und beläftigen das Auge des 
Reiſenden. Dieſem Unfug wird bei uns viel 
zu wenig entgegengetreten. Zwar hat Preu- 
Ben ein Geſetz gegen die Verunſtaltung der 
Ortſchaften, allein der Kilometerreklame iſt 
dadurch nicht der Garaus gemacht worden. 
Sie blüht nach wie vor und prangt dreiſt und 
aufdringlich fogar an den SHdufergiebein 
idylliſch gelegener Dörfchen. 

Man iſt doch ſonſt bei uns um neue Steuern 
fo verlegen. Hier bietet ſich die günſtige Ge- 
legenheit, eine Steuer von zweifellos größter 
Popularität ins Leben zu rufen. In Frank- 
reich ift die Idee bereits zur Durchführung ge- 
langt. Seit Zuli dieſes Jahres ift dort ein Ge- 
ſetz in Kraft, das die Streckenreklame mit einer 
Steuer von außerordentlicher Höhe belegt. 
Für den Quadratmeter müſſen 50—400 Fr. 
Steuer bezahlt werden. Wenn man bedenkt, 
daß es bei einer ſolchen Art von Reklame auf 
die Häufigkeit der Schilder ankommt, die ſich 
womöglich alle Kilometer wiederholen müf- 
ſen, ſo verſteht man, daß eine Firma für eine 
wirkungsvolle Empfehlung leicht an die 
50 000 Fr. Steuer zahlen müßte. Das dürfte 
aber auch großen Firmen über die Hutſchnur 
gehen. 

Das Zdeale an einer derartigen Steuer 
alſo iſt, daß ſie auf jeden Fall Gutes ſchafft: 
entweder fie verhindert die gräßliche Ver- 
ſchandelung anmutiger Gegenden oder ſie 
bringt dem Staatsſäckel tüchtig was ein. 

L. . 


* 


171 


Tinte! 


n Titel 15 bes Kap. I des Etats für Deutfch- 
Südweſtafrika find nach der „Deutſch⸗ 
Südweſtafrik. Zeitung“ 32 782 M für Tinte, 
Federn und Papier der Regierungsbeamten 
angeſetzt. Es kommt danach auf jeden männ- 
lichen Erwachſenen der ganzen Kolonie etwa 
5 M für das Jahr. Böſe Menſchen zerbrechen 
ſich den Kopf, was mit dieſem Tintenmeer 
angefangen wird. Ganz einfach: ſie wird den 
Schwarzen zur Auffärbung ſchadhaft geworde- 
ner Stellen geliefert. 1 | gud ated 
* 


Patrioten 


ei einer Gedenkfeier an die Auguft- 
ſchlachten des Jahres 1870, die von 
alten ehemaligen 16er und 74er Regiments- 
kameraden am 6. Auguſt in einem Hotel in 
Osnabrück ſtattfand, hatte die Speiſekarte 
folgendes Ausſehen: 
Speiſenfolge. 

Suppe, wie die Franzoſen ſie ſich 1870 
ſelbſt eingebrockt haben. 

Fiſch, gefangen in der Saar bei Saar- 
brüden, Sauce & la Napoleon. Kartoffeln 
von Sedan. 

Ragout, hergeſtellt aus den Leckerbiſſen des 
eroberten franzöſiſchen Lagers bei Saar- 
brüden. ! 

Filet de bouf, zum Andenken an den 
franzöſiſchen General gleichen Namens. 
Als Kompott fehlende Gamaſchenknöpfe 
und Sprengſtücke vom Lahnſtein bei Saar- 
brücken. Straßburger Salat. 

Speife, Bombe A la Gravelotte und 
Chaſſepotkugeln. 

R å f aus der Genoſſenſchaftsmolkerei Berna- 
botte bei Arbois, Departement Sura. 
Kaffee, hergeſtellt aus Zichorien à la Thiers 

und von dem Waſſer der Seille bei Metz. 

Zigarren, die letzten noch von den vor- 
handenen Liebesgaben. 

Wem nur ein Funke von Takt und Ritter- 
lichkeit innewohnt, dem mußte bei dieſer 
„Speiſenfolge“ der Appetit vergehen. Wenn 
ihn nicht heftige Übelkeit anwandelte. 

* Gr. 


172 


Puppenmütter 


n England bat fid) ein „Bund der leben- 
J den Puppe“ gebildet, um Mädchen im 
Alter von 10 bis 15 Jahren für den ureigen- 
Hen Beruf der Frau, den der Mutter, vor- 
zubereiten. Dazu wird den Mädchen eine 
Porzellanpuppe „zur Pflege“ übergeben; alle 
müffen verſprechen, die Porzellanpuppe, die 
natürlich einen Namen bekommt, genau fo zu 
behandeln, als wenn ſie etwa ein lebendes 
kleines Schweſterchen fei. Wöchentlich ein- 
mal findet eine Lehrſtunde ftatt, die ,, Mothers’ 
Meeting“ heißt. Da werden in gemeinverftänd- 
licher Weiſe wichtige Sduglingsfragen behan- 
delt, als da ſind: die Reinigung des Kindes, 
feine Ernährung und vieles andere. — Der 
Bund ſoll in England ſchon weit verbreitet 
fein; fo haben wir alſo bie beſte Ausſicht, bie- 
ſen spleen auch bald bei uns eingebuͤrgert zu 
ſehn. Was foll bei dieſem Getue anders heraus; 
kommen, als Spielerei? Das „Mütterliche“ 
iſt eine innere Anlage und läßt ſich nicht in 
Anterrichtsſtunden lehren. Die äußeren Hand- 
fertigkeiten für die Pflege des Kindes lernen 
ſich am lebendigen Kind. Nur eins wird der 
engliſche Puppenbund ſicher erreichen: daß 
er die Mädchen um ihr ſchönſtes und natür- 
lichſtes Spiel beraubt. K. 


Auf dem Lago Maggiore 


ſtieg bie [ofa Bella mit dem Schloß der Bor- 
romei aus den Fluten. Es war, als ob ein 
wundervoller Tafelaufſatz, ein alter, aus Gil- 
ber getriebener, plötzlich zur Lebendigkeit und 
Rieſengröße angewachſen wäre 

„U Se-co-lo! I Cor - rie · re!“ erſcholl es 
plötzlich. Zeitungsverkäufer find auf das 
Schiff gekommen. 

„Novissimo telegramma della guerra de 
Tripoli!“ 

Aha, der Krieg! Er wirft ſeine Wellen 
bis herein in den friedlichen Lago Maggiore, 
diefer merkwürdige Krieg, der zu fünf Sechſteln 
aus Telegrammen beſteht und zu einem 
Sechſtel aus — 

, Novissimo programma!“ ſchreit der andre 
Zunge jetzt. 


Auf ber Warte 


Programma? Ein Programm aus Tri- 
polis? Sicher iſt der Zunge abends Ausrufer 
vor bem Lino: 

„Novissimo programma!“ eine neue Num- 
mer 

Ausgeriſſen werden die Zeitungen. 

8d kaufe mir auch eine. Vier Seiten 
Krieg und Kriegsgeſchrei. Un nuovo suc- 


. cesso a Ain Zara! Vittoria sanguinante dei 


nostri bravi soldati! Rieſenlettern. Sperr- 
druck. Ausrufzeichen. Das ganze Arſenal bes 
Setzerkaſtens rückte auf. Der wirkliche Zn- 
halt der vier Seiten ſteht heute abend ton- 
zentriert mit zehn Zeilen in der „Frankfurter“. 
Hier ijt er aufgeblaſen wie eine Zabrmartt- 
(au aus roter Gummihaut. Der Zeitungs- 
roman unterm Strich iſt lächerlich zerdrückt 
im Raum. Und alles, was fonft noch vor- 
geht in der Welt, abgeſehen von Tripolis, hat 
ſich ein knappes Stelldichein auf einer 
Zeitungsſeite geben müffen. Der Krieg re- 
giert, der Krieg. 

Auch eine blutjunge Italienerin mit einem 
wunderſchönen Strauß von Roſen kauft fid) 
eine Zeitungsnummer. Will die auch ihr 
feines Köpfchen in die blutigen Lettern ſtecken? 

Nein, ſie ſchaut die Zeitung gar nicht an. 
Sie wickelt fie um ihren Roſenſtrauß herum. 
Mit großem Geſchick herum. 

And wie ich wieder vorbeigehe, hält fie 
einen hohen Zeitungszylinder in der Hand. 
Rundherum in Rieſenlettern lieſt man: La 
guerra di Tripoli! Un nuovo suocesso a Ain 
Zara! Vittoria sanguinante dei nostri bravi 
soldati! Und darüber ſchauen tote Rofen- 
köpfe aus der Zeitung, leuchten in ftiller, 
ſüßer Pracht die Roſen, nicken und duften 
in den Sonntag hinein, der auf den Waſſern 
dieſes Sees ſchwimmt. Fr. M. 


Das neuefte Reflamewort 


& heißt —: „automobilfrei“! Und wurde, 
wie Dr. Oskar Friedrich Luchner im 
„Tag“ mitteilt, in der Schweiz geprägt, dort 
ausprobiert und für trefflich befunden. „In 
allen Proſpekten des Engadins mag man es 
lefen: Automobilfreier Luftkurort, in wunder- 
ſchöner Lage vim, Vor der Vorzüuͤglichkeit der 


Auf der Warte 


Luft, der Schönheit des Panoramas, der Un- 
verfälſchtheit der Milch, der Mäßigkeit der 
Preiſe kommt die Automobilreinheit. Und 
dieſe Reklame zieht ſtärker als jede andere. 
Noch nie hatte das Engadin ſolche gute Gai- 
ſons, wie ſeitdem es alle ſeine Straßen den 
Kraftfahrzeugen ohne jeden Unterſchied ver- 
ſperrt. Und neiderfüllt blickt Tirol nach dem 
Engadin hinüber. Denn noch iſt die Bewegung 
im Lande, bie ein Generalverbot für Auto- 
mobile anſtrebt, nicht ſtark genug. Obwohl 
ſie von Tag zu Tag neue Anhänger gewinnt. 
Schon hat fid) fogar der Landes verkehrsrat für 
ein Automobilverbot ausgeſprochen. Aller- 
dings nur für die Strecke Cortina Toblach 
und nur für die ſtaatlichen Autos. Allein auch 
dieje Außerung genügt als Zeichen der Stim- 
mung in dieſer ſo fortſchrittlich geſinnten 
Körperſchaft. Der Fortſchritt iſt eben jetzt 
gegen den Autoverkehr in Tirol. Nachdem er 
zuerſt Sabre um feine Einführung gekämpft. 
Die Erfahrung hat gezeigt, daß in einem 
Fremdenland fein Nutzen klein, feine Nach- 
teile groß ſind. Die an ſtark befahrenen 
Straßen gelegenen Ortſchaften verlieren ihre 
treueſten Stammgäſte. Die Staubplage ver- 
treibt die Fußwanderer. Die Gaſthöfe, in 
denen früher die Wagenreiſenden abſtiegen, 
ſtehen leer, denn in zwölf Stunden durch- 
raſt man heute die Dolomiten von Toblach 
bis Bozen. Und immer ſeltener werden die 
Reiſewagen, je größer heute auf den Berg- 
ſtraßen die Gefahr einer Karambolage mit 
einem rüdfichtslos gelenkten Auto wird. Geit- 
dem auch bie Anſchauung der Wirte, daß Auto- 
fahrer und Milliardär identiſche Begriffe ſeien, 
in der Praxis ſich als unhaltbar erwies, ſind 
der Durft und der Appetit des Fußwanderers 
(vulgo Nuckſacktouriſten) bei den Tiroler Gaft- 
wirten wieder zur alten Ehre gekommen. Mit 
jedem neuen Unglücksfall rückt das General- 
verbot für Kraftfahrzeuge (von dem wohl nur 
die Brennerſtraße ausgenommen bleiben wird) 
näher. Und das Reklameſchlagwort: Tirol 
automobilfrei ! wird mehr müde, abgefpannte, 
ruhebedürftige Menſchen ſommers ins Land 
zu locken vermögen, denn gute Luft, prächtiges 
Panorama und unverfälſchte Naturbutter.“ 


* 


175 


Die unerſetzliche Pappſchachtel 


in Gleiwitzer Student ſucht durch den 
„Oberſchleſiſchen Anzeiger“ eine Papp- 
ſchachtel, die ihm auf der geimreiſe von 
Hannover nach Gleiwitz abhanden gekommen 
iſt und die ſeine farbige Mütze, Fuchſen und 
Burſchenbänder enthielt: 

„Es iſt mir namentlich um Wiedererlangung 
bet Fuchſenbänder und Burſchenbänder zu tun; 
ich habe ſelbige auf einer Anzahl Men- 
ſuren getragen und waren dieſe (!) voll- 
ſtändig mit meinem Blute durch- 


tränkt. Der Verluſt dieſer wertvollen An- 


denken würde für mich ein unerſetzlicher 
ſein.“ 

Wenn ſchon geprotzt werden muß, — 
warum nicht ſo nebenher ein wenig mit der 
deutſchen Grammatik? Aber vielleicht iſt ihm 
dieſe auch mit ber Pappſchachtel verloren 


gegangen? Gr. 
* 


Die Plage des Eſſens 


an möchte es ſo nennen, wenn man 

ſich in die Theorien vertieft, welche 
die moderne mediziniſche Wiſſenſchaft über 
das Eſſen aufſtellt. „Eßbuch für Ropf- 
arbeiter“, „Wir effen zu viel“, „Welche Spei- 
fen bevorzugt der Aufgeklärte ?, „Gifte des 
modernen Haushalts“ — ſolche Titel ſpringen 
uns aus den Schaufenſtern der Buchhand- 
lungen entgegen. Und alle Woche meldet die 
Zeitung, daß Profeſſor X. die Schädlichkeit 
der und der Nahrung ſchlagend erwieſen habe, 
weswegen fie natürlich vom Tiſche jedes „Auf⸗ 
geklärten“ verbannt werden muß. An jede 
Speiſe heftet bie Wiſſenſchaft ihr Abſchreckungs⸗ 
etikett, und die Luft ſchwirrt von Verekelungs- 
theorien. Du willſt — ſchon läuft dir das Waf- 
ſer im Munde zuſammen — einen guten 
Happen auf deine Gabel ſpießen, da erhebt 
ſich ein drohender Finger und es wird doziert: 
Mit dieſem Biſſen ſchluckſt du ſoundſoviel 
Bazillen hinunter, ſie werden ſich im Darm 
anſiedeln, bald wirft bu Verdauungsbeſchwer⸗ 
den fühlen, ſtechender Kopfſchmerz, Druck in 
der Magengegend, leichte Schwindelanfälle 
und Abelkeit treten auf und — doch du haſt 


174 


bereits den Biffen auf ben Teller guriidgelegt. 
So ijt uns zuerſt das Gläschen Bier (wohl- 
verſtanden: das Gläschen!) und die Zigarre 
verekelt worden. Dann kam das Fleiſch an die 
Reihe. Unter dem Gemiife wurde aufgeräumt. 
Sebt ift man bei den Mehlſpeiſen angelangt. 
by. Früher war die Mahlzeit zugleich eine Er- 
holung. Man griff tüchtig zu, aß mit Appetit 
und Vergnügen. „Skrupellos“ nennt die heu- 
tige Wiſſenſchaft diefe Methode. Denn heute 
ſetzt man fic) als gebildeter Menſch mit grübeln; 
der Stirn an die Tafel. Wir ſehen dank der 
aufklärenden Wiſſenſchaft keine appetitlichen 
Speiſen vor uns, ſondern Konglomerate von 
Bazillen jeglicher Spezies. Ein ſaftiges Filet- 
beefſteak ißt man heute nur noch unter ſchweren 
Selbſtvorwürfen. Denn das Geſpenſt der 
Arterienverkalkung ſteht hinter uns. 

Das Seltſame iſt nur, daß eine Theorie 
immer die andere umſtößt. Als die Banane 
zu uns kam, wurde ihr Nährwert über den 
grünen Klee gelobt. Jetzt gilt ihr Nahrungs- 
gehalt gleich Null. Ahnlich ging's mit dem 
Ei, das auf Grund neueſter Forſchungen nur 
mit Vorſicht zu genießen ſei. 

Dennoch laffen fid) alle Theorien auf eine 
gemeinſame Formel bringen, die da lautet: 
Vermeide alles, was dir ſchmeckt; iß nichts, 
worauf du Appetit haft — — — 

Als gewiſſenhafter Familienvater, der ſich 
den Seinen erhalten muß, habe ich geraume 
Zeit mit eiſerner Energie nach dieſer Formel 
gelebt. Bis ich plötzlich im allerneueſten Werke 
„Die Fehler der Ernährung“ auf folgende 
Stelle ſtieß: „Alles, was der Menſch mit 
Widerwillen zu ſich nimmt, iſt ihm ſchädlich. 
Daher vermeide er es.“ 

Die logiſche Schlußfolgerung daraus wäre 


alſo: verhungere. L. 9. 
* 


Ländlich — ſittlich 


n einer Sitzung des Bezirksausſchuſſes 
J der Amtshauptmannſchaft Oſchatz in 
Sachſen beantragte der Amtshauptmann, ein 
Regulativ für die Vohnungsverhält- 
niſſe der landwirtſchaftlichen 
Arbeiter und des Geſindes als Plakat 
in den Leuteſtuben aufhängen zu laſſen. Die 


Auf der Warte 


Verſammlung wies dieſe Zumutung als einen 
Eingriff in patriarchaliſche Überlieferungen 
mit Entrüftung zurück. Wie patriarchaliſch 
es in der Amtshauptmannſchaft Oſchatz zu- 
geht, erhellen folgende Feſtſtellungen, die 
im Verlaufe der Oiskuſſion vom Antragſteller 
gemacht wurden: 

„Ein 16jähriger Knecht, ein 20jähriger 
Knecht und die Mutter des jüngeren, zugleich 
die Geliebte des älteren, mußten die Nacht in 
einem Bett verbringen. () Auch auf einer 
anderen Stelle hätten drei Perſonen ein Nacht; 
lager teilen miiffen; Magd und Knecht hätten 
Seite an Seite gelegen, während die kleine 
Magd unten querüber lag. (!)“ 

Was fagen die Lex-Heintze- Männer, bie 
auf den letzten Zentrumstagungen wieder ſo 
laut ihre Stimme erhoben, zu dieſen Zu- 
ſtänden, die an Sgzenenſchilderungen des 
kraſſeſten Naturalismus, an Zolas „Germi- 
nal“ etwa, gemahnen? Böte ſich hier nicht 
ein reiches Feld der Tãtigkeit im Kampf gegen 
bie Anſittlichkeit —? 


* 


Strindberg als Friſurmodell 


urch die Preſſe ging die Meldung, daß 

das Strindbergportrat als Friſurmodell 
verwendet werden ſolle. Ein Mitarbeiter der 
„Frankf. Ztg.“ erblickt darin ein bahnbrechen- 
des Vorbild. Die ſoziale Frage des Dichters 
werde damit glatt gelöſt, der Dichter könne 
ſeine fragwürdige Tätigkeit ausüben und 
dennoch ein nützliches, geldverdienendes Mit- 
glied der bürgerlichen Geſellſchaft ſein. „Denn 
daß das Recht auf feine Friſur in das zivil- 
rechtlich geſchützte Recht der Perſönlichkeit 
mithineinzubeziehen ift, werden unſere Suri- 
ſten nicht verſäumen feſtzuſtellen. Selbſt⸗ 
verſtändlich muß bei Abſterben das Recht auf 
Tantiemen für die Dauer einer Schutzfriſt 
auf die Erben übergehen. (In einzelnen Fäl- 
len wird man Spezialgeſetze anſtreben können, 
beiſpielsweiſe daß eine gewiſſe Cotelettes-Art 
nur in Bayreuth getragen werden darf.) Bis- 
her waren es nur Monarchen und ſolche, die 
es zu werden auserkoren find, die dem gewohn- 
lichen Sterblichen als Vorbild der Barttracht 
galten, denn wenn es zu Neros Zeiten auch 


Auf ber Warte 


vorkam, daß der weiſe Petronius jenem den 
Rang eines arbiter elegantiarum ablief, ſo 
kommt das hier wenig in Betracht, denn Kai- 
fer und Dichter waren kahl raſiert. Jetzt fom- 
men aber bie Hotelportiers mit Ibſen· Backen 
barten, bie preußiſchen Miniſter mit Schnitzler 
Locken, bie Warenhaus-Rayondefs mit d' An- 
nunzio-Spitzbärten, die Apotheker mit Boll- 
möller-Scheitel, die Schutzleute mit Peter- 
altenberg Schnauzbärten uſw. Denk- 
mäler in Erz und Marmor find dann über- 
flüſſig. Ebenſo kann auch auf das ohnehin 
ſehr imaginäre Bild, das man vom Dichter 
im Herzen trägt, verzichtet werden. Man 
trägt es einfach am Antlitz; die Nation wird 
zur wandelnden Giegesfäule.“ 
* 


Wozu? 


ie meiſten Tageszeitungen, auch viele von 

denen, die mit ſittlicher Entrüftung gegen 
die Schundliteratur kämpfen, verfügen über 
eine ſtändige Rubrik, in der Schauertaten- 
Berichte aus aller Herren Ländern gufammen- 
getragen find. Da wird in waſchechtem Re- 
porterftil von einem Poſtkutſche nüberfall in 
irgendeinem ſpaniſchen Neſte oder von der 
Schreckenstat eines Unmenſchen in einem 
entlegenen Winkel Rußlands gemeldet und 
dergleichen mehr. 

Wozu —? Hat der geplagte Zeitungsleſer 
nicht gerade genug zu tun, wenn er ſich ũber 
die Verbrechen informieren will, bie fid) inner- 
halb der deutſchen Grenzpfähle tagtäglich er- 
eignen? Oder vertritt dieſe Schauerchronik 
nur die Rolle des Lückenbüßers bei Stoff- 
mangel? Zeder Lefer von Geſchmack wird ge- 
wiß gerne darauf verzichten, mit ſolchem 
Futter geſtopft zu werden! 


Schlichter Abſchied 


er „Lokalanzeiger“ als dienſtbefliſſener 

Leiboffizioſus der Berliner General- 
intendanz bringt folgende Mitteilung: „Gene- 
ralmuſikdirektor Dr. Karl Muck, der noch für 
eine kurze Zeit der jetzt beginnenden Spiel- 
zeit dem Kgl. Opernhauſe verpflichtet iſt, 
wird im Einverſtändniſſe mit der General- 


175 


intendanz ſeine Tätigkeit an der Kunſtſtätte, 
an der er zwanzig Jahre hindurch mit ben 
größten Erfolgen gewirkt hat, vorläufig nicht 
mehr aufnehmen. Durch dieſes gegenſeitige 
harmoniſche Übereinkommen iſt es Dr. Muck 
möglich, nach ſeiner angeſtrengten Tätigkeit 
im Bayreuther Feſtſpielhauſe die wohl- 
verdiente Erholung zu genießen und ſeine 
Uberfiedlung nach Boſton, die bereits Ende 
September erfolgt, vorzubereiten.“ 

Danach ſieht es fo aus, als überböte ſich 
die Berliner Generalintendanz im Entgegen- 
kommen gegen ihre verdienteſten Künſtler. 
Nur aus dem Worte „gegenſeitiges harmoni- 
ſches Abereinkommen“ lugt der Pferdefuß 
heraus. Wo liegt die Gegenleiſtung Dr. Mucks? 
8d denke auf dem Verzicht, nochmals zu 
dirigieren. Der Generalintendanz ſollen die 
überaus deutlichen Demonſtrationen erſpart 
werden, zu denen es bei dem Ingrimm, der 
alle kunſtfreundlichen Kreiſe wegen Mucks 
Scheiden erfüllt, unbedingt kommen würde. 
Man hat an dem Vorgeſchmack genug, den 
man vor Beginn der Theaterferien erlebte. 
Herr Graf Hülſen, der ſich ſonſt ſo gut auf 
prunkvolle Rührſzenen verſteht, liebt die 
ſchlichteſte Stille, wenn es ihm wieder ein- 
mal nicht gelungen iſt, einen bedeutenden 
Künſtler feſtzuhalten, beziehungsweiſe wenn 
er deſſen Scheiden geradezu herbeigeführt hat. 
Mit Muck verliert die Königliche Oper ihr 
„künſtleriſches Gewiſſen“. Er wäre unſchwer 
feſtzuhalten geweſen. Freilich nur, wenn man 
ihm ermöglicht hätte, ſeinem künſtleriſchen 
Gewiſſen treu zu arbeiten. Das kann aber 
ein künſtleriſcher Kapellmeiſter nicht an einer 
Oper, an der aus irgendwelchen Gründen 
wertloſe ausländiſche Neuheiten aufgeführt 
werden, während man dem ernſten ein- 
heimiſchen Schaffen gegenüber nicht einmal 
die elementarſten Anſtandspflichten erfüllt. 
St. 


E 
Wo liegt Byzanz? 
S ie Frage ift nicht fo einfach zu beantwor- 
ten. Darüber, daß bas neue Byzanz 
im neueſten Deutſchland liegt, herrſcht ja wohl 
Einigkeit, aber über den näheren Ort kann 
man im Zweifel ſein. Der Wetteifer iſt zu 


176 


groß. Nun aber [eint mir die Frage wenig- 
ſtens zum Seil gelöft. Zeitweiſe liegt Byzanz 
am Roten Main in Oberfranken und heißt 
für gewöhnlich poſtaliſch Bayreuth. Zeitweiſe 
aber — — ! Zm „Wegweiſer für Beſucher der 
Bayreuther Feſtſpiele 1912“ (Verlag Georg 
Niehrenheim, Bayreuth) veröffentlicht K. Fr. 
Glaſenapp, der Hofhiſtoriograph des Hauſes 
Wahnfried, folgendes: 

„Was mußte nicht alles geſchehen, damit 
bem Meiſter von Bayreuth aus ben auserfejen- 
ften Raſſekeimen die ihm von Ewigkeit her ur- 
vorherbeſtimmte Lebensgenoſſin zuteil würde, 
die er ſich dann ſeinerſeits erſt wieder durch 
die unerhörteſten moraliſchen Kämpfe erſt zu 
erringen hatte! Dazu mußte die Politik Phi- 
lipps II. von Spanien ihre erdrüdende Macht 
auf die freien Niederländer werfen, das 
Haupt Egmonts fallen, unter vielen anderen 
Auswanderern ein glaubensfeſter Mann ſich 
in Frankfurt niederlaſſen, dort zu Ehren, 
Reichtum und Anſehen gelangen; wiederum 
jetzt vor einhundertund fünfzehn Jahren ein 
vornehmer franzöſiſcher Offizier aus uralt- 
adeligem Burgunderblut in die alte freie 
Reichsſtadt kommen, daſelbſt wegen politiſcher 
Umtriebe ins Gefängnis geſteckt werden und 
die wiederum dieſem urvorherbeſtimmte Gat- 
tin aus kernigem Patriziergeſchlecht ſich, um 
den ſchroffen Widerſtand ihrer proteſtantiſchen 
Angehörigen zu brechen, freiwillig mit dem 
Manne ihrer Wahl einkerkern laſſen; dazu 
mußte der Sprößling aus dieſer ganz un- 
gewöhnlichen Ehe in der Folgezeit dem wunder; 
baren Phänomen Franz Liſzt nahetreten und, 
auf dem Höhepunkt ihrer Neigung zu ihm, 
unter den denkbar günftigften Umſtänden die 
künftige Hüterin des Bayreuther Grals- 
königreiches am lieblichen Comerſee aus der 
rechten Blutmiſchung zur Welt bringen; unter 
Umſtänden nämlich, die wir wohl als die 
denkbar günſtigſten“ bezeichnen dürfen, denn 
ſie waren ſo hochgeſpannt und gleichſam nur 
auf dieſen einzigen Zweck gerichtet, daß ſie 
ſich eben auf die Dauer, nachdem der Erfolg 
eingetreten, nicht auf gleicher Höhe halten 


Auf der Warte 


konnten, woraus denn alle weitere Tragik fiir 
beide Teile bedingt war. Möge daher der 
Himmelskundige mittelſt Sehrohr und Spet- 
tralanalyſe die über unſeren Häuptern fun- 
kelnden Geſtirne nebſt allen ihren Nebelflecken 
unb Wilchſtraßen durchforſchen, der Hiſtoriker 
die weltenfern entlegenen Inſchriften des alten 
Babylon und der ägyptifhen Pyramiden ent- 
ziffern — etwas Höheres, Wunderbareres wird 
er dabei nicht entdecken, als die geheimnisvolle 
Verkettung irdiſcher Kauſalitäten zu einem 
Ziel, das, von ſo verſchiedenen Seiten her 
vorbereitet, in ſeinem Endergebnis ſo weit 
über das gemein Menſchliche hinausreicht.“ 

Nachher erfahren wir dann auch zu unſerer 
Überrafhung, daß die Gräfin d' Agoult, bie 
als Liſzts Geliebte die Mutter Coſimas wurde, 
zu den „geiſtigen Gründern“ von Bayreuth 
gehöre. „Wir ſind uns deſſen heute auf das 
beſtimmteſte und unzweideutigſte bewußt, daß 
ohne das Daſein der Gräfin Marie d' Agoult 
eben dieſes Bayreuther Werk, auf welches wir 
ſtolz ſind und in deſſen Sonnenſchein wir uns 
ergehen, gar nicht vorhanden wäre.“ — 

Wenn nun erſt Karl Friedrich Glaſenapp 
nicht nur Hofhiſtoriker, ſondern auch Dof- 
dichter wäre!! Dann wären wenigſtens 
noch Mofes und der Auszug Iſraels aus 
Agypten, Chriſti Geburt und die nn 
Serufalems bemüht worden. 


* 


Das Heil der Operette 


as Ehepaar Toſelli bat mit dem Mai- 

länder Muſikverlage Sonzogno einen 
Vertrag für die Aufführung einer von ihnen 
in Vorbereitung begriffenen Operette ab- 
geſchloſſen. Der von Frau Toſelli, der ehe- 
maligen Kronprinzeſſin von Sachſen, deutſch 
verfaßte Text wird von Paolo Reni ins 
Stalienifhe überſetzt. Die Aufführung foll in 
dieſem Winter gleichzeitig in Deutſchland und 
Stalien ſtattfinden. — Damit wäre endlich 
auch für die Operette eine höhere Attuali- 
tat“ im edleren Sinne erreicht. 


Verantwortlicher und Chefredakteur: Jeannot Emil Frhr. v. Grotthug + Bildende Kunſt und gutt: Dr. Karl Storck. 
Sämtliche Zuſchriften, Ginfenbungen niw. nur an die Redaktion des Türmerd, Berlin ⸗Schdneberg, Sozener Str. 8. 
Oruck und Verlag: Greiner & Pfeiffer, Stuttgart. 


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Darwinismus und ariſche Welt⸗ 
anſchauung Von A. G. German 


s ſcheint, als ſei kein Gedanke ſo groß, daß der Unverſtand ihn nicht 
für ſeine kleinen Zwecke zu zerſchlagen vermöchte. Das Beſte geht 
dabei verloren, und was übrigbleibt, reicht oft kaum zu einem Grab- 
ſtein des Genius. Gutenbergs geniale Erfindung endet in der Ge- 
ſchichtströdlerei der Zournalijtit. Von Newtons gewaltigem Gravitationsgeſetz blieb 
nicht viel mehr als eine Krämerwage übrig, auf der man Sonnen wägt wie Hafel- 
nüffe. Und aus der großgeiſtigen Erkenntnis Charles Darwins wurde Ernſt Haedels 
kleingeiſtiger Monismus. 

Immerhin mag, was Zournaliſtik und Wage leiſten, der Zukunft irgendwie 
von Nutzen ſein. Der Haeckelſche Monismus aber wird die Menſchen nie weder 
klüger noch glücklicher machen und fie immer nur auf einen Abweg leiten, der von 
der lichten Höhe der Darwinſchen Erkenntnis in die dunkle Sackgaſſe eines un- 
beweislichen Dogmas führt. Er iſt auf dieſem Wege nicht ohne Gegner geblieben. 
Aber während die durch ben Monismus nicht überzeugten Darwiniſten eine Gegen- 
ſekte der Lamarckiſten gründeten, haben ſich ihm offen nur die Anhänger anderer 
Dogmen entgegengeſtellt. Dogmen ſind aber nur zu kurze Krücken für lahme 
Intellekte und drum iſt, wo ſich Dogmatiker befehden, ein Vorwärtskommen oder 
Ende nicht abzuſehen. So iſt es ja wohl am ſelbſt zu unterſuchen, ob der 

12 


Der Türmer XV, 2 


178 German: Oarwinismus unb ariſche Weltanſchauung 


Darwinismus in ſeiner Ausgeſtaltung zur Weltanſchauung wirklich notwendig im 
Monismus enden muß. 

Der weſentlichſte Inhalt der Darwinſchen Erkenntnis ift dieſer: Die ver- 
ſchiedenen Arten tieriſcher Lebeweſen verdanken nicht einer Reihe von Schöp- 
fungsakten, welche willkürlich und nach kürzerer oder längerer Zeit aufs neue ein- 
ſetzten, ihr Entſtehen aus bishin unbelebter Materie, ſondern ſie haben ſich in 
organiſchem Wachstum nebeneinander aus gleichen Grundformen entwickelt. 
Die Sonderung geſchah unter dem mittel- oder unmittelbaren Einfluß geänderter 
äußerer Verhältniſſe auf verſchiedene Individuen oder Individuengruppen. Da 
die Grundformen der jetzt lebenden Arten ihrerzeit wieder nur verſchiedene Arten 
gemeinſamer Urformen darſtellten, fo ijt der Schluß naheliegend, daß alle Lebe- 
weſen verwandtſchaftlich zuſammenhängen und daß geſchloſſene Ahnenreihen von 
der einfachen Zelle zu den höchſtorganiſierten Tieren, von der Amöbe ſchließlich 
bis zum Menſchen leiten. Wie viele und welche Formen der wiederholten Ände- 
rung der Verhältniſſe erlagen oder ſie überdauert haben, iſt dabei ohne Belang. 

Ernſt Haeckel hat in feinem biogenetiſchen Grundgeſetz die Erkenntnis nieder- 
gelegt, daß wir im Mutterleibe den ganzen Weg unſerer Ahnenreihe — von der 
einfachen Zelle bis zum Menſchen — ſelbſt wieder durchwandern müjjen. Bis 
hierher ſtellt fid auch der Haeckelſche Darwinismus lediglich gegen die wiffenfdaft- 
liche Schöpfungs-(Revolutions- “Theorie und damit auch gegen bas jüdiſch-chriſt- 
liche Dogma von der ſechsmaligen Neuſchöpfung. Die Frage, durch welche Ande⸗ 
rung in den Verhältniſſen die einfachſten Lebeweſen aus der unbelebten Materie 
entſtanden ſind, oder wer ſie geſchaffen hat, wurde durch die Darwinſche Ent- 
wicklungs-(Evolutions-) Theorie ebenſowenig berührt, wie jene, ob die Anderung 
der äußeren Form der Lebeweſen mittel- oder unmittelbar durch die geänderten 
äußeren Verhältniſſe bedingt wurde. 

Der Darwinismus ging fo urſprünglich dem Gottes- wie dem Geelen- 
problem, ohne ſich darüber zu äußern, aus dem Wege. Und auch auf alle übrigen 
Gebiete der Naturwiſſenſchaft ausgedehnt, würde er ſich nicht notwendig über 
jene Probleme äußern müſſen. Denn wenn alle zu einer geſchloſſenen höheren 
Einheit zuſammengeſetzten d. h. erwachſenen Dinge, von den kleinſten Gegen- 
ſtänden der Chemie und Phyſik bis zu jenen der Aſtronomie, ſich aus einfacheren 
organiſch entwickelt haben, ſo bleibt als Ausgangspunkt aller dieſer Formen der 
Materie noch deren erſte Form, d. h. die urſprüngliche (Ur-) Materie übrig und 
die Frage noch offen, wer dieſe einfachſte Form geſchaffen habe oder woraus und 
wodurch ſie entſtanden ſei. 

Wenn E. Haeckel die Löſung dieſer Frage auf dem Wege des Dogmas von 
der Ewigkeit der Materie verſucht, ſo verläßt er dabei die gerade Bahn logiſchen 
Denkens an derſelben Stelle, an der er fid) vom Darwinismus abwendet. Denn 
wenn Entſtehen, Wachſen und Vergehen das oberſte Geſetz ijt, welches alle höhe- 
ren Formen der Materie beherrſcht, ſo muß ihm auch deren einfachſte Form, die 
Urmaterie, gehorchen. Entſtehen und Vergehen kann nun aber nur mindeſtens 
zeitlich, wachſen nur überdies auch noch räumlich Begrenztes. Aus dem Gravi- 
tationsgeſetz ergibt ſich für alle Materie auch noch eine Begrenztheit durch Schwere. 


German: Oarwinismus und ariſche Weltanſchauung 179 


Es ijt demnach die Materie eine dreifach — durch Zeit, Raum und Schwere — 
begrenzte Form, welche nach dem Darwinſchen Geſetz organiſcher Formentwid- 
lung aus dem Unbegrenzten nur auf dem Wege durch einfachere Formen ent- 
ſtanden ſein kann. Es muß alſo eine zweifach — durch Zeit und Raum — begrenzte 
Form als die Grundform der Materie und eine einfach begrenzte Form als die 
Urform der zweifach begrenzten beſtanden haben oder nod) beſtehen. Da eine 
räumliche Begrenzung das Vorhandenſein von mindeſtens einer Form bereits 
vorausſetzt, ſo konnte die erſte Form nur eine lediglich durch Zeit begrenzte ſein, 
und jenſeits ihres Entſtehens und Vergehens lag die Ewigkeit. 

Mit dieſer in der geraden logiſchen Reihe ſeiner urſprünglichen Erkenntnis 
liegenden Einſicht ſteht der Darwinismus an der Schwelle des Gottesgedankens 
und damit in unmittelbarer Nähe jener Erkenntnis, von der vor lange über zwei- 
tauſend Jahren einerſeits die Weltanſchauung der Germanen, andererſeits jene 
der indiſch-ariſchen Denker ausgegangen fein mag. Denn „räumlich unbegrenztes 
aber zeitlich begrenztes Sein“ („von Ewigkeit zu Ewigkeit“) iſt das Kennzeichen des 
ariſchen Gottesgedankens. 

Was an Erkenntniſſen über Werden, Sein und Vergehen im Wotanismus 
(ſiehe Guido von Lifts geiſtvolle Arbeiten über Sprache und Religion der Ur- 
arier uſw., Verlag der Guido-von-Liſt-Geſellſchaft in Wien) verborgen und im 
Buddhismus in formenſchöner Sprache ausgedrückt ift, läßt fid) durch den Dar- 
winismus wiſſenſchaftlich klären, aber nicht berichtigen. Und der Inhalt jener 
nach zweitauſend Jahren wiedergefundenen Weltanſchauung iſt dieſer: 

Aus dem Formloſen entſtand die erſte Form und mit ihr kam Bewegung 
in das bisher Unbewegte, Licht in das Dämmerdunkel der Ewigkeit. Aber die 
Bewegung verlief ins Unbegrenzte, das Licht verleuchtete rings ins Formenloſe. 
Dieſe erſte Form, die zeitlich begrenzt aber räumlich unbegrenzt iſt und ſo jeder 
ſpäteren Form zugrunde liegt, ift der Gedanke. Und er war allein in der Un- 
endlichkeit, bis aus ihm eine zweite gleiche Form, ein zweiter Gedanke entſtand. 
Wieder ging Bewegung von ihm aus und wie die Bewegungen zu Wellen gegen- 
einander liefen, da erwachten beide Formen zum bewußten Sein. Denn Bewußtſein 
ijt die Wahrnehmung der Gegenſätzlichkeit, des Raumes. Mit der dritten Form er- 
wachte dann der Gedanke des Vergehens in der Werdensfreude. Denn mit ihm 
fingen die Wellen, die in einem Punkte gegeneinanderprallten, an ſich zu ſtauen 
und wieder zurückzufluten zur Wahrnehmung der eigenen Begrenztheit. 

ge mehr immer neue Formen entſtanden, je mehr immer neue Lichtwellen 
ſich in einzelnen Brennpunkten trafen, deſto größer wurde hier deren Oichte, 
bis hier und da Lichtſtrahlen aufſprangen: die Gedanken ſich zu Erkenntniſſen 
verdichteten. Dieſe Erkenntniſſe — Lichtſtrahlen — ſtellten dann die Übergangs- 
formen zu den zweifach begrenzten Formen dar. Denn wo deren viele ſich wieder 
in Brennpunkten trafen, geſtalteten ſich Erkenntniſſe zu zeitlich und räumlich be- 
grenzten Vorſtellungen, die Lichtſtrahlen zu zweifach begrenzten Wärmewellen 
(Kurven). Die Vorſtellungen verdichteten ſich wieder zur neuen Übergangsform 
Wille, die Wärmewellen zu Wärmeſtrahlen. Und wie in der durch Zeit, Raum 
— d. h. nach außen — und Sinn — d. h. nach innen — begrenzten Tat der Wille 


180 German: Darwinismus und ariſche Weltanſchauung 


zur Geſetzmäßigkeit, ſo erſtarrten die Wärmeſtrahlen in der dreifach begrenzten 
Materie zur Anziehung oder Schwere. 

Für das Dafein der dreifach begrenzten, von einer inneren Geſetzmäßig⸗ 
keit beherrſchten Form Materie bieten die Grunddogmen des Monismus von der 
Ewigkeit der Materie und der Erhaltung der Energie keine annehmbare wiffen- 
ſchaftliche Erklärung. Denn eine beliebig große Summe begrenzter Formen — 
mögen dieſe nun Zonen, Lichtjahre oder kosmiſche Materie heißen — dem Un- 
begrenzten gleichſetzen, heißt doch wohl nur Beſchränktheit und Grenzenloſigkeit 
in eine Gleichung bringen. Daß ſich die ſogenannten exakten Wiſſenſchaften, deren 
Objekte die von beſtimmten einfachen Geſetzen beherrſchten Formen der Materie 
ſind, auf dieſe beſchränken, ohne ſich mit den Fragen „woher?“ und „wohin?“ 
weiter zu befaſſen und ohne Aufſchlüſſe über die Art des Zuſammenhangs zwiſchen 
Geſetzmäßigkeit und Materie zu ſuchen, dagegen läßt fih am Ende wenig ein- 
wenden. Die zum Darwinismus herangereifte Naturwiſſenſchaft aber wird jene 
Fragen aufnehmen müſſen. 

Daß bie Löſung der Frage nach den Beziehungen und organiſchen Über- 
gängen zwiſchen allen Formen der Natur — nicht nur der Materie — bis zur Ent- 
ſtehung der letzteren in der Möglichkeit des Darwinismus liegt, wurde oben be- 
reits gezeigt. Allen Formverdnderungen der Materie zu folgen, kann nicht Sache 
eines einzelnen fein. Doch laffen (id) vom Standpunkte der urſprünglichen Dar- 
winſchen Erkenntnis weite Überblicke auch über Sein und Vergehen der Materie 
gewinnen. 

Da die Urmaterie, an unzähligen Punkten des Raumes entſtanden, dieſen 
nicht als eine gleichmäßige geſchloſſene Maſſe ausfüllt, werden ihre Teilchen von 
den zwiſchen ihnen fortbeſtehenden Formen und Bewegungen ſtetig weiter be- 
einflußt und nicht früher zur Ruhe kommen, als bis jede Bewegung in und außer 
den Teilchen aufgehört hat. Damit beginnt das Widerſpiel zwiſchen äußeren For- 
men oder Verhältniffen und jenen der die Materie beherrſchenden inneren Ge- 
ſetzmäßigkeit. Durch ſolche äußere Anſtöße und das kennzeichnende Geſetz der 
Materie, die gegenſeitige Schwere oder Anziehung, entſtanden Verdichtungs- 
zentren, gegen welche zuſammenſtrömend fid) die Materie zu kleineren und größe- 
ren Weltkörpern formte. Dadurch wurde der Weltraum noch wärmeärmer, als 
er durch das Zuſammenſtrömen der Wärmewellen zu Strahlen bereits geworden 
war. Dagegen erwachten in den zentralen Schichten der Materienbälle die vor 
der Abkühlung geſchützten Materienteilchen aus ihrer Erſtarrung wieder zu Wärme- 
ſtrahlen und zugleich bie Geſetzmäßigkeit zum Willen. Und damit begann die Rüd- 
umgeſtaltung der Formen und Bewegungen, welche, aus dem Unbegrenzten ent- 
ſtanden, nicht im Begrenzten enden können. Da die Feſſeln der Schwere gelöſt 
waren, ſtürmten die Formen durch die äußeren Schichten der Materienbälle dem 
Weltraum, der Unendlichkeit entgegen, um in den kalten äußerſten Schichten wieder 
zu den von beſtimmten Formen der Geſetzmäßigkeit beherrſchten Formen Ather, 
Gas, Flüſſigkeit und Feſtkörper zu erſtarren. 

Im Inneren von Weltkörpern wie die Erde wurden die in den rückſtrömenden 
Zerfallsformen fortglühenden Maſſen der Urmaterie durch die feſte (Erd-) Rinde 


German: Oarwinismus und ariſche Weltanſchauung 181 


niedergebalten und zu verſchieden gerichteten Strömen abgelenkt. Dort, wo fid 
mebrere folder Ströme in Höhlungen oder Falten trafen, die durch die Zufammen- 
ziehung der von außen her abgekühlten feſten Rinde entſtanden waren, durchbrach 
ihr Ungeftiim wiederholt den feſten und flüſſigen Gürtel. Eine der Formen, welche 
bei ſolcher Gelegenheit in der Tiefe des Meeres entſtanden, war die lebende Materie. 
Während die lebloſe Materie unter dem Zwang einer ſtarren Geſetzmäßigkeit nach 
kürzerer oder längerer Zeit in einer inneren Gleichgewichtslage zur Ruhe kam, blieb 
die lebende Materie, dem in ihr freibleibenden Willen gehorchend, in dauernder 
Bewegung. Stetig wachſend . ſie ſchließlich einen großen Teil des Meeres- 
grundes. 

Zu unterſuchen, sida Saten, d. h. welcher Vorkehrungen es bedurfte, 
um bei Oickerwerden der feſten Erdrinde und Spärlicherwerden der Wärmeſtrah- 
lung die lebende Materie als ſolche und vor allem genügend warm zu erhalten, 
iſt eigentlich Sache der Sonderwiſſenſchaft Biologie. Hier mag nur kurz erwähnt 
werden, daß durch die Abkühlung der Meere eine Teilung der Rieſenmaſſe lebender 
Materie notwendig wurde. Dabei war die Kugelform die wärmehaushälteriſchſte. 
Verdichtung der kleinen Kugeln in ihren oberflächlichen Teilen, Aufnahme feſter 
Materie aus der umgebenden Flüſſigkeit und deren Einlagerung in die dichteren 
Außenſchichten führten zur Umformung der Kugeln in — ſchließlich tall- oder tiefel- 
gepanzerte — zellige Einzelindividuen. Andere von den kleinen Kugeln ſuchten 
unter Anpaſſung an das Licht die wärmeren Oberflächenſchichten des Meeres auf. 
Bei Armerwerden der Meere an geeigneter gelöſter feſter Materie lernten die einen 
Zellen die Kunſt, Steine in Brot zu verwandeln, und wurden zur Pflanze, die 
anderen lernten dieſe oder ſich gegenſeitig zu verſchlingen uſw. 

Der Zweck all dieſer Vorkehrungen ijt in erſter Linie die Erhaltung der leben- 
den Materie. Da auch die Teilung in Einzelindividuen nur eine von jenen Vor- 
kehrungen ijt, ſinkt die Bedeutung des Individuums auf jene eines winzigen Formen- 
teils in der großen Geſamtheit lebender Materie. Und jede Tat des Individuums 
erweiſt ſich nur als eine Teilerſcheinung im Zuſammenhange aller vorhergegange- 
nen Taten. Damit iſt aber noch nichts über den Sinn aller jener Taten geſagt, 
welche die Erhaltung der lebenden Materie bezwecken. 

Die Weltanſchauung, welche vorgibt, die Unendlichkeit in Materie und Ge- 
ſetzmäßigkeit auflöſen zu können, ſieht im Willen nur eine Form jener Geſetzmäßig⸗ 
keit, welche angeblich jeder Bewegung eines ſich — übrigens ſinnlos — im Kreiſe 
drehenden Mechanismus zugrunde liegen ſoll. Und da ſie vom Standpunkte ihres 
Grunddogmas nur ſolche Formen als in der Natur vorhanden zugeben will, welche 
Schwere beſitzen, war ſie gezwungen, zur Erklärung für das Vorhandenſein aller 
übrigen Formen Hypothefen aufzuſtellen, von denen immer die jeweils jüngſte 
alle älteren verdrängt hat. Erft der Darwinismus erkennt im Willen eine Über- 
gangsform, welche von den zwei- zu den dreifach begrenzten Formen der Natur 
geleitet hat und durch welche fid) nun wieder die Geſetzmäßigkeit zu Ideen oder 
Vorſtellungen, die Materie zu Wärme auflöſt. Für ihn iſt die lebende nur eine 
ſolche Form der lebloſen Materie, in der ſich die Zerſetzung und Rückumgeſtaltung 
ungleich raſcher vollzieht. Die Rüdumgeftaltung bis zum ſchließlichen Wieder- 


182 German: Oarwinismus und arifhe Weltanſchauung 


aufgehen in der Unendlichkeit ijt aber das Ziel, dem alle beſtehenden Formen zu- 
ſteuern und Raum und Zeit dazu zu gewinnen der Sinn des Kampfes ums Da- 
ſein, d. h. aller jener Taten, welche die Erhaltung der lebenden Materie bezwecken. 

Als Übergangsform hält der Wille wie die dreifach begrenzten Formen auch 
die zweifach begrenzten in ſeiner Macht und wie er frei oder als Geſetzmäßigkeit, 
mittel- oder unmittelbar die Materie beherrſcht, vermag er auch unter der Voraus- 
ſetzung hinreichend vieler zweifach begrenzter Formen dieſe zu Erkenntniſſen zu 
ſammeln, um fie jo der Auflöſung in einfachbegrenzte Formen, Gedanken oder Be- 
griffe zuzuführen. Im Lauf der Zeit hat ſich dann der Wille aus der lebenden 
Materie Werkzeuge geſchaffen, mit deren Hilfe er imſtande ift, die inner- und außer- 
halb der Formen der Materie vorhandenen zweifach und einfach begrenzten For- 
men wahrzunehmen und die Formen, in welche er den eigenen Anteil an leben- 
der Materie zerlegt hat, für eine beſtimmte Zeit feſtzuhalten. Und was der Wille 
durch dieje Sinnes- unb Bewußtſeinsorgane in und außer den Dingen an ein- 
facheren Formen wahrnimmt, das baut der Gedanke, dem Willen gehorchend, 
wieder zu Vorſtellungen und Dingen auf, fo den Gang der urſprünglichen Cnt- 
ſtehung nachahmend. 

Iſt die Auflöſung ins Unbegrenzte das Ziel aller begrenzten Formen, ſo 
ſind jene Lebeweſen die am weiteſten entwickelten, vollkommenſten, welche am 
vollkommenſten von der lebloſen Materie abgewendet, den eigenen Anteil an 
lebender Materie am reſtloſeſten in zwei- und einfach begrenzte Formen, d. h. bis 
an die Schwelle der Unendlichkeit aufzulöſen vermochten. Die drei erſten Begriffe 
oder Gedanken aber, zu denen ſich die Individuen vervollkommneten, waren jene, 
welche allen Formen zugrunde liegen: die Gedanken des Werdens, Seins und 
Vergehens. Und das erſte begrifflich denkende Weſen war jenes, welches den Ge- 
danken des Nicht-mehr-jeins, des Vergehens, in Form der Tat zum Ausdruck brachte, 
indem es feine Toten begrub: ber Urmenſch. Auf der nächſten Stufe der Serpoll- 
kommnung erhielt der Urgedanke die Form der Vorſtellung eines das Sein fchaf- 
fenden und zerſtörenden perſönlichen Gottes, bis er fic) der fortſchreitenden Er- 
kenntnis als Begriff oder Gedanke darſtellte. 

Da der Wille, ſoweit er an die lebendige Materie gebunden iſt, nicht früher 
enden kann, als bis er dieſe ganz in einfachere Formen aufgelöſt hat, wird er, auf 
alle Nachkommen vererbt, die ganze Ahnenreihe von den einfachſten bis zu den 
vollkommenſten Arten durchwandern müſſen. Hier ſetzte Darwin mit feiner Er- 
kenntnis von der Entſtehung der Arten ein und zeigte in ihr den Weg, auf dem die 
Vervollkommnung erreicht wurde und weiterhin erreichbar ijt. Und dabei ver- 
fließt das uralte Seelenwanderungsproblem mit dem begrifflichen Inhalte der 
Deſzendenztheorie. 

So ſteht der zur wiſſenſchaftlichen Weltanſchauung ausgebaute Darwinismus 
neben der ariſchen Weltanſchauung wie ein kraftvoller, klarblickender Mann neben 
einem in ſich gekehrten, aber ungebrochenen Greis. Was jener aus den fernſten 
Tiefen der Meere und des Kosmos zuſammengetragen hat, iſt kaum mehr als die 
beweisbare Beſtätigung deſſen, was der Alte, in den Tiefen der eigenen Seele 
forſchend, ſchon vor Jahrtauſenden erkannt hat. Und wie die Erkenntniſſe der 


Lee: Sehnſucht 183 


beiden reſtlos ineinander aufgehen, fliegen ihre Gedanken unendlich weit über 
den — auf die Materie — beſchränkten Monismus hinaus. 

So richtig das biogenetiſche Grundeſetz iſt, ſo hat doch Haeckel bewieſen, daß 
er ſelbſt deſſen Tragweite nur zum kleinſten Teil zu überblicken vermochte, als er 
bei der einfachen Zelle und vor dem Dogma des Materialismus haltmachte. Denn 
die Entwicklung des Individuums beginnt nicht erſt mit der Vereinigung der beiden 
einfachen Zellen, der Befruchtung des Eies durch das Spermatozoon, ſondern mit 
deren Entſtehung. Der Gedanke des Werdens, des Schaffens, iſt es, der alle Formen 
und Dinge der Zeugung von der Geſchlechtsreife und ihrer Sehnſucht an bis zur 
erlöſenden Tat beherrſcht. 

Wer diefe Erkenntniſſe richtig zu faſſen und zu deuten vermag, dem löſen 
ſich die Welträtſel in einem anderen als dem Haeckelſchen Sinne. Der erkennt vor 
allem, daß der Monismus, auf Dogmen fußend, zum mindeſten nicht beſſer iſt 
als irgendeine andere dogmatiſche Weltanſchauung und daher nicht vorgeben darf, 
einen Ausbau der Deſzendenztheorie darzuſtellen. Denn die Einſicht des Monis- 
mus endet im engſten Horizonte, der Materie, jene des Darwinismus aber erft 
dort, wo die Weisheit der indiſchen Denker endete, wo alles endet: in der Un- 
endlichkeit. 


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MÀ VEN ERES VEZ NW. 
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ODELL uL PAN 


Sehnſucht Bon Annabel Lee 


Daß bie Sehnſucht bliebe wad, Daſeinswonnen — übergroß — 

Iſt mein ſchönſter Traum zerronnen, Möchte fie von neuem ſchlürfen 

Der mit Himmelsgold beſponnen Ihm vereint — ach — leben dürfen 
Meinen blaſſen Erdentag. Sinnenledig, körperlos. 

Wie ſie unaufhaltſam ſchwillt, Laß zu Höhenflug mir Kraft, 

Seit mein Glück zerbrach in Scherben! Seelenmordend Weltgewirre, 

An der Sehnſucht hinzuſterben, Fern dem Dunſtkreis, der nur irre, 
Bin ich einzig noch gewillt. Umrißſchwache Bilder ſchafft. 

Den ich lieber hab' als lieb, Droben winkt ein Liebeshort, 

Der, als ob ihn Zauber bannte, Lebenskranz den Überwindern, 

Wir ſich ganz verfallen nannte, Märchenglanz uns Königskindern — 
Sit dahin. Das Sehnen blieb. Nach dem Hier — o welch ein Dort! 


Hoffnung unverſieglich quillt, 
Aberfliegt den Tod, den herben: 
„Selig, die an Sehnſucht ſterben, 
Ihrer wartet, was ſie ſtillt.“ 


. 


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KA Si d WIN 1 t 


p eth Diakonoff 


Das Tagebuch einer ruſſiſchen Studentin 
(Fortſetzung) 
Nerechta, 24. / 11. März. 
ie erſten Strahlen der Märzſonne begannen Paris zu wärmen, als 
ich es verlaſſen mußte. Nach zwei Nächten im Schnellzug fuhr ich in 


Ich grüße dich, geliebte, liebſte Heimat! Zum erſtenmal bin ich 
ſo lange fern von dir geweſen. Die Freude des Wiederſehens ließ mich vergeſſen, 
was meiner hier wartete. 

Wie ſchön iſt die Frühlingsluft! 

Kalt und friſch dringt ſie tief in die Lungen. Zeder Atemzug macht uns 
lebensfroher, geſunder! 

Der Schnee leuchtet in der Sonne — ach, daß man das im Auslande nie 
ſehen kann! — Hier und da beginnt er zu tauen, ſelbſt über den Schmutz auf den 
Straßen freue ich mich. 

Meine Reiſe führte mich zuerſt nach Nerechta. Es zog mich hin, das Grab 
meiner Großmutter zu beſuchen . .. Im Flur unſeres großen Haufes kam mir 
die treue alte Dienerin Jaſcha entgegengeeilt. 

Weinend berichtete ſie über die letzten Tage und den Tod der Großmutter, 
mit der fie unzertrennlich achtundzwanzig Jahre gelebt hatte. Wir gingen zu- 
fammen auf den Kirchhof. Neben dem Grab einer frühverſtorbenen Tante er- 
bob [id ein Schneehügel — das war alles, was von der Großmutter ge- 
blieben war. 

Die Pariſer Kirchhöfe mit ihren unzähligen Monumenten gefallen mir nicht. 
— Sie wirken erbrüdenb, wie eng zuſammenſtehende Haufer. Es ift wie eine Toten- 
ſtadt — kalt, beengend! 

Keine Natur rings umher, keine Bäume — kein Gras — und das vor allem 
gibt doch dem Orte der ewigen Ruhe die Weihe. Das macht die Kirchhöfe der 
ruſſiſchen Provinz ſo überaus anziehend. 

Hier gibt es weder reiche Denkmäler, noch elegante Blumenanlagen, noch 
ſchöne Gitter — aber Gras und Feldblumen. Sie wachſen gleich üppig auf den 
Gräbern von reich und arm, und die ſchiefſtehenden Kreuze geben der Landſchaft 
einen ganz eigentümlichen Charakter. 


Elifabeth Diatonoff 185 


Jedesmal, wenn ich da eintrete, weht mir eine heilige Luft entgegen und 
trägt den Frieden in die Seele. Dicht an der Kirche liegen unſere Gräber. Hier 
der Großvater, dort der Argroßvater, ba eine Tante, dort ein Onkel. In dieſer 
trauten Umgebung hat auch die Großmutter ihre letzte Ruhe gefunden. 

Bald nach meiner Ankunft traf meine Schweſter ein. Sie ſchien ſich über 
meine Rückkehr faſt zu freuen. Sie erzählte mir alle Einzelheiten. Das Teſtament 
ift in Jaroslaw. Ihren praktiſchen Vorſchlägen konnte ich im übrigen nur zu- 
ſtimmen. | 

Dann widmeten (id meine Schweſter und Saſcha der Wirtſchaft. 

2 5. / 1 2. Mär z. Wir feierten den „vierzigſten Tag“. Ja, wir feierten ihn, 
den alten Gebräuchen entſprechend, im Beiſein aller Verwandten, der Dienſt- 
boten, die mit neugierigen Blicken alles muſterten, ob von uns Jungen auch kein 
Verſtoß geſchehe. 

Aber mit Saſchas Hilfe erfüllte Nadja ihre Aufgabe tadellos. Ich miſchte 
mich nicht hinein. Die Liebe zu unſerer Großmutter machte die Feier des „neun 
ten“ und „vierzigſten“ Tages zu einer Pflicht. 

Nachdem die Verwandten weggefahren waren, ging ich durch die leeren 
Zimmer des großen Haufes. Saſcha gab mir feierlich die Schlüſſel der Kommode 
und des Koffers. Sechs Wochen war alles verſchloſſen geweſen, nicht eine Sache 
von ihrem Platze verſchoben worden, ſolange die Seele der Verſtorbenen, nach 
den Vorſtellungen des Volkes, noch im Hauſe weilte. 

Wir durchſahen ihre Briefe und Sachen. Morgen reiſe ich nach Jaroslaw. 


Jaroslaw, 26. / 15. März. 

8d hatte bie Abſicht, im Hotel abzuſteigen, aber meine dortige Großmutter 
— die einzige jetzt — ließ es nicht zu. Sie wollte, daß ich bei ihr bleibe. 

Zu den Eltern kann ich nicht. Meines Vaters erinnere ich mich kaum, meine 
Mutter — warum ſtarb ſie nicht, als wir noch klein waren? 

Es ijt leidlicher, völlig Waiſe zu fein, als eine Mutter zu haben, der dem Ge- 
ſetze nach alle Rechte über die Kinder zukommen, während dieſen keinerlei Schutz 
gegenüber ihrer Willkür gewährt wird. 

Arme Kinder, ihr armen kleinen Märtyrer — erwachſener Tyrannen! 

Mein Kindesherz dürſtete nach Liebe, nach Zärtlichkeit, nach Anſchmiegung. 
8d) liebte meine Großmutter väterlicherfeits, weil fie unglücklich war, die andere, 
weil fie mit zärtlichen, teilnehmenden Worten, gleich einem Sonnenſtrahl, mein 
freudloſes Daſein wärmte. 

Sekt — ijt fie mir allein geblieben! Qd fiel vor ihr auf die Knie und küßte 
unausgeſetzt ihr Kleid, ihre Hände . . . 

„Großmutter, geliebte!“ 

»Sija, mein Kind — biſt du endlich da?“ Sie weinte vor Freude und wollte 
aus Dankbarkeit ein Licht in der Kirche vors Heiligenbild ftellen. 

„Was willſt du anfangen, Kind?“ fragte ſie, als wir endlich am Samowar 
ſaßen. 

„Erſt werde ich hier alles ordnen, und dann reiſe ich nach Paris zum Examen.“ 


186 Elifabeth Diatonoff 


„Aber zum Sommer kommſt du doch, zu den Ferien?“ 

„Ich habe kein Geld, die Reife ijt teuer, — jetzt muß ich ſchon bis zum nächſten 
Sabre warten.“ 

Die Großmutter ſeufzte. „Nun es iſt wenigſtens gut, daß du jetzt hier biſt. 
Wie du dich verändert haſt! So elegant — und hübſcher biſt du geworden. In 
Paris wird beſſer gearbeitet als bei uns.“ 

Und die Großmutter beſah ſich genau mein Koſtüm, das ich für ein Billiges 
auf dem Bon Marche erftanden hatte. Das erſte Pariſer Kleid erfüllte fie mit 
Bewunderung. Ich mußte unwillkürlich lächeln. 

Dann kam Nadja, ſie brachte das Teſtament und die Quittungen. 

„Wirſt du Mutter nicht beſuchen?“ fragte die Großmutter unſicher. 

„Liſa, komm“, ſagte Nadja leiſe. 

8d merkte, daß fie es febr wünſchten. Daher ſagte ich: „Ich werde kommen, 
obgleich ich wie ein abgeriſſenes Blatt bin, aber wenn ihr wollt, warum nicht?“ 

Ihre Geſichter erhellten ſich. Beide zitterten vor dem Willen meiner Mutter; 
meine Großmutter hatte ſich das ganze Leben hindurch gefügt, von der unglüd- 
lichen Nadja ſchon gar nicht zu ſprechen. Schüchtern von Natur, hat ſie ſich ihr ſo 
untergeordnet, daß ſie kein eigenes Leben, keine eigenen Gedanken, kein eigenes 
Wollen kennt. Mangel an Energie erſetzt ſie durch Eigenſinn, mit dem ſie jeden, 
den ſie nicht fürchtet, überfällt. 

Sie waren zufrieden, daß ich einwilligte. 

„And dann möchte ich dich bitten, nach Iswolsk zu reifen, zu Saſcha, er hat 
ſich mit ſeinem Erzieher veruneinigt, und du ſollſt die Angelegenheit ordnen“, 
ſagte Nadja. 

„Kannſt du denn nicht hinreiſen?“ 

„Ich, nach Iswolsk . . . wo denkſt bu hin, Lifa?“ ſagte Nadja in einem Ton, 
in dem die ganze Furcht durchklang, die Reiſe allein machen zu müſſen. 

Widerſpruch wäre nutzlos geweſen; ſo ſchwieg ich denn. 

„Gut. Ich werde kommen. Doch nicht heute . . . morgen.“ 

2 7. / 14. März. Sn dieſer Wohnung, aus der ich faſt hatte fliehen müſſen, 
um die Kurſe zu beſuchen, hatte ſich nichts geändert. Nicht ein Stuhl hatte ſeinen 
Platz gewechſelt; nicht eine Lampe war umgeſtellt worden. Nur die Dienſtboten 
waren neu: die Köchinnen und Stubenmädchen konnten den Charakter meiner 
Mutter nur ſchwer ertragen. 

8d trat ins Schlafzimmer — einmal war es mein Schlafzimmer gewefen 
mit hellen Tapeten, Tüllgardinen, Blumen an den Fenſtern. Es war fröhlich und 
hell geweſen wie ein Maientag. Wich fröſtelte, als ich die Schwelle des Zimmers 
überſchritt, in dem ſoviel bittere Tränen in der Jugendzeit gefloſſen waren. Wo 
ich auf den Entſchluß hin: ich beſuche die Kurſe! die Antwort hören mußte: „Werde 
lieber Dirne!“ Die darauf folgende Ohrfeige benahm mir Hören und Sehen. 

„Duldet, duldet!“ — das war das wohlgemeinte Flüſtern der Verwandt- 
ſchaft, die ſich vor der elterlichen Gewalt beugte. „Chriſtus hat gelitten, dasſelbe 
fordert er von euch“. 

Nein, alles werden wir nicht ertragen! 


Elifabeth Oiakonoff 187 


Die Zeit ift verſtrichen, der Wille gewachſen, die Tränen getrocknet! 
An dem Tag, als ich mündig wurde, ging ich aus dem Hauſe hinaus, um nie 
mehr heimzukehren. 

Jetzt war das Zimmer verunſtaltet durch ſchwere, dunkle Vorhänge an den 
Fenſtern, überladen mit geſchmackloſen, weichen Möbeln, die mit verblichener 
Cretonne beſchlagen waren. Am Bett ſtand der mir wohlbekannte Arzneiſchrank. 

Meine Mutter ſaß auf dem Sofa. Bei meinem Eintritt erhob ſie ſich ein 
wenig. 

„Guten Tag, gu—rij—tin^, fagte fie ſpöttiſch und ſtreckte mir ihre Hand 
zum Kuſſe hin. 

3m fah fie an. 

In fünf Monaten hatte die Krankheit ſie völlig verändert. Sie war noch 
magerer geworden, das Geſicht war runzelig und gelb, die durchſichtigen Ohren 
ſtanden weit ab. Ihre in warme Tücher gewickelte dürre Geſtalt machte den Ein- 
druck von einer dem Tode Geweihten. 

Mein Herz krampfte ſich zuſammen. Sie tat mir leid, wie alles Kranke, 
was ich im Hofpital fo häufig geſehen hatte. Und als ich nun an ihre große Todes- 
furcht dachte, mußte ich mich überwinden, um ihr nicht die Bewegung meiner 
Seele zu zeigen. 

„Guten Tag“, ſagte ich, küßte die gelbe, abgezehrte Hand und ſetzte mich 
ihr gegenüber. „Wie geht es Ihnen?“ 

„Gut . . . Wie lebſt du in Paris?“ 

„Gut.“ 

„Biſt du des Teſtamentes wegen gekommen?“ 

„da.“ 

„Wann reiſeſt du wieder?“ 

„Ich weiß noch nicht — je nachdem ich fertig werde.“ 

Es entſtand eine Pauſe. Wir hatten nichts mehr miteinander zu reden. 

„So muß ich weggehen“, dachte ich. 

„Dart. Du mußt nach Iswolsk reifen. Alexander bat mit dem Erzieher 
Anannehmlichkeiten gehabt. Dieſer Narr — das zweite Gymnaſium beſucht er 
ſchon, und kann ſich immer nicht einleben.“ 

Ich freute mich von Herzen, daß mein Bruder in dieſem Augenblick fern war, 
und er nicht geſtraft werden konnte, wie ehemals. 

„Vor zwei Tagen erhielt ich einen Brief von Alexander, worin er ſchreibt, 
daß er Nikanor verläßt. Ich will das aber nicht. Fahre hin und erfahre den Grund.“ 

„Gut. Zch werde reiſen. Auf Wiederſehen!“ 

Am Abend half Großmutter mir die wenigen Sachen zur Reiſe ordnen. 
Morgen früh reife ich nach Zswolsk. 

30. / 1 7. März. Wie bin ich müde! Als hätte ich nicht zweihundert Werft 
mit der Bahn zurückgelegt, ſondern tauſend zu Fuß. Wie niederdrückend iſt es, 
wenn man bedenkt, wieviel Geld verwandt wird, um minderwertige Menſchen 
geiſtig zu entwickeln, nur weil ſie Kinder bemittelter Eltern ſind. Wieviel Nutzen 
würde dieſes Geld dem Lande bringen, wenn man es anders verwerten würde. 


188 Elifabeth Diatonoff 


Als der Droſchkenkutſcher mich vom Bahnhof zum Gymnaſium fuhr, er- 
zählte er mir alle Neuigkeiten von Zswolsk — auch über bas Gymnaſium wußte 
er zu berichten. 

„Es wird erzählt, daß hier ein neuer Inſpektor aus Petersburg eingetroffen 
iſt — er zieht den Schülern das Fell über die Ohren.“ 

Ich überlegte mit Angſt, wie (id) wohl mein Bruder mit ihm verträgt — mit 
dieſem großſtädtiſchen Pädagogen, ob nicht die Streitigkeiten mit dem Erzieher 
einen Zuſammenhang mit dem Znſpektor haben. Der frühere war ein einfacher, 
anſpruchsloſer Mann geweſen. i 

Aber biejer . . . unb nod aus Petersburg. 8d) werde mit ibm ſprechen 
müſſen, anders geht es nicht. Die Oroſchke hielt am Gymnaſium. 8d) ging bie 
Treppe hinauf, in das Sprechzimmer. Der Schuldiener meldete mich beim In- 
ſpektor. Nach einigen Minuten öffnete ſich die Tür; auf der Schwelle ſtand ein 
Herr mit goldener Brille und eleganter ſtädtiſcher Lehreruniform. Das Geſicht 
mit der hohen zurüdlaufenden Stirn, der geraden, febr hervorſtechenden Nafe, 
den dünnen, zuſammengepreßten Lippen, zeugte von jener unermüdlichen Päda- 
gogenenergie, die ſich vor allem im „Spionieren“ und „Entdecken“ betätigt. 

Seine Augen ſchienen die Schüler völlig durchſchauen zu können, auch ihren 
Verſtand, ihr Herz. 

„Ob Saſcha wohl mit ihm auskommt?“ dachte ich bange. 

Und in der Abſicht, einen möglichſt angenehmen Eindruck zu machen, ver- 
beugte ich mich graziös und lächelte. 

Der bureaukratiſche Pädagog wollte nicht zurückſtehen, als er eine Dame vor 
ſich ſah, die nach der neueſten Mode gekleidet war. Er erwiderte das Lächeln, 
verbeugte ſich mit ausgeſuchter Liebenswürdigkeit und rückte einen Stuhl heran. 

„Womit kann ich dienen?“ 

„Ich bin die Schweſter eines Schülers Ihres Gymnaſiums. Er ift hier feit 
zwei Jahren. Es follen zwiſchen dem Erzieher und ihm Unannehmlichkeiten ge- 
weſen ſein. Meine Mutter iſt ſehr krank und hat mich hierhergeſchickt, um das 
Nähere zu erfragen.“ 

Ein Lächeln unendlicher Nachſicht ſpielte um die Lippen des Pädagogen. 

„Und aus dieſem Grunde ſind Sie hierhergereiſt —, es lohnte ſich nicht, 
deswegen beunruhigt zu ſein.“ 

„Mein Bruder ſchrieb Briefe, die unſere Beſorgnis erregten.“ 

Er lächelte noch liebenswürdiger. 

„Warum beuntubigen Sie jid) . . ., das ift nichts, fürchten Sie nichts.“ 

„Ja, ja, Ihr Bruder ift ein kleiner Sünder. Ich kenne die Geſchichte. 
Übrigens find Benehmen und Fleiß jetzt viel beſſer. Die letzten Quartale hat 
er für Betragen vier bis fünf erhalten“, fügte er bedeutſam und nachdrück⸗ 
lich hinzu. 

„Kann man hoffen, daß er das Gymnaſium abſolvieren wird?“ 

Über die Züge des Pädagogen ging etwas Undefinierbares. Er dachte augen- 
ſcheinlich nach, was er ſagen ſollte. Allzu große Hoffnung wollte er nicht geben, 
aus Angſt, ich könnte es dem Bruder mitteilen — zugleich wollte er nicht zu ab- 


Elifabeth S$iatonoff 189 


lehnend erſcheinen, um fic) nicht ſelbſt zu widerſprechen, da er ſoeben die Fort- 
ſchritte des Knaben gelobt hatte. 

Deswegen antwortete er diplomatiſch: „Das hängt ganz von ihm ab: wenn 
er ſo fortarbeitet wie jetzt, ſind ſeine Ausſichten gut, wenn er es nicht tut — trägt 
er allein die Schuld. Glauben Sie denn, daß es leicht iſt, mit ſolch einem 
Knaben fertig zu werden?“ 

„Ja, wie mögen Ihre Bemühungen im Hinblick auf ein, Fertigwerden“ fein“, 
wollte ich fragen, hielt aber zurück im Gedanken an die Geheimniskrämerei der 
bureaukratiſch-pädagogiſchen Verſuchsanſtalt. Daher fagte ich zuſtimmend: „O ja, 
ich verſtehe Sie vollkommen.“ Das ſchmeichelte dem Inſpektor. Er war entzückt 
und taute endgültig auf. 

„Was ſoll man machen? Wir bemühen uns ja nach Kräften. Sprechen 
Sie ſelbſt, ſprechen Sie ſelbſt mit Nikanor. Und dann würde ich Ihnen raten: 
Nehmen Sie Ihren Bruder nach Haufe — jetzt wird er ja auch das Jaroslawer 
Gymnaſium abſolvieren können.“ 

„Leider iſt es nicht möglich. Er hat im dortigen Gymnaſium einen zu ſchlechten 
Ruf.“ Ich wollte vor dieſem Menſchen unſere ſchweren Familienverhältniſſe 
verbergen. 

Ich konnte ihm ja die Wahrheit nicht fagen, daß mein Bruder von Kind 
auf unbeliebt geweſen war, und daß ſein wenig fügſamer Charakter ihm den Haß 
der Mutter zugezogen hatte. So bemerkte ich denn, daß es eben verſchiedene 
Naturen gebe. 

„Gewiß — verſchiedene, verſchiedene“, wiederholte der Inſpektor höflich, 
erhob ſich und ſtreckte mir die Hand entgegen: „Auf Wiederſehen! Sprechen Sie 
mit Nikanor und beruhigen Sie Ihre Mutter. Ich habe die Ehre!“ 

Sch fuhr zu Nikanor. Er ift ein kluger, guter Menſch und gilt für einen aus- 
gezeichneten Pädagogen und Familienvater. Mein Bruder lebt bei ihm ſchon das 
zweite Jahr. 

Nikanor empfing mich liebenswürdig, aber zurückhaltend. Nach dem un- 
vermeidlichen Geſpräch übers Ausland kamen wir das Thema auf meinen Bruder 
zu ſprechen. b 

„3% weiß nicht, id) weiß nicht. Er ift mit feinem Leben bei mir unzufrieden. 
Er ijt nervös überreizt — den Grund kenne ich nicht. Selbſt wenn wir damit rechnen, 
daß er in einem gefährlichen Alter ift... Im Dezember erkrankte er und erſchrak 
ſehr darüber. Ich auch.“ 

„Was fehlte ihm?“ 

„Das werde ich Ihnen nicht ſagen — Sie ſind ein junges Mädchen.“ 

And obgleich ich Nikanor inſtändig bat, von dieſem Vorurteil zu laſſen, ging 
er nicht darauf ein. 

„Nein, ich werde es Ihnen nicht fagen. Ich habe Ihrer Mutter bereits da- 
rüber geſchrieben.“ 

Obgleich wir lange miteinander ſprachen, kam ich nicht hinter den Grund 
der Unzufriedenheit über meinen Bruder. Nikanor zuckte mit den Achſeln. Er fuhr 
mit ſeinen langen Händen hilflos in der Luft herum und ſagte immer wieder: 


190 Elifabeth Diatonoff 


„Es ift ſchwer mit fold einem Zungen.“ Da mein Bruder ein verhältnismäßig 
hohes Penſionsgeld zahlte, durchſchaute ich feine Taktik. 

Er wählte eine mittlere Poſition: Er wälzte die ganze Schuld auf meinen 
Bruder, während er ſelbſt außerhalb ſtand. 

„Ihr Bruder kommt bald aus dem Gymnaſium. Sprechen Sie ſelbſt mit 
ihm“, ſagte Nikanor und führte mich in das Zimmer des Bruders. 

Ich hatte nicht lange zu warten. Ein ſchlanker, hochaufgeſchoſſener Züng- 
ling mit einem Ranzen auf dem Rücken trat ein und ſchleuderte die Bücher in 
die Ecke. 

„Ach“, ſagte er, als er mich erblickte. 

3d) umarmte ihn und zog ihn innig an mich. 

„Saſcha, lieber Jung’, guten Tag — ich...“ 

Er befreite ſich ungeſtüm aus meiner Umarmung, zuckte mit den Achſeln 
und ſetzte ſich. 

„Keine Zärtlichkeiten, bitte. Rommft du von Haufe? Mama hat dich wohl 
geſchickt, um die Angelegenheit mit Nikanor zu erfahren?“ 

Er ſtreckte feine Beine von fich, ſtützte feinen Kopf auf die Hand und fixierte 
mich. Die graue Gymnaſiaſtenuniform hob ſein friſches, recht hübſches, wenn 
auch unregelmäßiges Geſicht gut ab. Die blauen Augen leuchteten unter den 
ſchmalen ſchwarzen Augenbrauen. 

„Meine Antwort iſt die; empfiehl dich ſo bald als möglich von hier.“ 

Alle meine Verſuche, ihm näherzukommen, waren umſonſt. Den unglüd- 
lichen Zufall, der mir vor Jahren ein heimliches Drama von ihm in die Hände 
geſpielt hatte, nahm er zum Vorwand, mich als Lügnerin hinzuſtellen. 

„Ich habe dir bereits geſagt, du biſt mir keine Schweſter mehr. So wird es 
auch bleiben. Du — und dein ausländiſches Leben intereſſiert mich nicht!“ 

ich war ganz eingeſchüchtert. Welche Kälte und Grobbeit bei einem Züng- 
ling von achtzehn Fahren! Meine Bemühungen, ihm zu beweiſen, daß ich zu einer 
unedlen Tat nicht fähig ſei, waren vergeblich. Er blieb dabei. 

„Nun, wie du willſt“, ſagte ich endlich. „Mit Gewalt werde ich deine brüder- 
liche Liebe nicht zu erwecken ſuchen. Wenn Mama mich zu dir geſchickt hat, ſo 
habe ich die Pflicht, ihr etwas mitzuteilen.“ 

„Du kannſt ihr mitteilen, daß ich die Abſicht habe, das Gymnaſium zu ab- 
ſolvieren“, ſagte er mit nachſichtiger Würde. „Ich bereite mich für die Bühne 
oder Oper vor — genau weiß ich es noch nicht. Man ſagt, daß ich einen außer- 
gewöhnlichen Bariton habe. Zn der kaiſerlichen Theaterſchule wird bei fehlender 
Mittelſchulbildung ein Konkurrenzexamen gefordert. Daher will id die Schule 
abfolvieren. Das kannſt du Mama mitteilen. Mag fie fih beruhigen.“ 

„Gut. Zch werde es ihr mitteilen.“ 

„Nun, damit wäre wohl alles erledigt — und du kannſt gehen!“ 

Dieſe Oreiſtigkeit, Selbſtzufriedenheit — dieſes Ubermak von Selbſtbewußt- 
fein bei geiſtiger Beſchränktheit, empörte mich. Ich wollte ihm zeigen, daß er kein 
Recht dazu hatte, daß ſein ganzes Leben auf einem ungerechten, mißverſtandenen 
Prinzip aufgebaut ſei. 


Elifabeth Diatonoff 191 


„Du wirfſt mir Anehrlichkeit vor, aber bijt du ſelbſt ehrlich? Denk darüber 
nach. Wir Schweſtern haben nach dem Tode des Vaters nur einen ſiebenten Teil 
des Vermögens erhalten, während euch zwei Brüdern alles übrige zugefallen iſt. 
Du kannſt lernen, teure Penſionen bezahlen nur deswegen, weil du das Doppelte 
von dem baft, was wir beide zuſammen. Wie und wo haben wir Schweſtern 
gelernt? Zu den allerbilligſten Preiſen, ohne moderne Sprachen. Wofür ver- 
brauchſt du deine Prozente? Für Theater, Droſchken — während ich in Paris 
darbe, das Kapital angreife. Und doch ſind wir Kinder eines Vaters. Denk doch 
darüber nach! Du benutzeſt ruhig das Geld, das dir ein veraltetes, ungerechtes 
Geſetz zugewieſen hat. Biſt du dann noch ehrlich, gerecht?“ 

„Pfui! Alſo darauf geht es hinaus! Darauf pfeif’ ich. Mein Geld brauch’ 
ich ſelbſt. Und wenn du nicht genug haft, erarbeite dir doch welches. — Ha, ha, ha!“ 
— und er lachte hart und gemein auf. 

3h preßte die Zähne aufeinander und krampfte meine Hände zuſammen. 
Dazu alſo hatten alle unſere Bemühungen, ihn gut zu erziehen, geführt. Nur 
dazu, um einen diplomierten Nichtsnutz mehr auf der Welt zu haben. 

Vor Schluchzen konnte ich nichts ſprechen und wandte mich ab, um die her- 
vorbrechenden Tränen nicht zu zeigen. 

„Bitte, ohne Szenen! Meine Worte nehme ich nicht zurück. Das Geſpräch 
iſt zu Ende. Bitte, empfiehl dich!“ 

Er fette fid) auf den Lehnſtuhl vor dem Schreibtiſch und zündete eine Biga- 
rette an. Es blieb mir nichts übrig, ich mußte gehen. 

8d teilte Mama mit, daß fie fih nicht beunruhigen folle, alles fei in beſter 
Ordnung. 

„Warum ſchreibt denn der Nichtsnutz ſolche Briefe! Er verdirbt mir die 
Geſundheit und beunruhigt mich.“ 

24. März / 6. April. sch fuhr nach Koſtroma, um das Teſtament zur 
Beftatigung vorzulegen. Beim Kreisgericht war man ein wenig erſtaunt, als ich 
bie Abſicht äußerte, das Geſuch um Beſtätigung des Teſtamentes ſelbſt zu ſchreiben, 
und betrachtete mit Neugierde den weiblichen Studioſus der Rechte. Wie einft- 
mals die Arztinnen, fo erſchienen wir jetzt dem Gros der Geſellſchaft als eine in- 
tereſſante Spezies von Lebeweſen. 

Am Abend, als wir mit der Großmutter Tee tranken, berichtete ich über meine 
Fahrt. Sie hörte ſchweigend zu und ſeufzte nur mit ſeltſam aufgeregter Miene. 

„Großmutter — was iſt mit dir?“ fragte ich. 

„Nichts, Liſa — nichts.“ 

„Sag mir's doch“, drang ich in fie. „Sft irgend etwas geſchehen, eine Un- 
annehmlichkeit, ja?“ 

Die Großmutter ſchüttelte den Kopf und ſagte dann ernſt und feierlich: 

„Siehſt du, deine Großmutter iſt in allen Ehren geſtorben, wie das auch ſein 
muß. Sie hat das Abendmahl bekommen, ein Teſtament aufgeſetzt, an die Armen 
gedacht, an Saſcha — ja, gebe Gott jedem ſolch ein Ende. Siehſt du, ich denke 
jetzt an eure Mutter ... es geht ihr ſchlecht, ja febr ſchlecht. Es ift Zeit, an das 
Teſtament zu denken. Sie hat ja nicht wenig Geld. Beſtimmt werden die Zungen 


192 Elifabeth Olakonoff 


alles erhalten, ihr nur den achten Teil, der wird nicht groß fein. Und dann müßte 
fie doch an die Kirche denken, an ble Klöſter ... Wir leben, ſündigen — wer wird 
nach unſerem Tode für uns beten? Ihr jungen Menſchen glaubt ja nicht an Gott. 
Liſa, du müßteſt mit Mama darüber ſprechen.“ 

„Großmutter, was ſagſt du!“ rief ich mit Entſetzen. „Wie ſoll ich ihr das ſagen, 
du weißt ja, wie ſie den Tod fürchtet.“ 

„Und Gott fürchtet fie nicht ... Ehe man ſich's verſieht, liegt fie im Grabe — 
ohne Verzeihung erlangt zu haben, wie ein Hund großer Gott.“ 

Die Stimme der Großmutter zitterte und ſie begann zu weinen. 

„Großmutter, liebſte, es iſt ja undenkbar. Sie hat ihr ganzes Leben gelebt, 
wie ſie es wollte. Den Tod fürchtet ſie über alles — die geringſte Krankheit 
erregte in ihr tiefe Beſtürzung. Und dann ſoll ich mit ihr vom Teſtament ſprechen. 
Was denkſt du, Großmutter? 8d werde das Geld zu allen Gedenktagen geben. 
Nur ſchweig, um Gottes willen.“ 

Aber die Großmutter blieb bei ihrer Anſicht. Ihr heißer, naiver Glaube 
gab ihr Feſtigkeit, Fanatismus. Sie ſchüttelte ſchweigend den Kopf. 

„Ach Gott! ihre Sünden! Za, ſeid ihr Töchter denn ſchlechter als die Söhne? 
Wenn ſie doch an euch denken wollte und etwas Mitleid hätte. Was ſind denn das 
für Geſetze, die euch alles wegnehmen, um es den Brüdern zu geben. Nein, wenn 
du nichts ſprichſt, pred’ ich ſelbſt!“ 

„Großmutter, auch das noch!“ Verzweifelt flehte ich ſie an, nichts zu ſagen. 
Sie ſchwieg. Es ſchien ihr leid zu tun, das Geſpräch angefangen zu haben, jetzt 
hinderte ich ſie daran, dieſen völlig ausgereiften Plan zur Ausführung zu bringen. 

Was ſoll daraus werden? Wie ſoll ich es einrichten, daß ſie ihr Vorhaben 
nicht ausführt? Soll ich es verhindern, daß ſie allein zur Mutter fährt? Sie wird 
es merken, ſich ärgern und dann erſt recht fahren. 

26. März / 8. April. Es ift lächerlich, was für ein diplomatiſches Spiel 
wir mit der Großmutter treiben. Sie ſucht ihre Gedanken vor mir zu verbergen — 
und ich laffe fie nicht zur Mutter. Heute gelang es mit, fie zu bewegen, den Abend- 
gottesdienſt zu beſuchen, während ich mit dem Advokaten verhandeln muß. 

28. März / 10. April. Als ich heute aus der Bibliothek kam, war die 
Großmutter nicht zu Hauſe. Ich ahnte ſofort, daß ſie bei Mama ſei und eilte hin. 
Als ich den Korridor entlang zum Eßzimmer ging, hörte ich ſchon durch die ge- 
ſchloſſenen Türen einen harten Aufſchrei. Es war die Stimme meiner Mutter. 
Mein Herz ſtockte. So hatte Großmutter nicht ſchweigen können. Sie hatte ge- 
ſprochen! 

8d lief durchs Eßzimmer und öffnete die Tür zum Salon. Großmutter fab 
im Lehnſtuhl, das Taſchentuch in der Hand, und weinte. Neben ihr ſtand die 
zitternde Nadja. Mama lag auf dem niedrigen Sofa. 

„Da iſt ſie — eure Lehrmeiſterin!“ rief ſie zornig und zeigte auf mich. 

„Wie durfteſt du das tun, gemeines Weſen, antworte, wie wagteſt du das?“ 

8d fühlte, wie kalt ich wurde — ich begriff nicht, worum es fid) handelte. 
Mein Herz klopfte hart. 

„Was — bedeutet — das?“ fragte ich mit Anſtrengung. 


Elifabeth Olakonoff | 193 


„Sie verſteht nicht?!“ 

„Saſcha, fürchte Gott — fud’ in ihr nichts Unwahres — ich bin es ſelbſt, 
die um deiner Seele wegen mit dir ſprechen wollte“, ſagte die Großmutter. 

Die arme Nadja ſchluchzte wie vernichtet. 

„Ich weiß, was ihr befürchtet — nicht die Schenkung für das Kloſter in- 
tereſſiert euch — ſondern euer eigener Gewinn! Sch werde euch zeigen, wer ich 
bin!“ Die Augen der Mutter leuchteten in dem mir ſo wohlbekannten Haß. Ihr 
Geſicht belebte ſich beim Gedanken, daß ſie ſich an uns noch übers Grab hinaus 
rächen konnte. 

„Ich werde kein Teſtament aufſetzen! Mag alles den Zungen zufallen. Was 
ſeid ihr mir für Töchter. Die eine hat gegen meinen Willen geheiratet — die andere 
hat gegen meinen Willen die Frauenkurſe beſucht.“ 

8 hielt es nicht länger aus. 

„Du ſelbſt haft gegen den Willen deiner Mutter geheiratet; ober haft du uns 
zur Welt gebracht, um uns zu Sklavinnen zu machen?“ ſagte ich mit Unwillen, 
erkannte aber zu ſpät, daß es umſonſt fei, mit folh einem Menſchen zu ſprechen. 
Wieviel Tränen waren vor dieſer Frau in früheſter Jugend geweint worden, als 
ich ſie auf den Knien darum bat, mir das Studium zu gewähren. Wie hatten wir 
gelitten unter ihren Schlägen und Strafen. 

„Komm weg, Großmutter.“ Ich ſuchte ſie vom Stuhl zu heben. Sie rührte 
ſich nicht, wie hypnotiſiert durch den Blick der Tochter. 

„Das alſo habt ihr ausgedacht. Mag den Brüdern alles zukommen. Ihr 
ſollt nichts haben.“ 

Sedes Wort dieſer Frau drang wie ein Meſſer in meine Seele. 

Die arme Nadja flüfterte mir leiſe zu: „Ach, wie die Mutter erzürnt ift, 
warum haſt du das getan?“ 

Das arme, törichte Mädchen! Es wäre vergeblich, ihr darüber Aufklärung 
zu geben. 

3h beeilte mich, die Großmutter wegzuführen. 

Und inmitten dieſer Abgründe moraliſcher Verworfenheit, inmitten dieſes 
unerträglichen Lebens, erſchien mir die Erinnerung an den Abend in Boncicaut 
wie der einzige helle Ausblick meines Lebens. Wie gut ſprach er! Wie freund- 
lich war er mit mir! 

Es war, als ob ſeine Worte aus der Ferne meinen Mut, meine Energie, 
meinen Stolz ſtählten. 

Am Abend betete Großmutter lange; als ſie mich ihrer Gewohnheit nach 
vor dem Schlafengehen bekreuzigte — heute mit beſonderer Wärme und Feier- 
lichkeit —, murmelte ſie: 

„Schlaf, mein Kind, Gott bebüt dich! — Su haft durch fie nicht wenig zu leiden 
gehabt. Ach, ach — unſere Sünden find fchwer . . .“ 

50. Marz / 12. April. 8d) bin von den Eiſenbahnfahrten ermattet, 
von allem ermattet. Sd bin phyſiſch entkräftet und auch moraliſch völlig geſchwächt. 
Ich habe keine Kraft, nach dem Geſchehenen hier zu bleiben. Die Beſtätigung des 


Teſtaments werde ich nicht abwarten, ſondern zu einer Tante nach Moskau reiſen, 
Ser Türmer XV, 2 13 


194 | Elifabeth Soiatonoff 


fie fordert mich auf, das Ofterfeft bei ihr zu feiern. Geſtern ſchickte id) nad) Nadja 
und beredete fie drei Stunden lang, die Beglaubigung des Teſtaments in Empfang 
zu nehmen. Sie wollte und wollte nicht, aus Angſt, Verwirrung anzurichten, die 
Sache zu „verfahren“. Und was ift einfacher? Sie bat ja nur das Geld in Empfang 
zu nehmen und in gleiche Teile zu teilen. Endlich begriff ſie es und willigte ein. 
Großmutter ijt vertieft in Vorbereitungen zur Beichte und faſtet. Meine An- 
weſenheit in der kleinen Wohnung, das ſpäte Nachhauſekommen am Abend, be- 
unruhigt ſie und lenkt ſie von ihren andächtigen Stimmungen ab. Als ich ihr geſtern 
mitteilte, daß ich wegreiſe, hielt ſie mich nicht zurück. 

„Wenn es noch eine andere Zeit wäre, aber ſo fahre nur ruhig ab! Es ſind 
jetzt ſo große Tage — ob ich die ſiebente Faſtenwoche wohl noch erlebe, Gott mag 
es wiſſen — jetzt muß ich viel beten.“ 

Das hält ſie jedoch nicht ab, mir jeden Morgen zum Tee ein weiches Ei zu 
kochen ... beim Anbruch der ſtillen Woche! Sie ſchweigt und fügt fid) den Forde- 
rungen des ihr unfaßlichen, fremden Fortſchritts. 

Moskau, 2. April. 

Ich bin bei der Tante angelangt. Sie, die ſonſt ſtrenge Zurückhaltende, 
die mich mit ſoviel Kritik ſtets muſterte, umfing und küßte mich mit ſichtlicher 
Freude, indem ſie mein Pariſer Trauerkleid mit Wohlgefallen betrachtete. 

„Endlich ſiehſt du nach etwas aus! Biſt anſtändig gekleidet und haſt eine 
moderne Friſur. Und wie du hübſch geworden biſt! Gott! Kehr dich um — ja, 
ja . . . das ijt Paris.“ 

Zwei Vettern, der eine verheiratet, der andere noch nicht, ſuchten mir eben- 
falls Liebenswürdigkeiten zu ſagen. 

Ich war erſtaunt. Bis jetzt waren Toiletten für mich ein unergründliches 
Geheimnis geweſen und ich war glücklich, als ich beim Eintritt in die Kurſe das 
traditionelle Kleid der Kurſiſtin anlegen durfte: den ſchwarzen Rod und die ein- 
fache Bluſe. Die Haartracht ebenfalls ſchlicht. Obgleich man mir das Friſieren, 
Kräuſeln der Haare vielfach angezeigt hatte ... ich blieb beim ſchlichten, eng an- 
liegenden Zopf. In Paris hatte ich allmählich, der dortigen Mode entſprechend, 
das Haar in die Höhe gekämmt und es gelockt. Daß ich damit ſolch einen Eindruck 
erzielen würde, hatte ich kaum erwartet. Ich ſah neugierig in den Spiegel und 
konnte feſtſtellen, daß von der früheren „Kurſiſtin“ nichts mehr vorhanden war. 

Meine Tante war damit ſehr zufrieden und konnte ſich nicht enthalten, mir 
anzudeuten, daß ihre Einladung nicht ohne diplomatiſchen Hintergrund war; es 
fei ein „Freier“ in Sicht. 

Mir fiel Lencelets Rat ein und ich lachte auf. Dieſe Fügung! Wenn es die 
Tante wüßte. Nun, wir wollen ſehen, was es für ein Freier iſt! 

Ich folgte der Tante in den hübſchen kleinen Salon, den Lieblingsplatz für 
die intimſten Geſpräche. Als ich mich dann auf den weichen Teppich vor ihren Füßen 
niederließ, ſagte ich ſcherzend: 

„Wenn du dich jetzt mit, Freiern“ abgibſt, ich ſtehe ganz zu deiner Verfügung.“ 

„Nein, Liſa, dieſes Mal ſollſt du nicht lachen. Als du die Kurſe beſuchteſt,“ 
in der Stimme der Tante klang unendliche Nachſicht mit dieſer menſchlichen Srrung, 


Elifabeth Diatonoff 195 


„io laß ich das noch gelten ... Aber jetzt haft du bie Kurſe abfolviert ... Ou mußt 
heiraten. Du willſt noch weiter Zura ſtudieren? — Ja, glaubſt du damit viel ver- 
dienen zu können? Du biſt ſchon fünfundzwanzig Sabre alt, die Mittel find gering, 
immer bift du allein. In der Schrift ſteht: ‚Es ijt nicht gut, daß der Menſch allein 
fei‘ — erinnerſt du dich deſſen?“ 

„Wie ſoll ich das nicht kennen! Alle die in der Kindheit gelernten Worte 
haben ſich unauslöſchlich — leider — in meine Seele eingegraben!“ 

„Nun ſieh! Es iſt eine ausgezeichnete Partie. Nicht nur für dich, meiner 
eigenen Tochter könnte ich nichts Beſſeres wünſchen.“ 

Und die Tante ſeufzte ſchmerzlich. Die Arme leidet nun ſchon das zweite 
Jahr in ihrem gekränkten Mutterſtolze; die einzige Tochter, die einem Millionär 
zugedacht war, deren Ausſteuer in mehreren Klöſtern genäht wurde, hatte ſich in 
einen Hauslehrer, in einen armen Hauslehrer verliebt, und ſich auf ganz roman- 
tiſche Weiſe trauen laſſen. Das zweite Jahr iſt darüber vergangen. Er iſt literariſch 
tätig, verdient faſt nichts. Die Couſine muß fic ſelbſt erhalten. Das batte meine 
Tante wohl kaum gedacht, als ſie ſich Tanjas „Schloß“ ausmalte. 

Meine Kommilitoninnen konnten nicht genug Abſcheu vor fold einer Che- 
ſchließung zeigen. Ich verſtehe ſie vollkommen. In unſerer Kaufmannsſphäre iſt 
der einzige Untergrund für alles menſchliche Glück, für alles Wohlergehen — Geld. 
Und nun wollte meine Tante in aller ihrer Gutmütigkeit wenigſtens mein Glück 
aufbauen, nachdem es ihr mit der Tochter nicht gelungen war. 

Ich ſtreckte ihr gerührt die Hand entgegen. 

„Ich bin dir febr dankbar, liebe Tante — aber ...“ 

„Hör, Lifa — warum ,aber“? Es ijt eine ernſte Sache. Er ijt der Rommili- 
tone von Tanjas Mann, von der Univerfität her, ein Sokolow. Er hat die Uni- 
verſität glänzend abſolviert und ift jetzt beim Vater an der Fabrik. Er hat von dir 
gehört und möchte dich gern kennen lernen. Morgen kannſt du zu Tanja fahren, 
er beſucht ſie täglich.“ | 

836 ſchwieg. Die Tante fagte das alles fo einfach, [o vernünftig. Nur eines 
fehlte, ja ſchien in dieſer Sache gar nicht in Betracht zu kommen ... Liebe. — 

5. / 18. April. Heute ift der Geburtstag meiner Couſine. Meine Tante 
fuhr zur Gratulation nicht hin. Sie ift durch die vielen Gottesdienſte ſehr ermüdet. 
3d mußte fie vertreten. 

Die Couſine, in einer eleganten Robe, kam mir fröhlich, glücklich, mit einem 
ſchlauen Lächeln entgegen. Wahrſcheinlich hatte die Tante ſie in alles eingeweiht. 

ich tat, als bemerkte ich nichts. Im Eßzimmer ſaßen zwei Freunde ihres 
Mannes, ein älterer und ein jüngerer. 

Wir wurden einander vorgeſtellt. Der Ältere war Künſtler, der Zunge — 
der „Freier“, von dem die Tante geſprochen hatte. Ich fab ihn nicht vorurteils- 
frei an. Doch nein, es war nichts Auffälliges an ihm. Er hatte ſehr weiche, etwas 
verſchwommene, flavifhe Züge — fein Außeres war weder ſchön noch häßlich zu 
nennen. Er begann frei, ungezwungen über meinen Aufenthalt im Auslande zu 
reden, über Literatur, Kunſt. Er erwies fid) als febr beleſen und als inter- 
effanter Plauderer. Meine Couſine ſtellte mit feinem Takt von Zeit zu Zeit 


196 Eliſabeth Diatons-ff 


Fragen, während (id ihr Mann mit dem Künſtler aufs eifrigfte unterhielt. Die 
Zeit verflog bis zur Mitternacht, ich ſtand auf. 

Meine Couſine lebt an der Pretſchiſtinka, meine Tante an der Pokrowka, 
er an der Taganka. Mir ſtand ein langer Weg bevor. Wir gingen ihn zuſammen. 

Schon begann ich, ihn ſympathiſch zu finden, als er plötzlich von ſeiner 
Schweſter zu reden anfing. 8d) hatte gehört, daß feine Schweſter febr häßlich 
fei, unglücklich, einſam. 

And ich wollte wiſſen, ob er ein guter Bruder war — wie die Couſine es von 
ihm geſagt hatte. 

Er erzählte, wie er mit ihr nach Norwegen gefahren wäre — es war eine 
„unmögliche Reiſe“, ſie ermüdete ſofort und vertrug nichts. 

„Warum rechneten Sie denn nicht mit ihrer zarten Geſundheit?“ fragte ich. 

„Vas geht fie mich an“, fagte er unverhohlen. „Ich reiſte ja nicht um ibret- 
willen, ſondern zu meinem eigenen Vergnügen.“ 

So redete er mit dreißig Jahren. Welch ein Egoismus, welch eine Grobheit in 
dieſen Jahren! Fd war entſetzt und verglich ihn inſtinktiv mit dem in Paris... was 
für ein Unterſchied! Wieviel feines, mitfühlendes Verſtändnis lag in deſſen Seele. 

Und das Zntereffe für ihn ſchwand. Als wir an der Pforte ſtanden, verab- 
ſchiedeten wir uns. 

6. / 19. April. Obgleich heute Karfreitag ijt — in jedem Haufe viel Vor- 
bereitungen —, kam meine Couſine zu uns. Ich fag in meinem Zimmer, als das 
Stubenmädchen mich ins Schlafzimmer der Tante bat. 

Kaum war ich eingetreten — als fie mir „gratuliere, gratuliere!“ entgegenrief. 

„Wozu?“ fragte ich erſtaunt. 

„Stell dich nicht an! Du haſt den beſten Eindruck auf ihn gemacht, fahre 
nur fo fort...“ 

„Natürlich,“ ſagte die Couſine raſch, „du haſt keinen Grund, ins Ausland zu 
reiſen, bleib hier.“ 

„Ich habe ſchon eine Bittſchrift eingereicht, um einen Paß zu erhalten.“ 

„So ein Querkopf! Oieſe Angelegenheit iſt viel wichtiger, als dein Paß. 
Bleib“, ſagte die Tante. 

ich wollte dem Geſpräch immer noch eine leichte Richtung geben. 

Aber weder die Tante noch die Couſine ſcherzten. 

„Du biſt bereits fünfundzwanzig. In deinem Alter hatte ich fünf Kinder! 
And du treibſt dich in der Welt herum! Wir bemühen uns, ſorgen für dich — und 
du denkſt nur an deine Abreiſe. Viel Zeit habe ich nicht für dich. Gleich wird zum 
Abendgottesdienſt geläutet“, ſagte die Tante und erhob ſich unwillig. „Tu wie 
du willſt, aber klag ſpäter nicht.“ 

And damit ging ſie feierlich aus dem Zimmer. Die Schleppe ihres ſchweren, 
ſeidenen Gewands ſchien mißbilligend zu rauſchen, als ſie langſam den Korridor 
entlang ging. 

„Nun ſiehſt du, Mama iſt jetzt böſe auf dich — ich bin aber gutmütiger“, 
ſagte Tanja mit ihrer ſilberhellen, zarten Stimme, die einer ihrer Reize war und 
nicht wenige Verehrer in Entzücken verſetzt hatte. 


Elifabeth Diatonoff 197 


„Tanja, baft du wirklich Luft dazu, bid) mit ſolchen Dingen au befaſſen?“ 
ſagte ich beſänftigend. 

„Siehſt du, meine Liebe, es gibt einen guten Grundſatz: „Halt den Augenblick 
feſt.“ Du mußt heiraten. Damit ſind alle einverſtanden. Im Grunde deiner Seele 
willſt du es ja auch, nur ſagſt du es nicht. Nun, es iſt ja immerhin deine Sache! 

Wir fiel Lencelets Rat ein und ich war froh, daß niemand ihn gehört hatte. 
Wie hätten ſich dieſe lebensklugen Leute darüber gefreut! 

Die Couſine fuhr fort: 

„So. Es bietet ſich dir die Gelegenheit, eine glänzende Partie zu machen. 
Du haſt ihm gefallen. Von dir allein hängt es ab, fortzuſetzen. Statt deſſen willſt 
du auf mehr als ein Jahr verreiſen. Was brauchſt du noch mehr: er ijt jung, ge- 
bildet“ — und dann fügte ſie in geſchäftlichem Tone hinzu: „und ſehr reich! In 
unſerer Zeit iſt das ſehr weſentlich — damit darf man nicht ſcherzen!“ 

ich wollte ihr antworten: und fo redeſt du, du, die aus Liebe ganz gegen den 
Willen der Eltern heiratete. Und plötzlich fiel es mir ein, daß meine Tante reich 
iſt, ſomit meine Couſine fürs ganze Leben ſichergeſtellt iſt. 

Sa, ein reiches Mädchen kann fid) einen Bräutigam nach dem Herzen wählen, 
jie konnte wählen, wen fie wollte, ihre Mittel langen für zwei, und id... 

Vor mir tauchte das Bild meines elenden, grauen Lebens auf... Unſere 
Tätigkeit, die durch die beſtehenden Geſetze immer beſchränkt fein wird, die Un- 
möglichkeit, nach großen Entwürfen zu leben ... die Eintönigkeit meines einſamen 
Lebens 

And der dämoniſche Verführer ſchaukelte in Geſtalt dieſer reizvollen jungen 
Dame vor mir und ſagte: Bleib, bleib! 

Ich dachte an das Studium, an unfere leidenſchaftlichen Träume, dem Volke 
zu helfen, an meine ſtolze Freude, einft für die Frauen einzutreten — ihre menfch- 
lichen Rechte zu verteidigen. Und angeſichts der erſten Ausſicht eines bürgerlichen, 
bequemen Lebens — opfere ich mein Ziel, alle meine Uberzeugungen? . 

„Nein, Tanja, ſobald ich meinen Paß habe, reiſe ich. Ich muß den Betrag 
für das letzte Quartal noch zeitig an der Univerſität entrichten.“ 

Die Couſine zuckte ſchweigend mit den Achſeln. Als ich mich im Vorzimmer 
von ihr verabſchiedete, ſtreckte fie mir ihre Hand entgegen — in ihren Augen ftand 
dabei ein ungeſagtes: Närrin! 

9./2 2. April. Geſtern, als am erſten Feiertag, batte meine Tante großen 
Empfang. Vor meinen Augen ſind Gäſte, Popen, Oſterkuchen, Eier, Küſſe! Ob- 
gleich ich mein Trauerkleid nicht ablegen wollte, hatte die Tante mir ein weif- 
ſeidenes erſtanden und zwang mich dazu, es anzulegen und mich den Gäſten zu 
widmen. 

„Dieſe Sünde! Zu Oſtern in Trauer, in meinem Hauſe. Verzeih, das 
kann ich nicht zulaſſen.“ 

Ach, wie kenne ich ſolche Ausſprüche aus meiner Kindheit — das laſſe ich nicht 
zu, das dulde ich nicht! 

Eines Kleides wegen lohnte es fid) nicht, zu ſtreiten und das fromme Gemüt 
der Tante zu verletzen. So zog ich es willig an, friſierte mich und ging zu den Gäſten. 


198 Stemmann: Oer Verliebte 


Am Abend begann ich, ermüdet von den Oſterzeremonien, meine Sachen 
zu packen. Der Paß iſt noch nicht geſchickt, ich fange an, mich zu beunruhigen. 
Die Tante ärgert ſich über mein Verhalten und ſchweigt. Sie iſt in ihrer ſtolzen 
Sicherheit durch meinen Widerſtand gekränkt. 

Das ift mir ſchmerzlich und peinlich! Sch will ja mit ihr weder ſtreiten noch 
ſie betrüben, andererſeits werde ich meine Freiheit nicht aufgeben. Ich ſuche ihr 
in kleinen Dingen entgegenzukommen und erbot mich, in Paris Rommiffiondr in 
Modeſachen zu ſein. Damit habe ich ſie, glaube ich, etwas gewonnen. Sie wurde 
nachdenklich und begann, mir Aufträge zu geben. 

Sch bin gefühllos wie aus Holz und tue alles mechanifd ... 

1 1./2 4. April. Fd habe den Paß erhalten; heute abend fahre ich mit 
dem Schnellzug nach Paris. Meine Tante hat mir den Auftrag gegeben, ihr bei 
Vorte oder Paquin einen Mantel zu beſorgen. Wir verabſchiedeten uns in Freund- 
ſchaft, obgleich bei meiner Tante einige Zurückhaltung zu bemerken war. | 

(Fortſetzung folgt) 


Der Verliebte Bon Grnft Stemmann 


Mein Liebchen liebt das Schmücken, 
And das ift lieb von ihr. 

Sie liebt die ſchlanken Gewänder, 
Die Spitzen und die Bänder, 

Sie ſchwärmt für kniſternde Seide, 
Für lachendes Geſchmeide — 

Und ſo gefällt fie mir. 


Oft ſteh' ich lange Weile 
In harrender Einſamkeit. 
Mein liebendes Herz hat Eile, 
Mein ſüßes Lieb — hat Zeit. 


Sie zupft am goldnen Härchen, 

Muß noch am Kleidchen rücken, 

Muß wo ein Fdltlein drücken, 

Das Stündchen wird zum Zährchen — 
Doch niemals groll' ich ihr. 

Sie will mit all dem Schmücken 

Ja mich allein beglücken. 

Und das iſt lieb von ihr. 


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Das Geſpenſt des Hungers 
Von O. Umfrid 


s iſt ein böſes Wort, das auch auf Männerherzen lähmend wirken 
kann, das Wörtlein „Hunger“. Man war gewohnt, es hier und da 

aus weiter Ferne nach Weſteuropa hereintönen zu hören, aus Indien 
24) ober China, oder auch einmal aus der Mitte bes halbaſiatiſchen Ruß- 
lands. Aber daß wir ſelbſt davon betroffen werden könnten, daß unſere im ganzen 
durch regelmäßige Ernährung verwöhnte Bevölkerung plötzlich vor dem Nichts 
ſtehen könnte, das hat man ſich in der Regel nicht klar gemacht. Die große Dürre 
des Jahres 1911 und die verderbliche Näſſe des laufenden Jahrgangs hat 
zwar ſchädigend auf viele Feldfrüchte eingewirkt und eine in weiten Kreiſen 
ſehr empfindliche Teurung der Lebensmittel herbeigeführt; aber eigentlichen 
Hunger haben auch die arbeitenden Klaſſen bis jetzt nicht gelitten. Drohender 
hat ſich das Geſpenſt bereits bei dem letzten großen Maſſenſtreik in England 
erhoben. Das Inſelvolk hat gezittert vor der Möglichkeit, daß der Transport 
der Nahrungsmittel unterbunden werden könnte, und London hat gezeigt, daß 
es ohne die Zufuhr von außen keine acht Tage leben kann. Daher auch die 
Nervoſität der Engländer in allen Fragen, welche die Seeherrſchaft betreffen, kraft 
deren fie allein imftande zu fein meinen, die nötige Lebensmittelzuleitung zu 
ſichern. Für ein Volk, das die Dummheit beging, die eigene Landwirtſchaft zu 
einer Zeit zu vernichten, da der ewige Friede noch nicht geſichert war, und das 
durch eigene Produktion nur ein Zwölftel des Bedarfes decken kann, ijt es felbit- 
verſtändlich eine Lebensfrage erſten Rangs, ob es ihm gelingt, das für elf Monate 
notwendige Getreide vom Ausland einzuführen. Amerika iſt die Kornkammer für 
England. Verſchließt ſich dieſe Kammer, ſo nagen unſre Vettern über dem Kanal 
am Hungertuch. Daher die Begeiſterung, mit der ſeinerzeit das engliſch- ameri- 
kaniſche Schiedsgerichtsprojekt in London aufgenommen wurde. Wäre es zuſtande 
gekommen, wäre tatſächlich das Wort „engliſch-amerikaniſche Kriegsmöglichkeit“ aus 
dem Lexikon geſtrichen worden, ſo hätten die Engländer um ihr täglich Brot nicht 
bange zu ſein brauchen. Der amerikaniſche Senat hat ihnen indes die ſchmerzliche 
Enttäuſchung bereitet, daß er den Schiedsgerichtsvertrag ausweidete, ſo daß nur 
noch die traurige Hilfe eines ſolchen übrigblieb. Sollten diefe Bankees wirt- 
lich imſtande fein, den verteufelt klugen und raffinierten Gedanken Rudolf 
Meyers zu durchdenken: „Sobald Rußland und die Vereinigten Staaten ſich die 


200 Umfrid: Das Gefpenft des Hungers 


Hand reichen, beherrſchen fie Europa; ſowie fie (id) verbünden, demſelben Lebens- 
mittel nur dann zukommen zu laſſen, wenn Europa ſolche Preiſe dafür zahlt, als 
ſie ihm abverlangen, dann können dieſe beiden Weltreiche einen Ausfuhrzoll auf 
Lebensmittel legen, und wir werden ihn FR müſſen; denn wir können ihre 
Maren nicht entbehren.“ 

Ein ruſſiſch-amerikaniſches Bündnis, — das ift einmal wieder etwas Neues 
für unſre Realpolitiker, und gewiß haben die wenigſten von ihnen daran gedacht. 
Aber ob es je zu einem ſolchen Bündnis kommt, — Tatſache ijt, daß die mittel- 
europäiſchen Induſtrieſtaaten mehr und mehr in Abhängigkeit geraten von den 
getreideausführenden Ländern. Und wenn einmal dieſe Länder ihre Tore ſperren, 
dann droht der Hunger nicht bloß den Engländern, ſondern auch uns. 

Andrew Carnegie, der nicht nur ein geſchäftsgewandter Milliardär, nicht nur 
ein begeiſterter Friedensmäcenas, ſondern auch ein weitblickender Sozialpolitiker 
iſt, ſagt in ſeinem Buch „Amerika, ein Triumph der Demokratie“: „Dieſe gewaltige, 
täglich wachſende Ausfuhr an Nahrungsmitteln nach Europa muß ernſte Gedanken 
für die Zukunft erwecken. Die Bevölkerung der Alten Welt nimmt in ungeahntem 
Maße zu, ohne daß zugleich die bebaute Fläche oder deren Produktivität wüchſe. 
Die 172 Millionen, welche Europa zu Anfang des 19. Jahrhunderts beherbergte, 
haben ſich auf 312 Millionen vermehrt, — ein Zuwachs, der in der Geſchichte der 
Alten Welt beiſpiellos daſteht. Schon kann die Nahrungsmittelproduktion mit 
dem Konſum nicht mehr gleichen Schritt halten: ohne die Hilfe Nordamerikas 
und anderer Länder wären wirtſchaftliche Kriſen unvermeidlich geweſen. So be- 
trägt das jährliche Plus an Getreide, das in Europa eingeführt werden muß, 
zirka 134 Millionen Hektoliter, das an Fleiſch 853000 Tonnen. Schon jetzt iſt 
es alſo auf auswärtige Hilfe, vor allem von ſeiten Nordamerikas, angewieſen, um 
dieſen Ausfall zu decken, und wird mit zunehmender Bevölkerung in ein feſtes 
Abhängigkeitsverhältnis zu ihm treten müſſen.“ 

Dazu kommt, daß Panamerika als einheitliches Wirtſchaftsſyſtem mehr und 
mehr in die Erſcheinung tritt. Nordamerika nimmt die ſüdamerikaniſchen Staaten 
als Abſatzmärkte, die von Rechts wegen ihm gehören, in Anſpruch. So kommt die 
Zeit unaufhaltſam immer näher, in ber Panamerika aufhören wird, unſre Waren 
zu kaufen. „Sobald in Amerika“, ſagt Dr. Loſch in ſeinem Buch „Nationale Pro- 
duktion und Berufsgliederung“, „die eigene Induſtrie genügend erſtarkt iſt, finden 
die europäiſchen Produkte keinen nennenswerten Abſatz mehr; ja Amerika tritt 
dann ſelbſt in dem noch übrigen Teil des Weltmarkts als Verkäufer auf. Dann 
haben wir kein Geld, um Brot für unſre Induſtriearbeiter einzutauſchen“ — und 
wieder droht der Hunger. 

Das mußte man fid in Oeutſchland beſonders während der Marokkokriſis 
klarmachen. Die ganze Schwierigkeit iſt, wenn man (wie billig) unſern deutſchen 
Staatsmännern die beſtmöglichen Gründe zutraut, aus nichts anderem hervor- 
gegangen als aus der Angſt, daß es der deutſchen Induſtrie an Rohmaterialien 
und Abſatzgebieten und dem Überfhuß deutſcher Bevölkerung an Abflußkanälen 
fehlen könnte. Es geht eine Ahnung durch unſre Induſtrieſtaaten, daß der Welt- 
markt nicht ewig aufnahmefähig bleiben wird, daß eines Tages ſämtliche Kultur- 
länder induſtrialiſiert fein werden, daß dann unſre Waren im Ausland keine fob- 


Umfrib: Das Geſpenſt des Hungers 201 


nende Abnahme mehr finden werden, weil die Ausländer imſtande ſein werden, 
ihren Bedarf ſelbſt zu decken. Woher foll der Deutſche dann das Zwölftel von Ge- 
treide bezahlen, das er nicht ſelbſt hervorbringen kann, und die Südfrüchte und 
andere Genüſſe, an die er fid) gewöhnt hat? Daher die Zappeligkeit der aus- 
wärtigen Politik. Dr. Loſch wird das Richtige getroffen haben, wenn er ſagt 
(a. a. O.): „In demſelben Augenblick, wo ein zunehmender Prozentſatz eines 
Volks nicht mehr durch Nahrungsmittelproduktion des Inlands ernährt werden 
kann, wird die innere und äußere Politik bieles Volks verwickelt und kritiſch .. 
Während der einheimiſche Broterzeuger nur vom Wetter und von ſeiner Arbeit 
abhängt, hängt der ausländiſche Brotbezieher von der Verkaufsmöglichkeit der 
von ihm hergeſtellten Waren im Ausland und noch dazu vom ausländiſchen Wetter 
ab... Niemand kann in Abrede ſtellen, daß der Bedarf an Nahrungsmitteln für 
ein Volk ſo unerbittlich notwendig iſt, daß man überhaupt nur in zwei Fällen 
ruhig fein kann: entweder müſſen jene Waren in ihrer ganzen Menge im In- 
land erzeugt oder müſſen ſie aus Quellen entnommen werden, deren Offenhaltung 
in jedem einzelnen Augenblick der Macht des einführenden Landes unterworfen 
iſt. Ein dritter Zuſtand führt auf die Dauer den Ruin jedes Volkes herbei.“ 

Was ſoll denn nun geſchehen, um das Geſpenſt des Hungers zu bannen? 
Jede kriegeriſche Unternehmung zum Zweck der Eroberung von Märkten ober von 
Ländern iſt ein veraltetes und im höchſten Maß zweiſchneidiges Verfahren. Die 
Möglichkeit einer Niederlage muß billigerweiſe ebenſo fejt ins Auge gefaßt wer- 
den wie die Möglichkeit eines Sieges. Wenn wir nun um Narokkos oder der 
franzöſiſchen Kongo-Kolonie willen Krieg führen wollten, ſo müßten wir riskieren, 
daß uns von dem mit Frankreich verbündeten England der Kanal geſperrt würde. 
Während des Oſtaſiatiſchen Kriegs ſind die Lebensmittelpreiſe in dem Getreide 
exportierenden Rußland ums Dreifache geſtiegen. Die für das alte Europa lebens- 
gefährlichen Balkanwirren werden ähnliche Folgen zeitigen. In dem relativ getreide- 
armen Oeutſchland würden die Preiſe im Falle eines Kriegs, in den wir ſelbſt 
verwickelt würden, wahrſcheinlich aufs Zehnfache ſteigen. Schlägt fid) aber Ruk- 
land auf die Seite unſrer Feinde, ſo iſt uns die Hungersnot gewiß. 

Es bleibt zunächſt nichts anderes übrig, als durch möglichſt vorteilhafte und 
beſtimmt abgefaßte Handelsabkommen den Abſatz deutſcher Induſtriewaren zu 
ſichern, ſodann aber bewußt einer Zeit entgegenzuſtreben, da ſich Deutſchland mit 
Oſterreich- Ungarn, Frankreich und Stalien zu einem mitteleuropäiſchen Wirt- 
ſchaftsgebiet zuſammenſchließen würde, oder einer Zeit, da es ſich ſelbſt genügen 
könnte, wobei insbeſondere darauf zu achten wäre, daß die deutſche Landwirtſchaft 
ſtark genug gemacht werden müßte, um durch Ausdehnung und gleichzeitige In- 
tenſierung des Betriebs das deutſche Volk ernähren zu können. Es müßte aber 
endlich die deutſche Auswanderung in ganz anderer Weiſe, als es bisher geſchieht, 
geregelt und in überſeeiſche Kulturländer abgeführt werden, mit denen Nieder- 
laſſungsverträge nach Art des japaniſch-braſilianiſchen Anſiedlungsvertrags ab- 
zuſchließen wären. Dann hätten wir keine notleidenden Maſſen, keine induſtrielle 
Reſervearmee im Land, die wir nicht ernähren könnten, dann, aber auch erſt dann 
wäre die Gefahr des Hungers für alle Zeiten beſchworen. 


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Der Pflegeſohn 
Novelle von L. M. Schultheis 


ie beiden Schweſtern ſaßen in ihrem eichengetäfelten Speiſeſaal — 
Lady Dorothea hochaufgerichtet und unbeugſam am Präſidialende 
des Tiſches, ihr gegenüber, durch eine weite Ode weißen Linnens 
- von ihr getrennt, Lady Gerogiana. Sie waren ganz allein. Ihre 
1 gebrechlichen Figürchen verloren ſich in dem hohen, hallenden 
Raum. 

Sie trugen ſchwarze Samtgewänder, ſchwer, mit ſchleppenden Säumen. 
Im Ausſchnitt am Halfe, der mit alter Honitonſpitze garniert war, trug die ältere 
Schweſter ein köſtliches, dreireihiges Perlenhalsband, die jüngere eine Cosway- 
miniatur an ſchwarzem Bande. 

Der beleibte alte Hausmeiſter hantierte lautlos am Büfett, räumte die letzten 
Schüſſeln weg, zog das Tiſchtuch fort und ſervierte das Deſſert auf dem blanken, 
ſchweren Mahagoni, das jeden Umriß, jeden Farbfleck des alten Spodeſervices 
dunkel widerſtrahlte. 

„Sherry oder Port, M'lady?“ murmelte er monoton in das Ohr ſeiner 
Herrinnen. Seit vierzig Fahren fragte er fo. 

Lady Dorothea erwiderte. Sie war die älteſte und achtete ſtreng auf das 
Recht der Erſtgeburt. 

„Es iſt gut, Webſter, Sie können Seiner Lordſchaft ſagen, daß wir ihn 
erwarten!“ 

Webſter verſchwand. Nach einigen Minuten öffnete er wieder lautlos die Tür. 

An ihm vorbei ſchlenderte ein hochgewachſener, ſchmalgliedriger Junge. 
Sein friſches Knabengeſicht mit dem etwas langen Oval, den hochplazierten 
keltiſchen Backenknochen und dem rötlichblonden Kolorit machte einen angenehmen 
Eindruck. 

Die alten Damen blickten ihm prüfend, erwartungsvoll entgegen. 

Er begrüßte ſie in der paſſiven, gleichgültig-freundlichen Art, die als Kunſt 
des Umgangs dem britiſchen Knaben angeboren erſcheint und die während des 
Übergangsftadiums vom Kinde zum Manne feine hilfloſe Pſyche fist, wie die 
Stachelhülle der Raupe den künftigen Schmetterling. 


Schultheis: Der Pflegefoon 205 


Der langaufgeſchoſſene Zunge mit dem rotblonden, glattgebürfteten Haar 
war der Neffe der alten Damen unb hieß mit vollem Titel: Ronald Guy Morifon, 
Graf Dunbar. 

Es war [don etwas Großes, das Haupt aller Moriſons zu fein. Die Dunbars 
waren ſchottiſcher Uradel; eine Enkelin König Robert Bruces war ihre Ahnfrau; 
das Blut der Stuarts hatte ſich dreimal mit dem ihren vermiſcht. Als eifrige 
Anhänger dieſer unſeligen Fürſten waren ſie 1725 faſt ausgerottet worden; als 
der Graf von Mar im Jahre 1745 das Banner der Empörung erhob, war das 
Haupt bes Hauſes Dunbar ein achtjähriges Kind. Dieſer Umftand bewahrte die 
Familie davor, ihre ausgedehnten Beſitztümer an die Hannoverkönige zu verlieren. 

Wie damals ruhte auch jetzt die Erbfolge der Dunbars auf zwei Augen, den 
grauen, kühlen Rnabenaugen Ronald Guy Moriſons. Er war dreizehn Jahre alt. 
Geſtern, drei Tage nach feinem letzten Geburtstag, batte man feinen Vater be- 
graben. Seine Mutter war ſchon lange tot, andere Kinder waren nicht vorhanden. 
Man hatte den jungen Erben vorläufig zu ſeinen einzigen lebenden Verwandten 
gebracht: zwei Stiefichweftern feines Vaters, den Ladies Dorothea und Georgiana 
Morifon. 

Er fette fid) wortlos an die Seite bes Tiſches zwifchen feine Tanten. Webſter 
hatte ihm einen der alten Spodeteller bingelebt. In feinem kurzen ſchwarzen 
Etonjäckchen und dem ſchlohweißen breiten Umlegkragen bot er ein Bild friſcher, 
blühender Zugend. 

„Ein halbes Glas Port für Seine Lordſchaft!“ befahl Lady Dorothea. 
Webſter ſchenkte ſchweigend ein, feine kurzen, puſtenden Atemzüge begleiteten 
eilfertig jede Bewegung. 

Dorothea bot dem Knaben Nüſſe an. Er legte drei oder vier auf ſeinen 
Spodeteller und bat höflich um den Nußknacker. Dann aß er ſchweigend die Kerne 
und trank ſein Tröpfchen Port dazu. 

Von Zeit zu Zeit richtete eine der alten Damen ein Wort an ihn. Dann 
richtete er ſeinen Blick auf die Fragende — er hatte merkwürdig intenſive graue 
Augen, die ſich tief einbohrten —, lächelte ein wenig und antwortete mit höf- 
licher Gelaſſenheit: Les, aunt — oder: No, aunt. Dann ſchwiegen fie alle drei. 

Als die Großvateruhr in der Halle laut und ſchnarrend neun Uhr ſchlug 
und ſämtliche Hausuhren ſchneller oder bedächtiger einfielen, erhob er ſich, ſchüttelte 
erſt der älteren, dann der jüngeren Dame die Hand und ſagte gute Nacht. 

„God bless you“, murmelten die beiden, und ſahen ihm nach, wie er mit 
langen, läſſigen Schritten verſchwand. 

Hierauf ſaßen ſie wieder ſchweigend einander gegenüber. Die Weinkaraffen 
blinkten auf dem langen Lifdh, das Silber blitzte. Lady Georgiana rückte unruhig 
auf ihrem Stuhl. Sie wartete auf etwas, das kommen ſollte. Ihre ſchmale Figur 
ſank ein wenig müde in ſich zuſammen, ihre Schweſter aber ſaß kerzengerade, 
wie immer. 

Die Uhren tickten. Die große in der Halle hob zum Viertelſtundenſchlag aus. 

Da reckte Lady Dorothea ihr feines Figürchen noch höher in dem mächtigen 
Lehnſtuhl: 


204 Schultheis: Ser Pflegeſohn 


„Georgiana,“ ſagte ſie plötzlich, „es iſt jetzt an der Zeit, zu beſprechen, was 
mit dem Zungen zu tun iſt.“ 

Die Angeredete fuhr zuſammen. Sie liebte es nicht, zu Entſcheidungen 
herangezogen zu werden, ein langes Leben mit Dorothea hatte ſie ſelten in die 
Lage verſetzt, eine eigene Meinung durchzuführen. 

„Haſt du ſchon etwas beſchloſſen?“ fragte ſie leiſe. 

„Ich habe das Für und Wider erwogen“, ſagte Lady Dorothea, ohne auf 
die Frage ihrer Schweſter einzugehen. „Der Junge muß ein Heim haben, er muß 
für ſeine zukünftige Stellung erzogen werden. Dieſe Aufgabe fällt uns zu, andere 
Verwandte hat er nicht!“ 

Georgiana ſaß in ſchweigender Erwartung. Dorothea würde eine der großen 
Public schools für ihren Neffen ausſuchen, welche, blieb ſich gleichgültig. Vielleicht 
kam überhaupt nur Harrop in Frage — die Moriſons waren Harrovianer. Der 
verſtorbene Earl war dort erzogen worden, er hatte aber merkwürdigerweiſe keine 
Vorliebe für ſeine Alma mater gehabt. 

Deshalb wartete Georgiana, bis die Schweſter ihre Pläne entwickelte. Es 
war gar kein Anlaß vorhanden, neugierig zu fein; in dem alten Haufe in Portman- 
ſquare ging alles, wie es in einem konſervativen ariſtokratiſchen Haufe gehen mußte. 

Lady Dorothea wurde ungeduldig. Ihre welke, feine Hand bewegte ſich 
nervös und ließ einen dunkelroten Rubin feurig aufblitzen. Sie gab ſich wieder 
einen kleinen Ruck: 

„Georgiana, ich habe mich entſchloſſen, den Zungen ganz zu uns zu nehmen!“ 

„Aber, Dorothea!“ ſtotterte die Schweſter erſchrocken. 

„Willſt du Einwendungen machen? Dann ſprich, bitte!“ 

„Haſt du dir es denn wirklich überlegt?“ Das kam ſchüchtern heraus. 

„Ich pflege gewöhnlich nicht unüberlegt zu handeln. Opponierſt du, ſo 
müßten wir, Ronald und ich, in die oberen Zimmer ziehen, die jetzt abgeſchloſſen 
ſind. Das Haus iſt ja groß genug.“ 

Sie ſagte das in einem Tone, der gar keinen Zweifel darüber zuließ, daß 
ſie als die ältere Schweſter eine ungeheure Konzeſſion machte, wenn ſie die oberen 
Zimmer bezog. 

Georgiana war entſchieden die Schwächere. „Sch bin es zufrieden, Dorothea“, 
ſagte ſie nachgiebig. „Ich hatte nur an dich gedacht. Ich fürchte, wir beide ſind zu 
alt geworden für eine ſolche Aufgabe!“ 

„Ich kenne meine Pflicht“, erwiderte Lady Dorothea mit erhabener Miene. 
Gleich darauf fühlte ſie Reue darüber, daß ſie die Schweſter ſo wenig rückſichtsvoll 
behandelt hatte; ſie ſetzte deshalb wohlwollend hinzu: „Wenn es dir recht iſt, 
ſprechen wir im Salon weiter von der Sache.“ 

Darauf erhoben ſich die beiden Alten und rauſchten langſam und umſtändlich 
durch den Speiſeſaal in ihren Salon, ein Rieſengemach aus weißem Stuck, deſſen 
Decke von farbigen Marmorſäulen getragen wurde. Geſchnitzte und vergoldete 
Möbel aus der zweiten Hälfte der langen Regierung Georgs III. machten einen 
ſchwachen Verſuch, feine Leere zu füllen. Rechts und links vom hohen Marmor- 
kamin ſtanden zwei Seſſel mit verblaßten Roſenketten in Lyoner Seide, in denen 


Schultheis: Ser Pflegeſohn 205 


die Schweſtern allabendlich ihre Zeit verbrachten. Ihre feinknochigen Figuren 
in den ſchleppenden Samtgewändern nahmen ſich faft wie eine gewollte Dekoration 
auf dem weiß und goldnen Stuckgrunde aus. 

Das flackernde Feuer im Kamin verbreitete eine Illuſion von Wärme in 
dem froſtigen, hellfarbigen Raum; in alten ſilbernen Kandelabern brannten Kerzen. 

Auf einen ermunternden Blick der älteren Schweſter rückte Georgiana ein 
wenig näher an das Feuer heran. Zuſammen arbeiteten fie einen Erziehungs- 
plan für den Zungen aus. Das heißt, eigentlich entwickelte Dorothea ihre Ideen 
und Georgiana billigte ſie. 

Dorotheas Ideen gingen alle auf die frühviktorianiſche Zeit zurück; was 
ſeitdem über Pädagogik gedacht, geſprochen und geſchrieben worden war, exiſtierte 
nicht für ſie und intereſſierte ſie auch nicht. Der Zunge war ein kräftiger engliſcher 
Junge, geſund an Geiſt und Körper, vor allen Dingen ein Moriſon. — „Wenn er 
auf ſeine verdrehte iriſche Mutter herausgekommen wäre, hätte ich nicht den Mut 
gehabt, Georgiana“, bekannte fie. „Die waren alle exzentriſch, die O' Oonnells. 
Ronald ift, Gott fei Dank, ganz vernünftig. Man redet jetzt viel von der Indivi- 
dualität der Kinder, aber wenn ein Kind individuell wird, das heißt unbrauchbar 
für die Geſamtheit, mit einem Wort verdreht, ſo iſt nur die Erziehung ſchuld. 
Sd habe immer bemerkt, daß unfere engliſchen Zungen, ſolange fie die Schul- 
bänke drücken, ſich gleichen wie ein Ei dem andern, oder wie ein Schaf dem andern. 
Werden ſie ſpäter exzentriſch, ſo haben ſie es ſich nur ſelbſt zu verdanken, denn 
im Grunde bleiben die Männer ewig Kinder und wachſen noch ſchief, wenn ſie 
längſt der Rute entwachſen ſind.“ 

Lady Dorothea war, wie alle ſelbſtherrlichen Menſchen, eine ſchlechte Geelen- 
kennerin. Ihre unabhängige Lage überhob ſie der Notwendigkeit, die Menſchen 
anders als durch Befehle zu regieren. Sie hatte recht, wenn fie eine gewiſſe uni- 
forme Ahnlichkeit der engliſchen männlichen Jugend feſtſtellte, aber ſie ahnte 
nicht, daß dieſe Ahnlichkeit keine aufgedrungene, ſondern eine ſelbſtgewollte war, 
gleichſam eine Art ſchützender Mimikry; außerdem wußte fie auch nicht, daß jedes 
Schaf eine ganz individuelle Phyſiognomie hat. 

Sie legte fid) aber heimlich, zuſammen mit Georgiana, manches Bequem- 
lichkeitsopfer auf, damit der Junge das Elternhaus nicht vermiſſen ſollte. Vielleicht 
war es ihr gutes Herz, das dies alles diktierte, aber Lady Dorothea hätte es nie- 
mals zugegeben, daß ihr Herz in irgend einer ihrer Handlungen maßgebend ſein 
könne — ſie kannte ihre Pflicht. 

Als es zehn Uhr geworden war, ließ der beleibte Hausmeiſter die Glocke 
zur Hausandacht ertönen. Sie fand in der Halle ſtatt, wo Seſſel und Stühle 
ordnungsmäßig aufgeſtellt waren. Der Haushalt begab fid) im Gänſemarſch an 
ſeine Plätze, voran die Haushälterin und die beiden Rammerjungfern in ſchwarzer 
Seide, die Hausmädchen, Köchin, Küchenmädchen in ſchwarzem Kaſchmir mit 
weißen Mützchen. Die Rammerjungfern waren von dem Mützentragen befreit. 
Dann folgten die männlichen Dienſtboten, der Hausmeiſter, die Bedienſteten und 
der Boy, auch „Knöpfe“ genannt wegen des Uberfluffes an dieſem Zierat, der 
feine Zacke ſchmückte. 


206 Schultheis: Der Pflegeſohn 


Lady Dorothea trug eine große Brille, über die hinweg ſie ſah, daß jeder 
den ihm gebührenden Platz einnahm; Georgiana ſaß andächtig ihr zur Seite. 

Sie las das Kapitel, das auf den heutigen Abend fiel, mit beſonderem Nach- 
druck. Es war eine Stelle aus dem fünften Buch Moſis, Deuteronomia. Mand- 
mal hatte ihr der lange griechiſche Name ſchon Schwierigkeiten bereitet, heute 
kam ſie glatt darüber weg. Ihre Gedanken waren bei ihrem Vorhaben, und als 
fie bei den Gebeten angelangt war, flocht fie eine Fürbitte ein für bie Unmin- 
digen und Waiſen, die die Gedanken aller Knienden nach dem hellen, etwas 
altertümlichen Schlafzimmer lenkte, wo Ronald Guy Moriſon den geſunden 
Schlaf der Jugend fcblief. 

Am folgenden Morgen ließ Lady Dorothea ihren Neffen zu ſich bitten. 
Sie ſaß in dem ſogenannten Morgenzimmer, das die Familienporträts der 
Moriſons von Reynolds, Lely, Hoppner, und die beiden berühmten Raeburns 
— Schotten, von einem Schotten bis auf den Grund der Seele geſehen — 
enthielt. 

Webſter meldete den Knaben mit einem reſpektvollen: „Seine Lordſchaft, 
M'lady!“ 

Der überſchlanke Junge ſchlenderte, beide Hände in den Hoſentaſchen, über 
den Perſerteppich zu dem Lehnſtuhl hinüber, auf dem die alte Dame ſaß. Es 
lag etwas ungemein Zartes, Zerbrechliches, Vornehmes in ihrer Erſcheinung; 
wie eine feine Elfenbeinfigur erſchien fie in dem ſtarren dunklen Seidenkleid, 
dem Häubchen aus alter Spitze auf dem weißen Haar. Sie glich in dieſem Augen- 
blick auffällig dem ſchönen Bild, in dem Whiſtler ſeine Mutter auf immer verklärt 
hat. Nur der ſenſitive, faſt furchtſame Zug des Originals fehlte, und machte einem 
Ausdruck von Energie Platz, der mit der zarten, hinfälligen Erſcheinung in mert- 
würdigem Widerſpruch ſtand. 

Sie betrachtete den Knaben, ſeine läſſige Haltung, und vermerkte ſeine 
nachläſſige Haltung übel. 

„Nimm, bitte, die Hände aus den Taſchen!“ 

Ronald gehorchte. Seitdem er ins Zimmer getreten war, hatte er ſeine 
grauen Augen unverwandt auf Lady Dorothea geheftet. Es war etwas Eigentüm- 
liches um dieſen furchtloſen Blick — nichts Lauerndes, nur etwas Beobachtendes, 
Zielbewußtes. 

Die alte Dame wurde iibig: 

„Starr mich nicht fo an, Rind“, ſagte fie nervös. „Ich habe dich rufen laffen, 
um mit dir über deine Zukunft zu ſprechen. Tante Georgiana unb id) find jest 
deine einzigen Verwandten. Wir könnten dich ja nun in eine der großen Schulen 
ſchicken, Harrop zum Beiſpiel. Das wäre bas Nächſtliegende und allgemein Übliche. 
Ich habe aber Grund, zu glauben, daß ich nach den Intentionen deines Vaters 
handle, wenn ich deine Erziehung privat geſtalte. Dein Vater hat dich von der 
Vorſchule wieder fortgenommen — er ſelbſt war ſehr unglücklich während ſeiner 
Schuljahre.“ 

In Ronalds Augen war während ihrer Anſprache etwas aufgeglimmt und 
erloſchen. Sekt fab er höflich und ein klein wenig gelangweilt drein. 


Schultheis: Der Pflegeſohn | 207 


„Auf jeden Fall,“ fuhr Lady Dorothea fort, „beabfichtigte er nicht, dich wieder 
hinzuſchicken. Wäre das der Fall geweſen, ſo läge unſer Weg klar vor uns, du 
gingeſt entweder nach Harrop oder Wincheſter. Die Ferien könnteſt du bei uns 
zubringen. So wie die Sache liegt“ — ſie ſeufzte ein klein wenig — „haben Tante 
Georgiana und ich uns entſchloſſen, dich bei uns aufzunehmen. Sft es Gottes 
Wille, daß wir ſo lange leben, ſo haſt du jetzt eine Heimat, bis du mündig biſt, 
Ronald,“ fügte (ie herzlicher hinzu. 

Der junge Graf ließ ſeinen Blick einen Augenblick ſchweifen. „Thank you, 
Tante Dorothea, ihr ſeid ſehr gütig, du und Tante Georgiana. Haft du mir no: 
etwas zu fagen?“ Sie ſchüttelte den Kopf: „Jetzt nicht, Kind.“ 

„Darf ich alſo gehen?“ 

So ging er. Draußen ſteckte er wieder die Hände in die Taſchen und folen- 
derte ſchweigend den Gang hinab, der nach den Wirtſchaftsräumen führte. 

Tante Dorothea fand alles in Ordnung. Sie liebte es nicht, wenn junge 
Leute ſich ihren Gefühlen allzu ſehr hingaben. 

In den vier Monaten, die folgten, hatte Georgiana zuweilen ihre ſtillen Ge- 
danken über den Neffen. Seine Erziehung war jetzt genau geregelt — er hatte ſeine 
Lehrer, junge Leute aus guten Familien, die in Cambridge ihren Grad erworben 
hatten. Er frühſtückte allein, aß ſeinen Lunch mit den beiden Damen zuſammen, 
und erſchien, wenn ſie zu Hauſe ſpeiſten, auf ein paar Augenblicke beim Oeſſert. 

Georgiana war von beiden Schweſtern die ſenſitivere, weniger formelle. 
Es lagen in ihr noch einige müde Keime von Mütterlichkeit, die dem Zungen 
zugute gekommen wären, wenn ſie gewußt hätte, wie ſie es anfangen ſollte, ihm 
beizukommen. Er blieb der paſſive, wohlerzogene, auf Fragen höfliche Antwort 
gebende Burſche, der er geweſen, wenn ſie ihn früher auf Minuten geſehen hatte. 
Manchmal war es ihr, als müßte ſie ihre alte, welke Hand auf ſeinen Kopf legen, 
ihn an fid) ziehen und forſchen, was im Grunde dieſer kühlen grauen Rnaben- 
augen ſchlief. Sie ſchämte ſich dieſer Schwäche und hätte ſie nicht um alle Welt 
zu offenbaren gewagt, aus Furcht vor Dorothea. 

Dorothea triumphierte. Sie liebte es, wie alle eigenwilligen Menſchen, 
zu zeigen, daß fie recht gehabt hatte. Daß Georgiana nur mit mäßiger Begeifte- 
rung ihren Erziehungsplan gebilligt, hatte ſie noch nicht vergeſſen. Nun konnte 
jeder ihren Erfolg ſehen: Der Zunge war geſittet, er lernte, wenn auch nicht glän- 
zend, doch genügend für einen Grafen Dunbar, er war geſund und von gleich- 
mäßigem Temperament, ein Gentleman. Sie betrachtete ihn mit Genugtuung, 
wenn ſie Sonntags zu dreien zur Kirche gingen, er in ſeinem Etonjäckchen und 
blanken kleinen Zylinder, hellhäutig, rein und geſund. 

Sie hatte ein mitleidiges Lächeln für die Menſchen, die es ſich ſchwer machten 
mit der Erziehung ihrer Kinder, indem ſie ihnen Eigenſchaften, Gefühle und 
Sonderbarkeiten andichteten, auf die ſie ſelbſt als Kinder nie verfallen wären. 
Vor kurzem noch hatte ſie in einem Buche geblättert, das von nichts anderem 
handelte, als der Eigenart der Kinder und der Pflicht der Eltern, fid) dieſer Eigen- 
art anzupaſſen. Sie batte es entrüjtet beiſeite gelegt. Sie ſtammte aus einer Zeit, 
in der man einen ſolchen Gedanken als einen Frevel gegen die göttliche Ordnung 


208 Schultheis: Der Pflegeſohn 


betrachtet hätte. Als Mädchen mit kurzen Röckchen war ſie zuweilen nach Balmoral 
eingeladen worden, um mit der kleinen Prinzeß- Royal zu ſpielen. Sie erinnerte 
ſich noch wie heute der Stunde, da ihre Mutter, eine zarte Frau im bauſchenden 
Reifrock und mit wunderbar ſchlanken Händen, das Töchterchen zu ſich rufen ließ, 
um von ihrer Cauſeuſe das weiße Mullkleidchen mit der farbigen Schärpe zu 
prüfen und ihr einzuprägen, daß man die göttliche Ordnung reſpektieren müſſe, 
die Könige und Vaſallen, Eltern und Kinder, Hohe und Niedrige ſchuf. 

Georgiana hatte einmal eine leiſe Andeutung darüber fallen laſſen, daß der 
Junge ihnen kein Vertrauen ſchenke — da war Lady Dorothea pikiert aufgefahren 
und hatte ſie mit Entſchiedenheit gebeten, keinen Unſinn zu reden. Der Zunge ſei, 
dem Himmel fei Dank, zurückhaltend, wie es einem echten Engländer gezieme, und 
wie er es auf dem Platze nötig habe, auf den es Gott gefallen, ihn zu ſtellen. 

Darauf hatte Georgiana das Gefühl, daß ſie ſich gegen die göttliche Ordnung 
verſündigt habe, und ſchwieg. 

Trotz ihres Erfolges hätte Lady Dorothea Grund gehabt, nachdenklich zu 
ſein. Zweimal hatte ſie ihren ſouveränen Willen gegen den des jungen Ronald 
gemeſſen und war unterlegen. 

Im erſten Fall handelte es fid) um den Reitknecht, den Ronald mitgebracht 
hatte, als er zu den alten Damen nach Portmanſquare überſiedelte. Er war ſchon 
längere Zeit im Dienſt des verſtorbenen Grafen geweſen und hatte den Knaben 
reiten gelehrt. Aus irgendwelchem uneingeſtandenen Grunde war er Lady Doro- 
thea unſympathiſch. Eines Tages glaubte fie zu bemerken, daß er fie nicht unter- 
würfig genug grüßte. Die alte Ariſtokratin war empört. Sie ließ Ronald kommen 
und verlangte die ſofortige Entlaſſung des Mannes. 

Er hörte ſie gelaſſen an. Dann erwiderte er freundlich, daß die Entlaſſung 
ſeiner Leute nicht in ſeiner Macht ſtünde, ſie müſſe ſich an ſeine Treuhand wenden. 

Erſt viel ſpäter, als ihr Arger geſchwunden war, kam der alten Dame ein 
leiſes Staunen über die Sachlichkeit des Knaben und die Geſchicklichkeit, mit der 
er ſich aus einer ſchwierigen Lage gezogen hatte, in der er augenſcheinlich nichts 
zu tun wünſchte. 

Der zweite Fall gab noch mehr zu denken. Auf irgend eine Weife hatte 
Lady Dorothea erfahren, daß ber verſtorbene Graf feinen Sohn nicht aus per- 
ſönlichen Gründen der Schule entzog, ſondern daß man ihm geraten hatte, ihn 
wegzunehmen. Die Kenntnis dieſes Vorfalles brachte Lady Dorothea in große 
Aufregung. Sie beſchloß, ſich Klarheit über die Sache zu verſchaffen, und ſtellte 
ein ſofortiges Verhör an. 

Ohne Umſchweife ging fie auf den Gegenſtand los: „Ich batte ſtets geglaubt, 
dein Vater hätte aus Prinzip gehandelt, als er dich von der Schule wegnahm. 
Du haſt mir alſo nicht die Wahrheit geſagt!“ 

Der Knabe errötete langſam. Lady Dorothea ſah es mit Staunen und 
ſelbſt mit Genugtuung. Es war das erſtemal, daß er eine Spur von Erregung 
zeigte. „Das iſt eine Lüge,“ ſagte er mit ſeiner hellen Stimme, „du haſt mich 
nie darüber gefragt.“ 

„Dann hat man dich nicht weggeſchickt?“ 


Schultheis: Oer Pflegeſohn 209 


you irrſt, man hat mich weggeſchickt“, erwiderte er gleichmütig. 

„Aber, gütiger Himmel, was hatteſt du denn getan, daß man dem Sohn 
deines Vaters das zu bieten wagte?“ Lady Dorothea zitterte faſt vor Em- 
pörung. 

Aber mit dieſer Frage war ſie an der Grenze ihres Einfluſſes angekommen. 
Der Junge verweigerte jede Auskunft. Sie drang in ihn, ſie drohte, ſie befahl: 
es war alles vergebens, er antwortete, ſtörriſch wie ein Maultier: 

„J shan’t tell (ich fage es nicht)!“ 

Dabei blieb er. 

So hatte Lady Dorothea nochmals eine Niederlage erlitten. Sie war jedoch 
weit davon entfernt, ſich dies einzugeſtehen. Wenn der Knabe nicht nachgab, 
ſtand es ihr frei, fih an den Schulvorſteher zu wenden. Sie glaubte auch tat- 
ſächlich, daß ſie dieſe Abſicht habe. Aber ſie tat es dennoch nicht. Sie hatte eine 
Scheu davor, ſie wußte ſelbſt nicht, warum. Das Unausgeſprochene, Ungewiſſe 
hatte eine Art Schrecken für ſie. Sie fand den Mut nicht, es zu ergründen. 

Die unperſönliche Art des Knaben ließ nach dieſem Vorfall keine Ber- 
änderung in ſeinem Weſen erkennen. Er blieb in ſich ſelbſt konzentriert, wie früher. 
Manchmal hatte Lady Dorothea das Gefühl, daß es ihr lieber geweſen wäre, 
wenn er Unmut wegen der Rüge gezeigt hätte, die fie ihm gegeben; es wäre dann 
leichter geweſen, die Sache wieder aufzunehmen. Indem ſie ſie als nicht endgültig 
erledigt anſah, kam fie über die ihrem Stolze geſchlagene Wunde hinweg. Geor- 
giana erfuhr nichts von dieſer Angelegenheit. Dorothea ſagte ſich, daß es keinen 
Zweck habe, ſie damit zu beunruhigen; ſchließlich war es eine Sache, die ſie beide 
nicht berührte, ſie lag ſchon einige Zeit zurück. Indem ſie die Erziehung des 
Knaben und damit volle Verantwortung für ihn übernahm, hatte ſie einer Pflicht 
Genüge getan; fie war auch jetzt noch überzeugt, daß fie damit das Richtige erwählt 
habe. Sie galt für eine Frau von ſtarkem Willen — und hielt ſich ſelbſt dafür; 
deshalb traute ſie ſich zu, den Willen des Knaben zu beugen, wo er gebeugt werden 
mußte. Es kam ihr jetzt manchmal die Überzeugung, daß ein ſtarker Wille auch 
in ihm wohnte, ſie wußte nur nicht, wo ſie ihn packen ſollte. 

Ronald Moriſon führte unterdeſſen in dem alten, etwas blutleeren Hauſe 
in Portmanſquare das Daſein, das ihm von Stunde zu Stunde vorgezeichnet 
war. Er erhob ſich, badete, frühſtückte, lernte zwei Stunden, ritt in Rotten Row, 
begrüßte beim Mittageſſen feine Tanten, machte mit feinem Lehrer einen Spazier- 
gang, lernte wieder, aß zu Abend, erſchien auf einige Augenblicke beim Deſſert 
und ging zu Bett. Er dachte während dieſer Zeit wahrſcheinlich ſeine eigenen 
Gedanken, aber er teilte ſie niemand mit, und niemand wünſchte ſie kennen zu 
lernen. Eine Kette geregelter Tätigkeit umſchlang ſeine Bewegungen, und jeder 
Tag fügte automatiſch neue Glieder hinzu. Robinſon Cruſoe war einſam auf ſeiner 
öden Inſel, aber er fand eine Fülle ſpannender, lebenerhaltender Aufgaben vor 
fid, die, in Miltons Worten. „die dürren Jahre in einen entzückenden Traum 
wiegten“; Ronald Moriſon war einſamer in der Weltſtadt, als der Schiffbrüchige 
auf der Inſel, und feine unbeſchäftigte Seele wachte. 

Seit der Angelegenheit mit dem Reitknecht zog er es vor, bis zu den zu 

Der Türmer XV, 2 


210 Schultheis: Der Pflegeſohn 


zu gehen und dort auf- und abzuſitzen, fo daß Lady Dorothea den ihr mißliebigen 
Mann gar nicht mehr zu Geſicht bekam. 

Eines Tages meldete Webſter, daß das Lunch bereitſtehe, daß aber Lord 
Dunbar noch nicht von ſeinem Ritt zurückgekehrt ſei. Lady Dorothea befahl, mit 
dem Servieren zu warten. Nach einer Viertelſtunde fruchtloſen Wartens fing 
fie an, fid) zu ärgern. Es war die erſte Rückſichtsloſigkeit, die fih der Zunge zu- 
ſchulden kommen ließ. Sie empfand ſie nicht minder bitter, als ob er ſie alle Tage 
hätte warten laſſen. Als eine halbe Stunde verſtrichen war, ohne ihren Neffen 
zurückzubringen, befahl ſie, zu ſervieren. Der Graf ſollte auf ſeinem Zimmer 
nacheſſen. 

Es war eine ungemütliche Mahlzeit. Georgiana wagte nicht, etwas Begüti- 
gendes zu ſagen; Dorothea glühte vor Erregung, doch beherrſchte fie ſich ihrer 
Schweſter wegen. Als der Zunge um drei Uhr noch nicht zurückgekehrt war, fing 
Georgiana an, fid) ernſtlich Sorge um ihn zu machen. Sie ſchickte heimlich nach 
den Ställen hinüber und hörte dort, daß der Graf um die gewöhnliche Zeit zurück- 
gekommen und abgeſeſſen ſei. Die Pferde ſtanden ſchon längſt kühl und geſtriegelt 
vor ihren Krippen. Man hatte angenommen, daß der junge Herr geradeswegs 
nach dem Hauſe im Square gegangen wäre. 

Georgiana machte ſich ſeufzend bereit, ihre Schweſter auf der Ausfahrt 
nach dem Hyde Park zu begleiten. Die beiden alten Damen fuhren täglich von 
drei bis fünf Uhr ſpazieren. Nichts vermochte den Gang des täglichen Räder- 
werkes zu unterbrechen. 

Die großen kräftigen Londoner Gäule, die ſich wie Rieſentiere vor der zier- 
lichen offenen Viktoria ausnahmen, zogen ſpielend ihre leichte Laſt. 

Lady Dorothea ſprach von gleichgültigen Dingen, trotzdem war es nicht 
ſchwer, zu ſehen, daß fie ſich Zwang antat. Georgiana erwiderte einſilbig, bei ihr 
war es offenkundig, daß ihre Gedanken anderswo weilten. Als ſie in die Nähe 
des Muſiktempels kamen, ließen ſie den Wagen halten, um den luſtigen Weiſen 
zu lauſchen, die über den Rafen zu ihnen herüberklangen. Das taten fie jeden Tag. 
Die Sonne ſchien warm, die Blumen leuchteten grell in ihren Beeten, die Menſchen, 
die zu ihrer „Welt“ gehörten, fuhren langſam im Schritt vorüber, oder hielten 
gleich ihnen ein Weilchen an. 

So ſaßen ſie, bis Dorothea der Gedanke kam, daß einer ihrer Bekannten 
auf ſie zutreten, ſich über den Wagenſchlag beugen, wie das ſo Sitte war, und ſie 
mit kaltlächelnden Augen fragen könne, wie einſt jener zu bibliſchen Zeiten fragte: 

„Steht es wohl um das Kind?“ 

Da faßte ſie nervös den Strang, der ſie mit ihrem alten, ſchwerhörigen 
Kutſcher verband, zupfte ihn heftig und befahl dem Alten, nach Haus zu fahren. 

Webſter empfing ſie vor der Tür. Sein glattraſiertes Geſicht war unbeweglich 
wie immer, trotzdem wagte er ungefragt die Meldung: „Seine Lordſchaft iſt bis 
jetzt noch nicht zurückgekehrt.“ 

Lady Georgiana erblaßte. „Lieber Gott“, murmelte ſie. Lady Dorothea 
blieb ſtumm und ging hocherhobenen Hauptes die breiten Treppen hinauf in 
ihr Boudoir. Die Tür fiel ſchwer hinter ihr ins Schloß. 


Schultheis: Der Pflegefohn 211 


Unten ftand Georgiana und wagte nicht, ihr zu folgen. Die Zeit floß ihr 
ſchleichend und träge. Sie ſchlich auf ihr Zimmer und kramte in ihren Schubladen. 
Etwas mußte fie tun, aber in der Sache ſelbſt zu handeln, wagte fie nicht, Dorotheas 
wegen. Sie war glücklich, als ihre Jungfer kam, um fie zum Abendbrot umzukleiden. 

Bleich, zart und alt ſaßen ſich die Schweſtern gegenüber in ihren Spitzen 
und Steinen. Nagende Sorge ſaß mit zu Tiſch. Wenn nicht das gleichgültige, 
umſtändliche Zeremoniell geweſen wäre, hätten ſie die entſetzlichen, ſchweigenden 
Minuten nicht ertragen können. Aber ſie hatten Webſter, den ewig hin und her 
ſchreitenden wohlbeleibten Webſter, deſſen Sorge um ihr leibliches Wohl fie ab- 
lenkte von der Furcht, die ſie beſchleichen wollte. Er ging heute noch behutſamer, 
er febte die Schüffeln auf ein mit Sorgfalt gewähltes Zentrum, er puſtete gerdujd)- 
voll in den Pauſen, während er hinter Lady Dorotheas Stuhl ſtand. 

Im Salon nahmen fie mechaniſch ihre Bücher zur Hand. Keine vermochte 
zu leſen. Georgiana ſaß queckſilbrig und ruhelos auf ihrem Seſſel, bereit, auf 
jedes Geräuſch zu hören und es auf Ronalds Rückkunft zu deuten; Dorothea faf 
ſtill, die ſtarren alten Augen auf die Flammen des Kamins gerichtet; ihr Zorn 
war verraucht und hatte einer ungläubigen, flügellahmen Verwunderung Platz 
gemacht. In ihrem Leben löſte eine wichtige nutzloſe Beſchäftigung die andre 
ab, es ging alles nach der Schnur, es war gar kein Raum da für Unregelmäßig- 
keiten. Nun gingen plötzlich unerhörte Dinge vor. Es war nicht die geringſte 
ihrer Sorgen, daß ſie anfing, ſich dem Jungen gegenüber machtlos zu fühlen. 
Wenn es Leichtſinn war, wenn er beſtraft werden mußte — wie ſollte ſie das 
bewerkſtelligen? Georgiana hatte recht gehabt: die Aufgabe, die ſie ſich ſelbſt 
geſtellt batte, war zu ſchwer für ihre Schultern. 

Die Routine des Tages, die geräuſchlos wie auf wohlgeölten Rädern lief, 
wickelte fid) trotzdem langſam ab; es kam die Zeit ber Abendandacht, die Zeit 
zum Schlafengehen. 

Fröſtelnd ſagten fie fid) gute Nacht. gebe fürchtete (id) davor, allein zu 
ſein mit ihren Gedanken. In der Nacht verdichtete ſich die ungewiſſe Furcht zu 
ſchweren Geſichten. Dann ſahen fie den Gefuchten ſtarr, lang ausgeſtreckt, tot, 
von ſchweren Rädern zermalmt, auf irgend eine ſchreckliche Weiſe zu Tode ge- 
kommen, die friſchen Farben verblaßt. 

Wie zwei bange, greishaarige Kinder knieten ſie, jede für ſich, an ihren 
Betten nieder, flüſterten die Gebete, die ſie ihre Amme gelehrt hatte und die ſie 
nie zu flüſtern vergaßen. Zn jedes der einfachen Worte legten fie eine ſtammelnde 
Fürbitte. 

Als der Morgen kaum graute, ließ Lady Dorothea den Wagen beſtellen. 
Georgiana ahnte ihr Vorhaben und erbot ſich, ihr den Gang abzunehmen. Sie 
lehnte ab. Unter der Tür drehte ſie ſich noch einmal nach der Schweſter um: 
„George,“ ſagte fie bitter, „nun haben wir doch noch erlebt, daß ſich die Polizei 
in unſere Angelegenheiten miſchen muß; das iſt jetzt Mode geworden unter den 
alten Familien.“ | 

So fing die Suche an. Lady Dorothea hatte große Scheu davor, daß fid 
die Zeitungen der Sache bemächtigten, ſie hatte nur eine ſehr unvollkommene 


212 Schultheis: Ser Pflegeſohn 


Idee von der Nützlichkeit der Preſſe in einem ſolchen Fall und beſtand darauf, 
die Angelegenheit als ihre Privatſache zu behandeln; trotzdem erſchien bald eines 
der Abendblätter mit rieſiger Schrift: Verſchwinden eines engliſchen Pairs! Der 
Artikel wirbelte nur viel Staub auf, hatte aber eben ſo wenig Erfolg, wie die 
Nachforſchungen der Polizei. 

Ein Tag verging nach dem andern. Die beiden Alten begannen ganz lang- 
ſam, die Hoffnung aufzugeben. Sie waren alt geworden und unſicher in ihren 
Befehlen. Abend für Abend ſaßen fie am Kamin im Salon, ftumpffinnig, regungs- 
los. Die alte Bouleuhr tickte zwiſchen ihnen. Die Scheite flammten auf, glühten 
und ſanken mit einem trockenen, knitternden Geräuſch zuſammen. Zedesmal, 
wenn ein Scheit praſſelte, fuhren fie auf. Sie waren febr ſchreckhaft geworden. 

Am Abend des elften Tages erſchien Webſter ungerufen in der Tür. 

Lady Dorothea bemerkte ihn zuerſt nicht, er war ſo leiſe eingetreten. 

„Webſter —?“ fragte fie endlich, ahnungsvoll. 

„Seine Lordſchaft ijt ſoeben durch bie Hintertüre ins Haus getreten“, meldete 
er mit unbewegtem Geſicht. 


* 
¥ 


Sn der ſogenannten Servants’ hall des alten Hauſes in Portmanſquare 
ftand der Erbe der Dunbar, die furchtloſen grauen Augen auf die beiden Alten 
gerichtet. Dieſe Augen ſchauten ſie aus einem fremden Geſicht an, einem Geſicht, 
auf dem eine wilde, frohlockende Befriedigung lag. Während ſie noch befremdet 
ſchauten, verſchwand dieſer Zug und machte der alten, gleichgültigen Maske Platz. 
Sekt fanden fie ſich wieder zurecht, einen Augenblick hatten fie geglaubt, einen 
Fremden vor ſich zu ſehen. Es war auch weniges übrig, das an die Erſcheinung 
des jungen Ronald erinnerte. Seine Kleider, wenn es überhaupt ſeine Kleider 
waren, hingen verbraucht, zerfetzt, unſäglich ſchmutzig an ihm nieder. Ein Dunſt 
wie von üblen Höhlen der Slums hing um ihn. Er war, wie fid) fpdter beſtätigte. 
mit Ungeziefer aller Art buchſtäblich bedeckt. 

Auf alle Fragen, Bitten, Drohungen hatte er nur fein gleichmütiges: „I 
shan't tell“. 

Lady Dorothea, mürbe gemacht durch die Aufregungen und Sorgen der 
letzten Tage, verlor auf Augenblicke ihre Selbſtbeherrſchung; in einem Anfall hyfte- 
riſcher Wut dachte fie daran, den Knaben durch Webſter zühtigen zu laffen; die 
weichere Georgiana mußte ſie faſt mit Gewalt wegbringen, ehe ſie einen Plan 
ausführte, den fie fld) fpäter nie verziehen haben würde. 

Achzend wantten die beiden Alten in ihre Zimmer. Ihre körperlichen Kräfte 
waren erſchöpft. Zum erſtenmal ſeit vierzig Jahren vergaß Lady Dorothea, die 
Hausandacht abzuhalten — mehr nod, fie hatte keinen Gedanken für diefe un- 
erhörte Unterlaſſungsſünde. 

Gegen zwei Uhr nachts ſah Lady Georgiana bei dem ungewiſſen Licht einer 
brennenden Ampel ihre Schweſter in der Tür ſtehen, die beide Zimmer verband. 
Sie war in einem dünnen ſchleppenden Nachtkleid und hatte einen Schal über 
die Schultern geworfen. 


Schultheis: Her Pflegeſohn 213 


„George,“ flüſterte ſie, „ich halt's nicht aus, ich muß zu dir kommen.“ 

Zitternd ſetzte fie ſich auf den Bettrand und fab ihre Schweſter aus hilf- 
loſen Augen an. Georgiana hatte ſich erſchrocken aufgerichtet und betrachtete 
ſie mit bebender Unterlippe. 

In den langen Gewändern, die um die ſpärlichen Körper fielen, dem forg- 
jam gebürſteten Haar und den ſchmalen, knochigen Geſichtern mit den ariftotrati- 
ſchen Naſen glichen ſie zwei bleichen, reinlichen, alten Vögeln, die ein Schrecken 
aus dem Neſt aufjagt. Die Ampel ſchwang leiſe über ihren Häupten und warf 
ihre Schatten, ins Ungeheuerliche verzerrt, an die Wände. Die Ketten, in denen 
die Ampel hing, gaben bei jeder Bewegung einen leiſen, quietſchenden Ton. Von 
der Straße herauf kam der hallende Trab eines Nachtfiakers. 

„George, es läßt mich nicht ruhen“, flüſterte Dorothea wieder. „Wenn er 
uns doch ſagen wollte — und ſelbſt dann — ich hab' ja Angſt, Angſt vor dem, 
was er ſagen möchte!“ 

Es war plötzlich hereingebrochen in ihr untadeliges Altejungfernleben, das 
Anbegreifliche, Namenloſe, Dunkle, das fie mit ſcheuem Entſetzen erfüllte, das 
ſie nicht zu erfragen wagten, dem ſie keine Form zu geben wußten. Es verkroch 
ſich in den Niederungen des Lebens, und ſie rafften ihre reinlichen Kleiderſäume 
zuſammen, wenn ſie in Gedanken dort vorbeigingen. Die Nacht und ihre eigene 
Unerfahrenheit und Hilfloſigkeit ſteigerte ihr Bangen ins Grauſige, ſo wie die 
Ampel ihre Schatten ins Rieſenhafte ſteigerte. Eine die andere nahe wiſſend, 
ſchienen ſie ein Tröpfchen Troſt und Beruhigung zu finden. 

Von Zeit zu Zeit murmelte Dorothea einen ihrer qualvollen Gedanken: 

„George, mir graut — vor dem Zungen — er iſt ohne Scham, ohne Scham —“ 

Georgiana öffnete ihre Augen weit vor gläubigem Entſetzen. Das Fünkchen 
Hoffnung, daß im Tageslicht alles ein mildes Geſicht gewinnen würde, erloſch 
ihr wieder; aus ihrer beſchränkten Lebenserfahrung wagte ſie nicht, der Schweſter 
zu widerſprechen. Auch ihr graute — vor dem fremden, unbekannten Mannes- 
land, das ſie in dem Knaben ahnte, vor der furchtloſen Seele, die ſie nicht kannte 
in ihrem Lieben, noch in ihrem Haſſen, deren Gut und Böſe ein anderes war, 
als ihr Gut und Böſe, die ſich gebeugt hatte auf eine kurze Weile, um dann zurüd- 
zuſchnellen, hinauf oder vielleicht hinab, außer Sehweite, ins Unbeſtimmte eines 
andern, fremden Horizonts. 

So verbrachten die beiden die Nacht, und ahnten nicht, daß es ein unbe- 
wußtes Suchen war nach dem Punkte, auf dem ihre Seelen die fremde taſtend 
erkennen konnten. Wenn Georgiana ſie ſeufzend „exzentriſch“ nannte, ſo hoffte 
ſie leiſe, ſie damit zu erklären und zu entſühnen. Sie fühlte dumpf, daß irgendwo 
etwas unzulänglich geweſen, daß es an Mühe gefehlt hatte, das unbekannte Zentrum 
dieſer Seele zu ſuchen, das ſich vielleicht hätte finden laſſen mit großer Liebe. 

Als der Morgen graute, trennten fie jid, um dem Tag mit feinen Forde- 
rungen entgegenzuſehen. Lady Dorothea hatte ſich durchgerungen zu der Einſicht, 
daß ſie das begonnene Erziehungswerk in andere, ſtärkere Hände legen müſſe. 
Sie ſuchte und fand einen Mann, dem ſie Vertrauen ſchenken zu können glaubte 
— einen Hochlandſchotten, den Reverend Fraſer, einen Mann weniger Worte. 


214 Schultheis: Oer Pflegeſohn 


Er hörte ſie ſchweigend an, ſtellte einige Fragen, ſah ſich den Knaben an 
und erklärte mit einiger Zurückhaltung, daß er ihn bei ſich aufnehmen und ſein 
Möglichſtes für ihn tun wolle. 

Die beiden Alten blickten etwas hoffnungsfroher in die Zukunft. 

Nach drei Wochen wiederholte fid) die ganze Geſchichte. Bon dem Augen- 
blick an ſchien es, als ob nichts den Knaben zu halten vermöchte, weder Schloß, 
Riegel noch Ketten. 

Trotzdem hatte Mr. Fraſer noch eine Hoffnung. Er war überzeugt, ohne 
ſich Gründe dafür angeben zu können, daß Ronald ſein Wort halten würde, wenn 
man ihn bewegen könnte, es für ſein ferneres Verhalten zu verbürgen. Er ging 
von der Annahme aus, daß es dem Knaben peinlich ſein müſſe, als Ausnahme 
behandelt, bewacht und eingeſchränkt zu werden. Er hatte den Menſchen ſtets 
als Herdentier gekannt. Als Entgelt für ſein Wort bot er ihm die Freiheit der 
übrigen Schüler. Es gelang ihm nicht, Ronald dazu zu bewegen, ein Zugeſtändnis 
zu machen. Nie trug ein Menſch es leichter, von allen anderen abzuweichen; ohne 
menſchliches Band unter ſeinen Mitmenſchen zu leben. 

Mr. Fraſer ſetzte Lady Dorothea in Kenntnis, daß er ohne jeden Einfluß auf 
den Knaben blieb, und legte ihr nahe, ihn aus ſeinem Hauſe wegzunehmen. Auf ihre 
dringende Bitte erklärte er ſich bereit, ein anderes Heim für ihn zu finden. Auf Jahre 
hinaus bewahrte er den beiden alten Damen und ihrem Pflegeſohn ein lebhaftes 
Intereſſe, bis Ronald Guy Moriſon eines Tages endgültig aus England verſchwand. 

* * 


" | 

Im dunklen Afrika bat bie Miſſion manchen Erfolg zu verzeichnen. Der 
Sauerteig einer neuen Moral und einer hochentwickelten Theologie durchſäuert 
langſam breite Maſſen eines urſprünglichen Volkes. Bis zu welchem Grade und 
wie intenfiv eine ſolche Durchſäuerung gedeiht, wäre ſchwer zu entſcheiden. Die 
befte Hoffnung liegt für die Arbeitenden in der langſam fortſchreitenden Gewöh⸗ 
nung, die auch den Urmenſchen zähmt. Wie aber die Evolutionstheorie auf mert- 
würdige Rückſprünge im gleichmäßigen Entwicklungsgang hinweiſt, fo finden fid) 
unter den Konvertiten zuweilen ganz unmotivierte Rückfälle in die Barbarei. 
Man ſchickt einige der begabteren Zöglinge auf die europäiſchen Schulen, wo 
ſie ihre Ausbildung erhalten; ſie hängen der neuen Lehre mit Begeiſterung an, 
bringen ſie als Lehrer und Miſſionare wieder zurück in ihre Wildnis, ſie ſtellen 
fih jahrelang in den Dienſt des Chriſtentums und unterſcheiden fid) nur in der 
Hautfarbe, nicht in Geſittung und Geſinnung von ihren weißen Lehrern. Eines 
Tages — eines Nachts — ein ferner Laut — ein Aufflackern im Dunkel — der 
Klang der einheimiſchen Trommel, das Leuchten nächtlicher Feuer — eine Unraſt 
ergreift ihn, ein blinder Wille treibt ihn vorwärts, ſcheu erſt, dann freier atmend 
ſchlüpfen fie durch das Unterholz, die Fetzen der Ziviliſation fallen von ihnen 
ab, nackt ſchleichen ſie in die Reihen ihrer Brüder und feiern Kannibalenorgien 
in wilder Verzückung. 

„To go Fantee“ nennt man an der Weſtkuͤſte dieſen Rückfall ins Urfpriing- 
liche. Er wirkt erſchütternd auf alle, die dem Glauben leben, daß der Menſch durch 
äußere Einwirkung von heute auf morgen zu einem neuen Menſchen wird. 


Müller: Der Grieg 215 


Es wäre denkbar, daß ein hochkultivierter Stamm, vom Arſprünglichen 
weit abgekommen, von Traditionen geſtützt, von Standesrückſichten eingeengt, 
von Vorurteilen gepanzert, noch einmal ein Reis triebe, das, in einem merkwür⸗ 
digen Sprung rückwärts, die ſtarken Inſtinkte der Selbſtbehauptung, die ſeine 
Raſſe auf das Schild hoben, erbte ohne das perſönliche und ſoziale Gewiſſen, 
in das diefe Raſſe ihre ſtarken Inſtinkte zum großen Teil umgeſetzt hat. Ronald 
Morifons Fall ijt — Fantee; ein Zurückſchnellen der übermäßig angeſpannten 
Feder, ein Zurückgreifen auf das Arſprüngliche. 

Seit Jahren ijt er verſchollen, doch nicht fo, daß das Geſetz ihn für tot erklären 
und ſein Erbe an die Seitenlinie fallen könnte, die darauf wartet. Einige ſeiner 
weitgereiſten Landsleute brachten von Zeit zu Zeit Runde von ihm —: als Robben- 
fänger unter den Eskimos, als Trapper im wilden Weiten, als Guru unter den 
Bergvölkern des Himalaya, als Medizinmann am Ogowefluß. Es iſt jetzt fünf 
Jahre her, daß einer von ihm berichtete. Noch zwei Jahre, und das Geſetz wird 
ſeinen Namen aus der Liſte der Lebenden löſchen — die kleinen Kreiſe, die der 
Stein feines Dafeins zog, werden verflachen und endlich ganz verſchwinden. 


Der Krieg Von Ernſt Theodor Müller 


Die Geigen lachten bis ins Morgenrot, 

Das Leben tanzte — tanzte wund die Füße. 
Und ſprang einmal im Reigen mit der Tod, 
Ein Tröpflein war's in einem Meer von Süße. 


Da ſtieß der Krieg die Türen in den Saal. 
Aufſchrein die Geigen, daß die Saiten ſpringen, 
Und, dröhnend präludiert, ein Schlachtchoral 
Hebt feine leuchtend weißen Rieſenſchwingen. 


Em wilder Sang, danach im Takt der Tod, 
Umſturzt von Blitz und ſchweren WVetterſtürmen, 
In breiten Schwaden ſchlägt die Sichel rot, 
Dak fid die Garben hoch zum Himmel türmen. 


Ihm nach bricht eine Pflugſchar knirſchend hart 
Die Erde um in weiches Saatgelände — 

Und über Fingern, die im Tod erſtarrt, 

Da falten wieder ſich der Menſchheit Hände. 


Slawien in Europa 
Von Paul Dehn 


Zuf dem unlängſt abgehaltenen Sokolverbandstage in Prag zog einer 
der Obmänner tſchechiſcher Nationalität mit dem urſlawiſchen Namen 
ex Scheiner die Grenzen des künftigen Slawiens in Europa. „Zwiſchen 

N Ural und Böhmerwald, zwiſchen Belt und Balkan“ foll bas Bewußt- 
fein ber ſlawiſchen Solidarität feſte Wurzeln ſchlagen. Vom weſtſlawiſchen Stand- 
punkt aus wären diefe Grenzen äußerſt beſcheiden zu nennen, nachdem der dfter- 
reichiſche Major Zunkowitſch in verſchiedenen dicken Büchern nachgewieſen hat, 
daß faſt alle deutſchen Städtenamen, auch Frankfurt, Straßburg, Hannover u. a., 
aus dem Slawiſchen ſtammen, daß die Slawen das Urvolk Europas geweſen ſind. 

Mit Begeiſterung vernahmen die anweſenden Pariſer Gemeinderäte als 
franzöſiſche Abordnung bei dem Feſt der befreundeten Tſchechen die Kunde von 
der neuen Karte Europas. Welche Wandlung zum Guten, wenn an Stelle der 
verhaßten Deutſchen die flawifche Urbevölkerung Europas wieder zu ihrem Rechte 
kommt! Die Deutſchen beſeitigt, Slawen und Franzoſen Nachbarn! Über Elſaß⸗ 
Lothringen wird man ſich einigen. Das eigentlich ſlawiſche Straßburg (von dem 
ſlawiſchen straza = Wachtpoſten) werden die Tſchechen großmütig ben Franzoſen 
überlaffen. Europa wird friedlich und glücklich fein! 

Zu ſolchen Träumen verſteigt ſich der tſchechiſche Größenwahn mit ſeiner 
erſtaunlichen Einbildungskraft. Die Tſchechen ſind der am weiteſten nach Weſten 
vorgeſchobene ſlawiſche Volksſtamm. Daraufhin glauben fie kulturvorgeſchrittener 
als die übrigen Slawen zu ſein und halten ſich für die Vorkämpfer, ja für die 
Führer des ganzen Slawentums. Vorläufig ſind ſie noch wenig zahlreich, nur 
6 Millionen gegen 16 Millionen Polen und 88 Millionen Ruſſen. Aber in Zukunft 
werden fie groß und größer werden, fid) die Slowaken in Oberungarn mit 2 Millio- 
nen angliedern, in Weſtgalizien vordringen, Schleſien, Sachſen, die Lauſitz und 
den Spreewald tſchechiſieren und allmählich den Norden bis zum Meer erobern. 
Schon haben ſie ihre Siedelungen und Vereine bis Neukölln und Friedrichshagen 
bei Berlin vorgeſchoben. Am Ziele ihrer Wünſche werden die Tſchechen erſt ſein, 
wenn fie, wie vor fünfundzwanzig Fahren der tſchechiſche Abgeordnete Tonner 
ſagte, als das mächtigſte Volk von Meer zu Meer herrſchen. 


Schmidt: Altes Bild 217 


Sind fie fo weit gekommen, dann werden fie von dem allſlawiſtiſchen Ge- 
danken, von der allſlawiſchen Solidarität nichts mehr wiſſen wollen, dann weg 
mit dieſen Krücken, die ſie vorläufig noch nicht entbehren können. Dann Kampf 
zunächſt mit den konkurrierenden Polen, denen fie ſchon jetzt in Sſterreichiſch⸗ 
Schleſien feindlich gegenüberſtehen. Für die katholiſchen Polen hegt der huſſitiſche 
Tſcheche keine Sympathie, ebenſowenig für die rechtgläubigen Ruthenen und Ruf- 
ſen. Huſſiten im Innern, wenn auch äußerlich noch Katholiken, ſind die Träger 
des tſchechiſchen Größenwahns. Waren es nicht Hujliten, die Iden einmal das 
Deutſche Reich erſchütterten? 

In Rußland hat man auch unter den Panflawiften die Eigenart der Tſchechen 
längſt erkannt und ihren Stammesindividualismus für unvereinbar mit dem all- 
ſlawiſchen Gedanken erklärt. Man verlangte den Anſchluß der Tſchechen an die 
ruſſiſche Kirche und Sprache. Davon wollten die Tſchechen nichts wiſſen. Ge- 
rade auf ihren Stammesindividualismus legten fie größten Wert und rühmten 
ihn als die treibende Kraft im Kampfe gegen die Oeutſchen. Das ijt allerdings 
der Stammesindividualismus. Aber er kämpft nicht für das Slawentum, er ſieht 
auf Polen und Ruſſen herab und anerkennt eine gewiſſe ſlawiſche Solidarität 
nur fo lange, als er daraus Nutzen ziehen zu können glaubt. 

Die Slawenvölker find nicht nur ſprachlich, kirchlich und politiſch zerſplittert, 
ſondern ſtehen fid) auch feindlich gegenüber zunächſt da, wo ihre Intereſſen auf- 
einanderſtoßen, wie in Oſterreichiſch-Schleſien, wo fid) Polen und Tſchechen be- 
kämpfen, wie in Galizien, wo Polen und Ruthenen fid) haſſen, wie auf dem Bal- 
kan, wo Bulgaren und Serben um die Oberhand ringen. An eine Einigung dieſer 
Völkerſchaften iſt nicht zu denken. 

Der tſchechiſche Größenwahn ift vorläufig eine innere Angelegenheit Ofter- 
reichs. Soll die habsburgiſche Monarchie feſter zuſammengefaßt werden, ſo wird 
man ihn anders als bisher behandeln müſſen. Gegenüber ſchwachen Regierungen 
find die Tſchechen in ihren Anforderungen unerſättlich. Das hat man in Hfter- 
reich zur Genüge erfahren. Aber fie zeigen fih, wie die Geſchichte lehrt, unter- 
würfig, wenn ſie es mit einer ſtarken Regierung zu tun haben. Daran wird man 
fi) in Wien über kurz oder lang erinnern müſſen. 


ZER 
Altes Bild - Bon Karl Schmidt 


Aus goldnem Rahmen ſchaut heraus 

Ein jugendholdes Angeſicht; 

Das reiche Haar iſt blond und kraus, 

Das ſchöne Auge blau und licht. 

Und um das rote Lippenpaar Se 
Ein Lächeln fpielt, fo unverſehrt, „ 
Wie's einmal nur — mit achtzehn Jahr — 

Die Hoffnung und die Liebe lehrt. 


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Wien 


Abſeits bom Wege 
Friedhofserlebniſſe von Johannes Fried 


1. So eine. 


J ort hinten liegt die große Stadt. Weit draußen liegt ibe Friedhof 
zwiſchen träumenden Riefernwaldern und goldenen und grünen 
) Feldern. 

DIL, Friede ringsum. Über ben Gräbern verglüht ber Abendfonnen- 
ve unb vom weißen Turme der nahen Dorfkirche klingt die Abendglocke. Die 
Lerchen ſingen den Abendſegen. — 

Vier Trauerfeiern ſind vorüber. Die Leidtragenden haben den Friedhof 
verlaſſen. Der Paſtor geht mit einem Friedhofsarbeiter zurück zur Kapelle. 

Da ſitzt noch jemand im Vorraum, allein, mutterſeelenallein. 

„Wir haben noch ein Kinderbegräbnis, — ohne Geiſtlichen. Es ſind keine 
Angehörigen weiter dabei, — nur die Mutter“, ſagt der Arbeiter. 

„Sie wollen Ihr Kind begraben?“ fragt der Paſtor. „Arme Frau, — und 
kommen ganz allein hierher? Sch werde mit Ihnen gehen. Wir wollen am Grabe 
zuſammen beten.“ 

„Mein Kind war nicht getauft!“ erwidert ſie wie ablehnend, und es zuckt 
über ihr Geſicht, finſter, trotzig. 
| „Rommen Sie nur, id gebe mit Ihnen“, ſagt der Geiſtliche und reicht ibt 
den Arm. So ſchreiten ſie beide durch den Abend dahin, und vor ihnen her geht 
der Arbeiter und trägt den kleinen weißen Sarg unter dem Arm. 

„Sit ihr Kind fo bald geſtorben, daß Sie es nicht mehr taufen laffen konnten?“ 
fragt der Geiſtliche. 

„Ich hatte es in Pflege gegeben,“ erwidert fie, „und die Pflegefrau hat 
mir nichts davon geſagt, daß es krank war.“ 

„Konnte denn der Vater des Kindes nicht mit zum Friedhof kommen?“ 
fragte der Paſtor weiter. 

„Wir ſind nicht verheiratet“, lautet die Antwort. „Als wir uns verheiraten 
wollten, fiel er vom Bau und kam ins Krankenhaus. Da war er ſechs Wochen 
drin, und dann mußte er noch mal rein, weil das Bein falſch geheilt war, und da 
war er noch mal zwei Monate drin, und derweile kam das Kind, und jetzt hat er 
ſeit acht Tagen wieder Arbeit, und nun iſt das Kind tot, und weil er eben erſt an- 
gefangen hat, kann er nicht gleich wieder einen halben Tag ausſetzen.“ 


Fried: Abſelts vom Wege 219 


„Armes Kind,“ ſagt der Geiſtliche, „haben Sie denn ſonſt keinen Menſchen? 
Haben Sie noch eine Mutter?“ 

„Ja, — meine Mutter —“, kommt es ſchluchzend heraus, „die will nichts 
mehr von mir wiſſen, — weil id) fo eine bin, — die ein Kind hat, — und wir woll- 
ten uns doch verheiraten, — es iſt ein ſo ordentlicher Menſch, — und ich hatte doch 
mein Kind ſo lieb!“ Sie wollte noch etwas ſagen, aber es ging im Schluchzen unter. 

Sie waren am Grabe angelangt. Der Sarg wurde in die Gruft geſtellt, 
und der Geiſtliche fing leiſe an zu reden. Es war keine von den Muſterpredigten, 
wie man ſie ſo ſchön in den Predigtbüchern findet, — er redete von dem großen 
Kinderheilande, und das Kind war doch nicht getauft, und von der großen, großen 
Liebe des Erlöſers, und da ſtand doch eine große Sünderin, — eine, an der eigent- 
lich hätte Kirchenzucht geübt werden müſſen, — ſo eine! 


2. Ein polniſcher Schuſter 


Er war ein Pole, von Beruf Schuſter; im Nebenberufe betrieb er eine Feld- 
wirtſchaft in doppeltem Sinne: er baute Kartoffeln, Kohl und Gemüfe und braute 
Schnäpſe für die übrigen polniſchen Laubenkoloniſten, denen er gutes Bier und 
ſchlechten Schnaps verkaufte. Er war ihnen aber mehr: Freund, Berater und 
Helfer, ein prächtiger Menſch, durch und durch echt wie Gold. In feiner Feld- 
kantine hatte er ſeinen kleinen Nebenraum mit Hausaltar und Kruzifix. Das war 
das einzige Gtb[tüd feiner Mutter. Er hielt es heilig. 

Seine Religion war mehr Religionsphiloſophie, ein Gemiſch von tatholi- 
ſchen, evangeliſchen, deutſchen, polniſchen und originalen Elementen. 

Wenn der evangeliſche Pfarrer Sonntags abends nach getaner Arbeit bei 
ihm vorſprach und die polniſchen Burſchen und Mägde bei ihm vorüberkamen, 
dann fagte er: „Das ift euet evangeliſcher Pfarrer, küßt ihm die Hand!“ 

Wenn ein Feſttag kam — und er feierte die Feſte, wie ſie fielen, und vor 
allem recht zahlreich —, dann ſtieg er auf eine Tonne und hielt eine Feſtrede, erſt 
polniſch, dann dieſelbe Rede noch einmal deutſch. Denn ſo ſagte er: „Herr Pfarrer, 
ich habe zwei Seelen, eine rechte und eine linke, — die rechte iſt preußiſch, die linke 
iſt polniſch.“ 

Als er feinen neuen Feſtſaal einweihte — das war damals, als er Iden er- 
kommuniziert war —, lud er den evangeliſchen Pfarrer zur Vorbeſichtigung ein. 
„Sehen Sie, Herr Pfarrer,“ ſagte er, „hier auf der rechten Seite hängen die Bilder 
der preußiſchen Könige und Bismarck und Moltke, — und hier auf der linken Seite 
hängen die polniſchen Könige und die polniſchen Helden.“ 

Ganz arm war er nach der großen Stadt gekommen, der deutſchen Sprache 
nur wenig mächtig. Er hatte Hunger und Obdachloſigkeit kennen gelernt. Als es 
ihm ſpäter beſſer ging, hatte er noch immer die Erinnerung an die ſchwere Zeit. 
Da mietete er einen kleinen Raum, den er alsbald vergrößern mußte, und richtete 
ihn zu einer Herberge für obdachloſe und durchreiſende polniſche Arbeiter ein. 

Dann pachtete er ein Stück Land vor den Toren und richtete ſeine erſte 
Gaſtwirtſchaft ein, eine polniſche Wirtſchaft im wahrſten Sinne des Wortes, er- 
baut aus alten Dachlatten, Kiſtenbrettern, Blech- und Teerpappereſten. In feinem 


220 Fried: Abſeits vom Wege 


Eifer für ſeine polniſchen Koloniſten ging er ſo weit, daß er mit deren Kindern 
eine Zeitlang polniſche „Schule“ hielt. Das verbot ihm die Polizei zu ſeinem 
großen Schmerze nach kurzer Zeit. 

Als ein neuer Stadtteil die Budenſtadt verſchlang, zog er mit der ganzen 
polniſchen Kolonie eine halbe Stunde weiter hinaus. Da konnte er ſich ſchon ein 
Stück Land käuflich erwerben, und nun baute er (id) verhältnismäßig maſſiv auf. 
Ein hübſcher kleiner Vorgarten war für die „beſſeren“ Gäſte beſtimmt, und fie be- 
ſuchten ihn zahlreich. Denn jeder nahm ein Stück Lebenserfahrung und Lebens- 
philoſophie von ihm mit. 

Nun iſt auch dieſes von ihm gegründete Polenreich verfallen. Mietskaſernen 
haben es verdrängt. 

Daß er exkommuniziert wurde, kam ſo: Er verheiratete ſeine Tochter an 
einen Evangeliſchen. Das Brautpaar ging zum katholiſchen Pfarrer. Der hatte 
viel zu. fragen, mehr, als dem Brautpaare lieb war. Als dann der Bräutigam auch 
noch den Revers über die katholiſche Kindererziehung unterſchreiben ſollte, ſagten 
ſie, ſie würden ſich das erſt noch überlegen. Als ſie es dem Vater erzählten, ſagte 
er: „Nun geht zu unſerem evangeliſchen Pfarrer, und wenn der auch fo viel fragt, 
dann laßt ihr euch gar nicht trauen.“ Der fragte aber nicht fo viel wie fein tatholi- 
ſcher Kollege, obgleich er nichts von der Gefahr ahnte, und ſo fand die Trauung in 
der evangeliſchen Kirche ſtatt. Da wurde der Vater exkommuniziert. Er hat aber 
treulich ſeine Andachten jeden Abend in alter Weiſe weiter gehalten. 
| Bei der Hochzeit ging es bod) ber. Die ganze Saubentolonie feierte mit. Ge 
war eine einzige große Familie. 

Das größte Feſt war der Erinnerungstag an bie Erplofion bes Pulverturms 
in Jauer. Da war er nämlich als junger Soldat beinahe ums Leben gekommen. 
Er hatte viele Wochen im Lazarett liegen müſſen. Jedes Jahr erzählte er in ſeinen 
beiden Feſtreden, wie die Königin ihn da beſucht hätte und wie ſie ihn ſo freundlich 
angeſehen hätte und wie ſie ihn getröſtet hätte, — „und ich war doch nur ein armer 
polniſcher Schuſter“. Dabei hatte er ſeine preußiſche Seele entdeckt. 

Nun iſt er lange tot. Als er ſtarb, bahrte man ihn in der polniſchen Litewka 
in ſeinem Feſtſaale auf, und ſeine Laubenkoloniſten ſchmückten den Saal mit 
Blumen und Fahnen. „Sein“ evangeliſcher Pfarrer hielt ihm die Leichenrede 
und ſprach von den zwei Seelen, die er in der Bruſt gehabt hätte, und daß die 
beiden Seelen nun eine wären. Denn da oben gäbe es nicht mehr deutſch oder 
polniſch oder katholiſch oder evangeliſch, — da wären wir allzumal einer in dem, 
vor beffen Kruzifix er jeden Abend gebetet hätte, — und nachher kam der Bor- 
ſitzende des Verbandes der Polenvereine zu dem evangeliſchen Pfarrer und dankte 
ihm. Hunderte von Menſchen folgten dem Sarge, — und es war doch nur ein 
armer, exkommunizierter polniſcher Schuſter. 


3. Ein rotes Begräbnis 


Wieder iſt der Dienſt zu Ende. Der Geiſtliche geht zum Bahnhof zurüd. 
Da kommt ein Arbeiter hinterhergelaufen: „Herr Prediger! Herr Prediger!“ 
„Ja, — was ift denn?“ fragt er. 


Fried: Abfeits vom Wege 221 


„Wir wollten hier jetzt unſern Kollegen begraben, und da ift die Mutter 
von außerhalb gekommen und jammert Stein und Bein, daß wir keinen Prediger 
beſtellt haben“, antwortet der Abgeſandte. 

„So, und nun foll ich im letzten Augenblick noch nachträglich, beſtellt' werden gu 

„Ja, wenn Sie fo gut fein wollten, — was es koſtet, wird bezahlt!“ 

„Na, darüber wollen wir nachher reden“, meint der Geiſtliche. „Erzählen 
Sie mir mal zunächſt etwas von Fhrem verſtorbenen Freunde. Gd) werde mit- 
kommen.“ 

Es war keiner von den beſonderen Fällen, — eins von den ganz gewöhnlichen 
Großſtadtbildern, die traurige Geſchichte von einem jungen Arbeiter vom Lande, 
der als Soldat in der Stadt gedient hatte, dann als Hausdiener und Fabrikarbeiter 
in der Stadt geblieben war. Nun war er im Krankenhauſe an der Schwindſucht 
geſtorben. Außer ſeiner Mutter nahmen nur der Gaſtwirt, bei dem er Mittag- 
brot zu eſſen pflegte, und ein Dutzend Freunde und Arbeitskollegen teil. 

„Sie haben Ihrem Freunde ja einen ſchönen Kranz geſtiftet. Sch habe ihn 
vorhin geſehen“, ſagte der Paſtor. „Was machen wir denn mit der roten 
Schleife?“ 

„Kann die nicht dranbleiben?“ fragte der Kollege. 

„3 gewiß kann die dranbleiben!“ entgegnete der Paftor. „Warum follen 
Sie denn hier auf dem Kirchhofe nicht eine ſozialdemokratiſche Demonſtration 
machen? Das Unangenehme ijt bloß, — die kann i d) nicht mitmachen. Ich kann 
Ihnen nur eine Trauerfeier halten.“ 

„Na, dann können wir ja die Schleife abmachen und ſo lange in die Taſche 
ſtecken! Wir wollen Ihnen keine Unannehmlichkeiten machen“, ſagte pu) Be- 
auftragte. E 

„Aber, lieber Freund, Sie werden doch Ihre Geſinnung nicht in die Taſche 
ſtecken!“ meint der Paſtor. „Oer eine iſt rot, der andere ſchwarz, — aber beides 
zuſammen paßt nicht!“ 

„Sie haben ja von Ihrem Standpunkt aus ganz recht!“ ſagt der Arbeiter. 
„Vielleicht.“ 

„Wiſſen Sie,“ unterbricht ihn der Paſtor, „das iſt ſo eine Redensart, die 
Sie ſich abgewöhnen müſſen: von ſeinem Standpunkt aus hat jeder recht! 
Und von [ein e m Standpunkt aus hat aud) der Fuchs recht, wenn er die Hühner 
abwürgt. Der Bauer hat da einen andern Standpunkt.“ 

„Ja, Herr Prediger! Von dem Standpunkt aus haben Sie auch wieder 
recht. Na, wenn Sie mal ein paar Minuten warten wollen, — ich komme gleich 
wieder, — ich werde mal mit meinen Kollegen ſprechen.“ Damit ging er zurück. 

Er war kaum zwanzig Schritte gegangen, da kehrte er um. 

„Herr Prediger, ſie haben die Schleife ſchon abgemacht. Sie können ruhig 
mitkommen!“ 

„Na, dann gehen Sie nur hin“, erwidert der Geiſtliche, „und jagen Sie Ihren 
Kollegen, ſie ſollen die Schleife wieder anmachen. Sie iſt nun einmal hier, und 
Sie wollten doch Ihren toten Kollegen damit ehren. Inzwiſchen mache ich mich 
fertig.“ 


222 Fried: Abſeits vom Wege 


„Beſten Dank, id) werde es beſtellen“, ſagt er und geht zur Trauerverſamm- 
lung. Als der Geiſtliche hinkommt, prangt die Schleife richtig wieder an dem 
Kranze. Die einfache, ſchlichte Trauerfeier findet ſtatt. Beim Vaterunſer und 
Segen entblößen alle das Haupt, und nach Schluß der Feier tritt der Kranzträger 
an das Grab und ſagt: „Im Auftrage deiner Freunde lege ich dieſen Kranz hier 
nieder. Sanft ruhe deine Aſche!“ 

„Sie dürfen hier keine Rede halten!“ ſagt der Friedhofsverwalter. Aber 
er war auch ſchon fertig. 

Auf dem Riidwege zum Bahnhofe treffen die Arbeiter mit dem Geiſtlichen 
wieder zuſammen. 

„Wir wollten Ihnen noch unſeren Dank ausſprechen für die troſtreichen 
Worte“, ſagt der Führer. „Sie ſind unſerm Freund ſo richtig gerecht geworden. 
Aber nun haben Sie Ihren Zug verpaßt. Ich wollte fragen, was wir Ihnen für 
Ihre Zeitverſäumnis und für Ihre Rede ſchuldig ſind.“ 

„Sie find mir nichts ſchuldig“, entgegnet der Geiſtliche. „Dafür zahlen Sie 
ja Ihre Kirchenſteuer, und davon bekomme ich mein Gehalt!“ 

„Das können wir aber gar nicht verlangen, — Sie werden doch wenigſtens 
eine Kleinigkeit annehmen!“ 

„Auch keine Kleinigkeit! Laſſen Sie nur! Wenn Sie wollen, kommen Sie 
nächſten Sonntag zu mir in die Kirche und ſtecken das Geld für die Armen in den 
Klingelbeutel!“ 

„Na, dann erlauben Sie wenigſtens, daß wir Sie zu einer Taſſe Kaffee 
einladen!“ ſagt der Wortführer. 

„Das will ich gerne annehmen!“ 

Inzwiſchen waren fie im Garten der Bahnhofswirtſchaft angelangt. Ein 
paar Tiſche wurden zuſammengerückt. Der Paſtor erhielt ſeinen Platz neben der 
Mutter. Auf ſeiner andern Seite ſaß der Führer. Die Mutter erzählte von ihrem 
Sohne, wie er ihr jeden Monat ihr beſtimmtes Geld geſchickt hätte, — ſeine Freunde 
erzählten, was für ein ordentlicher, fleißiger Menſch er geweſen wäre, und dann 
erzählten ſie aus der Fabrik und ihrem Verbande und vom letzten Streik und dem 
neuen Lohntarif, und der Paſtor erzählte aus ſeinen Erfahrungen und ſagte ihnen, 
ſie ſollten nur gar nicht denken, er redete nur ſo, weil er Paſtor wäre, ſondern das 
wäre nun einmal fo feine Überzeugung, und darum wäre er Paftor, — und nie- 
mand ſteckte feine Überzeugung in die Taſche. Als die Zeit zur Abfahrt kam, fhüt- 
telte man ſich die Hand. 

Da draußen auf dem Friedhöfe liegen die Toten dicht nebeneinander und 
find nicht nach Rang und Stand ſortiert. Da rücken fid) auch die Lebenden näher. 


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Wie ich einmal geſtorben bin 
Von W. Matthes 


ippenfellentzündung, hatte der Arzt geſagt. 

Die Winternacht war lang und bang; tolle Fieberträume um- 

CS gaukelten mich in grotesken Sprüngen. Eine rieſenhafte Geſtalt 

E griff mit dürren knochigen Fingern nach mir. Der Schreck weckte 
mich. Ich ſtöhnte. Die Geſtalt war noch da, nur unſichtbar; ſie kniete auf mir. 
Luft! Luft! Aber mein Gedanke war, ich laſſe mich nicht unterkriegen. Auf meine 
Hilferufe kam meine Frau. 

Der Unhold ließ nicht ab von mir, immer ſchwerer drückt er auf meine ftöh- 
nende Bruſt! In die Höhe! Qd ſaß keuchend auf dem Schoß meiner zitternden 
Frau. Totenſtille im Stübchen, Totenſtille draußen; aber ich wachte und kämpfte 
mit einem Ungeheuer. Alle Kraft ſpannte ich an, damit ſich die Bruſt heben und 
ſenken konnte. Was das nur war? Immer kürzer wurden die Atemzüge. Kalter 
Schweiß quoll von der Stirne und rann über mein Geſicht. Das entſetzliche Un- 
geheuer preßte fidh fo feft auf mich, daß ich nur noch ganz geringe Atemzüge hatte. 
Herr Gott! Oer Tod hatte mich umklammert, ich war in ſeiner Gewalt. 

Ein Blitz zuckte durch meine Gedanken: Zegt mußt du Verben, Sd ſtieß 
die Vorte kurz hervor. Dann raſten Gedankenbilder vorüber: Was? Dieſe Welt 
verlaſſen? Dieſes Leben zu Ende? Schon jetzt? Da draußen die ſchöne Natur: 
Das Tal! Der Wald! Fc foll fie nicht wieder ſehen? — Der Atem ſtand gang ftill. — 

Ich konnte nicht mehr; ein Stärkerer hatte mich in ſeiner Gewalt. Dunkler 
wurde das Licht der Lampe, noch dunkler, es erloſch. Aber noch hörte ich das leiſe 
Weinen meiner Frau. Da kam das Licht wieder, nur kurz, rot und trüb, um zu 
verlöſchen. Todesahnen durchbebte mich: 3d) wußte, daß ich ſtarb. 

Schwarze Schatten umſchaukelten mich in ungewiſſen Formen. Es wurde 
vollkommen nacht, auch das Wimmern meiner Frau hörte ich nicht mehr. Der 
Unhold, der mich gewürgt und meine Bruſt zuſammengeklemmt hatte, ſchien mich 
verlaſſen zu haben. Aller Schmerz hörte auf. Hehre, lichte Geſtalten nahmen mich 
auf ihre Arme und hoben mich in die Luft. Wie ſchön! Hoch, weit, unendlich, 
lichtdurchfloſſen tat ſich eine andere Welt über mir auf. Ich ſchwebte dahin in 
ſeligem Frieden. Es war ſo ſchön! So unbeſchreiblich! Tief da unten ſchien die 
Erde zu fein, meine Reife ging weiter zur Höhe. — Sch war geſtorben. — — 


224 Bertram: Ser Prophet 


Aber die Tränen einer zitternden Frau drangen zur Höhe der Allmacht und 
Liebe. — Noch nicht! Jetzt noch nicht! Tragt ihn zurück. Bin ich nicht die Liebe, 
und ſollte dieſes Weibes Liebe von mir ſtoßen? Kehre zurück, du Entſchlafener! 

3h lag zuſammengeſunken, kalter Todesſchweiß troff noch von meinem 
Geſicht. Nur Totenſtille wohnte in dem Sterbeſtübchen. 

Wie lange? Ich weiß es nicht, habe es auch nie erfahren können. An der 
Grenze der Ewigkeit gilt keine irdiſche Zeit mehr. — 

Da geſchah das Wunder: Ich hörte wieder das Weinen. Nur einen Augen- 
blick. Auch das Licht kam wieder, dunkelrot, und erloſch wieder. Jetzt nochmals 
und etwas länger. Die zuſammengeklemmte Bruſt bob fid) ein wenig. Die Schmer- 
zen kamen alle wieder; der Tod ſchien ſeinen Kampf noch einmal mit mir beginnen 
zu wollen. Das Bewußtſein blitzte mit aller Klarheit auf. Ich hauchte den Namen 
der Geliebten und ſagte: Noch einmal habe ich's überwunden. Der Mut zum Leben 
war ſofort da. 

Aber ein eigenes Verwundern durchſchauerte mich: Du müßteft doch tot 
ſein. Du lebſt ja wieder. Jawohl, ich wollte leben. Ich hatte die Geliebte wieder. 
Die grüne Flur und den Wald wollte ich wieder ſehen. Dem Rauſchen des Fluſſes 
wollte ich wieder horchen. Dem Sonnenlicht wollte ich zujubeln. Sieg! Sieg! 
Sieg! Sch lebte wirklich. 

Aber, o Gott, diefe Schmerzen! Dieſe Atembeklemmung. Ich ſtöhnte und 
wollte doch leben. Das ganze alte Elend war wieder da. Mag es ſein. Nur leben. 
Ich hatte doch meine heißgeliebte Lebensgefährtin noch in dieſer Welt. Die durfte 
ich nicht verlaſſen. Ihre Tränen hatten ja die Liebe Gottes gerührt. Noch drei 
Tage kämpfte ich um die Luft, dann erſt kam ein wenig Ruhe in meine Bruſt. 

Mein Herz erholte ſich langſam, ſehr langſam wieder. Es blutet noch heute 
an jener Wunde, aber es ſchlägt noch. Nur jenes Herz, das in der ſchweren Stunde 
für mich bat, hatte die Todeswunde empfangen. Es ſchlägt nicht mehr. 


ALDI" 


Der Prophet Won Ernſt Bertram 


Ich bin ein Bild zu Ehr und Preis 
Für einen Ruhm, den ich nicht weiß. 


Ich bin eine Schrift, die den Namen nennt 
Von einem König, den fie nicht kennt. 


LIF 
TAA 


SS 


Eine Harfe im Baum, bie bewußtlos ſpielt 
Vom Sturm des Herrn, der in ihr wühlt. 


Ich bin ein Wort, ich weiß nicht den Sinn, 
ich ſterbe, wenn ich geſprochen bin. 


W 


ruſſiſche Feldzug mit feinem ungeheuren Elend wieder belebt worden in dem wundervollen 
Buch „1812“ von Sophus Michaelis, von welchem „Romane“ das gilt, was Hermann 
Bahr von dem eigentlichen Sinn der geſchichtlichen Wiſſenſchaft ſagt: was uns überliefert 
wird, ſo ſtark zu fühlen, daß die Wiſſenſchaft daraus das, was uns fehlt, mit Sicherheit ahnt. 
In demfelben Verlag (Erich Reiß, Berlin) iſt unter dem Titel „Der ſterbende Napo- 
leon“ das Tagebuch des Sir Hudſon Lowe, des engliſchen Gouverneurs und Kerkermeiſters 
von St. Helena, erſchienen — zugleich mit den Dokumenten der Arzte, die den todkranken 
Napoleon behandelten und ſeine Leiche ſezierten, — ein Anklagebuch von grauſamer Tragik. 
— Das find nur die beiden wichtigſten der jüngeren Erſcheinungen einer ſchier unermeßlichen 
Napoleon-Literatur, deren ſtetes Wachstum beweiſt, in wie hohem Grade das Napoleon- 
Problem noch heute die Welt beſchäftigt. 

Die Nachwelt ift ein Spiegel, der die Lichtſtrahlen dankbarer aufnimmt als die Schatten 
ſtriche. Wer das Bild Napoleons und das Bild der Zeit, die er ſchuf, moͤglichſt klar ſehen will, 
tut gut, von den Geſchichtswerken hie und da zu den Quellen zurüdzugehen. „Der fterbende 
Napoleon“ iſt ein ſolches Quellenwerk. Es beſchränkt ſich auf das letzte qualvolle Lebensjahr 
Napoleons. Quellen mit einigem Fug können aber auch die zeitgenöſſiſchen Werke der Schrift 
Heller genannt werden, ſoweit in ihnen ein von Furcht und Kückſicht freies Urteil zu entdecken 
ift. Dieſe unbefangenen Zeugen find freilich fo zahlreich nicht, als die lauten Stimmen ver- 
muten laſſen, die in einem fpdteren Zeitpunkt, während der Freiheitskriege und nach der 
Vöͤlkerſchlacht bei Leipzig, fid) hervorwagten. In Oeutſchland zumal erzeugte der Orud des 
Fremd herrſchers knechtiſche literariſche Blüten. Viele namhafte Schriftſteller wetteiferten um 
die Gunſt Napoleons, und die ehrlichſten Männer ſahen ſich unter das Schwert geſtellt und 
ſchwiegen. Ein deutſcher Staatsmann vertrat in einem wiſſenſchaftlichen Werke die Zweck- 
mäßigteit der Abtretung des linken Rheinufers, deutſche Schriftſteller (u. a. Maſſenbach, Cölle, 
Julius v. Voß und der Herausgeber des Berliner „Telegraphen“, Lange) ſchmähten und 
höhnten den deutſchen Patriotismus, und Konſiſtorialräte und Superintendenten hielten 
Napoleon-Predigten. Zwei ſolcher Predigten, aus Anlaß der Vermählung Napoleons mit 
Maria Suite, find uns überliefert. Die eine batte das Thema: „Wie unerwartete frohe Welt- 
begebenheiten auf den Chriften wirken müſſen“; die andere: „Daß Gott oft mehr an uns 
tut, als wir hoffen und erwarten“. Das bleibt nicht weit zuruck hinter der Wendung in der 

Ser Türmer XV, 2 15 


226 Napoleon - Erinnerungen aus der „Biene“ 


Feſtrede eines franzöſiſchen Bürgermeiſters: „Gott ſchuf den Bonaparte und ruhte aus“ — 
und hinter dem Napoleon Stammbaum, den der „Hiſtoriker“ Peter Cymäus entwarf, und 
der den Kaiſer zum direkten Abkommen eines korſikaniſchen Königs Strabo, beſagten Strabo 
jedoch zu einem Sohn des Herkules machte. Viele Deutſche trieben es wie die Hamburger, 
von denen der Schauſpieler Coſtenoble in ſeinem Tagebuch erzählt: Als die Franzoſen von 
Hamburg ab- und die Ruſſen dort einzogen, wurde eine Feſtvorſtellung im Theater gegeben, 
die ruſſiſche Trikolore bejubelt und auf den Zetteln das „Monſieur“, „Madame“ und „Demoi- 
ſelle“ in deutſches Herr, Frau und Fräulein überſetzt; als die Franzoſen wiederkehrten, wurde 
die franzöſiſche Fahne auf derſelben Bühne bejubelt und die Schauſpieler erhielten wieder 
ihre franzöſiſche Anſprache. 

Unter den wenigen deutſchen Schriftſtellern, die Napoleon und die franzöſiſche Fremd- 
herrſchaft in Deutſchland vom erſten bis zum letzten Tage unbeugſam bekämpften, bat die 
Nachweilt einen zu nennen faſt vergeſſen, der auf das breite Publikum einen mächtigen 
Einfluß hatte und ihn auch in dieſem politiſchen Kampfe bewährte. Das war Aug uſt von 
Kotzebue. Einfeitig haben ihm literariſche und politiſche Gegnerſchaft und die Literatur- 
geſchichte einen ſchweren Makel angeheftet, den erſt die unbefangenere Kritik der jüngſten Zeit 
löſchte. Man hielt lange an der Fabel feft, daß der Dolch des fanatiſchen Studenten Gand 
in dem Verſpotter der Burſchenſchaft einen ruſſiſchen Spion gemordet habe, während Kotzebue, 
von Jugend auf in ruſſiſchen Staatsdienſten, ein unſauberes Amt nicht bekleidete, jedoch 
freilich im Oſten die Fühlung mit dem weſtlichen Zeitgeiſte mehr und mehr verloren hatte. 

Die Gerechtigkeit gebietet, einmal feſtzuſtellen, daß im papierenen Kampf gegen Napoleon 
kaum ein anderer ſo ſtark auf die Leſerſchaft gewirkt hat, wie Kotzebue, der ſich mit Vorliebe 
der Waffe des Witzes, eines ätzenden, zuweilen grimmigen Witzes, bediente. Notzebue war 
von Napoleon keineswegs perſönlich beleidigt worden. Im Gegenteil, im Jahre 1804 be- 
gegnete der damalige „erſte Konſul“ dem gerade in Paris weilenden Dichter mit Auszeichnung, 
er lud ihn zu Tiſch, er liebte feine Schauſpiele. Doch ſchon in feinem Buch „Erinnerungen 
aus Paris“ übte Kotzebue ſcharfe Kritik an Napoleon, und ſeither ſchnellte er in vielen ſeiner 
Luſtſpiele ſpitze Pfeile gegen den Kaiſer. Manche dieſer Luſtſpiele wurden von den franzöſiſchen 
Behörden für die deutſchen Bühnen verboten. Gegen den kecken Dichter zog ſich drohend das 
Ungewitter zuſammen, fo daß Kotzebue nach der Schlacht bei gena aus Deutſchland entfliehen 
mußte. Nun aber erſt, auf ſeinem Landgut bei Reval, nahm Kotzebue den Kampf ernſtlich 
auf. Er gab in den Jahren 1808 bis 1812 die Monatſchriften „Die Biene“ und „Die Grille“ 
heraus, die er ſelbſt von der erſten bis zur letzten Zeile ſchrieb. Da er die Blätter in Deutfd- 
land verbreitet ſehen wollte, ließ er ſeine „Biene“ zunächſt mit feinem Stachel ſtechen. Die 
Zeitſchrift wurde dennoch in Berlin, in Weſtfalen, in Sachſen ſtreng verboten, was nicht hinderte, 
daß fie, mit Heißhunger begehrt, von Hand zu Hand ging. „Was hätte jetzt nicht die fran- 
zöſiſche geheime Polizei darum gegeben“, bemerkt Nicolai, „Kotzebues habhaft zu werden, 
weil man merkte, wie er wirkte, wenn auch vielleicht auf eine ganz eigene Art, nicht in Ber- 
bindung mit den ſtill ſich bildenden Vereinen.“ 

Kotzebue ſelbſt ſchrieb ſpäter über dieſe Zeit: „Bonaparte verfolgte mich bis in meine 
ländliche Einſamkeit in Eſthland, und auf Begehren ſeines Geſandten wurde mir das Schreiben 
unterſagt, eine Kränkung, welche mein Monarch durch Gnadenbezeugungen vertilgte, ſobald 
er dem fremden Einfluß nachzugeben nicht mehr genötigt war. Sebt darf ich, Gott fei Dank, 
ohne für meine Exiſtenz zu zittern, mich des Bewußtſeins erfreuen, dem Tyrannen nie gehuldigt 
und auf den Geiſt des Volkes zu einer Zeit gewirkt zu haben, als noch wenige es wagten.“ 

Da Kotzebues politiſche Außerungen die Aufmerkſamkeit in hohem Grade erregt hatten, 
fo ſchien er bei der großen Wendung im Sabre 1813 ganz der Mann, um die den Franzoſen 
ungünſtige Stimmung der Völker zu unterhalten. Zum Staatsrat erhoben, folgte er dem 
ruſſiſchen Hauptquartier und gab in Berlin eine Zeitung: „Das Ruſſiſch-deutſche Volksblatt“, 


Napoleon-Erinnerungen aus der „Biene“ 227 


heraus. Dieſes Blatt bat nur 39 Nummern erlebt, die erfte vom 1. April 1813 datiert; ba 
es nur während des Krieges erfcheinen ſollte, machte ihm der Waffenftillftand im Juni ein Ende. 
Es hatte einen febr großen Leſerkreis. Im Aufruf an das deutſche Publikum ſchrieb Kotzebue: 
„Uns Oeutſchen ift jetzt zumut, wie armen Bergleuten, die in ihrem Schacht verjdüttet 
wurden und nun plötzlich von außen zu ihrer Rettung arbeiten hören. Anfangs trauen ſie 
ihren Ohren nicht — jetzt hören ſie deutlich den Klang der Hämmer — die Hoffnung wächſt! 
Die Retter draußen verdoppeln ihre Anſtrengung; noch ein Schlag — und der erſte Tages- 
ſtrahl dringt in die Gruft... Glück auf, liebe deutſche Brüder! Schöpft friſchen Atem — 
Frieden und Freiheit wird Gott uns ſchenken.“ 

Es war Auguft von Kotzebue, der ungemein fruchtbare Dramatiker und Romanſchreiber, 
ein zweifellos bedeutender Publiziſt. Seine Leichtigkeit des Ausdrucks, fein Wik, feine hiſto⸗ 
riſchen Kenntniſſe (bat er doch auch dickbändige geſchichtswiſſenſchaftliche Werke gefdrieben !) 
verliehen ſeiner politiſchen Polemik eine ungewöhnliche Wirkung. Hier aber beſchäftigt uns 
nicht ſo ſehr die Perſönlichkeit dieſes Napoleon-Gegners, als der Eindruck, der ſich aus den 
unmittelbaren Äußerungen eines geiſtvollen Zeitgenoſſen mit Hinſicht auf die Zeit der Unter- 
jochung Oeutſchlands ergibt. Es ift natürlich nicht möglich, einen beträchtlichen Teil der Hunderte 
von kleinen Satiren, die die fünf Bände der „Biene“ enthalten, hier wiederzugeben. Nur 
einige Pröbchen ſollen für das Ganze zeugen. 

Da findet man eine „Warnung an politiſche Journaliſten“, gerichtet 
an die Gilde derer, die ihren Mantel nach dem Winde hängen: „Ich bitte euch, meine Herren, 
nehmt euch in acht! Laßt euch nie auf Prophezeiungen, auf Behauptungen ein, von dem, 
was künftig geſchehen oder ganz gewiß nicht geſchehen werde. Il ne faut jurer de rien. Ihr 
könnt in große Verlegenheiten geraten, wenn ihr es wagt — auf die Autorität feierlich aus- 
geſprochener, geſchriebener oder gedruckter Grundſätze (und wären ſie auch im Geſetzbuch 
gedruckt) — eine Meinung zu äußern, die ihr über kurz oder lang zurücknehmen müßt. Ge- 
wöhnlich habt ihr dann zuvor dieſe eure geborgte Meinung herausgeſtrichen, bis in den Himmel 
gehoben, und damit ein gnädiges Kopfnicken zu gewinnen gehofft. Aber plötzlich hat dieſer 
Kopf, der da nicken follte, fein Syſtem verändert; nun jchüttelt er, und ihr feid verloren.“ — 

Daran anknüpfend, zitiert Kotzebue eine Reihe von offiziöſen Artikeln des „Politiſchen 
Journals“, Jahrgang 1807, worin erklärt wird, man müfje darüber lachen, daß einige von bet 
Wiedereinſetzung des Adels in ſeine Rechte träumen. Napoleon ſei das Kind der Revolution, 
und die Abſchaffung der legitimen Auswüchſe liege im Geiſte des napoleoniſchen Syſtems. 
Nun fragt Kotzebue, wie es der Offizioſus fertig bringen wolle, die neueſte Erzeugung maffen- 
hafter napoleoniſcher Herzoge, Grafen, Barone und Ritter und die neuerdings geſtifteten 
Adelsmajorate zu vertreten? — An anderer Stelle teilt er die Verordnungen des holländiſchen 
Königs von Napoleons Gnaden mit, die alle den Edelleuten gebührenden Titelanſprachen 
ſorgſam regelten. „Doch biefen leeren Klang“ — ſagt Kotzebue — „und einige andere un- 
bedeutende Rechte könnte man den Adligen ſchon gönnen; wenn man aber lieſt, daß ſie auch 
in ben Rollegien den Unadligen vorgezogen werden follen und wenn man ver- 
gebens die Einſchränkung ſucht: vorausgeſetzt, daß fie auch an Verdienſten die Unadligen Aber- 
treffen, fo kann man fid) in der Tat nicht enthalten, darüber zu ſeufzen, daß der alte Gauer- 
teig nicht gänzlich ausgefegt worden. Am luſtigſten dabei ift die Geſchmeidigkeit ber 
deutſchen politiſchen Schriftſteller, die dem Golde an Outtilitat gleichkommt. Heute preifen 
ſie himmelhoch die Abſchaffung einer alten Form, und beweiſen klar und bündig, daß dadurch 
far Europa ein neuer Glücksſtern aufgegangen; aber wenn es morgen einem Machthaber be- 
liebt, dieſelbe alte Form wiederherzuſtellen, ſo preiſen ſie ebenſo himmelhoch und beweiſen 
ebenſo klar und bündig, daß ohne dieſelbe Europa gar nicht hätte beſtehen können. O ihr 
kläglichen Menſchen! Selbſt diejenigen, denen ihr Weihrauch ftreut, können euch unmiglid 
achten.“ 


228 Napoleon-Erinnerungen aus ber „Biene“ 


An Raifer Franz von Sſterreich, der feine Tochter Maria Suite an Na- 
poleon verheiratete, ijt die folgende kleine Reminiſzenz gerichtet: „Vor uralten Zeiten ver- 
heerten bisweilen Drachen oder dergleichen Ungeheuer ganze Königreiche. In ſolchen Fällen 
pflegte der König zu proklamieren: daß derjenige tapfere Ritter, der fein Reich von dieſer Land- 
plage befreien würde, ſeine ſchöne Prinzeſſin Tochter zur Gemahlin erhalten ſollte. Allein 
man lieſt nirgend, daß, wenn die Hoffnung auf eines Ritters Hilfe fehlſchlug, der König ſodann 
die ſchöne Prinzeſſin dem Drachen ſelbſt vermählt babe." — 

Der Achtbriefgegen den Freiherrn von Stein erfuhr in der „Biene“ 
folgenden Kommentar: „Nr. 2 des Hamburger Unparteiifden Korreſpondenten liefert den 
Armeebefehl, durch welchen „ein gewiſſer Stein“ (le nommé Stein), weil er Unruhen in 
Deutſchland zu erregen ſuchte, für einen Feind Frankreichs und des Rheiniſchen Bundes erklärt 
wird. Er ſoll ergriffen werden, wo man ſeiner habhaft werden kann. Das iſt eine Achterklärung, 
und es iſt intereſſant, die Formel mit d er zu vergleichen, die vor tauſend Jahren üblich war. 
Man bemerkt hier ſogleich, wie viel milder und humaner in unſerem Zeitalter ſolche Dinge 
ausgedruckt werden. Der gewiſſe Stein wird nicht in des Teufels Namen auf die vier Straßen 
der Welt verwieſen, ſein Fleiſch wird nicht den Tieren in den Wäldern, den Vögeln in der 
Luft, den Fiſchen im Waſſer zugeteilt, ſondern es heißt ganz einfach: er ſoll ergriffen werden, 
wo man ihn findet. Noch hat man ihn nicht ergriffen, aber ſelbſt wenn es geſchehen ſollte, 
wird man ihn vermutlich nur erſchießen und dann begraben ... Übrigens ſcheint es faft — 
fo ſchwer auch das Schickſal ift, den Zorn des größten und mächtigſten Monarchen zu tragen 
— daß ein Schwärmer, wie dieſer gewiſſe Stein, leicht eine Art von Ruhm darin finden könnte, 
als ein einzelner Privatmann für einen Feind Frankreichs (der großen Nation) und bes Rhei- 
niſchen Bundes erklärt zu werden.“ 

Und nun blind noch einige Partherpfeile aus dem Köcher gegriffen! 

„In dem Dankgebet, welches im Württembergiſchen wegen der fran- 
zöſiſchen Siege dem Himmel dargebracht worden (während die Oſter reicher wegen der 
öſterreichiſchen Siege den Himmel gleichfalls betomplementierten!) wird geſagt: Oſterreich 
habe die verderbliche unb völker rechtswidrige Abſicht gehabt, Aufruhr zu erregen. 
— Es iſt höchſt erfreulich, das Völkerrecht hier anerkannt zu ſehen; denn allerdings ijt das 
Aufruhrerregen keine edle Waffe und nur dann zu entſchuldigen, wenn fie als Repreſſalie 
gebraucht wird; zum Exempel: als Napoleon der Große die Ungarn aufforderte, ihren recht; 
mäßigen König abzuſetzen und einen anderen an deſſen Stelle zu erwählen. — Ferner empfiehlt 
das Dankgebet mit löblicher Wärme Gehorſam gegen die Obrigkeit, weil ſie Gottes Bild trage. 
Es iſt nur zu bedauern, daß die Verblendeten, welche der Obrigkeit den Gehorſam verſagen, 
nicht die beſten Kopien von Gottes Bild zu erblicken glauben und bisweilen wohl gar ſo frech 
ſind, zu behaupten, man müſſe darunter ſchreiben: Das ſoll Gottes Bild ſein.“ 

„In Verona wurden zwei Männer zum Tode verurteilt wegen Verbrechen des H o d- 
verrats, nämlich wegen Anhänglichkeit an ihre alte Verfaſſung, welche die Verblendeten 
wieder herſtellen wollten. Vor wenigen Jahren wären ſie auch zum Tode verurteilt worden, 
wenn ſie keine ſolche Anhänglichkeit bewieſen hätten. Daraus mag man ſich die Lehre 
nehmen, daß man in dieſen Tagen weder aus Neigung noch aus Grundſätzen an einer gewiſſen 
Ordnung der Dinge hängen, ſondern [tete bereit fein müfje, fie jauchzend gegen eine andere 
zu vertauſchen.“ 

„In Nr. 191 des Hamburger Unparteiiſchen werden Betrachtungen über das Schickſal 
der Provinzen Salzburg und Berchtesgaden angeſtellt. Vor acht Jahren, heißt 
es, batte jene noch einen Erzbiſchof, diefe einen gefürſteten Abt. Im Lüneburger Frieden 
bekam Salzburg der Erzherzog Ferdinand für Toskana. Im Preßburger Frieden vertauſchte 
es dieſer gegen Würzburg an Kaiſer Franz. Im Wiener Frieden wurde es dem Kaiſer Napoleon 
zur Dispofition überlaſſen. Freilich ſollte man glauben, die guten Salzburger wüßten nicht 


Napoleon-Erinnerungen aus der „Biene“ 229 


mehr, wo ihnen der Kopf ſteht. Aber das iſt eben das Bewundernswürdigſte und Liebens- 
würdigſte an den Deutſchen, daß fie in jeder Lage der Dinge ihre Köpfe gleich wieder 
zu finden wiſſen, und wenn man ſie ihnen auch abgeriſſen hätte, um Kegel damit zu ſchieben. 
Sd wette, die Salzburger haben ihren Erzbiſchof geliebt, haben den Erzherzog Ferdinand an- 
gebetet, haben den Kaiſer Franz mit Entzüden aufgenommen, haben dem Raifer Napoleon ent- 
gegengejubelt, und werden nun dem Könige von Bayern, der ihnen vermutlich zum fünften 
Herrn in acht Jahren beſtimmt ijt, durch weißgekleidete Jungfrauen Blumen ſtreuen laffen.“ 

„Das Schreiben iſt bekanntlich, ſeitdem der Buchhändler Palm ſeinen verdienten 
Lohn erhalten, febr heilſam eingeſchränkt worden. Jest kommt die Reihe an das Reden. 
Dem Militär wurde bei der Parade befohlen, nicht über politiſche Gegenſtände zu ſchwatzen. 
8m Württembergiſchen wurde das unzeitige Raifonnieren verboten, ohne jedoch zu beſtimmen, 
wann das Raiſonnieren zeitig fei. In Frankfurt, Hannover, Hamburg, Würzburg, Nürnberg 
geſchah ein Gleiches. Es heißt, wenn das Schreiben und Reden erſt völlig ausgerottet fein 
werde, ſo wolle man auch das unzeitige Seufzen und Weinen unterſagen.“ 

In einer fortgeſetzten Chronik als Kalendarium verzeichnet Kotzebue die täglichen furcht⸗ 
baren Laſten und Kriegskontributionen, die den Deutſchen, Italienern und Spaniern von 
den Franzoſen auferlegt wurden, und die an allen Ecken der Welt verübten Grauſamkeiten und 
Greueltaten. Dann fährt er fort: „Hingegen iſt nicht zu leugnen, daß viel Schönes, Großes 
und Gutes in den letzten ſechzehn Wochen geſchehen iſt. In Florenz wurde ein ſechſtes Lotto 
errichtet, wo man viel Geld gewinnen kann. Die Mainzer Domherren wurden verſorgt, welches 
allen oſtpreußiſchen hungernden Beamten zu einigem Troſt gereicht. In Paris wurde die 
wichtige Erfindung gemacht, graue Haare ſchwarzbraun und ſchwarz zu färben, eine fir unfere 
Zeit köſtliche Erfindung, da jetzt ſo viele dunkle Haare ſich in graue verwandeln.“ 

Auf ſchmähliche Vorgänge im Sabre 1806 bezieht fih die Notiz: „Es wird als etwas 
Beſonderes angeführt, daß ein engliſcher Lugger, nachdem er im Gefecht mit einem franzöſiſchen 
Raper alle feine Kartätſchen verſchoſſen hatte, endlich mit Geld ſchoß. Das mag vielleicht 
auf der See (id) zum erſtenmal zugetragen haben, auf dem Lande ijt es aber gar nicht un- 
gewöhnlich, und es find auch in den neueſten Zeiten manche F e ſt ungen mit Geld 
beſchoſſen worden.“ 

Der napoleoniſchen Preßfreiheit, die die Einſchränkung enthielt, daß 
Verletzungen der „Ehrerbietung gegen den Fürſten“ wie Verbrechen gegen den Staat zu 
ahnden feien, fegt Kotzebue entgegen: Es gehe nicht an, daß ei ne Perſon Kläger und Richter 
zugleich ſei. Bei ſolchem Zuſtand würde bald jede Meinung, die ſich gegen die Meinung des 
Fürften richte, verfolgt werden. „Dem einigermaßen vorzubeugen, wäre wohl erforderlich, 
ſo oft die Perſon des Fürſten durch die Preßfreiheit ſich angetaſtet glaubt, die Entſcheidung 
einer auswärtigen Univerſität zu überlaſſen. Am allerbeſten aber, wenn der Fürſt, 
nach dem Beiſpiel Friedrichs des Großen, ſeine Perſon gar nicht unter die Ausnahmen ſtellt, 
albernes Geſchwätz verachtet, hingegen gründliche Bedenklichkeiten in der Stille beherzigt.“ 

Das von Napoleon großgezüchtete Denunziantenweſen — eine der böſeſten 
feiner Früchte — wird in der „Biene“ wiederholt gloſſiert. Einmal bei Gelegenheit bes furdt- 
baren Brandſchatzungsbefehls, der den deutſchen Bürgern die doppelte Beſteuerung auf- 
erlegte und im Zuſatz die Aufforderung an jedermann enthielt, die unbekannten Schulden 
des Nachbars anzugeben, wofür der Angeber fünfzehn Prozent vom Kapital und den vierten 
Teil der ruͤckſtändigen Zinſen erhalten ſollte. „Man kennt,“ ſagt Kotzebue, „den niedertrad- 
tigen Eigennutz der Menſchen; um 15 Prozent von einem Kapital zu erhaſchen, verraten ſie 
Vater und Mutter. Man ſieht aber auch, wie arg die — Schuldner in den eroberten Ländern 
es müſſen gemacht haben, da ſelbſt derjenige Monarch, von dem — ſein eigener Senat 
einft rühmte: er habe die Moralität vom Abgrund gerettet, zu einer fol- 
den Maßregel ſich entſchließen mußte...“ 


230 Die Zukunft bee Angelſachſentums 


Wer weiter ſucht, findet in der „Biene“ aud allerlei allegorifhe Gefdhidt- 
d en, fo u. a. die Biographie des furchtbaren perſiſchen Bluthunds Thomas Ruli-Chan, oder 
Gleichniſſe aus der Naturgeſchichte, von denen eines zum Abſchluß dieſer kurzen Auswahl 
hierher geſetzt ſei: 

„Auf ben Molucken gibt es eine große Schlange ..., die, wenn fie hungrig ijt, fid) einer 
ſeltſamen Lift bedient, um fid) Nahrung zu verſchaffen. Sie ſucht nämlich gewiſſe wüͤrzreiche 
Kräuter, die ſie verſchluckt. Dann windet ſie ſich einen Baum hinan, der am Waſſer ſteht, ſpeit 
das Verſchluckte wieder aus, und ſogleich ſammeln fid) Fiſche, die es verſchlingen und der- 
maßen davon betäubt werden, daß die Schlange mit ihnen machen kann, was fie will. — So 
verſchluckt ein © ef pot die wahre Ehre, ſpeit fie vergiftet wieder aus und fängt damit die 
dummen Fife...“ 

Neben ben Freiheitsliedern, die vor einem Jahrhundert erklangen und heute im Gedddt- 
nis fortleben, verdienen die hier ausgegrabenen ſatiriſchen und pasquillanten Stichproben 
Beachtung — als Stimmen der Zeit, ob fie auch nur von der Stimme eines Einzelnen ge- 
ſprochen waren. Hermann Kienzl 


JZZy 
Die Zukunft des Angelſachſentums 


5 8 0 m Sabre 1908 wanderten aus Großbritannien 91 000 Menſchen mehr aus als ein, 
Lo NG $ 1909 140000, 1910 234 000, 1911 262000. Während des Jahrzehnts 1890— 
looo hatte bie Auswanderung durchſchnittlich jedes Jahr weniger als 122 000 
betragen; in den fünf Jahren 1900—1905 durchſchnittlich weniger als 90 000. Von ben 262 000 
im Jahre 1911 Auswandernden nahmen die Vereinigten Staaten 50 000 auf; alle übrigen, 
mit Ausnahme von 2000, gingen nach engliſchen Kolonien, 135 000 nach Kanada, 66 000 nach 
Auſtralien, 8000 nach Südafrika. Es ijt jedoch anzunehmen, daß die kolonialen Auswanderungs- 
agenten, von denen die britiſchen Inſeln jetzt heimgeſucht werden, in wenigen Jahren aus Eng- 
land alle brauchbaren Koloniſten herausgeholt haben werden. Aber abgeſehen davon: was 
bedeuten bei der großen Ausdehnung der überſeeiſchen Beſitzungen Großbritanniens die paar 
hunderttauſend Menſchen, die das Mutterland günſtigſtenfalls jährlich an fie abgeben kann, 
ohne feinen eigenen Bevölkerungsbeſtand zu verringern! Es leben weniger als 15 Millionen 
Weiße im ganzen britiſchen Weltreich außerhalb des Mutterlandes. Davon ſetzt ſich der dritte 
Teil aus Fremden oder Leuten fremden Urſprungs zuſammen. Im ganzen Weltreiche gibt es 
nur 55 Millionen Weiße britiſcher Abſtammung. Vas aber das Bedenklichſte ijt: die Geburts- 
ziffer des Angelſachſentums ſinkt in den Kolonien noch raſcher als in der Heimat. Sie betrug 
in Auſtralien und Neuſeeland im Jahre 1871 noch 38 bzw. 40 vom Tauſend, in den letzten Jah- 
ren dagegen nur noch 26 bis 27 vom Tauſend. Das Commonwealth batte 1891 3 185 237 
Einwohner, 1901 3 773 248, 1907 4 221 715 und 1909 immer noch nicht mehr als 4 275 000. 
Viel raſcher nahm die Bevölkerung Kanadas in den letzten 20 Jahren zu, aber nur dank einer 
von Jahr zu Jahr wachſenden Einwanderung, in der der britiſche Anteil einen immer kleiner 
werdenden Bruchteil bildet. 

Kann nun das Angelſachſentum in den engliſchen Kolonien nicht von den Vereinigten 
Staaten her Anregung, Förderung und Zuwachs erfahren? Auch dieſe Möglichkeit zerrinnt 
bei näherem Zuſehen in nichts. Die nordamerikaniſche Union hat längit aufgehört, engliſch 
oder auch nut angloamerikaniſch zu fein. Die „Ariſtokratie“ von Neuyork und Philadelphia 
ijt vorwiegend holländiſcher Abſtammung, die von Neuorleans nimmt franzöſiſche Ahnen für 
ſich in Anſpruch, vierzig Hundertteile der Bevölkerung Chicagos find deutſch oder deutſchen Ur- 
ſprungs, während die großen Staaten des Nordweſtens: Wisconſin, Minneſota und Dakota 


Dic Nadloattivitat des menſchlichen Körpers 231 


ihre raſche Entwickelung dem friedlichen Einfall Tauſender deutſcher und flandinavifcher 
Bauern verdanken. Und wie raſch macht das altanſäſſige Amerikanertum den „neuen“ Ein- 
wanderern Platz, die ſich im Gegenſatz zu den „alten“, die ganz überwiegend aus germaniſchen 
Ländern famen, zu 80 95 aus Süd- und Ofteuropäern zuſammenſetzen! Drei Fünftel der in 
Fabriken und Bergwerken beſchäftigten Arbeiter find im Auslande geboren, ein Fünftel be- 
ſteht aus Leuten, die in Amerika geboren, aber Kinder von Vätern ſind, die einwanderten. Die 
Hälfte der fremden Lohnarbeiter beſteht aus Süd- und Oſteuropäern. Weniger als 20 % der 
geſamten in Bergwerken und Fabriken tätigen Arbeitskräfte ſind geborene Amerikaner. Die 
landwirtſchaftliche Bevölkerung der Union wäre (don längſt im Rückgang begriffen, wenn fie 
nicht aus der „neuen“ Einwanderung immer wieder aufgefüllt werden könnte. Die Land- 
arbeiter amerikaniſcher Herkunft wandern in die Städte ab, bie tüchtigſten alten Farmer nach 
Kanada. Kanada nahm im Jahre 1910 gegen 160 000 Einwanderer aus den Unionsſtaaten 
auf; es waren ganz überwiegend Abkömmlinge von in die Union eingewanderten Deutſchen, 
Skandinaviern, Polen, Ruſſen oder andern europäiſchen, nicht engliſchen Nationalitäten. 
In den Vereinigten Staaten wie in den engliſchen Kolonien ift der angelſächſiſche Bevölke- 
rungsbeſtandteil der am wenigſten fruchtbare. Nach einigen Jahrzehnten mag die Tatſache, daß 
in Nordamerika das Engliſche die allgemeine Amts-, Geſchäfts- und Umgangsſprache bildet, 
nicht viel mehr Bedeutung haben, als daß in Mittel- und Südamerika mit Ausnahme Brafi- 
liens das Spaniſche die gleiche Rolle ſpielt. 

. Man darf fid) durch die glänzende politiſche Verkleidung und Ausrüſtung nicht über 
das innere Siechtum der angelſächſiſchen alle täuſchen laffen. Man vergleiche die Verhält- 
niſſe in Großbritannien mit denen im kleinen Belgien. Was bedeuten bie politiſchen und wirt- 
ſchaftlichen Hilfsmittel der Belgier gegenüber denen des meerbeherrſchenden Albion? Aber 
Belgien ernährt durchſchnittlich 225 Bewohner auf einem Quadratkilometer, ohne entfernt ſolches 
Maſſenelend, ſolche ausgedehnte Arbeitsloſigkeit zu kennen wie England. Dieſes könnte bei 
gleicher Bevölkerungsdichtigkeit 71 Millionen Menſchen verſorgen und verſagt doch ſchon bei 
der Aufgabe, 45 Millionen anſtändige Lebensmöglichkeiten zu bieten. In den letzten 25 Jahren 
fiel die Geburtsziffer in Großbritannien um 6,3 vom Tauſend, bie Sterbeziffer um 4,9 vom 
Tauſend. Der Rückgang der Geburten vollzog fic faſt allein in den letzten fünf, der der Sterbe- 
fälle gleichmäßig in den letzten zehn Jahren. 1885 fügte eine Bevölkerung von 36 Millionen 
448 000 Perſonen ihrem Beſtande zu, 1911 eine Bevölkerung von nahezu 45 Millionen dem 
ihrigen nur 440 000. Rechnet man den Verluſt durch Auswanderung ab, ſo bleibt ein Zuwachs 
von noch nicht 180 000. Die Sterbeziffer in England kann nicht mehr viel zurückgehen, während 
es für den Rückgang der Geburten fo bald keine Grenze gibt. Und der dritte Teil der kaum 
noch wachſenden Bevölkerung Englands lebt nach zuverläſſigen Ermittelungen in bitterſter 
Armut. Otto Corbach 


e 
Die Radioaktivität des menſchlichen Körpers 


WO Hie 
(GG 
D | abhängig ift von dem Geſundheitszuſtand des Individuums. Wenn körperliches 
— Leiden vorhanden, ſo verrät ſie es, wie ſie auch den Kenner nicht darüber im 
Zweifel läßt, ob er einen intelligenten oder einen ſtumpfſinnigen Menſchen vor ſich hat.“ 
Dieſe Sätze bat vor kurzem ein angeſehener Londoner Arzt, Dr. Walter 8. Kilner 
am dortigen St.-Thomas-Hoſpital, aufgeſtellt, dem es nach vierjährigen Studien und Experi- 
menten anſcheinend gelungen iſt, das Vorhandenſein einer dem normalen Auge unſichtbaren, 
jedes Lebeweſen umgebenden Aura nachzuweiſen. Die Unterſuchungen, die Dr. Kilner zu 


Jedes Menſchenweſen beſitzt eine feinen Körper umgebende Aura, die in ihrer Größe 


232 Die Radloattivitat des menſchlichen Körpers 


dieſem bemerkenswerten Ergebnis geführt haben, ſind von ihm — wie er angibt — vom rein 
mediziniſchen Standpunkt aus angeſtellt und nach ſtreng wiſſenſchaftlichen Regeln durchgeführt 
worden. 

Zur Sichtbarmachung dieſer Aura verwendet der genannte Entdecker eine Anzahl 
gläferner Schirme, die er Spe etauranine nennt, und bie etwa 10 om hoch unb 3,8 cm 
breit ſind. Jeder dieſer Schirme beſteht aus zwei übereinander angeordneten Platten aus 
dünnem Glas, zwiſchen denen fid) hermetiſch verſchloſſen eine von Dr. Kilner entdeckte Subſtanz 
befindet, die das Sichtbarwerden der Aura ermöglichen ſoll. Die Schirme ſind von verſchieden 
abgetinter roter und blauer Farbe und können fo dem jeweiligen Auge des Beobachters 
angepaßt werden. 

Dr. Rilner bat nun auch bereits über feine Entdeckung eine größere Monographie ver- 
öffentlicht, die unter dem Titel: „The Human Atmosphere or the Aura made visible by 
the aid of chemical soreens“ vor kurzem bei Rebman in London erſchienen iſt. 

Um uns nun ein Urteil zu bilden über den Wert dieſer Entdeckung, nehmen wir das 
bedeutendſte Fachblatt für dieſes Forſchungsgebiet, die von dem bekannten Pariſer Phyſiologen 
Prof. Dr. Charles Richet herausgegebenen „Annales des sciences psyohiques^ zur 
Hand, in deren Septemberheft 1911 die Kilnerſche Entdeckung von einer der erſten Autori- 
täten auf dieſem Gebiet, Colonel Albert b e Ro das, ausführlich beſprochen wird. Rochas 
faßt dort das, was Dr. Kilner beanſprucht, entdeckt zu haben, unter folgenden Geſichtspunkten 
zuſammen: 

1. Die Leuchtkraft des menſchlichen Körpers. 

2. Das Vorhandenſein von beſtimmten leuchtenden Zonen, die, den Konturen des 
Körpers folgend, dieſen umgeben. 

3. Die Verſchiedenheit des Ausſehens dieſer Zonen je nach dem Geſundheitszuſtand 
und der Intelligenz der Perſonen. 

4. Leuchtende Strahlen, die von den Fingern der Experimentatoren ausſtrömen. 

5. Wirkung der chemiſchen Schirme, um die Sichtbarkeit dieſer leuchtenden Zonen zu 
ermöglichen. 

Alle diefe bier erwähnten Erſcheinungen find nun aber, wie Rodas nachzuweiſen ſucht, 
denen, die fid mit den Aufgaben der metapſychiſchen Forſchung befchäftigen, längſt bekannt, 
zumal in Frankreich — meint Rochas —, wo dieſe Art von Forſchung ſchon ſeit mindeſtens 
hundert Jahren mit Eifer betrieben wird. 

In bezug auf Punkt 1: Die Leuchtkraft des menſchlichen Körpers, 
erinnert Rochas an feinen Landsmann F. P. F. Deleuze, der in feiner 1813 erſchienenen 
„Histoire du Magnétisme animal“ folgendes ſchrieb: „Die Mehrzahl der Somnambulen ver- 
mag ein leuchtendes glänzendes Fluidum wahrzunehmen, das ihren Magnetiſeur umgibt 
und beſonders ſtark aus deffen Kopf und Händen ausſtrömt. Mehrere unter ihnen gewahren 
diefes Fluidum nicht nur dann, wenn fie ſich wirklich im Zuſtand des Somnambulismus be- 
finden, ſondern auch noch einige Minuten nachher, nachdem ſie wieder aus dieſem Zuſtand 
erwacht find. Einige Perſonen ſehen dieſes Fluidum ſchon, wenn man fie nur wenig magne- 
tiſiert, ohne ſie in Somnambulismus zu verſetzen. Es ſind mir ſogar Leute vorgekommen, 
die dieſes Fluidum wahrnehmen, wenn ſie ſelbſt andere Perſonen magnetiſieren; aber dieſe 
Fälle ſind ſelten.“ 

Weiterhin erinnert Rochas an den deutſchen Chemiker Baron von Reichenbach, 
der ſein ganzes in induſtriellen Unternehmungen erworbenes Vermögen den vierzig Jahre 
währenden Unterſuchungen opferte, die er über die Strahlungen anſtellte, wie ſie bei Körpern 
von ganz beſtimmter Struktur auftreten, bei Kriſtallen, Magneten, Pflanzen und Tieren. 
Er ſtudierte diefe Strahlungen an der Wirkung, die fie auf das Nervenfyftem ſenſitiver Per- 
fonen ausüben, insbeſondere auf deren Augen, wenn diefe längere Zeit der Dunkelheit aus- 


Die Radivattivitat des menſchlichen Körpers 233 


geſetzt waren. Die Verſuche Reichenbachs wurden dann ſpäter von Henri Ourville, 
dem langjährigen Leiter des Pariſer Institut du Magnétisme, in ähnlicher Weiſe wiederholt 
und durch genauere Beobachtungen beſtätigt. Im weiteren kommt Rochas dann auf ſeine 
eigenen Unterſuchungen über die tieferen Zuſtände der Hypnoſe zu ſprechen, deren über- 
raſchende Ergebniſſe er in den folgenden kurzen Sätzen zuſammenſtellt: 

a. Die Fähigkeit des Hellſehens, die die alten Magnetiſeure den Somnambulen zu- 
ſchrieben, tritt im allgemeinen nur in dem Zuſtand auf, den Rochas als den des Rapports 
bezeichnet. Sie verſchwindet wieder, wenn der hypnotiſche Schlafzuſtand ſich vertieft. 

b. Bei febr ſenſitiven Verſuchsperſonen kann man den Zuftand bes Rapports in irgend 
einem Organ, beſonders im Geſichtsorgan, dadurch hervorrufen, daß man auf dieſes Organ 
magnetiſch einwirkt, während der übrige Körper im natürlichen Zuſtand verbleibt. 

c. Unter dieſen Bedingungen tritt bei einzelnen Perſonen momentan eine gefteigerte 
Reizbarkeit des Sehnervs ein, vermöge deren fie bie Ausſtrahlungen, von denen hier bie 
Rede iſt, bei vollem Tageslicht im gewöhnlichen Wachzuſtand zu ſehen imſtande ſind. 

Wir gelangen nun zu Punkt 2: VBorhandenſein von beſtimmten leud- 
tenden Zonen, die, den Konturen des Körpers folgend, biefen 
umgeben. Auf diefe Erſcheinung hat Rodas ſchon in feinem 1895 veröffentlichten Werk: 
,L'extorisation de la sensibilité“ hingewieſen. Schon damals hatte er beobachtet, daß 
bei gewiſſen Individuen unter dem Einfluß einer kürzeren oder längeren Magnetiſierung 
die ihren Körper umgebende leuchtende Aura (id) loslöſt, worauf fid) dann allmählich ver- 
ſchiedene konzentriſche Zonen von abnehmender Leuchtkraft bilden, die 6—7 om voneinander 
abſtehen, während die unterſte Schicht nur etwa 3 cm von der Haut getrennt iſt. Rochas hat 
zudem feſtgeſtellt, daß, während diefe leuchtenden Zonen Stellen von maximaler Empfind- 
lichkeit gegen Einwirkung von außen enthalten, die Haut ſelbſt eine Zone von minimaler 
Empfindlichkeit bildet. 

Was weiterhin den Punkt 3 betrifft: Die Verſchiedenheit des Aus- 
ſehens dieſer Zonen je nach dem Geſundheitszuſtand und der 
Intelligenz der Perſonen, fo bat der am Charité- Krankenhaus in Paris wir- 
tende Dr. med. Luys foon vor längerer Zeit feſtgeſtellt, daß die rechte Seite des menſch⸗ 
lichen Körpers für das hellſichtige Auge blau gefärbt erſcheint. Ebenſo zeigen die Augen, 
Ohren, Naſenlöcher und Lippen eine blaue Strahlung, und dieſe blaue Strahlung iſt um 
ſo intenſiver, je kräftiger das Individuum iſt. Der linken Seite des Körpers entſtrömen 
dagegen Strahlen von rötlicher Färbung, deren Intenſität ebenfalls abhängig iſt von dem 
Geſundheitszuſtand des Individuums. Bei Hyſterikern ſowohl männlichen wie weiblichen 
Geſchlechts erſcheint die rechte Seite violett gefärbt; bei Paralytikern, deren Nervenkraft ſtark 
geſchwächt iſt, ſind die leuchtenden Farben der Haut ſtark mit ſchwarzen Punkten durchſät. 
Derſelbe Dr. Luys hat ferner konſtatiert, daß die Strahlungen des Auges noch einige Stunden 
nach dem Tode fortdauern und daß, wenn man den Schädel eines lebenden Tieres öffnet, 
der rechte Gehirnlappen in ſchönem Blau und der linke in ſchönem Rot erſcheint, und zwar 
jo lange, bis alles Leben vollſtändig erloſchen ift. Dies beweiſt, daß hinſichtlich dieſer Strab- 
lungen das Gehirn keine ſolche Kreuzung vornimmt, wie bei den Vorgängen ſenſitiver und 
motoriſcher Natur. Haben wir es mit einer Perſon zu tun, die mehr oder weniger taub iſt, 
dann erſcheint die leuchtende Strahlung des Ohrs bedeutend herabgeſetzt. 

Intereſſant ift auch, was fid in dieſer Hinſicht an Fiſchen zeigt. Ein lebender Fiſch 
entwickelt außerhalb des Waſſers eine Strahlung, ganz analog der, die bei anderen Tierklaſſen 
beobachtet wird. Sobald man aber den Fiſch wieder ins Waſſer ſetzt, ſo verſchwindet dieſe 
Strahlung. Sie löſt ſich anſcheinend im Waſſer auf. 

Zu Punkt 4: Leuchtende Strahlen, die von den Fingern der Ex- 
perimentatoren ausſtrömen, wird bekanntlich von vielen Heiligen, deren Ge- 


234 Kinderſchutz 


ſchichte uns überliefert iſt, Ahnliches berichtet. So wird vom heiligen Marion von Regensburg, 
vom heiligen Fintan von Schottland, vom heiligen Comgall von IJsland und noch von einigen 
andern erzählt, daß bei ihnen die linke Hand nachts leuchtend geworden ſei, ſo daß dieſe Männer 
bei den Strahlen dieſes Lichts imſtand geweſen ſein ſollen, Bücher zu leſen oder zu kopieren. 

Ein bekannter und ſehr angeſehener Forſcher auf dem uns hier beſchäftigenden Gebiet, 
Dr. med. 8 oſeph Maxwell in Paris, foll neuerdings, wie Rochas ſchreibt, ein Verfahren 
angegeben haben, das es jedermann ermöglicht, die feinen Fingern entſtrömenden unſichtbaren 
leuchtenden Strahlen wahrzunehmen. Es ſoll ſich dabei um einen einfachen ſchwarzen Schirm 
handeln, vor den die Finger in geeigneter Weiſe gehalten werden müſſen. Worin diefe ge- 
eignete Weiſe beſteht, gibt Rochas leider nicht an. Dieſe Sache klingt wenig glaubwürdig. 

Was endlich Punkt 5: Die Wirkung der chemiſchen Schirme, um das 
Sichtbarwerden jener leuchtenden Zonen zu ermöglichen, anlangt, 
fo haben franzöſiſche Experimentatoren, insbeſondere der oben genannte Henri Durville, 
zu demſelben Zweck phosphoreſzierende Schirme angewandt. Alſo auch hierin hat Dr. Kilner 
Vorgänger. Allerdings iſt man mit dieſen phosphoreſzierenden Schirmen nicht weiter ge- 
kommen. Denn das Phosphoreſzenzlicht beeinträchtigt natürlich die Leuchtkraft des Körpers, 
den man ihnen ausſetzt. 

Rochas erwähnt ſchließlich noch ſeine eigenen Verſuche nach dieſer Richtung, bei denen 
Uranglas in Anwendung kam, dem er urſprünglich die Wirkung zugetraut zu haben ſcheint, 
daß es die hohe Schwingungsfrequenz dieſer Strahlen ſoweit vermindere, daß ſie dem Auge 
ſichtbar werden. Diefe Vermutung traf aber offenbar nicht zu. Denn bie von Rochas angeſtellten 
Verſuche verliefen vollſtändig ergebnislos. Nach engliſchen und amerikaniſchen Berichten zu 
urteilen, (deinen nun aber Dr. Kilners Verſuche mit ben ſogenannten Spectauraninen wirklich 
befriedigende Reſultate ergeben zu haben. Es bleibt nur zu wünſchen, daß man dieſe Ver- 
ſuche in Deutſchland an maßgebender Stelle nachprüft, und das wird wohl nicht lange aus- 
bleiben. Dann werden wir ja hören, was an der Sache iſt. 

Ludwig Deinhard 


dX 
Kinderſchutz 


l ieder hören wir von entſetzlichen Kindertragödien. Die Zeitungen brachten die 
SGerichtsverhandlungen der Fälle Zahns und Graetz, Fälle, wie wir fie in 
| ihrer erſchütternden Tragik fid) faſt täglich vor unfern entſetzten Augen abſpielen 
ſehen. Aber dieſe Fälle verſchwinden faſt in unſerer Erinnerung, wenn wir leſen, daß ein Vater 
ſein vierjähriges Söhnchen erhängte und die Abſicht hatte, auch ſeine Frau und ſeine andern 
Kinder zu töten, und daß eine Mutter, verzweifelt Aber die von ihr und ihren Kindern erdulde- 
ten Mißhandlungen, ihre fünf Kinder in einer Badewanne ertränkte. 

Auch in unſern Annalen ſteht die Geſchichte eines unmenſchlichen Vaters, der ſein Kind 
an der Tür aufgehängt hatte, und wenn dieſes auch im letzten Augenblick noch von der Mutter 
gerettet wurde, fo find die Fälle, die mit dem Tode eines Kindes endigen, durchaus nicht ver- 
einzelt. Die Verzweiflungstat jener unglücklichen Frau hat jedoch bisher nicht ihresgleichen in 
der Geſchichte des Kinderſchutzes gehabt. Unſer Herz krampft jid) zuſammen, wenn wir uns 
die Einzelheiten jener Tragödie ausmalen, und wir wiinfden im ſtillen, die Armſte möge be- 
reits in geiſtiger Umnachtung gehandelt und der Schleier des Vergeſſens ſich für immer über 
ihr Grinnerungevermógen gebreitet haben. 

Aber bis ins tiefſte Innere erſchüttert können wir, die wir die verantwortungsvolle 
Arbeit des Kinderſchutzes übernommen haben, uns der Frage nicht erwehren: Mußte es 


Rinberfduy 235 


fein? Konnte eine ſolche Tat in dem fogenannten Jahrhundert des Kindes nicht vermieden 
werden? Zt fie nicht ein ſchwerer Vorwurf für jeden, der gleichgültig der Not der Kinder 
fernſteht? 

Wie oft, wenn wir die bitteren Leiden der gequälten Rinder beſchrieben und um Hilfe 
gebeten haben, erhielten wir die Antwort: Es ijt ja unmöglich, daß es fo unnatürliche Eltern 
gibt. Wie oft wurde uns geſagt, der Verein unterſtütze die Bosheit und den Leichtſinn, die 
Eltern mißhandelten die Rinder nur, damit der Verein fie ihnen abnähme (). Wie oft haben 
wir dieſen Vorwurf zu widerlegen geſucht, und wenn er ſelbſt in einem vereinzelten Falle 
begründet wäre, würde dies nicht ein Beweis einer geradezu raffinierten Roheit fein? 

Immer wieder haben wir um Anzeigen gebeten, immer wieder darauf hingewieſen, 
daß wir jeden gemeldeten Fall ſo ſchnell wie möglich unterſuchen, daß wir nie einen Namen 
nennen, daß wir die mißhandelten Rinder, wenn es irgend möglich ift, ſofort aus ihrer Um- 
gebung herausnehmen, daß unfer Bureau im Franzöſiſchen Dom am Gendarmenmarkt täg- 
lich von 9 bis nach 3 Uhr geöffnet iſt, und trotzdem ſpielen ſich dieſe Martern in unſerer nächſten 
Nähe von uns ungewußt ab. 

Im vergangenen Jahre wurden 801 Fälle bei uns gemeldet, wir haben das Schickſal 
von 1362 Kindern zu beſſern geſucht und von dieſen 553 teils ſelbſt als Pflegekinder übernommen, 
teils für fie ſtädtiſche oder ſonſtige Fürſorge erlangt. Außerdem hatte ber Verein 242 Pflege- 
kinder aus den früheren Jahren zu verſorgen. 

Als ich in der letzten Generalverſammlung dieſe Zahlen vortrug und erwähnte, der 
Verein habe in den letzten drei Jahren ebenſo viele Fälle bearbeitet, wie in den erſten zehn, 
wurde dies als ein Anſporn zu noch eindringlicherer Arbeit angeſehen und eine größere Wer- 
bung als bisher beſchloſſen. Wir haben 40 000 Flugblätter drucken laſſen zur Verteilung in 
den ärmſten Stadtteilen, wir bereiten einen Anſchlag vor und haben die Zahl der Meldeſtellen 
bedeutend erweitert. Ob wir unſern Zweck damit erreichen werden? 

Aber vor allem fehlt es uns an Mitgliedern, an zahlenden und an mitarbeitenden; wir 
haben in Berlin mit ſeinen Vororten kaum 1500, und wir ſollten die zehnfache Zahl haben, 
um wirklich dem Kinderelend abzuhelfen. Das ſcheint übertrieben, aber iſt es nicht, und das 
Beiſpiel von Amerika und England, wo jeder Gebildete dem Kinderſchutz angehört, und wo 
jeder, auch der kleinſte Ort ſeinen Verein „for the prevention of oruelty to children“ hat, 
zeigt, daß dies das einzig wirkſame Mittel iſt. Dort gehören Kindermißhandlungen jetzt zu den 
Seltenheiten und werden jedenfalls ſofort angezeigt, ehe es zu Kataſtrophen kommt. Warum 
ſoll dies bei uns unmöglich ſein? 

| Unfere Druckſachen ſtehen jedem jederzeit zur Verfügung. Die letzte Mitteilung bringt 
15 Fälle, keine ſenſationellen, wie fie, Gott fei Dant! doch zu den Seltenheiten gehören; es 
iſt weder das Kind von 7 Monaten erwähnt, das mit gebrochenem Oberſchenkel und ver- 
narbten Wunden im Krankenhauſe liegt, noch jenes Mädchen, das als Opfer eines laſter⸗ 
haften Vaters wahrſcheinlich für ihr ganzes Leben phyſiſch und moraliſch zugrunde gerichtet 
ijt. Es find nur die Fälle, wie fie immerfort vorkommen, und die wir nach beſten Kräften 
zu heilen ſuchen. 

Ooch dazu bedürfen wir vieler anſtrengender Arbeit und großer Mittel, und beſonders 
um dieſe möchte ich bitten. Trotz des liebenswürdigen Entgegenkommens der Behörden ge- 
lingt es uns in vielen Fällen nicht, Pflegegelder für unſere Zöglinge zu erhalten, obwohl unſere 
Tätigkeit und beſonders auch unſere vorbeugende Arbeit, auf die wir das größte Gewicht legen, 
überall anerkannt wird. Gerade unfere Arbeit bedingt ſchnelle Hilfe. Wir ſuchen zuerſt die 
Kinder aus ihrer Not zu befreien, und die Beſchaffung der Mittel für ihren Unterhalt iſt erſt 
die zweite Frage. Bis dieſe geregelt ijt, vergehen oft viele Monate, und für viele Kinder wird 
fie überhaupt nicht geregelt, fie muͤſſen auf Koſten des Vereins erzogen werden, wenn fie nicht 
zugrunde gehen ſollen. 


236 Naffeperiobe 1912 


Wir haben ſchon das vergangene Jahr mit einem Defizit abgeſchloſſen, und ein größeres 
droht uns. Darum richte ich an alle, die ein Herz für Kinderelend haben, die dringende Bitte: 
„Helfen Sie uns!“ Wir find für jede, auch die kleinſte Gabe dankbar, denn jede hilft uns, den 
Kampf gegen die Roheit und Gemeinheit weiter führen. 

Marie Sprengel, Gefhäftsführerin des Vereins zum Schutz der Kinder 
vor Ausnutzung und Mißhandlung. 


u 


Naffeperiode 1912 


Kg € ie anormalen Witterungsverhältniſſe des verfloſſenen „Sommers“ haben im Tier- 
unb Pflanzenreiche merkwürdige Folgeerſcheinungen gezeitigt, wie fie der Natur- 
X forſcher feit Jahrzehnten nicht hat beobachten können. 

Gewaltig waren die Regenmaſſen, die während des Sommers 1912 auf die Erde nieder- 
gegangen find. Für Deutſchland geben ein gutes Bild die Niederſchlagsmeſſungen, die feit 
dem Jahre 1897 im botaniſchen Garten der Forſtakademie in Münden täglich vorgenommen 
werden. Dieſe Meſſungen haben ergeben, daß ſeit Einführung derſelben noch kein Monat ſo 
viel Niederſchläge gebracht hat wie der Monat Auguft 1912. Bis dahin war der Juli 1906 
der regenreichſte geweſen, aber dieſer Monat wird mit ſeinen 175 Millimeter Niederſchlägen 
durch den Auguſt 1912, der 200,5 Millimeter Niederſchläge brachte, weit in den Schatten ge- 
ſtellt. Von den 31 Tagen des Monats waren nur 5 regenfrei. An den anderen Tagen waren 
reichliche Niederſchläge zu verzeichnen. Im Jahre 1911 wies der Auguft nur 7 Regentage auf, 
die zuſammen nur 37 Millimeter Niederſchläge brachten. So viel hat diesmal ein einziger Tag, 
nämlich der 24. Auguft, gebracht. In der angegebenen Beobachtungsperiode ift die Negen- 
menge des Monats Auguſt nur viermal über 100 Millimeter bis zur Höhe von 125 Millimeter 
geſtiegen. Sonſt hat ſie ſtets weniger als 82 Millimeter betragen. 

Die Wirkung dieſer Näffeperiode hat fi im Säugetierreich in mannigfacher 
Weile bemerkbar gemacht. In ganz Mitteldeutſchland konnte man beobachten, daß fid) viel- 
fach die Fledermäuſe am hellen Tage aus ihren Verſtecken herauswagten und an halbwegs 
dunklen Orten der Inſektenjagd oblagen. Die Inſekten waren durch Näſſe und Kälte ſtark 
dezimiert, und namentlich die Fluginſekten verließen wegen der beſtändigen Regenniederſchläge 
nur ungern ihren Standort. Dadurch war die Nahrungsaufnahme der Säugetiere, die auf 
Fluginſekten angewieſen ſind, recht beſchränkt, und die Fledermäuſe litten Hunger. Dieſer 
zwang fie zur Jagd zu ungewöhnlichen Zeiten. Sch ſelbſt ſtellte diefe Tatſache zweifellos feft 
in den Kreuzgängen des alten und noch jetzt bewohnten adeligen Oamenftifts in Fiſchbeck bei 
Hameln, das, ſeit 1904 unter der Schirmherrſchaft des deutſchen Kaiſers ſtehend, einen großen 
Kreuzgang - Komplex zwiſchen der ganz wunderbaren altromaniſchen Kirche und den Stifts- 
gebäuden beſitzt. Bei dieſer Gelegenheit fei erwähnt, daß bie Kreuzgänge in den Wefergegen- 
den (Rofter Möllenbeck, Fiſchbeck, Corvey) allgemein dieſem nützlichen Zweck dienten. Wer 
ſich in der Mitte der nicht ſehr breiten Kreuzgänge aufhielt, konnte die niedlichen Flattertiere 
ganz nahe an ſeinem Geſicht vorbeihuſchen ſehen. In Fiſchbeck handelte es ſich, ſoweit ich das 
beobachten konnte, um die große Hufeiſennaſe (Rhin. ferrum equinum) und die 
kleine Zwergfledermaus (Vesp. pipistrellus). Ob Fledermäuſe aus Nahrungsmangel 
zugrunde gegangen find, ließ (id nicht feſtſtellen; die Tiere verkrlechen fid, wenn fie Todes- 
wehen verfpüren, in die unzugänglichſten Winkelchen. 

gm B vo g e lre eid waren es bie Turmſchwalben (Cypselus apus), bie in Maſſen 
dahinſtarben infolge Hungersnot. Die armen Tierchen fanden nicht die genügende gnjeften- 


Der Rampf gegen die Mietskaſernen 237 


nahrung. Eine Reihe von Vögeln, darunter eben wieder die Turmſchwalben, ift in dieſem 
Sabre früher nach dem Süden abgezogen als in ſonſtigen Jahren. Der Cypſelus zieht bei nor- 
malen Verhältniſſen gewöhnlich, und zwar ziemlich konſtant, um beſtimmte Zeitpunkte im 
Auguft (1.—10. Auguft), die nach dem Norden und Süden Oeutſchlands etwas ſchwanken 
(„Unfere einheimiſchen Vögel“, Heimatverlag, Gera). Diesmal hat uns dieſer ſchneidigſte und 
ſtürmiſchſte, unermüdlichſte und ausdauerndſte unſerer Flieger (aber nicht der ſchnellſte, wie 
ihn Dr. Floericke irrtümlich nennt, der ſchnellſte deutſche Flieger iſt ſicher und erwiefener- 
maßen der Lerchenfalke) um 12—14 Tage früher verlaſſen als im vorigen Jahre. 

Im Inſektenreiche war allgemein das verſchwindend ſpärliche Auftreten vieler 
Arten zu beobachten. Bei den Bienen wurden ganz beſondere Beobachtungen gemacht. 
Sie haben allgemein durch ganz Deutſchland hin bereits im Auguft eingewintert. Das ift 
ein ganz ungewöhnlich früher Termin, um zwei Monate zu früh. Dieſe Beobachtung wurde 
z. B. gemacht in den Gebieten von Schaumburg-Lippe, von Kreis Grafſchaft Schaumburg 
rechts und links der Weſer, von Lippe-Detmold. Natürlich haben ſich ja die Tiere durch die 
ſchlechte Witterung, die Näſſe, die in ihrem Gefolge eintretende Kälte — an der mittleren Weſer 
hatten wir anfangs September tagsüber 8 Grad und nachts 5 Grad Wärme — geradezu tau- 
ſchen laſſen. Sie hatten die Empfindung, daß wirklich die kalte Jahreszeit, die wir Winter 
nennen, Iden nahe. Dieſe Empfindung wird m. E. ſowohl den Inſekten wie den Vögeln über- 
mittelt nicht durch den tatſächlichen Beſtand der Temperatur — niedrige Grade —, ſondern 
durch das allmähliche Herabgehen der Temperaturen. Dadurch beſtimmt ſich m. E. auch der 
Termin für die früh abreiſenden Vögel. 

Auch für das Pflanzenreich hat die andauernde Näſſe ungewöhnliche Folgen ge- 
bracht. Vor allem ſchoſſen die Pilze in erſtaunlichen Maſſen aus dem Boden und entwickelten 
ſich hier und da zu ungewöhnlich umfangreichen Exemplaren. So nahm auf dem Eiberg bei 
Calmbach der rote Fingerhut (Digitalis purpurea) in dieſem Fabre infolge der großen Nieder- 
ſchläge über mannshohe Dimenſionen an. Giele Rieſenpilze waren zwar ſehr hoch, aber nicht 
jo kräftig wie in früheren Jahren, ſondern eher ſchmächtig. Die Blütenäfte ſuchten fid viel- 
fach vor Regengiiffen zu ſchützen, indem fie fid) ellenbogenartig einzogen. Noch mehr! Noch 
Ende Auguſt, als die Blütezeit längſt vorüber war, zeigten die Spitzen der Blütenäſte noch 
zahlreiche Blüten, die friſch waren, alſo der Befruchtung harrten, die des allzu häufigen Regens 
wegen nicht vor ſich gehen konnte. Und wie ſuchten ſich dieſe Blüten vor dem Eindringen des 
Waſſers zu ſchützen! Einmal hingen die Glocken abwärts. Da aber nach jedem Regen ganze 
Nebelſchwaden vom Boden ſich erhoben, ſo bogen ſie die Unterlippe ſo ſtark einwärts, daß ſie 
gleichſam einen Oeckel bildete und die Blütenglode vollſtändig verſchloß. An verſchiedenen 
dieſer geſchloſſenen Blüten wurde nun auf der Seite des ſog. Saftmals ein ſtattliches ovales 
Loch ſichtbar, das von irgendeinem znſekt, das die Befruchtung vollzog, herrührte; denn die 
Glocke begann bereits zu welken. Auf dieſe Weiſe half ſich die Natur! 


W. Schuſter, Pfarrer 
e 


Der Kampf gegen Die Mietskaſernen 


ei der Erörterung über den Geburtenrückgang in Deutſchland ijt gerade von Re- 
gierungsfeite der Kampf gegen die Mietskaſerne als eines bet wirkſamſten Gegen- 
mittel gegen die fortſchreitende Verringerung des Geburtenüberſchuſſes bezeichnet 
worden. Inzwiſchen hat die Arbeiterſchaft ſelbſt in aller Stille einen ſehr beachtenswerten 
Vorſtoß nach dieſer Richtung hin unternommen: in Britz, einem Vorort Berlins, iſt ſoeben 
eine Kleinhaus-Siedelung größeren Stils der Benutzung übergeben worden. Damit hat der 


238 Der Rampf gegen bie Mietslafernen 


wichtige ſoziale Verſuch, die an geſundheitlichen Schäden reihe Mietskaſernenwohnung durch 
das Einfamilienhaus zu erſetzen, ihre erſte Erfüllung gefunden. 

Das Terrain, bae die vornehmlich aus gehobenen Arbeitern beſtehende Baugenoffen- 
ſchaft „Ideal“ zu dieſer Anlage verwendet hat, umfaßt rund 50 000 Quadratmeter. Allerdings 
hat der Geviertmeter immer noch 21 Mark gekoſtet, die Quadratrute 300 Mark. Auch ſind der 
Genoſſenſchaft die Baumaterialien deswegen nicht eben billig zu ſtehen gekommen, weil ſie 
in ihren Abmeſſungen und Stärken ganz auf die fünfſtockige Mietskaſerne zugeſchnitten ſind 
und zum Teil beſonders hergeſtellt werden mußten. Um ſo erfreulicher iſt es, daß es trotzdem 
der Genoſſenſchaft gelungen iſt, das Einfamilienhaus an eine Stelle zu ſetzen, wo der weniger 
ſozial denkende und weniger geſchickte Bauunternehmer geglaubt hätte, ohne tajernenartige 
Hochbauten finanztechniſch nicht fertig werden zu können. ; 

Die hauptſächlichen Formen der Wohnungen find nun folgende: 

Eine Wohnung nach Grundriß 1 = Wohnſtube, Küche, großes Schlafzimmer, Rammer 
für zwei Betten, Bad, Warmwaſſerverſorgung mittels Gasdruckautomaten, eigene Waſchküͤche, 
ein eigener Keller, eigener Trockenboden und Garten mit Veranda koſtet monatlich 40 Mark. 
(Nutzfläche 58,10 Quadratmeter.) — Oieſelbe Wohnung mit 64,66 Quadratmeter Nutzfläche 
43,50 Mark. Grundriß 3: drei Zimmer, Rammer, Küche uſw., 68,1 Quadratmeter Nutzfläche, 
51 Mark. Grundriß 4: neben Küche und zwei Kammern drei große Zimmer, 79,1 Quadrat- 
meter Nutzfläche, 60 Mark. Grundriß 5 mit etwa drei Quadratmeter Nutzfläche mehr 61 Mark. 

Man ſieht: am Preis hapert es noch. Innerhalb der Stadt wird der Arbeiter, auch 
der beſſere, weniger Mietzins zahlen. Aber einmal iſt nicht zu vergeſſen, daß hier ein erſter 
Verſuch vorliegt, bei dem die Schwierigkeiten der Kalkulation naturgemäß noch nicht nach 
allen Richtungen hin ermeſſen werden konnten. Dann aber iſt mit Beſtimmtheit anzunehmen, 
daß der Arbeiter das, was er am Einfamilienhaus mehr ausgibt, an anderen Stellen ſeines 
Etats wieder wird einbringen können, vielleicht ſchon am Wirtshausgehen. Was treibt ihn 
denn vor allem in die Wirtſchaften? In erſter Linie doch die bedrückende Enge der Miets- 
kaſernenwohnung! Wie anders beim Einfamilienhaus, wo er fein eigenes Stückchen Land 
hat. Wie ſehr ſich gerade der Arbeiter nach der eigenen Scholle, ſei ſie auch noch ſo klein, ſehnt, 
beweiſt wohl der Umftand zur Genüge, daß auf die 87 Wohnungen, die bis jetzt fertiggeſtellt 
find, Ober 500 Meldungen vorliegen! 

Sehr intereſſant ijt auch, wie die Genoſſenſchaft die mitunter fepe drückenden Be- 
dingungen der Geldgeber fid) fernhält. Man ift da zur Einführung von ſogenannten Sammel- 
hypotheken geſchritten, d. h. die Mitglieder legen nach beſtem Vermögen ihre Erſparniſſe 
zuſammen und bilden aus dieſen Beträgen eine fidere Hypothek, die ihnen dieſelben Zinſen 
abwirft wie die Sparkaſſe. 

Es käme nun darauf an, nächſt dem gehobenen auch dem weniger gut ſituierten Arbeiter 
die Möglichkeit zu verſchaffen, daß er die Flucht aus der Mietskaſerne in ein menſchenwürdiges 
Heim antreten kann. Hier wäre der Punkt, wo die Staatshilfe eingreifen müßte, ev. mit 
einem Geſetz. In erſter Linie wären die Wohnungsbaugenoſſenſchaften in jeder Hinſicht zu 
fördern, dann müßten ihnen Mittel zur Bautätigkeit gewährt werden, etwa dadurch, daß 
man ihre Bauten beleiht, und zwar vor allem zur zweiten Stelle. Anſiedlungspläne ſind in 
großem Maßſtabe zu entwerfen und feſtzulegen, das Verkehrsnetz iſt viel dichter zu geſtalten 
und das Erbbaurecht müßte eine umfaſſende Ausdehnung erfahren. 


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e Die hier veröffentlichten, bem freien Meinungsaustauſch dienenben C 
Einfenbungen find unabhängig vom Standpunkte des Herausgebers 
„Zum Schutze des bedrohten Deutſchtums“ 


Ze aC et fo benannte Aufſatz von Otto Seidl im Aprilheft bes Türmers 1912 ift — das 
wage ich nach dem Urteil vieler Lefer zu behaupten — von der großen Mehrheit 
der oſtdeutſchen bitter empfunden worden. Woher nimmt Seidl das Recht unb 
den Mut, die Tauſende nichtdeutſcher Preußen, die alljährlich auch heute noch in Oberſchleſien, 
Maſuren, auch in Poſen und Weſtpreußen ſich dem deutſchen Weſen zuwenden, eine „Bande 
ze rmüͤrbter, entarteter, geſinnungsloſer Lohndrücker und Faulenzer“ zu nennen? 

Wir Oſtelbier wiſſen ſehr genau, daß wir Miſchblütige, Slavogermanen ſind und mehr 
oder weniger ſlaviſches Blut in unſern Adern haben. Unſere Vorväter erlebten und wir durch- 
leben heute noch alle jene Zuſtände, die der Verfaſſer fern vom Schuß als „Entrechtung, 
Mißhandlung, ſittliche Bedrohung, Schädigung und Raub des letzten, treu verteidigten Reftes 
wahren Menſchentums“ vim, bezeichnet. Millionen unſerer Väter haben im Lauf der Jahr- 
hunderte, worin es — ich erinnere nur an die Kämpfe gegen Wenden und Altpreußen — 
noch viel entrechtender und gewaltſamer zugegangen ijt, das „heilige Erbgut“ ihrer Mutter- 
ſprache aufgegeben oder aufgeben müffen, Mit deutſcher Geſittung und dem Zuſchuß deutſchen 
Blutes haben wir deutſche Sprache und Bildungsgüter angenommen. Aber was ſtark und 
gut in uns war, haben wir uns zu erhalten gewußt, trotz alledem. 

So ſind wir ein Stamm eigener Art geworden, wir Oſt- und Weſtpreußen, Poſener, 
Pommern, Brandenburger, Schleſier, und ſind ſtolz auf unſern gemeinſamen Preußennamen, 
der von jenem dahingegangenen Volke auf uns gekommen iſt. Wir Slavogermanen ſind 
aber auch ſtolz auf das, was wir hier im Oſten für das Reich leiſten konnten. Die Geſchichte 
des Jahres 1813 und das darauf folgende Jahrhundert reden dafür eine beſonders eindringliche 
Sprache. Wir räumen unſern weſtdeutſchen Brüdern gern ihre ältere und ausgeglichenere 
Kultur ein; wir ſind ihnen von Herzen dankbar für alles, was ſie uns in Jahrhunderten durch 
immer neue Ströme deutſchen Blutes und Lebens gegeben haben, aber wir weiſen es mit 
aller Schärfe zurück, wenn Seidl fid) herausnimmt, aus dieſen Kämpfen erwachſene Volks- 
genoſſen eine „zermürbte, entartete, geſinnungsloſe Bande“ zu nennen. Denn zu ſolchem 
Schluß zwingt fein Urteil (? ©. T.). 

Wir Oftelbier haben ferner im Gegenſatz zu Seidl noch heute den unerfhütter- 
lichen Glauben, daß es uns doch gelingen wird, den noch widerſtrebenden Teil unſerer 
andersſprachigen Mitbürger einzudeutſchen, und zwar auf eben dem Wege, den wir jetzt gehen 
bemjelben, der feit Jahrhunderten mit Erfolg begangen worden ift. 

Wodurch ſind die Gebiete öſtlich der Elbe zurückgewonnen worden? Nicht allein durch 
das Schwert, ſondern dadurch, daß deutſche Bauern, Bürger und Ritter kamen, ſich an- 


240 „Zum Schutze des bedrohten Oeut(dturte * 


ſiedelten, mit den Eingeborenen vermiſchten und ſie mit emporzogen. Daran iſt nicht zu 
zweifeln; denn wo auch nur ein Teil, wie z. B. der Bauer in den ruſſiſchen Oſtſeeprovinzen 
und in Oberſchleſien rechts der Oder, ausblieb, iſt auch die Eindeutſchung ausgeblieben. 

Dieſe alte völkiſche Durchdringung und Blutmiſchung beſteht mit derſelben Wirkung 
trotz der veränderten Zeitlage noch heute, und fie mu ß weiterbeſtehen; denn fie iſt das vor- 
nehmſte, um nicht zu jagen einzige Mittel für bie Eindeutſchung, ohne das eine ſolche voll- 
ſtändig ausgeſchloſſen iſt. Denn nur wo das Blut die Kulturarbeit düngt, kann der ausgeſtreute 
Same Frucht tragen. Das weiß man nicht nur in Preußen. Der deutſche Schutzverein „Süd- 
mark“ für die öſterreichiſchen Alpenländer betreibt, wie aus ſeiner ſtändigen Anzeige in der 
„Deutſchen Erde“ hervorgeht, feit 1905 gleichfalls deutſche Anſiedlung an den Sprachgrenzen, 
und ſicher nicht ohne Grund. 

Trotzdem gibt Seidl fid herbei, von einer heutigen ,tórid ten Anfiedlungs- 
politik“ zu ſprechen. Von uns Oſtmärkern, die wir auf halbem Wege zum Ziel ſtehen, 
will er Anſiedler fernhalten; dagegen legt er ſich ins Zeug für die auf halbverlorenem Poſten 
in Galizien hart kämpfenden deutſchen Bauern. 

Ehre jenen kühnen Männern, die ausbarren bis zum Ende, und Dank bem Verfaſſer, 
daß er ein Herz für ſie hat! Niemand kann die bedrängte Lage jener deutſchen Pioniere beſſer 
verſtehen, als wir Oſtmärker, die wir in gleicher Front kämpfen. Aber es kann im Kriege nötig 
ſein, einmal einen zu ſehr bedrängten Vorpoſten zurückzuziehen, um andere Stellungen dadurch 
zu ſtärken. Es dürfte doch wohl bekannt ſein, daß Tauſende dieſer bedrohten Deutſchen, auch 
aus Galizien autüdtebrenb, gerade im Bereich der geſchmähten preußiſchen WAnfiedlungs- 
kommiſſion eine neue Heimat und Anerkennung gefunden haben (ſ. „Oeutſche Erde“ 1911, 
S. 1211). 

Hiermit foll aber durchaus nicht gefagt fein, die Deutſchen in Galizien täten beffer, 
ihren Poſten aufzugeben. Sie denken auch gar nicht daran. Dasſelbe gilt von unſern tapfern 
deutſchen Brüdern in Böhmen, Mähren, Ungarn, Steiermark und Tirol. Welch ein friſch⸗ 
freudiger Zug geht durch deren Oeutſchbewußtſein, feine Außerungen und Opfer! Sie können 
ohne den Kampf, der ihre beſten Kräfte wachruft und vermehrt, gar nicht leben, und ähnlich 
denkt der „echt preußiſche Oſtmärker“. 

Nur find unfere auswärtigen Brüder in der günſtigeren Lage, dämpfen zu 
müffen, während uns Reichsdeutſchen die Volksnot ſcheinbar noch nicht bis zum Halſe 
geſtiegen iſt, ſo daß wir mit der letzten Kraft dem Gegner an die Kehle fahren. Wir haben 
noch ſo viel Muße, daß jene Vertreter „wahren Menſchentums“, die ſich unter ſozialiſtiſcher, 
liberaler und ultramontaner Rappe bergen, es fertig bekommen, den eigenen kämpfenden 
Volksgenoſſen immer wieder in den Kücken zu fallen mit der Weisheit jenes Weltbürgertums, 
das die Hottentotten liebt, um der Pflicht enthoben zu ſein, zuerſt ſeine Volksgenoſſen zu 
lieben. Das muß einmal geſagt werden. — 

Wenn daher der Kampf in der preußiſchen Oſtmark bisher noch nicht den erwarteten 
Erfolg gehabt hat — wozu ein Jahrhundert auch nicht ausreicht —, ſo iſt das mit in erſter Linie 
der „Rückendeckung folder Freunde“ zu danken. Ihr ijt es auch zuzuſchreiben, daß bie deutſchen 
Katholiken in Poſen ſich vom Zentrum losſagen und zu eigenen Vereinen zum Schutze ihres 
Volkstums zuſammenſchließen mußten. Daß nach Seidl die preußiſche Polenpolitik das Zentrum 
„geradezu gezwungen habe, dieſe Katholiken den Polen auszuliefern“, iſt eine durch nichts 
bewieſene Behauptung. Hier ſpielt nur üble Parteipolitik des Zentrums mit, das die nationale 
Frage der Oſtmark zu einer konfeſſionellen ſtempeln will und endlich jetzt nach den aus- 
giebigſten Anpöbelungen durch die Polen anfängt, ſich leiſe eines beſſeren zu beſinnen. 

Die galiziſchen Deutſchen denken gar nicht daran, wie Seidl meint, die preußiſche 
Polenpolitit dafür haftbar zu machen, daß bie erzürnten Polen es jene „armen, vergeſſenen, 
verratenen Geiſeln des Deutſchtums“ (Seidl) „ent gelten“ laffen. 


„Zum Schutze bes bebrobten Oeutſchtums“ 241 


Seidl beruft fid) hier auf eine Anzeige des „Bundes der chriſtlichen Deutſchen in Gali- 
zien“, die 1908 in der „Oeutſchen Erde“ erſchien. Die Wendung „entgelten“ ſtimmt, aber 
nur für das erſte Jahr nach der Gründung des Bundes, ficher lediglich zu Werbungszwecken. 
Sene Anzeige erſcheint auch heute noch in jedem Heft derſelben Zeitſchrift, aber das Mert- 
würdige ift, ohne dieſen von Seidl als Beleg für (eine Behauptung aufgeſtellten Abſatz! Sollte 
er das überſehen haben? 

Ein Oeutjdbóbme fagte mir einmal vor etlichen Jahren: „Schaun's, 's ift doch halt 
gut, daß wir dieſe böhmiſchen Wenzel bei uns haben; da weiß man doch und hat fein’ Freud’ 
dran, daß man ein Oeutſcher iſt! Man reibt ſich, daß es Funken und — blanke Stellen gibt!“ 

Schon aus dieſem Grunde möchte man unſern lieben ſüd- und weſtdeutſchen Brüdern 
eine erkleckliche Zahl unſerer polniſchen Mitbürger zwecks Blutmiſchung zuſchicken. Jene würden 
dann nicht nur auch unjte Lage beſſer verſtehen lernen, ſondern gleicherweiſe dazu erkennen, 
daß es einem Volke mit höherer Kultur wohl möglich iſt, auch heute noch und trotz der größeren 
Zugend der polniſchen Raffe, diefe mit der Zeit aufzuſaugen. Die Polen können fid der 
deutſchen Kultur gar nicht entziehen, ſo ſehr ſie es auch möchten und ſelbſt die darin für ſie 
liegende Gefahr erkennen. Der Slave, und nicht nur der preußiſche, hat eben ſeine Kultur 
vom Germanen, und je mehr er fie aufnimmt, deſto widerſtandsloſer wird er gegen die Ein- 
deutſchung. Das wird auch in der Oſtmark zutage treten. 

„Welche Kultur?“ fragt natürlich der eingefleiſchte Gegner „der preußiſchen Junker 
und ihrer Neaktionspolitik“; denn auf diefe hat es Seidl trotz feiner anfänglichen Ableugnung 
abgeſehen. Anſiedlung, Enteignung, Vernichtung der Mutterſprache und anderes Schlimme 
mehr, find das Rulturtaten? Über die Anſiedlung habe ich ſchon vorher geſprochen; ich fordere 
ſie als dringend notwendig auch für Oberſchleſien. Die Enteignung läßt ſich ohne jede Härte 
leicht anwenden; zur Freude aller Oftmarter foll fie jetzt endlich in die Erſcheinung treten. Die 
Mutterſprache wird niemand geraubt; das könnte auch ohne eigene Entſchließung des einzelnen 
gar nicht geſchehen; aber der Zwang, in der Volksſchule die deutſche Staatsſprache zu erlernen, 
ijt notwendig, denn es handelt fid) hierbei nicht nur darum, daß der Staatsbürger jpäter feine 
Pflichten als ſolcher erfülle, ſondern auch ſeine Rechte wahrnehme und wirtſchaftlich vorwärts 
komme. Das kann er aber ohne die Kenntnis der Staatsſprache nicht. 

Was außerdem ſonſt noch in der Oſtmark kulturell geleiſtet wird, auf dem Gebiete der 
Volksbildung durch Volksbüchereien, Fortbildungsſchulen, Zugendfürforge uſw., ferner auf 
wirtſchaftlichem Gebiete durch Genoſſenſchaften, Volksbanken, Meliorationen und andere 
Einrichtungen, das haben bie füd- und weſtdeutſchen Parlamentarier, die jüngſt den Often 
bereiſten, tüdbaltíos als wahre Kulturtaten anerkannt. 

Hier iſt auch der Ort, immer wieder hervorzuheben, daß der Kampf der preußiſchen 
Polenpolitik durchaus nicht dem preußiſchen Polentum in ſeiner Geſamtheit gilt, am wenigſten 
jenem Teile, der durchaus ſtaatstreu ift, ſondern den gewerbsmäßigen Hetzern und Schürern, 
die die Ordnung des Staates untergraben und offen ihr Ziel bekennen, auf den Trümmern 
des preußiſchen Staates ein neues Polenreich aufrichten zu wollen. Dieſen „böſen polniſchen 
Bengeln“ aber können nicht genug, und zwar recht dicke, „Holzſcheite an die Köpfe geworfen 
werden“; denn nur für eine feſte Hand hat der Pole Verſtändnis. Milde heißt bei ihm Schwäche. 
Dieſe Wahrheit weiß im Oſten jedes politiſche Kind. 

Darum iſt auch das unſelige Schwanken und Hin- und Hertaſten, das es bald mit Milde, 
bald mit Schärfe verſuchen will, vom Übel und ſtellt alles in Frage. Man trägt auch eine ſchwere 
Laſt, wenn ſie ruhig auf den Schultern liegt. Man bricht darunter zuſammen, ſobald ſie fortgeſetzt 
verſchoben wird. Guter Wille mit feſter Hand zieht allein die Richtlinien unſerer Polenpolitik. 

Und nun noch einmal zu dem Haupt vorwurf aus den Ausführungen Seidls. „Pie preußiſche 
Polenpolitik erzeugt und fördert die Slavenflut; unb die Oeutſchen in Böhmen und Galizien, 


deren Behandlung eine Schmach für unfer deutſches Volkstum ijt, find Opfer diefer ne 
Der Zürme . 2 


2A2 „Zum Schutze des bedrohten Oeutſchtums“ 


Das iſt falſch und richtig zugleich. Jeder aufmerkſame Politiker weiß, daß die nationale 
Strömung unter allen Völkern nie ſo heftig geweſen iſt wie heute. Es iſt billig, aber ungerecht, 
auch dafür die preußiſche Polenpolitik verantwortlich zu machen. Richtig iſt vielleicht, daß die 
Anſiedlung mit dazu beiträgt, die Polen nach alten, rein deutſchen Gegenden zu treiben, ob- 
gleich polniſches Volk (don lange vor Beginn ber Anſiedlung in die Großſtädte und Fnduftrie- 
gebiete des Weſtens ging, und zwar lediglich der beſſeren Lohnverhältniſſe halber. 

Aber bae ift ja gerade das Gute. Unſere lieben weſtlichen Brüder follen auch ihre 
Freude dran haben, uns ein klein wenig am Eindeutſchen zu helfen, wenn ſie dabei vielleicht 
auch etwas aus ihrer Behaglichkeit kommen. Und wenn ſie auch, wie die liebenswürdigen und 
etwas bequemen Wiener, über die zugewanderten böhmiſchen Köchinnen und tſchechiſchen 
Handwerksgeſellen in Aufregung geraten, macht nichts! Sie werden doch alle miteinander 
mit jenen fertig werden. Nur Geduld und Feſtigkeit. So dürftig ift allerdings auch ein böh- 
miſcher Schneidergeſelle nicht, daß er fid) beim Anblaſen in Luft auflöft, ber polniſche Berg- 
häuer ebenſowenig. 

Daß bie deutſche Regierung nun nicht in der Lage ijt, (id) der vergewaltigten Oeutſchen 
in Böhmen und Galizien anzunehmen, mag an ſich zu bedauern ſein. Aber würden wir um- 
gekehrt uns eine Einmiſchung eines fremden Staates in unſere innere Politik gefallen laſſen? 
Oder hätten wir ein größeres Recht der Einmiſchung, wenn wir unſere Polen mit Samthand- 
ſchuhen anfaßten? Als einen ſonderbaren inneren Widerſpruch muß ich es bezeichnen, wenn 
Seidl einmal die Regierung tadelt, weil fie für die Deutſchböhmen im Auslande nichts tut, 
das andere Mal, wenn ſie mit Kraft für ihre eigenen Inlandsdeutſchen eintritt. Das heißt, 
die Dinge auf den Kopf ſtellen. 

Es gibt aber einen andern Weg, unſern Brüdern drüben zu helfen. Warum immer 
nach der Regierung ſchreien? Sind wir alle nicht Volks und Manns genug, um, jeder fir 
ſich, mit Rat und — Tat beizuſpringen? 

Der deutſche Schutzverein „Nordmark“ für Sſterreichiſch-Schleſien, der „ohne jede 
politiſche Tätigkeit nur auf völkiſch-wirtſchaftlichem Gebiet ſein Ziel zu erreichen ſucht“, erklärt 
in feiner Anzeige in der „Deutſchen Erde“: „Bei kräftiger (wirtſchaftlicher) Anterſtützung wäre 
an dem Siege der Oeutſchen im Lande nicht zu zweifeln“, trotz der namhaften Zuwendungen, 
die die ſlaviſchen Gegner vom Auslande her erhalten. Die „Nordmark“ beklagt ſich aber mit 
Recht bitter, daß fie aus dem Reiche faſt gar nicht unterſtützt wird. Der Slave iſt eben opfer- 
freudiger als der Deutfche, beſonders wenn dieſer im Warmen fist. 

Darum tue deinen Beutel auf, reichgewordener deutſcher Wichel, und ſpende reichlich 
dem Bunde der Oeutſchen in Galizien, den Schutzbünden der Deutſchen in Böhmen, Mähren, 
Oſterreichiſch-Schleſien, dem Deutſchen Schulverein und — vergiß auch den Deutfhen Oft- 
markenverein nicht! Alle dieſe Schutz- und Wehrvereine ſind ausgezeichnet organiſiert, und 
namhafte Spenden werden für fie von größerem Nutzen fein, als gute Ratſchläge ausländiſcher 
Regierungen. Aber geben mußt du, Michel, geben! Und darfſt dich nicht entrüſten, daß eine 
Sache ſchief geht, weil — du die Taſchen zugehalten haſt, trotzdem du im ſichern Frieden ſitzeſt. 

Und nun zum letzten! Die preußiſche Polen politik, die nach Seidl, durch den alldeutſchen 
Gedanken den deutſchen Michel für die preußiſche Reaktionspolitik einzufangen beabſichtigt“, 
hat ganz abgewirtſchaftet. „Ihren Erfindern und Befürwortern ſinkt das heilige Banner 
aus der Hand.“ 

Nein, Herr Verfaſſer! Hoffen Sie weder das eine, noch fürchten Sie das andere! Wir 
werden unbeirrt, ob mit oder ohne Regierung, ſtandhalten, trotz der verderblichen Rückenangriffe, 
die einem in der Hoffnung auf den endlichen Sieg ehrlich Kämpfenden den Glauben aus der 
Bruſt reißen wollen! — 

Weil ſie eben preußiſch iſt, verdammt Seidl die geſamte Polenpolitik in Grund und 
Boden. Das iſt leicht. Ausführbare Vorſchläge zu Verbeſſerungen gibt er nicht; denn das 


Sie moderne theofophifhe Bewegung | 243 


ift Schwer. Deshalb Schweigen. Nur ein Grundgedanke klingt zwiſchen den Zeilen heraus: 
Sei ſchön artig und beſcheiden gegen die böſen Polen; denn ſie könnten es dir übelnehmen 
und zum ruſſiſchen Panſlavismus übergehen. Und weiter folgernd: Sei auch (din artig gegen 
die Dänen, und die Französlinge im Elſaß und, weiß Gott, gegen wen ſonſt noch! Dann 
biſt du ein braver Kerl, Michel; dann loben dich die andern, umarmen dich und ziehen dir dabei 
deine letzten Groſchen aus der Lafde. Ä 
Aber wir Oſtmärker halten da nicht mit; denn wir find es anders gewöhnt. Jahrhunderte 
ſtehen wir auf unſerm Vorpoſten und werden's, ſo Gott will, auch weiter unverzagt aushalten. 


Robert Kurpiun 
Ar» 


Die moderne theoſophiſche Bewegung 
Ke Oe Septemberheft des Türmers nimmt Friedrich Lienhard Stellung zu meiner 
y 25 Arbeit über „Die moderne theoſophiſche Bewegung“. (XIV. Zahrg., Heft 11.) 
es feien mir einige Worte der Erwiderung vergönnt: Schon der Titel, den Lien- 
hard ſeinen Bemerkungen gibt, zeigt den Unterſchied zwiſchen dem von ihm und dem von mir 
gemeinten Thema. Er beſchränkt ſich auf „Steiners Theoſophie“. Dieſe neueſte Abart re- 
prájentiert jedoch keineswegs die geſamte moderne theoſophiſche Bewegung, die darzuſtellen 
ich mir als Aufgabe geſetzt hatte. Mit Steiners Theoſophie iſt denn dieſe Bewegung doch nicht 
erſchöpft; ſie iſt an Erſcheinungsformen weit reicher, als Lienhard zu meinen ſcheint. Daß 
jede einzelne dieſer Formen eine eingehende Behandlung verdient, iſt zuzugeben, ſie kann aber 
nicht im Rahmen einer allgemein orientierenden Abhandlung geboten werden. Zudem ift 
Steiners Syſtem, wenn es auch von dem Blavatzkys in manchen Punkten abweicht, ohne 
dieſes nicht denkbar. Ehe aber Einzeldarſtellungen möglich find, müſſen die allgemeinen Grund- 
lagen aufgezeigt werden. 

Die weiteren Ausführungen Lienhards, die in der Frage gipfeln, ob die Menſchheit 
auf ihrem ferneren Entwicklungsgange nicht dahin kommen ſollte, allmählich Organe fiir die 
unſichtbare Welt auszubilden, ſind durch den Hinweis in meiner Arbeit, daß „die Subjektivität 
des innerlichen Schauens auch durch eine Mehrzahl von Schauenden nicht in Objektivität ver- 
wandelt wird“, im voraus erledigt worden. Hier noch dies: Gewiß mögen ſich im Laufe der 
Entwicklung Organe ausbilden, die allgemein Wahrnehmungen ermöglichen, die jetzt noch 
der überwiegenden Mehrheit der Menſchen ſich entziehen. Soweit aber ſolche Wahrnehmungen 
heute ſchon von dazu beſonders begabten oder geſchulten Individuen gemacht werden, welchen 
andern als ſubjektiven Wert können fie für die Allgemeinheit haben, ſobald eine objektive Nach- 
prüfung unmöglich iſt. Und derartige Schauungen, die Steiners wie aller Seher, ſind nicht 
objektiv nachprüfbar. Denn diefe Schauungen — und das ſagt jemand, der ihre 
Methodikkennt und erprobt hat — vollziehen fid) auf eine Weiſe, die weit jen- 
feits des gewohnten menſchlichen Denkens und Vorſtellens liegt. Soll aber das Wahrge- 
nommene mitgeteilt werden, ſo muß es ſelbſtverſtändlich in die üblichen Formen unſeres Denkens 
und Vorſtellens überführt, es muß alſo verwandelt, ja man kann geradezu fagen: verfälſcht 
werden. Wer ſich darüber klar iſt, und feinem Bildungsgange nach ſollte Steiner darüber im 
klaren fein, der ſchweigt über feine Schauungen ober er redet von ihnen in Bildern und Gleich- 
niſſen, doch unter ſtändiger Betonung, daß es nur Gleichniſſe und Bilder find. Steiner hin- 
gegen behauptet die annähernde Richtigkeit ſeiner Schilderungen. Wer das tut, deſſen Wirken 
ſollte man, bei aller Großzügigkeit ſeines Syſtems, füglich nicht dem Lehren eines Eucken und 
eines Johannes Müller, ſondern weit eher dem Auftreten Caglioſtros gleichſtellen. 


Hans Freimark 


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Vom ſterbenden Manne Der aus der Hand ge- 


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_©urmers Oagebu 
Diplomaten⸗Dämmerung Eine ruſſiſche Satrapie - 
ſchlagene Trumpf England als Erzieher Warum 
jie bleiben Vivant sequentes! 


uns herrlich geſichert, doppelt geſichert hat! Heil dem Offizioſus, 
dem Ewiggleichgeſtellten, Ewiggeſtrigen, der uns dieſe Schalmei 
= flötet. „Der andere aber geht und — weint.“ Ein grengenlofes 
Mißtrauen bei den „Geſicherten“: „Wer etwas zu verlieren bat," [iet man in 
den , Deut. Nachr.“, „ſtürzt zur Börſe und verkauft fein Beſitztum um jeden Preis. 
Wer Schulden einzutreiben hat, wird rigoros, denn übermorgen könnten die Kriegs- 
glocken, die den Weltbrand einläuten, das ganze Wirtſchaftsleben zum Stillſtand 
bringen. Wo ein paar Staatsmänner oder ſonſt Regierungsbefliffene zu einem 
Bankett zuſammenkommen, da wird bei weit geöffneten Fenſtern der Weltfriede 
betoaſtet, als erlebte dieſer jetzt den größten Ehrentag, den ihm je die dankbare 
Menſchheit geweiht. Die Börſenkommiſſare von Wien und Petersburg ſchlagen 
im Auftrage ihrer Regierungen Affichen auf Affichen an, in denen uns ſchwarz 
auf weiß bie ‚ſoeben aufs neue feſtgeſtellte Einigkeit der Großmächte“ verkündet 
wird. Und der Effekt all dieſes Aufwandes? Ein grotesker, faſt blutiger Witz: 
je lauter die Regierungen dieſer Großmächte ihre unbedingte Einigkeit künden, 
je ſicherer feint den Regierten der Krieg zu fein... 

Die Menſchheit von heute hat zu der Kunſt ihrer Diplomaten alles Zu- 
trauen verloren. Zur Kunſt ihrer Diplomaten und zu den Kundgebungen der 
Regierungen, ſoweit ſie ſich auf die internationale Politik erſtrecken. Es iſt eine 
andere Frage, ob der Weltfriede für diefe Regierungen, die ja bei einem Welt- 
krieg nicht weniger als alles auf das Spiel ſetzen würden, diesmal nicht wirklich 
das heißerſehnte, wenn auch durch die Fehler der Vergangenheit längſt ſchwer ge- 
fährdete Ziel ift. Aber jetzt rächt fid die Heuchelei, die für Großeuropas 
Auslandspolitit heute mehr denn je das Bezeihnende ift. Jetzt rächt es ſich, 


Zürmers Tagebuch 245 


daß auch die großen parlamentariſch regierten Völker, was bie Ziele unb die Ab- 
ſichten der internationalen Politik angeht, in einem Lande mehr, im anderen Lande 
weniger in einem nur von gelegentlichen Überraſchungen erhellten Dunkel tappen. 
Rächt fih, daß das Ewig-Diplomatiſche auch heute noch als die große Kunſt mehr 
oder minder kultivierter Hinterhältigkeit empfunden wird. RNächt fid, daß die 
Regierungen das eigene, Auskunft heiſchende Volk allzuoft bis zum letzten Augen- 
blick mit nichtsſagenden Phraſen abſpeiſten, daß noch jeder von den Diplomaten 
langerhand vorbereitete Krieg für das Volk, das dann „begeiſtert“ ſeine Söhne 
hergeben mußte, auch nichts weiter als eine, Aberraſchung“ war, und daß vor allem 
Europens Großdiplomatie von heute ein fo ungeniert doppeltes Geſicht, ein Ge- 
ſicht ſanfter Friedensliebe und drohender Kriegsbereitſchaft trägt. 

Was ift dem Volk? Wir, Europas Staatsmänner, ſchwören es doch täg- 
lich mit neuen Eiden: Wir haben uns über die Erhaltung des Friedens geeinigt. 
Was iſt dem Volk? Es taumelt angſterfüllt zu den Märkten, als gälte es, ſich mit 
Riefenverluften für unentrinnbare Kriegsnot zu rüſten. 

Sa was ift über die Völker Europas gekommen? Nicht die Lie be 
zum Krieg. Dieſer war der Menſchheit noch nie verhaßter, denn 
heute. Und daß ſelbſt in dem am Balkan intereſſierten Rußland und in dem 
noch mehr intereſſierten Ofterreid) der Gedanke an kriegeriſche Eroberungen irgend- 
wie volkstümlich wäre, wagen dort ſelbſt die ſkrupelloſeſten Kriegsfanatiker nicht 
zu behaupten. Aber die Völker find, nachdem man der zeitgemäß überlaut beton- 
ten Friedensliebe der Regierungen lange genug geglaubt, allmählich ſehend ge- 
worden. Wenn ſich die Möglichkeit ergab ein Stückchen Landzuwachs ſchnell und 
unverſehens in Sicherheit zu bringen, bat jid) bis auf Deutſchland, das die Ehrlich- 
keit ſeiner Friedensliebe im Falle Marokko der Welt deutlich genug bewieſen, noch 
jede europäiſche Großmacht ohne Zögern zum Kriege entſchloſſen. „Wenn wir 
von euch Völkern immer neue Rüſtungsopfer fordern, fo geſchieht dies nur zur 
Erhaltung des Friedens ... Ward den Parlamentariern in Nom je etwas anderes 
gejagt? Und hinderte das die Verantwortlichen Ztaliens, mit den zur Wahrung 
des Friedens bewilligten Geldern einen Länderraubzug primitivfter Ordnung zu 
unternehmen? Und jetzt im öſterreichiſchen Nachbarſtaat, deffen Staatsmänner bei 
allen Heiligen beteuern, daß Sſterreich unter allen Umſtänden neutral bleiben 
würde? Gibt es eine ungeniertere unb ſchlagendere Widerlegung der eigenen Friedens- 
beteuerung, als derſelben Staatsmänner hochheilige Verſicherung, einen Einmarſch 
der Serben in das türkiſche Sandſchakgebiet mit Waffengewalt hindern zu wollen? 

Die in dieſer Stunde eiligſte Forderung ber Nachtragskredite für die fchleu- 
nigſte Erweiterung von Sſterreich- Ungarns Wehrmacht geſchieht — Graf Berd- 
told legt feine Hand dafür ins Feuer — zwecks ‚befjerer Erhaltung des Friedens‘. 
Wer glaubt es? Und wer außer den Herren Diplomaten die an die ſtumpfſinnige 
Leichtgläubigkeit Europas auch nach den Fällen Tripolis und Herzegowina noch 
ſolche Anſprüche ſtellen, wundert ſich darüber, daß ſich das wirtſchaftliche Europa 
angeſichts ſo abgeſchmackt wirkender Friedenskundgebungen und der ausgeſucht 
jetzt fällig gewordenen „Probemobilmachungen“ in Ruſſiſch-Polen Hals über Kopf 
zum Weltkriege rüftet? 


246 Zürmers Tagebuch 


Alle Kultur, alles Menſchheitsempfinden, alles Verantwortlichkeitsgefühl dem 
künftigen Geſchlechte gegenüber empört fid) gegen den Gedanken. daß zur Be- 
friedigung internationaler Landgier noch heute Menſchenblut in Strömen fließen 
ſoll. Aber vorläufig ſcheint es der Völker unentrinnbares Schickſal zu ſein, daß die 
Ausſicht auf ein bißchen Provinzzuwachs ſelbſt in den ziviliſierteſten Staaten des 
Erdenrunds jeden Kulturwillen auszuſchalten vermag.“ 

* * 
* 

Ach ja, die ollen, ehrlichen Großmächte! „Wir und die Ruffen machen zu- 
fammen 120 Millionen Seelen“, antwortete einem „beſtunterrichteten“ Rorrefpon- 
denten der „Berl. Volksztg.“ der Woiwode von Nieta, als jener ihn nach der Ein- 
wohnerzahl der Schwarzen Berge fragte: 

„Am 27. Auguſt 1910 überreichte der Großfürſt Peter Nikolajewitſch im 
Auftrag des Zaren Nikolaus II. dem König Nikita Petrowitſch Njegos in Cetinje 
den Marſchallſtab als Zeichen der höchſten militäriſchen Würde Rußlands; dadurch 
wurde der Montenegrinerkönig „,„Generalfeldmarſchall' 
über die 37 Armeekorps des ruſſiſchen Reiches. Als der 
Gefeierte auf den Balkon ſeines ſchlichten Wohnhauſes trat, begrüßte ihn der 
jubelnde Zuruf von zweihundert ruſſiſchen Marineſoldaten, die mit ihren Gewehren 
von Antivari nach dem alten Kloſterdorf der Zernagora hinaufgeſtiegen waren, 
um vor allen Geſandten Europas darzutun, daß fortan die Matroſen aus der Krim 
und aus dem Baltenland mit den Söhnen der Schwarzen Berge in ein und der- 
ſelben Armee dienen. Beide tragen die gleiche Uniform. Die maleriſche Tracht 
der Zernagorzen wurde auf ruſſiſchen Befehl abgeſchafft, weil ſie mit ihren grellen 
Farben (weiß-rot-blau) für die modernen Gewehre auf die Entfernung von 2000 
Metern ein allzu deutliches Treffobjekt abgab. Zuſammen mit den graugrünen 
Uniformen nach ruſſiſchem Schnitt kamen aber aud das ruſſiſche Regle- 
ment und die ruſſiſche Sprache als Kommandoſprache. 
Als abſoluter Inſtruktor des montenegriniſchen Heeres amtet ſeit vier Jahren 
der Oberſt Nikola Potapow, der alsbald dem Geſandten P. W. Maccimow als 
Militärattaché zugeteilt wurde, auf daß das Kind ſeinen rechten Namen bekomme. 
10 Gebirgsbatterien und 36 Maſchinengewehre find als Geſchenk dem Zaren Nito- 
laus II. öffentlich verdankt worden. Da jedoch der Zar fid) als Freund und Förde- 
rer des Friedens feiern läßt, ſo iſt es nur in der Ordnung, daß der Kanonenſpender 
gleichzeitig auch die Summe anwies, um in Cetinje eine große Kirche in griechiſch- 
orthodoxem Ritus zu erbauen, deren Grundſte n König Nikolaus während feines 
Jubiläums legte. Die neuen Poſitionsgeſchütze find italieniſchen Fabri- 
fats. Mitte September 1910 gingen ſodann zwei Batterien Mörſer im Kaliber 
von 240 Millimeter von Piacenza und Rom über Bari nach Antivari. Der italie- 
niſche Kriegsminiſter Spingardi hat dieſes Material als veraltet verkauft und die 
erlöſte Summe in den Staatsſchatz abgeliefert. Gegen diefe Manipulationen ijt 
verfaſſungsrechtlich wenig einzuwenden. Als vorgeſchobener Käufer fungierte für 
einen ſozial ſehr hohen, körperlich ſehr kleinen Herrn ein gewiſſer Aſtuto: dieſer 
Name iſt für das Vertrauensamt ſeines Trägers wertvoll. Aſtuto heißt un 
zu deutſch: — ‚Schlautopf‘. 


Zürmers Tagebuch 247 


Das Studium bes montenegriniſchen Staatshaushalts ift ergötzlich. Wäh- 
rend der Miniſter des Innern L. Voivoditſch für fein Departement 581 913 Kronen 
verrechnet, ijt für den Krieg feit Jahrzehnten die runde Summe von 200 000 Kro- 
nen ausgeworfen. 

Für eine Armee, die drei Tage nach der Mobiliſation 37 500 vorzüglich be- 
waffnete Rombattanten mit 8 Batterien Feldartillerie, 10 Gebirgsbatterien und 
60 Poſitionsgeſchützen ins Feld ſtellen kann und noch über einen Landſturm von 
18 000 Mann verfügt, — gewiß eine beneidenswert kleine Ziffer. 

Leider enthält jedoch die Angabe ‚200 000 Kronen“ zwei Druckfehler. Es 
handelt ſich nicht um 200 000, ſondern um zwei Millionen, und nicht um 
Kronen, ſondern um Rubel. Dieſer Betrag ijt feit 1874 als Geſchenk des Väter 
chens Zar ins arme Land der Zernagorzen gekommen, freilich recht unregelmäßig 
und obendrein mit ſchlimmer Beſchädigung der großen Lappen, aber er kam. 
Nur während des Japaniſchen Krieges und noch etliche Monate nach dem Ports- 
mouther Frieden blieb diefe Unterſtützung ganz aus. In jener kritiſchen Zeit ift 
ein weſtwärts wohnender Verwandter bes Hauſes Petrowitſch Njegos in die Lücke 
geſprungen. 

Die Strategen des Zaren betrachten Montenegro als ihre weit 
vorgeſchobene Feſtung auf dem Balkan. Schon durch ihre Natur 
bildet bie Zernagora eine Felſenburg, die neuerdings durch Anlage und Ver- 
ſtärkung der Forts oberhalb Cattaros, bei Kiſtac, Piva, Medun, Zabljak feine Zu- 
gänge ftar? verſchloſſen hält. Als Rußlands Waffenplatz in ſtarker De- 
fenfive bedroht es die Oſterreicher bei jedem Vorſtoß über Novibazar oſtwärts nach 
Saloniki in ihrer rechten Flanke, dient im Süden den aufrühreriſchen Skipetaren, 
Malifforen und Meiroditen als Zuflucht und gefährdet eine Operation der Türken 
von Epirus aus gegen Griechenland. Der Beſitz einer uneinnehmbaren Feſtung, 
die zwei Armeekorps des Gegners vor ihren Bergwällen feſtzuhalten vermag, das 
Oberkommando über eine Beſatzung, bie im Bedarfsfall mit drei ſtarken Divifio- 
nen einen Ausfall bis Usküb und Monaſtir und Jannina unternehmen kann, um 
den Bulgaren und Griechen die Hand zu reichen, — und das alles für nur zwei 
Millionen Rubel pro Jahr, heißt ein glänzendes Geſchäft. 

Der Balkanbund it von allen Großmächten zuerſt bem bri- 
tiſchen Kabinett bekanntgeworden, das ſich für das Fortbeſtehen 
der Türkei, das heißt derjenigen Macht, die Konſtantinopel beſitzt, nicht mehr 
intereſſiert. Großbritannien bat das Erbe angetreten in Cypern, Agyp- 
ten, im Sudan, an der Solumbucht und hat eine weiteren Anſprüche im füdlichen 
Meſopotamien und in Arabien, wo es nach den heiligen Städten Mekka und Medina 
greift, deutlich abgeſteckt. Sir Edward Greys ‚Weftminfter Gazette“ erklärt: „Eng- 
lands Macht, im nahen Oſten aktiv einzugreifen, iſt beſchränkt“ —, das heißt: der 
britiſche Leu weicht im Südoſten Europas vor dem moskowitiſchen Bären zurück. 

So fällt zum drittenmal dem Montenegrinerfürſten das Los, für den klein- 
ſten Staat auf dem Balkan (257 300 Seelen) dem osmaniſchen Reiche den Krieg 
zu erklären; zweimal bildete der Vorſtoß Nikitas das Signal für lange und blutige 
Kriege: — eine üble Vorbedeutung für den dritten! Genau an ſeinem 71. Ge- 


248 Zürmers Tagebuch 


burtstag zog der Held von neunzehn blutigen Schlachten, der Muktar und Osman 
Gahzi, Suleiman und Derwiſch Paſcha, die beſten Feldherren der Türkei, mit 
80 000 Nizams fliehen ſah, an der Spitze feiner Truppen in den ‚heiligen Krieg 
wider die Türkenhunde“; nicht die über alle Maßen koſtſpielig und ſchwerfällig ge- 
wordenen ſtehenden Heere, ſondern das in Waffen geübte Volk wie die Monte- 
negriner und Schweizer, wirkt durch ſeine blitzſchnelle Kriegsbereitſchaft furchtbar. 

Bei der Einfädelung dieſes Krieges hat ſich die ruſſiſche Diplomatie als eine 
das feinſte Garn ſpinnende Künſtlerſchar erwieſen: während ihr kranker S. Omitri 
Saſonow in der Haltung des heiligen Dulders in London und Paris und Berlin 
heiſere Worte flüſtert von den Segnungen des Friedens, und während die ſechs 
Großmächte Europas mit ſorgenvollen Mienen und bureaukratiſchem Bedacht ſich 
zehn Tage lang abplacken, um endlich eine zu nichts verpflichtende Formel zu 
finden, und am elften Tage ihre durch die Eintracht impoſante Aktionsfähigkeit 
ſtolz aller Welt kundgeben, ſchickt der Zarenhof gleichzeitig drei Lazarettzüge vom 
Roten Kreuz nach Bulgarien. Der montenegriniſche Kriegsminiſter Martino- 
witſch aber begrüßt die Ausmarſchierenden mit dem Zuruf: „Wir und die Ruſſen 
find eins!‘ 

Das montenegriniſche Heer iſt eine Miliztruppe, deren Mannſchaften große 
Entſchloſſenheit und Selbſtändigkeit nachgerühmt werden. Ein Mitarbeiter der 
„Kreuzztg.“ wendet ſich dagegen, daß man die Montenegriner nicht ernſt genug 
nehme und ihnen minderwertige Gelüfte, wie etwa Hammeldiebſtahl, andichte. Er 
möchte im Gegenteil behaupten, „daß der Montenegriner der ritterlichſte 
Menſch ijt, wie man ihn fid) nur denken kann. Diebſtähle, wie überhaupt ftraf- 
bare Handlungen, kommen in Montenegro faft gar nicht vor. Ein Montenegriner 
3. B., der einem dort weilenden Fremden auch nur das Geringſte entwendete, iſt 
vollſtändig undenkbar. Gaſtfreundſchaft iſt heilig. In ganz Montenegro gibt es 
auch keinen einzigen Trinker. Ein Trunkenbold würde ſofort dermaßen der öffent- 
lichen Verachtung verfallen, daß er das Land verlaſſen müßte. Montenegro iſt 
das Land der lauteren Sitten, der eiſernen Tapferkeit und der glühenden Vater- 
landsliebe. Nur mit Hilfe ſo glänzender Betätigung idealer Lebensanſchauung 
war den Montenegrinern der dauernde Sieg über die Türken möglich. Niemals 
haben ſie ſich unterjochen laſſen. Hätten andre Völker, wie z. B. die Buren, über 
ſolche Eigenſchaften verfügt, ſo wären ſie nicht ſo bedauerlich zugrunde gegangen. 
Bei den Montenegrinern gab es bisher und gibt es vermutlich auch in Zukunft 
im Kriege nur ein Siegen oder Sterben. 

gn Montenegro gibt es nur ein der Ordensverleihung würdiges Verdienſt, 
das iſt das Verdienſt um die Freiheit.“ Das 1888 in Kraft getretene bürger- 
liche Geſetzbuch für Montenegro (1889) fei bie konſervativſte Kodifikation, die wohl 
jemals erſchienen ift, und faſſe wie kaum ein anderes Geſetzbuch das Ge w o p n- 
heitsrecht forgfältig zuſammen. „Ein ganz modernes, vielen Fortſchritt zur 
Geltung bringendes Geſetzbuch auf ſtreng konſervativer Grundlage. Aus dem Ge- 
ſetzbuch fei nur erwähnt, daß für Ablieferung einer gefundenen Sache ein Finder- 
lohn nicht anerkannt iſt. Der ritterliche Standpunkt des Montenegriners würde 
dafür nicht das geringſte Verſtändnis haben.“ Daß in ber deutſchen Preſſe Monte- 


Sürmers Tagebuch 249 


negro vielfach ſchlecht wegkomme, bemerkt der Verfaſſer zum Schluß, liege wohl 

namentlich an jenem konſervativen Standpunkt und beſonders daran, „daß des 

Königs Staatsklugheit auf die Fernhaltung ſpekulierender Zuden ſich muſtergültig 

verſtanden“ habe. 
* * 

Früher [prah man nur vom „kranken Mann“, heute ijt überall pom langſam 
fterbenden die Rede. „Die orientaliſche Frage“, ſchreibt Karl Peters im „Tag“, 
„ſtellt einen geſchichtlichen Zerſetzungsprozeß von urwüchſigem Charakter dar. 
Die gewaltige Flutwelle mohammedaniſcher Eroberung, welche vom 15. bis zum 
17. Jahrhundert über den Südoſten unſeres Erdteiles brach, bedeckte eine Reihe 
von chriſtlichen Völkern und Stämmen. Aber ſie konnte dieſe weder vernichten noch 
auch ſich organiſch angliedern. Seit dem 18. Jahrhundert begann ſie erſichtlich 
zurückzuebben, und ein verſchütteter Volksſtamm nach dem anderen tauchte wieder 
ans Tageslicht empor. Dieſem natürlichen Prozeß könnte nur da- 
durch Einhalt geboten werden, wenn in der Welt der Osmanli ein genialer 
Staatsmann entſtände, der imſtande wäre, die verſchie denen Raſſen 
und Völker harmoniſch zu einem Staatsweſen zufammen- 
zugliedern. Zm Fahre 1909 glaubte Europa einen Augenblick, daß die jung- 
fürliihe Bewegung hierzu berufen fein könne. Aber ſchon heute darf diefe Hoff- 
nung als geſcheitert gelten. Wahrſcheinlich geht den altaiſchen Stämmen, zu denen 
die Türken gehören, wie bem Iſlam die Fähigkeit überhaupt ab, eine Staatenbildung 
auf der modern-europäifchen Grundlage des Rechtsſtaates durchzuführen. Wie dem 
fein mag, die Selbſtzerſetzung der Osmanliherrſchaft ift augenſcheinlich ein un- 
heilbarer geſchichtlicher Prozeß und auch die gegenwärtige Kriſis nur eine Epiſode 
in einer unaufhaltſamen Kataſtrophe. | 

In einem folden Fall werden bie Großmächte immer nur dahin wirken 
können, daß die Auflöſung ſich möglichſt friedlich vollzieht, und daß, ſoweit es 
geht, Konflikte zwiſchen ihnen ſelbſt vermieden werden. Am unmittelbarſten inter- 
eſſiert an der orientaliſchen Frage, nächſt ben Balkanſtaaten felb[t, find die Grenz- 
nachbarn: Rußland und Oſterreich- ungarn. Sodann Großbritannien als größte 
mohammedaniſche Macht der Erde. Der britiſche Staat herrſcht in 
Oſtaſien allein über gegen GA Millionen Mohammeda 
ner; und diefe werden naturgemäß bei jeder Kataſtrophe in Konſtantinopel, dem 
Sitz des Kalifen, moraliſch und politiſch in Mitleidenſchaft gezogen. Man verſteht, 
weshalb bie britiſche Politik feit Fahren verſucht hat, ein arabiſches oder, beffer 
noch, ein ägyptiſches Kalifat zu ſchaffen, welches ſie unter eigenem Schutz und 
eigener Kontrolle haben würde. 

Für Oeutſchland hat dieſe Tatſache den indirekten Vorteil, daß ſie von neuem 
einen Gegenſatz zwiſchen ruſſiſchen und britiſchen Inter 
effen ſchafft. Denn Rußland ift feit ben Tagen Peters des Großen die natür- 
liche ſlawiſche Vormacht, und das letzte Ideal ruſſiſcher Politik 
war und bleibt: das Kreuz an Stelle des Halbmondes 
auf der Hagia Sophia aufzupflanzen. Dies war der Grund, 
weshalb der Beſuch Saſonows in Balmoral nicht den klaren Erfolg hatte, den zu 


250 Türmers Tagebuch 


erwarten man berechtigt war. Sir Edward Grey, fo gern er es im Intereſſe der 
großen britiſchen Politik wohl getan haben würde, konnte den Ruſſen, im Hinblick 
auf Britiſch-Indien, nicht den Weg nach Konſtantinopel und die Durchfahrt durch 
die Dardanellen freigeben. Andererſeits aber ſchafft dieſes letzte Ziel ruſſiſchen 
Sehnens einen nicht zu überbrückenden Gegenfaß zu Ofter- 
reich Angarn und damit zu Deutſchland ſelbſt. Denn die 
Zukunft der Doppelmonarchie und der deutſchen Art überhaupt liegt 
weſentlich do nau abwärts, und die Wiener Staatsmänner können niemals 
dulden, daß Saloniki, falls der Halbmond einmal davon ſich zurückziehen muß, in 
die Hände irgendeines fremden Staates fiele. Dieſen zweiten Zugang zum Meere 
muß der habsburgiſche Staat unter allen Umſtänden für ſich ſelbſt ſichern, und 
das Deutſche Reich iſt im eigenen Intereſſe gezwungen, ihn bei derartigen Plänen 
zu unterſtützen. Es ſind wohl Erwägungen, wie ſolche, welche Rußland veranlaßt 
haben, feine , Probemobiliſierung“ gerade im gegenwärtigen Augenblick anſtatt am 
Dnjefte und Schwarzen Meer in Polen vorzunehmen. 

Klar iſt, daß den nächſten unmittelbaren Vorteil aus den gegenwärtigen 
Wirren Ftalien zu ziehen im Begriff ſteht, und daraus dürfte man vielleicht 
ſchließen, daß es it ali e niſcher Einf lu ß war, der dieſe überhaupt an- 
gezettelt hat. Oenn die italieniſche Politik kann jetzt endlich ihre tripolitaniſche 
Beute unter Dach bringen und kommt dadurch aus einer Lage heraus, welche an- 
fing, mehr als peinlich zu werden. Hierdurch aber wird auf der andern Seite auch 
die Türkei finanziell und militäriſch degagiert und kann ihre geſamte Macht auf 
die vier chriſtlichen Balkanſtaaten werfen, welche es bedrohen. Den Ausſchlag an 
Ort und Stelle ſelbſt in einem ſolchen Konflikt würde die rumäniſche Armee geben. 

Einſtweilen hat die europäiſche Diplomatie die Angelegenheit in ihre Hand 
genommen. Frankreich hat mehr als 160000000 Pfund 
Sterling in den Balkanſtaaten angelegt, und es würde einen 
gehörigen Lärm in der Republik geben, wenn dieſe Renten über Nacht durch den 
Schornſtein davongingen. Darüber würde unter Umſtänden mehr als ein bloßes 
Kabinett in der Verſenkung verſchwinden. Alſo hat M. Poincaré es auf ſich ge- 
nommen, Europa zur Erhaltung des Friedens um ſich zu ſcharen. M. Saſonow, 
welcher von vornherein eingeweiht war, ruft mit Genugtunng aus: ‚Europa ijt 
noch einmal es ſelbſt!“ ... Die vier chriſtlichen Staaten follen zum Frieden ge- 
zwungen, die Türkei aber veranlaßt werden, die lange hinausgeſchobenen Re- 
formen in Mazedonien einzuführen! Damit wird der Riß wahrſcheinlich noch ein- 
mal überkleiſtert werden können. 

Aber freilich, eine Ubertleifterung wird es im günſtigſten Fall werden; denn 
der Jahrhunderte alte fanatiſche Haß ber Raffen, bie Gier und der Ehrgeiz der ein- 
zelnen Staaten läßt ſich nicht auf Befehl der Großmächte aus der Welt ſchaffen. 
Die Tatſache, daß die mohammedaniſchen Türken ein weſentlich fremdes Element 
im chriſtlichen Europa darſtellen, bleibt beſtehen, fo viele Sympathien dieſe ritter- 
lichen Eroberer bei einzelnen Nationen auch beſitzen mögen.“ 

Auch ein türkiſcher Sieg würde doch immer nur einen neuen ſtärkeren Gegner 
für die Türkei auf den Plan ziehen: „Europa kann unter keinen Umftänden zugeben, 


Farmers Tagebuch . 251 


daß bie Ergebniffe von 1829, 1856, 1876 rückgängig gemacht würden. Selbſt ber 
glänzendſte Sieg würde nicht imſtande ſein, das Geſchick der Osmanli in Europa 
weſentlich zu verſchieben, wenn ſie nicht fähig ſind, einen modernen Staat zu 
ſchaffen, welcher gleiches Recht für alle wirklich zur Durchführung bringt. Im 
Grunde war das Schickſal der Türkenherrſchaft bereits 1683 befiegelt, als ihre 
Offenfive gegen Europa an den Mauern Wiens fid) brad) und damit bie r ü d- 
läufige Bewegung einſetzte, welche bis heute fortdauert, und von der ſich 
gerade ein neues Kapitel im Kampf um Tripolis abgeſpielt hat. 
Weltgeſchichtlich bedeutſamer ift es, ob und wie die europäiſchen N d d t e- 
Gruppierungen in dieſer neuen Orient-Kriſis ſich verſchieben werden. Wird 
die anglo-ruſſiſche Freundſchaft diefe neue Spannung überdauern? Wird das Ver- 
hältnis von Oſterreich- Ungarn zu Rußland in den Bahnen friedlicher Kooperation 
verbleiben können? Auf der Hand ſcheint zu liegen, daß das bloße Zur-Seite- 
treten des „Freundes in blinkender Wehr“ nicht zum zweiten Male 
genügen wird, Rußland von ſeiner traditionellen Rolle im nahen Oſten ab- 
zudrängen. Hat das Syſtem des Dreibundes und der Tripelentente, unter dem 
fid die politiſche Geſchichte Europas nun feit ein bis zwei Dezennien bewegt hat, 
ausgeſpielt oder wird es unverändert aus der gegenwärtigen Kriſis hervorgehen? 
Das find Die großen Fragen für die Geſchicke Europas und 
der Menſchheit im ganzen, welche ſich an die ſpeziell orientaliſche Kriſis 
anknüpfen. Die Gegenſätze von 1856 boten der preußiſchen Diplomatie die Hand- 
babe, aus ihrer internationalen Zfolierung heraus bie feſte Anlehnung an Rußland 
zu gewinnen. Wird ein deutſcher Staatsmann die gegenwärtige Kriſis in ähnlicher 
Weiſe ausnutzen, um uns aus der Einengung der letzten Jahre hinauszuführen?“ 
Die Bevölkerung des ottomaniſchen Reiches, dieſe nachdenklichen Ziffern 
ſtellt C. Riwel im „März“ zur Erwägung, beträgt, wenn man die faſt unabhängigen 
Vaſallenländer abzieht, ungefähr 24 Millionen, die in wenigſtens 15 ſelbſtändige 
Nationen zerfallen. Davon bilden die Türken (Osmanen) ungefähr 8 ½ Millionen, 
von denen die Hauptmaſſe in Kleinaſien wohnt. „In den europäiſchen 
Provinzen der Türkei, deren Einwohnerſchaft auf 614 Millionen ge- 
ſchätzt wird, gibt es kaum 1½ Millionen Türken. In Syrien, Ara- 
bien und Meſopotamien ſind die Beamten und Soldaten faſt die einzigen Türken. 
Nach den Osmanen kommen die Araber, die etwa 3 Millionen ſtark ſind, zu denen 
noch vielleicht die ungefähr 1% Millionen Syrier und Aramäer, welche die ara- 
biſche Sprache angenommen haben, zuzurechnen ſind. Die Armenier bilden etwa 
2 Millionen, ungefähr ſo ſtark ſind auch die Griechen; die Albaneſen werden auf 
114 bie 1½ Millionen geſchätzt, die Bulgaren auf mehr als 1 Million, die Serben 
auf zirka 0,5 Millionen, die Rumänen (Kutzowalachen) auf 100—200 000. Dann 
kommen noch ungefähr 1—115 Millionen Kurden, zirka 600 000 Juden, ungefähr 
0,75 Million Tſcherkeſſen vim, Dieſe Ziffern zeigen deutlich, daß di ee Osmanen 
im türkiſchen Reich, abgeſehen vielleicht von Kleinaſien, eine Mino- 
rität find: fie bilden im ganzen Reich kaum ein Drittel unb in 
ber europäiſchen Türkei kaum 25 Prozent. Es ift alfo klar, 
daß das türkiſche Element der Zahl nach kein Recht hat, in der Tuͤrkei eine herrſchende 


252 Zürmers Tagebuch 


Rolle gu ſpielen. Nun kann ja manchmal eine quantitative Minorität im Staat 
dennoch dominieren, wenn die übrigen Nationalitäten des Reiches kulturell ſich 
auf niedrigerem Niveau befinden, als die herrſchende Minorität. So war es z. B. 
in Ofterreid) bis zum Sabre 1848, wo die Seutjden, die ebenfalls quantitativ in 
der Minderheit waren, jedoch infolge ihrer kulturellen und ökonomiſchen Über- 
legenheit herrſchen konnten. Aber auch in Sſterreich hörte dieſer Zuſtand auf, 
ſobald die ſlawiſchen Stämme aus ihrem ‚unbiftorifchen‘ Zuſtand herausgetreten 
ſind und ſich allmählich ſowohl kulturell als auch ſozial dem Niveau der Deutſchen 
nähern. In der Türkei war und iſt von einer kulturellen Überlegenheit der Os- 
manen keine Rede. Unter den nicht-türkiſchen Nationalitäten des Reiches find 
mehrere dem herrſchenden Stamm in dieſer Hinſicht ſogar überlegen, und wenn 
man unter den nicht-hriftlichen Beſtandteilen der Bevölkerung der Türkei nach 
einer Kultur ſucht, ſo wäre ſie viel mehr bei den Arabern, als bei den Osmanen 
zu finden. Die Türkei war eben das typiſche Beiſpiel eines Wi- 
litärſtaates, deſſen Macht einzig und allein auf der phyſiſchen 
Stärke der Raſſe der Eroberer beruht. Sobald dieſe Macht ver- 
ſchwunden iſt, ſobald die Türkei aufgehört hat, in militäriſcher Hinſicht ein den 
europäifchen Staaten äquivalenter Gegner zu fein, ijt auch jeder Exiſtenzgrund 
des türkiſchen Reiches verſchwunden. Gleichzeitig ift auch die Grundlage ver- 
ſchwunden, auf der die Vorherrſchaft des Osmanenſtammes in der Türkei beruhte. 

Die Türkei dezentraliſieren, d. h. ſämtlichen anderen Nationalitäten dieſes 
Reiches Gleichberechtigung verſchaffen, heißt daher mit anderen Worten, das 
türkiſche Element wenigſtens in den europäͤiſchen Vilajets auf das Niveau einer 
nationalen Minderheit zu bringen. Das iſt etwas, was die türkiſche Regierung 
niemals wird zugeben wollen. Man hat jetzt febr viel, anläßlich der letzten Er- 
eigniſſe in der Türkei, davon geſprochen, daß die Fungtürken den Grundfebler 
begangen hätten, die Türkei zentraliſieren, ſämtliche nationalen Unterſchiede in 
ihr nivellieren zu wollen. Sicher war das ein Fehler des jetzt geſtürzten jung- 
türkiſchen Komitees. Dieſer Fehler mußte von ihnen gemacht werden. Einer 
türkiſchen Partei, wie es die Jungtürken find, ift es kaum zu verdenken, daß fie 
ſich bemüht haben, die Vorherrſchaft ihres Stammes zu erhalten. Vorausſichtlich 
wird jede türkiſche Partei, die am Ruder iſt, denſelben Fehler wiederholen, denn 
es ijt kaum anzunehmen, daß die Türken fid) freiwillig von Herrſchern in Be- 
herrſchte werden verwandeln laffen...“ 

Der Hauptkonflikt, ſo beleuchtet der „Vorwärts“ von ſeinem Standpunkt 
aus die Lage, erhebt ſich um Mazedonien, um die türkiſche Provinz, in der die 
nationalen und konfeſſionellen Gegenſätze mit den Klaſſengegenſätzen zuſammen- 
fallen. Die Türken ſind dort als Grundbeſitzer, Beamte und Offiziere die Be- 
herrſcher und Ausbeuter des Landes; die Griechen bilden die wohlhabende Ober- 
ſchicht der ſtädtiſchen Bevölkerung; die Slawen, Bulgaren und Serben ſind Kmeten, 
tributpflichtige Bauern. Daß die türkiſche Herrſchaft die ökonomiſche Entwicklung 
des Landes hemmt, leidet keinen Zweifel. Die wirtſchaftliche Verfaſſung des Landes 
ijt feudal: der ſlaviſche Bauer muß dem türkiſchen Grundherrn ein volles Drittel 
feiner Ernte abliefern. Die Bemeſſung und Einhebung dieſer drückenden Natur- 


Zürmers Tagebuch 253 


abgabe führt immer wieder zu erbitterten Kämpfen zwiſchen Grundherren und 
Bauern, in welchen Kämpfen die türkiſche Bureaukratie natürlich Partei für die 
ihr ſtammverwandten türkiſchen Grundherren ergreift. Die Landwirtſchaft ver- 
fällt, das Landvolk verelendet, und was von den beſitz- und kulturloſen Arbeitern 
nicht auswandert, ſinkt zum Lumpenproletariat herab, aus dem ſich die Räuber- 
banden rekrutieren, die die Sicherheit der Perſon und des Eigentums ſtändig 
bedrohen. Daß die türkiſche Revolution an dieſen traurigen Zuſtänden wenig 
oder gar nichts geändert bat, ijt nicht überraſchend; auch die Jungtürken vertreten 
die osmaniſche Herrenklaſſe und waren ungeeignetes Inſtrument, um die türkiſchen 
Begs zu enteignen und die chriſtlichen Bauern zu befreien. 

Gegenüber der türkiſchen Herrſchaft erſcheinen alfo die chriſtlichen Baltan- 
ftaaten als die Vertreter des ſozialen Fortſchritts, der in der Erſetzung der feudalen 
Eigentumsordnung durch die bürgerliche läge. Nur freilich, daß den vorgeſchützten 
edlen und uneigenniigigen Motiven der Retter wenig zu glauben ijt, daß es ihnen 
weit weniger um die Befreiung der chriſtlichen Bauern vom Joch des türkifchen 
Feudalismus, vielmehr um Raub und Bereicherung zu tun iſt. Haben fie doch 
die Anarchie in Mazedonien durch die Organiſierung der Bandenkämpfe un- 
mittelbar auf dem Gewiſſen. Und dieſe Bandenkämpfe wurden ja nicht zum 
Kampfe gegen die türkiſche Bedrückung geführt, ſie wurden zum nationalen Kampfe 
mißbraucht. So haben die Bulgaren den Kampf gegen Griechen und Serben, 
die Rumänen den Kampf gegen die Griechen, die Serben den Kampf gegen Griechen 
und Bulgaren, die Griechen den Kampf gegen alle anderen Chriſten in Mazedonien 
organiſiert. Durch dieſe Feldzüge eines entarteten Nationalismus haben die 
chriſtlichen Balkanſtaaten in verbrecheriſcher Weiſe die Unſicherheit in Mazedonien 
gewaltig geſteigert, die blutigen Unterdrückungsmaßregeln der türkiſchen Be- 
hörden herausgefordert, die Lage der mazedoniſchen Bauern, bie fie angeblich 
befreien wollen, nur immer verſchlechtert. Es ift den habgierigen Oynaftien und 
ben Ausbeuterklaſſen in ihren Staaten alfo keineswegs um die Löſung der maze- 
doniſchen Frage im Sinne des ſozialen Fortſchritts zu tun; was ſie allein im Sinne 
haben, iſt die Eroberung, der zu Liebe ſie ihre Rüſtungen ununterbrochen ſteigern, 
bie Volkskraft ihrer Länder dadurch ſchwer ſchädigend. Darum auch ihr Wett- 
kriechen vor Rußland .., darum auch die Zwietracht zwiſchen ihnen, die jetzt fhein- 
bar gebändigt iſt, die aber nach einem Siege über die Türkei in dem Kampfe um 
die Beute wohl doppelt verheerend hervorbrechen würde. In dem Kriege, der 
fih auf dem Balkan vorbereitet, kann keine Seite und kann niemand auf Sym- 
pathie rechnen.“ 

Die Türkiſierung der fremden Völkerſchaften, die von dem (ungtürkiſchen) 
Komitee „für Einheit und Fortſchritt“ zwar niemals zugegeben, in der Tat aber 
doch wohl angeſtrebt worden ſei, glaubt die „Frankf. Ztg.“ endgültig ad acta 
legen zu dürfen. Sie habe ſich als gänzlich ausſichtslos erwieſen: „Auch das ſtramm 
zentraliſtiſche Regierungsſyſtem, das die jungtürkiſchen Herren aus der Verbannung 
in Paris als weſteuropäiſches Zdeal mitgebracht hatten, ift in bem Nationalitäten- 
gemiſch des Osmanenreiches geſcheitert. Dezentraliſation heißt der Regierungs- 
grundfag des gegenwärtigen Kabinetts, und es konnte ihm von dieſem Grund- 


254 Zürmers Tagebuch 


ja aus nicht (hwer fallen, mit den Albaneſen eine Einigung gn finden. Die 
Schwierigkeiten beginnen aber bei der Frage, wie weit bie Oezentraliſation auch 
außerhalb Albaniens durchgeführt werden ſoll und kann. Auf die Feſtſetzung 
der albaneſiſchen Wünſche hin haben ſich ſogleich Araber und Syrer mit ähnlichen 
Anſprüchen gemeldet, und vor allem erheben die chriſtlichen Nationalitäten auf 
dem Balkan mit verdoppeltem Nachdruck ihre alten Autonomieforderungen. 

Die Selbſtverwaltung mag ihre inneren adminiſtrativen Schwierigkeiten 
haben, von der Geſamtpolitik des Osmanenreiches aus laſſen ſich kaum Bedenken 
dagegen erheben. Die innere Schwierigkeit liegt wohl in erſter Linie darin, daß 
bie albaniſchen Großen, die jetzt gewöhnlich als Bandenführer be- 
zeichnet werden, in Wirklichkeit Feudalherren ſind, und daß dieſe 
ariſtokratiſche Führung fih ſchwer vereinen läßt mit der demokratischen Gefamt- 
organiſation des Reiches und mit dem demokratiſchen Charakter der türkiſchen 
Nationalität, die doch nun einmal die Führung des Reiches hat und behalten 
wird. Die ſogenannten albaneſiſchen Forderungen‘ find wohl in 
Wirklichkeit die Forderungen der albaneſiſchen Feudal- 
herren und laufen in der Praxis wohl darauf hinaus, daß dieſe Herren ihre 
Macht, die politiſche und auch die wirtſchaftliche Macht, über das albaneſiſche 
Volk nicht verlieren möchten. Es fragt ſich alſo, wie weit dieſe Ariſtokratie in das 
türkiſche Beamtenſyſtem ſich einfügen kann (nicht die einzelnen albaneſiſchen 
Ariſtokraten, denn die haben im Reiche des Sultans als Offiziere, Beamte und 
Staatsmänner ſtets eine große Rolle gefpiclt), und wie lang dann unter dem 
Einfluß fortſchreitender Schulbildung und politiſcher Aufklärung die albaneſiſchen 
Maſſen mit ihren Großen ſich vertragen werden. Für den Augenblick ſcheint 
jedoch die Lage in Albanien ziemlich geſichert zu ſein, kleinere Ruheſtörungen braucht 
man den wilden Geſellen, die ſich im ganzen, vor allem auch in Usküb, recht friedlich 
und diſzipliniert benommen haben, nicht gar zu ſchwer anzurechnen, und es liegt 
bis heute wenigſtens kein ſachlicher Grund vor, die Ronftantinopeler Warnung vor 
übelwollenden oder übernervöſen Alarmmeldungen aus Albanien zu mißachten. 

Die ſchwierigſte Seite des albaneſiſchen Problems iſt, wie ſchon angedeutet 
wurde, ſeine Berührung mit dem Nationalitätenkampf in Mazedonien. Griechen, 
Bulgaren und Serben verlangen natürlich mindeſtens ſo viel Selbſtändigkeit und 
Autonomie, wie ben Albaneſen gewährt wird. Jedoch bie Albaneſen figen verhält- 
nismäßig geſchloſſen auf ihrem Gebiet, und die fremden Nationalitäten in ihrer 
Mitte bilden überall nur geringe Minderheiten. Keine der anderen Nationalitäten 
aber kann zwiſchen ihren Siedelungen irgend einen geographiſchen Bufammen- 
hang herſtellen; ſie ſind überall in Mazedonien unauflöslich ineinandergeſchachtelt, 
ganz abgeſehen von den in Albanien verſtreuten Splittern. Jede nationale Teilung, 
die etwa den mazedoniſchen Often als bulgariſch, den Norden als ſerbiſch, den 
Süden als griechiſch anerkennen wollte, würde ſehr ſtarken nationalen Minoritäten 
unrecht tun, — ſie würde überdies, und das iſt die Hauptſache, unvermeidlich auf 
eine Aufteilung der europäiſchen Türkei hinauslaufen. Das iſt 
ja bie grundſätzliche Verſchiedenheit der albaneſiſchen Autonomieforderungen von 
der jeder dieſer anderen Nationalitäten. Die Albaneſen wollen durchaus im Ver- 


Zürmers Tagebuch 255 


band des Osmanenreiches bleiben, fie können ja auch nirgends ſonſt auf 
nationalen Anſchluß rechnen. Die Griechen, Bulgaren, Serben unter türkiſcher 
Herrſchaft können mit ihrer Autonomie gar kein anderes Endziel verfolgen, als 
die Vereinigung mit den ſelbſtändigen Staaten ihrer 
Nationalität. Es ijt deshalb verſtändlich, wenn die türkiſchen Staats- 
männer zu den Wünſchen dieſer chriſtlichen Völkerſchaften eine ganz andere Stellung 
einnehmen, als zu denen ber Albaneſen. .. Für die Türkei bleibt diefe Nationali- 
tätenfrage auf dem Balkan doch das ſchwerſte Problem, das ihren Staatsmännern 
geſtellt iſt, viel ſchwerer als die Gewöhnung an eine konſtitutionelle Form der 
Regierung und viel ſchwerer als die Regelung der albaneſiſchen Frage.“ 
* * 


= | 

„Das Schickſal ber europäiſchen Türkei vollzieht jid", erklärt auch Hermann 
vom Rath: „Denn wie auch immer die Waffen entſcheiden werden, die Autonomie 
ber europäifchen Provinzen wird durchgeführt werden; ihr folgt aber die Los- 
trennung in kürzeſter Friſt, das lehrt das Schickſal Oſtrumeliens. 

Es verbleibt dann der kleinaſiatiſche Torſo, der nicht imſtande ſein wird, 
die Scheinherrſchaft über Arabiens ungeheure Wüſten aufrechtzuerhalten, von 
dem Seile in Kürze gleichfalls abbröckeln werden, wie einſt Agypten und jetzt 
Tripolis. Der Verwirklichung von Lord Curzons Traum, des ſicheren Landweges 
von Alexandrien nach Bombay, ſteht dann kein Hindernis mehr im Wege. Dieſe 
Entwicklung ſcheint heute unabwendbar. 

Frankreich zittert für die Millionen ſeiner Sparer und für ſein Preſtige 
als Schutzmacht der orientaliſchen Katholiken. Seiner ehrlich gemeinten Hilfs- 
aktion hat Oeutſchland fih rückhaltslos angeſchloſſen. Dieſer Schritt ift geſcheitert, 
und die Helfer legen die Hände in den Schoß, froh, nicht gegeneinander zum 
Streiche ausholen zu müſſen. 

Wir tiberlaffen die Türkei ihrem Schickſale. Wir desavouieren damit 
eine Politik, die wir länger als zwei Oezennien verfolgt haben. Als der Oeutſche 
Kaiſer die intime Freundſchaft mit dem ODeſpoten im Pildis ſchloß, als phan- 
taſtiſche Träumer im Verein mit geriebenen Geſchäftsleuten ihn mit dem Glorien- 
ſchein des Fſlamſchützers umgaben, da verurſachte diefe Übertreibung vielen Ropf- 
ſchütteln und ernſte Bedenken. Nicht zum wenigſten den deutſchen Diplomaten, 
die unmittelbar berufen waren, die orientaliſchen Geſchäfte zu beſorgen. Aber 
man ſtellte die Bedenken zurück. Denn im Gewirr des ewig wechſelnden Zidzad- 
kurſes bildete die Orientpolitik die ſeltene Ausnahme einer geraden Linie, die, 
mochte fie falſch oder richtig fein, ſchon deshalb Rüdficht verdiente, weil fie ton- 
ſequent innegehalten wurde. 

Man war überzeugt, daß die Türkenfreundſchaft, nach reiflicher Erwägung 
eingeſchlagen, reale Ziele ins Auge faßte. Nicht nur wirtſchaftliche Vorteile, 
Verkehrsunternehmungen, an denen im Grunde nicht viel mehr deutſch iſt, als 
der Name der finanzierenden Bank. Man erwartete mehr: die militäriſche und 
adminiſtrative Stärkung des Osmanentums erſchien als Mittel zum Zweck, die 
Vormacht des Iſlams uns zu verpflichten und im gemeinſamen Sntereffe dienft- 
willig zu machen. Man verftand die deutſche Orientpolitik dahin, daß eine ge- 


256 Zürmers Tagebuch 


ſtärkte Türkei England an feinem Lebensnerv, bem Verbindungsweg nach Indien, 
in ſeiner Vorpoſtenſtellung am Nil dauernd beunruhigen werde. Daß in einem 
unabhängigen Kalifate ein Gegengewicht gegenüber dem britiſchen Einfluſſe auf 
die mohammedaniſche Welt ſtabiliſiert werde. Daß durch alles dies Englands 
Macht in gewiſſen Schranken und die Neigung zu einem Konflikte mit Deutfchland 
im Baume gehalten werde. So wurde bie Türkenpolitik verſtanden, und fo hat 
ſie ſich wohl auch damals im Kopfe der Berufenen gemalt. Alle diejenigen zwar, 
die Land und Leute aus eigener Anſchauung kannten, die den Marasmus des 
verſteinernden Osmanentums unbefangen beobachteten, konnten ſich der Be- 
ſorgnis nicht verſchließen, daß hier ein Verſuch mit untauglichen Mitteln gemacht 
werde. Aber in einer an poſitiven politiſchen Zdeen armen Zeit war immerhin 
ein Verſuch, ein beſtimmtes Ziel zu erreichen, erfreulich. Mit dieſem Vorbehalte 
konnte man den Staatsmann loben, deſſen geſchickte Hand trotz Fährlichkeiten 
und Intrigen dieſen Faden am Goldenen Horne ſpann. Am wenigſten hatte 
Frankreich Grund, fid) über Deutſchlands Orientpolitik zu beklagen, und wenn 
ein früherer Minifter des Außeren der Republik dahinter heute verſteckte Ländergier 
erſchnüffelt, ſo verleugnet er die im Dienſte gemachten Erfahrungen und beweiſt, 
daß der Entamtete ebenſo chauviniſtiſch verblendet iſt wie der letzte Pennyliner 
der Boulevardpreſſe, der vom blinden Deutſchenhaſſe kümmerlich fein Leben friſtet. 

Das vom $amibijden Deſpotismus befreite Osmanentum hat jid nun 
unfähig erwieſen, einen modernen, konſtitutionellen Rechtsſtaat zu geſtalten. Das 
iſt nicht verwunderlich. Denn dem durch Waffengewalt zuſammengemiſchten 
Konglomerate von Völkern und Raſſen gebricht die notwendigſte Vorausſetzung: 
nationaler Zuſammenhang, nationales Empfinden. Die Kriegsgefahr ſchlägt 
zwar heute Brücken über die klaffenden Gegenſätze, verhüllt zwar zeitweilig die 
politiſche Impotenz, aber nach beendetem Kampfe wird vorausſichtlich der Bankerott 
von neuem hereinbrechen. Damit iſt aber auch die Untauglichkeit des türkiſchen 
Faktors für die deutſche Politik der Zukunft erwieſen, und ein Vakuum gähnt 
in unſerer diplomatiſchen Rüſtkammer. Unſer Verbündeter Sſterreich wird ſeine 
Balkanintereſſen wahren, und wir werden ihm ſelbſtverſtändlich getreulich beiſtehen; 
der andere, Italien, hat pränumerando fein Stück aus dem Kuchen geſchnitten. 
Welche Trumpfkarte werden aber wir unſerem Spiele einfügen an Stelle der- 
jenigen, die uns aus der Hand geſchlagen wurde?! 

Die ſchlimmſte Gefahr, die dem Dreibunde aus dem Balkanbrande drohte, 
ſcheint durch den bevorſtehenden italieniſchen Friedensſchluß beſeitigt; der Wolken 
bleiben zwar noch genug. Aber den ohnehin lockeren Zuſammenhang der 
Tripelentente trifft der Krieg am empfindlichſten Punkte. Da bieten ſich Gelegen- 
heiten in Hülle und Fülle, die ungeheuere Macht des Deutſchen Reiches in der einen 
oder anderen Richtung in die Wagſchale zu werfen und die Erſchütterung der 
gegneriſchen Koalition auszunutzen. Wird unſere Diplomatie ſich 
die einzigartige Gelegenheit entgehen laffen, das um- 
ſtrickende Netz zu durchreißen oder wenigſtens zu durchlöchern? Oder verharrt ſie 
in dem bisherigen Schema, in koſtſpieliger Rüſtung einen britiſchen und franzöfi- 
ſchen Angriff er wartend, die Dinge laufen zu laſſen, wie ſie laufen?!“ 

* % 


Zürmers Cagedud 257 


Hören wir dazu — fets ſchon ber Abwechſlung halber — eine Stimme von 
den Bänken, auf denen ſonſt die Spötter figen. Freilich, d i e Bank, von der unfer 
„Spötter“ ſeine Stimme ertönen läßt, iſt eine von den Machthabern ſeiner Partei 
geächtete Bank, eine Bank, auf die ſich bloß zu ſetzen für einen „Genoſſen“ ſchon 
ein gewiſſer Opfermut gehört, nämlich die TFT „Sozialiſtiſchen Monatshefte“. 
Dort läßt ſich Karl Leuthner über das Problem Auswärtige Politik (er nennt's 
„Staatsſchickſal“) und Volksintereſſe alſo vernehmen: 

„Mit den Aufgaben der Politik geht es wie mit dem Bild der Landſchaft. 
Was dem Fernblick große einfache Umtißlinien waren, zerfällt dem näher tommen- 
den Betrachter in tauſend unzuſammenfaßbare Einzelheiten. Für die oppofitio- 
nelle Partei in den Anfängen ihrer Entwickelung bietet die auswärtige Politik 
überhaupt keine Probleme dar. Sie iſt ein Illuſtrationsmittel, ein Lehrbehelf 
mehr, daran die allgemeine Anhaltbarkeit der beſtehenden Zuſtände zu erweifen, 
And in dieſer Hinſicht iſt ſie trefflich verwertbar. Losgelöſt in ihrem Betrieb von 
der wirkſamen parlamentariſchen Kontrolle, ſelbſt in freiheitlichen Ländern mit 
den Einzelheiten ihrer Ausführung im geheimnisvollen Dunkel der Kabinette ver- 
borgen, dient ſie trefflich zur Veranſchaulichung eines verantwortungsloſen Schal- 
tens mit Völkerſchickſalen durch die oberſten Träger der Staatsgewalt. Hier ſcheint 
namentlich in mehreren kontinentalen Staaten alles noch beim alten. Darum darf 
auch die Polemik unbedenklich den altererbten Gedankenſchatz verwenden, den der 
liberale Kampf gegen den Abſolutismus als Kritik monarchiſcher Eroberungsſucht 
und diplomatiſcher Unfähigkeit gehäuft hat. Es macht dabei wenig aus, ob die ſo 
vertretene Auffaſſung in den Tatſachen begründet oder durch ſie widerlegt iſt, 
fie ift einfach mit der Situation einer Heinen, fid) emporarbeitenden Partei not- 
wendig gegeben. Darum behauptet fie fid) auch gegen deren eigene etwa ab- 
weidenbe Grundſätze. Verlangen diefe eine realiſtiſche Betrachtung der Inter- 
eſſenkonflikte der Staaten, fo wird fie fih vielleicht als geiſtreiche Leiſtung einzel- 
ner verwirklichen können, wird fid) wohl auch bei der Wahl der Argumente durch- 
ſetzen, bei der ſtofflichen Ausſtattung der Beweisführungen, deren Ziel jedoch 
und propagandiſtiſche Wirkung unverändert die gleiche bleiben. Es iſt eben ein 
Glaube, und zwar zunächſt ein notwendiger, daher auch bekömmlicher Glaube, 
der freilich neben feinen Fanatikern, die ſelbſt Friedrich und Napoleon den Feld- 
herrnruhm abſchwören, auch ſeine lauen Laodizäer hat, die, auf die Praxis der 
Innenpolitik gerichtet, in ihr aber auch ausſchließlich befangen, alle auswärtige 
Politik nach ihren tatſächlichen Leiſtungen ſich in Trinkſprüchen erſchöpfen ſehen, 
die man während der Zuſammenkunftsbankette hielt, und in Leitartikeln, die man 
danach ſchreibt. 

Seder erkennt, daß hier von den neunziger Jahren die Rede ift, bie den rich- 
tigen äußern Rahmen zu einer ſolchen Wertung der internationalen Politik boten. 

Mit Bismarck batte Deutſchland die Führung der europäiſchen Dinge ver- 
loren, England ſie noch nicht gewonnen. Der Weltgeſchichte lag ſozuſagen die 
Mittelmäßigkeit der Handelnden als Hindernis auf dem Weg. Zn ihrer beſchäfti- 
gungsloſen Gelangweiltheit lauſchte fie auf Reden, die im Guten und Böſen ein 
Gewicht bekamen, das uns heute rückerinnernd lächeln macht. Der Burenkrieg 

Oer Türmer XV, 2 17 


258 Zürmers Tagebuch 


brachte die auswärtige Politik, die fid auf ble Rednertribüne verirrt batte und 
vor Amateurphotographen Poſe ſtand, in die heiße Rennbahn des Wettkampfs 
zurück. England leitete die neue große Kampfperiode ſeiner neuern Geſchichte 
ein, die eine Geſchichte des Erringens und Behauptens der Weltherrſchaft iſt. Es 
war von größtem erzieheriſchen Wert, daß England (dabei einige Zeit wirkſam 
von Japan unterftüßt) es übernahm, einen durch Taten lebhaft veranſchaulichten 
Kurſus über auswärtige Politik zu halten. Zur Zeit, als es ſein Lehramt antrat, 
hatte es bei allen freiheitlich Gerichteten Europas die beſten Referenzen. Wäre 
etwa Rußland in bie pädagogiſche Nolle geraten, fo hätte fich das Anſchauen der 
dargebotenen Wirklichkeiten in den Fluten der ſittlichen Entrüſtung verloren. Die 
fehlte jetzt auch nicht, das Mitleid mit den Burenfreiſtaaten gab ihr eine weithin 
hallende Stimme. Aber am Ende war doch England, der Unterdrücker, England, 
das neue Iſrael, durch das über bie Menſchheit das konſtitutionelle und wirtfchaft- 
liche Heil kommen foll. Solch altgewurzeltes Ideal gibt den Prozeß nicht fo raſch 
verloren; doch ſeine Advokaten waren nun gezwungen, den Fall aus den Nebeln 
der Empfindung, aus den Allgemeinheiten der Begriffe „Freiheit“ und Unter- 
drückung“ zur Betrachtung der politiſchen und wirtſchaftlichen Motive der briti- 
ſchen Politik in Südafrika hinüberzuführen. 

Das Ergebnis war zunächſt nicht eben ſehr fruchtbringend. Man erinnerte 
(i in der Regel, daß die Engländer doch auch das ‚Rrämervolt des populären 
Vorurteils waren, und entſchloß ſich deshalb, die Gründung des ſüdafrikaniſchen 
Reichs ebenſo als Nebenprodukt der Minenſpekulation der Veith und Wernher 
zu betrachten, wie man das Heraustreten Amerikas in das Karaibiſche Meer und 
in den Stillen Ozean als einen Geſchäftskniff von Zuckerintereſſenten bereits 
erkannt hatte. Doch England ſetzte unbekümmert darum ſeinen Lehrkurſus 
fort. Die Guten, die im Zapaniſchen Krieg den Kampf des Lichts gegen die 
Finſternis ſahen und entſchloſſen waren, nicht nur Togo und Oayama, ſondern 
ſelbſt Mutſuhito mit Nachſicht feiner 2500 Sabre alten Oynaftie und feiner Ab- 
ſtammung von der Sonnengottheit Amateras Okami als Ehrenmitglieder der 
Ethiſchen Geſellſchaft“ oder bes „Moniſtenbundes“ zu empfehlen, die aber be- 
ſonders daran ihre Freude hatten, daß ſich jetzt das wahre England offenbare, 
das England, das weder ſeinen wirtſchaftlichen noch ſeinen politiſchen Weltherr- 
ſchaftstendenzen folgt: ſie alle erlebten bald den Schmerz, die lichtvollen Briten 
gerade in dem Augenblick um die ruſſiſche Freundſchaft werben zu ſehen, als die 
echtruſſiſchen Leute“ und ihre Regierung damit beſchäftigt waren, die Revolution 
unter dem Galgen zu verſcharren und durch Inſzenierung von Pogromen das 
Volk auf andere Gedanken zu bringen. Noch tröſtete ein wenig der Proteſt gegen 
den erſten Staatsſtreich. Doch als dann in Reval Eduard die ,blutbefledte Hand“ 
des Zaren brüderlich drückte, unter dem entfeſſelten Zubel der engliſchen Preſſe, 
da wagten nur noch die ganz genauen Kenner des britiſchen Lebens uns anzu- 
weiſen, wir follten die engliſche Wirklichkeit bei Shaw und Graham Wallas ſuchen, 
und nicht bei Grey und den „Times“. Die anderen aber gaben dem Druck der 
Tatſachen nach. 

Verloren indes fo die ethiſchen und freiheitlichen Slluſioniſten des Kon- 


Türmers Tageduch 259 


tinents ihr liebſtes Spielzeug, das noch aus Großvaters Kinderſtube ſtammte, ſo 
wurde dem denk- und lebensfähigern Teil der bürgerlichen Demokratie und den 
Sozialdemokraten an der Selbſtentfaltung des Weſens der britiſchen Weltmacht 
zweierlei bedeutſam. Weder die ideologiſche noch die rein wirtſchaftliche noch die 
bloß um Perſonen bewegte Geſchichtsbetrachtung konnte ſich gegenüber dieſer ge- 
waltigen Manifeſtation eines Weltſtaats willens behaupten. Ein in fei- 
nen Motiven unendlich kompliziertes, von Trieben und Erkenntnis vielfach gegen- 
ſätzlich Beſtimmtes offenbarte fich, das gleichwohl im Handeln platvoll fid) ver- 
einigte, unter der Oberleitung von Nachtideen, deren gleichartige Fortwirkung 
ſeit drei Jahrhunderten (bei aller Anpaſſung an geänderte Verhältniſſe, bei allem 
Wechſel der fie tragenden Volksſchichten, bei ber ſchwankenden Miſchung militäri- 
ſcher, ökonomiſcher, religiöſer und nationaler Antriebe, bei dem innern Fortſchritt 
von ahnendem Erfaſſen zur klaren, weitſchauenden Bewußtheit) das eigentliche 
Phänomen war. Was die Geſchichte (die Geſchichte in ihrem beobachteten Tat- 
ſachenverlauf, nicht die ſpekulative Vergewaltigung der Vergangenheit) als Sebre- 
rin des Lebens bedeutet, leuchtete da mit einemmal wieder vor unſerm Geſchlecht 
auf. Denn wie nur noch der römiſche Staat, ſo iſt der engliſche ſeit den Tagen der 
Eliſabeth einen ſichern Gang zur Höhe gegangen, mit gleichen Richtlinien, die 
man von der Gegenwart drei Jahrhunderte zurück mühelos konſtruieren kann. 
Dieſes Aufwärts und In-die-Weite, dieſes unterwerfen der Welt unter bie angel- 
ſächſiſche Herrſchaft, dieſes Beſäen ganzer Weltteile mit angelſächſiſchem Samen 
iſt das in die fernſte Zukunft der Menſchheit Nachwirkende der engliſchen Geſchichte 
und gleicht im Weſentlichen ihres Wirkens die Freiſtaaten aus den Tagen der 
Stuarts und die auswandernden Sekten mit der ſüdafrikaniſchen Eroberungs- 
politik eines Cecil Rhodes aus. Und was man früher Demokratiſierung 
der britiſchen Politik nannte, auch das verſtehen wir aus dem Kern 
erſt heute. Es iſt der Wechſel der Form bei gleichbleibendem 
Gehalt, das Eindringen ins Volksbewußtſein von fol- 
chen Staats aufgaben und letzten Volkszielen, die zuerft 
intuitiv von den Größten der Nation geſchaut worden 
waren, die jedoch im perſönlichen Entſtehen ſchon überperfönliden 
Wert hatten, weil fie aus den Notwendigkeiten und Möglichkeiten der grund- 
legenden Tatſache des engliſchen Lebens, der Inſellage des Landes, gedacht waren. 
Wenn Großbritanniens unbeſchränkteſter Herrſcher Cromwell ſein Land in den 
Wettkampf mit den Niederlanden jagte und ſeine Hand nach dem Karaibiſchen 
Meer ausſtreckte, ſo bildete ſeine perſönliche Tat vor, was heute die allgemeinſte 
Überzeugung der Briten ijt, daß Englands Flagge den Wogen gebieten müſſe, 
die ſtärkſte an Schiffen und in allen Meeren die reichſte an Stützpunkten. Gewiß, 
die Meinung ber parlamentariſchen Naiven, das Unterhaus erſtrecke über die aus- 
wärtige Politik ſeine Kontrolle, iſt nie gründlicher widerlegt worden als in unſeren 
Tagen, da ſchickſalſchaffende Verträge geſchloſſen wurden, von denen in England 
fo wenig als außer England die Öffentlichkeit das mindeſte erfuhr (was weiß das 
engliſche Unterhaus heute noch über die geheimen Marokko- Abmachungen Eng- 
lands und Spaniens , und da das berühmte Recht der Anfrage zu einem ver- 


260 Zürmers Tagebuch 


abredeten Spiel für das Ausland herabgeſunken ijt, Deshalb gibt es in England 
bod nur eine Politik des Volkes, weil die großen Linien bes aus- 
wärts gerichteten Handelns in Gedanken feftgelegt find, bie bereits die Kraft und 
Allgemeinheit von Volks gefühlen gewonnen haben. Das engliſche Volk 
iſt ein heiſchendes Volk, zitternd bis in die Fingerſpitzen von den Inſtinkten des 
Herrſchens. Als fein Schauplatz ijt ihm die Welt gerade groß genug. Auſtralien, 
herrſchend beeinflußt von den Arbeiterorganiſationen, rechnet über den ganzen 
Stillen Ozean hin ängftlich jedes Schwanken an der Wage der Macht nach. 

Das Ergebnis der engliſchen Geſchichte für die auswärtige Politik bezeichnet 
die Einheit der Staatszwecke mit den Volksinſtinkten: 
eine Einheit in dem großen Ganzen, was nicht ausſchließt, daß die einzelnen Juge- 
rungen bes Weltmachtwillens Gruppen zu Trägern haben, die fid) und ihr augen- 
blickliches Handeln im Kampf gegen andere durchſetzen. Allein der erreichte Er- 
folg, wer ihn auch erreicht habe, geht geiſtig wie tatſächlich in den politiſchen 
Allgemeinbeſitz über. 

Daß indes England der Lehrmeiſter der letzten 15 Fahre wurde, hatte für 
uns ſchon darum ſeine Bedeutung, daß es bei Betrachtung der auswärtigen Dinge 
den Blick von dem ausſchließlichen Anſchauen und Werten der deutſchen Politik 
loslöſte, die heute doch wohl Iden von jedem, ſoweit bie letzten 20 Jahre in An- 
fag kommen, als eine Politik geräuſchvoller Untätigkeit er- 
kannt iſt, als eine Nichtpolitik mit Lärm, der allerdings abnimmt, und 
mit Geldaufwand, der ſtets noch wächſt. Die Beurteilung der deutſchen Dinge 
konnte ſich nur in reiner Verneinung bewegen: zunächſt als man noch unter den 
Ausſtrahlungen der Bismarckſchen Machtzeit lebte, weil der Partei, die kaum aus 
den Verfolgungen hervorgegangen war, das Gefühl des Gegenſatzes gegen den ver- 
folgenden Staat alles andere verſchlingen mußte; hernach weil das Handeln der 
Epigonen nur negative Wertungen zuließ, von welchem Punkt aus man auch den 
Maßſtab anlegte. Doch beirrender als all dieſes war an den heimiſchen Singen, 
was man etwa das ‚Srrationale‘ deutſcher Entwicklung nennen könnte: ein unter 
europäiſchen Verhältniſſen nie erlebtes Aufwärtsſteigen der 
Wirtſchaftsmacht in raſendem Tempo, ein nie ausſetzendes Rüſten und 
Ausgeſtalten der militäriſchen Machtmittel im Zuſammenſein mit ein em 
unaufhaltſamen Sinken der Macht und des Anfebens, 
ja des internationalen Einfluſſes Oeutſchlands. Dieſen 
Gegenſatz vermag man wohl denkend zu erfaſſen, ihm handelnd zu begegnen er- 
ſcheint faſt unmöglich. Doch ſchon das bloße Wachſen der wirtſchaftlichen Größe 
iſt zu ſchwindelnd ſchnell geweſen, um im Erkennen und Fühlen völlig nachgewogen 
werden zu können; zumal von denen, die, mit dieſem wirbelnden Werden ſelbſt 
fortgeriſſen, der zurückgelegten Abſtände ſich nicht rein bewußt werden. Wer in 
Deutfhland weiß fo recht, daß Wertungen, die er etwa 
20 Fahre mit ſich trägt, gemeſſen an dem Gang der ſozia— 
len Verhältniſſe, etwa 100 Zahre alt geworden find? 
Wie ſonſt nirgends find bie Dinge den Menſchen über den Kopf 
gewachſen. Die Gedankenbilder und die Gefühlsreaktionen vermögen mit 


der Wirklichkeit nicht mehr Schritt zu halten. 


&ünners Tagebuch 961 


Darum ijt für den Deutfchen fo heilſam, daß ihm bie engliſchen Dinge wieder 
ſo nahe vor Augen rücken; denn hier ſieht er ſeinen Zuſtand wieder doch nicht als 
plötzlich entſtanden, als Geſchehnis von geſtern, ſondern als das in einem Jahr- 
hundert Gereifte, das fid) (einer Art nach die Empfindungen und Dentgewohn- 
heiten der Menſchen zugebildet hat. Die Übereinſtimmungen wie die nicht ge- 
ringeren Unterſchiede werden bei folder Vergleichung erft ins Licht des Bewußt- 
ſeins treten. 

Doch foll hier bloß von der einen Frage des Zuſammenhangs der Volks- 
intereſſen mit den Schickſalen des Staates geſprochen werden. Wir haben es als 
engliſche Eigentümlichkeit erkannt, daß dieſer Zuſammenhang überaus lebendig 
empfunden wird, und in dem lebendigen Gefühl für die Abhängigkeit beider Größen 
voneinander ſahen wir das Eigentliche der Demokratiſierung der auswärtigen 
Politik Englands. Wie weit Deutſchland von einer ſolchen Gefühlsgeſchloſſenheit 
entfernt ift, wiſſen wir alle. Allein nur wenige wiſſen, daß diefe Gefühlsgefchloffen- 
beit mit Vaterlandsliebe (einmal das Wort in dem edelſten Sinn ge- 
nommen) nichts zu ſchaffen hat. Auch ein ruſſiſcher Patriot (und die 
ruſſiſchen Revolutionäre waren in überwiegendem Maß ruſſiſche Patrioten) mochte 
fid) über die Niederlage in der Mandſchurei beinahe freuen: berührten doch die Ber- 
lufte im Often nicht die Lebensſphäre Rußlands, während andrerſeits ber Zuſammen- 
bruch der zariſchen Waffenherrlichkeit im Innern die Kräfte freimachte, die ein 
neues, reicheres Rußland geſtalten ſollten. Das iſt nun freilich der extremſte Fall. 
Allein auch in Europa hat bie Vorſtellung von der ,beiljamen Niederlage“ lange 
Völker beherrſcht, die im Kampf mit ihren Regierungen lagen. Und dieſe Vorſtellung 
ijt nicht bar der Vernunft, ſofern man den ältern europäiſchen Staat in Betracht zieht, 
mit feiner agrariſchen, auf Selbftverforgung gegründeten Wirtſchaft, wo den Lebens- 
bedingungen des Volkes ein äußeres Schickſal nichts Weſentliches rauben konnte. 
Allein im modernen Staat, und ein moderner Staat im Vollſinn iſt im 
kontinentalen Europa eigentlich bloß Deutſchland, wird dieſe Vorſtellung 
zum Srrſinn. Das begreift nicht jeder, weil die meiſten den großen Wandel 
in den Lebensbedingungen des deutſchen Volkes ſeit den letzten 20 Jahren nicht 
ſich ganz zur Erkenntnis gebracht haben. Zum Glück haben nun die Engländer es 
übernommen, das deutſche Volk aufzuklären. Die fiets in engliſchen Reden und 
Artikeln wiederholte Erwägung, daß es in Englands Macht läge, Deutſchland von 
der See abzudrängen, es aus den Märkten zu werfen, in einem Seekrieg ſeine 
Lebensadern, den Rhein und die Elbe, abzubinden, mußten in Oeutſchland die 
Erkenntnis erzeugen, daß ein auf den Export angewieſener, 
in die Weltwirtſchaft eingeflochtener, mit Millionen ſeiner Arbeiter für den 
Weltmarkt tätiger Staat keine Niederlage erleiden 
darf. Er iſt kein Ackergut, gegründet in der ewigen Erde und ſich nährend aus 
den Kräften der Erde, ſondern ein Großhandlungshauss weithin glän- 
zend im Schein ſeiner Größe, das jedoch, bricht es in einem Bankrott zuſammen, 
ſich und alle ſeine Mittätigen in der Nacht des Elends begräbt. 

In einem Weltwirtſchaftsſtaat kann keine Revolution mit ihren 
Segnungen, wie reich man fid) diefe auch denke, die Zerſtörungen der 


262 Zürmers Tagebuch 


Niederlage, mindeftens für das lebende Geſchlecht, je ausgleichen. 
Denn die heilſamſte Anderung der Verfaſſung, fo viel wunderbare Entfaltung 
der geiſtigen Kräfte und wohl auch der wirtſchaftlichen ſie bringen mag, iſt in ihren 
Folgen auf die Grenzen des Landes beſchränkt, in denen ſie ſich auswirkt. Wenn 
aber das Volk mit einem Viertel ſeines Beſtands vielleicht in internationale Zu- 
ſammenhänge eingewoben iſt, weltwirtſchaftlich exiſtiert, fo vermag keine innere 
Zuſtandsänderung ſein Elend zu bannen, ſolange es nicht Zuſtandsänderungen nach 
außen zu tragen vermag; das aber iſt ein beſiegter Staat am wenigſten imſtande. 
Die ſiegreichen Konkurrenten, ſiegreich durch Gewalt und geſtärkt durch den Gold- 
ſegen der Kriegskoſtenentſchädigung, ſetzen ſich an den Plätzen feſt, aus denen ſie 
die beſiegten verſcheucht haben, und werden nicht williger, den gewonnenen Vor- 
teil preiszugeben, wie ideal auch der niedergetretene Nebenbuhler ſeine innere 
Verfaſſung möchte eingerichtet haben. 

Sa, im Weltwirtſchaftsſtaat bat nie mand die Niederlage mehr 
zu fürchten als der Arbeiter. Den anderen geht es vielleicht (aber 
nur ſchlimmſtenfalls) um die Krone; doch bleibt ihnen ein höchſtangeſehenes Grand- 
ſeigneurdaſein mit ſchönen Erinnerungen beſchieden. Wie behaglich fühlen ſich die 
Entthronten, wenn fie fid) dann im gaſtlichen England ſammeln. Dem Ar b ei- 
ter geht es ans Leben: doppelt, dreifach. Er vergießt das Blut der Schlach- 
ten, aus feinen Golden holt der Feind die Kriegskontribution und macht ibn arbeits- 
los, heimlos mit den ſtillgelegten Fabriken, mit den Märkten, die ſich den Waren 
der Verdrängten verſchließen. Über einem verkrüppelten, zum Verkümmern ver- 
dammten, an ſeinem Wirtſchaftsgebiet um wichtige Provinzen geſchmälerten, 
vom Weltmarkt abgeſchnürten Volk, das außerhalb der Weltwirtſchaft kein Da- 
fein mehr hat, weil es einmal in fie mit allen Wurzeln feiner Exiſtenz hinein- 
gewachſen ift, vermag keine Zaubermacht einen Bau der Freiheit und des Glücks 
zu errichten, oder es müßten die politiſchen Schickſale, es müßte die Rulturentwide- 
lung, ja es müßte die äußere Lebenswohlfahrt eines Volkes von den wirtichaft- 
lichen Grundlagen ſeiner Exiſtenz ablösbar ſein. 

Ein Weltwirtſchaftsvolk iſt unabtrennbar von den äußeren Schickſalen ſeines 
Staates ... Die Demokratie des Weltwirtſchaftsſtaats hat von den Kataſtrophen 
des Vaterlands nichts mehr zu hoffen und alles zu fürchten.“ 

Man wird geſtehen müſſen: wo hier der Spott durchblitzt, da zückt er nicht 
gegen die „bürgerlichen Patrioten“, nicht einmal die „alldeutſchen Chauviniſten“, 
ſondern gegen ganz andere Leute: die „Guten“, die „Naiven“, die Vielzuvielen 
in der eigenen Partei, wie auf dem Gemeindeanger der vulgären Demokratie 
und des Wald- und Wieſen- Liberalismus. 

Aber es iſt eine ſehr ernſte Lehre, die hier gepredigt wird. Und fie wirkt 
um ſo eindringlicher, als ſie nicht mit Vokabeln und Sentiments arbeitet, ſondern 
ſich auf harte wirtſchaftliche Tatſachen und Notwendigkeiten ſtützt, an denen ſich 
auch bie verbohrteſte Parteiorthodoxie auf die Dauer nicht wird herumdrücken 
können. Und das iſt — das Tröſtliche. 

Und der Humor von ber Geſchichte? England als Erzieher unſerer „Ge- 


noſſen“ zum nationalen Machtwillen! 
* 


* 
1 


Gürmere Cagebud) 263 


Weshalb bleiben nun ſolche Geifter, bie doch im Grunde ganz auf dem Boden 
der „bürgerlichen“ Wiſſenſchaft ſtehen, weshalb bleiben ſolche ausgekochten Ketzer 
in der Partei? Darauf gibt Max Maurenbrecher in den ſelben Monatsheften 
eine für die Pſychologie dieſer Außenſeiter ſehr aufſchlußreiche Antwort. Er geht 
dabei von dem, inzwiſchen auch von dem Parteitage in Chemnitz mit Brief und 
Siegel beglaubigten Ausſchluß des „Genoſſen“ Hildebrand aus: 

„Warum hat Hildebrand überhaupt an den Parteitag appelliert? Warum 
legte er Gewicht darauf, Parteigenoſſe zu bleiben? Warum hat er die maffen- 
haften Unfreundlichkeiten, Mißdeutungen und Feindſchaften, die er im engern 
Kreis feit Jahren, in der Parteipreſſe im ganzen feit einem Jahr erfahren hat, 
nicht einfach damit beantwortet, daß er ſtillſchweigend ging, oder daß er die Ge- 
legenheit ſeines Ausſchluſſes dankbar ergriff und es dabei bewenden ließ? Warum 
klammert er fid) an eine Gemeinſchaft, deren ſcheinbare Wortführer in Verſamm- 
lung und Preſſe ihm ſo oft mit klaren Worten geſagt haben, daß ſie ihn nicht mehr 
mögen? Sch perſönlich bin Hildebrands Freund, ſtehe fachlich mit ihm auf dem 
ſelben Boden, habe auch im letzten Jahr, ähnlich wie früher, des öftern leſen 
müſſen, es ſei der größte Dienſt, den ich der Partei tun könnte, wenn ich ginge; 
ja, die offizielle Parteikorreſpondenz hat mich ſogar ſchon einmal 
als ‚Exgenoſſen“ und ‚freifinnigen Agitator“ bezeichnet. Ich habe deshalb viel- 
leicht das Recht, die aufgeworfene Frage auch für mich zu ſtellen: Warum klammern 
wir uns trotz allem daran, Sozialdemokraten, Parteigenoſſen bleiben zu können?. 

Einfach, weil wir Sozialiſten ſind, und weil es für einen Sozialiſten 
keine andere Parteimöglichkeit gibt als die Sozialdemokratie. Wir find Sozialiſten, 
das heißt, wir find in allen großen Fragen unſerer Zeit an die Seite der A r- 
beiter geſchmiedet. Wir kommen davon einfach nicht los, ob wir wollen oder 
nicht, und ob man Ausſchlußverfahren fabriziert oder nicht. Jeder Blick in die 
Großſtadt oder das Induftriedorf, jeder Gedanke an die Art, wie diefe Menſchen 
leben, wohnen, (id) ernähren, wie fie ſchlafen, was ihnen ihre Arbeit ift, und was 
ihre Erholung, wie ihre Kinder entſtehen, zur Welt kommen, ſich entwickeln und 
heranwachſen, kurz, die ganze unmittelbare Wirklichkeit, bie wir erleben, nicht 
erſt Lehrbücher und Parteiprogramme haben uns wie hunderttauſend andere 
zu Sozialiſten gemacht und machen uns dauernd dazu. Urſprünglich mag es mehr 
das allgemein - menſchliche Mitleid geweſen fein, mit beſonderer chriſtlicher 
Pointe; auch das wird wohl für faſt alle gelten, die zur Partei gekommen ſind, 
ohne ſelbſt Proletarier zu fein. Aber diefe ſentimentale Begründung des Sozialis- 
mus iſt immer mehr einer härteren und kräftigern gewichen. Im letzten Grund 
ijt es bie Menſchheitsfrage, die Frage, die heute an die Stelle alter reli- 
giöſer Vorſtellungen tritt: Was wird aus der Menſchheit in der weitern Kette 
der kommenden Ewigkeiten? Was f v lI aus ihr werden? Welches Neue, Größere, 
Reinere ſoll aus ihr wachſen? Oder, dieſes Soll ganz realiſtiſch gewendet: von 
welchem Typus will ich, daß er ſiege und wachſe? Wenn aber darauf die Ant- 
wort lautet: ich will, daß der ſchönere, freiere, ſtolzere, kräftige Menſch das Urbild 
der Zukunft ſei, ſo bleibt die Frage: was ſchaffen dieſe Lebensverhältniſſe der 
großſtädtiſchen und induſtriellen Maffe für Menſchen? Kann das Arbild bes 


264 Türmers Tagebuch 


Zukunftsmenſchen körperlich und geiſtig in dieſen Zuſtänden gedeihen? Iſt es 
nicht gerade das Kranke, Kleinliche, Hämiſche, Gebrüdte, das Sklavenhafte am 
Menſchen, das da immer von neuem gezüchtet wird? Muß hier nicht vo n Grund 
aus der Lebenszuſtand ſich ändern, wenn wir wirklich glauben und wollen ſollen, 
daß diefe Menſchenmaſſen in Wahrheit Menſchen werden? So ift die Arbeiter- 
frage für den, den nicht eigene Not zum Sozialismus treibt, nur eine Teilfrage 
des großen Menſchheitsproblems im ganzen. Es ſtehen Erziehungsfrage und 
Religionsfrage als ſelbſtändige Arbeitsgebiete neben ihr, aber die Arbeiterfrage, 
die Frage nach den wirtſchaftlichen und ſozialen Lebensbedingungen der indu- 
ſtriellen Maſſe, iſt die größte und wichtigſte unter ihnen. Ohne ihre Löſung iſt alles 
Reden von neuer Erziehung und neuem Wollen nur Wind. 

Zu welcher Partei ſoll man gehen, wenn Gewiſſen und Leidenſchaft uns 
zur Mitarbeit an einer neuen Lebensgeſtaltung der induſtriellen Maſſe treibt? 
Man wird eine Menge einzelner Fragen und Aufgaben auch bei Fortſchrittlern, 
ja ſogar bei Nationalliberalen und Zentrum behandeln können; ich denke zum 
Beiſpiel an die Wohnungsfrage. Aber es iſt doch kein Wort darüber zu verlieren, 
daß die Geſamtheit der hier in Betracht kommenden Fragen eben nur in der 
Arbeiterpartei ſelber möglich ijt; und das ift bei uns einzig und allein die Sozial- 
demokratie. In allen anderen Parteien iſt die Arbeiterfrage entweder überhaupt 
nur Aushängeſchild, oder fie ift mit anderen Sntereffen verquidt (Grundbeſitzer, 
Rentner), die den Arbeitern entgegenſtehen und alle Parteien daran hindern, 
rückhaltslos den Aufſtieg der Arbeiterklaſſe zu ihrem erſten und einzigen Ziel zu 
machen. Das iſt es, was auch Hildebrand ſeinerſeits unterſtrichen hat: in der 
grundſätzlichen Auffaſſung des Verhältniſſes von Kapital und Arbeit, in der prat- 
tiſchen Behandlung der großſtädtiſchen Bodenfrage, in der Erkenntnis, daß alle 
bürgerlichen Parteien in irgend einer Form erworbene Privateigentumsrechte 
zu ſchützen ſuchen, alſo Privatintereſſen vor das Intereſſe der Geſamtheit und 
der Zukunft ſtellen, in all dieſen grundlegenden Fragen iſt für jeden Sozialiſten 
nur die Arbeiterpartei die einzig mögliche Organifation... 

Aber gerade als Sozialiſten und Marxiſten und als leidenſchaftliche Enthu- 
ſiaſten für die grundſätzlich andere Lebenszukunft der induſtriellen Maſſe geraten 
wir gelegentlich in Konflikt mit den Schlagworten der Agitation und der Taktik 
in den Parlamenten, die die heutige Praxis unſerer Partei beherrſchen. Was 
ſollen wir tun? Schweigen? Reden? Um dieſer Konflikte willen die Sache der 
Arbeiter und des Sozialismus verlaſſen? Unſere Leidenſchaft für die Arbeiter- 
bewegung wäre nicht echt, wenn wir aus Feigheit und Bequemlichkeit das erſte 
oder das dritte wählten. Es bleibt nur das zweite: offenes Reden, gleichgültig, 
was daraus wird. 

Ich rolle die ganze Frage einer reformiſtiſchen Politik der Arbeiterklaſſe 
nicht auf; ich bleibe bei dem konkreten Anlaß des Ausſchlußverfahrens. Das 
Problem, das Hildebrand geſehen, und das er ſchärfer zum Ausdruck gebracht 
hat als irgend einer vor ihm, iſt dieſes: Erſte Grundvorausſetzung aller Hoffnungen 
der Arbeiter auf ein menſchenwürdiges Leben in der Zukunft iſt der ungeſtörte 
Fortgang der induſtriellen Produktion; zweite Grund vorausſetzung aber ijt, daß 


Zürmers Tagebuch 265 


genug Lebensmittel und Bekleidungsrohſtoffe überhaupt vorhanden und für 
dieſe Arbeiterſchaft erreichbar ſind, damit ſie ſteigende Anſprüche an das Leben 
überhaupt befriedigen kann. Beide Vorausſetzungen aber, ſagt Hildebrand, 
find für den mittel- und weſteuropäiſchen Völkerkreis heute bedroht. Die Fnd u- 
ſtrialiſierung der bisherigen Agrarländer bedroht unſere 
Induſtrie einmal mit Abſatzerſchwerung, dann mit Rohſtoffver⸗- 
teuerung oder gar -fperrung; und fie führt dazu, daß die Nahrungs- 
und Bekleidungsrohſtoffe aus den bisherigen Agrarländern immer weniger zu 
uns kommen, weil fie drüben im eigenen Land von der zunehmenden 
induſtrialiſtiſchen Maſſe verbraucht werden. Alſo, ſagt Hildebrand, beruht alle 
Möglichkeit des Sozialismus, alle Hoffnung unſerer mittel- und weſteuropäiſchen 
Arbeiter darauf, daß es uns rechtzeitig gelingt, ſowohl für den Bezug unſerer 
induſtriellen wie unſerer Nahrungs- und Belleidungsrohſtoffe eine eigene 
Bauerngrundlage teils zu halten, teils neu zu ſchaffen. In der praktiſchen 
Formulierung der Tagespolitik ausgedrückt: Vorausſetzung der Verwirklichung 
des Sozialismus in der Induſtrie und in den Städten ift: 1. ein kräftiger B a u er n- 
ſchutz auf dem Lande, 2. eine kräftige und pflegliche Kolonialpolitik, 
5. eine auswärtige Politik mit dem Endziel, die Vereinigten Staaten 
von Mittel- unb Weſteuropa wenigitens als handelspolitiſche und 
verkehrswirtſchaftliche Einheit und als militäriſch-maritime Gemeinſamkeit zwiſchen 
Oſtaſien, Rußland und Amerika zu ſchieben. 

Gleichviel nun, wie viel oder wie wenig in dieſem Gedankengang zwingend 
ift und Hoffnung haben kann, einmal das Programm der deutſchen Arbeiter- 
partei zu werden; gleichviel: daß es fih hier um eine Ar beiterfrage erſten 
Ranges handelt, ſollte doch über allem Streit ſtehen. Es ſind die brennendſten 
Zukunftsprobleme der Arbeiterſchaft, die hier behandelt werden... 

Wir find gewohnt, zu fagen, daß wirtſchaftliche Notwendigkeiten fid) durch- 
ſetzen, gleichgültig, ob der einzelne Agitator ſeine Sache gut oder ſchlecht macht. 
Und wir vertrauen darauf, daß diefe Notwendigkeit uns zum Wachstum führt. 
Aber in Wirklichkeit erleben wir ebenſo oft, daß dieſe Notwendigkeit gegen uns 
ausſchlägt. Warum find 1907 Landarbeiter und landwirtſchaftliche Induſtrie- 
arbeiter zu Zehntauſenden von uns abgefallen? Weil fie, die Schweine ver- 
kauften, obgleich ſie ſonſt Proletarier waren wie unſere ſtädtiſchen Maſſen, durch 
unſere Fleiſchpreisagitation ſich in ihrem Intereſſe bedroht ſahen. Das ſelbe 
könnte [fid in noch höherm Ausmaß wiederholen, und es könnte auch für andere 
Schichten von Arbeitern gelten. Warum gibt es chriſtliche Arbeiter, libe- 
rale Arbeiter, nationale Arbeiter doch immer noch nach Zehntauſenden? 
Warum wählen proletariſche und proletaroide Exiſtenzen immer noch national- 
liberal, konſervativ, fortſchrittlich oder ultramontan? Von direktem Wablterroris- 
mus abgeſehen, doch nur deshalb, weil alle diefe Parteien mit irgendeinem Inter- 
efje von den Gegnern geködert werden, bas fie bei uns nicht befriedigt fühlen.. 

Und welche Möglichkeit hat heute ein Parteigenoſſe ohne Amt, zu 
den Genoſſen zu reden? Um einen Vortrag erſucht man ihn nicht; ſeine Artikel 
druckt die Parteipreſſe nicht ab; er meldet ſich in der öffentlichen Diskuſſion einer 


266 G&ütmete Tagebuch 


Verſammlung zum Wort: das wird erſt recht als ‚Rnüppel zwiſchen die Beine‘ 
empfunden. Er ſchreibt ein Buch: die Parteipreſſe ſchweigt es tot oder reißt es 
herunter, die Parteigenoſſen in ihrer ungeheuren Mehrzahl leſen es nicht. S el b ft 
ó von den A Schiedsrichtern, bie das Schuldig ſprachen, 
hatten eingeſtandenermaßen das Buch nicht geleſen. Wie 
foll man es machen, an die Parteigenoſſen auch nur heranzukommen? 

Hier offenbart ſich ein Umftand, der je länger je mehr eine ernſte Gefahr 
für unſere Partei und für den Bildungsgrad unſerer Agitatoren und Parlamen- 
tarier in fid) birgt. Unſere Partei- und Gewerkſchaftsbeamten, vom Parteivorſtand 
herunter bis zum geringſten Arbeiterſekretär oder Redakteur, find mit Alltags- 
arbeit viel zu überlaftet, als daß fie Zeit hätten, in reichlichem Maß ernſte und 
ſchwerverdauliche Bücher zu leſen. Die Bildungsmittel, die unfere Agi- 
tatoren vorzüglich benutzen, ift die Zeitung, der Zeitungsaus— 
ſchnitt und die Broſchüre. Kaum der Hundertite bat Zeit, wöchentlich 
auch nur 100 Seiten wiſſenſchaftlicher Literatur nachdenklich und ruhig in ſich 
hineinzuſchlürfen. Die Parteiſchule könnte wenigſtens für den Nachwuchs 
eine Möglichkeit wiſſenſchaftlicher Grundlegung ſein. Aber ſo wie ſie jetzt iſt oder 
bis vor wenigen Jahren war, macht fie das Übel nur ſchlimmer. Sie gibt außer 
bem Nichtswiſſen den jungen Leuten auch noch den Hod 
mut mit, alles zu mwifjen...“ 

* * 
* 

Wenn es bie „Menſchheitsfrage“ ijt, bie Maurenbrecher mit unzerreißbaren 
Ketten an die Sozialdemokratie ſchmiedet, wenn er fragt: „Was ſchaffen diefe 
Lebensverhältniſſe der großſtädtiſchen und induſtriellen Maſſe für Menſchen?“, 
ſo möchten wir andern — bei aller ehrlichen Anerkennung ſeines Idealismus — 
doch mit ber Gegenfrage antworten: Wird uns ber ſozialdemokratiſche 
Zukunftsſtaat jenen „ſchöneren, freieren, ſtolzeren, kräftigeren Menſchen“ 
züchten? And, indem wir uns treulich an die Erziehungsmethoden der Partei 
halten, ſie gewiſſenhaft an ihren Früchten zu erkennen ſuchen, mit des Verfaſſers 
eigenen Worten fortfahren: „iſt es nicht gerade das Kranke, Kleinliche, Hämiſche, 
Gedrückte, das Sklavenhafte am Menſchen, das da immer von neuem gezüchtet 
wird?“ ft für ein „freieres, ſtolzeres, kräftigeres“ Wachstum Raum in einer 
Partei, die es mit ihren Exiſtenzbedingungen nicht vereinbaren kann, Männer 
mit eigenen Überzeugungen in ihren Reihen zu dulden? Die es fertig bekommt, 
das Schuldig über einen Parteigenoſſen auf Grund eines Buches auszuſprechen, 
das von den vier Schiedsrichtern ganze drei eingeſtandenermaßen nicht geleſen 
haben? Und zwar, wie Maurenbrecher ſelbſt a. a. O. ſchreibt, das Schuldig aus 
keinem anderen Grunde ausſprechen, als dem, daß der Verfaſſer des Buchs „dem 
Tagesagitator in der Partei gelegentlich unangenehm ſein kann“ und die Partei 
eben „ein beſtimmtes Agitationsſchema, beſtimmte Schlagworte“ hat! 

Der Knüppel liegt auch hier beim Hunde. Die Partei kann gar nicht anders, 
wenn fie ihre abſolute Herrſchaft über die Maſſen behaupten will, als die Unfebl- 
barkeit ihrer Dogmen wie einen Rocher de bronce ſtabilieren, jeden mit Ex- 
kommunikation, ja mit dem großen Kirchenbann ſtrafen, der ſich erdreiſtet, auch 


Zürmers Tagebuch | 267 


nur einen Schritt von dem vorgeſchriebenen Wege abzuweichen. Die Machthaber 
ſind ſich wohl auch nicht im Zweifel darüber, daß ſie vor eine üble Alternative 
geſtellt find. Die eiſerne militäriſche Diſziplin, der geiſtige und wohl auch wirt- 
ſchaftliche Terrorismus, zu dem ſie ſich ſelbſt verurteilen, wenn ſie ihre unumſchränkte 
Macht aufrecht erhalten wollen, verurteilt auf der andern Seite die Partei zur 
Selbſterſtarrung. Wiederum: geben fie freier Entwicklung Raum, nehmen fie das 
Gute, woher es auch komme, fo würde das der Allgemeinheit und der Arbeiter- 
ſchaft ſelbſt natürlich viel erſprießlichere, weil greifbare Dienſte leiſten, aber die 
einheitliche Stoßkraft der Partei würde mehr oder weniger lahmgelegt werden, 
dieſer Staat im Staate ſelbſt abbröckeln und fein Baumaterial neue Wmalgamie- 
rungen eingehen. 

8a, das Regieren iff nicht leicht! Und fo bleibt es bis auf weiteres, b. h. 
bis zur Selbſterſtarrung oder zur Abbröckelung, bei der altbewährten Maxime: 
„Wer nicht pariert, fliegt.“ | 

Wir aber, o Exgenoſſe Hildebrand, wir beſeufzen und beweinen dich nicht, 
— im Gegenteil! Wir rufen fröhlich: Vivant sequentes! Wenn erſt alles, was 
noch Perſönlichkeit iſt, was noch Überzeugungstreue, freies Schaffen und Forſchen, 
und vielleicht noch ein glimmendes Fünkchen Volks- und Daterlandsliebe im 
Leibe hat, — hinausgeflogen iſt, dann können wir die ſo ſäuberlich purgierte, 
purifizierte und von allen gefährlichen Bazillen und Miasmen der „Vernunft und 
WViſſenſchaft“ desinfizierte Partei getroſt ihrem beſchaulichen Kultus überlaſſen. 
Zu Säulenheiligen wird's ja wohl noch langen. 


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Ludwig Uhland 
Ein ſchlichtes Gedenkwort von Dr. Thilo Schnurre 


4 zm 13. November find es fünfzig Jahre, feitbem Ludwig Uhland, der 
O volkstümlichſte Dichter der Deutſchen, feine treuen blauen Augen 
Ce | VJ für immer gefchloffen pat. Gr war ein echter Sohn ſeines Sdwaben- 


Gerade in der Studentenzeit entwickelte fich das Verſchloſſene in dem Wefen ebe 
Das laute Tübinger Burſchenleben war ihm zuwider, dafür liebte er es, die Täler 
und Berge ſeiner ſchönen Heimat zu durchwandern, ein friſches frohes Liedchen 
zu ſingen und mit Bauern und Holzfällern unterwegs ſein Mahl zu nehmen. Bei 
den Frauen hatte der ſchüchterne und zurückhaltende Jüngling, deffen Außeres 
eher an einen biedern Uhrmacher aus dem Schwarzwald als an einen Gelehrten 
erinnerte, kein Glück. Manchmal erinnerte in ihren Briefen Mutter Uhland ihren 
Louis, gefälliger und geſprächiger zu fein, und das vierzehnjährige muntere Schwe- 
ſterchen Luischen ſchrieb dem Bruder nach Paris, wo er ſich 1810 Studien halber 
aufhielt: „Du biſt und bleibſt auch in Paris immer noch der alte trockene Vetter, 
ſchreibſt nur immer von Bibliotheken, Muſeen uſw., Sachen, die mich ganz und 
gar nicht intereſſieren. Schreibe lieber auch von den Pariſer Mädchen, was ſie 
für Kleider anhaben. Auch von der Kaiſerin und ihrem Anzug möchte ich viel 
wiſſen .. . was freilich für Dich blinden Heß ſchwere Fragen find, Doch für was 
boat Du Deine Brille?“ 

Zu Ublands hervorragendſten Charaktereigentümlichkeiten gehörte ſeine 
peinliche Gewiſſenhaftigkeit. Zm Gegenſatz zu feinem Landsmann Schiller, ber 
auf der Schule mit großer Hartnäckigkeit den letzten Platz behauptete, ſaß unſer 
Dichter immer vorne an. Lateiniſche Berfe ſchmiedete er mit größerer Geläufig- 
keit als deutſche, und in Fieberphantaſien ſagte er ununterbrochen ſeine lateiniſchen 
Konjugationen her. Faſt alle ſeine Briefe entwarf er bis ins kleinſte auf dem 
Konzept, Durchſtrich und Einſchiebſel waren ihm ein Greuel. Die vielbewunderten 
Reden in der Paulskirche, deren bilderreiche Sprache dem Dichter mehr zur Ehre 


Schnurre: Ludwig Uhland 269 


gereichen als dem Politiker, waren ſorgfältig vorbereitet und eingeübt, jo forg- 
fältig, daß es wundern muß, daß er ſie nur ſtockend und ſtotternd vorbrachte. Er 
war, wie immer vor einem größeren Publikum, befangen. Recht peinlich war 
es dem beſcheidenen Mann auch, wenn er Reden und Toaſte auf feine Perſon an- 
hören mußte, oder wenn er um Albumverſe oder Autogramme gebeten wurde: 


Wann hört der Himmel auf zu ſtrafen 
Mit Albums und mit Autographen“ 


ſchrieb er einer Dame ins Stammbuch. Eine hübfche Begebenheit erzählt Uplands 
verſtändnisvolle Gattin Emilie von ihrem Mann. Als dieſer von Stuttgart nach 
Tübingen überſiedelte, übergaben ihm ſeine Freunde und Verehrer an der Grenze 
der Stuttgarter Gemarkung einen Lorbeerkranz. Was tat er? Im nächſten Wald 
hing er ihn an einer Eiche auf mit der Bemerkung zu ſeiner Frau: „Ich kann doch 
nicht mit einem Lorbeerkranz in Tübingen ankommen. Wie wird der nächſte 
Wanderer ſich wundern, daß dieſe Eiche Lorbeerblätter trägt.“ 

Was Uhland und ſeine ſchwäbiſchen Liedgenoſſen, im Gegenſatz zu den 
Weimarer Dichtern, — man denke nur an das mitunter febr geſpannte Verhältnis 
zwiſchen den vier Großen, Goethe, Schiller, Wieland und Herder, — uns menſchlich 
ſo nahebringt, iſt die treue Freundſchaft, die ſie unwandelbar verknüpfte. Auch 
mit den Männern der damals aufblühenden germaniſtiſchen Wiſſenſchaft, vor 
allem mit den Brüdern Grimm und Baron Laßberg, ſtand unſer Dichter in herz- 
lichſtem Verkehr und regſtem Austauſch. Gern hätte Uhland fid) ganz der deutſchen 
Philologie gewidmet, aber bie Verhältniſſe zwangen ihn dazu, Rechtswiſſenſchaft 
zu ſtudieren. Sie lief hinter der Poeſie als Stiefkind her, ſie machte ihm „tauſend 
Skrupel“. Der ſchweigſame, allzu gründliche und wenig ſchlagfertige Mann wurde 
des Broterwerbs halber Advokat, wozu er ebenſo wenig, ja noch weniger paßte, 
als vierzig Sabre vor ihm Wolfgang Goethe. Es fehlte ihm, wie er ſelbſt klagte, 
„die Leichtigkeit im Geſchäft“; oft mag er erſchrocken ſein, wenn ihm ein neuer 
Prozeß aufgetragen wurde, weil er ſich dann von der Poeſie und ſeinen germa- 
niſtiſchen Studien abwenden mußte. An ſeinen Freund Varnhagen von Enſe 
ſchrieb er: „Das Advokatengeſchäft habe ich nie aus Neigung getrieben. In be- 
ſtändigem Widerſtreit mit meiner Natur verzehrt es mich innerlich, ohne mir auch 
nur äußerlich eine erträgliche Exiſtenz zu verſchaffen.“ 

Erſt Ende 1829 erfüllte fid Uhlands ſehnlichſter Wunſch, die Ernennung 
zum außerordentlichen Profeſſor der deutſchen Literatur in Tübingen. Aber die 
Freude ſollte nur kurz dauern. Als die Regierung 1833 dem freiſinnigen Abge- 
ordneten den Urlaub zum Eintritt in die Ständeverſammlung verſagte, legte er 
mit ſchwerem Herzen die ihm liebgewordene Stelle nieder. König Wilhelm er- 
teilte ihm die Entlaſſung „ſehr gerne“, von der Studentenſchaft dagegen wurde 
dem allverehrten Lehrer ein ſilberner Pokal überreicht mit der Inſchrift: „Dem 
Meiſter deutſchen Rechts und deutſcher Kunſt.“ 

Die folgenden Jahre bis 1838 faf Uhland als einer der freiſinnigſten Ab- 
geordneten im Stuttgarter Ständefaal und ſprach manch kräftiges Wort gegen 
Bureaukratie und Feudalſyſtem. Er hielt es für ſeine Bürgerpflicht, die ihm oft 


270 Schnurre: Lubwig Uhland 


genug läſtig fiel, und gern rettete er ſich aus den politiſchen Tagesfragen in die 
Poeſie und ſein Studium. Goethe, der ſonſt auf Uhland nicht gut zu ſprechen 
war, batte ganz recht, als er im Gefprdd mit Eckermann äußerte: „Geben Sie 
acht, der Politiker wird den Poeten aufzehren. Mitglied der Stände ſein und in 
täglichen Reibungen und Aufregungen leben, ift keine Sache für die zarte Natur 
eines Dichters. Mit ſeinem Geſang wird es aus ſein, und das iſt gewiſſermaßen 
zu bedauern. Schwaben beſitzt Männer genug, die hinlänglich unterrichtet, wohl- 
meinend, tüchtig und beredt ſind, um Mitglied der Stände zu ſein, aber es hat nur 
einen Dichter der Art wie Uhland.“ Ein weitſchauender Politiker, wie fein Freund 
Paul Pfizer, war Uhland nicht. Das zeigte fih vor allem im Jahr 1848/49 in der 
Paulskirche. Wenn er bie Nednertribüne betrat, was übrigens ſehr felten vor- 
kam, hörte ihm die Nationalverſammlung gern zu, denn es war Ludwig Uhland, 
der ſprach, aber er überzeugte niemand. 

Von 1849 bie zu feinem Tod lebte Uhland in feinem Häuschen an der Sü- 
binger Neckarbrücke. Nur ſeine Spürfahrten nach Volksliedern führten ihn noch 
bisweilen hinaus. Seine dichteriſche Ader war verſiegt, und von der Politik hatte 


er übergenug. T 
„Ihr fordert, daß ich Lieder finge, 


Mit Deutichlands Barden Glied an Glied? 
Der Anblick unjrer deutſcher Dinge 
Oer geht mir übers Bohnenlied.“ 


ſchrieb er an den Liederkranz in Sindelfingen, der ihn um ein vaterländiſches Lied 
gebeten hatte. Noch im Herbſt 1861 badete ber rüftige Greis, ber feit feinen Kinder- 
jahren nicht krank geweſen war, bei elf Grad im Bodenſee. Als er aber ein halbes 
Jahr ſpäter ſeinen Freund Kerner in Weinsberg bei ſtrenger Winterkälte zur 
letzten Ruheſtätte begleitete, da holte er ſich den Keim zu der Krankheit, der er 
neun Monate ſpäter erliegen ſollte. 

Der patriotiſche Bremer Kaufmann, der 1847 ſeinem Schiff — es war das 
größte, das die deutſche Flagge führte — den Namen „Uhland“ gab, konnte keinen 
beſſern finden, denn Upland ijt der Dichter, in dem fih das deutſche Volkstum 
am reinften verkörpert. Den Rat, den er feinem Freund Karl Mayer gab: „Ich 
empfehle vielmehr jedem Oichter, ſich recht innig in die Schachten des deutſchen 
Altertums zu verſenken unb feine Bildung aus dem Stamme des deutſchen Bater- 
lands erwachſen zu laffen“, hat er ſelbſt treulich befolgt. Die klaſſiſchen Dichtwerke 
ſtanden ihm „zu klar und fertig“ da; er liebte „friſche Bilder und Geſtalten“, wie 
ſie die deutſche Sage und Geſchichte darbot. Gibt es einen urdeutſcheren Mann, 
als Eberhard den Nauſchebart, oder als jenen ſchwäbiſchen Ritter, der im gelobten 
Land ſich voll Gemütsruhe den Schild voll Pfeilen [piden läßt, aber plötzlich, 
als es ihm einer der Türken zu bunt treibt, vom furor teutonicus gepadt, mit einem 
Streich den feindlichen Reiter, Sattel und das halbe Pferd auseinanderhaut? 
Dem deutſchen Mittelalter ſieht man in Uplands Balladen bis ins Herz hinein; 
die geſamte damalige bunte Welt mit ihrem romantiſchen Zauberbann zieht an 
uns vorüber. — 

Vielſeitig ijt Uhland als Dichter nicht geweſen. Seine jugendliche Gefühls- 


Sheatertultur? 271 


lyrik mit ihrem ſchwermütigen Unterton entbehrt vielfach ber Friſche und Rlar- 
heit. Seine politiſchen Gedichte für das alte gute Recht ſind ein markiges Zeugnis 
von Mannesmut und Bürgerſtolz, aber auch von echt ſchwäbiſcher Hartköpfigkeit, 
die ſich gegen das beſſere Neue zugunſten des guten Alten ſträubt. Seine Balladen 
dagegen ſind Edelſteine im Kranz der deutſchen Poeſie. Wo findet ſich auch deutſches 
Herz und deutſches Gemüt ſchöner und lauterer ausgeprägt, als in Gedichten, wie 
„Der gute Kamerad“ oder „Oer Wirtin Töchterlein“? 


AVAVA 
Theaterkultur? 


(Berliner Theater-Rundſchau) 


an mag (i puritaniſch grämen und kann es doch nicht ändern: Das Theater 
D braucht „Theater“. 

i Trotzdem ſcheint es mir erlaubt, von Theaterkultur gu ſprechen. Freilich, 
wenn an unter dem Wort mehr verſtehen wollte, als bie zunehmende Kultivierung des 
verſtandesgemäßen Geſchmacks; wenn man etwa an die Hochziele der Kunſt dächte, dann 
würde es ſchwer ſein, dem Theater unſerer Zeit einen beſonderen Nimbus zuzubilligen — 
trotz der vermehrten Summe künſtleriſcher Leiſtungen. Denn noch weit üppiger als dieſe 
hat ſich der theatraliſche Betrieb erweitert, und die Proportionen von Kunſt und Theater in 
den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts und in der jüngſten Zeit laffen fih nicht in 
Gleichungen bringen. Dagegen — das eine iſt ſicher: die Anſprüche der Vernunft, die 
das Publikum an die Theaterſtücke ſtellt, ſind geſteigert. Ich ſpreche von dem Publikum, 
das für die Vernunft überhaupt in Betracht kommt, und nicht von den immer noch ertled- 
lichen Maſſen, die die Operettenkomponiſten und deren gehirnweiche Librettiſten füttern. 

Wir anderen haben uns ein wenig verändert. Bei manchem Stück, das vor dreißig Jahren 
einen großen Bühnenerfolg einheimſte und das man jetzt wieder ausgräbt, wundern wir uns 
weidlich über die Harmlofigteit und die ſchiefen Urteilsprojektionen der älteren Generation. 
Man ſagt dann in der Regel, es zeige ſich die Wandelbarkeit des Geſchmacks, oder die Zeit habe 
die Komödie mit einer Staubſchicht bedeckt. Aber das ſind Redensarten, die nichts erklären. 
Es gibt febr alte Theaterſtücke, die nur aus klugem Erſinnen und nicht aus dichteriſcher Ein- 
gebung entſtanden find, und doch heute noch ungebrochen wirken. Leſſings „Emilia Galotti“ 
rechne ich zu dieſer Gattung. Andere Stücke jedoch, deren grelle Effekte einſt das Publikum 
berauſchten, find uns fremd, kalt, ja vielleicht lächerlich geworden. Warum? Weil diefe Stücke 
nicht den Schein wahrten, daß ihnen ber Menſch ber Gegenſtand der Oarſtellung fei, 
und weil in ihnen das Theater nur ſich ſelbſt gab, nämlich — Theater. 

Wir ſind alſo im allgemeinen empfindlicher geworden gegen die grobe Täuſchung, 
die man einſtmals einverſtändlich hinnahm. Als Gutzkow „dichtete“, wußten es die beſſeren 
Zuſchauer auch: er ſchreibt das Theater für das Theater ab, doch man hatte dagegen nichts ein- 
zuwenden, man fand es in der Ordnung. Heute verſteht man unter dem guten Geſchmack 
eines Dramatikers, daß er fein Stück nicht in einen fühlbaren Gegenſatz ſtelle zum Möglichen, 
Wahrſcheinlichen. Das Virtuoſentum, das fid) offen brüftet, ift nicht bloß in der Schauſpielerei 
erledigt; vielleicht aber find der Dramatiker und der Schauſpieler die größten Virtuoſen, 
die mit ihrer Technik den Schein erwecken, daß ſie das wahre Leben abbilden, während ſie 
doch nur ihre Effekte anlegen, ihre zwar diskret gewordenen, aber ſicheren Effekte. 


212 Cheatertultur ? 


Ja, die feinere Diskretion der Effekte, das iſt der Fortſchritt unſerer Theaterkultur. 
Die wirklichen Dichtertaten der Gegenwart beſtimmen das Niveau des Theaters in geringerem 
Maße. Sie find zu febr in der Minderzahl im Vergleich mit den Lieferungen der Runfthand- 
werker. Man kann auch nicht ſagen, daß ſie der Koeffizient einer Kultur von höherer Art 
ſeien, als wir den großen Schöpfungen anderer Zeiten verdankten. 

* e * 

Das Schickſal einer Reihe von Stücken, mit denen in dieſen Wochen die Berliner Spiel- 
zeit eröffnet wurde, beſtätigt neuerdings das Erkannte. 

Da wurde im Königlichen Schauſpielhaus die in den ſiebziger Jahren 
entſtandene Tragödie „Die Bluthochzeit“ von Albert Lindner aufgeführt. 
Das Schauſpielhaus iſt das ſteriliſierte Meininger Theater. Aus dem Archiv der Meininger hat 
man das Lindnerſche Trauerſpiel geholt und den Stil der Darftellung, die vor mehr als dreißig 
Jahren einen großen Erfolg bedeutete, recht getreu nachgemacht. Was brachte unſeren Er- 
innerungen nun eine ſchwere Enttäuſchung? Nichts ſonſt hatte ſich verändert, als nur unſere 
Aufnahmefähigkeit. Wieder ſuchten uns die unheimlichen Stimmungen und Spannungen 
der theatraliſierten Bartholomäusnacht zu packen; wieder die vergifteten Kerzen, die dem 
König von Frankreich den Tod bringen, unſere Sinne zu umnebeln; wieder dröhnten die Ge- 
ſchütze und die Verſe und läuteten die Glocken und ſangen die Hugenotten, während ſie zu 
Tauſenden hingemordet wurden, das Lutherlied. Alle Regiſter des alten Theaters waren 
aufgezogen, und Katharina von Medici war des Teufels tragiſche Großmutter nach erprobtem 
Schnitt und der halbidiotiſche Karl IX. die Bombenrolle, auf deren Mätzchen ſich einſtmals 
trefflich reiſen ließ. Wir aber, wir neueren Theaterſkeptiker, blieben unbewegt, und der ge- 
waltige Nollenfpul erpreßte uns nur das Stoßgebetlein: „O Schickſal, gib uns einen, einen 
Menſchen!“ Wir lauſchten vergebens, ob nicht einmal ein gutes natürliches Wort von dem 
Theaterpathos abfallen würde, und fühlten uns beſchämt in die Kinderſtube zurüdverfegt 
von all dem Aufwand unmöglicher Schiebungen und Scribeſcher komödiantiſcher Intrigen, 
die auch Brieftäuſchungen und belauſchte Geſpräche nicht verſchmähen. — Wer aber vor 
Jahrzehnten die „Bluthochzeit“ ein „Theaterſtück“ geſcholten hätte, würde es mit den gelehrten 
Herren verdorben haben, die Albert Lindner (wenn auch für ein anderes Stück) sub specie 
aeterni den Schillerpreis verliehen. 

* è * 

Das neu gegründete Romidienbhaus Dr. Rudolf Lothars will bem freundlichen 
Behagen, dem heiteren Spiel, dem guten Geſchmack, will der Gegenwart und nicht der Ewig- 
keit geöffnet ſein. Es iſt ein Haus, in dem ſich angenehm wohnen läßt. Aber einer der erſten 
Bühnengäſte war eine Leiche. Das Schauſpiel „Die Zarin“, von Melchior Lengyel 
und Ludwig Biro, ijt einige Jahrzehnte früher, als es geboren wurde, geſtorben; ift ge- 
ſtorben mit der Mode der Star-Stücke. Die es nicht mehr wiſſen, denen fei erzählt, daß früher 
betriebſame Autoren den machthabenden Schauſpielern mit der Schneiderelle Rollen an den 
Leib maßen. Dann gingen ſie hin und legten der Glanzrobe dramatiſches Futter unter. Aus 
der großen Katharina von Rußland wollten die Madjaren Lengyel und Biro fold) ein Schneider 
kunſtſtück machen. Sie vergriffen fid) im Stoff und nahmen grobes, plumpes Zeug mit fchreien- 
den Farben. Wenn wir Sardou überhaupt haben müſſen, dann ſchon lieber den franzöſiſchen, 
als ben madjariſchen Gardou, dann Iden lieber die „Madame Sans-Géne“, als die von den 
Paprikahändlern gelieferte „Zarin“! Dem durch und durch verlogenen Star Stück gab das 
Komödienhaus eine glänzende Ausſtattung und gute Schauſpieler; nur gerade den weiblichen 
Star für „die“ Rolle konnte es nicht ſchaffen. Es iſt gut, daß Helene Odilon oder Jenny Groß 
nicht mehr ſtrahlen; die eine oder die andere hätte der „Zarin“ zum Erfolg geholfen. 

Eingeweiht wurde das Komödienhaus mit den Werkchen zweier Luſtſpiel-Autoritäten. 
Aber der Einakter von Ludwig Fulda: „Feuerverſicherung“, eine gequälte 


Sheatertultur? 973 


Erfindungsloſigkeit, zitierte den Magiſter Fauſt: „Name iſt Schall und Rauch“; und Mar 

Sreners Biedermeierkomödie „Der lächelnde Knabe“ ließ der liebenswürdigen 

und kernigen Natur des Dichters verzeihen, daß auch ihm einmal nichts Rechtes eingefallen 

war. Ließ es ihm verzeihen, weil er um ein Nichts die Reize des Koſtüms gebreitet und das 

Zeitkoſtüm mit Grazie verinnerlicht hatte. Die Zähmung einer und eines Widerſpenſtigen 

wird in dem Luſtſpiel von Kupido in Windeln beſorgt, von einem ausgeſetzten Wochenkind. 
* á * 

Das alfo waren, von Dreyers niedlichem Scherz abgeſehen, unglückliche Nachkommen 
einer ausſterbenden Raffe von Theaterſtücken. Spiele mit Puppen, nach Puppen⸗Modellen, 
nicht nach dem Leben gedrechſelt. Auf der anderen Seite wurde uns aber der Typus jenes 
pſeudo-dionyſiſchen Aſthetenſtücks nicht erſpart, das den Quellen des Lebens eben fo ferne ift, 
wie bas Kliſchee-Theaterſtück. Rari Sternheim, das Serlidt bes Deutſchen Theaters, 
hatte vordem in zwei Luſtſpielen Brutalität für Witz gegeben, und die Mokka ſaugenden Kraft- 
genies fanden es köſtlich. Diesmal kam er uns tragiſch und — zwiefach ſpaniſch. In Spanien 
ſpielt fein Trauerſpiel „Don Zuan“. Offenbar weil diefes Land die Heimat ſowohl bes 
ſagenhaften Don Juan de Tenorio, wie des geſchichtlichen Don Juan d' Auſtria ijt, entſtand 
des Verfaſſers Idee, beide Perſonen, die außer Namen und Vaterland nichts gemein 
haben, unter einer Haut zu verkörpern. Den adoleſzenten Don Zuan, nicht den erfahrenen 
Wüſtling Mozarts und Grabbes, wollte Sternheim ſchaffen, den Jüngling, ber fid) durch die 
erſten Sinnesräuſche tobt. Aber ſchon am Ende eines Theaterabends wird dieſer frühreife 
Verführer, Vergeuder, Held und Mörder ein frommer Myſtifax. Allerdings: an der Geduld 
der Zuſchauer gemeſſen, war ja der Werdegang Don Zuans übermäßig lang. Es iſt nicht 
möglich, den ſzeniſchen Wirrwarr zu kennzeichnen, der in ungefähr dreißig Verwandlungen 
das Parkett mit der Drehkrankheit bedrohte. Ein Nebel wogte, den ich für ben Dunſt der 
Impotenz zu halten mich erdreiſte. Das Unverſtändliche ſollte romantiſch und tief dünken. 
Doch mit entſetzlich ſchlechtem Deutſch lugte aus dem Chaos die Nüchternheit hervor. Recht 
nüchtern war gewiß auch die Hoffnung des Verfaſſers, daß er allerhand Neigungen erobern 
würde mit dem Wagnis, mehrere Szenen auf zerwühltem Liebeslager ſpielen zu laſſen. Selbſt 
diefe dichteriſche Rechnung ging nicht aus. Die Vorſtellung endigte mit einem bitteren Theater 


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Das Deutſche Theater wetzte die Scharte mit einer großen Tat aus. Es rief bie ſtarken 
Dämonen feiner Kunſt und gab der ſchaurigſten aller Tragödien: Strindbergs Loten- 
tanz“, eine Wirklichkeit, die der bangende Leſer des Dramas nicht ahnt. Der „Totentanz“ 
ift der dunkelſte Schatten, den der ſchwediſche Rieſe warf. Die troſtloſe Atmoſphäre in Ibſens 
„Geſpenſtern“ ift harmlos, verglichen mit der Luft, die in dem kreisrunden, düſteren Turm- 
gemach der öden Inſel fault. In dieſem Käfig leben ein Mann und eine Frau, Menſchen 
von nicht gewöhnlicher Eigenart, und werden in den langen Jahren ihres Ehekerkers zu rud- 
loſen Beſtien, die fid) kniffig belauern, unendlich haſſen und blutig zerfleiſchen. Die Pſychoſe 
des Zuſtands hat Strindberg gegeben. Wie gegeben! Ein langes Drama mit nur drei 
Perſonen, mit kargen, knappen Worten, das alle Spannungen und Erſchütterungen höchſter 
dramatiſcher Gewalt meiſtert. Wohl dringt durch die Quadern des böſen Turms ein Hauch 
von Strindbergs Myſtizismus; doch er beirrt nicht den Dichter, der mit dem klaren Auge und 
der feſten Hand des Anatomen die lebenden Menſchen zerſchneidet, als ob ſie Leichen wären. 
Auch Max Reinhardt — und das fei ernſt gewürdigt — widerſtand jeder Lockung der Theater- 
romantik. Er drang mit prieſterlicher Keuſchheit in das Myſterium des Menſchenhaſſes. Zur 
Seite ſtanden dem Strindberg-Regiſſeur zwei furchtbar wahrhafte Geſtalter: Paul Wegener 
als Kapitän Edgar und Gertrud Eyſoldt als Alice. 

* 


** 
+ 


De: Türmer XV, 2 18 


274 Theaterkultur ? 


Wo wird Ibſen, wo wird Strindberg fo erkannt, wie auf ben Bühnen Berlins? 
Im Sinne der Bibel, die das letzte Beſitzergreifen meint, wenn ſie die Worte braucht: „ein 
Weib erkennen“ 

Das Menſchliche ift es allein, das in Strindbergs myſtiſchem Paſſionsſpiel „O ft ern“, 
ber weichſten Dichtung des harten Kämpfers, uns bezwingt. Das Drama erlebte eine Wieder- 
aufführung in dem jüngſt eröffneten Deutſchen Schauſpielhausz; eine Auf- 
führung, die von Paula Somarys nervenkranker Kleinmädchengüte (der hellſeheriſchen 
Eleonore) eine beſondere Weihe erhielt. 

* è * 

Von zwei ruſſiſchen Stücken ſei noch berichtet. 

Das eine iſt ein altes verborgenes Kleinod der Weltliteratur: Gogols einaktige Skizze 
„Die Spieler“. Zum erſtenmal in Oeutſchland wurde (im Neuen Volkstheater) 
dieſe naturaliſtiſche Meiſterſzene gegeben, die geſchrieben war, lange ehe man einen deutſchen 
Naturalismus kannte. Neben der überlegen lächelnden Satire auf die panruſſiſche Korruption 
fällt an dem kleinen Ding die Luftmalerei, die lebendige und charakteriſtiſche Atmoſphäre, 
auf. Sie wurde unter Lichos Leitung von der Oarſtellung prächtig ausgeſchöpft. — aj 

Aus Oeutſch-Rußland ſtammt Leo Birinski. Und wie vor Jahr und Tag für feine 
Tragödie „Der Moloch“, bat er auch für feine Komödie Narrentanz“ (Uraufführung 
im Leſſingtheater) den Stoff der ruſſiſchen Revolution entnommen. Ein wahrhafter 
Nihiliſt, einer, ber aud) an die Hoffnungen des politiſchen Nihilismus längft nicht mehr glaubt . . ., 
hat das grauſame Trauerſpiel und die Aberlaut lachende Poſſe geſchrieben. „Narrentanz“ iſt eine 
Burleske mit ernſtem literariſchen Charakter. Die Figuren ſind Karikaturen, die Situationen 
auf den Kopf geſtellt. In dem Nonſens aber ſteckt Sinn, und hie und da blitzt ein Ingenium. 

Das Gemälde der Beamtenkorruption in Gogols „Reviſor“ ift mit kraſſen Zügen 
der Gegenwart aktuell gemacht. Die Stützen des ruſſiſchen Staates benutzen die Revolution 
als Melkkuh. Auch der Gouverneur Chabarowicz läßt ſich von der Regierung große Summen 
zahlen für die Unterdrückung der Revolution. Aber die Terroriſten haben gerade fein Gouver- 
nement immun gemacht, um dort eine Freiſtatt zu finden und ungeſtört ihre Pläne beraten 
zu können. Ihr Archiv befindet ſich im Hauſe des Gouverneurs, ja einer ihrer Führer lebt 
dort als verzärtelter Hausgenoſſe und geht, ein Märtyrer feiner Überzeugung, ein vom Gatten 
begiinjtigtes Liebesverhältnis mit der ältlichen Xantippe des Gouverneurs ein. Als man in 
Petersburg über bie fo koſtſpielige Ruhe im Gouvernement den Kopf zu fdiitteln beginnt, 
entſchließt fid der hohe Beamte, eine Revolution zu feiner Deckung künſtlich hervorzurufen. 
Er läßt ſeinen Sekretär eine Piſtole abknallen, fällt auf den Bauch und hat nun über ein 
Attentat zu berichten. Verkleidete Poliziſten ſchickt er auf die Straße, die „Joch die Revolution“ 
brüllen müſſen. Die Schein revolutionäre werden von den wirklichen Revolutionären, die (id) 
aus guten Gründen als Wächter der Staatsautorität aufſpielen, verhaftet. So werden alle 
Rollen vertauſcht. Aber das Spiel mit ernſten Dingen brandmarkt nicht bloß den Augiasſtall 
der ruſſiſchen Bureaukratie; es führt uns auch ohne Augenbinde mitten unter die jungen 
Schwärmer, und hier vernehmen wir, je wilder der Humor ſchäumt, einen ſchmerzlichen Grund- 
ton. Denn dieſe Retter der Menſchheit ſind unſelige Kinder und Hyſteriker, und der einzige 
reife Mann unter ihnen ſpricht höhniſch aus: nichts Klügeres bleibe ihnen zu tun, als für ihren 
Glauben zu ſterben. Ein Hauch von der wehen ZFronie der großen Komödiendichtung durch- 
zieht die Szenen, die das Publikum der Poſſe rückhaltslos belacht. 

Noch einmal: es ſteckt etwas in dieſem Stück. Aber das Stück iſt unförmig, es leidet 
an Überfülle der Epiſoden, es peitſcht zu heftig die Humore, und fein Zuviel erregt am Ende 
Abſpannung und Gleichgültigkeit. Auch die famoſe Aufführung konnte die Wirkung nicht 
auf der Höhe halten. Immerhin: von Birinski, dieſem Gogol-Enkel, haben wir viel zu erwarten. 


A^ Hermann Rienzl_1 


Phantaſten und Dichter 275 


Phantaſten und Dichter 


Vie Phantaſie ijt eine Gabe Gottes, und man follte fie niemals mißbrauchen. Aber 
grade darin find die Utopiften immer groß gewefen. Ihre gegenwärtigen Jünger 
treiben es am ärgſten. Das Radium, das ein Hohn auf unſere phyſikaliſchen Grund- 
geſetze zu ſein ſcheint, und die drahtloſe Telegraphie mit ihrer geheimnisvollen Fernwirkung 
haben ihnen grade noch gefehlt. Das wirkt auf die Erzphantaſten wie der warme Regen auf 
die Pilze. Für die feſſelloſen Ausſchweifungen ihrer Vorſtellungen ijt kein Ding unmöglich. 
Die Flugmaſchinen und Zeppeline find überwundene Punkte. Man fliegt ſozuſagen Iden aus 
dem Handgelenk. 

Martin Atlas übertrumpft in feinem Zukunftsroman „Die Befreiung“ 
(Berlin, Dümmler) den Amerikaner Bellamy, deffen „Rückblick aus dem Jahre 2000“ vor 
zwei Dezennien ein Ereignis erſten Ranges war, und den Engländer Bulwer-Lytton, deffen 
anonymer Zukunftsroman „The coming race“ in Deutſchland weniger bekannt fein dürfte. 
Martin Atlas fabuliert von einem genialen Phyſikus, dem es gelingt, das Mial zu entdecken 
und aufzuſpeichern. Hinter dieſem geheimnisvollen Wort verbirgt ſich nichts anderes als die 
Grundkraft, die ſich in Schwere, Licht, Wärme und Elektrizität manifeſtiert. Damit iſt dieſer 
wackre Mann nicht mehr und nicht weniger als der Prokuriſt des lieben. guten alten Herrgotts 
geworden. Hat man dieſen erzphantaſtiſchen Stoß erft einmal verwunden, lieft man das um- 
fangreiche Buch immerhin mit einigem Vergnügen. Man iſt eben auf alles gefaßt. Die Wunder 
der Bibel ſind Kinderſpiel gegen die Taten der Penoner, wie ſich die Anhänger, Freunde und 
Helfer des großen Phyſikus nach der künſtlichen Inſel, bie fie bewohnen, benennen. Sogar 
Gedanken verſteht man da mit unfehlbarer Sicherheit zu leſen. Der juriſtiſche Apparat rer- 
einfacht (id) bedeutend. Die Rechtsanwälte miiffen ihre Tätigkeit einſtellen. Auch bas Mili- 
tar erübrigt ſich. Die Völker werden auf unblutige Weiſe entwaffnet. Das Glück der Menfch- 
heit ijt kein leerer Wahn mehr. Die ſoziale Frage ift durch die künſtliche Ernährung gelöſt. 
Krankheiten und Mediziner ſterben aus. Der Himmel auf Erden iſt zur Tatſache geworden. 
Die Unſterblichkeit ift in greifbarer Nähe. Die ſexuelle Frage exiſtiert nicht mehr. Die menſch⸗ 
liche Entwicklung iſt auf der Höhe und damit beendet, und den guten Penonern bleibt nichts 
übrig, als ſich die Ewigkeit mit Skatſpielen zu vertreiben. Die Nigger werden mialiſch weiß- 
gewaſchen, die Mongolen kriegen einen europäiſchen Geſichtsſchnitt. Es ijt in Penon eine Luft 
zu leben! 

Die ſinnreiche Idee, auf mialiſchem Wege den Mond herunterzuholen und mit ihm in 
den Weltenraum hinauszukutſchieren, iſt dem Verfaſſer leider nicht eingefallen. Das wäre 
immerhin cin [uftiger Ausweg geweſen. Aber der Humor ift nicht feine Sache. Die fonjtrut- 
tion des unterirdiſchen Aquatorialringes, der das Mial aufſpeichert, bleibt tiefſtes Geheimnis, 
ein Utopiftentrid, der nur in der Kunſt der Taſchenſpielerei fein Analogon findet. 

Auch Emil Sandt kommt in feinem neuen Buche „Im Ather“ (Berlin, Vita) 
fo bitterbös ernſthaft, daß man unmöglich ernſt bleiben kann. Obſchon er ſich zwei Masken vor- 
bindet, zuerſt die des Trieſter Sparkaſſenrendanten, dann die des einſamen Teſtators, erkennt 
man doch das gealterte Geſicht des hoffnungsloſen Peſſimiſten dahinter, gewöhnlich in der 
Poſe des Predigers in ber Wüſte. Er ſchimpft auf die ganze ſogenannte Wiſſenſchaft und will 
wohl ſchließlich nichts anderes, als für den Herrgott Proſelyten machen. 

Und dabei erzählt er eine Flugfahrt von Hamburg nach Neuyork. Aus der Idee einer 
Ozeanuͤberquerung, die Wellman übrigens ſchon zur Farce gemacht hat, kann niemals das 
wahre Heldentum entſpringen. Es iſt vielmehr das moderne Sportheldentum, das an etwas 
Unwertiges fein Leben ſetzt, ein Surrogat, wie es die Senſationspreſſe aus kapitaliſtiſchen 
Ruͤckſichten gefliſſentlich und gewiſſenlos züchtet. Zudem ijt der Gedanke, über den Ozean zu 
fliegen, trotz Wellman nicht mehr ganz neu. Aber der Sandtſche Surrogatheld fliegt trotz 


276 Phantaſten und Dichter 


alledem, und zwar aus dem Fußgelenk. Er fliegt nämlich mit einer Maſchine, die nach den 
kargen Andeutungen, die gegeben werden, ohne Gottes direkte und perſönliche Hilfe überhaupt 
nicht fliegen kann. Mag er denn fliegen! Zuerſt nad) Brüffel Über dem Schlachtfeld von 
Waterloo entdeckt er in ſich einen für den Leſer geradezu fatalen Hang zum Philoſophieren, 
dem auch in der Folgezeit leider nur zu häufig Ausdruck verliehen wird. Leſefrüchte werden 
ſerviert in Feuilletonſauce à la Napoleon. Yn Compiègne rettet der Herr Flieger eine Frau, 
die ſeinetwegen aus dem Flugapparat ſtürzt. So verkürzt er ſich ſelbſt ſein Heldentum. In 
Paris umkreiſt er den Eiffelturm und hat dem begeiſterten Publikum gegenüber die Anwand- 
lungen eines Trappiſten. Aber es kommt noch beſſer. Bei Breſt wird auf ihn geſchoſſen, ein 
franzöſiſcher Panzerkreuzer verfolgt ihn. Die Landung auf dieſem Schiff (von vorn über den 
ſpitzen Bug!) ſpricht aller Statik Hohn. Ein Kapitel, das als gelungen bezeichnet werden darf, 
ſchildert die Rettung einer däniſchen Schonerbeſatzung. Was der Held aber nachher auf dem 
Hapagdampfer fragt und daberredet, ſteht mit feinem Fliegen ungefähr in demſelben Ver- 
hältnis wie der binomiſche Satz zur Borromäusenzyklika. Man ſieht ſich immer nach der Gou- 
tane um. In Neuyork landet er auf dem Gerüft eines Wolkenkratzers, entflieht vor der un- 
reifen Menſchheit nach Labrador und vernichtet fein Flugzeug, indem er es unbemannt auffteigen 
läßt. Es ſcheitert an der Hudfonbai. Irgendwie mußte die unglückliche Maſchinerie doch ver- 
nichtet werden, ſonſt wäre ſie gewiß in ein Muſeum gekommen. 

Dieſes „Teſtament eines Einſamen“ wurde in einer bekannten Berliner Wochenſchrift 
abgedruckt. Man kann dieſen Mißgriff nur bedauern. Denn Emil Sandts Stil bedeutet für 
einen Menſchen von Geſchmack noch immer eine nicht zu gelinde Folter. 

Während bie Phantaſie dieſes Teſtamentsvollſtreckers durchaus monoman genannt wer- 
den muß, verfügt Karl Hans Strobl über eine geradezu univerſelle Einbildungskraft. 
In feinem zweibändigen, bei Georg Müller in München erſchienenen Roman „Eleag abal 
Kuperus“ ſchleppt er den Lefer durch alle Himmel und Höllen dieſer Erde. Obſchon er über 
den Eingang des grandioſen Werkes das Motto: „Glaube dem Wunder!“ ſetzt, bleibt er doch 
in den Hauptſachen im Bereich der phyſikaliſchen Möglichkeiten. 

Der Vorwurf zu dieſem Noman läßt ſich in die Frage faſſen: Was entſteht, wenn das 
vertruſtete Kapital der ganzen Welt von einem dem Machtwahnſinn Verfallenen beherrſcht wird? 
Dieſer Paralytiter, deffen Sohn ein Kretin ift, heißt Thomas Bezug, ift ein Fabrikant und ver- 
körpert das Prinzip des Böſen. Sein Widerſacher iſt Kuperus, ein Arzt, der aus myſtiſchem 
Dunkel Wunder des Guten wirkt. Sie befehden ſich aufs äußerſte. Die Großſtadt, in der ſich 
dieſer Kampf abſpielt, trägt Züge von Prag. Eine Turmwächterwohnung bildet bie Inſel 
der Seligen. Auch ein Flieger, der auf ſeine Weiſe die Menſchheit von der von Thomas Be- 
zug beherrſchten Erdoberfläche befreien will, erſcheint. Leider ſtärzt er ab. Alle menſchlichen 
Stände, vom Waldmenſchen bis zum organiſierten Terroriſten, werden aufgeboten. An reli- 
giöſem unb ſexuellem Wahnwitz fehlt es nicht. Eine Geſellſchaft zur Ausnutzung der Erdober- 
fläche wird gegründet. Da bleibt denn der große Kladderadatſch nicht lange aus. Thomas 
Bezugs paralytiſches Gehirn wird dabei auf eine febr ſinnreiche Weiſe von dem noch ganz 
brauchbaren Rückenmark getrennt. 

An Seltſamkeiten ijt der Roman überreich, aber es find Seltſamkeiten, die untoiber[teb- 
lich anziehen, weil fie mit einer Sicherheit und Selbſtverſtändlichkeit vorgetragen werden, wie 
fie nur dem ſelbſtſicheren fünjtler eigen find. Es wird in dem Buch nicht viel meditiert und ge- 
redet, es wird gehandelt. Bitterer Ernſt und ätzende Satire wechſeln ab. Ohne Aufdringlich- 
keit wird nach einem lebendurchleuchtenden Symbolismus geſtrebt. Ein burlesker, zuweilen 
etwas erzentriſcher Humor, der an die Karikatur gemahnt, beweiſt, wie ſouverän der Dichter 
über feinem Stoff ſteht. 

3m Gegenſatz zu der ätheriſchen Phantaſie Sandts ijt „Eleagabal Kuperus“ glänzend, 
ja hinreißend gefchrieben. Alle Einwendungen, zu denen fih der geſunde Menſchenverſtand 


Phantofter und Dichter 277 


im Anfang aufzuraffen genötigt fieht, werden durch bie Wucht der Sar[tellung niedergemäht. 
Schier unheimlich ift die Fülle der Gefichte, die der immer lauernden Phantaſie bes Berfaffers 
entquillt. Nicht ſelten gemahnt das Buch an einen überheizten Dampfkeſſel. Zuweilen muß 
man mit der Lektüre innehalten, ſo ſehr überſteigt die Spannung das Maß des Erträglichen. 
Hat man das Buch hinter fid, glaubt man, aus einem Serenjabbat zu kommen. Sicher wird 
ſich dieſes Werk, das jedem Lefer ein Erlebnis bedeutet, noch lange Zeit an der Spitze der phan- 
taſtiſchen Romane halten. Denn dorthin muß man es ſtellen. 

Die Sehnſucht nach dem höheren Menſchentum iſt auch die treibende Kraft des Romans 
von Wilhelm Hegeler: „Die frohe Botſchaft“ (Stuttgart, Deutſche Verlags 
anſtalt). Elitanien ſoll gegründet werden, eine Kolonie zur Bildung und Züchtung von Clite- 
menſchen. Im alten Europa iſt kein Platz dafür, alſo auf nach Afrika! Schloſſer, der Erfinder 
Elitaniens, ſieht ſchon im Geiſte das Paradies zu Füßen des Kenia liegen und ſammelt Freunde. 
Aber erft als ein ungenannter Wohltäter 83 000 & ſpendet, rückt die Verwirklichung Elitaniens 
näher. Eine Vorexpedition wird ausgerüftet. Schlo ſſer führt fie an. Allein er kommt gar nicht 
hinüber ins Land der Verheißung. Unterwegs verfällt er, längſt ein innerlich Verzweifelter, 
feinem Schickſal. Die Expedition ſcheitert Häglih, und Clitanien bleibt, was es war, ein ſchöner 
Traum. 

Der plötzliche Aufſtieg und der Untergang der elitaniſchen Bewegung hängen durch die 
Perſon eines etwas dämoniſchen Schreinergeſellen innig zuſammen. Er ift nämlich der un- 
genannte Wohltäter, unb die 83 000 & ſtammen von einem Oiebſtahl. Er wird an Schloſſer 
zum Mörder aus Eiferſucht. Dies alles bildet die Untermalung fir das Porträt Charlottens, 
der Tochter des verarmten Regierungsrats Damme. Sie ſchlägt ſich redlich und fleißig durchs 
Leben, wird eine begeiſterte Elitanierin und erkennt deutlich, daß Elitanien nicht im Innern 
Afrikas, ſondern im Innern jedes Menſchen zu gründen fei, und daß die Sehnſucht danach 
das Beſte und Bleibende iff, Was dieſes vortrefflich geſchriebene Buch weit über den Durch- 
ſchnitt der modernen Romanliteratur hinaushebt, iſt ſein Streben nach Menſchheitsideen und 
Ewigkeitswerten. 

Auch Hermann Heſſes Roman „Gertrud“ (München, Langen) iſt ein ſtilles, 
ſchönes Buch voll ſtarken inneren Lebens. Kein großes Schickſal, ſondern ein innig erlebtes 
Dajein aus dem Durchſchnitt ift es, das fid) hier in aller Keuſchheit entſchleiert. Ein reiner, 
verſonnener Zauber zarteſter Poeſie liegt über die ganze Oarſtellung ausgebreitet. 

Kuhn, ein begabter Muſikus, der fid) mit dem inneren Glück begnügt, das ihm aus feiner 
Kunſt fließt, zeichnet ruͤckſchauend fein Leben auf. „Gertrud“ ſchreibt er darüber, den Namen ber 
edlen Frau, die ihm nicht nur ein großes Stuck Erleben und Schickſal war, ſondern noch jetzt 
als Stern und hohes Sinnbild über allem ſteht. Ein Übermut, der ihn fußlahm macht, füllt 
ſeine Seele mit Gram und Bitterkeit. In dieſem Zuſtande iſt er reif für die Freundſchaft des 
Opernfängers Muoth, dem unter einer glänzenden Außenſeite ein zerriſſenes und glüdsfeind- 
liches Gemüt lauert. Er bringt den Verzagten als zweiten Geiger an das Opernhaus einer 
entfernten Stadt. Hier erfüllt ſich beider Geſchick in Gertrud. Sie neigt ſich dem Sänger zu, 
dem fid) jedoch auch in der Ehe das Glüd verſagt. Ein überraſchend ſchneller Tod befreit ihn 
von dem Haß gegen ſich ſelbſt. Für Kuhn bleibt das Verzichten und die Freundſchaft mit Gertrud. 

Kuhns Widerſpiel iſt „Enzio“, deſſen Leben von der Geburt bis ans frühe Ende 
Friedrich Huch in dem gleichnamigen muſikaliſchen Roman (München, Möride) auf- 
zeichnet. In Anlehnung an „Pitt und Fox“, bes Verfaſſers voriges Buch, könnte man als Unter- 
titel zu Enzio ſetzen: „Oie Liebesirrwege eines Hofkapellmeiſterſohnes“. Während fih der 
Vater mit dem traditionellen Verhältnis zu der Primadonna begnügt, kann ſich Enzio vor der 
Liebe überhaupt nicht retten. Bald ift es Pimpernellchen, bald Frene, bald Bienle, bie ihm 
das leichtentflammte Herz entzündet. Sogar eine febr temperamentvolle Weſtindierin be- 
anſprucht ihn längere Zeit für fid. Zuletzt geht feine Verlobung mit Frene auseinander, und 


278 Phantaſten und Dichter 


er findet in feiner Verzweiflung den Tod, ohne ihn recht geſucht zu haben. Wie es ihm in der 
Liebe geht, geht es ihm in der Kunſt. Er zeigt Anläufe, bringt es aber nie zur Meiſterſchaft. 
Dieſes Schickſal, das nicht nur für den muſikaliſchen Rünftler als typiſch angeſprochen werden 
darf, wird in eindringlicher, aber niemals aufdringlicher Weiſe geſchildert. Richard, der Freund, 
tritt nicht ins volle Licht der Oarſtellung, trotz der langen Geſpräche, die er mit Enzio über die 
tönende Kunſt führt. Was im Laufe dieſer Dialoge über Weſen und Wachſen der Tonkunſt, 
über Technik und Wertung ihrer verſchiedenartigen Formen und Meiſter vorgebracht wird, 
verrät den geſcheiten und verſtändigen Freund der Muſik. 

Ebenfalls ein Entwicklungsroman, aber ein weiblicher, iff Karoline Kremer“ 
von Rudolf Heubner (Leipzig, Staackmann). Der Verfaſſer, der über einen trocknen, 
zuweilen bezwingenden Humor verfügt, iſt in ſeine Heldin bis über beide Ohren verliebt und 
versteht es, durch feine dreiſte und wackere Sar[tellungsart feine Verliebtheit auf die Lefer über- 
fließen zu laffen. Die Heldin wird in Roſenberg in Sachſen geboren, genießt die goldene Frei- 
heit ihrer Jugend, fegt fic mit ber böſen Schule auseinander und läßt ein freundliches Penfio- 
nat über fih ergehen. Inzwiſchen wird der Vater als Zollrat in eine größere Stadt verſetzt, 
wo ſich Karoline auf ſich ſelbſt beſinnt und der Wiſſenſchaft in die Arme wirft. Aber das ſichere 
Gefühl ihrer Weiblichkeit läßt ſie kurz vor dem Studium abſchwenken. Nun ſoll ſie verheiratet 
werden, was ſie ganz vorzüglich zu hintertreiben verſteht. Schließlich geht ſie auf die Akademie 
nach München und pinſelt kräftig. Hier aber kriegt fie fih mit einem äfthetifchen Kunſtprofeſſor, 
der übrigens ein zum Verwundern prächtiger Kerl ift. Während ihrer Ehe macht fie auch 
andere Leute glücklich, es gibt zum Schluß eine von der Verſchwendungsſucht geheilte Schwäge- 
rin und einige friſchbackne Ehepaare. 

Oer Verfaſſer ſtellt das typiſche Schickſal der braven höheren Tochter dar, die aus gut 
fituierten Kreiſen ſtammt, nach Wiſſenſchaft und Kunſt langt und (id mit Bildung und Silettan- 
tismus begnügt, um endlich in der Liebe ihre wahre Beſtimmung zu finden. Die modernen 
Frauen werden in dieſem herzhaften Buche kurzerhand erledigt. Eine wird ſogar trotz ihres 
Sträubens kurzerhand unter die Haube gebracht. Das prachtvolle Buch, für Erwachfene ge- 
ſchrieben, kann man auch jedem Mädchen in die Hand geben und darf gewiß ſein, daß es in hohem 
Grade erzieheriſch und veredelnd wirken wird. Denn es iſt eine Dichtung und keine Moralin- 
paſtete & la Thekla von Gumpert und Nachfolgerinnen. 

Ein Heimatroman im beſten Sinne iſt das in demſelben Verlage erſchienene Buch „Die 
Glocken der Heimat“ von Adam Müller-Guttenbrunn. Ein Schwaben 
dorf im Banat läßt er vor unſern Augen erſtehen. Wie dieſe Bauern, von denen jeder ein Held 
iſt, weshalb auch das Buch keinen Helden braucht, ihren Boden gegen die beiden reißenden 
Ströme Theiß und Donau verteidigen, fo ſtehen fie auch treu zuſammen im Kampfe gegen die 
madjariſche Flut, die dieſen wackeren Rolonijten ihr durch Jahrhunderte gepflegtes Deutſchtum 
zu entreißen trachtet. Nur die Selbſthilfe kann hier zum Ziele führen. Und nach der Kraft, 
die dieſem Buche, dem Schmerz und Zorn eines Banater Schwaben, die künſtleriſche Geſtalt 
gegeben hat, darf man hoffen, daß fic die ungariſchen Machthaber an ihren deutſchen Landes- 
genoſſen Ober kurz oder lang die chauviniſtiſchen Zähne ausbeißen werden. Denn gegen das 
Gold dieſes Buches gehalten ijt Petöfi höchſtens Silber und Zolai (ier Blei. Eine beſonders 
übelduftende Blüte der ungariſchen Verwaltung iſt der Waſſerbauingenieur, der im letzten Grunde 
die Schuld an dem das Dorf vernichtenden Dammbruch trägt. Eine nicht minder lebens volle 
Figur iſt der Kaplan, der der Kutte entſpringt und mit ſeiner Liebſten nach Amerika auswandert. 
Die andern aber bleiben zurüd, um die von Grund aus zerſtörte Heimat von Grund aus wieder 
aufzubauen. Nach dem Kulturdokument, das Adam Müller-Guttenbrunn mit dieſem Werke 
niedergelegt bat, kann man den zwei Millionen Deutfchen, die in Ungarn wohnen, getroſt ihr 
eigenes Schickſal anvertrauen. Sie brauchen nur bei ihrer prachtvollen Oickköpfigkeit und ihrem 
Geburtsüberſchuß zu bleiben, fo werden die Madjaren, bie längſt beim Pariſer Zweikinder- 


Phantaſten unb Oichter 279 


ſyſtem angelangt ſind, in knapp zweihundert Jahren vor der beſchämenden Notwendigkeit 
ſtehen, das Deutſche als allgemeine Landesſprache proklamieren zu müſſen. 

Das beſte der drei vorliegenden Heimatbücher iſt Auguſt Friedrich Krauſes 
„Dasſtille Leuchten“ (Berlin, Fleiſchel). Es führt in die Senke zwiſchen dem Zobten 
und dem Eulengebirge, wo Gruſchwitz und Ludwigsdorf liegen, zwei Nachbargemeinden, die 
ſich ſeit urdenklichen Zeiten befehden, obſchon kein Menſch den Grund weiß. Dafür iſt man 
eben in Schleſien. Mit der Fauſt kämpft die Jugend, die Alten begnügen fid) mit dem Wort. 
Da fällt es der Kantorstochter von Ludwigsdorf ein, ſich in den herrſchaftlichen Förſter von 
Gruſchwitz zu verlieben. Sofort fahren die Ludwigsdorfer zum Oache hinaus. Es gilt, die 
Ehre des Dorfes zu wahren! Als nichts hilft, ſperren ſie dem Kantor das Gehalt, wieder echt 
ſchleſiſch! Der Rufer im Streit ift der Oorfbader Ferdinand Ignaz Krätzig, ein ganz pracht- 
voller Kerl, der im Kirchenbuch ſeine uneheliche Geburt ausradiert. So etwas kann eben nur 
einem Schleſier einfallen! Zuerſt hofft man, daß er der Held dieſer Geſchichte wird. Doch der 
Kampf wird ernft, und Anna-Liefe, die Kantorstochter, rückt in den Brennpunkt des Geſchehens. 
Sie läßt nicht von dem Förſter, der unter einem glänzenden Außeren feine innere Armut ver- 
birgt, und tut ſchon aus Trotz den folgenſchweren Schritt. Die Ehe wird unglücklich. Schuld 
häuft ſich auf Schuld, bis der Mord aus Eiferſucht die ſtarkbewegte, hochgeſpannte Handlung 
auf die Spitze treibt. 

Nach Wismar lockt Ottomar Enking mit ſeinem Roman ,Rantor Liebe“ 
(Berlin, Bruno Caſſierer). Für einen Romanhelden iſt das ein überaus paſſender Name, aber 
er iſt ein ganz gewöhnlicher Menſch, der nur ein wenig ſpät zum Freien kommt. Frida Dernehl, 
die Gärtnerstochter, die ganze zweiundzwanzig Sabre jünger ift, nennt ihn feit ihrem dreizehn; 
ten Jahre nicht anders als „Onkel Liebe“. Später heiratet ſie ihn, und nach etlichen Jahren 
nennt ſie ihn wieder „Onkel“, allerdings nur einmal und ganz unabſichtlich, aber es genügt, 
um ihm die Augen zu öffnen. Dazwiſchen liegt ihre Verſuchung durch den Gärtnergehilfen 
Sönne Frokarl. Faſt erliegt ſie ſeinem ſtürmiſchen Werben. Dann aber ſiegt ihr beſſeres und 
höheres Sein, und ſie ſchickt ihn kurzerhand fort. Die heimatliche Landſchaft kommt dabei nicht 
zu kurz, denn Wismar, die alte Hanſaſtadt, feiert ihre hundertjährige Zugehörigkeit zu Med- 
lenburg. Kein großes, aber ein tiefes und inniges Erleben ſpricht aus dieſem Buche, das 
allen Freunden einer ruhigen und ſauberen Lektüre beſtens empfohlen werden darf. 

Sohbannes Schlaf meldet ſich mit einer Novellenſammlung „Der alte 
Herr Weismann” (Berlin, Bondy) zu Wort. Nachdem er fid) den guten Witz ge- 
leiſtet hat, das Kopernikaniſche Weltſyſtem für einen fauſtdicken Irrtum zu erklären, ſind ſeine 
Freunde der frohen Hoffnung geweſen, daß er von den unfruchtbaren, ertüftelten Zeitproble- 
men feiner letzten Romane zu feinem guten alten Humor zurüdfinden würde. Dieſe Hoffnung 
ift durch das vorliegende Novellenbuch in Erfüllung gegangen. In Oingsda beſitzt der alte Herr 
Weismann einen großen Garten, aber er hat auch eine febr voluminöſe Nafe, von der im letzten 
Grunde das Lebensglück eines gewiſſen jungen Mannes abhängt. Sobald Johannes Schlaf 
im Kreiſe einfacher Menſchen, die ruhig etwas abſonderlich und ſtets etwas ſchnurrig ſein dürfen, 
bleibt, erzählt er feſſelnd und ergößlich. Denn er ift ja in Dingsda zu Haufe. Er hat immer dort 
gewohnt. Ein bißchen Wehmut mit viel Humor gemiſcht, iſt die Luft, die dort weht. Sie weht 
auch durch die Titelnovelle, die die Hälfte des vorliegenden Buches ausmacht, und die man 
nach Aufbau, Steigerung und Löſung ein Meiſterſtück nennen darf. Die anderen kleinern 
Stücke halten fid) nicht auf dieſer Höhe, find aber auch ganz gut und nützlich zu leſen. 

Rudolf Hans Bartſch, der ein Bändchen „Bitterſüße Liebes- 
geſchichten“ herausgegeben hat (Leipzig, Staackmann), ijt ein ganz anders gearteter Humo- 
rift In ihm ift das forglofe, optimiſtiſche Jung- Oſterreichertum fo deutlich und (darf in die 
Erſcheinung getreten, wie noch niemals. Wo er nichts als bitter ernſthaft kommt, wie in ſeinem 
letzten großen Roman, glüdt es ibm daneben. Zum Bitterfüßen ſteht er nicht viel beffer, Von 


280 Tolſtois Borobinoſchilderung 


dem vorliegenden halben Dutzend Geſchichten ſchildert die erſte den Tiroler Volkskrieg unter 
des Sandwirts Anführung. Aber nicht dieſe Heldengeſtalt ſteht im Mittelpunkt, ſondern der 
Doktor Wiirffel, der aus Steiermark den Tirolern zu Hilfe eilt, in ein beinahe galantes, alfo 
bitterfüßes Abenteuer gerät und ſchließlich dem Bayernkönig gründlich die Wahrheit fagt. 
Das iſt ebenſo eigenartig erzählt, wie die „Geſchichte von der verdammten Seele des Herrn 
Kläuſer“, der um der hohen Metternichſchen Politik willen feine Liebſte an einen andern ver- 
heiratet. Prachtvoll ſind auch die „Pfingſtküſſe“, die ſich der beneidenswerte Kapellmeiſter 
Willibald Himmelmayer holt. Das befte Stück aber ift „Der ſteiriſche Weinfuhrmann“, ein un- 
mittelbar aus der heimatlichen Landſchaft erwachſenes tragiſches Schickſal, über das der Humor 
verſöhnende Lichter wirft. Gerade bei dieſer Geſchichte erkennt man, wie vorzüglich der Titel 
des Buches gewählt ift. Es ift herzhaft und weich in feiner Art und wird dem beliebten Dichter 
ſicher viel neue Freunde zu ſeinen zahlreichen alten werben. 


Ewald Gerhard Seeliger 
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Lele 
Tolſtois Borodinoſchilderung 


Auf die tendenziöſe Darſtellung der Borodinoſchlacht in Tolſtois Roman „Krieg und 
Frieden“ weiſt Karl Bleibtreu in der „Täglichen Rundſchau“ hin: 

» . . Ganz franzöſiſch erzogen, bewahrte Tolſtoi ſtets Abneigung gegen deutſches Weſen 
und ſpart ſeine ärgſte Gehäſſigkeit für Zerrbilder deutſcher Figuren auf, ſeien ſie Balten oder 
Norddeutſche oder Oſterreicher. Ja, auch diefe werden als Vertreter des Deutſchtums ver- 
ſpottet und verleumdet, vor und bei Auſterlitz. Der klaſſiſche Gewährsmann Napoleon ſprach 
fih freilich ganz anders und recht beleidigend über die Nuffen aus, deren maſſenhaft weg- 
geworfene Torniſter und Waffen er höhniſch mit den öſterreichiſchen Leichen vergleicht. Nur 
die öſterreichiſche Dummheit und Feigheit verſchuldete laut dem Wahrheitsprediger Tolſtoi 
die Niederlage der biederen Ruſſen? Den jämmerlichen Kutuſoff, bei dem die Namensendſilbe 
ſo ſehr bezeichnend, einen laſterhaften, habgierigen Heuchler und Charlatan ohne eine Spur 
militäriſcher Fähigkeit, bläſt er ſchon hier zu einem Weiſen und Nationalhelden auf. Daß er 
nicht mal mit vierfacher Übermacht bei Dürrnftein eine franzöſiſche Diviſion vernichten konnte, 
weiß Tolſtoi ebenſowenig, wie daß der von den Ruſſen verpfuſchte gute Plan ausſchließlich 
vom öſterreichiſchen Stabschef Schmidt herſtammte. Ein Menſch, der Schmidt heißt, ſteht 
aber bei Tolſtoi von vornherein auf der ſchwarzen Lifte: Alle Deutſchen find Giel und Streber 
zugleich, die Franzoſen ſchaut er etwas gnädiger an, macht ſich nur herablaſſend über ſie luſtig 
als windige kindiſche Patrone. Doch widmen fie den erhabenen Ruffen das Kompliment: 
ahr ſchlagt euch gerade fo gut wie wir.“ Solche unnütze Selbſtherabſetzung fiel den ſtolzen Welt- 
befiegern nie ein, und vom wahren Geiſt der Großen Armee hat der hiſtoriſch“ ganz ungebildete 
Tolſtoi keine blaſſe Ahnung. Sein Davout benimmt fid) wie ein ruſſiſcher Polizeiwachtmeiſter, 
Murat tritt als leibhaftiger Hanswurſt auf. Alles iſt übrigens äußerſt dürftig in ſchattenhaften 
Umriſſen. Die alberne Napoleonkarikatur hat Harden als eherne Dämonie“ geprieſen, und 
Brandes preiſt die Unterredung mit Balachow: es fei, als wäre Tolſtoi zugegen geweſen! 
O ja, nämlich Balachow, deſſen Bericht der Dichter wörtlich abſchrieb! Auf ſolche Art in den 
Geruch eines großen Napoleonporträtiſten zu kommen, ift bequem. Bei Borodino zeigt fein 
Napoleon wieder mal, daß Heroen gar nichts bedeuten, er gibt lauter unnütze Befehle gwifden- 
durch, um fid überhaupt bemerkbar zu machen. Denn auf die Schlacht übte er nicht den ge- 
ringſten Einfluß, wie T. treuherzig verſichert. Dagegen überwacht der großartige Kutuſoff 


Denkmal des Kaisers Alexander II P. v. Joukovsky 


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Raabe über feine „Chronik der Sperlingsgaſſe“ 281 


aus höheren Geſichtspunkten das Ganze und ſtellt fejt, daß er glorreich ſiegte, trotz ber elenden 
deutſchen Generale im heiligen Mongolenheer, die leider anderer Meinung ſind. Das ſtimmt 
ausnahmsweiſe, denn der unſagbare Schwindler hatte wirklich die Frechheit, dem Zaren 
ſeinen entſcheidenden Sieg zu berichten — indem er vernichtet aus Moskau retirierte. Dagegen 
läßt der ‚große Dichter“ Napoleon lächerlich ſchwadronieren, falls er nicht im Schnupfenfieber 
daſitzt wie ein Greis, der fid) nicht zu helfen weiß. Die älteſten, längſt widerlegten Legenden 
nimmt T. eben auf und verwertet fie pamphletariſch, damit der unmündige Lefer es gut- 
gläubig nadhbete,... Afo bei Borodino vollbrachten die Ruffen alles allein, die deutſchen 
Führer ſtörten nur, von Feldherrn wie Bennigſen und Barclay bis zum Flügeladjutanten 
Wolzogen herunter, ihnen fehlte das heilige Feuer. ‚Ah, ba ift er, mein Held!“ begrüßt fein 
Kutuſoff den ſympathiſchen Rajewsfi wie einen Sieger. Nur ſchade, daß deffen Korps gänzlich 
aufgerieben und [don früh durchbrochen wurde, daß er und Milovadowitſch in die Vierecke 
des deutſchen Helden Prinz Eugen von Württemberg flüchten mußten, dem dort vier Pferde 
unterm Leib erſchoſſen und zwei Drittel der Mannſchaft niedergeſtreckt wurden. Ebenſo focht 
an den Bagrationsſchanzen am bravften der Grenadierchef Prinz Karl von Mecklenburg. Da 
aber ſelbſt ruſſiſche Hiſtoriker den Prinzen Eugen herausſtreichen, fo entſpricht Tolſtois abjicht- 
liches Totſchweigen hier einem Syſtem. Man komme uns nicht mit der Ausrede, hiſtoriſche 
Richtigkeit ſei Nebenſache, wenn man einen beſtimmten künſtleriſchen Plan dabei befolge, 
und der chauviniſtiſche Unrat ſchädige nicht die ſonſtige Unſterblichkeit der Niefendidtung. 
Wir leugnen hier jedes Niefenhafte und erkennen in dem Ganzen nur eine aufgereihte Kette 
von prachtvollen Genreſzenen, die wahrſcheinlich auch ein richtiges kulturhiſtoriſches Kolorit 
tragen. Was bedeutet dies aber für die Weltkataſtrophe von 18122“ 


* * 
= 


Raabe über ſeine „Chronik der Sperlingsgaſſe“ 


Im Raabe -Kalender für 1913, der in der Groteſchen Verlagsbuchhandlung erſchienen 
iſt, teilt Wilhelm Brandes zwei Briefe mit, in denen Raabe intereſſante Aufſchlüſſe über die 
Entſtehung ſeines erſten Buches, der „Chronik der Sperlingsgaſſe“ gibt. In dem einen Brief, 
der an den Kritiker Ludwig Rellſtab gerichtet ift, heißt es: „... Ich habe dies Büchlein als ein 
Student im vorletzten Sommer [1858] in Berlin geſchrieben und das Lokale fo ziemlich treu 
beibehalten; die bunten Figuren und Figürchen des kleinen Theaters aber ſelbſt geſchaffen 
und ſollen einige bedeutend lobenswürdiger als ihr teurer Erzeuger ſelbſt ſein. Seien Sie da— 
bei verſichert, geehrteſter Herr, daß mir die ‚hohe und höchſte Verwandtſchaft“ durchaus nicht 
zu Kopfe geſtiegen iſt — ich weiß recht gut, daß der ganze Vert des Büchleins nur in einer ge— 
wiſſen Friſche und Unmittelbarkeit der Anſchauung, die auch beim erſten Blick gefällt, beſteht.“ 

Der zweite Brief wendet ſich an den Literaten Thaddäus Lau. Es heißt darin u. a.: 
„ . . Ohne Bekannte und Freunde in der großen Stadt war ich vollftändig auf mich ſelbſt be- 
ſchränkt und bildete mir in dem Getümmel eine eigene Welt. Im Sommer 1855 ſchrieb ich 
meine „Chronik der Sperlingsgaſſe“, welche 1857 im Orud erſchien. Das Buch ift jedenfalls 
ſozuſagen eine pathologiſche Merkwürdigkeit; — Trauerſpiele und Gedichte habe ich vorher 
weder gemacht noch verbrannt und mich ſomit vor manchen Sünden bewahrt, die andere junge 
Poeten mit der Feder und Tinte begehen ...“ 


Der Türmer XV, 2 19 


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Bildende ‘Kunst 


Die neuen Stuttgarter Hoftheater 
Von Dr. Karl Storck 


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NO ganz ungewöhnliche Beteiligung einheimiſcher und auswärtiger 
Ki Fachleute der verſchiedenſten Künſte, unter ber jid Mitte Gep- 
S (7 tember bie Einweihung ber neuen Königlichen Hoftheater zu Stutt- 
gart vollzog, entſprach durchaus der Bedeutung, die dieſer Leiſtung 
= über die Grenzen Stuttgarts hinaus zukommt. Es war nicht die in Feit- 
reden übliche Übertreibung, wenn hier unter lauter Zuſtimmung aller Teilneh- 
mer behauptet wurde, daß dieſe Eröffnung ein epochemachendes Ereignis ſei 
für die ganze Theaterwelt, insbeſondere für den Theaterbau und ſein Verhält— 
nis zu den darzuſtellenden Werken. 

Als die deutſchen Verhältniſſe noch kleiner waren, hatten ſelbſt große Städte 
nur ein Theater. Was ſonſt etwa an Bühnenhäuſern geſchaffen wurde, diente 
ſcharf umgrenzten, meiſt rein örtlichen Zwecken. Das Wachstum der Geſamt— 
verhältniſſe äußerte ſich dann zumeiſt im Größerwerden dieſer Theater. Schließ- 
lich lag ja auch in der Zahl der verkäuflichen Plätze der gegebene Maßſtab für die 
aufwendbaren Mittel. Was an kleineren Bühnenhäuſern noch vorhanden war, 
ſtammte zumeiſt aus jener Zeit, in der der wirklich künſtleriſche Theaterbetrieb 
ausſchließlich eine höfiſche Angelegenheit war. Darin, daß die Fürſten das Thea— 
ter als eine mehr perſönliche Angelegenheit auffaßten, als eine Unterhaltung, die 
fie zunächſt für fid und dann für ihre nähere und weitere Umgebung veranſtalto— 
ten, war neben dem großen Haus für beſonders feſtlichen Prunk der Anlaß zu 
kleineren Räumen für intimere Unterhaltung geboten. Gerade unter dieſen klei— 
neren Theatern befinden fid einige Juwele der Baukunſt. Sie find zeitweilig 
arger Geringſchätzung anheimgefallen. Das hing mit der Entwicklung der Kunſt 
ſelber und des Kunſtgenuſſes in dem oben angedeuteten Sinne der Semotrati- 
ſierung zuſammen. Schiller, mit dem wir überhaupt erſt ein deutſches Drama er— 
hielten, war eine ſo heroiſche und dabei urvolkstümliche Natur, daß ſein ganzes 
Wirken auf Größe aller Verhältniſſe abzielen mußte. Der Zdealgedanke des antiken 
Feſtſpielhauſes, den natürlichen Rahmen für das Geſamtvolk als Zuſchauer der 
größten Ereigniſſe feiner Geſchichte, der gewaltigften Ideen feines Lebens ab— 
zugeben, ijt feit Schiller der leitende Gedanke wenigſtens der deutſchen Theater- 


284 Stord: Die neuen Stuttgarter Hoftheater 


kunſt geblieben. Die maßgebende Bedeutung, die Shakeſpeare für ben deutſchen 
Bühnenſpielplan gewann, wirkte auch in dieſer Richtung, die end ich durch Richard 
Wagner zum Ziele geführt wurde. 

In anderen Ländern, vorab etwa in Frankreich, würde eine ſolche geiſtige 
Einſtellung zwanglos die durchaus entſprechende äußere Entwicklung im Sbeater- 
bau und in der geſamten Löſung aller theatraliſchen Fragen nach ſich gezogen 
haben. Man würde alſo dort wohl ganz allgemein zu Theaterbauten gekommen 
fein, wie fie bei uns Richard Wagner in feinem Bayreuther Feſtſpielhauſe ge- 
ſchaffen hat. Bei uns in Deutſchland wirkten andere Kräfte einer derartigen ein- 
fachen Entwicklung entgegen. Bis auf wenige Ausnahmen ſind bis in die neueſte 
Zeit hinein alle größeren Städte Deutfchlands gleichzeitig Reſidenzen. Und damit 
iſt das Theater in hohem Maße eine höfiſche Angelegenheit geblieben. 

Es ijt hier nicht der Ort, Vorteile und Schäden in dieſer Tatſache abzu- 
wägen. Sie iſt zu einer ſo mächtigen Kraft geworden, daß jene Art des Theater— 
baus, die ſich ganz logiſch aus der Beſtimmung des Theaters zum Schauplatz 
höfiſcher Feſte entwickelt hatte, auch überall dort bis in die jüngſte Zeit hinein über- 
nommen wurde, wo ein Hof nicht vorhanden war. Das gilt nicht nur für die 
Art des Theaterbaues als Theater mit Rängen und Logen, die die geſellſchaft— 
liche Abſtufung der Zuſchauer gleich äußerlich ſichtbar machen, ſondern auch in 
der Zweckbeſtimmung der Häuſer, wo es mit den wachſenden Verhältniſſen zu 
einer größeren Zahl von Theatern am gleichen Orte kam. War gerade die Oper 
fo recht im Schutze der Höfe herangewachſen, batte fie zwei Jahrhunderte lang 
durchaus den Charakter der Hoffeſtlichkeit getragen, ſo wurde jetzt überall das 
Opernhaus von ſelber zum großen Haufe, während man dem Schauſpiel tei- 
nere Häuſer baute. Daß ſich dieſe Teilung auch in den Preiſen, in der ganzen 
Art der äußeren Aufmachung, der Dekoration geltend macht, iſt bekannt. 

Die ſchärfere Zuſpitzung der politiſchen Gegenſätze im Volk hat es dann in 
den letzten Jahrzehnten dahin gebracht, daß die von Höfen, aber auch von öffent— 
lichen Behörden oder Stadtgemeinden unterſtützten Theater ſich gegen einen Teil 
des künſtleriſchen Schaffens faſt grundſätzlich verſchloſſen. Während ſich den für 
ihre Zeit doch geradezu revolutionären Stücken des jungen Schiller („Räuber“, 
„Kabale und Liebe“) kein einziges Hoftheater aus politiſchen Erwägungen ver— 
ſchloß, ſind etwa ſeit 1870 neue Werke von entſprechend demokratiſchem Gehalte 
auf Hofbühnen einfach unmöglich. Freilich iſt zu bedenken, daß die dramatiſche 
Literatur in immer ſtärkerem Maße auch Tagesfragen des geiſtigen und ſozialen 
Lebens aufgegriffen und dieſe in mehr journaliſtiſchem Geiſte behandelt hat, womit 
natürlich ber 9Xeinungs[treit des Tages auch in die Hallen der Kunſt getragen wird. 

Jedenfalls haben dieſe neuen Verhältniſſe dazu geführt, daß ſich faſt überall 
auch aus inneren künſtleriſchen Gründen der Bau weiterer Theater als notwendig 
erwies. Dieſer Bau hätte nun entſprechend dem Charakter des neuen Dramas 
ganz von ſelbſt zum kleineren intimen Hauſe führen müſſen, wenn nicht die Frage 
der Verzinſung ſolcher Privatunternehmungen hemmend entgegengetreten wäre. 
Jedenfalls haben diefe Verhältniſſe bis jetzt fid für den Theaterbau nicht als fruchr- 
bar erwieſen. Trotz der demokratiſchen Tendenz behielt man das von den Höfen 
überkommene Rang- und Logentheater bei, und wo einmal der Verſuch gewagt 


286 Storck: Die neuen Stuttgarter Hoftheater 


wurde, dem intimen Charakter der modernen Dramatik entſprechend einen in- 
timen Raum zu ſchaffen, wie beim Kammerſpielhaus des Deutſchen Theaters in 
Berlin, mußten aus geſchäftlichen Gründen die Eintrittspreiſe ſo hoch geſchraubt 
werden, daß gerade dieſe demokratiſche Tendenz zu einem Theater geführt hat, 
deſſen Beſuch nur dem zahlungskräftigen Kapital möglich iſt. Man mag in der 
Hinſicht die Theaterfrage betrachten, wie man will, man kommt über den einen 
Punkt nicht hinweg, daß gerade ein künſtleriſches Theater immer ein Luxus blei- 
ben muß. Es iſt ſchlechterdings unmöglich, die künſtleriſchen Forderungen des 
Theaters mit geſchäftlichen eines nach Gewinn verlangenden Unternehmertums 
zu vereinigen. Wer den Luxus ſich leiſtet, iſt eine zweite Frage. Ob das ein regie— 
render Herr, eine Stadtgemeinde oder das Volk als Ganzes iſt, ändert nichts an 
der Tatſache, daß eben für den Luxus des Theaters Mittel aufgebracht werden 
müſſen, wenn einerſeits das Volk am Theater teilhaben ſoll, andererſeits alle 
Forderungen des Kunſtwerkes dieſem entſprechend erfüllt werden ſollen. Es braucht 
nicht erft gefagt zu werden, daß wir von dieſem Zdealzuſtande noch fo weit entfernt 
ſind, daß man ſich ſeine Erfüllung einſtweilen noch gar nicht vorſtellen kann. — 

Das Stuttgarter Hoftheater hat wenigſtens in den zwanzig Fahren, in 
denen es unter der Leitung des Barons Joachim zu Putlitz ſteht, ſich eine ſelb— 
ſtändige Stellung dahin erworben, daß es tatſächlich das geſamte dramatiſche 
Schaffen in feinem Spielplan zu umfaſſen ſtrebt. Das ift natürlich nur als Grund- 
fat zu verſtehen, und zwar fo, daß irgendeine künſtleriſche Richtung als ſolche 
ebenſowenig ausgeſchloſſen war, wie etwa eine ſcharfe demokratiſche ober in ande- 
rer, z. B. ethiſcher Hinſicht umſtürzleriſche Gefimumg. Wie Stuttgart die erſte 
deutſche Bühne war, die ſich an Björnſons „Über die Kraft“ wagte, fo find hier 
auch Tolſtoi mit der „Macht der Finſternis“, Gorki mit dem „Nachtaſyl“, Wildes 
„Salome“ aufgeführt worden. Selbſt Wedekind hat an dieſem Hoftheater Cin- 
gang gefunden. Man mißverſtehe mich nicht. Ich will durchaus nicht ſagen, daß 
mir der Stuttgarter Spielplan als ſolcher in jeder Beziehung einwandfrei er— 
ſchiene; ich ſtelle bloß feſt, daß hier ein Theater iſt, das wirklich den Grundſatz hat 
und nach ſeinen Kräften durchführt, in ſeinem Spielplan ein Geſamtbild des dra— 
matiſchen Schaffens der Vergangenheit und Gegenwart zu bieten. 

Das gilt in gleichem Maße für die Oper. Stuttgart gehört zu jenen Städten, 
die [don lange auch ein kleines Theater beſitzen. Der kluge Intendant berichtet 
ſelbſt, wie er früher mit einem gewiſſen Schmerze feſtſtellen mußte, daß in dem 
kleinen Kurtheater zu Berg mit viel geringeren Mitteln für das moderne und in- 
time Theater Wirkungen erzielt wurden, die dem großen Hoftheater nicht mög— 
lich waren. Er verſchloß fic) damals nicht der Erkenntnis, daß dieſe Tatſache ledig- 
lich auf den Naumverhältniſſen beruhte, und verſuchte dem Mangel dadurch zu 
begegnen, daß das in Cannſtatt liegende Wilhelmatheater für das intime Drama 
und die Spieloper in Benutzung genommen wurde. Aber das Theater hängt 
neben vielen anderen Faktoren auch vom Verkehr ab. Man hat heute nicht mehr 
Zeit genug, um einige Stunden dem Aufſuchen eines abgelegenen Bühnenhauſes 
widmen zu können. 

Alle dieſe Verhältniſſe haben dazu geführt, daß ſich in dein tatkräftigen 
Intendanten nach dem Brande des alten Hoftbeaters vor zehn Jahren der Ge- 


Storck: Die neuen Stuttgarter Hoftheater 287 


danke feſtſetzte, für den Neubau zwei Häuſer durchzuſetzen, ein großes und ein 
kleines. Die Teilung des Spielplanes follte aber nun nicht in herkömmlicher Weiſe 
nach Oper und Schauſpiel erfolgen, ſondern aus dem Geiſte der Werke heraus: 
für die große Oper und das große Drama ein großes Haus, für das intime Drama, 
das Konverſationsſtück, das moderne Problemdrama, für die Mozartopern und 
Spielopern ein kleines Haus. Es bleibt das große Verdienſt des Barons Putlitz, 
dieſen Gedanken allen Widerſtänden zum Trotz durchgehalten zu haben. Schon 
in ihm liegt ein bedeutſamer Fortſchritt, den z. B. in Berlin zu erreichen trotz 
aller Mühe bislang unmöglich war. Trotzdem man gelegentlich die Erfahrung 
machen mußte, wieviel beſſer Spielopern im engen Rahmen des Königlichen 
Schauſpielhauſes zur Geltung kamen, als im großen Opernhauſe, hat man ſich 
bis heute nicht entſchließen können, den Spielplan aus ſolchen Geſichtspunkten 
heraus auf die beiden Häuſer zu verteilen. 

Man muß die Gründe inſofern billigen, als in der Tat ſich ſehr große Be- 
triebsſchwierigkeiten ergeben. Da war es der glückliche Gedanke des erprobten 
Münchner Theaterbaumeiſters Max Littmann, nicht zwei Häufer zu bauen, fon- 
dern ein Doppelhaus, und dieſes architektoniſch und ſachlich durch die Verwaltungs- 
gebäude jo zu verbinden, daß in einem einzigen großen Gebäudekomplex inner- 
lich und äußerlich zuſammengeſchloſſen und doch ſachlich getrennt der ganze Theater- 
betrieb vereinigt wurde. Dieſer durchaus geſunde Gedanke hat durch ſeinen Ur— 
heber eine, ſoweit alles Techniſche in Frage kommt, muſtergültige Löſung ge— 
funden. Aber die Bedeutung dieſer für die finanzielle Seite und den geſamten 
Theaterbetrieb wichtigen Errungenſchaft mögen uns die Ausführungen des alten 
Theaterfachmanns Ernſt von Poſſart (Die deutſche Bühne, IV, 15) belehren: 

„Die Parallelſtellung beider Theater und ihre Verbindung durch einen quer 
dazwiſchenliegenden großen Mittelbau, der ſämtliche Nutzräume enthält, und zwar 
das Elektrizitätsgebäude, die geſamten Dekorations-, Möbel- und Koſtüm-Maga— 
zine, die großen Ankleideräume für die Chorherren, Chordamen, Statiſten und 
Statiſtinnen, ferner den Ballettſaal, den Chor-Probeſaal, die Rüſtkammer, die 
Malerateliers, die Bibliothek, die Intendanz- und Beamtenbureaus, die fajjen- 
gewölbe und bie Billettſchalter für den Tages- unb Abendverkauf. Es ergibt fih von 
ſelbſt, welch außerordentliche Erſparnis an Betriebskoſten es bedeutet, wenn alle 
dieſe Räumlichkeiten, die zwei Theatern dienen, nur einmal hergeſtellt zu 
werden brauchen. Es iſt aber ebenſo klar, daß die Arbeit in den nebeneinander 
liegenden beiden Häuſern eine eminente Schonung der phyſiſchen und pſychiſchen 
Kräfte aller Berwaltungsorgane und des gejamten techniſchen Perſonals in fid) birgt. 

Der Gewinn, welcher aus der unmittelbaren Nähe des Dekorationsmagazins 
entſteht, ift ein ganz bedeutender. Die Malerei wird dadurch gefchont, weil bie 
Dekorationen nicht mehr über die Straße zu transportieren ſind, ſondern nur 
in den gleichmäßig temperierten Räumen der beiden, durch einen heizbaren Gang 
verbundenen Bühnen hin und her getragen werden. 

Nichts iſt für die Haltbarkeit der Farbe wichtiger als die Gleichmäßigkeit 
der Temperatur. Wenn Dekorationen und Kuliſſen, wie man das bei räumlich 
getrennten Häuſern ja oft zu bemerken Gelegenheit hat, ſtundenlang in Schnee, 
Regen und Nebel auf der Straße ſtehen, ſo leiden Farbe und Leinwand darunter; 


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Storck: Die neuen Stuttgarter Hoftheater 


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Der Zuſchauerraum bes großen Haufes Prof. Max Littmann 


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200 Storck: Die neuen Stuttgarter Hoftheater 


eine Dekoration, die ſonſt vielleicht erſt nach fünf Jahren einer Auffriſchung und 
Übermalung bedürfte, wird beim ſtändigen Transport über die Straße bei der 
oft wechſelnden Witterung ſchon nach zwei Jahren ſo brüchig, daß ſie eine Er— 
neuerung braucht. 

Hier werden alfo im Laufe der Jahre fchon Tauſende und aber Saujenbe 
an Material gefpart. Dazu gefellt fic) der Umſtand, daß ja bei räumlich getrenn- 
ten Häuſern ein eigenes Dekorationsmagazin gebaut werden müßte, ſo daß zum 
Transport der großen Kuliſſenſtücke und der Vorhänge mehrere Transportwagen 
erforderlich werden. Ein folder Transportwagen koſtet allein ſchon zirka 5000 fC; 
er bedarf eines Geſpannes von je vier Pferden und ſtellt fic in feinem Fuhrlohn 
täglich auf zirka 20 A 

Dasſelbe gilt auch für den Transport von Requifiten und Garderobegegen- 
ſtänden, für welchen ungefähr 2000 % jährlich an ben Fubrwerfsbefißer zu entrichten 
fein werden. Das find zuſammen zirka 9000 % Transportkoſten für ein Jahr! 

Alle diefe Poſten kommen durch das verbindende Nittelhaus zwiſchen den 
beiden Parallel-Theatern völlig in Wegfall. 

Auch die Abnutzung der Garderobe, beſonders der Damengarderobe, ijt 
beim Transport derſelben in Körben über die Straße eine weſentlich höhere, als 
wenn die Kleider nur aus den Magazinen von den betreffenden Garderobegehilfen 
geholt und, im gleichen Haufe, in die Ankleideräume gebracht werden. Es liegt 
auf der Hand, daß, wenn man zum Exempel die reichgeſtickten Kleider der Köni— 
gin in den Hugenotten oder die Staatstoilette der Gräfin in Figaros Hochzeit 
in einen Korb wirft, dann bei Wind und Wetter in den Transportwagen ſpediert 
und über die Straße fährt, dieſe koſtſpieligen Toiletten oft einer vollſtändigen 
Neuherrichtung bedürfen. Daß die Stoffe dadurch nicht beffer werden, bedarf 
keiner beſonderen Betonung. Alfo auch in dieſem Punkte wird eine geringere Ab— 
nutzung und dadurch eine weſentliche Erſparnis im geſchäftlichen Betriebe erzielt. 

Das Doppelhaus bietet aber noch andere ganz bedeutende materielle Vorteile. 

Die Anzahl der Theaterarbeiter wird (gegenüber dem Betriebe zweier an 
verſchiedenen Stadtteilen liegender Häuſer) eine Einſchränkung erfahren können, 
da es ſich bei Doppelvorſtellungen leicht einrichten läßt, daß die Arbeiter in beiden 
Häuſern Dienſt tun. Dasfelbe betrifft die Zahl der Ankleider, der Ankleiderinnen 
und der Requiſiteure, bie fidh gleichfalls verringert. 

Einen überaus koſtſpieligen Punkt bei unſeren heutigen theatraliſchen Dar- 
bietungen ſowohl auf dem Gebiete der Oper wie des großen Schauſpieles bietet 
ferner die Bühnenmuſik. Wir werden gar bald keinen Schriftſteller mehr haben, 
der ein Drama ohne Bühnemmuſik ſchreibt; wenigſtens beweiſen die Erfahrungen, 
die ich hierin während der 48 Jahre meiner Tätigkeit an der Münchener Hofbühne 
gemacht habe, daß die Ausgabe für Bühnenmuſik in den letzten Dezennien ımı 
das Sechsfache geſtiegen ij. 8—10 Muſiker, welche — um ein Beiſpiel anzu- 
führen — im Opernhauſe am gleichen Abend im erſten Akte des Freiſchütz die 
Muſik beim Schützenfeſte zu ſpielen und dann in dem kleinen Theater die Ball- 
muſik zu Moſers „Veilchenfreſſer“ auszuführen haben, verlangen, weil dies in 
räumlich getrennten Häuſern geſchieht, zweifache Beſoldung. Man wird in den 
meiſten Fällen von vornherein gar nicht auf die gleichen Muſiker rechnen, weil die 


Storck: Die neuen Stuttgarter Hoftheater 291 


Sicherheit rechtzeitigen Eintreffens bei getrennter Lage beider Häuſer nicht garan- 
tiert werden kann. Wenn bie Muſiker aber unter ein und demſelben Dade blei- 
ben und nur durch den Wandelgang von einer Bühne zur anderen zu gehen haben, 
können ſie für beide Leiſtungen nur ein Honorar verlangen. 

Auch die Koſten für Beleuchtung und Heizung werden ſich bei zentralen 
Betriebe um ein weſentliches geringer ſtellen als bei getrennter Lage der Ma— 
ſchinenhäuſer. 

Wenn die angeführten Punkte auch im einzelnen vielleicht keine allzu große 
Rolle im Ausgabe-Etat des Theaters ſpielen, ſo bilden ſie in ihrer Geſamtheit doch 
einen erheblichen Poſten, deſſen Beſeitigung um ſo energiſcher anzuſtreben iſt, 
als derſelbe für Dinge ausgegeben werden ſoll, die ohne jeglichen Einfluß auf den 
Wert der künſtleriſchen Darbietung find. 

Aber zu dieſen finanziellen Vorteilen geſellt ſich noch eine wichtige Er— 
rungenſchaft für den Betrieb: die Beaufſichtigung beider Häuſer und der darin zu 
leiſtenden künſtleriſchen und techniſchen Arbeit durch die Zentralſtelle, d. i. durch 
den Intendanten, die Regiſſeure und den Mafchineriedirektor. 

Hier laffen fic, ſpeziell an Tagen, wo durch Erkrankung der Mitglieder Ab- 
änderungen ſtattfinden, derartige mißliche Zwiſchenfälle viel leichter reparieren, 
als dies ſelbſt mit Hilfe des Telephons bei räumlich getrennten Häuſern möglich iſt. 

Dadurch, daß die Dekorationsräume im Hauſe liegen und Kuliſſen und 
Proſpekte nicht erſt aus einem entfernten Magazin geholt werden müſſen, be— 
heben ſich die Schwierigkeiten einer ſchnell zu ſchaffenden Erſatzvorſtellung weſent— 
lich leichter. 

Das fällt um ſo mehr ins Gewicht, als ja die meiſten Doppelvorſtellungen 
an Sonn- und Feiertagen ſtattfinden, wo die Sonntagsruhe noch ein erſchweren— 
des Moment beim Erſatz einer abgeänderten Vorſtellung bildet.“ 

Bei einem ſchon fo oft glänzend bewährten Theaterpraktiker wie Max Litt- 
mann, dem Erbauer des Prinzregententheaters, des Schauſpielhauſes und des 
Künſtlertheaters in München, des Weimariſchen Hoftheaters, des Charlotten- 
burger Schillertheaters, der Stadttheater in Hildesheim und Poſen, verſteht es 
ſich von ſelbſt, daß für den Bau der Bühnenhäuſer und die gefamten maſchinellen 
Einrichtungen alle die bewundernswerten geiſtvollen Errungenſchaften der neuen 
Theatertechnik Verwendung gefunden haben. Da find Hinterbühnen und Seiten- 
bühnen, auf denen während des Spiels bereits die neuen Szenen geſtellt werden 
können, ſo daß die Verwandlungen des Bühnenbildes ſich in Sekunden vollziehen. 
Der ſzeniſche Rahmen ſelbſt iſt nach Belieben verſtellbar. Ganze Teile der Bühne 
laffen ſich verſenken und erhöhen, kurzum das Ganze iſt ein Muſter von Überficht, 
Zweckmäßigkeit und Ausnutzung aller nur denkbaren Möglichkeiten. In der Hin- 
ſicht hat es ja unſere moderne Architektur wirklich herrlich weit gebracht. 

Bemerkenswerter noch an dieſer inneren Einrichtung, die ja ber Allgemein— 
heit nie zu Geſicht kommt, ſcheint mir die von einem ſchönen ſozialen Fühlen ge— 
gebene Fürſorge für alle Mitwirkenden. Was man in der Hinſicht an älteren 
Theaterbauten erleben muß, ſpricht oft nicht nur allen geſundheitlichen und mora— 
liſchen Forderungen bobn, ſondern birgt auch für jeden Unglücksfall eine ſtete 
Gefahr in ſich. In Stuttgart ſind aber in jedem Betracht für die Schauſpieler, das 


294 Stord: Die neuen Stuttgarter Hoftheater 


techniſche Perſonal, die Arbeiter, ja die Putzfrauen geſundheitliche Einrichtungen 
getroffen, daß ſelbſt verwöhnte Anſprüche vollauf befriedigt werden können. Da— 
bei hat man überall — und auch darin zeigt ſich das hohe architektoniſche Ver— 
mögen des Baumeiſters — das Gefühl einer reichen Geräumigkeit. 

Dieſen glücklichen Eindruck des Geräumigen hat der Architekt überhaupt er— 
reicht; er beherrſcht uns vor allem im „großen Haufe“ Schon in der Raffen- 
halle, zu der ſieben große Doppeltüren von außen hineinführen, überkommt uns 
dieſes Gefühl des Feſtlichen, Strahlenden und Großartigen. Dabei ift alles außer— 
ordentlich überſichtlich, denn ſchon hier trennen ſich die Wege nach den verſchiede— 
nen Rängen ſowie nach rechts und links zum Zuſchauerraum, der alſo als „Herz“ 
des Theaters mit gliedernder Kraft auch auf dieſe äußeren Räume wirkt. Auch 
daß die zu Wagen Ankommenden mit den Fußgängern ſich nirgendwo ſtoßen und 
im Wege ſtehen, gehört wie die geräumige Garderobe zu dieſen ſcheinbar äußer— 
lichen, aber doch für die Geſamteinſtimmung ſehr wichtigen Vorzügen. Breite 
Marmortreppen führen zum Foyer. In dieſem Foyer des großen Hauſes, das 
als Wandelraum gedacht iſt, gipfelt der feſtliche, wenn man will auch höfiſche 
Charakter. Unſere Architekten find ja gerade im Herausholen reizvoller Farben- 
zuſammenſtimmungen durch Holz, Geſtein, Teppiche, Wandbekleidungen, wie in 
der glücklichen Lichtanlage ſehr weit vorgeſchritten. Hier erheben ſich von gold— 
gelbem Marmorboden auf dunkelgrünen Marmorſockeln altgolden gemaſerte 
Säulenpaare. In goldenen Niſchen ſtehen die leuchtend weißen Marmorhermen 
von Goethe, Schiller, Shakeſpeare, Wagner, Beethoven und Mozart. Ihr Schöpfer 
Paul Epple bewährt fic in ihnen als geiſtvoller Charakteriſtiker. Ein weißer Marmor- 
fries ziert die Wände. Ein ſchwerer blauer Smyrnateppich bringt im Verein mit 
den koſtbaren gelben Vorhängen Ruhe und Geſchloſſenheit in den Raum, der von 
überreichen? Lichte, das aus kriſtallenen Glaslüſtern entſpringt, durchflutet wird. 

Nicht ſo prunkvoll wie dieſer Raum, aber doch von ausgeſuchter Vornehm— 
heit und reich geſchmückt durch Kunſtwerke württembergiſcher Maler und Bild— 
hauer, ſind auch die verſchiedenen Räume, die ſich für den Hof, für die Intendanz 
an die entſprechenden Logen angliedern. Es iſt hier mit großem Glück der Ein— 
druck des Reichtums und des luxuriöſen Lebensgenuſſes ohne alle Protzerei, ohne 
jede Aufdringlichkeit verwirklicht. 

Nicht fo voll befriedigt mich der Zuſchauerraum des großen Hauſes. Aller- 
dings ijt auch hier Feſtlichkeit und Großartigkeit der Geſamtſtimmung erreicht. 
An ſich iſt die hier getroffene Farbenzuſammenſtellung reizvoll, aber der Raum 
iſt zu ſehr nur als Raum behandelt, man hat nicht an die Beſucher gedacht. Unſere 
heutigen Theaterbaumeiſter fliehen das durch Jahrhunderte bewährte Rot, weil 
man es eben jahrhundertelang gebraucht hat. Nun, vor den gelben Wänden wirt- 
ten auch die glänzendſten Toiletten bei den Feſtaufführungen matt, und nicht nur 
die Kleider verloren ihren Glanz, auch die Trägerinnen. Etwas Mattes, Fahles 
legte ſich auf die Geſichter, und ſo gewiß die reiche Verſilberung im Laufe der Zeit 
eine ſchöne Patina anlegen und dann ſehr zart und vornehm wirken wird, gegen 
das feſtlich leuchtende Gelb wird niemals aufzukommen ſein. Sehr ſchön iſt auch 
hier das Licht angebracht, und Möffels rieſiges nächtlich blaues Zodiakallichtbild 
an der Dede ſchließt den Raum nach oben ruhig und feierlich ab. 

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Storck: Die neuen Stuttgarter Hoftheater 295 


Indes, eine Wandbeſpannung läßt ſich ja ändern. Schwerer wiegt das 
grundſätzliche Bedenken, daß nun auch Littmann den amphitheatraliſchen Bau 
aufgegeben bat. In feiner bei Alexander Koch in Darniſtadt erſchienenen, reich 
illuſtrierten Veröffentlichung über die Königlichen Hoftheater in Stuttgart, der 
wir auch fünf unſerer Abbildungen entnehmen durften, ſetzt er ſich mit der Frage 
„Amphitheater oder Rangtbeater?“ eingehend auseinander. Er, der die bedeu- 
tendſten modernen Amphitheater geſchaffen hat, kommt nach eingehender Würdi— 
gung der Vorzüge derſelben zu dem Ergebnis, daß ſie ſich vorzugsweiſe zu Feſt— 
ſpielen eignen, außerdem auch da gutzuheißen feien, „wo — wie im Volkstheater —- 
alle 9tang- und Klaſſenunterſchiede fallen und das demokratiſche Prinzip durch 
die Einheit der Plätze verſinnbildlicht werden foll ... Überall da aber, wo es fid) 
um ein Repertoiretheater handelt, das den verſchiedenſten Kunſtgattungen zu 
dienen bat, und bei dem die... Art der wiederzugebenden Dichtungen und Rom- 
poſitionen einen intimen Raum verlangen, da, wo eine Teilung der Beſucher aus 
geſellſchaftlichen oder anderen Gründen wünſchenswert erſcheint, oder wo eine 
ſehr beſchränkte Bauſtelle zur Verfügung, und wo — wie bei einem reinen Ge— 
ſchäftstheater — die Baukoſten auf ein Minimum herabgedrückt werden müſſen, 
überall da wird der Architekt nicht umhin können, immer wieder beim Rangtheater 
anzuknüpfen“. 

Man ſieht, auch Littmann bat fid) hier hiſtoriſchen Uberlieferungen beugen 
müſſen. Vielleicht muß man ſogar ſagen: hiſtoriſchen Reſten. Denn ich glaube, 
es geht nicht mehr an, aus der Art der Beſucher die Geſetze für den Theaterbau 
abzuleiten, die darf nur das Kunſtwerk diktieren. Und nun war ja hier in Stutt- 
gart die Rüdficht auf das intime Kunſtwerk auszuſchließen, da dieſes fein eigenes 
Haus erhielt. Die geſellſchaftlichen Fragen hätten fih ficher auch im Amphitheater 
löſen laffen. Die Tatſache ijt nicht aus der Welt zu ſchaffen, daß das Drama großen 
Stils nur in der großen, ausgedehnten Fläche ſeine volle Wirkung tun kann. Dar— 
um, fo freudig man auch alle Schönheiten dieſes großen Hauſes anerkennen mag, 
iſt es doch ſchließlich nur eben ein Theater mehr, eine außerordentlich geſchickte, 
aber keine perſönliche Kunſtleiſtung. Die völlige Einheit von Form und Anhalt 
hat hier nicht zur Erfüllung werden können. 

Daß dieſe Tatſache von jedem Beſucher empfunden wird, konnte jeder be— 
obachten, der den Feſtlichkeiten beiwohnte, als am Vormittag des zweiten Tages 
das „kleine Haus“ eröffnet wurde. Hier gab es nicht mehr ein Aufzählen 
ſchöner Einzelheiten, nicht ein Bewundern gelungener techniſcher oder auch künſt— 
leriſcher Neuerungen — hier herrſchte heller Jubel über ein Kunſtwerk. So köſt— 
lich dieſer Raum an jid ijt, er ijt doch eben nur Raum, der fein Leben durch das 
in ihm erſtehende Kunſtwerk, durch die dieſem Kunſtwerk beiwohnende Zuſchauer— 
ſchaft erhält. Kauffmanns Berliner Theaterbauten (Hebbeltheater und Kammer— 
ſpiele) haben wertvolle Anregungen gegeben, ſind aber hier weit übertroffen. 
Die Wände und Ränge des Innenraumes ſind faſt ganz mit dunkel leuchtendem 
Kirſchholz bekleidet, das einen prächtigen Rahmen zu dem leuchtenden Grün des 
die Rückwände der Logen und Ränge überziehenden Brokats gibt. Das ſchmucke 
Weiß der Decke, das Mattgold des Lüſters, die ſchwarzen Rabmenteiften um das 
braunrote Holz, alles gibt einen fröhlichen, behaglichen und doch vornehmen Ton. 


296 Storck: Die neuen Stuttgarter Hoftheater 


Die Vorräume, die Gänge, das kleine, mit hellem amerikaniſchen Birkenholz ge- 
täfelte Foyer ſtimmen in ben vom Zuſchauerraum ausgehenden Grundton þar- 
moniſch ein. Als hier die fröhlichen und ſchmachtenden Weiſen aus Mozarts 
„Figaro“ erklangen, wurde eine ideal ſchöne Kunſt lebendig. Das war nicht mehr 
irgendeine Theateraufführung — das war Kunſterlebnis: ein echtes Feſtſpiel, 
nur ftatt des Großartigen, Erſchütternden, Überwältigenden Verſchönerung des 
Lebens, Durchſonnung, Freude. In dieſem kleinen Hauſe hat der Erbauer ſein 
Meiſterſtück geliefert. 

Bei den großen Gegenſätzen in der Zweckbeſtimmung der hier zu einem ge— 
waltigen Gebäudekomplex vereinigten Innenräume bot die Außengeſtaltung 
große Schwierigkeiten. Ein großes Feſtſpielhaus, ein intimes Theater und ein 
Verwaltungsgebäude zur Einheit zuſammenzuſchmelzen, war eine Aufgabe, vor die 
ſich bislang noch kein Baumeiſter geſtellt geſehen hat. Littmann hat dieſe Aufgabe 
ſehr gut gelöſt, und zwar dadurch, daß er im Außeren auf Schmuck im einzelnen 
faſt ganz verzichtete und nur nach großer Flächenwirkung ſtrebte. Dann hat er 
auch darauf verzichtet, im Außeren den Gegenfak der beiden Theaterhäuſer zum 
Ausdruck zu bringen, ſondern hat hier den Gedanken einer Weiheſtätte der Kunſt 
in den Vordergrund geſtellt, ja er bat dieſes Tempelhafte beim kleinen Haufe 
ſtärker betont als beim großen, wo durch den halbrunden Vorbau mit ſeinen ſchönen 
ioniſchen Säulenpaaren und den ſechs großen Plaſtiken auf der Attika eine mehr 
weltliche Feſtlichkeit betont wird. Wie unſere das Modell des Theaters zeigende 
Abbildung beweiſt, iſt die Verbindung der beiden Häuſer durch das große Ver— 
waltungsgebäude von feiner Eigenart und einprägſamer Charakteriſtik. Darin 
offenbart ſich das Glückliche dieſes Baugedankens, daß er ſich unvergeßlich jedem 
einprägt, der einmal ſeine Verwirklichung geſehen hat. 

Nun haben dieſe Stuttgarter Theater noch eins vor faft allen anderen por- 
aus: die ganz wunderbare Lage. Wie das große Haus hinter dem Schloßgarten- 
teich aus dem Grün der alten Bäume herauswächſt und in dem leuchtenden Gelb 
feiner Sandſteinquadern aufleuchtet, das ijt ein maleriſches Bild von einer Schön- 
heit und Freudigkeit, wie fie im neudeutſchen Städtebau feit Jahrzehnten kaum 
irgendwo erreicht worden find. Mögen diefe ſchönen Tempel der Kunſt echte Weihe- 
ſtätten bleiben zum Heile der Kunſt und des ſie genießenden Volkes! 


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Die neuen Stuttgarter Hoftheater (Modell) Prof. Max Littmann 


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Stätten der Arbeit 


ürers Wort: „Alle Kunſt liegt in der Natur, und wer ſie daraus mag reißen, der 
hat ſie“, läßt ſich dahin ergänzen, daß in aller Natur auch Kunſt ſtecke, wenn nur 
der kommt, der ſie entdeckt und danach herauszureißen vermag. Sehen wir die 
Entwicklung der Kunſt draufhin an, ſo kann auch niemandem dieſe Erweiterung oder auch oft 
nur Verſchiebung des Kunſtgebietes verſchloſſen bleiben. Am deutlichſten erweiſt ſie ſich uns 
auf dem Gebiete der Landſchaft. Verhältnismäßig ſpät erſt hat die Landſchaft überhaupt 
für die Künſtler ſolchen Wert gewonnen, iſt ſie ihnen ſo „ſchön“ erſchienen, daß man ſich um 
ihre Darftellung mühte. Wie bat fid dann die Idealanſchauung von der maleriſchen Qand- 
ſchaft gewandelt. Und find wir nicht eigentlich heute fo weit, daß uns alles in der Natur als 
maleriſch gilt? Daß keine Landſchaft fo arm an Form, an Linie, ja unter Umftänden auch an 
Farbe iſt, daß nicht das begnadete Künſtlerauge — vielleicht ſogar gerade aus der Armut — 
höchſte Stimmungsreize zu gewinnen weiß? 
Und wie könnte es eigentlich anders ſein? Wie das gottfreudige Herz, der gläubige 
Sinn [don lange im Kleinſten und Anſcheinbarſten die Hand des Schöpfers erkannten, wie 
Iden der Pſalmiſt ſagt, daß die ganze Welt in allen ihren Abſtufungen und Erſcheinungen 
das Lob des Schöpfers verkünde, ſo muß nun umgekehrt auch der durch ſeine Schöpferkraft 
gottverwandte Künſtler überall jene Kräfte und Werte entdecken, an denen ſich fein Schöpfer- 
vermögen entzünden kann. 
In weitem Abſtande hinter der Natur kommt auch hier das Werk des Menſchen. Es 
iſt nicht zu leugnen, daß der Menſch Zeugniſſe ſeines Dafeins ſchafft, daß er ſelbſt in großen 
Arbeitsleiſtungen Werke vollbringt, die von einer barbariſchen Häßlichkeit ſind. Vielleicht 


Eingang zum Schacht | : . Zofef Pennell 
Ser Türmer XV, 2 20 


298 Stätten der Arbeit 


jagen wir beffer: voll Schönheitsfeindſchaft find Das liegt nicht etwa an Armut, Kleinheit; 
oft vielmehr gerade am Gegenteil. Die tiefíte Urſache der Häßlichkeit von Menſchenwerken 
liegt zumeiſt in der Selbſtſucht, in der Liebloſigkeit, mit der ſie in die Natur eingeſtellt ſind. 
Durch gemeine materielle Gier erniedrigt ſich der Menſch unter ſich ſelbſt. Er ertötet mit ihr 
geiſtige und ſeeliſche Kräfte, die für die Harmonie des Organismus „Menſch“ unerläßlich ſind, 
und deshalb gelingt es der ſogenannten „Krone der Schöpfung“, Werke von einer inneren 
und äußeren Unſchönheit zu ſchaffen, wie ſie der natürlichen Welt von ſich aus fremd ſind, 
fremd ſein müſſen. Man kann geradezu ſagen, daß die Ziviliſation in ihrer Einſeitigkeit den 
Menſchen überhaupt erſt zu dieſer Art von Häßlichkeitserzeugung befähigt hat, wie denn in 
der Tat die Naturvölker, die „Wilden“, in ihren Bauleiſtungen niemals etwas zuſtande gebracht 
haben, was fo ſchamlos und fo wüft in der Welt ſteht, wie unzählige protzig große Bauwerke, 
die ſogenannten Ziviliſationszwecken dienen. 

Es gelingt den Menſchen ſogar, nicht nur etwas an ſich Häßliches zu ſchaffen, ſondern 
damit auch die vorhandene Schönheit der Umwelt zu zerſtören. Das brauchen keineswegs 
Fabrikanlagen oder dergleichen zu ſein, an die wohl die meiſten Leſer jetzt denken. Ich kenne 
Villenbauten in ſchönen Gegenden, die nicht nur in ſich ſelbſt Muſterſtücke von innerer und 
äußerer Unwahrhaftigkeit und Harmonieloſigkeit find, ſondern die auch fo aufdringlich und 
widerſinnig in die umgebende Natur hineingeſtellt ſind, daß ſie einem die Schönheitswerte 
zerſtören. 

Solchen Erſcheinungen gegenüber iſt natürlich auch der Künſtler machtlos; höchſtens 
der Satiriker, der Karikaturiſt wird hier mit den Mitteln des Gegenſatzes Stimmungsaus- 
löſungen herbeiführen können, die als künſtleriſch zu bezeichnen ſind. 

Das zugegeben, bleibt auf der anderen Seite doch auch hier die Tatſache, daß auch im 
Menſchenwerk dort noch Schönheiten ſtecken, wo man ſie zunächſt überſah, wo man vielleicht 
zuerſt ſogar Häßliches ſah. Auch hier zeigt ſich die Macht der Zeit im Wandel des Empfindens. 
Nur daran erinnern will ich, daß zeitweilig auch die Kunſtleiſtungen gewiſſer Zeitalter geradezu 
als unſchön gebrandmarkt wurden. Wer hat noch bis vor wenigen Jahrzehnten das Barock 
leiden können? Wie haben manche Gotiker, z. B. Heideloff, bei der Reſtauration alter Kirchen 
ſinnlos und grauſam gegen alles Nichtgotiſche gewütet?! Aber dann weiter. Wer hätte früher 
arme deutſche Dörfchen für maleriſch gehalten, die heute die Freude jedes Malers und weiter 
Volkskreiſe bilden? 

Und die Eroberung geht weiter. Man muß nur die rechten Augen haben, oder es muß 
der rechte Mann kommen, der (ie uns öffnet. Immer noch, wenn eine Bahnlinie durch ein 
bislang unberührtes Tal gelegt wird, erklingt der Jammer über die Zerſtörung der Romantik, 
der Naturſchönheit. Und wie ein Schreckgeſpenſt wird einem hingeſtellt, daß künftig an dieſen 
grünen Hängen entlang ein ſchwerer Eiſenbahnzug hindonnern wird. Gewiß, es werden Werte 
zerſtört. Aber werden nicht auch neue geſchaffen? Ich meine auch rein künſtleriſche Schön- 
heitswerte? Man ſehe nur einmal recht zu, wieviel Schönheit der Bewegung darin liegen 
kann, wenn ſich die ungeheure ſchwarze Schlange durch das Gelände ſchiebt. Man beachte, 
welch tolle Gebilde der an den Talwänden hängenbleibende Rauch entwickelt, wie reizvolle 
Farbenſpiele durch ihn entſtehen. Und erſchließen ſich nicht auch aus dem inneren Gegenſatz 
dieſes verſchiedengearteten Lebens der ruhigen Landſchaft zu dem Verkehrsungeheuer geiſtige 
und ſeeliſche Werte künſtleriſcher Art? Hans Baluſchek, und in beſonderem Maße der leider 
nur zu jung verſtorbene Hermann Pleuer haben uns die Augen für diefe künſtleriſche Schön- 
heit geöffnet, oder haben uns wenigſtens zum Bewußtſein gebracht, was wir vielleicht ſchon 
lange empfunden hatten, und nur in der Bequemlichkeit überkommener Anſchauungen nicht 
wahr haben wollten. 

Vor einem reichlichen halben Jahrhundert ſchon hat Guſtav Freytag für fein litera- 
riſches Schaffen den Grundſatz verkündet, das Volk „bei der Arbeit“ aufzuſuchen. Er hat da— 


. 300 ee ee Stätten der Arbeit 


mals im wefentliden den bürgerlichen Kaufmannsbetrieb im Auge gehabt. Inzwiſchen bat 
die Literatur dieſen Grundſatz nicht mehr aufgegeben, und von Zola ift er zur wiſſenſchaft— 
lichen Syſtematik der Geſamtdarſtellung aller Stände und Berufe durchgebildet worden. 
Die bildende Kunſt hat ihrerſeits dieſen Weg genau ſo getreulich abgeſchritten, nur daß es uns 
hier nicht fo auffällig wird, weil gerade das gute Kunſtwerk uns mit begrifflichen Auseinander- 
ſetzungen verſchont. Zur felben Zeit wie etwa Guſtav Freytag, hat Francois Millet die Größe 
und Schönheit der Bauernarbeit aufgezeigt. Ich meine der richtigen harten, ſchweren Bauern- 
arbeit, nicht der fröhlich aufgeputzten ländlichen Feſte. Dann hat Konſtantin Meunier in der 
Minengegend des Hennegaus und dem Znduſtriegebiet Lüttichs diefe ureigenſte Welt der 
Neuzeit für die Malerei entdeckt. Aber doch eigentlich nur als Umwelt, in der er die Seele 
des Arbeiterproletariats verſtehen lernte und von jenem ſozialen Mitleid erfaßt wurde, das ihn 
zum Wiſſen führte und die Größe auch dieſer Arbeit erkennen lehrte. So wirkt bei ihm dieſe 
Umwelt der Jnduftriewerfe mehr als geiſtige Kraft, erſchütternd, niederdrückend, mitleid- 
erregend. Nicht maleriſche Schönheit wollte Meunier hier ſehen, ſondern auf dem Vege über 
Elend und Mühſal die große Tragik und ein leidendes Heldentum. 
Das hat fid) inzwiſchen gewandelt. Hier zeigt fid) einer der guten Einflüſſe der Groß- 
ſtadt auf die Kunſt, und danach auch eine der wertvollen Wirkungen des impreſſioniſtiſchen 


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Sandbagger Franz Heggendorf 


Stätten der Arbett: . KA 


Sehens. Wohl tragen die meiften in der Großſtadt wohnenden Künſtler die Sehnſucht nach 
draußen im Herzen, nach der freien Natur. Aber das maleriſch ſehende Auge iſt ja nie ge- 


Paul Paeſchke 


Muſeumsbau in Berlin 


ſchloſſen, und wenn erſt der innere Gegenſatz zum großſtädtiſchen Leben ſchwieg, mußten ſich 
dieſem Auge Bilder von neuen eigenartigen Reizen bieten. Nicht jene Bilder der Geſellſchaft, 


302 Stätten der Arbeit 


die ja ſchließlich nur eine Abwandlung des alten Geſellſchaftsbildes find, wie es ſchon Renaiſſance 
und Rokoko gepflegt hatten. Zunächſt war es wohl das Leben der Straße, das die Augen 
feſſelte, das wilde Hin und Her, das Treiben und Haſten, das bunte Vielerlei. Danach war 
es die Straße ſelbſt mit den eigentümlichen Luft- und Lichtwirkungen an den langen Häufer- 
fronten, im naßglitzernden Aſphalt, der mannigfaltigen künſtlichen Beleuchtung. Und ſchließlich 
erkannte man auch die Schönheit der großſtädtiſchen Arbeit. 

Adolf Menzel war hier wohl einer der erſten. Kein anderer hat immer fo ſcharf ge- 
ſehen, kein anderer hatte immer ſo die arbeitsbereite Hand, keinem anderen war alles, was 
ſich dem Auge bot, jo merkwürdig, daß es ihn dazu drängte, es mit dem Zeichenſtifte feitzu- 
halten. Und wenn er manches als Studium für andere Zwecke trieb, wenn er etwa die nadt- 
liche Tätigkeit der Feuerwehr oder die nächtlichen Straßenarbeiten der Aſphaltleger haupt- 
ſächlich darum ſtudierte, um die Feuersbrunſt im grauenden Morgen des Überfalls bei Hoch- 
kirch malen zu können — es mußte ihn doch dieſes neuentdeckte Land um feiner ſelbſt willen 
reizen. Schon 1875 liegt das Gemälde „Auf dem Bau“. Im gleichen Jahre hat er das rieſige 
„Eiſenwalzwerk“ vollendet. Der Städter war in das önduſtriewerk gegangen. 

Sicher iſt es auch hier mehr das Leben und Treiben der Menſchen, was den Künſtler 
reizte. Uns liegt ja natürlich die Arbeit näher, als die Stätte der Arbeit. Aber allmählich hat 
ſich nun auch die Schönheit der neuzeitlichen großinduſtriellen Arbeitsſtätten dem Künſtler— 
auge erſchloſſen. Hüttenwerke, Fabriken, die man früher wohl geradezu als Paradigmen des 
Unkünſtleriſchen hinſtellen mochte, ſind heute zahlreichen Künſtlern dankbare Vorwürfe. Eins 
wollen wir dabei gleich bedenken. Es gibt gewiß unſagbar häßliche Fabrikgebäude; manche 
ſind geradezu mit einem Fanatismus des Häßlichen in die Landſchaft geſtellt, mit aufdring— 
licher Färbung, ſchreiend und frech. Aber gerade das große Induſtriewerk ift an fid) eine Meiſter— 
leiſtung der Zweckmäßigkeit. Dieſe höchſte Zweckmäßigkeit bedingt Wahrheit. Man kann da 
nicht verkleben, vertuſchen, nicht anders ſcheinen wollen, als man iſt. In dieſer unbedingten 
Ehrlichkeit, in dieſer Volltreue einem Inhalt gegenüber — denn ein ſolcher iſt der Zweck — 
liegen künſtleriſche Werte. Sie galt es zu entdecken, und — ſie ſind entdeckt. 

Es iſt das Verdienſt der Galerie Arnold in Dresden, dieſe Neuentdeckung der modernen 
Malerei uns fo recht zum Bewußtſein gebracht zu haben. In einer großen Ausſtellung unter 
dem Namen „Stätten der Arbeit“ hat ſie an vierhundert Werke der verſchiedenſten Künſtler 
zuſammengebracht. Die Ausſtellung ijt feit dem letzten Fahre in mehreren Städten gezeigt 
worden und iſt noch weiter auf der Wanderſchaft. Wer ſie nicht aufſuchen kann, findet eine 
große Auswahl der in ihr vereinigten Bilder in dem von Arthur Fürſt herausgegebenen 
Buche „Das Reichder Kraft“, das als dritter Band der Sammlung „Leuchtende Stun— 
den“ erſchienen ijt (Verlagshaus Vita, Berlin- Charlottenburg. A 1.75). Der Verfaſſer ijt 
ein gewiegter techniſcher Schriftſteller und verſteht es auch, dem Fernerſtehenden die Größe 
dieſer Art von Arbeit als Erlebnis zu vermitteln. Wir brauchen hier nicht näher auf die einzelnen 
Bilder einzugehen, die ja natürlich durchaus nicht alle Meiſterwerke ſind. Gerade hier findet 
ſich auch leicht vom Stoff aus der Weg zur rein künſtleriſchen Betrachtung. Man erkennt, 
was hier den Künſiler reizte. In der Architektur diefe Fülle von Überſchneidungen, von Linien 
und mannigfachen Formen. Dieſes ſcheinbare Serfallen in hundert Einzelheiten, das doch 
wieder zur Einheit gebunden wird durch den einen großen Zweck. Im Innern ijt es dann der 
arbeitende Menſch ſelbſt, der reizt, vor allem aber auch wieder der Raum, die ſeltſamen Formen 
der Maſchinen, das Gewirr von Stangen und Riemen und die Bewegung. Faſt hört man die 
Sinfonie dieſer tauſendfachen Geräuſche. Ferner ſteht als eigenartiges Problem die Luft 
und das Licht in dieſen hohen überdachten Räumen mit den oft rieſigen Lichtquellen, die z. B. 
in Gußſtahlwerken durch das feurige Metall aufgetan werden. In anderen Fällen iſt wieder 
die Maſchine der einzige Lebensbringer in einer ſcheinbar erſtorbenen Landſchaft. Etwa, wenn 
ſo ein Sandbagger in ſeiner grotesken Form in der einförmigen Sanddüne ſteht, den Dampf 


Stätten der Arbeit 305 


der Maſchine über die Ebene hinwälzt und in ſtetem Rollen durch feine Fangkäſten den Sand 
in den Eiſenbahnzug füllt. 


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Es liegt für mein Gefühl etwas ungemein Troſtreiches in dieſer Sammlung von Ge- 
mälden und Radierungen, die beweiſen, daß Kunſt überall dort wachſen kann, wo Leben iſt, 
daß die Quelle der Schönheit in der Perſönlichkeit liegt und darum ſo lange beſtehen und immer 


Max Frohberg 


Kohlenkarrer an der Elbe 


304 Der Impreſſionismus vor Gericht 


wieder auferſtehen wird, als es Perſönlichkeiten gibt. Es ſcheint mir da eine falſche Einſtellung, 
wenn Fürſt in dem erwähnten Buche das Märchenhafte, das Abenteuerliche und Große in 
den Maſchinen fieht. Nein, diefe find nüchterne, kalte Schöpfungen, an fid) weſenlos, eben 
Maſchinen. Aber wenn das Künſtlerauge auf fie fällt, dann entſtehen aus ihnen Wunder- 
weſen. Und wie der Geiſt vergangener Zeiten die ganze Welt mit menſchenähnlichen Fabel- 
weſen bevölkerte, um ſich das Leben der Natur zu erklären, ſo ſucht die Kunſt jetzt nach Mitteln, 
das Werken und Schaffen dieſer Maſchinen „einzumenſchen“ und dadurch auch zum ſeeliſchen 
Beſitz des Menſchen zu machen. Dieſe Gegenſtände ſind zu kalt, zu klar, zu nüchtern, ſtehen 
zu deutlich im grellen Lichte, als daß man hier Fabelweſen erfinden könnte, um ſie zu erklären. 
Hier gilt es, mit anderen Mitteln die Eroberung zu vollziehen: Die Wunderwelt der Farbe, 
des Lichtes, der Linie, der Form tut fid) auf; ihr vermag auch das Sprödeſte nicht zu wider- 
ſtehen. Karl Storck 


LS 
Der Impreſſionismus vor Gericht 


V 
N as Gericht der Aſthetik und der ſtrengen geſchichtlichen Wahrheit ift gemeint. 
KN Geübt wird es in einem umfangreichen Buche: „Die Herabwertung der 
S deutſchen Kunſt durch die Parteigänger des Fmpreffto- 
nismus“, von Theodor Alt (Mannheim, F. Nemnich). Dieſes Werk (522 Seiten 
Großoktar) hat bei der Kritik durchaus nicht die Beachtung gefunden, die es verdient. Die 
Gründe find leicht einzuſehen. Es iſt dem Feuilletonismus, der heute die journaliſtiſche Runft- 
kritik beherrſcht, höchſt unbequem, ſich mit einem philoſophiſch ſo wohlbegründeten und an 
geſchichtlichem Wiſſen wie an genauer Bilderkenntnis ſo reichen Werke auseinanderſetzen zu 
müſſen, das ſchonungslos die Dinge beim rechten Namen nennt und der heute fo beliebten 
Spielerei mit „differenzierten“ und „aparten“ Empfindungen die gleißneriſche Maske vom 
Geſicht reißt. Auf der anderen Seite iſt Theodor Alts Werk der eigentlichen akademiſchen 
Wiſſenſchaft wohl zu friſch und bei aller Gründlichkeit zu ſehr aus der Praxis des wirklichen 
Kunſtlebens herausgewachſen. So laufen wir Gefahr, daß ein Buch beiſeite gebracht wird, 
das außerordentlich viel zu jener Klärung unſerer Kunſtbegriffe, zu jener Reinigung unſeres 
ganzen Kunſtlebens beitragen könnte, die unbedingt kommen müſſen und auch kommen werden. 

Alt macht fid) und uns die Arbeit nicht leicht, und es wäre im Fntereffe der Sache zu 
wünſchen geweſen, daß das Buch weniger gewichtig ausgefallen wäre. Aber andererſeits 
kann man dem Verfaſſer nachfühlen, daß er das ganze Material beibringen wollte, daß er 
von vornherein jenen beliebten Einwänden begegnen mußte, die heute ſo gern vorgebracht 
werden, um jeder grundſätzlichen äſthetiſchen Auseinanderſetzung den Boden abzugraben, 
ſobald dieſe den Modegrößen zu Leibe rückt. So hat denn Alt, nachdem er zunächſt die innere 
Art des äſthetiſchen Urteils unterſucht bat, in einem erſten Teile die Grundzüge der prattijben 
Aſthetik aufgezeigt. In ſieben Kapiteln entwirft er ſein Syſtem: Das Weſen der Kunſt; die 
Einteilung der Künſte; die Geſetze der ſelbſtſchöpferiſchen bildenden Kunſt; die Geſetze der 
nachahmenden bildenden Kunſt; die Perſönlichkeit des Künſtlers und der Stil; Aſthetik und 
Kunſtgeſchichte; der gegenwärtige Beſitzſtand der Aſthetik. 

Dieſe „praktiſche“ Aſthetik erhält ihren beſonderen Wert durch eine eigenartige Miſchung 
von akademiſchem und journaliſtiſchem Geiſte. Der Verfaſſer verfügt über eine ausgedehnte 
Kenntnis der philoſophiſch-äſthetiſchen Literatur und beſitzt eine ſcharfe hegelianiſche Schulung 
des Geiſtes, die ihn febr wohl zur Ausarbeitung eines ganz abſtrakten Syſtems befähigte. 
Dazu ſteht er aber mit viel zu leidenſchaftlicher Anteilnahme im wirklichen Leben der Kunſt, 
und man ſieht, wie die Anregungen auch zu den ſcheinbar entfernteſten Gedankengängen 
aus Anläſſen des Tages gewonnen ſind. So wird die Geſamtentwicklung immer wieder unter— 


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Blderſchmuck für Eiſenbahnabtelle 305 


brochen durch Aus- und Einfälle über und gegen die Kunſtverhältniſſe des Tages. Ich halte 
das für einen Vorzug des Buches, dank dem auch dieſe mehr allgemeinen Abſchnitte vom 
Leſer mit einer gewiſſen leidenſchaftlichen Anteilnahme aufgenommen werden. 

Nachdem ſo die Geſamtgrundlage geſchaffen iſt, behandelt Alt im zweiten, für uns 
wichtigeren Teile feines Buches, den Zmpreſſionismus, und zwar zunächſt Begriff 
und Weſen des Impreſſionismus; danach gibt er eine Kritik der Theorien und behandelt zuletzt 
die Urfrage aller künſtleriſchen Einſchätzung in dem Abſchnitte: Stoff und Form im Runft- 
werk; deutſche und franzöſiſche Kunſt. Eine eindringliche Beſchäftigung mit dieſem zweiten 
Teile des Buches müßte fic jeder zur Pflicht machen, der in den verworrenen Runftverhält- 
niſſen unſerer Tage mitſprechen will. Gegenüber der tieffinnig fid) gebärdenden, durchweg 
recht nebelhaften Phraſendreſcherei der heutigen Kunſtkritik ift Alt von einer ſchlagenden Rlar- 
heit. Die Art, wie er z. B. die äſthetiſche Unfähigkeit eines Meier-Graefe aufdeckt, wie er den 
hiſtoriſchen Konſtruktionen dieſes und anderer „Entwicklungs“ -Geſchichtler zu Leibe rückt, 
iſt geradezu erfriſchend. Dabei wird überall mit Tatſachen gekämpft. 

Der Gegenſtand des Buches geht viel tiefer, als mancher nach dem Titel zunächſt ver- 
muten mag. Unter der Herabwertung der deutſchen Kunſt verſteht Alt weit weniger die pe- 
tuniäre Schädigung, bie unfer Kunſtſchaffen durch die Bevorzugung der Fremde erlitten hat, 
als die geiſtige. Er weiſt nach, wie wir auf dieſe Weiſe um das Beſte und Eigenartigſte 1 
Kunſtauffaſſung, deutſchen Kunſtſchaffens geſchädigt werden. 

Noch einmal: Ich wünſche dieſem tapferen, wohlausgerüſteten Buche jehr D auf- 
merkſame Lefer. Es wird allen denen, die aus innerſtem deutſchen Gefühlsinſtinkt gegen die 
meiſten Erſcheinungen der ſogenannten „modernen Kunſt“ ſich auflehnen, die ſcharfen Waffen 
verſtandesmäßiger Erkenntnis und geſchichtlicher Begründung in die Hand geben. St. 


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Bilderſchmuck für Eiſenbahnabteile 


Wo iſt es gerecht unb ſchön, daß der Kampf gegen die Vernüchterung, die der Ge- 
dë N AO) ſchäftsgeiſt über uns gebracht bat, nun von dem weiter entwickelten Gejhäfts- 
iin ſelbſt „aufgenommen wird. Wieviel Schönes wird heute auf dem Gebiete 
des Platatwefens geleiſtet, und wie haben diefe Bemühungen auch auf die freie Kunſt an- 
regend gewirkt! Freudig begrüßen wir darum einen Aufruf zur Erlangung von Bilderſchmuck 
für Eiſenbahn⸗Abteile. Die Schönheiten deutſcher Städte und Landſchaften in künſtleriſcher 
Weiſe der breiten Offentlichkeit vor Augen zu führen, unternimmt damit der rührige Bund 
Deutſcher Verkehrsvereine, indem er Bilder in Eiſenbahn-Abteilen anbringen will! Nachdem 
die Verwaltungen der preußiſchen und heſſiſchen Staatseiſenbahnen und der Reichslande 
Rahmen zur Verfügung ſtellten, wird ſoeben ein Ausſchreiben zur Erlangung geeigneter Gnt- 
würfe veröffentlicht. Es ift erlaſſen worden von dem Bunde Deutſcher Verkehrsvereine e. V., 
der Kgl. Akademie für graphiſche Künſte und Buchgewerbe, dem Deutſchen Buchgewerbe⸗ 
verein und der Firma R. Voigtländers Verlag, ſämtliche in Leipzig. Die Abſicht des Wett- 
bewerbs ijt es, Bilder für ben vorbeſagten Zweck zu beſchaffen, die dem Bedürfnis des Ber- 
kehrs dienen ſollen und geeignet ſind, die Reiſeluſt zu beleben. Im Gegenſatz zu den für den 
gleichen Zweck von einigen außerdeutſchen Ländern verwandten Photographien oder Drei- 
farbendrucken foll künſtleriſch Vollwertiges geſchaffen werden. Die Veranſtalter des Aus- 
ſchreibens find der Meinung, daß ihre zunächſt rein praktiſche Abſicht ſich in künſtleriſcher Form 
vollkommener und zweckdienlicher erreichen läßt. Zunächſt handelt es ſich um die Wagen erfter, 
zweiter und dritter KAaſſe von D- und Eilzügen. An dem vorliegenden Preisausſchreiben find 
bisher folgende Orte mit zuſammen 58 Bildern beteiligt: Bielefeld, Binz a. Rügen, Bremen, 
Der Türmer XV, 2 21 


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306 Unfere Bilden 


Breslau, Caſſel, Danzig, Düſſeldorf, Elberfeld, Erfurt, Grafſchaft Glatz, Göttingen, Gummers- 
bach, Heidelberg, Köln, Leipzig, Lübeck, Magdeburg, Mainz, Mannheim, Marburg a. d. L., 
Bad Oeynhauſen, Osnabrück, Potsdam, Schwerin, Solbad Segeberg, Stettin, Trier, Weiter- 
land a. Sylt, Bad Wildungen, Zeitz, Zoppot und vier Marinebilder. Außerdem beteiligen ſich 
außerhalb des Wettbewerbs Flensburg, Hamburg, Halberſtadt, Weimar und Elſaß- Lothringen 
zuſammen mit 16 Bildern. 

Die Bilder erhalten das Format 17x 28, 5 cm. Das Dargeſtellte foll zu leichter Orien- 
tierung in deutlicher Schrift auf den Bildern angebracht werden. Zur Vervielfältigungsart 
iſt die Lithographie beſtimmt. 

Das Preisrichteramt haben übernommen: Friedrich Sontard, Kaufmann und erſter 
Vorſitzender des Bundes Deutſcher Verkehrsvereine, Franz Hein, Profeſſor an der Kgl. Aka- 
demie für graphiſche Künſte und Buchgewerbe, Horſt-Schulze, Profeſſor an der Kgl. Akademie 
für graphiſche Künſte und Buchgewerbe, Max Klinger, Geheimrat Dr. Dr., Karl Lebrecht, 
Rechtsanwalt und Schriftführer des Bundes Deutſcher Verkehrsvereine, Max Seliger, Pro- 
feſſor und Direktor der Rgl. Akademie für graphiſche fünfte und Buchgewerbe, die Inhaber 
der Firma R. Voigtländers Verlag und Dr. Ludwig Volkmann, Vorſteher des Deutſchen 
Buchgewerbevereins. Die Firma N. Voigtländers Verlag hat dem Preisgericht die Summe 
von A 1000.— zur Verfügung geſtellt, die auf alle Fälle außer dem auf jedes gewählte Bild 
fallenden Honorar zur Verteilung von Preiſen verwendet wird. 

.Die Bedingungen bes Wettbewerbs verſendet die Firma R. Voigtländers Verlag, 
Leipzig, Hoſpitalſtraße 10, koſtenlos an alle Künſtler, die ſich dafür intereſſieren. Die Herren 
werden gebeten, ſich direkt dahin zu wenden. 

Die Zuſammenſetzung des Preisgerichts ſowohl, wie die Mitwirkung der Behörde, 
der Akademie für graphiſche Künſte und Buchgewerbe, des Deutſchen Buchgewerbevereins 
und nicht zuletzt des Bundes Deutſcher Verkehrsvereine gewährleiſtet vorzügliches Gelingen 
des großangelegten Unternehmens, deffen Unterſtützung wir den deutſchen Künſtlern an- 
empfehlen möchten. — Daß der „geſchäftliche“ Zweck fo offen eingeſtanden wird, ift auch für 
die künſtleriſche Löſung der Aufgabe wertvoll. Hoffentlich hat das Unternehmen weitere 
Folgen. Vielleicht erwägen unſere Behörden einmal, in welch entſetzlich nüchternen Räumen 
ihre Beamten täglich lange Stunden verbringen. Wie leicht wäre dahinein etwas Schönheit 
zu tragen, ſicher nicht zum Schaden der Arbeit. 


» 
OInjere Bilder 


De er größte Teil der Bilder des vorliegenden Heftes gehört zu Aufſätzen und findet 
2 d A in biejen feine Erklärung. Von ben neuerbauten Stuttgarter Hoftheatern bat 
Profeſſor Strich-Chapell auf unferen Wunſch die beiden Außenanſichten 
des gropen und kleinen Haufes geſchaffen, bie unſere Lefer davon überzeugen werden, daß 
dieſe architektoniſch wirkſamen Bauten auch als ſtarke maleriſche Werte in der Landſchaft ſtehen. 
Vor allem das von uns farbig wiedergegebene große Haus dürfte in der Hinſicht unter den 
deutſchen Theatern kaum einen ernſtlichen Nebenbuhler haben. Der Künſtler ſelbſt iſt den 
Sürmerlejern kein Fremder. Er bat die im Beſitze vieler unſerer älteren Abonnenten befindliche 
Lithographie „Der Türmer“ geſchaffen, von der wir eine verkleinerte Nachbildung im Ottober- 
heft 1907 brachten. Ein Schüler Schönlebers, beſitzt auch Strich-Chapell die tiefe Herzlichkeit 
des Naturempfindens und vereinigt mit einem ſicheren Erfaſſen aller formgeſtaltenden Kräfte 
eine lebendige, überzeugende Farbigkeit. 

Die verſchiedenen Innenanſichten der beiden Hoftheater (inb mit Erlaubnis der Ver- 
lagsanſtalt Alexander Koch in Darmſtadt veröffentlicht worden, bei der eine reich illuſtrierte 


Unfere Bilder 307 


Gonderpublitation fiber die Königlichen Hoftheater in Stuttgart erſchienen iſt. Dieſe auch 
literariſch bedeutſame Arbeit Profeſſor Max Litt manns wird noch mehr als in den grund- 
ſätzlichen Auseinanderſetzungen in den techniſchen Erläuterungen für alle jene von höchſtem 
Werte ſein, die ſich in irgendeiner Richtung mit dem inneren Theaterbetrieb befaſſen. 

Die kleine Geſamtanſicht des Theaterbaues endlich, die gerade in ihrer Kleinheit am 
beſten zeigt, wie es gelungen iſt, die ſo ganz verſchiedenartigen und auseinandergehenden 
Zwecken dienenden Gebäude einheitlich zuſammenzubringen, iſt der Feſtſchrift entnommen, 
die vom Verlag des Neuen Tagblatts in Stuttgart „Zur Weihe der neuen Königlichen Hoftheater“ 
herausgegeben worden ijt. Dieſes ſehr hübſch ausgeftattete Büchlein verdient über den AMn- 
laß hinaus Beachtung. Aus dem mannigfachen Inhalt ſind neben der Beſchreibung der neuen 
Häufer von Pafl Wittko beſonders hervorzuheben eine geſchichtliche Darlegung von 
Archivrat Rudolf Krauß über die Entwicklung der Stuttgarter Hoftheater, ferner Ott o 
Harnacks „Schiller auf der Stuttgarter Hofbühne“ und „Erinnerungsblätter“ von Nichard 
Voß, Paul Lind au unb Auguft Junkermann, ſowie recht unterhaltſame „Er- 
fahrungen aus der Hoftheatertanglei“, die der Bibliothekar von Stockmaper mitteilt. 

Die ſechs Bilder, die uns verſchiedene Stätten der Arbeit zeigen, find der in dem zu- 
gehörigen Aufſatze bereits gewürdigten reich illuſtrierten Schrift „Das Reich der Kraft“ von 
Arthur Fürſt entnommen, die im Verlagshaus „Vita“ zu Charlottenburg als dritter 
Band der von uns bereits früher empfohlenen Sammlung „Leuchtende Stunden“ erſchienen iſt. 

Die drei übrigen Bilder — die farbenglühende herbſtliche Parklandſchaft und die beiden 
Anſichten vom Denkmal Alexanders II. in Moskau — erhalten jetzt den Charakter eines be- 
ſonderen Gedenkens an den Schöpfer diefer Kunſtwerke. Denn vor wenigen Wochen ift Paul 
v. Z outo w sty in Weimar geſtorben. Wir haben im letzten Dezemberheft mit einer größeren 
Zahl von Abbildungen nach Werken dieſes der breiteren Öffentlichkeit wenig bekannten Rünft- 
lers eine Darftellung feines Lebensganges und Wertung feiner Perſönlichkeit veröffentlicht 
und wollen heute das dort Geſagte nicht wiederholen. Mit Foutowsty ijt eine prachtvolle 
Edelmannsnatur von uns gegangen, ein Mann von einer wunderbar ſchönen Beſcheidenheit 
und vornehmen Zurückhaltung, der einer ganz feltenen Hingabe fähig war. Selbſt Richard 
Wagner, der von der Selbſtloſigkeit ſeiner Freunde wirklich viel zu verlangen gewohnt war, 
hat für dieſe ſelbſtloſe Treue, die doch, wie ich glaube, kein blinder Kurvenalglaube, ſondern 
tiefgegründete Brünhildentreue war, immer die höchſte Anerkennung gehegt. Liſzt aber war dem 
ja beträchtlich jüngeren, aber früh harmoniſch ausgeglichenen Manne „unbeſchreiblich gut“, wie 
Adelheid von Schorn in ihrem ſoeben erſchienenen Buche „Das altklaſſiſche Weimar“ hervorhebt. 

Das große Denkmal für Alexander II. batte Joukowsky auf Befehl des ihm febr nahe- 
ſtehenden Kaiſers Alexander III. übernommen. Dieſer war mit den Ergebniſſen dreier Ron- 
kurrenzen ſehr unzufrieden, und Zoukowsky übernahm ſeit 1890 das große Werk, das ihn als 
Maler vor eine außerordentlich ſchwere Aufgabe ſtellte. Die Einſtellung in den beherrſchten 
Rahmen des Kremls bedingte eine im weſentlichen architektoniſche Löſung, für die Joukowsky 
die italieniſche Renaiſſance wählte, ba die umliegenden Gebäude meiſt von Stalienern des 
ſechzehnten Jahrhunderts erbaut worden waren. Der Mittelbau iſt aus rötlichem Granit 
und Bronze, die Säulenhallen von weißem Sandſtein, die Baſtion aus roten Mettlacher Ziegeln. 
Alle Dächer glänzen in vergoldeter und grüner Bronze, die Gewölbe ſind mit venezianiſchem 
Moſaik bedeckt. Sie zeigen auch in dreiunddreißig Medaillonporträts ruſſiſche Monarchen, 
die in Venedig nach Joukowskys Entwürfen angefertigt find. Die große Statue des Kaiſers 
war nach Angaben Zoukowskys von dem Bildhauer Opekuſchin geſchaffen worden. Das Dent- 
mal hat bei der Kritik vielen Widerſpruch gefunden und iſt bei den gebildeten Kreiſen bis auf 
den heutigen Tag wenig beliebt. Das Volk dagegen hat ſich raſch dafür entſchieden und be- 
vorzugt die Kolonnaden mit ihren Bänken zu ſchattigem Aufenthalt. 


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Qu Paul Beffers Beethoven-Bud) 
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Die aufrichtigſte Bewunderung für die grundlegende Arbeit, wie jie 


Y oin Alexander Wheelock Shayers Biographie und in Guſtav Notte- 
bohms Skizzenforſchungen niedergelegt iſt, kann die Erkenntnis 
nicht unterdrücken, daß die fruchtbringende Betrachtung einer Er- 
ſcheinung wie Beethoven doch erft in der UAmſchmelzung des gewonnenen Materials 
zu einer künſtleriſch bildhaften Anſchauung liegen kann. Mag dieſe Anſchauung als 
Erzeugnis ſubjektiver Betrachtungsart keinen Anſpruch auf Allgemeingültigkeit 
erheben können, mag ſie das Zeichen der Vergänglichkeit in ſich tragen — wohnt 
ihr die Kraft inne, die zur Beachtung und Auseinanderſetzung mit ihr zwingt, ſo 
hat ſie zunächſt ihre Exiſtenzberechtigung für die Gegenwart erwieſen und damit 
ihren Zweck erfüllt.“ 

So Paul Bekker im Vorwort zu feinem großen Buche „Beethoven“ (Berlin, 
Schuſter & Loeffler; Prachtausgabe 25 M, Textausgabe 10 0. Das Ziel, das 
er ſeinem Buche in den Schlußzeilen dieſer Ausführungen ſetzt, hat er in höchſtem 
Maße erreicht. Es wird niemand an dieſem Werke vorübergehen können, und ich 
kenne wenige Bücher, die fo zu eigener Stellungnahme zwingen und die Ausein- 
anderſetzung mit dem Verfaſſer herausfordern, und zwar im allerbeſten Sinne. 
Während ich das Buch las, war mir dauernd, als wäre ich mit ſeinem Verfaſſer 
zuſammen, ſtände ihm perſönlich Auge in Auge gegenüber. Und ich mußte jener 
köſtlichen Jugendtage in ben letzten Gymnaſialjahren oder als junger Student 
denken, wo man mit Freunden Nächte durch fid) über die Probleme, die einen am 
ſtärkſten bewegten, herumſchlug, wo man in geradezu erbitterten Meinungs- 
kämpfen ſich zu ſchroffſten Widerſpruchsformen hinreißen ließ, ſo daß man ſogar 
gegenſeitig perſönlich ausfallend wurde, wo das alles doch bloß ein Zeichen war 


Stord: BeethovenFer Held 309 


innigfter Freundſchaft, vollftändigen Zuſammengehens im Streben, fid) das Beſte 
und Höchſte für das Leben einzufangen. 

Ich muß vorausſchicken, daß ich für das Buch und [einen Verfaſſer, unbeein- 
flußt durch perſönliches Bekanntſein, ſondern lediglich eben aus dem Rahmen 
dieſes Buches heraus, die höchſte menſchliche und künſileriſche Achtung hege, daß 
ich nach Kräften dazu beitragen möchte, daß ſein Werk von jedem denkfähigen 
Muſikfreunde geleſen würde. Ich betone das fo ſtark, um den Mißverſtändniſſen 
und unbeabſichtigten Folgen vorzubeugen, die eine ſcharfe Stellungnahme gegen 
das eine und andere Ergebnis, in höherem Maße aber gegen den Weg, auf dem 
zu dieſen Ergebniſſen gelangt wurde, hervorrufen könnte. Auch weil ich das Werk 
und ſeinen Verfaſſer ſo hoch ſchätze, muß ich das Gegenſätzliche um ſo ſchroffer 
betonen. Das kann ſich natürlich nicht gegen abweichende äſthetiſche Bewertungen 
richten, denn die werden in dieſem Buche ſo perſönlich vorgetragen, daß es dem 
Verfaſſer das Recht perſönlichen Empfindens beſtreiten hieße, wollte man gegen 
die von ſeinem Standpunkte aus immer prachtvoll begründeten und mit höchſter 
Sorgfalt entwickelten Meinungen überhaupt Stellung nehmen. Bekker ſagt von 
feinen Abſichten ſtolz und beſcheiden zugleich: „Ich verſuchte mich auf den Stand- 
punkt des ausübenden Muſikers zu ſtellen, der aus ſeinem perſönlichen Empfinden 
heraus Beethovens Werke interpretiert. Nur war das Ausdrucksmittel, deſſen 
ich mich zu bedienen hatte, nicht das Klavier, das Orcheſter, die menſchliche Stimme, 
ſondern das geſchriebene Wort. Einzig auf dieſe Reproduktion mittels des Wortes 
war mein Streben gerichtet.“ Wer kann gegen einen ſolchen Künſtler ſchrift- 
ſtelleriſcher Reproduktion rechten? Man wird von ihm hingeriſſen und damit be- 
glückt, oder ſeine Suggeſtionskraft verſagt in dem einen und anderen Falle, und 
da vermag man eben dieſes Stück Weges nicht mit ihm zu gehen. Darüber gibt 
es kein Rechten. Man könnte nur die Reproduktion einer anderen Auffaſſung gegen 
die ſeine ſtellen. Worüber ich mit Bekker dagegen zu rechten und zu ſtreiten habe 
und es am liebſten in der meiner Erinnerung erwachten Art des Meinungsaus- 
tauſches bei dem auch von Beethoven hochgeſchätzten Becher Wein täte, das be- 
trifft die Ginflellung zu den Grundproblemen der Biographie. 

Bekkers Buch zerfällt in zwei Hauptteile. Das erſte Buch iſt überſchrieben: 
„Beethoven, der Menſch“, das zweite: „Beethoven, der Tondichter“. Jenes reicht 
bis Seite 58, das zweite iſt ſechseinhalbmal ſo umfangreich. Man ſieht, daß Bekker 
ſchon äußerlich auf die Reproduktion der Werke ein unendlich ſchwereres Gewicht 
legt, als auf die bildneriſche Geſtaltung ihres Schöpfers. 

ich perſönlich bin da ganz anders eingeſtellt. Mir ift immer und überall der 
Menſch wichtiger als fein Werk. Edles Menſchentum ijt für mich der höchſte und 
beglückendſte Beſitz der Menſchheit, und ich betrachte Fälle, wie den Shakeſpeares, 
wo wir von dem Künſtler als Menſchen nichts wiſſen und ihn uns bloß erſchließen 
können aus ſeinen Werken, als einen ſchwereren Verluſt für die Menſchheit, als 
er im Abhandenkommen ſoundſo vieler Werke eines Künſtlers liegt. Wir tragen 
an dem Verluſt gewöhnlich nicht fo (hwer, weil wir uns eben aus den Werken die 
Menſchlichkeit ihres Schöpfers unwillkürlich fonftruieren, fo daß 3. B. jeder, der 
hintereinander die Werke der griechiſchen Sragiter Aſchylos, Sophokles und Euripi- 


310 Stord: Beethoven der Heid 


des lieft, die drei grundverſchiedenen menſchlichen Individualitäten wie aus per- 
ſönlicher Bekanntſchaft zu beſitzen vermeint, trotzdem wir ja auch da über das Menfch- 
liche faſt nichts wiſſen. 

genes Goethewort, daß das höchſte Glück der Erdenkinder die Perſönlichkeit 
ſei, verſtehe ich dahin, daß dieſes Glück für uns andere beſteht, nicht für denjenigen, 
den das Geſchick oder die weiſe Vorſicht einer leitenden Macht mit dem Charakter 
der Perſönlichkeit belaſtet hat. Denn eine Laſt iſt ſie, eine ſchwere Laſt für den 
Träger, dem das leichtgepflückte Glück einfacher Menſchenkinder nicht beſchieden 
iſt. So bleibt mir — ich muß dieſes Perſönliche des Verhältniſſes betonen, weil 
es natürlich mir auch Grenzen auferlegt — das Höchſte beim Genuß des Runft- 
werkes, hinter dem Werk den Schöpfer zu fühlen. Denn der Künſtler iſt noch 
nicht entſtanden, in dem die Schöpferkraft fo göttlich ftar? geweſen wäre, daß 
ſein Werk ſo groß, ſo reich, ſo ſchön in die Erſcheinung hätte treten können, wie 
es in der Menſchlichkeit ſeines Schöpfers lebte. Das Unzulängliche des Menſchen 
wird in alledem Ereignis, was er tut; ſein Wollen und Empfinden dagegen kann 
in die Höhe des Göttlichen reichen. 

Daraus ergibt (id) für mich mit zwingender Notwendigkeit, daß, fo herrlich 
und groß Kunſtwerke ſein mögen, herrlicher und größer die Menſchlichkeit des ſie 
ſchaffenden Künſtlers ſein muß. Und ſo beglückend, erhebend und veredelnd der 
Beſitz an Kunſtwerken für bie Menſchheit ift — erhebender, veredelnder und be- 
glüdender muß es für diefe Menſchheit fein, wenn es gelingt, ihr die Perſönlich⸗ 
keit, die Menſchlichkeit des Künſtlers zum Beſitz zu machen. Für einige der größten 
Genies der Menſchheit iſt das auch ohne weiteres klar. Am höchſten für Chriſtus. 
Aber auch bei einem Goethe, der ſo unendlich viel geſchaffen hat, iſt heute ſchon 
unſer aller Bewußtſein, daß der Menſch Goethe das iſt, was in alle Ewigkeit die 
Menſchheit ſtolz und glücklich machen muß. 

Goethe war es denn auch, der als erſte Forderung für den Biographen 
„parteiiſchen Enthuſiasmus“ verlangte. Unter dieſem parteiiſchen Enthuſiasmus 
kann Goethe nichts anderes verſtanden haben, als dieſen unerſchütterlichen Glau- 
ben an die hohe und reine Menſchlichkeit des Künſtlers. Niemals wäre es dem un- 
bedingten Wahrheitsmenſchen Goethe, dieſem rückhaltloſeſten aller Bekenner, ein- 
gefallen, vom Biographen eine Parteilichkeit zu verlangen, die Tatſachen im Leben 
eines Künſtlers verhüllte, Charaktereigenſchaften an ihm umdeutete, um dieſes 
Leben, ſeine Perſönlichkeit der Allgemeinheit „ſympathiſcher“ zu machen. Der 
parteiiſche Enthuſiasmus ift etwas ganz anderes, viel Größeres. Er ift der u n- 
bedingte Glaube an die große Menſchlichkeit des Künſtlers. 
Aus dieſem Glauben heraus ſtellt fih die Aufgabe des Biographen dahin, 
durch alle Außenerſcheinungen des Lebens eines Künſtlers hindurchzudringen bis 
zum Urgrunde feiner Perſönlichkeit und aus dieſer Perſönlichkeit heraus jene Cr- 
ſcheinungen des Lebens zu erklären. Ich habe in jahrelangem Bemühen der Er- 
gründung des Menſchlichen im Leben unſerer großen Menſchen die wunderbar 
troſtreiche Überzeugung gewonnen, daß der große Menſch immer re Aft 
hat, mag alles Außere noch ſo gegen ihn ſprechen; daß das Gute in ihm 
verkörpert ift, mag fein Handeln der Welt auch ſchlecht erſcheinen. Schöpfer 


Storck: Beethoven der Held 311 


kraft ijt ein Göttliches, und der Schöpfer ijt göttlich. Das aber heißt vollkommen 
um gut. 

- Aufgabe des Biographen ift zu zeigen, worauf alle jene Erſcheinungen grün- 
ben, bie dem zu widerſprechen ſcheinen. Noch ijt der Fall nicht dageweſen, daß 
ein wirklich großer Künſtler als Menſch durch die Forſchung jemals eingebüßt 
hätte. Es kommt nur darauf an, die Ma ß ſt ä b e zu finden, die für ihr Größen- 
maß reichen. Darin liegt nach meiner Überzeugung auch die höchſte Aufgabe des 
Biographen im menſchlich⸗ſozialen Sinne. Glück der Menſchheit und 
darum ihr tiefſtes Verlangen, ihre Sehnſucht, iſt es, Helden (im weiten Sinne 
des Edelmenſchen) zu beſitzen. Des Biographen Aufgabe ift es, der Welt dieſes 
Heldentum ihrer Genies zum ſicheren Beſitz zu machen gegen die ſcheinbar wider- 
ſprechenden Erſcheinungen im Leben und Tun der betreffenden Perſönlichkeiten. 
Eine Biographie, die aus anderem Geiſte unternommen wird = Das höchſte 
Ziel verfehlt. 

Die rechten Maßſtäbe! Wir müſſen uns doch darüber klar derben daß die 
Moral der Menſchheit nach allen Richtungen hin ein Abereinkommen nach unten 
darſtellt. Die Moral iſt nichts anderes, als die Etikette für das geiſtige, ſeeliſche, 
ſoziale Leben. Nun ſtellt die Etikette keineswegs die höchſte und ſchönſte Form 
eines geſelligen Verkehrs dar, ſondern fie beſchneidet die individuellen Schönheits- 
möglichkeiten der Beſten zugunſten eines auch von den Mittelmäßigen und Schledy- 
ten erreichbaren und erlernbaren Ourchſchnitts. Was hier auf halb gleichgültigem 
Gebiete allgemein angenommen wird, gilt auch für das entſcheidende Gebiet der 
höchſten Moralfragen. Die Moral trägt ihre Berechtigung in ſich durch die Ziele, 
die dank ihr erreicht werden ſollen, und die wir als ein ſchönes, edles ſoziales 
Leben bezeichnen können. 

Für den Menſchen aber, dem durch die ihm verliehene Größe ein höheres 
Ziel geſteckt wurde, iſt das Erreichen dieſes Ziels perſönliches Pflichtgebot. Seine 
ganze Lebensmoral ergibt ſich aus dieſer Verpflichtung, zu dem ihm geſteckten 
Ziele zu gelangen. Inſofern trifft alſo unbedingt der oft beſtrittene Satz zu, daß 
das Genie ſeine eigene Moral habe. 

Sch will ein triviales Beiſpiel wählen: bie Anpumpereien Richard Wagners. 
Kein Menſch konnte in feinen Kreis eintreten, ohne daß er unbarmherzig aus- 
gebeutet wurde. Man muß das ganz ſchroff ausſprechen und nicht beſchönigen. Es 
iſt manchmal beim Leſen der Briefe nicht zu ertragen. Dieſe Ausbeutung erſtreckte 
ſich nicht nur aufs Pekuniäre, ſondern auf den ganzen Menſchen, alle ſeine Kräfte. 
Man iſt ſehr oft empört, manchmal geradezu entſetzt. Ich halte es für anmaßend 
und dumm, es einem einzigen Zeitgenoſſen zu verübeln, wenn er fid) das nicht ge- 
fallen ließ, wenn er in alledem Größenwahn erblickte oder wahnwitzige Anmaßung 
eines einzelnen Menſchen. Aber wir Heutigen, wir müſſen einſehen und 
haben dafür die unwiderlegbaren Beweiſe, daß, wenn Richard 
Wagner nicht ſo geweſen wäre, er ſeine Aufgabe nicht erfüllt hätte. Wir können 
durch alle Schleier hindurch ſehen, daß diefe ſcheinbar wahnwitzige Selbſtſucht letzten 
Endes noch Aufopferung war, fataliſtiſche Hingabe an die innere Berufung. Und 
was als höchſter Hochmut erſcheint, iſt ebenſo tiefſte Beſcheidenheit, zu faſſen etwa 


512 Storck: Beethoven der Held 


in die Worte: „Ich, das Individuum Richard Wagner, bin das Gefäß, in das hinein 
gelegt iſt die Fähigkeit, das und das Kunſtwerk zu geſtalten. Das Werden dieſes 

Kunſtwerkes iſt Notwendigkeit. Höchſtes Moralgebot für mich iſt, alles zu tun, um 
dieſe Notwendigkeit zu erfüllen.“ Das iſt oft recht unbequem, ja ſchmerzlich für 
die übrige Menſchheit. Aber Großes wird überhaupt nur aus Schmerzen geboren. 

In der Tatgeſchichte der Menſchheit haben wir längſt dieſe Moral anerkannt. 
Skeptiker nennen fie die Moral des Erfolges. Der Erfolg ſtellt (id) aber im Gejamt- 
leben der Menſchheit nicht ein, wenn er nicht notwendig iſt. Notwendig für die 
Entwicklung der Menſchheit, notwendig für ihr Glück, zu dem es oft unumgänglich 
iſt, daß erſt zertreten werden muß, was nachher erhöht werden ſoll, daß der Boden 
mit Blut gedüngt werden muß, der Frucht und Blüte hervorbringen ſoll. 

Es gibt kein höheres Schaffen, als das des Künſtlers. Während das Tatgenie 
aus den gegebenen Verhältniſſen der Umwelt heraus und in ihrer Bedingtheit 
bleibend fein Werk in langſamer Entwicklung vollbringt, ſchafft der Künſtler, gleich 
Gott, ſeine Welt aus dem Chaos und trägt die Grenzen ſeines Werkes nur in ſich 
ſelbſt. So kann es auch kein höheres Menſchentum geben, als das des Künſtlers. 
Nur der heilige Philoſoph, wie Chriſtus und Buddha, iſt ihm vergleichbar, für den 
das eigene Leben das Kunſtwerk iſt, das er zu einer vollkommenen Schönheit zu 
geſtalten ſucht, um es fo zum nachlebbaren (darin liegt eine Parallele zur Reprodut- 
tion) Vorbild der Menſchheit zu geſtalten. Des Künſtlers Schöpfung erfüllt auch 
am meiſten jene höchſte und ſchwerſte Forderung an die Leiſtungen des Genies: 
er bringt Werke hervor, die von Dauer ſind (Goethe an Eckermann). 

Das Weſen des Ewigen beruht darin, daß es immer Gegenwart ſein rann. 
Der Ewigkeitsgehalt des Kunſtwerkes bewährt ſich darin, daß jede Zeit einen Weg 
zu ihm finden kann. Dieſe Wege wechſeln beſtändig. Das Verhältnis ber Menich- 
heit zum Kunſtwerk iſt ſo dem Wechſel und der Begrenztheit unterworfen, wie 
der gewöhnliche Menſch überhaupt. Aber das Kunſtwerk ſelbſt beſteht, iſt dauernd 
lebendig und vermag dauernd lebendig erfaßt zu werden. In noch höherem 
Maße gilt das von dem Menſchen, ber dieſes Kunſtwerk geſchaffen hat. Auch zu 
ihm können die Menſchen ein ſtets wechſelndes Verhältnis finden. Aber — und 
deshalb ift der Künſtler-Menſch für die Menſchheit wertvoller, als das Kunſtwerk — 
da in jedem Menſchen der Zug nach dem Ewigen liegt, das Verlangen nach dem 
Unſterblichen, fo vermag der Menſch aller Bem bae ewig Große im Menfchen 
zuerſt zu erfaſſen. 

Hier weiten ſich ſeine Grenzen. Das Herden entſpringt derſelben Quelle 
wie das Göttliche. Das Menſchenverhältnis zu beiden ijt im Wefen das gleiche. 
So ijt der Geniemenſch in noch höherem Maße unſterblich und ewig, als das Genie- 
werk. Höchſte Aufgabe des ein Vergangenes durch die Fülle ſeiner Forſchung, die 
Eindringlichkeit feiner Pſychologie, die phantaſievolle Geſtaltungskraft reproduzie- 
renden Hiſtorikers muß es demnach ſein, der Menſchheit den Geniemenſchen mög— 
lichſt eindringlich und erkennbar vor Augen zu ſtellen. 

Oft hört man ſagen: Zwar die Werke eines großen Künſtlers, die ver— 
möchte oft erſt die Nachwelt wirklich zu erkennen und zu würdigen; erſt die Nach- 
welt ſei vor allen Dingen imſtande, das Geſamtſchaffen eines Künſtlers wirklich 


Stord: Beethoven ber Held 315 


zu kennen. Aber ben 9X en [ den, den könne niemand beffer beurteilen als der 
Zeitgenoſſe, weil der doch den Lebenden jab, mit ihm verkehrte. 

Ach, „wie er fid) räuſpert und wie er ſpuckt“, das vermögen bie Zeitgenoſſen 
abzugucken. Den Geniemenſchen zu erkennen, ſich in ihn einzufühlen, iſt unendlich 
ſchwerer, als die Erkenntnis eines genialen Kunſtwerkes. Im Gegenteil. Das 
Zuſammenſein im Leben, in der Alltäglichkeit behindert eher in der Erkenntnis 
der menſchlichen Größe. Darum ſind die Kammerdiener die Verelender alles 
Schönen und Großen in der Weltgeſchichte. Und nur der Freundſchaft, der Liebe, 
eben dem parteiiſchen Enthuſiasmus, gelingt es, (don bei Lebzeiten die Größe 
eines genialen Menſchen ganz zu erfaſſſen. Daher jene rüdhaltlofe Hingabe, die 
wahrhaft Große faſt immer bei einzelnen Menſchen gefunden haben, jene Treue, 
die, ob fie die blinde Hingabe Kurwenals oder die tiefbohrende Einſicht Brun- 
hildes iſt, ſtets an das höchſte Recht glaubt beim großen Menſchen und für ihn 
Partei nimmt gegen die ganze Welt, gegen die ſichtbarſten Gegenbeweiſe des 
äußerlichen Seins. 

Gewiß, der Biograph iſt Hiſtoriker, und für den Hiſtoriker ſind die Berichte 
der Zeitgenoſſen Quellen erſten Ranges. Aber doch nur für die Außenſeite der 
Dinge, zumal wo das innerlich Menſchliche in Betracht kommt. Und auch alle Be- 
rührungen, die der Geniemenſch mit den anderen Menſchen hat, z. B. in ſeinen 
Briefen, ſind nicht abſolute Zeugniſſe, ſondern nur als relative, zu meſſen auch 
am Empfänger der Briefe, am Menſchen, mit dem der Geniemenſch zujammen- 
trifft. Unſer vorzüglichſtes Mittel zur Erkenntnis des Geniemenſchen als Menſch 
ſind ſeine Werke und ferner die Höhepunkte ſeiner Außerungen an die Welt. Denn 
in dieſen Höhepunkten liegt das ihm Eigene, nach ihnen iſt die Geſamterſcheinung 
zu bewerten. Was darunter liegt, ijt das Zufällige des Lebens, bewirkt oder her- 
vorgerufen durch das Milieu. Hier tritt der Hiſtoriker als Pſychologe ein, der zu 
erklären hat und durch die noch ſo widerſprechenden Außenſeiten auf den Kern 
gelangen muß, den er als Weſen erkannt hat. Der Biograph ſoll nichts verſchleiern. 
Es iſt von beſonderem Reize und eindringlichſter Lehrkraft, das Menſchheitsbild 
des Künſtlers hinzuſtellen, wie es dem Zeitgenoſſen erſcheinen konnte. Es wird 
oft eine Rechtfertigung für das Verhalten der Zeitgenoſſen in dieſer Darlegung 
des Künſtlers als Alltagsmenſchen liegen. Aber was haben wir Spätere davon? 
Wir könnten über alles das als zufällig, als wertlos, als Schein und Nicht- Sein des 
Geniemenſchen hinweggehen, wenn nicht die Verkleinerungsſucht, die Froſchnatur 
der Maſſe dauernd an dieſe Außendinge ſich klammern würde, um den Beſitz 
der hohen Geniemenſchlichkeit uns zu verkümmern. 

So ijt es die freudige Aufgabe des Biographen, durch feine pſychologiſche 
Kunſt zu zeigen, daß der Geniemenſch trotz aller dieſer widerſprechenden Erſchei— 
nungen der Edelmenſch, der Held geweſen iſt, als den wir ihn verehren. Ja, ich bin 
ſo durchdrungen von der idealen Notwendigkeit im Weſen der Großen, daß ich 
glaube, daß es dem wirklich bis ins Tiefſte eindringenden Biographen gelingen muß, 
zu beweiſen, daß die ganze Lebenserſcheinung, wie fie fid) uns erſchließt, notwen- 
dig war für die Daſeinsmöglichkeit des betreffenden Genies. 

* * 


x 


314 Storck: Beethoven bes Held 


. . Paul Bekker fteht nicht auf dieſem Boden Carlyleſcher Heldenverehrung. 
Wie ſchon aus manchen Stellen ſeiner an Anregungen ungemein reichen Studie 
„Das Muſikdrama der Gegenwart“ hervorgeht, ſetzt er ſich über die ethiſche Seite 
des Künſtlertums leicht hinweg, wie ich glaube, aus der Überzeugung, ſo dem 
Kunſtwerk an ſich gegenüber eine freiere Stellung zu gewinnen. Hier beginnt Bekker 
ſeine Charakteriſtik des Menſchen Beethoven mit den Worten: „Das Beſtreben, 
die Perſönlichkeiten bedeutender Menſchen ſtets aus idealiſierender Perſpektive zu 
betrachten, hat allmählich eine Beethovenvorſtellung geſchaffen, die ſich mit der 
Wirklichkeit nur noch in wenigen Punkten deckt.“ Ich brauche nicht erft beſonders 
nachzuweiſen, daß dieſe falſche „idealiſierende“ Art mit bem „parteiifchen Enthufias- 
mus“ nichts zu tun hat. Senes „Zdealifieren“ ift ein Vertuſchen, während der par- 
teiiſche Enthuſiasmus höchſte Klarheit erſtrebt in der Überzeugung, auch das zunächſt 
Widerſtrebende erklären und begründen zu können. 

Es ift ganz ſelbſtverſtändlich, daß Bekker von der Abſicht ausgegangen ift, 
mit erreichbarer Sachlichkeit ein möglichſt wahres Bild des Menſchen Beethoven 
zu ſchaffen. Aber feine von vornherein gewonnene Einſtellung gegen die bis- 
herige idealiſierende Darftellung, wie er fie nennt, hat bei ihm eine Sehweiſe 
hervorgerufen, die nicht mehr realiſtiſch, ſondern naturaliſtiſch ift. Gleich zu Be- 
ginn haben wir das Geſamturteil: „daß wenige Muſiker eine ähnlich klare und fach- 
liche Auffaſſung der Außenwelt gehabt haben, daß Beethoven in der Beurteilung 
feiner Mitmenſchen fid) felten zum Guten, häufig zum Schlimmen irrte, — ge- 
wif kein Charakteriſtikum eines idealiſtiſchen Träumers. Seine Lebensführung, fo 
ſeltſam ſie auch zuweilen erſcheinen mag, entſpricht einer bewundernswürdigen 
Zweckmäßigkeit und zeugt von einem ſcharfblickenden, alle realen Verhältniſſe 
richtig und nüchtern beurteilenden Geiſt.“ 

$6 könnte jagen, daß damit Bekker auf die Seite der parteiiſchen Enthuſiaſten 
tritt. Der Künſtler hat recht, auch wenn es das Gegenteil ſcheint, ſelbſt in den 
Realien des Lebens. Aber die ganze Einſtimmung Bekkers iſt entgegengeſetzt. Er 
iſt frei von der moralinſauren Beſſerwiſſerei Thayers und kommt doch im Grunde 
zu einem übleren Menſchenbilde, als der Amerikaner. Man müßte Zeile für Zeile 
durchgehen, um das zu zeigen, und könnte dann nachweiſen, wie eine ungünſtige 
Voreingenommenheit — vielleicht würde man beſſer ſagen: der Widerſpruchsgeiſt 
gegen die allgemein verbreitete Auffaſſung — alles in eine Beleuchtung rückt, die 
das Menſchenbild Beethovens verkleinert, nach meiner feſten Überzeugung aber 
noch nicht einmal den objektiven Tatbeſtand wiedergibt. Ich greife einige Teile 
heraus: „In Wirklichkeit ift Beethovens Verhalten in Geldfragen einer der an- 
greifbaren Punkte in feinem Charakter und keineswegs dazu angetan, ihn in vor- 
teilhaftem Lichte erſcheinen zu laffen ... Er legt in Geldfragen zuweilen eine 
Skrupelloſigkeit an den Tag, bie fid) nicht mit beſchönigenden Redensarten recht- 
fertigen läßt ... Die Vorſtellung von dem geſchäftlich unerfahrenen Beethoven, 
der von allen Seiten übervorteilt wird, gehört ins Gebiet der Fabel. Beethoven 
ist im Gegenteil einer der erſten Muſiker, der den Verlegern gegenüber feine Selb- 
ſtändigkeit behauptet und aus ſeinem Schaffen den erzielbaren höchſten Gewinn 
ſchöpft. Doch begnügt Beethoven ſich nicht immer mit der Wahrung! ſachlich be- 


Stord: Beethoven ber Held 315 


rechtigter Anſprüche. Er wird nicht felten wortbrüchig, gibt Zuſagen und macht 
fie wieder rückgängig, ſobald andere Anerbieten an ihn herantreten, empfängt Bor- 
ſchüſſe auf Werke, die er nicht liefert, erweckt aus eigennützigen Motiven Hoff- 
nungen, deren Unerfillbarkeit ihm wohlbekannt ijt. Es gibt kein unerfreulicheres 
Bild als das Vettrennen der Verleger nach der großen ‚Meffe‘, die Beethoven fait 
gleichzeitig ſechs Firmen verſpricht, um ſie ſchließlich einer ſiebenten zu übergeben. 
And das vom Sterbelager aus nach London geſandte, in den beweglichſten Worten 
abgefaßte Unterſtützungsgeſuch war eine bewußte Entſtellung des Sachverhalts, 
die dadurch nicht entſchuldbar wird, daß Beethoven ſie aus Liebe zu den Neffen 
ausſprach.“ 

Ich weiß nicht, ob Beller fid) die ganze Tragweite dieſer unmittelbar hinter- 
einander aufgeſtellten Behauptungen klargemacht hat. Jedenfalls hat er ſelber die 
Folgerungen daraus nicht gezogen. Denn dieſe Folgerungen würden eine völlige 
Vernichtung des Menſchen Beethoven ergeben. Die Bezeichnung „Schattenſeiten 
im Charakter“ würde dafür nicht ausreichen, wo es ſich um Betrug und Lüge 
handelt. Es wäre nach meinem Dafürhalten bei ſolchen ſchroffen Anklagen zu- 
nächſt notwendig geweſen, die Anklagepunkte einzeln aufzuführen und zu belegen. 
Dann hätte (id) [hon manches ganz anders gemacht, als fo bei dieſer ſcharfen Auf- 
zählung. Nun aber ſcheint mir die ganze pſychologiſche Einſtellung verkehrt und 
hier geradezu verhängnisvoll. Es ijt doch abſurd, einen Menſchen als geſchäfts- 
tüchtig hinzuſtellen, der ſechs Firmen Verlagsrechte verkauft und ſie nachher einer 
ſiebenten gibt. Das iſt geradezu ein kindiſches Geſchäftsgebaren und läßt ſich aus 
der Kinderpraxis hundertfältig belegen. Beethoven wäre jedenfalls höchſt erſtaunt 
geweſen, wenn einer der betreffenden Verleger ſich auf Rechte berufen hätte, und 
wenn dem ganz fo wäre, wie Bekker es hinſtellt, fo würden einzelne der betreffen- 
den Verleger auch kaum gezögert haben, ihre Anſprüche gerichtlich geltend zu 
machen. Daß das nicht geſchehen iſt, daß aber auch die Bekannten Beethovens 
ihn allenfalls als in dieſen Dingen verrückt und verſchroben, aber niemals als be- 
trügeriſch anſahen, beweiſt zur Genüge, daß die aus den Briefen konſtruierte An- 
klage Bekkers auf tönernen Füßen ſteht. Gleichfalls pſychologiſch vollſtändig ver- 
kehrt iſt die geradezu ungeheuerliche Anklage, daß der ſterbende Beethoven bei 
feinem Unterſtützungsgeſuch nach London die dortigen Freunde bewußt belogen 
habe. Bekkers Begründung wird jedenfalls auf das erſparte Kapital von acht- 
tauſend Gulden verweiſen, das ja für alle Notfälle vorhanden war. Ja, nun mag 
man über Beethovens Auffaſſung, daß dieſes Kapital um des Neffen willen nicht 
angetaſtet werden durfte, denken, wie man will, er hatte ſie jedenfalls. Beethoven 
hat doch die betreffenden Bettelbriefe nicht ſelbſt geſchrieben, er mußte fie dittie- 
ren. Und die Annahme iſt doch ganz ungeheuerlich, daß er als ſchwerkranker Mann 
in Diktaten vor ſeinen Bekannten, die genau über ſeine Verhältniſſe unterrichtet 
waren, die auch von dem erſparten Kapital wußten, bewußt gelogen haben ſollte. 
Ich meine, es wäre ein leichtes, diefe gewiß im erſten Augenblick auffällige Er- 
ſcheinung pſychologiſch zu erklären, und darin ſehe ich die Aufgabe des Biographen. 
Denn, wie ſchon geſagt, dieſe Anklagen bedeuten die Vernichtung des Menſchen 
Beethoven, wenn fie als berechtigt anerkannt werden müjjen. Sie ſtimmen aber 


316 Stord: Beethoven der Held 


durchaus nicht zum ſonſtigen Verhalten Beethovens und erklären ſich außer aus 
den angeführten Gründen noch aus der Tatſache, daß kein Menſch eine ſo arme 
und mit ſteten Sorgen erfüllte Kinderſtube zu überwinden vermag, wie fie Beet- 
hoven gehabt hatte. Derartige Leute find immer von der Sorge erfüllt, für böſe 
Tage nicht genug zu haben. 

Wie hier wirkt die Einſtellung Bekkers auch auf andere Fragen. Da iſt eine 
Stelle: „Daß feine (Beethovens) Moral nicht von ſtrengſter bürgerlicher Aus- 
geſchloſſenheit war, wie noch Wagner behauptet, bezeugen Beethovens eigene 
Worte: „‚Sinnlicher Genuß ohne Vereinigung der Seelen ijt und bleibt viehiſch, 
nach ſelbigem hat man keine Spur einer edlen Empfindung, vielmehr Reue.“ Als 
reiner Tor iſt Beethoven ſomit ſicherlich nicht durch das Leben geſchritten.“ Bekker 
folgert alſo, weil er aufs menſchlich Ungünſtige eingeſtellt iſt, aus dieſer Außerung 
Beethovens, daß ſie gewiſſermaßen in einem moraliſchen Katzenjammer gefallen 
ſei. Es iſt abſolut nicht einzuſehen, weshalb das der Fall ſein muß. Wir haben von 
den verſchiedenſten Menſchen Hunderte von moral-ethiſchen Außerungen über die 
ſchwerſten Verbrechen, und es wäre doch abſurd, anzunehmen, daß man ſich dieſes 
Verbrechens hätte ſchuldig machen müſſen, um die daraus erfolgenden Reue- 
gefühle feſtzuſtellen. Selbſt wenn wir einzelne zeitgenöſſiſche Berichte, wie die 
des Arztes A. Weißenbach, nicht als unbedingte Zeugniſſe gelten laſſen wollen, 
Bekker hat jedenfalls keine gegenteiligen. Und das will ungeheuer viel heißen. 
Das „Wien“ der Lebenszeit Beethovens war von höchſter moraliſcher Laxheit, 
aber auch von übelſter moraliſcher Nachrede. Schon Mozart und ſpäter Schubert, 
um bei den Muſikern zu bleiben, haben das aufs ſchlimmſte erfahren müſſen. Nun 
ſtelle man ſich aber Beethoven vor, deſſen groteske Perſönlichkeit überhaupt nicht 
imſtande war, etwas heimlich zu tun, an den fid) ferner wegen feiner Rückſichts- 
loſigkeit ſicher die üble Nachrede mit beſonderer Freude geheftet hätte, — ich meine, 
in einem ſolchen Falle iſt das Fehlen von ganz beſtimmten Anklagen ein ſo außer- 
ordentlich ſtarkes Zeugnis für die unbedingte Reinheit, daß man keinesfalls aus 
einem allgemein grundſätzlichen Ausſpruch wie dem oben zitierten das Gegenteil 
erſchließen dürfte. 

So iſt noch vieles, beinahe alles, was über den Menſchen geſagt wird, wo- 
bei ausdrücklich betont ſei, daß Bekker auch manches Schöne anerkennt und lebhaft 
betont, wobei es ohne innere Widerſprüche nicht abgeht. Der Menſch Beethoven, 
den er uns ſo hinſtellt, hat eine ganze Maſſe gröbſter Alltäglichkeiten an ſich hängen. 
Das ift nie beſtritten worden. Aber man hat nach meinem Gefühl mit Recht Beet- 
hoven im Kampfe mit dieſer Alltäglichkeit geſehen, darunter leidend und fie zu- 
letzt auch ſieghaft überwindend. Jedenfalls wird das Geſamtbild Beethovens in 
dieſer naturaliſtiſchen Modellierung durchaus nicht lebenſprühender und faßbarer, 
als es bisher geweſen iſt. Es bleibt riſſig, brüchig, ja, es klaffen noch viel ſchärfer 
die Widerſprüche zwiſchen dem fo geſchilderten Menſchen und feinem Schaffen. 
And es wäre unſchwer, manche Ausführungen Bekkers über den Menſchen 
durch feine eigenen über den Rünftler zu widerlegen oder doch jedenfalls als 
vermutlich nicht zutreffend nachzuweiſen. Ich denke mir, daß Bekker ſelbſt manch- 
mal dieſes Gefühl hatte, und erkläre mir ſo den Schlußſatz in ſeinem Vorworte: 


Der ferne Klang ` 317 


„Für bie Aufnahme des Buches hege id) nur einen Wunſch: Möge es nicht mig 
verſtanden werden.“ 

Gegen folgenſchwere Mißverſtändniſſe bat fid) Bekker ſelbſt geſchützt durch 
die folgenden Abſchnitte feines Buches. Wie ſchon bemerkt, nimmt die Darftellung 
des Lebens- und des Charakterbildes Beethovens nur einen kleinen Bruchteil des 
Buches ein, einen zu kleinen, wie man wohl ſagen muß gerade aus der Überzeugung 
heraus, daß ein breiteres Auseinanderlegen der jetzt in möglichſter Gedrängtheit 
vorgetragenen Anſchauung zu einer Veränderung derſelben geführt haben würde. 
Rüdhaltlos freuen kann man jid) des großen zweiten Teiles des Buches: „Beet- 
hoven der Tondichter“. Nicht daß man zu allem und jedem ja und Amen ſagen 
möchte. Auch hier zeigt fid) oft, vor allem im erſten Abſchnitt „Die poetiſche Idee“, 
die Neigung, aus zutreffenden Einzelheiten verallgemeinernde Schlüſſe zu ziehen, 
und eine gewiſſe Freude am Anders-ſehen, als man es gewohnt ift, birgt die nicht 
immer vermiedene Gefahr in ſich, anders ſehen zu wollen. Aber ich würde es für 
durchaus verkehrt halten, hier auch nur in einem einzigen Falle die abweichende 
Auffaſſung zu betonen, angeſichts der außerordentlichen Fülle von wirklich tief- 
dringender, im höchſten Sinne reproduzierender Analyſe des Beethovenſchen 
Schaffens, angeſichts der von edelſter Begeiſterung getragenen Entwicklung der 
geiſtigen Welt Beethovens, angeſichts des ſcharfgeiſtigen Aufbaues der großen 
Zuſammenhänge, der wunderbaren Einheitlichkeit des vielgeſtaltigen Lebens- 
werkes. Beſonders erfreulich iſt, daß hier dem Verfaſſer die Sprache als williges 
Inſtrument gehorcht. Es ift ihm, zumal in den Analyſen, eine Eindringlichkeit 
des Wortes gegeben, die dieſe äſthetiſche Entwicklung muſikaliſcher Inhalte von 
ſo überzeugender Kraft macht, daß die in Fachkreiſen weitverbreitete Abneigung 
gegen diefe Form muſikaliſcher Entwicklung fic hier jedenfalls willig der Erkennt- 
nis beugen wird, daß ein Sprachkünſtler, der wirklich tief in das Weſen muſikaliſcher 
Kunſtwerke eingedrungen iſt, mit dem Inſtrument des geſchriebenen Wortes Werke 
ebenſo überzeugend interpretieren kann, wie der reproduzierende Muſiker durch 
ſein Spiel oder auch die größeren Mitteilungsmittel des muſikaliſchen Ausdrucks. 
Gerade in dieſer Richtung iſt Bekkers Buch eine bedeutende Merkſtufe unſerer ge- 
ſamten Muſikliteratur. 

G 


Der ferne Klang 


Aus des Herzens tiefem, tiefem Grunde Eine ſchöne Welt iſt da verſunken, 


Klingt es mir wie Glocken dumpf unb matt: Zhre Trümmer blieben unten ſtehn, 
Ach, ſie geben wunderbare Runde Laſſen fld) als goldne Himmels funken 
Von der Liebe, die geliebt es hat. Oft im Spiegel meiner Trãume fehn. 


Und dann möcht' ich tauchen in die Tiefen, 
Mich verſenken in den 9Diber(doeln. 
Unb mir iſt, als ob mich Engel riefen 
8n die alte Wunderſtadt hinein. 
$m Angelpunkt der dramatiſchen Handlung in Franz Schrekers dreiaktiger 
Oper „Oer ferne Klang“ ſteht eine Ballade von einem König, der eine ſeltſame Krone trug. 
Die Krone iſt verflucht, denn wenn im Herzen des Königs ſich ein Hauch von Liebe regt, ſo 


318 Der feme Klang 


fängt bie Krone zu glühen an. Doch getreu feiner Pflicht für Thron und Reich duldet einfam 
der bleiche König, bis eines Tages eine heiße Liebe ſein Herz mit Macht ergreift. Von der 
Liebſten kann er nicht laſſen. Da wirft er die Krone, die ihn zu verbrennen droht, hinab ins 
Meer. „In brandenden Wogen erliſcht die Glut, doch aus der Tiefe klingt es wie Zimbeln 
und Hochzeitsgeläut: auf ſteigt da eine blaſſe Frau mit irrem Blick und mit naſſem Haar. Sie 
langt nach dem König und zieht ihn hinab.“ 

8n ganz merkwürdiger Weiſe vermengen fid) bei Franz Schreker ſymboliſche und natura- 
liſtiſche Elemente. Denn fo ſeltſam es anmuten mag, daß dieſe düſtere Ballade von einem als 
Lebemann gekennzeichneten, allerdings wohl von ſtarker Leidenſchaft ergriffenen Kavalier 
in einem tollen Ballhauſe zum beſten gegeben wird, ſie birgt doch in ſich den tragiſchen Gehalt 
des ganzen Werkes. Freilich nicht ſo, daß man nun einfach aus der vorgeführten Handlung 
Stück um Stück neben Berfe ſtellen könnte, bie ihr Gleichnis fein follen. Das geht ſchon des- 
halb nicht, weil noch ein zweiter Gedanke ſich ſymboliſch hindurchzieht, dem Wilhelm Müller 
in den zu Eingang mitgeteilten Strophen ſeiner Ballade „Vineta“ ſo unvergeßlichen Ausdruck 
geliehen hat. 

Der ferne Klang! Wer hat ihn nicht einmal vernommen? Taucht er als Glockenſtimme 
auf aus des Herzens tiefem, tiefſtem Grunde; lockt er wie zirpendes Harfengetön aus weiter, 
weiteſter Ferne; iſt's wie ein Erinnern aus ferner, unfaßbarer Vergangenheit; iſt es ein Ahnen 
einer im nebligen Dunſt verſchwimmenden Zukunft —, ein Lockbild iſt es, innerſter Inhalt 
oft eines ganzen Lebens, Heiligſtes der Sehnſucht, narrend bis zur Verzweiflung, und doch 
auch wieder die Rettung in wüſteſter Lebensbedrängnis. An Schopenhauer möchte man denken 
und in dieſem fernen Klang die Fdee ſehen eines Kunſtwerkes, einer großen Schöpfung, eines 
Gedankens. Ou ſollſt fie formen, Geſtalt ihr geben, daß fie zur Mitteilung gelange an die Welt. 
Sft aber die Geſtaltung vollbracht, fo ijt es kein Abbild, ein Zerrbild nur; mögen die andern 
jubeln über das ſchöne Lied, der Schöpfer fühlt: was ihm aus der Ferne geklungen, ſteht nicht 
darin. Oder liegt darin die Antwort auf die Frage: Was ift Kunſt? OH es das Kennzeichen 
wahrer Künſtlerſchaft, daß der ferne Klang einmal zum nahen Liede wird? 

Franz Schreker hat bie tede Hand des Theatralikers, der zugreift und geſtaltet, unbe- 
kümmert darum, ob die Idee ganz dramatiſche Form geworden ijt. Das ijt ein Glück für ihn 
und für uns. Ein Glück, weil man trotzdem aus allem ſpürt, daß er den fernen Klang ſo ſtark 
gehört hat, daß er ihm ſicher nicht verſtummen wird unter den lärmvollen Akkorden eines nahe- 
liegenden Erfolges. Es iſt ein Glück für uns. Die deutſche Kunſt leidet auch an den fernen 
Klängen, die ihre höchſte Schönheit ausmachen. Im Streben nach dieſem Fernen verſäumte 
jie oft das Nahe. In der Mühe, etwas, was vielleicht nur deshalb fo fhòn ift, weil es wirklich 
unfaßbar bleibt, zu faſſen; in der Mühe, ein rein Seeliſches und gerade darum jo ewig Leben- 
diges in die ſinnliche Form zu zwängen, vergeudet fie unendliche Kräfte. Und wenn die Sehn 
ſucht das Koſtbarſte iſt, ſo verlangt doch das tatſächliche Leben Erfüllung. Und wird ihm dieſe 
nicht zuteil auf dem Wege, den die Sehnſucht geht, ſo holt es ſie ſich eben anderswo. Ins 
nüchtern Tatſächliche, ſoweit das Theater in Betracht kommt, übertragen, heißt das, daß wir 
Deutſche im Ringen um das ewig Oramatiſche zu leicht und zu oft das Theater verloren haben. 

Das Theater hat niemals und wird niemals vom großen Drama leben können, ſchon 
deshalb nicht, weil íi) das höchſte Oramatiſche in Sphären vollzieht, die der theatraliſchen 
Aktion, der Sinnlichkeit des Ausdrucks widerſtreben. Die höchſte Tragik des Lebens liegt in 
fo innerlichen Vorgängen, daß kaum die prit imftande ift, fie auszudrücken, geſchweige denn 
der körperhafte Menſch und körperhafte Vorgänge. Und wir dürfen es nicht verkennen: was 
man gemeinhin als „dramatiſches Verlangen“ bezeichnet, ijt im Grunde The at er verlangen, 
nicht Verlangen nach dem Drama. Dieſes Verlangen nach dem Drama wird uns befriedigt 
außerhalb des Theaters, faſt nie im Theater. Da iſt das Theater immer Verkleinerung, ſelbſt 
für das in dramatiſcher Form geſchaffene Werk. All das Verlangen nach Feſtſpiel, die Hoff- 


Der ferne Mang 319 


nung, durch beſondere Umftände des Ortes unb ber Zeit jene höchſte dramatiſche Weihe aus- 
löſen zu können, ijt im Grunde nur das Eingeſtändnis, daß das Theater fie nicht bieten kann. 
Das Theater iſt notwendigerweiſe eine ſo furchtbare Verrohung des Dramatiſchen, daß es 
niemals jene höchſten Stunden zu verleihen mag, die wir in einſamer Stube, im einſamen 
Zuſammenſein mit dem dramatiſchen Kunſtwerke erleben können, wo wir aus innerer Sehn 
ſucht mit den gelöſten Kräften der Phantaſie auch in ſinnlicher Geſtaltung ſchauen, was der 
Dichter, der Muſikdramatiker in die ſymboliſchen Zeichen des Wortes und des Tones bannte. 

Es gibt zu denken, daß gerade wir Deutſche, die wir am wenigſten theatraliſche Kultur 
beſitzen, die wir zuletzt unter den modernen Literaturvölkern ein Theater erhalten haben, bei 
denen dieſes Theater niemals jene volkliche Bedeutung gewonnen hat, die es bei den Romanen 
ihon dank ihrer Raſſe beſitzt, dauernd nach dem Phantom des Oramatifden jagen und das 
ausgeſprochen Theatraliſche als eine Verminderung, wenn nicht gar Entweihung empfinden. 
Daher kommt es aber dann, daß unſer wirkliches leibhaftiges Theater in ſo beſchämender Weiſe 
von der Fremde beherrſcht wird, von jener Fremde, die weiter nichts ſein will, als Theater. 

Vielleicht kann uns die Erlöſung zuerſt vom Muſikdrama her kommen. Zch weiß, daß 
das muſikdramatiſche Ringen ſeit Richard Wagners Tod faſt immer ein vergebliches war. Zum 
Teil doch auch, weil die Sehnſucht immer nach dem Muſikdrama ging und die Oper verachtete. 
Aber ich meine doch, daß gerade für die deutſche Art, für dieſes Verlangen nach dem ſeeliſch 
Dramatiſchen, nach der dramatiſchen Idee, bie Muſik die erlöſende Erfüllung bringen könnte, 
die Muſik, die nach des genannten Philoſophen Schopenhauers Wort im Gegenſatz zu den 
anderen Künſten es vermag, die Idee ſelber zu geben. Mag doch dann mit dieſer Muſik die 
Handlung des betreffenden muſikdramatiſchen Werkes ſich als ein bloßes, der Welt und ihrem 
täglichen Geſchehen abgeſehenes Abbild vereinen. 

Ein Werk, wie dieſe dreiaktige Oper „Der ferne Klang“ von Franz Schreker, wirkt 
hier beredter, als bie eindringlichſte äſthetiſche Unterfuhung. Mephiſtos Wort: „Blut ift ein 
beſonderer Saft“ gilt im höchſten Maße vom Theaterblut. Hier iſt einer, in deſſen Adern dieſes 
Theaterblut kraftvoll und munter fließt. Das könnte gefährlich werden und zur äußerlichen 
Mache, eben zur Theaterei verführen, wenn er nicht gleichzeitig ein Vollblutmuſiker wäre. 
Franz Schreker iſt 1878 geboren, alſo vierunddreißig Jahre alt, und dabei ſoll dieſes Werk, 
das am 18. Auguſt die erſte Aufführung erlebte, ſchon ſieben Jahre vollendet ſein. Man ſpürt 
es auf jeder Seite, daß es ſein Lebensbekenntnis iſt. Dem Muſiker klingt dieſer ferne Klang; 
er iſt ihm Seligkeit, er iſt ſein Leiden. Er ringt um ſein Geſtalten, er ſucht ihn einzufangen 
in Linie und Farbe aller Töne und Inſtrumente. Dieſes Ringen, das halbe Erhaſchen, das 
Wiederverlieren, das Näher - und Fernergehen — dieſes Erlebnis der Künſtlerſeele wird ge- 
rade für den Muſiker zum wirklichen Geſchehen; es iſt geradezu die Quinteſſenz ſeiner Kunſt. 
Und was fo die große dramatiſche Idee feines muſikaliſchen Schaffens ijt, findet für dieſen 
Mann, dank ſeiner theatraliſchen Natur, ein Lebensabbild. Mit einer Keckheit, die ſich nicht 
darum kümmert, ob nun das gewählte Symbol bis in alle Einzelheiten mit dem Gedanken 
ſich deckt, verbindet er jene dramatiſche Idee mit dem naturaliſtiſchen Vorgang. Die Liebe, 
noch immer die ſtärkſte Entbinderin künſtleriſcher Kräfte, wird ihm geradezu eins mit dem 
fernen Klang, und die Tragik im Leben des Künſtlers, wie ihn Schreker uns vorführt, liegt 
darin, daß er Liebe und Kunſt als zwei feindliche Kräfte anſieht. Wenn die Liebe den ganzen 
Mann für fid) begehrt und die Kunſt den ganzen Mann verlangt, fo ijt dieſer Zwieſpalt zu 
löſen, wenn Liebe und Kunſt eins ſind. Sieht man in ihnen das Getrennte, opfert man das 
eine, um dem andern ſich ganz hinzugeben, ſo iſt das Opfer umſonſt; verloren geht auch das 
ſo heißumworbene Ziel. 

- +4. Zn dumpfe Verhältniſſe führt uns der erſte Akt. Die drückende Luft der kleinen Um- 
gebung laſtet auf Fritz, der die ihn heiß liebende Grete verläßt, weil er nicht „Ruhe findet zu 
Glück und Genuß, nicht Ruhe zu Liebe und Seligkeit, ehe er ihn nicht hat und hält, den rätfel- 


320 Ser ferne Rlang 


haften, weltfernen Klang, der zu ibm herübertönt, als ob der Wind mit Geifterhand über Harfen 
ſtreiche“. Dieſe Harfe ſucht er, die den Klang gebiert; im Beſitze des Klanges will er wieder 
kommen. So jagt er dem Künſtlertraum nach hinaus in die Welt, und es vollzieht ſich das 
Schickſal feiner Geliebten. Der trunkſüchtige Vater hat im übermütigen Kegelſpiel die Tochter 
an den Wirt verſpielt. Die Bande kommt lärmend, die Braut zu fordern. Da flieht fie aus 
dem Elend des Elternhauſes, dem Geliebten nachzueilen. Sie findet ihn nicht mehr, aber die 
Verſuchung findet fie in Geſtalt eines alten kuppleriſchen Weibes 

Zehn Jahre fpäter ſpielt der zweite Akt. Grete ift die gefeierte Schöne der „Casa di 
maschere“, eines galanten Haufes auf einem Eiland im Golf von Venedig geworden. Ein 
tolles Feſt iſt im Gange. Unter den Bewerbern um Grete iſt der ſtürmiſchſte ein Graf; aber 
gerade den ſtößt ſie, die ſonſt für jeden zu haben, zurück. Ein Etwas in ihm erinnert ſie an den 
höchſten Inhalt ihres Lebens, an Fritz. Dieſes Etwas will ſie ſich nicht rauben laſſen. Und ein 
ſpäter Gaſt kommt in das Haus, ein Düſterer in die Mitte der lärmenden Freude. Ihn hat 
ein Klang hergenarrt, ein Klang, den er ſeit zehn Jahren ſucht, um den er ſich gemüht hat in 
atemloſem Ringen, und den er doch nicht gefunden. So trifft Fritz Grete wieder. Schon find 
fie fic) nahe, da erkennt er in ihr die Dirne und verſtößt fie. Er ſtürzt in die Nacht, in das Leben 
hinaus; ſie folgt den Lockungen des Grafen. | 

Der dritte Akt fpielt in der kleinen Theaterſtammkneipe einer großen Stadt. Es iſt 
der Premierenabend des letzten großen Werkes von Fritz: „Die Harfe.“ Ein Choriſt, der 
bie Pauſe des zweiten Aktes benutzt, berichtet von dem Rieſenerfolg. Da führt ein Poliziſt 
eine Frau herein, ſie iſt im Theater ohnmächtig geworden. Es iſt Grete, die die Neugier nach 
dem Werke ihres einſtigen Geliebten ins Theater führte, in dem ſie ſonſt als tiefgeſunkene 
Straßendirne nichts zu ſuchen hat. Von Bekannten aus alter Zeit, Genoſſen ihres Vaters, 
wird ſie wieder erkannt. Von Reue geplagt, möchten die ihr helfen. Inzwiſchen hat ſich das 
Schickſal des Werkes vollzogen. Der dritte Akt bat den Erfolg der beiden erſten zunichte ge- 
macht und dem ſchwerkranken Komponiſten die Niederlage eingetragen. Er trägt ſie gefaßt, 
er hat das Beſte gegeben, was er zu geben hatte. Daß ihm das Lied der Not und der Sehnſucht 
gelang, daß er aber das Glück nicht beſingen konnte, liegt in feinem eigenen Leben. Furdt- 
bat laftet die Schuld auf ihm, daß er bie wiedergefundene Geliebte verſtieß um der dugeren 
Schande willen. Und jetzt in dieſen Stunden hört er wieder den Klang, den er ſo lange nicht 
vernommen. Näher und immer näher. Sie bringen ihm die Geliebte ins Haus. In ihren 
Armen umbrauſt ihn in vollen Akkorden mit nie gehörter Stärke, in greifbarſter Nähe der einſt 
ſo ferne Klang. Jetzt kann er das Lied geſtalten — könnte es, denn nun iſt für ihn das Lied 
zu Ende. 

Man ſieht, Franz Schreker geſtaltet mit einer glücklichen unbekümmertheit. Er quält 
ſich nicht mit pſychologiſchen Begründungen und läßt das Märchenhafte ruhig in die nackte 
Wirklichkeit hineingreifen. Er darf es, weil jenes Märchenhafte ſeeliſche Wahrheit iſt. Und 
die pſychologiſchen Wandlungen glauben wir ihm ohne weiteres, weil auch ſie im Rahmen 
eines ſeeliſchen Erlebens liegen, deſſen innere Wahrheit von geradezu typiſcher Geltung ijt. 
Aber das kann nur ber Mu fil dramatiker; der des Wortes dürfte es nicht. Von ihm würden 
wir bie Rechenſchaft aus den Tatſachen, aus den Charakteren verlangen, wo hier bie Muſik 
die Antwort gibt: weil fie uns in diefe Lebensſphäre hineinzwingt, weil wir felber mit ihr nach 
dem fernen Klang ſuchen, den ſie uns im Herzen erklingen läßt; weil aus uns ſelbſt wie aus 
einer verſunkenen Stadt die Glodentine aufſteigen, die uns hinablocken in dieſe ſchönere ge- 
träumte Welt. So vermiſcht fid) zwanglos bie keckſte Realijtit des Alltags mit der Märchen- 
poefie des Waldes und der Phantaſtik des erhitzten Künſtlergehirns. 

Nicht daß ein reſtloſes Meiſterwerk hier entſtanden wäre. Es wäre kinderleicht, aabl- 
reiche brüchige Stellen nachzuweiſen. Mag's tun, wer will; mag’s tun, wer die Aufgabe der 
Kritik darin ſieht, Schwächen und Schäden aufzuzeigen. Ich bin beglückt, daß endlich einer 


Ser ferne Riang 321 


wieder da iſt, bei dem man ſagen kann: dem iſt die Bühne Notwendigkeit, der braucht das 
Theater, um ſich ſelbſt zu geben. Und dieſes Selbſt iſt ein Wertvolles. 

Auch als Muſiker. Man muß ſich gegenwärtig halten, wie jung der Komponiſt war, 
als er das Werk (uf, muß ſehen, wie er in dieſen drei Akten ſelber wächſt, um bas Abernommene 
oder beffer Uberkommene nicht zu hoch, das unverkennbar Eigene aber bedeutſam genug einzu- 
ſchätzen. Wir leben auch für die Muſik in einer Zeit, in der die techniſchen Probleme ſich ſo in 
den Vordergrund drängen, daß kein am wirklichen Leben teilhabender Muſiker ſich ihnen ent- 
ziehen kann. Za es iſt leicht begreiflich, wenn dieſe berückende Fülle techniſcher Möglichkeiten 
bie fid dem heutigen Muſiker aus der geſteigerten Farbigkeit des Orcheſters und den uner- 
ſchöpflichen geiſtigen und formalen Moglichkeiten der Linienführung einer aufs höchſte ge- 
ſteigerten Polyphonie ergeben, den Muſiker ſo gefangennehmen, daß er in ihnen ſchließlich 
die Muſik ſelber ſähe. Es ſei nun gleich vorausgeſchickt, daß Schreker in den entſcheidenden 
Augenblicken ſeines Werkes, auch im rein Tonlichen, einen überzeugenden Ausdruck findet. 
Es ſteckt ſicher in ihm auch eine urſprüngliche melodiſche Kraft, wenn ſie auch in dieſem Werke 
nicht ſo ſtark hervorleuchtet und vor allem nicht zu einer wirklich charakteriſtiſchen thematiſchen 
Bildung von Themen geführt hat. Aber es genügt, daß bie lyriſche Sprache in einzelnen Augen- 
blicken diefe perſönliche Note des muſikaliſchen Rernntaterials zeigt. Unter muſikaliſches Schaffen 
nach Wagner, Brahms und Bruckner zeigt ja durchweg dieſe Armut des eigentlichen thematiſchen 
Stoffes. Auch hier haben wir die Parallele der Muſikentwicklung zu der der Malerei, und 
wenn wir aus der Entwicklung der Malerei ſchließen dürfen, ſo werden wir auch in der Muſik 
den Rückſchlag erfahren. 

Wie ſehr auch im innerlich dramatiſchen Sinne dieſer Mangel an wirklich einprägſamer 
Thematik ſchadet, oder doch wie viele Möglichkeiten dadurch beſchnitten werden, zeigt auch 
unſer Werk. Sein geiſtiger Gehalt erinnert an Berlioz' „phantaſtiſche Sinfonie“ gerade durch 
die Verbindung des künſtleriſchen Ideals (idée fixe) mit der Geliebten. Nun wird man ja 
Berlioz niemals den großen Thematikern der Muſik zuzählen; dennoch iſt es ihm gelungen, 
für die „idée fixe“ ein ſo einprägſames Melodiegebilde aufzuſtellen, daß er nachher imſtande 
ijt, alle Schickſale, die das Ideal und die Geliebte durchmachen, in den Veränderungen, die 
das Thema erleidet, uns miterleben zu laſſen. 

gn Franz Schrekers Oper war eigentlich ein ganz ähnliches Problem gegeben. Das 
künſtleriſche Ideal, das im fernen Klang dem Künſtler jid) auftut, bleibt mit der Geliebten 
ſo innig verbunden, daß die Schickſale dieſes Weibes auch die des Kunſtideals werden. Schreker 
läßt uns das ja auch muſikaliſch mitempfinden, aber es liegt mehr in der Färbung. Das Thema 
des fernen Klanges ſelbſt iſt nicht einprägſam und entwicklungsfähig genug, um in der Linie als 
ſolcher bereits ſo weſentliche charakteriſtiſche Abwandlungen durchmachen zu können. 

Überhaupt die Rückführung auf die Linie! gene ganze muſikaliſche Entwicklung, die 
wir als eigentlich „moderne“ bezeichnen können, von Berlioz über Liſzt zu Richard Strauß, 
aber nun gar erft die modernen Franzoſen, wie Debuſſy und Dukas, vertragen fie nicht oder 
nur unter ſchwerer Schädigung. Die Rlavierauszüge aller dieſer Werke geben nur eine ſchwache 
Vorſtellung ihrer wirklichen Reize. Auch hier muß man ja auf Schritt und Tritt an die mo- 
derne Malerei denken. Auch von Schrekers „fernem Klang“ gibt der Klavierauszug, der, von 
Alban Berg ſehr gut bearbeitet, im Verlage der Univerfal Edition zu Wien erſchienen iſt, nur 
eine unvollkommene Vorſtellung. Seitenlang wirkt hier in einer gewiſſen Gleichförmigkeit, 
was durch die ſtets wechſelnde farbige Zuſammenſetzung des Orcheſterklanges ununterbrochen 
feſſelt. Schreker ijt der geborene Koloriſt. Es ift nicht ſchwer, feine Ahnen, von Berlioz ange- 
fangen, aufzuzählen. An Richard Wagner denkt nian mehrfach auch für die innere dramatiſche 
Erfaſſung des Bühnenbildes. So erinnert der Schluß des zweiten Aktes ſowohl an die Heran- 
kunft Lohengrins, wie an die innere ekſtatiſche Erregtheit der Genta beim Nahen des Fliegenden 
Holländers, Hier könnte man fogar noch die Verwendung einer Ballade zur Erregung der 

Der Tümer XV, 2 22 


322 Ein Schubert · Roman 


Geſamtſtimmung anführen. Vom Schluß des Werkes führt eine Brücke zu „Triſtan und Ffolbe“ 
hinüber. Der Orcheſterkunſt von Richard Strauß vermag ſich kein Lebender zu entziehen. 
In der Verwendung des Kleinmaterials im Pointillismus dieſer polyphonen Technik denken 
wir an Charpentier und Puccini, an deren „Luiſe“ bzw. „Bohême“ übrigens auch die Bühnen- 
vorgänge vielfach gemahnen. Die neueſten franzöſiſchen Koloriſten habe ich bereits als An- 
reger genannt. Aber trotz- und mit alledem bleibt Schreker ein eigener. Es find ganz zau- 
briſche Klänge in dieſem Orcheſter entbunden, mit einer inſtinktiven Sicherheit, die nicht gelernt 
werden kann, die einfach angeboren ift. Das ijt das natürliche Schalten eines Künſtlers mit 
dem ihm angewachſenen Material. 

Dann aber hat Schreker noch eins, was für den Bühnendramatiker von höchſtem Werte 
iſt, das ich geradezu als topographiſche Verwendung der Muſik bezeichnen möchte. Der Akt 
in der „Casa di maschere“ ijt in der Hinſicht ein Meiſterſtück, zu dem fid) kaum ein Geiten- 
beiſpiel findet. Wie hier die Mannigfaltigkeit gleichzeitiger Lebensäußerungen zu einem Ganzen 
gebunden ift, das ift nicht nur geradezu entzückend ſchön, ſondern auch von einer urſprünglichen 
Sicherheit der Geſtaltung, für die ſich einem das viel mißbrauchte Wort „genial“ in ſeiner 
höchſten Bedeutung als urſchöpferiſch aufdrängt. Das ernſte lyriſche Erleben zwiſchen Grete 
und dem Grafen und nachher Fritz eint ſich mit dem vielfältigen Treiben auf dem Balle, der 
ſelbſtändig weitergeführten Unterhaltung einzelner Gruppen, der Tanzmuſik, mit Rufen vom 
Meere her und ganz fern herſchwebenden Klängen zu einem durchaus natürlichen und nirgend- 
wo verworren wirkenden Ganzen. Wer dieſes geſtalten konnte, iſt nicht nur Theatraliker, der 
ijt Dramatiker, und zwar echter Muſikdramatiker. Denn mit den Mitteln einer anderen Kunſt 
läßt ſich derartiges gar nicht geben. 

Es gebührt der Frankfurter Oper, die ſchon mit Waltershauſens „Oberſt Chabert“ im 
letzten Jahr eine bedeutſame Uraufführung zu verzeichnen batte, das Verdienſt, Franz Schrekers 
erſtes Bühnenwerk in einer ganz ausgezeichneten Aufführung herausgebracht zu haben. Wir 
nennen im allgemeinen im Türmer reproduzierende Künſtler nicht, da unſerer Leſerſchaft ja 
die örtlichen Beziehungen zu dieſen Künſtlern fehlen. Aber bier ſcheint mir doch eine Aus- 
nahme am Platze. Es ift ein höchſtes Verdienſt, wie Herr Dr. Nottenberg dieſes ſchwierige 
Werk als Dirigent herausgearbeitet und überſichtlich gegliedert hat. Und aus der großen Zahl 
der durchweg ihre Aufgaben erfüllenden Darfteller find Herr Gentner und Frau Sellin als 
geradezu ideale Vertreter für Fritz und Grete mit warmem Gedenken zu nennen. 

Mögen die Bühnen unſerer größeren Provinzſtädte ſich durch die glücklichen Erfolge, 
die die Frankfurter Oper gerade in letzter Zeit durch ihr wagemutiges Vorgehen gewonnen 
bat, zu einer gleichen Unabhängigkeit vom Berliner Vorbilde anfeuern laffen, und durch tüch- 
tige ſelbſtändige Arbeit unſerm Opernrepertoire jene Auffriſchung und Vermehrung ver- 
ſchaffen, deren es dringend bedarf. Karl Storck 


s, 
Gin Schubert-Roman 


X glaube, wir fangen heute erft an, Franz Schubert ben Menſchen und Künſtler 
S uns ganz zu erobern. Oer feinſinnige Paul Bekker hat es einmal ausgeſprochen, 


EM ern 


führe, e wenn wir den Spuren bes gewaltigſten Intellekts, den bie Muſikgeſchichte tennt, 
bis an bie äußerſte Grenze nachgegangen find — erft dann wird unfer Blick frei werden für 
das große, unmeßbare Senfeits des Intellekts, das Schuberts Reich lit. dé 

Das ijt nun fo der Kehrlauf der Dinge unb liegt weniger an den großen Künſtlern und 
ihren Werken ſelbſt, als an uns. Sie ſind die Ewigen, wir die Beſchränkten, und aus unſerer 


Ein Schubert-Roman 323 


Begrenztheit und Beſchränktheit ſuchen wir uns jeweils einen anderen Weg zu ihrer Ewigkeit. 
Denn Ewigkeit ijt nichts anderes als ſtete Gegenwart. Und fo lange ift ein Künſtler, ein Runft- 
werk in voller Wirkung, als jede Zeit ſich einbilden kann, ſie allein habe den richtigen Weg zu 
ihm gefunden, ihr gehöre der Künſtler ganz, wie er wirklich war. Wir Heutigen, die wir zur 
Kunſt und beſonders zur Muſik belaftet kommen, mit Sntellett belaſtet, und ein Geiſtiges in 
der Muſik zu gewinnen ſuchen, ſelbſt dann, wenn dieſes Geiftige in der milden Form des Poeti- 
ſchen auftritt, vermögen nur ſchwer, tatſächlich wohl erſt, nachdem wir das andere überwunden 
haben, jenes Reich überſchwenglicher Gefühlsſeligkeit zu gewinnen, in dem einzelne frühere 
Geſchlechter ganz natuͤrlich geatmet haben. Und wie es für jene Zeitalter fo ſchwer war, fi 
in ein Geiſtiges der Muſik hineinzufinden, ſo iſt es dem heutigen Menſchen nur in glücklichen 
Stunden einer in ihren Urſachen meiſt unergründlichen Gefühlserregtheit möglich, unbehindert 
in das Meer der Gefühle unterzutauchen. 

Zwei Namen drängen fid) uns auf: Mozart und Schubert. Ich |püre es aber ganz 
deutlich, viel überzeugender, als ich es begründen könnte, daß Schubert von den beiden der 
Moderne iſt. Der Moderne von morgen, nicht von heute. Übermorgen, nach Schubert, mag 
dann wieder Mozart kommen: denn Schubert iſt die Sehnſucht, Mozart iſt die Erfüllung. 
Schubert iſt ſelbſt durch Beethoven durchgegangen, oder müſſen wir hier ſagen: Beethoven 
durch ihn. Wie ein gewaltiger Feuerbrand hat der Titane in Schubert gewühlt und hat ihn 
zerwühlt. Rein anderer Zeitgenoſſe hat Beethoven fo angeſehen, wie der kleine Schulmeifters- 
ſohn aus Wien. Keiner hat gerade das Titaniſche und Problematiſche in Beethoven ſo ſtark 
gefühlt, ſo heiß bewundert und wohl ſich ſelbſt auch ſo glühend erſehnt, wie Schubert, dem 
jenes Heldiſche der Tat, aus dem allein ein Beethoven geboren werden konnte, ganz verſagt 
war, dem dafür eine geradezu buddhiſtiſche Fähigkeit des Sich-verſenkens in (id) ſelber ver- 
liehen war. 

Schubert und Mozart ſind in Jahren geſtorben, in denen auch für früh begnadete Genies 
erſt die Zeit der vollen Ernte anhebt. Wohl find die Kornkammern beider bis zum Firſt ge- 
füllt, aber bei beiden haben wir die Empfindung und die volle Sicherheit, daß fie aus der höch⸗ 
ſten Kraft der Schaffensmöglichkeit hinweggerafft wurden. Aber bei Mozart haben wir ſchon 
bei den Werken des Zünglings, jedenfalls aber bei allem, was er nad) feinem zwanzigſten Jahr 
geſchaffen hat, immer ein Gefühl des vollen Gereiftſeins, des in fid) Fertigen und Abgeſchloſſe⸗ 
nen, eben des Vollendeten. Selbſt die größten, reifſten und tiefdringendſten Werke Schuberts 
tragen dagegen als ureigenſte Schönheit ihr Zungſein in fid. Es ijt immer die Überfülle, 
der große, ſchwere, beinahe laſtende Reichtum der Zugend. Es iſt die Sehnſucht. Mozart 
Apollo, Schubert Dionyſos. Das Trunkenſein von Schönheit ift Schubert. Mozart ift fo gött- 
lich, daß die Schönheit ſein Naturzuſtand iſt. Schuberts Schönheit hat dagegen die Schwere 
irdiſcher Wonne, zuweilen auch ihre Laft. Wenn ibm feine Freunde (don einen Scherz 
namen anhängen wollten, fo hätten fie als Freunde ſich nicht an ſeine körperliche, fon- 
dern an feine ſeeliſche Fülle halten und ſtatt „Schwammerl“ ihn „Hummel“ nennen müſſen. 
Denn wie ſo eine von Blumenſchönheit und Blütenduft ſelig-ſchwere Hummel wirkt Schubert, 
der ſich auch vollſog und volltrank an allen Schönheiten der Welt und noch aus ihren Niedrig- 
keiten Süße ſog. 

Es mag ja ſein, gewiß iſt es ſo, daß wir heute ganz anders in ein Bildnis Schuberts 
hineinſchauen, als ſeine Zeitgenoſſen den wirklich lebendigen Menſchen anſahen, auch wenn 
dieſe Zeitgenoſſen gute Freunde waren. Das Bildnis ſelbſt iſt ja, mag es eine noch fo be- 
ſcheidene Zeichnung oder Lithographie ſein, auch bereits eine Loslöſung vom Zufälligen, grob 
Materiellen. Schwammerl oder auch Pilzerl nannten fie das kleine Männchen mit dem großen 
Kopf, das ſein Außeres meiſtens grob vernachläſſigte und auch jene Pflege der Hände, der 
Zähne vermiſſen ließ, die ſelbſt dem Armſten möglich iſt. Es muß ſchon wirklich in ſeiner Natur 
gelegen haben, daß er ſeine übergroße Beſcheidenheit geradezu zu einer Vernichtung ſeines 


524 l Ein Schubert-Roman 


äußeren Seins trieb. Die (páteren Urteile der Freunde betonen dieſe äußerliche Unſcheinbar— 
keit fo febr, daß aus der Vernachläſſigung alles Schönen beinah ein angreifend Häßliches wird, 
das ſicher auch bei dem lebendigen Schubert niemals vorhanden war. 

Hier wirkt ſo etwas wie Rettung vor dem mahnenden Gewiſſen mit. Man will damit 
vor fid) ſelber entſchuldigen, daß man das Genie nicht hoch genug bewertete, daß man den prãck 
tigen Menſchen trotz aller Freundſchaft nicht ſtark genug liebte, daß man ihm jedenfalls die 
Achtung ſchuldig geblieben war, und daß man vielleicht gerade dadurch mitſchuldig war an 
jener äußeren Vernachläſſigung und an der völligen Erfolgloſigkeit im Leben. Sonſt hätte 
Moritz von Schwind, der ihn doch geliebt hat wie ein Bruder und bei der Nachricht von ſeinem 
Tode weinte wie ein Kind, doch ein anderes Wort gefunden als das geradezu rohe: „Er fab 
aus wie ein betrunkener Fiaker.“ 

Wenn wir in die Bildniſſe hineinſehen, gerade auch in die Zeichnungen von Schwind, — 
wir (eben ganz etwas anderes. Dieſe mächtige, ſchön gebogene Stirn, der ſinnlich frohe Mund, 
das kraftvoll vorgeſchobene Kinn — das alles iſt ſtark und bedeutend. Aber wenn wir nun in 
das liebe Geſicht ſchauen, in dem ſicher gute Rehaugen ſtanden und die fleiſchige Naſe faſt 
lujtig herauslugt, und die lodigen Haare ſeidig um die Stirn ſpielen ſehen, fo drängt ein Ge- 
fühl jedes andere zurück: das ijt ein Kind, ein großes, gutes, reines, liebes Kind. Mag diefer 
Menſch erlebt haben, was er will: ob ihn das Leben in ſchlammige Tiefen oder auf luftige 
Höhe getragen hat, er iſt ein Kind geweſen und geblieben. Ein Junge, ein Knabe, ein Kind. 
Ein Kind mit dem ganzen überreichen, überquellenden Herzen der Kinder, durchgegangen durch 
ein Leben, das überall Schönheit, Liebe und Güte in der Ferne zeigte, wie die Kinder die 
Herrlichkeiten des Märchens erſchauen und fo heftig an fie glauben, trotzdem fie nie zu er- 
reichen ſind. 

So hat auch Schubert alle Freuden verzehnfacht durch das, was er aus Eigenem hinzu- 
tat, haben dagegen auf ihn alle Enttäuſchungen nicht verbitternd gewirkt, und er ſagte ſich 
dann nur, daß er wohl ſelber anderswo daheim ſein müſſe. Darum iſt er denn ſo früh von der 
Erde weggegangen, über die er aus unerſchöpflichem Füllhorn, ein rechter kindlicher Ber- 
ſchwender, ſeinen reichen Märchenbeſitz ausgegoſſen hat. 

Rudolf Hans Bartſch, in dem bas Öfterreihertum heute feinen ſonnigſten 
Dichter beſitzt, bat ſoeben einen Schubert-Roman veröffentlicht unter dem Titel „S d) w a m- 
mer!“ (Leipzig, L. Staackmann; broſch. 4 M, geb. 5 ). Bartſch ift eine urlyriſche und wohl 
auch ſtark muſikaliſche Natur. Das fühlt man aus allen ſeinen bisherigen Büchern heraus. 
Dann hat er die leidenſchaftliche Liebe zum Oſterreichertum: zur verklärenden ſinnlichen Lebens- 
freudigkeit, der weichen, etwas üppigen Schönheit, aber doch auch der ſonnigen Kraft, der 
fröhlichen Lebensenergie und der weichen Güte, die auch das Leiden und die Schmerzen mit 
Schönheit verklärt. So kann man es ſich leicht denken, daß es ihn in beſonders ſtarkem Maße 
zu Schubert hinzieht. Die bewußte Pflege und Verherrlichung des Wien nach den Freiheits- 
kriegen zeigt fid) feit mehreren Jahren auf allen künſtleriſchen Gebieten. Die Schönheit Alt- 
Wiens wird jetzt, obſchon ein guter Teil davon zerſtört iſt, in allen Tönen geprieſen. Die Maler 
der Biedermeierherrlichkeit find (tact in Mode gekommen, und Wien, das fo oft nur Wunſch— 
ſtätte und Wahlheimat künſtleriſcher Genies geweſen iſt, beſinnt ſich mit beſonderem Stolz 
auf Schubert, Grillparzer, Schwind und ihren Umkreis voll ſtarker Begabung, weil dieſe echte 
Wiener waren und alſo das Wienertum im Blute hatten. 

„Schwammerl“ nennt Bartſch ſeinen Roman. Und was er gibt, iſt eigentlich die Er— 
klärung dafür, daß ſelbſt ſeine Freunde einen Schubert ſo nennen konnten; iſt die Erklärung 
dafür, daß bei aller Freude an den künſtleriſchen Gaben dieſes genialen Jungen die mei[ten 
ſich doch überlegen dünken konnten oder doch wenigſtens ſich „vertraulich“ an ihn heranwagten. 
Und dieſen Schwammerl bat Bartſch febr fein vor uns erſtehen laffen, wie es noch keiner Bio- 
graphie und auch nicht den Bildern, nicht einmal Schwinds Lachner -Rolle, gelungen ijt. Es 


Wagners Opern in Berlin 325 


it bezeichnend, daß man die in den Band eingeftreuten Zeichnungen Alfred Kel lers 
als durchaus am Platze empfindet, Zeichnungen, die ebenſogut in einer richtigen Biographie 
Schuberts ſtehen könnten. Das Buch iſt in der Tat ein Stück Biographie. Es läßt Schubert 
in feiner Umgebung erſtehen. Die Darjtellung dieſes Rahmens ift meiſterhaft und von einer 
köſtlichen Liebenswürdigkeit, der man es nicht gram nimmt, wenn ſie auch einmal etwas jelbft- 
gefällig bei Dingen beharrt, die kaum zur Sache gehören (die Wiener Epiſode des Urpapageno 
ift entſchieden viel zu breit geraten). Aber die Biographie gibt eben nur den Schwammerl, 
ſie will nicht mehr geben. Nicht daß Vartſch den Schubert nicht fühlte, daß er dieſen Schubert 
nicht bewunderte! Aber er wagt nicht den Verſuch, uns zu erklären, weshalb dieſer Schubert 
und der Schwammerl eins waren. Sobald der Schubert auftaucht, bleibt Bartſch, der dem 
Schwammerl ſo vertraulich unter den Arm griff, ſcheu in der Ferne ſtehen und ſpricht von 
Schubert, ũ b et ihn mit jener innigen Liebe und bewundernden Ehrfurcht, in der es auch der 
Aſthetiker, der Muſikhiſtoriker tut. 

Ich glaube, er hat recht gehabt, nicht mehr zu verſuchen. Daß dieſe beiden eins ſind, der 
göttliche Schubert, der zu Recht neben Beethoven begraben liegt, und das Schwammerl, das 
— wir müfjen [don das Wort noch einmal aussprechen — ausſah wie ein betrunkener Fiaker, 
bleibt unerklärlich, iſt eines jener Geheimniſſe, die jedes echte Künſtlertum bietet. Töricht, 
zu glauben, daß uns das Genie Goethes dadurch klar geworden fei, daß die Goethe - Philologen 
jedes Stäubchen von ſeinen Schuhſohlen abgekratzt und unterſucht haben. Und es iſt ein Glad, 


daß dem ſo iſt. 
2 


Wagners Opern in Berlin 


Em Laufe des Streits um die Frage, ob Bayreuth ein Sonderrecht für die Auf- 
À führung bes Parſifal erhalten foll, bat man berechnet, daß dieſes Feſtſpiel in Bay- 
= teutb (eit bem Jahre 1882 genau 163mal aufgeführt und von etwa 270 000 Per- 
fonen, darunter etwa 160 000 Oeutſchen, beſucht worden ijt. Ohne Zweifel haben bisher 
verhältnismäßig nur febr wenige Oeutſche das Glück gehabt, die erſchütternde Wirkung dieſes 
Bühnenweihfeſtſpiels unmittelbar empfinden zu können. | 

In den größeren Städten Oeutſchlands ſtehen die andern Opern Wagners ftändig 
auf dem Spielplan und erweiſen ſich außerordentlich zugkräftig, auch in Berlin. Allein nirgends 
ſind Wagners Opern fo wenig bekannt wie in der Reichshauptſtadt. Die Hofoper hat von 
Wagner und ſeinen Erben gegen Zahlung der üblichen Gebühren das Aufführungsrecht der 
Wagnerſchen Opern nicht nur für die Stadt Berlin, ſondern für ganz Großberlin, alfo fur 
einen Bevolkerungskreis von über drei Millionen, beanſprucht, obwohl fie nicht in der Lage 
iſt, auch nur die Nachfrage aus der Stadt Berlin ſelbſt befriedigen zu koͤnnen. Für einen 
Berliner, der nicht eine teure Eintrittskarte kaufen kann, ift es feit vielen Jahren fo gut wie 
unmöglich, eine Wagnerſche Oper zu hören. Alle Karten zu mäßigen Preiſen find (tete aus- 
verkauft, anſcheinend an Begünſtigte. Mindeſtens haben viele Leute auf Vorbeſtellungen 
jo häufige Ablehnungen erhalten, daß fie ſchließlich leben Verſuch, eine Wagnerſche Oper zu 
hören, aufgegeben haben. 

Das Monopol der Berliner Hofoper auf die Wagnerſchen Muſikdramen wird in Groß- 
Berlin unmutig empfunden, und zahlreiche Wagnerfreunde (eben mit Ungeduld dem Ende 
dieſes im Grunde genommen nicht einmal gerechten und in jeder Hinſicht unzulänglich au 
geübten Opernmonopols entgegen. 

Dasſelbe Monopol beſitzt die Berliner Hofoper für alle neuen Opern. Allein es macht 
ſich nicht fühlbar, weil die Berliner Hofoper neue Opern nur fehr felten zur Aufführung bringt 


326 Sur Notendeilage 


unb zum Überfluß noch minderwertige Erzeugniſſe italieniſcher, franzöſiſcher und fogar tihechi- 
iher Tonſetzer bevorzugt. Dieſe Rüdftändigteit der Berliner Hofoper ſollte einmal eingehend 
dargetan werden. P. O. 


Ar 
Zur Notenbeilage 


Varia Joſeph Erb, dem unſere Lefer die beiden Stücke unſerer heutigen Noten- 
beilage danken, ijt ein engerer Landsmann Friedrich Lienhards, deffen „Glaube“ 
% er fo ſchwungvoll vertont hat. Am 23. Oktober 1860 zu Straßburg geboren, 
war er r Schüler des Niedermeyerſchen Inſtituts fir Kirchenmuſik in Paris und wirkt feit 1880 
als geſchätzter Muſiklehrer, Klavier- und Orgelſpieler in ſeiner Vaterſtadt. In der langen 
Reihe von Kompoſitionen Erbs ſtehen mehrere Opern (Der letzte Ruf, Der Taugenichts, Abend- 
gloden), die trotz ſchöner Erfolge über den engern Heimattreis ihres Schöpfers nicht hinaus- 
gedrungen ſind. Das hat den letzten Grund in der Schwerfälligkeit unſeres Opernbetriebs 
und der üblen Gleichgültigkeit der hauptſtädtiſchen, die Erfolge „machenden“ Preſſe gegen 
die Arbeit der kleinen Provinztheater. 

Schwer zu begreifen ijt, daß Erbs große F; Dur-Symphonie für Orcheſter und Orgel 
nicht öfter in unſern Konzerten zu hören iſt. Das vierſätzige Werk behandelt in eindringlicher, 
ſchlagkräftiger Thematik den unerſchöpflichen Vorwurf ſymphoniſchen Schaffens: „durch 
Nacht zum Licht“ in farbiger, ſtark perſönlicher Weiſe. Die glänzend behandelte Orgel bringt 
ein eigenartiges Element hinzu, das nicht nur rein inſtrumental, ſondern auch geiſtig aus- 
genutzt ift. — Die Orgel ſcheint überhaupt das Lieblingsinſtrument Erbs zu fein. Seine Sonate 
über Choralthemen der katholiſchen Liturgie iſt ein groß angelegtes und kraftvoll durchgeführtes 
Werk, und von ergreifender Innigkeit und zarteſter Farbigkeit ift ein Tonſtück „Gib uns heute 
unſer täglich Brot“ für Violine und Orgel. In dieſen Kreis gehören auch die Kirchenkompoſitionen 
Erbs, unter denen eine große ſechsſtimmige Feſtmeſſe (op. 78) für vier Männer- und zwei Dis- 
kantſtimmen mit Orgel weitaus zum Bedeutendſten gehört, was die katholiſche Kirchenmuſik 
im Zeichen des Gücilianismus geſchaffen hat. Die ſtrengſten Anforderungen der „Kirchlich- 
keit“ ſind hier aus neuzeitlichem Geiſte heraus erfüllt, und die Anregungen, die Franz Liſzt 
der katholiſchen Kirchenmuſik gegeben hat, ſind hier auf fruchtbaren Boden gefallen. 

Freunde edler häuslicher Kammermuſik mache ich auf die Sonate in E-Moll und eine 
Suite für Violine und Klavier nachdrücklich aufmerkſam (op. 21 und 45, beide in der Univerfal- 
Edition in Wien). Ganz beſonders ergiebig fürs muſikaliſche Haus iſt Erbs Klaviermuſik, die 
hauptſächlich bei Fohann André in Offenbach erſchienen ijt. Ich möchte das verpönte Wort 
Salonmuſik nicht anwenden, andererſeits ift in dieſen Stücken etwas geſellſchaftlich Fröhliches, 
was der Hausmuſik aus dem Kreiſe derer um Schumann abgeht. Hier iſt ein guter Einfluß 
franzöſiſcher Grazie und Luſtigkeit zu verſpüren. Gediegene Form ohne Gelehrſamkeit, prickelnde 
Rhythmik und eine ſinnfällige Melodik follten dieſen durchweg gut ſpielbaren und febr wirt- 
famen Stücken weite Verbreitung im Haufe verfdaffen. 


Zum Kapitel von der ,ftarfen 
Monarchie“ 


ie haben in Preußen-Oeutſchland eine 
ſtarke — ſogar eine ſehr ſtarke — Mon- 
archie. Der König von Preußen regiert nicht 
nur, er herrſcht auch. Herrſcht auch als Deut- 
fher Raifer, und zumal im auswärtigen Ler- 
rain gilt er als der eigentlich leitende Mann. 
Sein eigener Ranzler. Da iſt es einigermaßen 
ſchmerzlich zu beobachten, wie oft er gerade 
in kritiſchen Zeitläuften fid) dieſes Herrſchafts⸗ 
rechts begibt. Das Kommando über das 
Reichsſchiff ganz oder teilweiſe anderen — in 
dieſem Fall wirklich ſubalternen — Händen 
überläßt. So war's im Vorjahr um die Zeit 
der Agadirwirren; ſo wieder jetzt, da die 
Poſten aus Europens Wetterwinkel den 
Raifer nicht aus ſeiner Romintener Jagd- 
einſamkeit zu ſcheuchen vermochten. Für all 
die ernſthaft ſorgenden Patrioten aber, die 
dem offiziöfen Trug nicht glauben wollten, 
daß ein Krieg um das tüͤrkiſche Erbe uns „nur 
ſehr indirekk intereſſieren“ würde, war's ein 
magerer Troſt, zu vernehmen, daß auch fiir 
die folgenden Wochen der Feſtkalender der 
Majeſtät reichlich beſetzt fei. Inmitten unfe- 
rer täglich von neuem anhebenden Unruhe, 
des Schwankens zwiſchen Furcht und Hoff- 
nung, laſen wir, daß unſer kaiſerlicher Herr 
fid u. a. — unter anderen! — den Ham- 
burgern zur Kirchweih, dem Farften Hatzfeld 
zur Jagd, dem ſächſiſchen Großherzog zur 
fünbtaufe und Egon Fürſtenberg zur Hod- 
zeitsfeier verſprochen hätte. 
Gibt es unter den vielen bis in den Tod 
getreuen Ronaliften die doch offenbar die 


kaiſerliche Majeſtät umgeben, wirklich nie- 
mand, der auf die Gefahren ſolchen ! Ab- 
fentismus hinwieſe? Herrſchaftsrechte, die 
man nicht ausübt, veralten. Eine ſtarke 
Monarchie? Eh bien. Nur darf dann ihr Re- 
präfentant nicht juſt in den Momenten, wo 
aller Augen ſich auf ihn richten, das Steuer 
aus der Hand legen. Sonſt werden leicht 
— natürlich nur ſcheinbar — jene ſchlechten 
Leute ins Recht geſetzt, die überhaupt keine 
ſtarke Monarchie wollen und, indem ſie nach 
dem parlamentariſchen Regime ftreben, nah 
der Verſicherung in Staats- und gelehrten 
Sachen erfahrener Männer „die Axt an die 
Wurzel des alten Preußens legen“. 
R. B. 


„Und wenn Europa Ruhe 


hat“. 

m Freitag, den 4. Oktober 1912, ver- 

breitete zu nächtlicher Stunde der of- 
figidfe Wolffiſche Draht folgende — fagen 
wir einmal — Note: „Der Reichskanzler 
v. Bethmann Hollweg hat ſich geſtern abend 
zu kurzem Aufenthalt nach Linderhof be- 
geben. Er folgt damit einer vor längerer Zeit 
angenommenen Einladung des Prinzregenten 
von Bayern. Der Reichskanzler hat dieſen 
Beſuch nicht in letzter Stunde abſagen wollen, 
um nicht der grundloſen Beunruhigung wegen 
Gefährdung des Friedens unter den Groß- 
mächten durch die Balkanwirren Nahrung zu 
geben.“ Die gravitätiſche Geſte dieſes Man- 
nes, der offenbar gar nicht fpürt, wie unend- 
lich komiſch er wirkt, ift hier und do in den 
Blättern ſpöttiſch gloſſiert worden. Wenn 
man ſich's richtig überlegt: zu Unrecht Das 


328 


deutſche Volk kann in der Tat nie ruhiger fein, 
als wenn es Herrn v. Bethmann procul nego- 
tiis beim edlen Waidwerk oder ſonſt einer 
(einer Veranlagung entſprechenden Hantie- 
rung weiß. Nur wenn er zu Waſſer oder zu 
Lande, in inneren oder auswärtigen Gefchäf- 
ten den Staatsmann mimt, ſchafft er uns 
ſtetig neue Qual und Unruhe.. R. B. 


* 


Ein Dollar⸗Kronprinz 


nter der Überſchrift: „Eine angenehme 

Fahrt“ lieſt man telegraphiert, daß 
Herr Alfred Vanderbilt, der Sohn, ſich der- 
zeit auf der Überfahrt von England nach 
Neuyork befinde, um am 20. Oktober, wenn 
er dreißig Jahre alt werde, nach Leftaments- 
beſtimmung die zweite Hälfte der väterlichen 
Erbſchaft anzutreten, 25 Millionen Dollars, 
was in unſerem Geld ſo viel wie 100 Millionen 
Mark fei. 

Armſelige Schluder, die in imaginäre 
Luſtſchauer bei der Vorſtellung einer ſolchen 
Fahrt nach dem Glück geraten! — Könnte 
man ſie doch auf 24 Stunden in den Smoking 
ſo eines modernen Midas ſtecken, damit ſie 
an ſich ſelbſt das alte Märchen erfahren, an 
das ſie ſonſt doch niemals glauben, und es 
kennen lernen, wie viel von dieſen maßloſen 
Annehmlichkeiten bei der Relativität aller 
Dinge dann übrig bleibt. Beſonders aber, 
wenn einer ſchon vorher 100 Millionen hatte, 
ſo daß es nicht einmal den Reiz der Neuheit 
bat. In dem Erwerb eines großen Ver- 
mögens, alſo in der Genugtuung des Mannes, 
der ſeine Energie von ungewöhnlichem Erfolg 
gekrönt ſieht, kann gewiß ein ſubjektives Glid 
ſein. Das bloße Haben ohne dieſe Voraus- 
ſetzung vermag etwas derartiges nicht mehr 
zu ſchenken, und man ſieht es ja ſchon im 
kleinen, wie es viel mehr zum Laſtenträger, 
abermals nach der innerſten ſubjektiven 
Empfindung, macht. 

Aber ein anderes: Sollte es denn wirklich 
nicht möglich fein, daß man dieſe Lataien- 
nachrichten, die ewig bie Privatangelegen- 
heiten der Reichen umſpähen, ungedruckt 
ließe, auch wenn fie als Telegramm einlaufen? 
Da man doch ſonſt auf Standesachtung“ hält 


Auf der Warte 


und der gebildete, hochſtehende Zournaliſt fo 
häufig über eine Geringſchätzung von ſeiten 
der oberen Klaffen zürnt, die nicht an feinem 
Beruf, wohl aber noch immer an ſeinem 
Stande haften bleibt. Und immer ſind dabei 
auch ſolche Zeitungen, die im Ton der Ent- 
rüftung den „Materialismus“ der Sozial- 
demokratie bekämpfen. Man kann ſie aber 
nicht bekämpfen, wenn man ihr, daß ihre 
Kritik recht habe, ſo unwillkürlich verrät. 
‘ Ed. H. 


Sozialdemokratiſche Freiheit 


n einem Artikel der „Neuen Zeit“, der 

den Ausſchluß des Herrn Hildebrand 
rechtfertigen follte, äußerte ſich Herr Karl 
Kautsky alſo über die Grenzen fogialdemo- 
kratiſcher und kirchlicher Toleranz: 

„Sie (die Sozialdemokratie) hindert nie- 
mand am freiwilligen Austritt. Wir fordern 
auch von niemand, daß er ſozialdemokratiſch 
denken foll, Hildebrand mag denken und ſagen 
und ſchreiben, was er will. Wir verkümmern 
niemand das Recht, ſeine Meinung frei zu 
äußern. Wir können nur unmöglich jedem 
einzelnen das Recht geben, nach Belieben zu 
entſcheiden, welche Meinungen fogialdemo- 
kratiſche find oder nicht. Das Recht, darüber 
zu entſcheiden, kann nur die Partei allein 
als Ganzes oder ihre höchſte Vertretung, 
der Parteitag, haben, nie ein einzelner. 

Wenn die Kirche ein Ketzergericht einſetzte, 
batte dieſes zu unterſuchen, inwieweit die 
Anſchauungen des Ketzers von denen der 
Kirche abweichen, um zu entſcheiden, ob er 
gezwungen werden ſolle, ſeine Außerungen 
darüber zu widerrufen oder nicht. Weigerte 
er ſich, dann ſollte ihm jegliche Möglichkeit 
weiteren Forſchens und Lehrens genommen 
werden. Wo die Kirche die nötige Macht 
hatte, fei es die katholiſche oder eine prote- 
ſtantiſche, ſcheute ſie zu dieſem Zwecke ſelbſt 
vor der Todesſtrafe nicht zurück.“ 

Man ſpürt es den Zeilen ordentlich an, 
wie leid es dem Großinquiſitor der Marr- 
kirche tut, daß der Ketzer Hildebrand nicht 
auch verbrannt, gevierteilt und auf das Rad 
geflochten werden kann. Nur aus ſolcher 
Gemütsſtimmung ift es zu verſtehen, daß 


Auf ber Warte 


biefer [harfe Logiker (ſoweit nämlich Talmud- 
gelehrte überhaupt logiſch zu denken ver- 
mögen) den grundlegenden Unterſchied über- 
ſah: daß die Sozialdemokratie mit dem ſtolzen 
Anſpruch in die Welt kam, bie Menſchheit 
von jeder Gebundenheit zu erlöſen und ſie 
ſo frei zu machen, wie ſie zuvor noch niemals 


war. i 
* 


Hotel Wartburg- Kulm 


ie Beteiligten des Neubaus bei der 

Wartburg haben verftanden, rechtzeiti- 
gen Gegenaktionen des geimatſchutzes zu 
entſchlüpfen. Andere werden von ihrer Taktik 
und ihren angenehm beſchwichtigenden Bulle- 
tins lernen. Denn ſchon iſt die Dividendarum 
sacra fames ſich ganz klar, welche Störung 
ihr in jener Bewegung entſtanden iſt. 

Politik ift, die ſchwierigen Punkte in Vor- 
teil zu verwandeln. Auch die Bulletins deſſen, 
was man auf der Wartburg vorhabe, waren 
gut durchdacht. Man werde, damit der ge- 
plante Bau ſich beſcheidener ausnehme, den 
Felſen um mehrere Meter abtragen. Das 
entwaffnet. Wie wäre man ſtatt deſſen 
erſchrocken, hätte die Lesart gelautet: um die 
erwünſchte größere Baufläche zu gewinnen, 
ſei allerdings nicht zu vermeiden, daß das 
natürliche Felsbild um eine Anzahl Meter 
abgetragen wird. 

Ich weiß noch, wie verblüfft ich als tumbes 
Füchslein war, das im Herbſtrauſchen der 
Semeſterfahrt zur Wartburg hinanſtieg, dort 
oben ein ganzes Reftaurationsgebäude vor- 
zufinden. Und dabei — wie nett war noch 
dieſes, an ſeitherigen Maßſtäben gemeſſen! 
In einer taktvolleren Zeit erbaut, wirkte es 
wie ein gleichguͤltiges Nebengebäude der 
alten Landgrafenburg, das man nicht zu 
beachten brauchte. Seit jener Oktoberwande⸗ 
rung habe ich Burſchentage und Feſte auf 
der Wartburg mitgemacht, und wir haben 
einmal, viele hundert, vielleicht über tauſend 
Menſchen, in der alten Reſtauration fröhlich 
beim Wein gefrühſchoppt, weil uns die Stadt 
Eiſenach hierzu eingeladen hatte. 

Ach nein, es war Raum für Wartburg- 
beſucher genug dort, ſolange man es nicht 


329 


anders erkennen wollte. Was fehlte, waren 
lediglich bie „angemeſſenen Säle und aus- 
reichenden Fremdenzimmer“, die man im 
Ton der notgedrungenen Sorgfalt jetzt ver- 
mißt und ſchaffen will. Wie Viele in Wirklich- 
keit haben ſie denn je vermißt? Man konnte 
übrigens dort logieren. Was ſoll ein Mehr 
da oben, was ſollen Säle, falls es nicht ein 
Grand Hotel geben foll? Wozu braucht man 
eine „geräumige Terraſſe“ mit freiem Um- 
blick? War nicht die Burg und ihr Turm da, 
war es nicht unendlich ſchöner, in die waldigen 
Kuppen und nach dem Hörfelberg hinaus- 
zuſchauen, wenn man im Innenhof auf der 
Mauer ſitzend ſich all dieſen Stimmungen 
und Geſchichtlichkeiten überließ? Anſtatt beim 
Kellner auf der Zement-Eſplanade und mit 
der Wein- und Sektkarte auf dem &ijd. 
Die womöglich ein Bild der heiligen Eliſabeth, 
wie ſie den Armen ſpendet, verziert. 

Gut kalkuliert iſt der Plan gewiß, denn 
Thüringen mit ſeinem traditionellen Anreiz 
und Zauber, ſeiner zentralen Lage, ſeinen 
Hochflächen für den Sport, hat immer noch 
neue Zukunft. Das Reiſepublikum tut ja zu 
allem mit, und die wenigen, die ihre fchmerz- 
lich geſtoßenen Fühlhörner einziehen, mögen 
nur immer als gekränkter dummer Schneck 
den Automobilen und der ſicher auch kommen- 
den Zahnradbahn aus dem Wege kriechen. 
„Geſchäft ift Geſchäft“, das ijt der Wahlſpruch 
des neuen deutſchen Reichstums geworden, 
darum dreht ſich unſere auswärtige Politik, 
bie Flottenrüſtung, ber Übergang des Hoch- 
adels in das Unternehmertum, ihm gilt es 
im Inland die vorhandenen Imponderabilien, 
ſeien es nationale, monarchiſche, oder ſeien 
es romantiſche, geſchichtliche, zu adaptieren. 
Wenn wir ſo berühmte Burgen haben, wie 
ſollte ber nationale Unternehmungsgeiſt noch 
länger zögern, aus ihnen dasſelbe zu ge- 
ſtalten, was aus ihren Bergen um Luzern 
bie (don früher aufgeſtandene Schweizer 
Verkehrsinduſtrie gemacht? 

Allerdings vorläufig — ſachte. Bis es 
ſoweit iſt; dann heraus mit den Plakaten 
auf jeden Bahnhof, mit den kleinen bunten 
Diptychons in jeden Speiſewagen. Man fing 
mit Heidelberg und ſeinen Hotels near the 


AA 


castle an, jetzt kommen ihrer mehrere bran, 
die noch etwas Unentweihtes zu verlieren 
haben. Es iſt nicht der ſchwarzſeheriſche 
Arger, der auch für das Vartburghotel den 
hier ſo beſonders verletzenden internationalen 
Betrieb, der zwar den Sängerkrieg und 
Luthers Tintenfaß nicht zu knapp auf die 
Rechnung ſetzen wird, prophezeien läßt. In 
der Stadt Eiſenach gibt es ebenſo angenehme 
als ausreichende Gaſthöfe, wie in der Stadt 
Heidelberg ja auch. Hier würden die unbe- 
quemen, iſolierenden Berghotels fid) wahr- 
ſcheinlich gar nicht frijten können, wenn man 
nicht den Flohmheringsfang aus dem Aus- 
land dorthin dirigierte. Man frage, wer nicht 
Beſcheid weiß, den Guide through Europe 
der Hamburg- Amerika - Linie. Heidelberg, 
wonderful castle ruins. Hotels: die zwei 
überm Schloß. 18 Zeilen im Text zu deren 
denkbarſter Empfehlung. Große Sinferate. 
Die beiden Käſten abgebildet, das Schloß 
gar nichts neben ihnen. Dann, durch Abſatz 
von jenen geſondert, ein paar Nennungen 
derer in der Stadt, die nicht im gleichen 
Maßſtab inſerierten, weil ſie es auch nicht 


brauchten. Ed. H. 
Die deutſche Fremdmannſucht 
— Anno 1515 


n den Schriften des berühmten Nürn- 

berger Ratsherrn Wilibald Pir k- 
heimer findet ſich eine Epiſtel aus dem 
Jahre 1515, die heute noch verblüffend 
zeitgemäß klingt. Der vielgewanderte 
und -bewanderte Staatsmann und Feldherr 
(Pirkheimer führte 1499 die nürnbergiſchen 
Truppen in dem unglücklichen Kriege gegen 
die Schweiz), der Freund Albrecht Dürers, 
des deutſcheſten Meiſters, ſpricht ſich über 
die deutſche Fremdmannſucht alſo kräftig aus: 
„Wer aber ferners der Teutſchen achtet, der 
findet einen ſondern Fürwitz und Mangel an 
ihnen, daß ſie aller Dinge eher Acht haben 
ſuchen, nachfragen und bewundern, denn 
ihres eigenen Dings; durchwandern alle 
Welt bis zu den äußerſten Inſeln, erſpähen 
neugierig alles Fremde, und von ſich ſelbſt 
wiſſen fie nichts Und fo geht es, je nach 


Auf der Warte 


der Welt Brauch, mit den Teutſchen zu, daß 
ſie immerzu wähnen, des anderen Kuh habe 
ein größer Euter, und beſſer Getreid fteb’ 
auf der Nachbarn Acker. Aus dieſem ift ge- 
floſſen, daß die Teutſchen eher von India— 
nern wiſſen zu ſagen, denn von Teutſchen. 
Kunſt, Sprach, Weisheit in Reden und Taten, 
die laſſen ſie gern demütig andern, ja geben 
es ihnen ſelbſt, und rühmen und bewundern, 
aus einer ſonderlichen, faft törigten Demut, 
anderer Rat, Tat, Bücher, Lehre, Red, und 
gefällt einem Teutſchen in summa nichts, was 
ſein eigen iſt, ſondern nur fremde Sitten, 
Sprachen, Kleidung, Geberden. Sogar daß 
etliche mit Kunſt aus gelbem oder weißem 
Haar, darum daß es teutjd ift, ſchwarzes, 
franzöſiſches, welſches oder ſpaniſches laſſen 
machen, mit ſeltſamen beſchornen Köpfen, 
verkehrter Sprach, welche ſie, ſo ſie es gleich 
reden, ungenau und ungeſchickt, als könnten 
ſie es nimmer, reden; und in summa wie die 
Affen ſich anmaßen, alſo daß Germania itzt 
voll teutſcher Franzoſen ijt. Ein Franzos 
wünſcht fid) nicht, daß er gieng', red't' wie 
ein Teutſcher. Ein Ungar nähme einen teut— 
ſchen Rock nicht geſchenkt. Ein Teutſcher hat 
aber deff? ein Wolluſt, mag nit fein eigen 
Sprach, Sitten noch Kleidung.“ — Das iſt 
nun bald vierhundert Jahre ber ... 
" H. K. 


„Mir kann keener“ 


it dieſem guten alten Berliner Wort 

läßt ſich ungefähr die rechtliche Stel- 

lung der Reichspoſt innerhalb unſeres Staats- 
weſens fixieren. Ob diefe Ausnahmeſtellung 
aus eigenen Gnaden rechtliche Gültigkeit hat, 
unterliegt zurzeit der Nachprüfung durch die 
ordentlichen Gerichte. Es wäre wohl nie ſo 
weit gekommen, wenn die Poſt nicht bei ihren 
zahlreichen Differenzen mit dem Publikum 
gottlob mit einem Rechtsanwalt zufammen- 
geraten wäre. Sie hat den Anwalt von der 
Teilnahme am Fernſprechnetz ausgeſchloſſen, 
weil er, über die mangelhafte Bedienung ſei— 
nes Apparats in Verzweiflung verſetzt, mehrere 
Telephoniſtinnen beleidigt haben ſoll. Statt 
alſo, wie jeder Staatsbürger es tun müßte, 
ſich auf dem Wege der Klage Genugtuung 


Auf ber Warte 


zu verſchaffen, bat bie Reichspoſt zu dem ver- 
werflichen Mittel bes Boykotts gegriffen. Da 
fie das Monopol beſitzt, kann ein folder Boy- 
kott für den davon Betroffenen unter Um- 
ſtänden den wirtſchaftlichen Ruin nach ſich 
ziehen. 

Allein das ganze Verfahren paßt wunder- 
hübſch zu der drakoniſchen Strenge, mit der 
die Poſt das leichteſte Verſehen ihrer Rund- 
ſchaft abnbet. Der umfangreiche Strafloder 
fängt (don bei der Marke an, die man auf- 
zukleben vergißt, bei dem Bruchteil eines 
Gramms, das den Tarif überſchreitet. 

Wie gar anders aber ſchaut es aus, wenn die 
geſtrenge Poſt ſelbſt ſich ein Berfehen zuſchulden 
kommen läßt! Siehe, da ändert ſich das Bild 
mit einem Schlage. So rückſichtslos und foul- 
meiſterlich ſie bei der Feſtſetzung von Strafen 
gegen andere iſt, fo mild und nachſichtig wird 
ſie, wo ſie ſelbſt gefehlt hat. Setzen wir den 
Fall, ein in einem Orte Mitteldeutſchlands 
aufgegebenes Telegramm hätte 5 Stunden 
gebraucht, um nach ſeinem Beſtimmungsort 
zu gelangen. Der Abſender, empört über 
ſolche „Bummelei“, wird natürlich eine ge- 
harniſchte Beſchwerde an die Behörde rich- 
ten. — Er ſoll's lieber bleiben laſſen. Denn 
er hat kein Recht dazu. In den amtlichen Bor- 
ſchriften ſteht nämlich: „Die Telegraphen- 
verwaltungen leiſten für richtige Uberkunft () 
und Zuſtellung der Telegramme innerhalb be- 
ſtimmter Friſt keine Gewähr und haben Nach- 
teile, welche durch Verluſt, Entſtellung und 
Verſpätung entſtehen, nicht zu vertreten.“ 

Man ſtelle ſich eine Privat- 
firma vor, die ihre Kunden nach 
dieſen Grundſätzen bedienen 
wolltel! Sie könnte von vorn- 
herein einpacken. 

Aber es ſoll der Poſt kein Unrecht getan 
werden. Sie ift großmütig. Sie geſteht dem 
Kunden ein Beſchwerderecht zu. Sie zahlt 
fogar unter Umſtänden die Gebühren zurüd. 
Ja, das tut fie, wenn innerhalb Oeutfdlands 
eine Depejhe mehr als 12 (zwölf) Stunden 
unterwegs iſt. 

Nobel, nicht wahr? Aber halt: ehe wir 
triumphierend die Gebühr für unfer zwölf- 
jtandiges Bummeltelegramm zuruͤckfordern, 


331 


baben wir einen andern Paragraphen der 
Vorſchriften zu beachten. Dieſer befagt, daß 
für Anträge auf Erſtattung von Telegramm- 
koſten eine Gebühr zu entrichten ift, im deut; 
(den Verkehr 20 9, im außerdeutſchen 40 9. 
Die Gebühr wird zurückgezahlt, wenn ſich 
der Antrag als begründet erweiſt. 

Sit das nicht, um den „Poſtkoller“ zu be- 
kommen? Wahrhaftig, auf ihr Wahrzeichen, 
das Poſthorn, ſollte bie Reichspoſtverwaltung 
als Deviſe ſetzen: Mir kann keener! 


* L. . 
Gelehrtenrepublikaniſches 


9 3 internationalen Gyndlologen-Ron- 
greß zu Berlin wurde „die Ernennung 
von 41 Herren aus 14 Staaten zu Ehren- 
präfidenten vorgeſchlagen und von der Ber- 
ſammlung gutgeheißen“. 

Einundvierzig Präſidenten! Man ſieht, 
die trefflichen Frauenärzte wijfen auch männ- 
liche Schmerzen zu entbinden. Im übrigen 
konnten ſie ſich einer kosmetiſchen Sitte, die 
ſchon eingeriſſen iſt, wohl kaum entziehen. 
Es war immer ein Zdeal von mir, wenn 
ich einmal eine Republik einrichten dürfte, 
dann bie alte Hypothek der Egalité einzu- 
löſen durch die Ernennung ſämtlicher Anteil- 
berechtigten zu Exzellenzen. Wir könnten fo 
für eine kleine Zeit febr glücklich fein. Und 
wenn ſich das dann allmählich auch wieder 
trübte, fo machte man männiglich zu Präfi- 
denten. Weil das prae noch über das ex 
geht und offenbar recht eigentlichſt demo- 
kratiſch ift und der Präſident (don jetzt in 
republikaniſchen Ländern mit ſpielender Leid- 
tigkeit zum bürgerlichen Titel wird, wenn 
man es nämlich von einem Klub, einem Aus- 
ſchuß, einem Verein iſt, man braucht hier 
nicht bloß an Tartarin von Tarascon, „le 
président“, zu denken. Sit es ſchließlich in 
der Idealrepublik mit den Präſidenten auch 
nichts mehr, ſo kann man noch jedermann 
zum Primus inter pares ernennen. 

Weiter reicht meine Vorſehung vorläufig 
nicht. Es bleibt ihr aber ſtets das Mittel, 
Kongreſſen von Männern der freien Wiffen- 
ſchaft mit Weisheit zuzuſchauen, was die 
erfinden. è Ed, H. 


352 


Viele und geſunde Kinder 


Qr bet Weimarer Wanderverfammlung 
der Deutſchen anthropologiſchen Ge- 
ſellſchaft hat man die Zunahme des Zwei- 
kinderſyſtems bei den Völkern der „Kultur“ 
bedauert, ſie als eine wahre Peſt bezeichnet 
und es namentlich beklagt, daß ſie ſich auch 
ſchon auf dem flachen Lande zeigt. 

Dem ſoll hier gewiß nicht malthuſianiſch 
widerſprochen werden. Nur das Volk bat 
geſchichtliche Zukunft, welches viele und ge- 
ſunde Kinder zeugt. Aber mahnt man zu 
dieſer Vaterlandspflicht, klagt man mit ſo 
ſtarken Worten an, fo ſollte man auch ent- 
ſprechend deutlich ſich die Gründe der Er- 
ſcheinung in ihrer ſubjektiven Berechtigung 
überlegen. In den Zeiten, als Deutſchland 
zu roden und beſiedeln übrig hatte, als ſein 
Überſchuß die Länder öſtlich der Elbe ger- 
maniſierte, da gab es viele und — geſunde 
Kinder. Und auch ſpäter noch, ſolange die 
Qualität der Leiſtung galt und den einzelnen 
voranbrachte (wie fie jetzt ihn oftmals hemmt), 
der Tüchtigkeitswert der Unzähligen nicht 
anonym in den Schlund des großen Molochs 
Kapital verſchwand, der Knecht und der 
Arbeiter noch Naturalbezüge unter ihrem 
Lohn empfingen, der kleine Bürger noch ſein 
Eigen hatte und mit ſeiner Familie einfach 
und ehrſam und herzensfröhlich lebte, nicht 
jeder Erbbeſitz, der größere wie der kleine, 
beſtändig durch fortgeſetzte wirtſchaftliche 
Überfteigerung und Überhitzung weggefdmol- 
zen ward. Zu allen jenen Zeiten gab es 
kein Zweikinderſyſtem, keine fpätrömifche 
Entvölkerung, nicht die Gewiſſensbedenken 
in den Häuſern, Menſchen in die Welt zu 
ſetzen, die zur Mehrung der Nöte der Eltern 
werden und im übrigen doch nur verurteilt 
bleiben würden, zeitlebens die Kulis aller 
Art eines entnervenden Zuſtands und ſeine 
Proletarier zu ſein. 

Man hat in Weimar ausgeſprochen: „Die 
Mittel gilt es zu finden, um die Fruchtbarkeit 
der Tüͤchtigen zu erhalten.“ Ein dringlicheres, 
aber auch — gewaltigeres Problem konnte 
nicht wohl in ſo kurzen Worten aufgeſtellt 
werden. Es wäre ſchon viel gewonnen, 


Auf der Warte 


wenn nun wirklich ſo viele gelehrte und 
wohlmeinende Herren diefe ungeheuren Fra- 
gen jeder perſönlich mit allen Bedingungen 
und Folgerichtigkeiten durchdenken möchten. 
Allerdings müßte dann wohl manche Mei- 
nung, die bisher die Erreichungen der „Kul- 
tur“ rühmend mit patriotiſchen und zeit- 
genöſſiſchen Gefühlen pries, in Zweifel und 
Anfechtung geraten. Ed. 9. 


Dreadnoughts und Krebs- 


forſchung 

Qr der diesjährigen Naturforſcherver- 

ſammlung in Münſter hat Geheimrat 
Prof. Czerny, der Vorſteher des Krebsinſtituts 
in Heidelberg, die Reihe der wiſſenſchaftlichen 
Vorträge mit einem Bericht Ober den heutigen 
Stand der Krebsforſchung eröffnet. Der Vor- 
trag kommt zu dem Ergebnis, daß die ope- 
rative Behandlung des Leidens in bezug auf 
Dauererfolge noch ſehr viel zu wünſchen 
übrig laſſe, und daß ein ſpezifiſches Heilmittel 
gegen den Krebs bisher immer noch nicht 
gefunden ſei und vielleicht überhaupt niemals 
gefunden werde. „Es wäre zu begrüßen,“ 
ſagt der Vortrag, „wenn die hochziviliſier⸗ 
ten Nationen England und Deutſchland ſich 
einmal dazu entfdliffen, je einen Dread- 
nought weniger zu bauen und die dadurch 
erſparten 40 Millionen für 40 Krebsinſtitute 
im Lande auszugeben.“ 

Ein etwas verwunderlicher Vorſchlag, der 
trotz des „lebhaften Beifalls“, der nach dem 
Zeitungsbericht ihm folgte, zu einigen Be- 
denken Anlaß gibt. 

Zunächſt mutet bei einem Manne wie 
Czerny der Hinweis auf zu erſparende Oread- 
noughts auch in dieſem Zuſammenhange 
doch Fſeltſam an, weil er ein foon ſattſam 
aufgebrauchtes und im letzten Grunde leeres 
Schlagwort iſt, mit dem ſozialdemokratiſche 
Volksbegluͤcker in ihren Verſammlungen die 
Leidenſchaften der Menge für ihre Zwecke 
aufzuwiegeln pflegen. In ernſten wijfen- 
ſchaftlichen Verſammlungen aber ſollte man 
mit ſolchen billigen, nur auf Augenblicks- 
wirkung abzielenden Wendungen zurückhalten 
der ſein. | 


Auf der Warte 


Das beftreitet in Deutſchland ja niemand, 
dak es viele und höhere Aufgaben gibt, 
für bie das Geld, welches wir jetzt für ben 
Bau von Kriegsſchiffen ausgeben, beffer an- 
gebracht wäre. Aber ebenſo wird niemand, 
der die Logik der Tatſachen anerkennt, es 
leugnen wollen, daß für die Exiſtenz unſeres 
Volkes der Bau von Kriegsſchiffen eine bittere 
Notwendigkeit iſt, auf deren Ende wir ſo 
bald nicht hoffen dürfen. Mit England zu 
einer Einigung über Einſchränkung der 
Flottenrüſtungen zu gelangen, iſt für die 
nächſte Zukunft nod ein ganz utopiſcher 
Gedanke. 

Aber glaubt Czerny überhaupt, durch 
Einftellung höherer Geldmittel und ver- 
mehrter Arbeitskräfte eine Löſung des Krebs- 
problems gewährleiſten zu können? Werden 
40 Krebsinſtitute mit 40 Männern wie 
Czerny an der Spitze leiſten, was jetzt dem 
einzigen Krebsinſtitut, wo alle Fragen und 
Forſchungsergebniſſe zuſammenlaufen, ver- 
ſagt ift? Doch kaum! Viel Kleinarbeit frei- 
lich, und oft nützliche Kleinarbeit wird da 
geleiſtet, um ſo mehr natürlich, je zahlreicher 
die Inſtitute ſind. Aber ſo lange der große 
ſchöpferiſche Gedanke, der intuitiv das Rechte 
trifft, fehlt, bleibt alle Arbeit ohne Frucht. Und 
große Gedanken wachſen — man denke an Rob. 
Rod allein — in der Stille und reifen ohne 
großen Apparat. Auch das einfachſte Kranken- 
bett in der täglichen Praxis ſtellt Fragen 
genug, und das beſcheidenſte Laboratorium 
kann zum Finden und Nachprüfen der Ant- 
worten hinreichend ſein, um unter den vielen 
Forſchern, die heute allerorts am Werke ſind, 
auch den ſich entwickeln zu laſſen, der mit 
genialem Scharfblick aus der Fülle ber Er- 
ſcheinungen den Kernpunkt der Löſung auf- 
deckt. j 

Und wenn erſt fo bie Löſung des fdwie- 
tigen Problems, dem Rrebs, diefer graufam- 
ften aller Volkskrankheiten, wirkſam zu be- 
gegnen, einigermaßen geſichert iſt, dann 
braucht fid) in Oeutſchland niemand den 
Kopf darüber zu zerbrechen, wie die Gelder 
für die Nutzbarmachung der Entdeckung auf- 
zubringen find. Dann finden fi Menfchen- 
freunde wohl genug, die von ihrem Reichtum 


335 


für das ſchöne Ziel Mittel zur Verfügung 
ſtellen — auch ohne daß wir „einen Dread 
nought weniger zu bauen“ brauchten. Z. 


* 


Der Kraftwagen in den Allpen 


m 1. September ſtürzte ein italienifcher 
Kraftwagen auf der Straße über den 
Großen St. Bernhard (Curin—Aofta) 15 
Meter tief in den Abgrund. Von ſieben In- 
ſaſſen wurde einer ſofort getötet, die übrigen 
lebensgefährlich verletzt. Derartige Unfalle 
werden noch häufig vorkommen, da die Führer 
und Znfaffen der Kraftwagen es nicht unter- 
laffen können, ſelbſt die ſchönſten Alpenſtraßen 
mit äußerſter Geſchwindigkeit zu durchraſen. 
Mitte Auguſt ging ich von Macugnaga 
(1257 m), dem italieniſchen Zermatt, nach 
Piedimulera (244 m) hinab. Die Fahrſtraße 
ift neu, aber mäßig und ſchmal; fie durch- 
läuft das ſchöne Anzaskatal, führt an engen 
und wilden Schluchten vorüber durch Tun- 
nels und ausgeſprengte Felfen, oft hoch über 
der abgrundtiefen Talſohle, und hat einen 
großen Höhenunterſchied zu überwinden. Nur 
langſam ſchreitet der Fußgänger vorwärts, um 
die maleriſchen Reize und herrlichen Ausblicke 
dieſer Straße ganz in ſich aufzunehmen. 
Plötzlich ertönt in der Nähe das Grunzen 
eines Kraftwagens. Man flüchtet raſch zur 
Seite, was in den Tunnels und an vielen 
ſchmalen Stellen mit ſteilen Abfällen nicht 
leicht ijt. VBorüber ſauſt, mit modernſter Ge- 
ſellſchaft beladen, Staub und Geſtank hinter 
ſich, in größter Eile der Kraftwagen. Mehr 
als ein Outzend folder Begegnungen ſtörten, 
gefährdeten und entrüfteten mich auf der etwa 
30 km langen. Straße. 

Nicht wundern würde ich mich, wenn auch 
dort ernſte Unfälle vorkämen. Ein kleiner 
Zwiſchenfall genügt, und der Kraftwagen mit 
ſeinen Inſaſſen ſtürzt nicht 15, ſondern 100 
und mehr Meter in die Tiefe. Vielleicht liegt 
darin für die blafierten Inſaſſen der Kraft- 
wagen ein gewiſſer Reiz. Denn für die Land- 
ſchaft haben ſie nichts übrig, ſie fliegt ihnen 
ſchnell vorüber, und ſie ſehen davon nicht 
mehr als von dem Fenſter eines Luxuszuges. 


354 


Verſchloßnen Augs die Wunder nicht zu 
ſchauen, durchraſen fie Italiens holde Auen! 

Schon hat man in Tirol und der Schweiz 
den Kraftfahrern die meiſten Straßen zweiter 
Klaſſe verſchloſſen. Vielfach werden noch 
weitere Beſchränkungen verlangt, nicht zu- 
letzt von den Gaftwirten, die zwar die Zn- 
ſaſſen der Kraftwagen zu ſchätzen wiſſen, aber 
auf den abnehmenden Verkehr der ungleich 
zahlreicheren Fußgänger und Poſtreiſenden 
nicht verzichten wollen. 

Mit erheblichen Koſten hat der Deutfd- 
Oſterreichiſche Alpenverein eine Fahrſtraße 
von Heiligenblut (1279 Meter) nad dem 
Glocknerhauſe am Ende des Paſterzen- 
gletſchers (2143 Meter) gebaut. Er geſtattet 
den Kraftwagen die Benutzung dieſer Straße 
gegen eine Gebühr von 40 Kronen (35 M). 
Indeſſen find Kraftwagen dort nur febr felten 
anzutreffen, da die Herrſchaften diefe Ge- 
bühr zu hoch finden oder aber grundſätzlich 
jede Gebühr für die Benützung von Straßen 
ablehnen. So haben ſie einige Straßen in 
Mitteldeutſchland, wo Gebühren für Kraft- 
wagen eingeführt wurden, in Verruf erklärt! 

Sicherlich gibt es auch Kraftwagenführer, 
bie etwas von der Natur genießen und lang- 
ſam fahren wollen. In den Alpen habe ich 
indeſſen nur Schnellfahrer angetroffen. Der 
Kraftwagen will ſo raſch als möglich vorwärts 
kommen, und die Znſaſſen fügen [id der 
Maſchine. P. © 


* 


Körperverletzung durch 


Zeitungsartikel 


Daz gedruckte Worte mitunter wie Dold- 
ſtöße oder Keulenſchläge wirken können, 
ijt allgemein bekannt, aber man nahm's bis- 
lang ſymboliſch damit. Neuerdings nun ijt die- 
ſer Begriff im regelrechten Gerichtsverfahren 
der Symbolik entkleidet worden: ein weft- 
fäliſcher Verleger wurde kürzlich wegen fabr- 
läſſiger Körperverletzung verurteilt, weil er 
durch einen von ihm veröffentlichten Zeitungs- 
artikel angeblich einen ſtädtiſchen Beamten an 
ſeiner Geſundheit geſchädigt hatte. Die eine 
Inſtanz hatte ſogar die Beſtimmung des § 230 
Abſ. 2 des Strafgeſetzbuchs angewendet, wo- 


Auf der Warte 


nach eine höhere Strafe einzutreten hat, 
wenn der Tãter zu der Aufmerkſamkeit, welche 
er aus den Augen ſetzte, vermöge ſeines Amtes, 
Berufes oder Gewerbes beſonders verpflich- 
tet war. 

Somit iſt alſo das gedruckte Wort in das 
Verzeichnis gefährlicher Werkzeuge einzu- 
reihen und mit Stöcken, Schlagringen, Re- 
volvern, Klappmeſſern uſw. auf eine Stufe 
zu ſtellen. Allein bei der Beſtrafung wegen 
Körperverletzung bat es keineswegs fein Be- 
wenden gehabt. Bei einer ſoliden Körper- 
verletzung machen ſich Folgen bemerkbar. 
Was Wunder, daß der Beamte die Kon- 
ſequenz zog und flugs noch eine Klage auf 
Schadenerſatz einleitete? Er hat behauptet, 
durch den Ärger und die Aufregung über den 
Artikel fei ſeine Geſundheit fo zerrüttet wor- 
den, daß et fi) habe in den Ruheſtand ver- 
ſetzen laſſen müſſen. Mit der Klage verlangt 
er von dem Verleger Erſatz des Unterſchiedes 
zwiſchen ſeinem früheren Gehalt und dem 
jetzigen Ruhegehalt, und zwar für die Dauer 
von 18 Zabren, was im ganzen eine Summe 
von ungefähr 45 000 / ausmacht. Das Land- 
gericht und kürzlich auch das Oberlandesgericht 
haben den Anſpruch für begründet erklärt. 
Sie teilen jedenfalls die Anſicht, daß ein 
Zeitungsartikel ein zum Hervorrufen einer 
Körperverletzung geeignetes Mittel iſt. Das 
Oberlandesgericht meint, allerdings dürften 
allgemein intereſſierende Mitteilungen, wie 
Kriegs- und Börſennachrichten, auch dann 
veröffentlicht werden, wenn ſie zu Erregung 
Anlaß gäben, die zu Geſundheitsſchädigungen 
führen könnte, im vorliegenden Falle habe es 
ſich aber lediglich um perjönliche SS 
gegen den Beamten gehandelt. 8 

Die Sache geht ans Reichsgericht. Ob es 
dem Unſinn gelingen wird, die letzte Hürde 
deutſcher Rechtspflege zu überſpringen . . . 2 


* 


Humanität 


as Ereignis, daß ſich in Amerika ein 
Verein zur ſchonenden Behandlung der 
Tierſeele beim Auſternverzehren gebildet hat, 
hat auch bei uns Erörterungen angeregt, 
was den Auſtern wohl das Unangenehmſte 


Auf ber Warte 


beim Verſpeiſtwerden fei. Geſtützt auf Auto- 
ritäten hat man feſtgeſtellt, daß die Auſter 
vorausſichtlich am meiſten durch das Offnen 
leide, weil dies den großen Schließmuskel 
gewaltſam zerreiße, aber „auch die Reizung 
durch Aufträufeln von Zitronenſaft möchte 
ihr Nervenſyſtem ſchwach beeinfluſſen.“ 

So leuchtet die alles erforſchende Zeit 
wieder einmal von Geſinnung und Gewiſſen- 
haftigkeit. Nur einen Gedanken ſcheint ſie 
bei dieſen zarten Unterſuchungen zu vergeſſen: 
ob nicht auch eine größere Anzahl von menfd- 
lichen Lebeweſen, die tagtäglich in den 
Telephonämtern, an ben Nähmaſchinen, in 
den Gifthütten und in den Bergwerken uſw. 
der Oberſchicht der Auſterneſſer frohnden 
müffen, manchmal fogar noch mehr als 
„ſchwach“ in ihrem Nervenſyſtem beeinflußt 
werden? Ed. g. 

D 


Reklameſeuche 


oviel man auch dagegen kämpft, der 

Bazillus der Reklameſeuche wuchert 
munter weiter. Der ſchöne freie Rhein ift 
leidlich davon gefäubert, aber entſetzlich wütet 
längs des Baſler D-Zuges die Retlamefrigen- 
peſt. Aus den lieblichen Wieſen des Heffen- 
landes, aus den Geldnden der Bergſtraße, im 
Schwarzwald, in der ganzen Rheinebene, 
überall ſchnellen aus Kraut und Gras plötzlich 
bie unbeſchreiblich haͤßlichen Halbfiguren von 
Huſaren, Mohren, Köchinnen empor. Reklame- 
fritze, 2, 5 unb 4 X-Bigarette! Die Qteffame- 
fritze-Zigarette würde ſicherlich ebenſo reiche 
Verbreitung erlangen, wenn ihre Reklame ſich 
auf die Bahnhofsräumlichkeiten beſchränkte. 
Wenn nicht uns, ſo ſind wir es doch den 
Fremden ſchuldig, unfer Land nicht plan- 
mäßig zu verſchandeln. Man beachte, wie 
maßvoll die Schweizer ihre Reklame an- 


bringen. Civis 
* 


Pleitemachers „Tragödie“ 


Ji Berlin krachte kurzlich wieder einmal 
ein Bankhaus zuſammen. Eine Samm- 
lung wurde veranſtaltet. Für die Geſchädig⸗ 
ten —? 3, keine Idee! Für die Herren Bante- 


335 


rotteure ſelbſt natürlich. Sie waren doch be- 
dauernswerte Opfer tragiſcher Berwidelun- 
gen — nach der Auffaſſung gewiſſer Kreiſe 
wenigſtens. Nicht weniger als 100 000 M 
brachte ein „faſhionabler“ Klub im Hand- 
umdrehen für ſie auf, um die „erſte Not“ 
zu lindern. Die Brutalität des Gerichts, das 
die Herren wegen Oepotunterſchlagung und 
Bilanzverſchleierung in Haft ſetzte, trieb 
manchem Weſtberliner die Träne tiefen 
Mitgefühls ins Auge. Eine Zeitung web- 
klagte, der ältere von beiden ſei ein Muſter 
von Edelmut geweſen und hätte allezeit ſeine 
milde Hand aufgetan, denn mitzuteilen war 
et ba (mit zu teilen ſicher!). Daneben aber 
hätte er ſich durch eine wahrhaft beſcheidene 
Lebensführung ausgezeichnet, lediglich ftandes- 
gemäßen Aufwand getrieben und gum Beifpiel 
nur eine Wohnung zum jährlichen Miets- 
preiſe von 6000 M bewohnt — — — 

Sa, bie Umwertung aller Werte ijt weit 
vorgeſchritten. Früher hätte man bie armen 
Teufel bedauert, die ihr Geld bei dem Fal- 
liſſement verloren haben. Heute gilt das Mit- 
leid dem Pleitemacher. Er ift „tragiſche Figur“ 
geworden. 

* 


Theater — See — Mode 


r. Rudolf Lothar ift auf ben glüdlichen Ge- 

danken gekommen, dieſe drei modernen, 
unterhaltenden Dinge miteinander zu einem 
Fünfuhrtheater zu verbinden, um ſo dem 
Berliner Komödienhaus ein ſtärkeres finan- 
zielles Rückgrat zu geben. Er hofft ſicherlich, 
die Theatermiſere ſo zu beheben. Wer vieles 
bringt, wird jedem etwas bringen. Da gibt's 
zuerſt einen Einakter. In der Pauſe iſt 
G'eebüfett, wie man es zu gut Oeutſch nennt: 
Five o'clock tea. Nach ber Pauſe werden 
die Probierdämchen erſter Konfektionshäuſer 
— die für dieſe Reklame ſelbſtverſtändlich 
genügend zahlen müffen — die Bühne be- 
völkern und die neueſten Moden zur Schau 
tragen. Gewiſſe Berliner Kreiſe und auch 
manche Damen der Provinz werden von 
dieſer Neuerung entzückt ſein. Man wird 
ſich nicht genug tun können: Einakter zu ſehen, 
Tee zu ſchlürfen, Gebäck zu vertilgen und 


336 


Toiletten zu bekritteln. Und dies ift dann 

„das moderne Theater ein Reklameinſtitut“ 

frei nach Schiller von Rudolf Lothar. | 
* €. M. 


Jenſeits ber Selbſtgerechten 


ls man,“ ſo ſchließt Gottfried Kellers 

Meifternovelle „Romeo und Zulia auf 
dem Dorfe“, „ſpäter unterhalb der Stadt 
die Leichen fand und ihre Herkunft ausge- 
mittelt hatte, war in den Zeitungen zu leſen, 
zwei junge Leute, die Kinder zweier blut- 
armen zugrunde gegangenen Familien, welche 
in unverſöhnlicher Feindſchaft lebten, hätten 
im Waſſer den Tod geſucht, nachdem ſie einen 
ganzen Nachmittag herzlich miteinander ge- 
tanzt und ſich beluſtigt auf einer Kirchweih. 
Es ſei dies Ereignis vermutlich in Verbindung 
zu bringen mit einem Heuſchiff aus jener Ge- 
gend, welches ohne Schiffleute in der Stadt 
gelandet ſei, und man nehme an, die jungen 
Leute haben das Schiff entwendet, um 
darauf ihre verzweifelte und gottverlaffenc 
Hochzeit zu halten, abermals ein Zeichen 
von der umſichgreifenden Entſittlichung und 
Verwilderung der Leidenſchaften.“ 

Auch neulich hat man wieder Ahnliches 
in den Zeitungen leſen können. In Lemberg 
hatte ein deutſcher Diplomat, den foeben 
die Berufung in ein höheres Amt ereilt 


hatte, ſich und ſeine Geliebte getötet, und laut 


Auf der Warte 


die Rlage über bie „umſichgreifende Entfitt- 
lichung“. Und war doch weiter nichts ge- 
ſchehen, als daß zwei arme Menſchen, denen 
das Leben das Rüdgrat zerbrach, gemeinſam 
in den Tod gingen, weil ſie zuſammen nicht 
hatten leben dürfen.. Zwei arme Menſchen, 
die zudem in ihrer Sphäre Ausnahmen dar- 
ſtellten. Denn ſo ſteht es mit nichten, daß 
das Beiſpiel des Lemberger Konſuls ver- 
wirrend wirken könnte auf unſere jungen 
Aſſeſſoren, Offiziere uud Legationsräte. Denen’ 
gebricht es im allgemeinen keineswegs an 
der erforderlichen Lebensklugheit, und wenn 
fie fid unter den Töchtern des Landes um- 
zuſehen beginnen, bleiben fie büb[d in ihrem 
Kreiſe unb fragen zuvor fürjorglid, in wieviel 
Teile es geht. Alſo: „Lehren zu ziehen“ ſind 
aus dieſem tragiſchen Begebnis beim beſten 
Willen nicht, und an die beiden Toten reicht 
all unſer Moraliſieren nicht heran. Die ſind, 
als ſie innig vereint ſich zum Gang in das 
Tal des Todes entſchloſſen, vielleicht glück- 
licher geweſen, als ringsum die Mehrzahl 
der Allzukorrekten. Vermutlich fo glücklich, 
wie der Dorfromeo Sali, da er zu ſeinem 
Vrenchen ſprach: „Es gibt eines für uns, 
Brenden, wir halten Hochzeit zu dieſer 
Stunde und gehen dann aus der Welt — 
dort iſt das tiefe Waſſer — dort ſcheidet uns 
niemand mehr, und wir find zuſammen ge- 
weſen — ob kurz oder lang, das kann uns 


ſcholl durch die Blätter der Selbſtgerechten dann gleich fein“... R. B. 


m — — y a y 
Ln 
CES X 


Zur gefl. Beachtung! 


Alle auf den Inhalt des „Türmers“ bezüglichen Zuſchriften, Einſendungen uſw. ſind ausſchliezlich an 
den Herausgeber oder an die Redaktion des T., beide Berlin ⸗Schöneberg, Bozener Etraße 8, zu richten. Fie 
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Gedichte uſw.) werden ausſchließlich in den „Briefen“ des „Türmers“ beantwortet; etwa beigefügtes Port o 
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ſchriften und wird den Einſendern auf dem Redaktionsbureau zur Verfügung gehalten. Bei der Menge der Eingänge 
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auf ben Berfand und Verlag des Blattes bezüglichen Mitteilungen wolle man direkt an dieſen richten: Greiner 
und Pfeiffer, Verlags buchhandlung in Stuttgart. Man bezieht den „Türmer“ durch ſämtliche Buchhandlungen 
und Poſtanſtalten, auf befonderen Wunſch auch durch bie Verlagsbuchhandlung. 


Verantwortlicher und Chefredakteur: Zeannot Emil Frhr. v. Grotthuß » Bildende Kunft und Muflt: Dr. Karl Storck. 
Sämtliche Zuſchriften, Einſendungen uiw. nur an die Redaktion des Türmers, Berlin, Schöneberg, Sozener Str. 8. 
Orud und Verlag: Greiner & Pfeiffer, Stuttgart. 


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XV. Jahrg. peras 1919 Brit 3 


Der Balkankrieg und das Deutſchtum 
Von Dr. Richard Bahr 


M Bon einer febr ernſten unb, wie mir [deinen will, ungemein deutſchen 
9 M Angelegenheit möchte id) hier reden, bie inmitten des Kriegsgeſchreis 
2 e gf) biejer letzten Wochen von uns [dier vergeſſen worden ift: von der 

DIN Bedeutung der großen Auseinanderſetzung auf dem Balkan für das 
Deutſchtum. Von allem anderen iſt an dieſer Stelle, wo man nicht am Tage dem 
Tagesbegebnis folgen kann, noch nicht zu ſprechen. Denn alles iſt zur Stunde, 
da ich dies ſchreibe — nach den Siegen von Kirk Kiliſſe und während der Kämpfe 
vor den Toren Adrianopels — noch im Fluß. Dieſes aber iſt jetzt ſchon zu erörtern, 
und von Rechts wegen ſollten wir alle es ſogar ſehr ernſthaft erörtern: Welche 
Intereſſen ſtehen da unten, wo die vier Heldenkönige — Helden von verſchiedenem 
Ausmaß und nicht durchweg gleichartiger Anciennität — juſt dabei ſind, den ein 
wenig morſch und gebrechlich gewordenen Großtürken aus Europa hinausgu- 
werfen, für uns Deutſche auf dem Spiele? Wobei ich gleich eine Einſchränkung 
machen möchte: an den Unterſuchungen über das wirtſchaftspolitiſche Zukunfts- 
problem, ob wir nicht auch mit Erfolg an die Bulgaren, Serben und die bis ins 
Tiefland verlängerten Montenegriner würden verkaufen können, gedenke ich mich 
nicht zu beteiligen. Derlei Unterſuchungen haben in diefen Tagen in die Politik 

verſchlagene Kaufleute Iden genügend angeſtellt. Vielleicht fogar mehr als ge- 


nug; ſintemalen es nicht eben n erſcheint, daß der ſpätere Verlauf den 
Ser Türmer XV, 5 25 


338 Bahr: Oer Balkantrieg und bas Oeutſchtum 


voreilig Kalkulierenden auch darin eine Enttäuſchung bringt. Dafür möchte ich 
das Thema nach einer anderen Richtung ausweiten und von den Intexeſſen des 
Geſamtdeutſchtums ſprechen. Einem Dinge, das es am Ende doch wohl auch noch 
gibt, und das als nationale Angelegenheit zur Not neben der von der preußiſchen 
Staatsregierung beſchloſſenen Enteignung von 1900 Hektaren polniſchen Bodens 
rangieren darf. l 

* " * 

Die öffentliche Erörterung, ich jagte es Iden, ijt — in Deutſchland und viel- 
fach auch in den deutſchen Teilen Oſterreichs — an diefem Problem, dem gewidtig- 
ſten mit von allen, die dieſer Krieg uns aufgegeben hat, wortlos, vielleicht ſogar 
achtlos vorübergegangen. In Deutſchland (don darum, weil feine Behandlung 
höheren Ortes nicht beliebt machte, und weil der Fernſtehende gar keine Ahnung 
hat, wie ſehr die publiziſtiſche Ausſprache über auswärtige Fragen von den kleinen 
Legationsräten beherrſcht wird, die im Auswärtigen Amt über große Politik in- 
formieren dürfen. Herr v. Kiderlen — er ſelber hat es ſo oder ähnlich vor nicht 
langer Friſt einem Interviewer erklärt — macht zudem grundſätzlich nur eine Poli- 
tik der Heinen Gelegenheiten. Sich darüber den Kopf zu zerbrechen, ob nicht eine 
Schickſalsſtunde deutſchen Weſens heraufdämmerte, die Enkeln und Enkelkindern 
verderblich werden könnte, iſt nicht ſeine Art. Für dieſe der Gegenwart — nur ihr — 
zugekehrte Methode fand Herr v. Kiderlen und fand auch der im Auswärtigen dilet- 
tierende Kanzler bei der Zeitgenoſſenſchaft überraſchendes Verſtändnis. Wir ſind 
zur Stunde vielleicht das am raſtloſeſten arbeitende der Völker, und der Mühe 
Preis bleibt im allgemeinen nicht aus. Den wünſchen wir aber auch nicht aufs 
Spiel zu ſetzen, die reichlichere Atzung und Kleidung nicht einen Tag zu entbehren. 
Schlimm genug, daß an der Börſe ein paar ſchwarze Tage Millionen verſchlangen. 
Um fo heißer gilt es feſtzuhalten, was blieb; um jo emfiger fid zu mühen, daß die 
„Ruhe fürs Geſchäft“, wie der verſtorbene Georg v. Siemens zu ſagen pflegte, 
nicht noch mehr geſtört werde. Und geht es nicht mit dem Statusquo, mit dem die 
Diplomatie naive Zeitungsſchreiber und gutgläubige Leſer genarrt hatte, dann 
mit dem Status quo ante (das heißt dem vor viereinhalbhundert Jahren) oder 
irgendeinem anderen Status oder gar keinem. Nur ſorgt, daß die Ruhe wieder- 
kehre in Banken und Börſen und wir mit Pauken- und Drommetenſchall mitt- 
ſommers das Jubiläum dieſer glorreichen Regierung feiern können. Wir haben 
uns in dieſen Wochen — und an fid) gewiß durchaus mit Recht — über das klein- 
bürgerliche Gebaren der Sozialdemokratie entrüſtet, die, weil ſie aus Grundſatz 
keinerlei nationale Intereſſen anerkennt, den Völkern — inſonderheit Seut[cb- 
lands und Sſterreichs — zurief: den Frieden zu bewahren ſei unter allen Um- 
ſtänden das höchſte Gebot. Aber Hand aufs Herz: war das Verhalten unſerer 
Bourgeoiſie ſo viel klüger, tapferer, weitſichtiger? Wer es unternahm, weil er 
Rußland kennt und die nationale Struktur Sſterreichs mit dem ſüdſlawiſchen un- 
ruhevollen Völkergewimmel, auf die Zuſammenhänge zwiſchen den Fragen deut- 
ſcher Zukunft und der Entwicklung auf dem Balkan hinzuweiſen, erlebte bittere 
Enttäuſchungen. Mir find in zwanzig Jahren ausgedehnter publiziſtiſcher Tätig- 
keit nicht ſo viele Aufſätze von ſuperklugen Redakteuren lautlos in den Papierkorb 


Bahr: Der Balkantrieg und das Oeutſchtum 339 


geſenkt worden, wie in dieſen wenigen Wochen. Uber Nacht war man zu einem 
ſäbelraſſelnden Chauviniſten, zum Nationalen in Anführungsſtrichen geworden. 
Wie die Dinge in Wahrheit liegen, wußten die unterſchiedlichen Spegialtorrefpon- 
denten uns ja auch viel beſſer zu deuten, die ſich wie Heuſchreckenſchwärme über die 
ſüdſlawiſchen Refidengen und Hauptquartiere gelagert hatten, und je weniger fie 
in ihrer Internierung von den Kämpfen zu berichten vermochten, zu deren Goil- 
derung fie entſandt waren, um fo eifriger das Lob aller biejer Itſche und Wicze 
fangen, in deren Hand fie nun gegeben waren. Feder frühere Winkeladvokat und 
Soldſchreiber von Rußlands Gnaden, der einmal an der unteren Donau einen 
Miniſterſeſſel mehr oder weniger geziert hatte oder noch ziert, ein Staatsmann 
bismärckiſchen Kalibers. Jeder emeritierte Königsmörder ein Moltke. Wer aber 
daran zu erinnern wagte, daß Deutfchland unb Sſterreich hier fo ziemlich an der- 
ſelben Linie lägen, im tiefſten Grunde die gleichen Intereſſen zu verteidigen hätten, 
dem ward — ich fürchte, nicht ganz ohne hohe obrigkeitliche Bewilligung — be- 
deutet: die Oſterreicher ſollten nur hübſch ſtille fein. Für die hätte Deutfchland 
Opfer ohne Ende gebracht. Ohne die Annexion aus dem Zubeljahre bes Bünd- 
niſſes hätte es überhaupt keinen Balkankrieg gegeben 
* * 


* 

Ich glaube, man könnte eine andere Reihe kauſaler Verknüpfung aufzeigen. 
Etwa dieſe: Algeciras, Agadir, Tripolis, Balkankrieg. Aber ich denke auch gar 
nicht, mich hier für die Pfade öſterreichiſcher Diplomatie einzuſetzen. Die handelt 
in dieſen Verwicklungen [idet nur als Balkanintereſſentin; nicht etwa aus irgend- 
welchen national-deutſchen Impulſen heraus, die fic feit 1866 die öſterreichiſchen 
Staatsmänner bis auf ſpärliche Ausnahmen in ſteigendem Maße abgewöhnt haben. 
And fidet brauchte kein Deutſcher weder bei uns im Reich noch jenfeits der ſchwarz- 
gelben Grenzpfähle Viktoria zu ſchießen, wenn Sſterreich bei dem großen Teilen, 
das nun doch wohl angehen wird, fid) ben Novi-Bazar oder Stücke Albaniens an- 
gliederte. Unſere Stammesgenoſſen in der Habsburger Monarchie — wenigſtens 
die nachdenklicheren unter ihnen — haben vor drei Jahren ſchon den Erwerb Bos- 
niens und der Herzegowina nur mit mäßiger Freude begrüßt, und ſie haben recht 
daran getan: jede ſlawiſche Provinz, die der Kaiſerſtaat an der Donau feinem Ge- 
füge einordnet, verſchiebt bie nationalen Zahlenverhältniſſe noch mehr zuungunſten 
des Deutſchtums, lädt ihm zu den alten, nach feinem Erbe gierig lungernden Fein- 
den neue auf. Nur daß Todfeindſchaft und Erbſchaftslüſternheit — das iſt der 
tragiſche Konflikt, in den das Deutſchtum hier geſtellt ward — fid) nicht eben da- 
durch vermindern, daß vor den Toren Wiens ein großes ſüdſlawiſches Imperium 
oder ihrer zwei oder ein ganzer, von der Gloriole ſchnell erraffter Siege umwobener 
Staatenbund erwachſen. Wir im Reih wiffen ja leider fo wenig von Sſterreich, 
von ſeiner nationalen Schichtung und von den Bedingniſſen ſeines Lebens. Es 
iſt leider nicht richtig, was Erich Marcks im Jahre der bosniſchen Kriſe in einem 
klugen und feinen, von dem heißen Drang eines ſtolzen Herzens getragenen Auf- 
ſatz ſchrieb: „Es iſt ja eine unbeſtreitbare Wahrheit, daß wir Deutſchen hüben und 
drüben uns heute nach Gefühl und Kulturleben ſehr viel näher ſtehen als in den 
Zeiten der äußeren Gemeinſchaft im alten Reiche und im alten Bunde, daß dieſe 


340 Bahr: Her Saltantrieg und bas Seutidtum 


Kultur- und Herzensgemeinſchaft unabläſſig gewachſen ift und wächſt.“ Das mag 
für einen kleinen Kreis Höchſtgebildeter gelten und für die Hiſtoriker vom Fach, 
die, je mehr ſie in den Stoff eindringen, um ſo ſtärker von der Erkenntnis ergriffen 
werden, die ſich vielfach nur erſt als ſchwermütige Ahnung zu äußern wagt, daß 
die deutſche Frage Anno 1866 und 70 am Ende doch nicht reſtlos gelöſt wurde. 
Für die Mehrzahl bleibt Oſterreich das Land, in dem man zur Ferienzeit für ver- 
hältnismäßig billiges Geld hohe Berge erklettern und liebliche Täler durchwandern 
kann, und das man im übrigen nach dem ſicher unerfreulichen Wiener Dekadenten- 
tum, nach Kabarettſängern, Kaffeehausliteraten und ſchwülſtigen, der Natur und 
allem wirklichen Leben entfremdeten Aſtheten vom Schlage der Hofmannsthal 
beurteilt. Wer den Boden, auf dem das Nibelungenlied erwuchs, als die Heimat 
jo vieler ſympathiſcher Züge der deutſchen Volksſeele liebt, die uns im Norden 
fremd wurden (oder immer fremd waren), und zudem Kenntnis hat von den 
tapferen Kämpfen, die hier täglich und ſtündlich von deutſchen Männern und Frauen 
gekämpft werden, über die keine Regierung ſchützend und lohnend die Hand hält, 
weiß es freilich beſſer. Weiß auch, daß Oſterreich immer noch — wennſchon ſeinen 
Machthabern unbewußt und vielleicht nicht einmal willkommen — eine nationale 
Miſſion hat. Daß es im Grunde heute nicht viel anders ſteht als in den Zeiten 
des zerfallenden alten Reichs, wo Preußen die Wacht in Nord und Weſt und die 
Habsburger die gegen Süden und Often hielten, und daß jeder ſchmächtige Leut- 
nant, der am Eiſernen Tor ober an der dalmatiniſchen Rüfte unter Fremdſprachigen 
in freudloſem Garniſondienſt ſich abmüht, ein Pionier deutſcher Kultur iſt. Um 
dieſe im deutſchen Sinne nationale Miſſion Sſterreichs aber geht es jetzt; was ſich 
hier anzuſpinnen beginnt, iſt vielleicht der Anfang des großen Entſcheidungskampfes 
zwiſchen Slawentum und Germanentum. Ein tſchechiſcher Reichsratsabgeordneter 
mit deutſchem Namen — die Gattung iſt nicht eben ſelten — hat in einem Artikel, 
der neulich ungeſtraft in reichsdeutſchen Blättern abgedruckt werden durfte, be- 
hauptet: die in Sſterreich inkorporierten Südſlawen, die Winden und Kroaten 
wären im Grunde die harmloſeſten Geſellen von der Welt. Sie wollten nur ihr 
bißchen illyriſches oder großkroatiſches Staatsrecht; dann wären ſie ſaturiert für 
alle Zeiten. Die Geſchichte der letzten dreißig Jahre zeigt freilich ein weſentlich 
anderes Bild. Zeigt, wie die Slowenen, die vor einem Menſchenalter noch kaum 
wußten, daß ſie überhaupt exiſtierten, in Steiermark vorgedrungen ſind und Krain 
ſich unterworfen haben und zumal auf die innerpolitiſchen Geſchicke der Habs- 
burger Monarchie einen Einfluß üben, der zu ihrem Beſtand von rund 1 200 000 
Köpfen ſchlechterdings in keinem Verhältnis ſteht. Ein noch beträchtlicheres Ele- 
ment der Unruhe und ſtändiger flawifcher Aſpirationen aber ſtellt der ſerbo- kroatiſche 
Stamm, der in den beiden Reichshälften insgeſamt 415 Millionen Angehöriger 
zählen mag. Dieſe Südſlawen im engeren Sinne haben immer ſchon nach der Ver- 
einigung mit den „ſerbiſchen Brüdern“ geſtrebt und offene Hände — gleich offen 
zum Geben wie zum Nehmen — nach Rußland hinübergeſtreckt. Sie werden es 
als eine Etappe in ihren eigenen nationalen Kämpfen begrüßen, wenn der Friedens- 
ſchluß den Siegern die Erfüllung ihrer Wünſche bringt, und das Konſpirieren und 
Intrigieren, das Zerren an dem bisherigen Staatsverband wird nun erſt recht 


Schmidt: Fahrt durch die Weihnacht 341 


und mit ganz anderem Elan anheben. Nun weiß ich wohl, was man dagegen an- 
führen kann, weil man es immer gegen uns Schwarzſeher angeführt hatte: den 
konfeſſionellen Unterſchied zwiſchen Kroaten und Winden auf der einen Seite 
und Serben auf der anderen, den Widerſtand des Madjarentums, das in gleicher 
Weiſe daran intereſſiert wäre, die Slawenmacht nicht zu groß werden zu laſſen, 
und das Selbſtändigkeitsverlangen der Bulgaren, bie — von Haus aus ein finnifd- 
ugriſcher Stamm — bislang von der ruſſiſch-öſterreichiſchen Gegenſätzlichkeit pro- 
fitierten und im Moment der letzten Entſcheidung Neigung verraten würden, 
fid ruſſiſchen Gelüſten und panflawiftiihen Umklammerungen zu entziehen. 
Aber ich fürchte: das ſind Argumente von ehegeſtern, die angeſichts der letzten 
Erfahrungen verblaſſen. Hat man uns auch nicht immer gelehrt, daß die Baltan- 
föderation eine Utopie fei und die Bulgaren auf dem Wege nach Konſtantinopel 
Rußland ſtets als Gegner finden würden? Auch unterſchätzt man, wie mir ſcheint, 
die Anziehungskraft des großen Körpers, die nicht nur im Leben der Parteien 
ihre Bedeutung hat. Darum, wie immer der ſchließliche Ausgang des Verteilungs- 
geſchäfts fein möge: die ſlawiſche Gefahr ijt uns näher gerückt; näher der Augen- 
blick, wo bie Nordſlawen, wo Ruffen und Tſchechen, zu denen jid) ſpäter wohl auch 
noch die Polen geſellen werden, und die 12 Millionen Südſlawen einander die Hände 
reichen können. Vas ſie heute noch trennt, iſt neben Madjaren und Rumänen der 
ſchmale Streif deutſchen Blutes, der fih zwiſchen Tſchechen und Südflawen zwängt, 
und das Gewicht der hinter ihm ſtehenden, im Reich zuſammengeſchloſſenen 60 Mil- 
lionen Stammesgenoſſen. Das würde ausreichen, wenn man in den Wiener und 
Berliner Staatskanzleien erkennen lernte, daß neben dem völkerrechtlichen Bünd- 
nis, auf das ihre Lage im Herzen Europas beide Reiche hinweiſt, für fie auch natio- 
nale Gemeinſamkeiten exiſtieren, deren dauernde Vernachläſſigung eines vielleicht 
gar nicht ſo fernen Tages das eine wie das andere an der Wurzel treffen könnte. 
Heute fehlt an ſolcher Erkenntnis noch viel. Nämlich alles. 


ere 
OA PS 


Fahrt durch die Weihnacht Bon Hans Schmidt 


Die Felder ſind ſcheckig von weißen Flecken, 

Wie armer Leute zerlumpte Oecken. 

Wie Sorge und Not liegt ſchwarz und ſchwer 
Sternloſe Dunkelheit drüber her. 

Da ſieh, ein Häuschen! Es leuchtet und lacht 
Mit gelbglangenden Fenſterlein hell in die Nacht. 


Nun fliegt es vorüber, geſchwind wie ein Traum — 
Ein Glanz von den Lichtern am Weihnachtsbaum. 


Wa 


Eliſabeth Diakonoff 


Das Tagebuch einer ruſſiſchen Studentin 


(Fortſetzung) 


r, Kin LE mioher klar ORA a 
eit drei Tagen bin ich wieder hier. Während der fünf Wochen, bie 
f N VG) ich in Rußland war, ift es Frühling geworden. Die Baume find grün, 

O, die Gärten voller Blumen, die Fontänen ſpielen. Auf der Straße 

2 leuchten die hellen Kleider... Vor meinen Augen liegt ein helles, 
verlockendes Paris, ſtrahlend in der Frühlingsſonne! Das Licht, der Lärm, die 
blendende Schönheit der Stadt in der Frühlingsſtimmung berauſchen mich. So- 
bald ich mich erholt habe, werde ich die Aufträge der Tante erfüllen — und 
dann gehe ich nach Boucicaut. 

4. Mai. Wenn eine Frau irgendwo die Bitte des Vaterunſers: „Führe 
mich nicht in Verſuchung“, recht innig ſprechen foll, fo auf der Schwelle der Mode- 
tempel von der Rue de la paix. Die Bezeichnung der Straße iſt falſch. Was 
herrſcht hier für ein Frieden!! Zene verführeriſche Schönheit in den Fenſtern 
raubt einem die letzte Seelenruhe. 

Rue de la mode müßte dieſe Straße heißen. 

Worth, Worth... Kleider von Worth. Dieſer Name löfte in meiner Kind- 
heit bie Vorſtellung von etwas unnennbar Schönem, Zdealem, Unerreichbarem 
aus — faſt von etwas Märchenhaftem. 

Ich erinnere mich, daß in Jaroslaw auf bie ſchöne junge Frau eines Millio- 
närs gezeigt wurde und geſagt: „Sie trägt Kleider von Worth!“ Ich öffnete 
dann meine Augen weit und fragte völlig verſtändnislos: „Was bedeutet das?“ 

Worth ift bereits tot — in Paris erſetzen ihn Paquin, Ducé, Felix. 

Ich trat bei Paquin ein. Es war ein Märchenland! Die ganze Einrichtung 
war weiß. Weiße Logen, Wände, Treppen. Die leichten Verzierungen gaben 
ihnen etwas ungemein Zierliches, Lebendiges. Es ſchien, als wäre ich in einen 
weißen Tempel getreten... Und in dieſem Tempel wurde mitten in allen leiſen 
Geſprächen zum Modegott andächtig gebetet. Über die weichen Teppiche glitten 
leicht und graziös die ſchlanken,) ſchönen Geſtalten der essayeuses“ in den ver- 


Eliſabeth Diatonoff 543 


ſchiedenſten Toiletten. Balltoiletten in Gaze, mit Gold und Silber beſtickt, leuch- 
teten von den Ständern — daneben ſah man Promenadekoſtüme, läffige müde 
Schärpen, Deshabillés aus dem dünnſten Batiſt, mit V Es 
waren keine Kleider mehr, Gedichte in Farben, Geweben... ebenſolche Runft- 
werke wie die Bilder im Louvre. 

Vor dieſem bunten, phantaſtiſchen Gewirr EE "€ ber Kopf 
Dieſe blendende Schönheit hypnotiſierte einen und zog unwiderſtehlich an. 

ad blieb unbeweglich ftehen... ich konnte kaum begreifen, warum ich 
hierher gekommen war, als eine Verkäuferin auf mich zutrat und nach meinem 
WVunſche fragte. 

Einen Sommerüberwurf für eine ältere Dame! 

Längs der Wand hingen in offenen Schränken die Modelle, andere lagen 
an der Seite in großen Haufen auf den Tiſchen. Die Käufer traten heran, muſterten 
ſie, ſuchten aus, während die Inſpektrice die unbeſchäftigten Eſſayeuſen heranrief 
und ihnen die Kleider umwarf. Die Damen ſaßen und folgten dieſen lebenden 
Bildern mit den Augen und ſuchten die Wirkung des Koſtüms abzuſchätzen. 

Die Verkäuferin trat an einen Schrank. 

„Hier iſt ein Modell“, ſagte ſie und nahm aus den vielen Gegenſtänden 
eine Art Chiton heraus, aus roſa Crépe de chine, mit griechiſchen Armeln, aus 
denen ſich eine Fülle von ſchwarzen Spitzen und Sammetbändern ergoß. Ich 
erwog raſch, ob es bei uns möglich wäre, fo etwas zu tragen.. 

„Mademoiſelle Séontinel^ rief die Verkäuferin. 

Ein junges Mädchen in glattem ſchwarzen Seidenkleid mit ſchmalem Hals- 
ausſchnitt trat hinter einem Vorhang heraus und ſtellte ſich vor uns hin. 

Sie wirkte wie eine lebende Puppe, wie die Büſte eines Friſeurgeſchäfts. 
Der Teint — vollendet, die Friſur — tadellos, das Geſicht unbeweglich wie eine 
Maske, ohne Gedanken, ohne Ausdruck. 

Ihre ganze Dafeinsberechtigung (dien in der ſchlanken Grazie ihrer Geſtalt 
zu liegen; dieſe allein lebte. 

Die Verkäuferin warf ihr ben rofa Umwurf über. 

„Oh! wie ſchön!“ rief ich unwillkürlich aus. Die Verkäuferin nickte zu- 
frieden. 

Es war ein Umwurf nach antikem Muſter. Seine ganze Schönheit lag in 
der Leichtigkeit des Faltenwurfs. Die Falten floſſen graziös die Schultern hinab 
und traten durch das ſchwarze Sammetband noch plaſtiſcher hervor. Die große 
Kunſt der Römer, ihre Toga zu drapieren, ſchien von den Franzoſen mit „Pariſer 
Raffiniertheit“ aufgegriffen worden zu ſein. Ich hatte die Gewandung antiker 
Statuen ſeit jeher geliebt. 

Die lebende Puppe ſtellte fic) graziös hin und drehte fid bald nach rechts, 
bald nach links. Es ſchien, als hätte ſie in Rom das Licht der Welt erblickt und 
nie etwas anderes getan, als ſich im Peplum drapieren. 

„Paßt Ihnen das Modell?“ fragte die Verkäuferin. 

Hier fiel mir ein, daß fid) die ſchwerfällige ruſſiſche Kaufmannsfrau wohl 
kaum in einem antiken Gewand machen wird. 


344 Eliſadeth Diatonoff 


„Nein, zeigen Sie etwas anderes; bie Dame ijt zu korpulent. Der Umwurf 
muß die Fülle verbergen und zugleich ſolide ſein.“ 

, Sie Verkäuferin griff meinen Vorſchlag ſofort auf. 

„Etwas Beſſeres als diefes hier werden Sie kaum finden.“ Und (don zog 
ſie der Eſſayeuſe ein ſeidenes Jackett in Maſſon mit ſchwarzer Garnitur und Armeln 
in der Mode der dreißiger Jahre über. 

„Dieſes Jackett läßt ſich auch in ſchwarzem Crépe de chine herſtellen auf 
geblümtem Mauvefutter.“ 

Und ſie zog eilig einen Karton mit leichter Seidengaze heraus und drapierte 
ihn graziös auf ſchwarzem Seidenſtoff. 

„Können Sie ſich vorſtellen, wie ſchön das wirken muß!“ 

unwillkürlich mußte ich ihr beiſtimmen. 

Es war ſchön, ſolide — und effektvoll. 

„In die Ärmel ſetzen wir echte Points d’Alencon. “ 

„Für welchen Preis?“ 

„Fünfhundertfünfzig Franken. Die Umwürfe find bei uns von fünfhundert 
Franken an zu haben — billigere gibt es nicht. Sehen Sie, wie gut das Material 
iſt — die beſten Spitzen, die beſte Seide. Fünfhundertfünfzig Franken ſind nicht 
viel dafür.“ 

In ruſſiſchem Gelde wären es gegen zweihundert Rubel, dachte ich, und 
wußte nicht zu entſcheiden, ob es viel oder wenig ſei. Meine Meinung in bezug 
auf Sittlichkeit und Anſittlichkeit der Einkäufe einer reichen alternden Frau aus- 
zuſprechen, erſchien mir völlig zwecklos. 

So ſagte ich: „Ja, gut. Doch will ich nod) bei Worth und Dugs anjeben, 
falls ich dort nichts Paſſendes finde, komme ich zurück.“ 

Die Verkäuferin verbeugte ſich würdevoll. 

„Sie werden nichts Beſſeres finden!“ 

Ich ging zu Worth und Ouçé. Der berühmte Schneider ber Kaiſerin Eugenie 
lebte in einer ſchmuckloſen Wohnung, die Säle waren leer. Bei Dug dagegen 
war ein ſtarkes Gedränge; und in den hellen Sälen tauchten die Eſſayeuſſes, wie 
bei Paquin, auf. Ich ſah eilig einige Modelle an und kehrte, als ich nichts fand, 
zu Paquin zurück. 

Hier war unterdeſſen eine amerikaniſche Familie eingekehrt. Eine Mutter, 
zwei Töchter, eine alle Dame — eine Gouvernante. Sie nahmen den größten 
Teil des Salons ein, wie gewohnte Stammgäſte. Die Eſſayeuſe in einem einfachen 
Baumwollkleid ſchritt vor ihnen auf und ab. 

„Wieviel koſtet es?“ fragte die Dame mit kehliger Stimme und engliſchem 
Akzent. 

„Vierhundert Frank.“ 

Dieſes Mal ſchien mir der Preis für ein Baumwollkleid zu hoch angeſetzt ... 
Als ich jedoch näher hinſah, erwies es ſich, daß es Batiſt feinſter Qualität war, 
die einfache Faſſon künſtleriſch hergeſtellt. Und gegenüber dem Gedanken, es fei 
Verſchwendung, fo viel dafür auszugeben, fand ich die Rechtfertigung: dafür ift 
es ſchön, wie ein Kunſtwerk! 


Eliſabeth Diakonoff 345 


Die Verkäuferin, im Glauben, daß ich noch mehr kaufen werde, zog einen 
Karton mit Spitzen und Bluſen heraus. Der allerbilligſte Einſatz koſtete hundert 
Franken, eine Bluſe hundertfünfzig Franken. Ich ſah darauf hin und konnte 
es nicht verſtehen, wie man für ein nichtiges Stück Zeug fo viel Geld verausgaben 
kann. Mit den Preifen für die Kleider hätte ich mich noch einverſtanden erklären 
können, aber mit denjenigen dieſer Kleinigkeiten nicht. 

Ich ſagte der Verkäuferin, daß ich nur einen Wunſch hätte, ſchrieb den Namen 
meiner Tante auf, ihre Adreſſe, und entfernte mich raſch aus dieſem Hauſe, wo 
ſich der Unterſchied zwiſchen den Begriffen teuer und billig, moraliſch und un- 
moraliſch verwiſcht: Schönheit und Luxus verſchmelzen hier ſo mit der Kunſt, 
daß man jeglichen Maßſtab verliert. 

6. Mai. Heute fuhr ich ins Krankenhaus Boucicaut. 

Wie ſchön wirkt es in den hellen Frühlingstagen. Die kleinen roten Pavillons 
ſchimmern überall durchs Grün, — in der Ferne rauſcht die Fontäne. 

Ich trat in den Flur des Pavillons zur Rechten. Es war niemand da, nur 
die Kranken kamen in ihren weißen Kitteln heraus, um ſich in der Sonne zu 
wärmen. 

ich fekte mich hin. Erſt jetzt fühlte ich, wie ermüdet ich war — phyſiſch, 
moraliſch. Einer der Kranken fragte neugierig, wen ich zu ſprechen wünſche. 

„Herrn Lencelet.“ 

„Ach — er wird gleich mit dem Oberarzt vorbeikommen, man hört ſie ſchon, 
ſie kommen aus dem Zelte.“ 

Nach einigen Minuten hörte man ihre Schritte wirklich im Korridor; eine 
Gruppe von Herren in weißen Kitteln ging eilig an mir vorüber in der Richtung 
zum Pavillon. 

„Worauf warten Sie? Monſieur Lencelet it eben vorbeigegangen“, fagte 
der Kranke. 

„Ich habe ihn wirklich nicht bemerkt“, ſuchte ich mich zu rechtfertigen. 

„Warten Sie, ich werde gleich hinlaufen!“ Und indem er die Enden ſeines 
Kittels zuſammenfaßte, eilte er den Herren nach. 

Ich fab, wie fid) eine Geſtalt abteilte und raſch auf den Pavillon zukam. 

Es war Lencelet. 

„Guten Tag, gnädiges Fräulein! Sind Sie ſchon lange aus Rußland zurück?“ 
klang mir die wohlbekannte Stimme entgegen. 

„Seit ungefähr einer Woche.“ 

„Wollen Sie eine Weile auf mid) warten? In einer halben Stunde kann 
ich hier ſein.“ 

„Gern, mein Herr.“ 

Schon ging er weg. Jd) ſaß unbeweglich auf der Bant... Es war fo 
warm im Sonnenſchein. Ich bemerkte nicht, als er zurückkam. Wie das vorige 
Mal, gingen wir in das andere Gebäude; wieder in das Zimmer, in dem ich 
im März geweſen war. Durchleuchtet vom Sonnenlicht, erſchien es mir noch 
reizvoller. 

„Und wie geht es Ihnen?“ fragte er und ſchob mir einen Stuhl hin. 


346 Eliſabeth Dlatonoff 


Ich fühlte, wie all mein Stolz, alle meine Energie zu Ende war... ich batte 
feine Kraft mehr... und ſchluchzte auf wie ein Kind. 

„Oh! Ich bin ſo müde, ſo ſchrecklich müde.“ 

Er ſprach etwas, ich hörte nichts, es war mir ganz gleichgültig; nur meine 
Tränen floſſen unaufhaltſam. 

„So beruhigen Sie jid) doch, liebes Fräulein. — Wenn Fhre Familie nicht 
gut zu Ihnen geweſen iſt, vergeſſen Sie ſie doch einfach. Jetzt ſind Sie in Paris. 
Sie haben eine Arbeit vor ſich, haben Ihr Examen vorzubereiten — nun alſo, 
nehmen Sie fich zuſammen, fangen Sie an zu arbeiten...“ Endlich begann ich 
auf ihn zu hören und ihn zu verſtehen. 

Und dann fiel mir plötzlich ein, daß ich ihn noch keinmal honoriert batte — 
und ich weiß nicht einmal, ob ich ihn bezahlen muß oder nicht. 

„Herr Doktor, ich habe vergeſſen, Ihnen es zu ſagen — dieſe Beſuche — 
ſind ſie koſtenlos?“ Schluchzen erſtickte meine Stimme und mein Kopf ſank ſchwer 
auf die Tiſchplatte. 

Seine Hand legte ſich leicht auf meine. 

„Wollen Sie wohl ſchweigen? Lohnt es fih, darüber noch Worte zu ver- 
lieren? Glauben Sie denn, daß bei uns in Frankreich die ſtudierende Jugend, 
die Künſtler, Schriftſteller, nicht auch koſtenloſe mediziniſche Behandlung bean- 
ſpruchen können, ebenſo wie in Rußland?“ 

„Aber ich bin Ausländerin.“ 

„Iſt das Unglück nicht das gleiche in allen Ländern?“ ſagte er vorwurfsvoll. 
„Laſſen Sie dieſes Geſpräch ein für allemal, hören Sie. Sprechen wir von ernjt- 
haften Dingen. Denken Sie jetzt an die Arbeit, die Ihnen bevorſteht.“ 

„Ich habe Ihnen aus Rußland ein Bild von Tolſtoi mitgebracht; ich habe 
es aber nicht bei mir; ich wußte nicht, ob ich es Ihnen zur Erinnerung geben 
darf.“ 

„Das iſt Ihre ganze Schuldigkeit bei mir, mein Fräulein!“ ſagte er lebhaft, 
„bringen Sie es mir, bitte.“ 

Ich beruhigte mich ein wenig. Der Schleier verbarg meine Tränenſpuren. 
Es war Zeit, zu gehen. | 

Als er mich zur Tür begleitete, fagte er: „Sie müffen viel an die friſche Luft, 
Paris ift jetzt fo ſchön. Auf Wiederſehen, gnädiges Fräulein. Kommen Sie nur 
ruhig wieder.“ 

Ich trat aus dem Krankenhaus heraus, und während ich bis zur Halteſtelle 
ging, ſah ich auf die Bäume mit ihrem erſten jungen Grün, und den blauen Früh- 
lingshimmel. 

Ich fühlte mich leichter, ruhiger, als wäre ein Sonnenſtrahl in meine Seele 
gefallen. 

„Paris iſt ſo ſchön jetzt!“ 

Warum ſoll ich ſelbſt hingehen und ihm das Bild abgeben? 

Ich bin fo müde... Wozu? Die Gänge find fo unnütz. Ich will ihn fragen, 
was für eine Krankheit mein Bruder gehabt hat, daß ſein Erzieher ſie mir nicht 
nennen wollte. In welchem mediziniſchen Buch kann man darüber nachleſen? 


Elifabeth Oiakonoff 347 


12. Mai. Ich ſchlief noch, als an meine Tür geklopft wurde. Ein einge- 
ſchriebenes Paket! Eine merkwürdige Einrichtung, daß die Briefboten die ver- 
ſicherten Briefe perſönlich abgeben müſſen. Daher kommen ſie um jede Zeit hinein. 
Ich warf mein Peignoir über und öffnete die Tür, nahm das Buch und ſchrieb 
meinen Namen hinein. Zuſammen mit dem Paket reichte er mir einen Brief; 
es war ein weißes Kuvert, bie Handſchrift war mir fremd. Ich öffnete das um- 
fangreiche Paket. Nadja ſchrieb mir über die endgültige Beſtätigung des Tefta- 
ments und die Teilung des Vermögens. Das alles intereſſierte mich wenig — 
ich griff neugierig nach der unbekannten Handſchrift. 

Von wem konnte der Brief ſein? 

Ich riß das Kuvert los und las: 

Verehrtes Fräulein! 

Mit dem lebhaften Danke für die Mühe, bie Sie fid) mit der Überfendung 
des ſchönen Bildes von Tolſtoi gemacht haben, muß ich Ihnen leider auch den 
betrüblichen Unfall mitteilen, den das Bild auf dem Wege über die Poſt bis zu 
mir erlitten hat. Der Papierrand iſt gebrochen worden und iſt an mehreren Stellen 
zerriſſen. Da das Übel ſich doch nicht heilen läßt, habe ich mich bei der Poſt nicht 
erſt beſchwert. Aber Ihnen ſollte ich eigentlich böſe ſein, weil Sie mir das Bild 
nicht ſelbſt gebracht haben. Indes ich werde es ſo bewahren, wie es iſt, und beim 
Anſehen niemals die Schäden ſehen, fondern nur die Schönheit der Gedanken 
und den Adel des Antlitzes Tolſtois. 

Ich will nicht verſuchen, hier mit einigen Worten Ihnen Mut zuzuſprechen. 
Kommen Sie lieber einen Vormittag oder Freitag abend nach dem Eſſen nach 
Boucicaui. Dann können wir über alles ſprechen, was Sie mir gefchrieben haben. 
Sie müſſen über ſich Herr werden, und es wird Ihnen auch gelingen. Mit den 
ſchönſten Empfehlungen 

Ihr ganz ergebener 

11. Mai 1901. E. Lencelet. 

NS. Wenn Sie es wünſchen, kann ich Ihnen gern einige mediziniſche Werke 
leihen. Ich halte das aber nicht für gut. Die Gründe werde ich Ihnen mündlich 
auseinanderſetzen. 

Es war ein herrlicher Maientag. Mein ganzes Zimmer war hell. Ich fab 
auf dem Bett mit dieſem Brief in den Händen, und las und las mit unendlicher 
Freude. 

Wie gut er ſchrieb! 

Übrigens ijt das kein Wunder! Die Franzoſen find alle glänzende Stiliſten 
unb geborene Redner ... Die Handſchrift ijt fein, elegant, klar. Wie ſchön ſchrieb 
er das D! So hatte keiner meiner Korreſpondenten geſchrieben; der kleine Strich 
in der Mitte, und dann der Bogen iſt mit ſo viel Geſchmack geſchlungen. 

In meiner Seele war es wie eine große Erleichterung, er ſchrieb, ich folle 
ins Krankenhaus kommen. Ich werde ihm ſchreiben, daß ich am Freitag komme. 
Ein Tolſtoibild kann ich ja noch aus Rußland erhalten. 

14. Mai. Heute ijt der vorletzte Einzahlungstag in der Univerſität. Ich 
ging hin. An der juriſtiſchen Fakultät ſind wenig Frauen — im ganzen zwei. 


348 Elifadeth Diatonoff 


Kornewskaja die einzige im erſten Kurſus, ich die einzige im zweiten. Wir per- 
ſchwinden ganz in der Studentenmenge. Und wie langweilig es iſt! Die Studenten 
ſcheinen ſich in allen Ländern gleichzubleiben. Keine andere Fakultät hat ſo viele 
reiche, beſchränkte, faule Studenten aufzuweiſen. Die franzöſiſche Studentenſchaft 
gehört durchweg dem Bürgerſtande an. Sie ſind alle gut gekleidet, haben einen 
Wechſel von hundertfünfzig bis zweihundert Franken im Monat und halten fid) 
dabei noch für bemitleidenswert. Im erſten Kurſus find die meiſten zwiſchen fieb- 
zehn und zwanzig Jahre alt. Da ich keine Vorleſungen beſuche, kenne ich faſt nie- 
mand. Doch vor dem Examen iſt es notwendig. Ich traf heute Kornewskaja; 
ſie kennt mehrere Studenten und wird mir Bekanntſchaften vermitteln. 

17. Mai. Als ich die Treppe zum Eßzimmer hinunterging, ſah ich ſchon 
von weitem in meiner Briefabteilung ein Kuwert mit der ſchönen Handſchrift, 
alſo von ihm. 

„Verehrtes Fräulein! Sch bitte Sie aufs dringlichſte, daß Sie kein anderes 
Tolſtoibildnis aus Rußland kommen laffen. Ich werde das zerbrochene bewahren, 
als ob es ganz unverletzt wäre. 

Über die mediziniſchen Bücher, die Sie von mir wünſchen, muß ich erſt 
mit Ihnen ſprechen. Ich muß Ihnen erſt allerlei erklären, was Sie ſo aus dem 
Buche heraus nicht verſtehen können. 

Kommen Sie bitte nicht am morgigen Freitagabend, da ich nicht im Kranken- 
haus bleiben kann. Aber wenn es Ihnen Samstag, nachmittags vor ſechs Uhr, 
möglich wäre. 

Seien Sie verſichert der vorzüglichen Wertſchätzung Ihres ganz ergebenen 

16. Mai 1901 E. Lencelet. 

Sonnabend werde ich ihn wiederſehen! Ach, es geht nicht! Kornewskaja wollte 
mit dem Franzoſen zu mir kommen. Wie ärgerlich! So muß ich ihm abſchreiben. 

19. Mai. Sonntag. Schon im Herbſt hatte mich ein zugereiſter Ruſſe mit 
feinem Freunde, einem Chemiker, namens Drill, bekanntgemacht. Dieſer junge 
Mann iſt gutmütig, liebenswürdig — doch haben wir wenig Berührungspunkte. 
Gr ijt vor allem Spezialiſt; immer beſchäftigt mit feinen Retorten, Kolben — 
und ſagte einmal, als der Geſetzvorſchlag über Frauenadvokaturen durchgegangen 
war: „Nun gut; können aber die weiblichen Advokaten auch gute Mütter fein?“ — 
„Ach, welch ein Unglück!“ ſagte ich teilnehmend und antwortete im ſelben Ton: 
„Können denn die männlichen Advokaten gute Väter ſein?“ 

Er wurde verlegen und wußte darauf nichts zu antworten. 

And doch iſt er ein guter Menſch. Daher treffen wir uns, wenn auch ſelten. 
Nach ſeiner Rückkehr habe ich ihn noch nicht beſucht und ging daher heute zu ihm hin. 

Er hatte ſchon längſt bie Abſicht gehabt, Deutſch zu lernen als Austauſch 
gegen Franzöſiſch, daher wunderte ich mich nicht, als ich einen deutſchen Stu- 
denten bei ihm traf. 

Er ſtellte uns vor. Hermann Karlſen — Student einer der vielen deutſchen 
Univerſitäten. 

„Wir hatten bie Abſicht, nad) Saint-Clou zu fahren. Das Wetter ift fo ſchön. 
Sollen wir nicht gemeinſam fahren?“ ſagte Orill. 


Elifabeth Oiatonoff 349 


Sd wat einverſtanden. Und während er ein Notizbuch ſuchte, fab ich zer- 
ftreut auf den Schreibtiſch. Es lag darauf die Beilage der „Presse Médicale", 
ein Verzeichnis der Pariſer Krankenhäuſer, ihrer Arzte — der Internen und Er- 
ternen. 

Ich ergriff es und ſuchte inſtinktiv Boucicaut. 

Welch eine große Liſte! Welch ein Gewirr von Familiennamen! Hier war 
die Rubrik der Internen: Greſſon, Chifoliau, Heitz, Meuriot, Pécharmant . 
wo war fein Name ...? 

Sa, hier unten links ſtand „Boucicaut“ — und dort „Lencelet“. Welch ſchöner 
Name! Es iſt, als beſtände er aus lauter zärtlichen Lauten — er iſt der ſchönſte 
unter allen — wie klingen die anderen [o grob: Pécharmant ... Carriques ... 
oder gat Biſch . .. faſt komiſch. 

„Geben Sie mir dieſes Blatt!“ bat ich Drill. 

„Warum?“ fragte er erſtaunt. 

„Als ſtatiſtiſches Material. Eine Medizinerin und ich intereſſieren uns ſchon 
lange dafür, was für ein Prozentſatz Externer in Paris angeſtellt iſt —“ 

„Mit Vergnügen, bitte. Ich brauch' es nicht mehr“, ſagte der gute Drill. 

Ich ſchämte mich faſt meiner Lüge. Und aus Dankbarkeit war ich liebens- 
würdig und aufmerkſam und ſuchte ihm und dem Deutfchen die Fahrt bis Saint- 
Clou aufs angenehmſte zu vertreiben. 

Der Deutſche war eine echt romantiſche Seele. Anfangs war er ſchüchtern 
und ſprach nur wenig — zum Schluß jedoch zitierte er Heine und ſagte beim Ab- 
ſchied feierlich, ſolch eine Frau habe er noch nie geſehen. 

23. Ma i. Hermann Karlſen hat um die Erlaubnis gebeten, mit mir verkehren 
zu dürfen, und war hocherfreut, als ich ihn in der rue des Feuillantines beſuchte. 
Er zog ſofort ſein Album hervor und zeigte mir die Bilder der Angehörigen und 
der Damen, in die er verliebt geweſen war. Ich war mit zweiundzwanzig Jahren 
ernſter als er. Als ich ſeine Bekenntniſſe angehört hatte, ſeine Erinnerungen, ſeine 
Zukunftspläne, geriet er in begeiſterte Stimmung, er fagte, er fühle eine tiefe Zu- 
neigung zu mir und wünſche nichts ſehnlicher, als mir einen Dienſt zu leiſten. 

„Nun, ich werde Sie beim Worte nehmen! Soll ich Ihnen einen Auftrag 
geben?“ fragte ich. 

„Ich wünſche mir nichts Beſſeres!“ rief er leidenſchaftlich. 

„Gut. Ich werde gleich ein paar Zeilen ſchreiben. Morgen früh fahren Sie 
ins Krankenhaus Boucicaut, bitten Sie Herrn Lencelet heraus und warten Sie 
dann auf eine Antwort.“ 

Sch lachte innerlich. Die Enttäuſchung auf feinem Geſichte beim Worte „mon- 
sieur“ wirkte zu komiſch. Zu ſeiner Beruhigung mußte ich ihm ſagen, daß ich ihn 
zu einem Internen nach Büchern (dide. Auf diefe Weiſe erhalte ich fie am raſcheſten. 

Sobald ich ihm die Sache aufgeklärt hatte, erhellten ſich ſeine Züge, und in 
der Überzeugung, daß hier „nichts fei“, trug er mir eilfertig Papier, Feder und 
Tinte herbei. 

Freitag, 24. Mai. Um 11 Uhr klopfte Hermann Karlſen an meine Tür. 

„Herein!“ 


350 Elifabeth Diafonoff 


Er trat ſtrahlend ein. Ich wußte, daß es ihn freuen würde, wenn ich auf 
ſeine ausführliche Erzählung hörte. Nicht umſonſt wird dem Deutſchen Um- 
ſtändlichkeit nachgeſagt. Er begann damit, daß er die Pferdebahn ſuchte, anfangs 
in eine falſche geriet, bis er die richtige fand. Endlich, wie er in Boucicaut anlangte, 
wie man ihn empfing, hineinließ, wie er im Pavillon wartete. „Und dann trat er 
ein. Ich gab ihm den Brief. Er nahm ihn, las ihn, fragte, wie Sie ſich fühlen; 
ich ſagte, ich wüßte es nicht. Dann verſchwand er und brachte die Antwort; hier 
iſt ſie.“ 

Hermann Karlſen zog aus ſeiner Taſche einen Zettel, auf dem „Consultations 
gratuites“ ſtand; unten las ich: „Rommen Sie heute abend nach dem Effen. Ihr 
ganz ergebener E. Lencelet.“ 

„Aber hören Sie, Fräulein,“ fügte der ehrliche Deutſche hinzu, „das ift ein 
ſchöner und gediegener Menſch.“ 

„So, iſt er hübſch?“ Ich habe ſein Geſicht daraufhin noch nicht angeſehen, 
daher konnte ich dem Deutſchen ganz aufrichtig fagen: „Ich weiß es nicht. Sooft 
ich bei ihm war, befand ich mich in ſolcher nervöſen Erregung, daß ich meine Augen 
kaum auffchlagen konnte.“ Und ich dankte dem Deutſchen herzlich. 

Um acht Uhr zog ich mich an, um nach Boucicaut zu fahren. Der anbrechende 
Sommer ließ mich mein Trauerkleid ablegen und ein leichtes weißes anziehen; 
dazu ſetzte ich einen großen weißen Hut à la bergére auf. Zum erſtenmal im Leben 
zog ich mich mit Vergnügen an: der Spiegel zeigte mir eine reizende junge Frau, 
die mir fröhlich entgegenlächelte. 

Die Elektriſche ging mir zu langſam, und dann mußte ich auf dem Bahnhof 
Montparnaffe noch zehn Minuten warten, da die Elektriſche Saint-Germain des 
Près Vauves überfüllt war. 

Sekt endlich: rue Lecourbe — und dort, ein bißchen weiter, Boucicaut . 

Wieder die unvermeidliche Frage des Portiers: 

„Wohin, mein Fräulein?“ 

„Doktor Lencelet?“ 

„eErſter Stock, rechts.“ 

Bevor ich klingelte, ſah ich auf das kleine Schild, auf dem mit ſchwarzen 
Buchſtaben „interne de garde“ ſtand; nebenbei auf einer Tafel mit Kreide: Lencelet. 

Alſo deswegen ijt er am Freitag hier! Es ift fein Empfangstag. Sch klingelte. 
Ein Stubenmädchen öffnete. 

„Herr Lencelet bittet Sie, ihn hier zu erwarten“, ſagte ſie, indem ſie mich in 
die Bibliothek führte. 

Die Tür des benachbarten Zimmers öffnete ſich, und Lencelet trat heraus. 

„Guten Tag, gnädiges Fräulein. Bitte, warten Sie einen Augenblick in 
meinem Zimmer. Wir gehen eben zum Effen ...“ 

„Bitte ſchön.“ 

Wir gingen in ſein Zimmer. Er drehte den elektriſchen Knopf — das Fenſter 
war offen, ein ganzer Strom Mailuft zog ins Zimmer. 

„Entſchuldigen Sie, daß ich Sie allein laffe. Sie leſen natürlich Deutſch?“ 
fragte er und reichte mir „Frau Sorge“ von Sudermann. 


Güfjabetb Diatonoff 351 


„Ja. * 

„So lefen Sie es. Wenn Sie wünſchen — hier find auch mediziniſche Bücher. 
Sd werde bald zurückkommen.“ 

Und er ging raſch hinaus. 

Als ich allein war, ſah ich mich neugierig um. Die Türen des Glasſchrankes 
waren leicht geöffnet. Ich warf einen Blick hinein. Es ſtanden da umfangreiche 
Bücher in ſchönen Einbänden ... Der Toilettentiſch war leer. Keine Sachen, 
keine Kleider ... nichts! Wie merkwürdig. Je mehr ich mich ins Zimmer hinein- 
ſah, deſto mehr gewann ich den Eindruck von etwas Doppeltem — als ob es nur 
einem zeitweiſen Aufenthalt diene. Der Schreibtiſch war überladen mit Büchern, 
Zeitſchriften; zwiſchen ihnen lag ein Haufen verſtaubter Viſitenkarten. Ich nahm 
eine und las: E. Lencelet. Interne de médecine des höpitaux. 5, rue Brézin. 

So lebte er nicht hier, ſondern irgendwo in der Stadt. Die Laden des Schreib- 
tiſches waren nicht völlig geſchloſſen. Eine Menge von Papieren, Briefen lag darin. 

Ich ſchloß die Lade und blätterte zerſtreut in einem umfangreichen medigini- 
ſchen Buch. Ein Zeichen glitt heraus — ein ſchmaler Papierſtreifen. 

Ich hob ihn auf, um ihn zurückzulegen, dabei las ich die Worte: „nicht zu 
Hauſe getroffen“. 

Ein Brief von einer Frau . 

Und jetzt erft bemerkte ich, daß es elegantes hellblaues tene war, 
ein ſchmales Format, wie ich es noch nicht geſehen hatte. 

„Alſo Dod .. .“ 

Ich drehte es in meinen Händen, fab noch einmal hin. Die Handſchrift war 
febr undeutlich. Nur die Worte „nicht zu Haufe getroffen“ waren leferlid, wahr- 
ſcheinlich eine Entſchuldigung, daß er fie nicht zu Haufe getroffen batte. Oben 
ſtand das Datum 2. II. 1900. 

Ich fühlte mich beſchämt, daß ich, ohne es zu wollen, dieſen Satz aus einem 
fremden Briefe geleſen hatte. Wie konnte ich es wiſſen, daß dieſes eigentümliche 
Format ein Brief fein ſollte. Ich hätte ihn dann nicht in die Hand genommen. 
Warum benutzt er ihn auch als Buchzeichen? 

Ich fekte mich an den Tiſch und ſchlug „Frau Sorge“ auf. Wie war es be- 
haglich in dieſem hellen Zimmer! Schon der Gedanke, daß ich hier einmal früher 
geweſen, wirkte beruhigend auf mich. Ich habe „Frau Sorge“ vor längerer Zeit 
geleſen und erinnere mich nur des Märchens am Schluß. 

Ich hatte kaum begonnen, als Lencelet eintrat. 

„Haben Sie viel geleſen? Ich bitte Sie recht ſehr um Entſchuldigung. Es 
iſt heute beſonders ſpät geworden.“ 

Ich dachte bei mir, daß er jid) auch hätte beeilen können, doch die Stunden des 
Frühſtücks und Mittags ſind dem Franzoſen heilig; ſie dürfen nicht gekürzt werden. 

Aus Höflichkeit antwortete ich laut: 

„Aber, ich bitte Sie, mein Herr; übrigens muß ich bald gehen..“ 

„O nein. Zetzt bin id) frei; Sie können bis zehn Uhr bleiben ... Fc habe 
Ihnen ein mediziniſches Buch verſprochen ... ich hole es Ihnen gleich.“ 

Er kehrte nach einigen Minuten mit einem dicken Band zurück. 


552 Eliſabeth Siatonoff 


„Ich war in einiger Verlegenheit. In unjerer Bibliothek gibt ee ſolche Bücher 
nicht . . . und ich weiß auch nicht, worum es (id) handelt.“ 

„ga, ich weiß es auch nicht; der Erzieher meines Bruders weigerte ſich, mir 
zu ſagen, was meinem Bruder fehlte.“ 

„Ich wundere mich. Warum wollte er es nicht jagen? Törichte Vorurteile!“ 
Und er ſetzte ſich mir gegenüber und begann in einem Buch zu blättern. 

„Sehen Sie, ich weiß nicht, ob Ihnen dieſes Buch nützlich ſein wird. Sie 
werden es wohl kaum verſtehen!“ 

„O nein, nein, — ich werde es ſchon verſtehen!“ 

„Wie Sie wollen. Hier ijt die Rede von den Geſchlechtskrankheiten der Män- 
ner, vom Einfluß dieſer Erkrankungen auf das geſamte Nervenſyſtem.“ 

Er ſprach, ich ſah ihn an. Der Lampenſchein erhellte ſeinen Kopf. Er hatte 
feine, regelmäßige Züge. Die dunklen, ſchönen Augenbrauen erſchienen faſt ſchwarz, 
und die blauen Augen mit den langen Wimpern ſahen ernſt durch bie Pincenes- 
gläſer. Das ſchwarze Sammetmützchen der Internen ſtand ihm gut. Es war ein 
fo auffallend fh. er Kopf, wie ich ihn noch nie gefeben. 

Ich hörte auf ſeine Worte, ſah ihn an und erlebte eigentümliche Augenblicke. 
Der Menſch, der mir fo viel Gutes erwieſen bat, ijt [o ſympathiſch! Er erſchien 
mir wie eine Art Vollkommenheit, in der äußere und innere Schönheit harmonier- 
ten. Dieſe Erkenntnis gewährte mir einen tiefen, unausſprechlichen Genuß — 
ſeine ganze Weſenheit ſchien von einem beſonderen Leben getragen zu ſein. 

Ja, der Deutſche hat recht! 

„Ich glaube kaum, daß Sie davon etwas haben werden. Und dann find Sie 
ja auch fern von Ihrem Bruder. Konzentrieren Sie lieber Ihre ganze Aufmerkſam- 
keit auf ſich ſelbſt. Denken Sie daran, daß Sie ein Ziel haben, das Sie erreichen 
müſſen ... Arbeiten Sie zum Examen!“ 

„Ich bin fo müde. Es ſcheint mir, daß ich zu nichts fähig bin; mein Gedadt- 
nis verfagt ...“ 

„Das ſcheint Ihnen nur ſo. Sie haben den Willen zeitweiſe verloren, das 
Gedächtnis wird ſich wieder einſtellen, fürchten Sie nichts. Beſtärken Sie ſich nicht 
in Ihren Gedanken. Sie ſind ein intelligenter Menſch; Sie wollen den Frauen 
nützen.“ 

Wenn er eine Ewigkeit ſo geſprochen hätte, ich hätte ihm zugehört. Seine 
Worte ſtützten, belebten mich. 

Sein Rat, mich zu verheiraten, fiel mir ein, und wie ſich dann in Moskau 
eine Gelegenheit dazu geboten hatte. Ich erzählte es ihm. 

„Von Ihrer Seite iſt es ganz natürlich, daß Sie wegfuhren, als Zhnen der 
junge Mann nicht gefiel. We muß man nur aus Liebe und aus gegenſeitiger 
Sympathie.“ 

„Aus Liebe! Ich Wel was Liebe iſt. Haben Sie in Schopenhauers ‚Die 
Welt als Wille und Vorſtellung“ das Kapitel über die „Metaphyſik der Geſchlechts- 
liebe‘ gelejen?“ 

„Ja.“ 

„Nun, ſehen Sie, das iſt eine richtige Vorſtellung der Liebe. Ich halte ſie 


Eliſabeth Olakonoff 355 


für Illuſion, für einen Betrug“, ſagte ich in Verzweiflung, da ich fühlte, wie dic 
ſchrecklichen Erinnerungen in mir aufſtiegen. 

„Ja, ja“, ſagte er beſänftigend. 

Ich wollte wiſſen, wie ſeine Anſichten über die Ehe ſind! 

„Und dann — die Ehe! Mit einem Menſchen, der ſeine Jugend gründlich 
ausgekoſtet hat, mit dem man es riskiert, betrogen zu werden — das laſſe ich in 
der Ehe nicht au —“ 

„Ich auch nicht.“ 

„Venn man heiratet, verliert bie Frau nach Ihren Geſetzen das Recht über 
ihre Perſon. Ihr Eigentum gehört dem Mann. Das iſt empörend, das iſt ungerecht!“ 

„Ich finde es vollkommen gerecht. Das Geld iſt nicht von der Frau erarbeitet 
— die Ausſteuer gibt ihr der Vater, dann iſt es auch gerecht, daß ſie darüber nicht 
zu verfügen hat, ſondern ihr Mann.“ 

Das berührte mich ſchmerzlich. .. Warum ſprach er fo? Ich konnte mich nicht 
enthalten und ſagte vorwurfsvoll: 

„Iſt es denn möglich, einen erwachſenen Menſchen mit Gewalt zu bevormun- 
den? Soll denn die Frau, ſobald ſie verheiratet iſt, als Kind behandelt werden? 
In Nußland ſcheinen mir die Geſetze in dieſer Hinſicht gerechter: das Eigentum 
von Mann und Frau ijt getrennt...“ 

„Ich weiß nicht, wie es bei Ihnen in Rußland ijt; bei uns ſteht die Durch- 
ſchnittsfrau unter dem Mann — fie darf daher auch keine Rechte in der Ehe be- 
anſpruchen. Sehen Sie auf unſere Lyzeen. Sie ſind leer, nur die Töchter der 
Beamten beſuchen ſie.“ 

Ach, warum ſpricht er ſo! Das iſt ja grob, ungerecht, eng, egoiſtiſch. 

Und dann die Hauptſache — er ſpricht ſo! 

Der Zeiger zeigte drei Viertel zehn. Ich mußte weggehen. Er hatte an- 
ſcheinend nicht bemerkt, was für einen Eindruck ſeine Worte auf mich gemacht 
hatten. Und als er mich zur Tür begleitete, ſagte er: 

„Wir alle leiden mehr oder weniger. Und der einzige Troſt iſt — Gutes 
zu tun. Gutes tun und denen helfen, die leiden. Wiſſen Sie, ich habe in den ver- 
ſchiedenſten Kreiſen gelebt und die entgegengeſetzteſten Meinungen gehört. Da 
bin ich ein gründlicher Skeptiker geworden. Alles wiederholt ſich im Leben. Wir 
ſind Staub auf Erden. 

Wir traten in den Hof und gingen der Straße zu. Er widerſpricht ſich ja 
ſelbſt, dachte ich. Wenn die Menſchen Staub ſind, warum ſoll E? Gutes er- 
wieſen werden? 

„Dann verliert ja das Leben jeglichen Sinn!“ rief ich aus. 

„Und worin ſollte ſein Sinn beſtehen?“ fragte er, ſchmerzlich lächelnd. 

„Wenn auch nur darin, immer fortzuſchreiten. Das Ziel des Lebens iſt das 
Gute.“ 

„Und was iſt dieſes Gute?“ 

„Das Gute? Das iſt die Gerechtigkeit!“ ſagte ich mit Aberzeugung. 

„Für mich beſteht das Gute darin, den Leibenden zu helfen. Seinen Nächſten zu 
unterſtützen, das iſt unſere Aufgabe. Wir ſelbſt ſind zu nichtig. Wir ſind nur P on M 


Der Türmer XV, 5 


354 Glifabetb Oiakonoff 


Wir ſtanden auf dem Balkon. Es war eine warme Sommernacht — ſchwül, 
träumeriſch lag ſie über Paris. Und in dieſer Stille, inmitten dieſer anbrechenden 
Nacht klangen die Worte des jungen Skeptikers beſonders freudlos, als ob ihn die 
Schwere ber eigenen Überzeugung erdrüdte ... Wir find Staub auf 
Erden! 

Ich ſenkte den Kopf und dachte nach. 

„Ich muß mich verabſchieden, gnädiges Fräulein“, ſagte er leiſe. 

„Verzeihen Sie, daß ich Sie aufhalte.“ Und als ich mich von ihm verab- 
ſchiedete, ging ich leiſe den Bürgerſteig hinunter. In der Ecke ſtand eine Gruppe 
von Menſchen und wartete auf die Elektriſche. Ich ſtellte mich zu ihnen hin. 

Nach einiger Zeit trat ein Herr mit Zylinder und Pincenez auf mich zu. 

„Guten Abend ... Warten Sie hier auf die Elektriſche?“ 

Es war Lencelet. Er hatte ſich bereits umgezogen. 

Gewiß trägt er einen Zylinder, weil er ihm ſo gut ſteht. 

„Ich habe Sie an Ihrem weißen Hut erkannt. Warten Sie hier auf die 
Elektriſche?“ 

„da.“ 

„Das iſt eine falſche Halteſtelle. Sie müſſen noch fünfhundert Schritt weiter 
gehen. Ich werde Sie begleiten. Ich fahre nach Mont-Rouge zu einem Freunde, 
der erkrankt iſt.“ 

Er wartete, bis die Elektriſche kam, half mir hinein und verſchwand dann 
in der Dunkelheit der einſamen Straße. Ich fuhr in einer eigentümlichen Stim- 
mung nach Hauſe; ſie erſtickte mich faſt. 

Und als Madame Odobez in der Penſion mir mitteilte, zwei Ruſſen hätten 
nach mir gefragt, war es mir ganz gleichgültig. 

Sonntag, 26. Mai. Ich leſe das mediziniſche Buch. Ich verſtehe 
nichts — nicht ein Wort! Die Fachſprache klingt mir wie Chineſiſch. Im Lexikon 
fehlen die Worte — es iſt auch langweilig, nachzuſchlagen. Vielleicht erklärt er 
mir das, was ich nicht verſtanden habe. 

Donnerstag, 50. Mai. Heute morgen war ich in der Univerſitäts- 
quäſtur. Ich zog das Los, auf welchen Tag mein Examenstermin fällt. Ich er- 
hielt die Nummer 1029. 

„O, das iſt in der letzten Woche!“ ſagte der Beamte. 

Ich war damit febr zufrieden; fo kann ich noch lange in Paris bleiben und — 
ihn ſehen! 

Ich habe ihm heute einen Brief geſchrieben. Wenn ich bis Freitag drei Uhr 
keine Antwort erhalte, ſo heißt es, daß ich ihn beſuchen kann. 

Freitag, 31. Mai. Zch zog mich an, um nach Boucicaut zu gehen. 
Geſtern abend wurde mein graues Kleid gebracht. Ich habe es ſelbſt entworfen. 
Es wird anſchließend — mit einem Marie-Wntoinette-Rragen. Ich liebe dieſe 
Art! Sowenig die ruſſiſchen Schneiderinnen den Damen entgegenkommen und 
ihre Wünſche erfüllen, um jo mehr die Pariſer Schneiderinnen. Jede ift Künſtle— 
rin. In dieſem Augenblick machte es mir große Freude, mich anzukleiden — ebenſo 
große Freude wie ein Jahr vorher etwa das Studium der Laurentiushandſchrift. 


Puſch: Nindertand 355 


Sch freute mich an meinem Spiegelbilde, unb bas Bewußtſein, daß ich büb[d) 
bin, ließ neue Empfindungen in mir aufkommen. 

Wie hatte ich ſo lange leben können, ohne an mein Außeres zu denken! 

Sch ſetzte den Hut auf, als Frau Odobez an die Tür klopfte. 

„Petit bleu! Aber Sie ſind ja eine vollendete Pariſerin geworden!“ ſagte 
ſie und reichte mir eine Stadtdepeſche. Ich erriet gleich, daß ſie von ihm war. 

„Verehrtes Fräulein! Kommen Sie heute abend nicht. Wir würden keine 
Zeit haben, zu plaudern. Glauben Sie, daß es mir recht leid tut, und empfangen 
Sie die Verſicherung der höchſten Wertſchätzung Ihres ergebenen E. Lencelet.“ 

Am Abend kam der ODeutſche zu mir. Wir gingen zum Obſervatoire. Er 
ſprach — ich hörte nichts. Eine ſchwere Stimmung laſtete auf meiner Seele; ich 
konnte mir keine Rechenſchaft geben — warum. 

2. Juni. Pfingſttag. Warum denke ich immer häufiger an ihn? Sft 
es möglich, daß ich ihn lieben ſollte?! Bis jetzt wußte ich nicht, was Liebe war. 
Ich habe es ja nicht verſtanden. Nun — alles in dieſem Leben muß durchlebt fein — 
die Liebe ijf für mich etwas Neues, Neues 

Ein freudiges, ſtolzes Gefühl bewegt meine Seele. Es ſcheint mir, als hätte 
ich bis jetzt immer nur gewartet — — jetzt fängt das Leben an. 

(Fortſetzung folgt) 


Kinderland Won Arthur Puſch 


Hier iſt der Frieden, hier iſt die Ruh', 

Hier küſſen Engel die Augen mir zu 

Und tragen auf ſchneeweißen Flügeln mich fort 

Ins Land meiner Träume, zum ſeligen Ort, 

Und tragen mich fort in das Sommerland, 

Wo einſt die Wiege des Kindes ſtand, 

Wo die Träne nicht quillt, wo der Schmerz nicht wohnt, 
Wo in Myrtenhainen die Jugend thront. 


Dort betten ſie mich auf blumiger Au, 

Und zu Häupten ſetzt ſich die Märchenfrau 

Und ſingt mir das Lied, mit dem einft zur Nacht 
Die Mutter das Kind zur Rub’ gebracht 

Und Cherubim wandeln in weißem Gewand, 
Goldglänzende Palmen in ihrer Hand... 


Und dann — ? 


Mein guter Engel erſcheint 
Und beugt ſich zu mir und weint und weint 


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Lag das Paradies am Nordpol? 
Von Dr. Georg Biedenkapp 


Po unterliegt heute wohl keinem Zweifel mehr, daß das Menfden- 
geſchlecht bereits Zeuge jener furchtbaren Zeiten war, da todhauchend 
mächtige Gletſcherſtröme ſich von den Gebirgen Europas in die 
O Ebenen ſchoben. Viermal, fo nimmt man an, wuchs im Verlauf 
der letzten Zahrhunderttauſende die Bereifung, und ebenſo oft wich fie vor milderem 
Klima. Die Tagebuchaufzeichnungen der Erde, die aus jener Zeit ſtammen, be- 
ſtehen zum Teil aus Ablagerungen und Schichtungen in Höhlen und weiſen hier 
unwiderleglich die Spur niedrig ſtehender Menſchenarten nach. Gegen das Ende 
der Vereiſungen und Abſchmelzungen finden wir zu einer Zeit, da weder Nil noch 
Euphrat noch Zangtje [don den Kulturmenſchen kannten, in zahlreichen füd- 
franzöſiſchen und nordſpaniſchen Höhlen viele Hunderte von Zeichnungen und 
Malereien an den Wänden, verblüffend naturgetreue Darſtellungen von Tieren, 
die in hiſtoriſcher Zeit jenen Gegenden unbekannt waren, von Mammut, Renntier, 
Wiſent. Schon dieſe Tatſache widerſpricht der Behauptung, das Paradies, die 
Urheimat des Menſchengeſchlechtes, könne einzig und allein nur in Meſopotamien 
gelegen haben. Dem gegenüber hatte ſchon in den achtziger Jahren der gelehrte 
Amerikaner Dr. Warren in einem Buche, das viele Auflagen erlebte, aus der 
Bibel und den Überlieferungen ſämtlicher Kulturvölker Beweiſe dafür geſammelt, 
daß das Paradies am Nordpol gelegen haben müſſe, natürlich zu einer Zeit, wo 
der Nordpol eisfrei und Schauplatz eines milden, befruchtenden Klimas war. 
Solche Zeiten hat es fraglos gegeben, denn die Polarfahrer haben Verſteinerungen 
von Pflanzen und Tieren da oben gefunden, die eine unwiderlegliche Sprache 
reden. So können vor den Eiszeiten ſowohl als auch in der letzten Zwiſcheneiszeit 
Menſchen am Pol gewohnt haben, und eine Widerlegung gibt es nicht einmal 
für die Behauptung, daß zur Zeit der letzten Vereiſung Europas der Pol ſelbſt 
eisfrei geweſen ſein möge und Heimat der heutigen Kulturvölker. Man hat dieſe 
Heimat, alfo die Heimat der Indogermanen vor allem, früher ſüdlich in Alien 
geſucht und ſich allmählich durch maſſenhafte Altertumsfunde gezwungen geſehen, 
die indogermaniſche Urheimat mehr und mehr in Europa und nordwärts zu ſuchen. 
Penka, Wilſer, Much und andere Forſcher ließen, ſtatt die Germanen aus Indien 
oder einem Indien benachbarten Lande, die Inder aus Germanien kommen. 


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Biebentapp: Lag bas Parables am Nordpol? 357 


Im Anſchluß an Warren hatte der britiſche Kulturforſcher Rhys auf Grund 
vergleichender Mythenforſchung ebenfalls die Urheimat der Indogermanen in 
polare Breiten verlegt. Dazu wären noch namhafte Forſcher zu nennen, die über- 
haupt die Wiege des Menſchengeſchlechtes im Norden ſuchten, weil anthropologiſche 
und tiergeographiſche Gründe dazu zwangen. Alles in allem liegt alſo eine ſtark 
zunehmende Bewegung vor, das Paradies mehr nordwärts zu ſuchen. Da trat vor 
einigen Jahren der Inder Tilak mit ſeinem Buche „The arctic home in the Veda“ 
auf den Plan und brachte darin eine Fülle von Beweiſen aus den heiligen Schriften 
der Inder und Sranier, daß wenigſtens die Arier, wenn nicht überhaupt alle Kultur- 
völker, vom Nordpol hergekommen ſein müßten. Tilak iſt eine intereſſante, moderne 
Perſönlichkeit, ein Vorkämpfer ſeines Volkes gegen engliſche Mißwirtſchaft, und 
ein Gelehrter, für den ſich der berühmte Max Müller erfolgreich verwandte, als 
Tilak eine lange Kerkerhaft aufgebrummt erhielt. Das Tilakſche Buch erfuhr 
weder eine Widerlegung noch große Verbreitung: wie es meiſt Büchern geht, die 
kraft ihres Inhaltes mehreren Wiſſenſchaften angehören und über den Horizont 
der Spezialiſten hinausragen. Eine knappe Darftellung feines Inhaltes und 
weitere Beweiſe findet man in meinem Buche „Der Nordpol als Völkerheimat“ 
(Sena 1906, Coſtenoble). 

Das Charakteriſtiſche des Nordpols iff im Winter das tage- und wochen- 
lange Verweilen der Sonne unter dem Horizont und im Sommer die an- 
dauernde, durch keine Nacht unterbrochene Helle. Ununterbrochene Winternacht 
und ununterbrochener Sommertag ziehen ſich um ſo länger hin, je näher wir dem 
Nordpole kommen. Eigenartig und von höchſtem Reiz ift die Dämmerung, die fid) 
je nach dem Breitegrad tage- oder wochenlang mit ihrem hellſten Punkte um den 
Horizont ringsum bewegt, ſo daß man von Dämmerungstagen oder kurzweg 
Dämmerungen reden kann, wie wir von 24ſtündigen Tagen reden. Man verſetze 
ſich im Geiſte an den Nordpol und ſehne nach langer Winternacht die Sonne herbei! 
Welch Glücksgefühl, wenn der Horizont ſich zu hellen und zu röten beginnt und 
bie Dämmerungsfarben wochenlang die Landſchaft umſäumen! Damit vergleiche 
man die raſch verblaſſende Dämmerungserſcheinung der gemäßigten oder gar der 
heißen Zone: im Norden der Erde ein langwährendes, ſeeliſch ergreifendes Schau- 
ſpiel, ſüdlich eine flüchtige und meiſt verſchlafene Erſcheinung. Sft es da nicht auf- 
fällig, daß Lieder an die Morgenröte in der Weltliteratur in größerer Zahl nur 
im älteſten Liederbuch ber Menſchheit und ſonſt nirgends mehr vorkommen, daß 
der „Göttin“ Morgenröte 20 Hymnen gewidmet ſind und ihr Name mehr als 
300 mal im Rigveda erwähnt wird, d. b. in einer Liederſammlung, die bereits vor 
5000 Fahren abgeſchloſſen war und für das Erzeugnis göttlicher Offenbarung, 
für unentſtanden und unvergänglich gehalten wurde? Der Rigveda, das beweiſt 
uns Silat, enthält Berfe, bie im Polargebiet gedichtet fein müſſen, in demſelben 
Gebiet, wo die Morgenröte tage- oder wochenlang anhält. Wird da nicht mit einem 
Male verſtändlich, warum ſich ſo zahlreiche Lieder an die Göttin Morgenröte 
nur in der älteſten Literatur finden? Und warum im Rigveda von Morgenröten 
in der Mehrzahl geſprochen wird, wie wir von Tagen reden als 24ſtündigen Beit- 
räumen? Daß bie den älteſten Ariern bekannte Dämmerung keine Erſcheinung 


358 f3iebenfapp: Lag bas Paradies am Nordpol ? 


raſcher Vergänglichkeit, ſondern längerer Dauer war, beweiſt eine Stelle aus den 
älteſten indiſchen Ritualſchriften. Vor Beginn des Kuhgangopfers, welches fym- 
boliſch den Jahreslauf der Sonne begleitete, mußten in der Zeit vom erſten Däm- 
merungsſchimmer bis zum Sonnenaufgang 1000 Strophen aufgeſagt werden. 
Dieſe Rezitation war ſo lang, daß der Prieſter ſich dabei ſtärken mußte; trotzdem 
kam es aber vor, daß ſie lange vor Sonnenaufgang beendet war und zur Ausfüllung 
der Zeit noch weitere Opfer und Rezitationen angeſetzt wurden. Im Notfalle 
ſolle der ganze Rigveda (eine Liederſammlung von Lexikonsbanddicke) hergeſagt 
werden. Alle dieſe Angaben ſchließen es völlig aus, daß fie ſich auf eine uns ge- 
läufige Art von Dämmerungen beziehen, ſie werden vielmehr nur verſtändlich 
unter der Vorausſetzung, daß jene Morgenröte tage- oder wochenlang anhielt. 
„In früheren Zeiten“, fo heißt es an anderer Stelle, „dämmerte die Göttin Däm- 
merung beſtändig“; weiter finden ſich Hinweiſe auf ein einträchtig geſchloſſenes 
Band von 30 ſchweſterlichen Dämmerungen, was nur als eine 30 Cterntage 
währende Dämmerung verſtändlich wird, eine ſolche aber gibt es nur nahe dem Pol. 


Dies waren wahrlich viele Tage, welche 
Zuvor (man zählte) bei dem Sonnenaufgang — 


Dieſe Rigvedaverſe klingen wie barer Unſinn, erhalten aber Sinn und Verſtand 
unter der Annahme, daß polare Verhältniſſe zugrunde liegen. In einem Gebet 
an Gott Varuna, er möge begangene Sünden verzeihen und den Flehenden nicht 
für die Sünden andrer büßen laffen, heißt es: „Viele Odmmerungen fürwahr 
ſind nicht ganz aufgeleuchtet. Gib, o Varuna, daß wir in dieſen am Leben bleiben.“ 
Nach unſern Begriffen muß jede Dämmerung aufleuchten, das heißt zu einem 
Sonnenaufgang führen; hier heißt es aber, daß viele DSämmerungen nicht ganz 
aufgeleuchtet, das heißt zu Tagen geworden ſind. Vielleicht ſind auch die folgenden 
Verſe auf die ſchreckliche, lange Polarnacht zu beziehen: 

Was lebt, ſucht Raſt in ihr, von der kein Ende 

Zu ſehen iſt, noch wer getrennt ſie halte. 

Laß unverletzt, o weite, dunkle Nacht, uns 

Dein Ende ſchaun, dein Ende ſchaun, du Holde. 


Während in den niederen Breiten des Polargebietes zwiſchen der langen 
Winternacht und dem langen Sommertag eine Reihe von Tag- und Nachtwechſeln 
kommt, wie wir ſie gewohnt ſind, beſteht das Jahr unmittelbar am Pol ſelbſt nur 
aus einer einzigen Nacht und einem einzigen Tag, jedes von ſechs Monaten Dauer, 
wobei allerdings durch die Strahlenbrechung der Tag auf Koſten der Nacht einen 
Zuwachs erhält. Nun findet ſich in der indiſchen Literatur häufig der Ausdruck 
Tag und Nacht der Götter: ein Jahr iſt ein Tag und eine Nacht der Götter; die 
Nordwanderung der Sonne ijt der Tag, die Südwanderung die Nacht. Im Helden- 
gedicht Mahabharata heißt es vom Meru, d. i. dem Berg, der als nördlichiter galt, 
daß daſelbſt Sonne und Mond alltäglich rings von der Linken zur 
Rechten gehen und ebenſo alle Sterne. Und weiter heißt es: „Durch ſeinen 
Glanz beſiegt der Berg ſo ſehr das Dunkel der Nacht, daß die Nacht kaum vom Tag 
zu unterſcheiden iſt.“ Und anderswo: „Den Bewohnern des Ortes ſind Tag und 


Biedenkapp: Lag das Parabics am Nordpol? 359 


Nacht zuſammen gleich einem Jahr.“ Da muß man (id doch erſtaunt fragen: 
Wie famen ſolche Sätze, die für Polarverhältniffe geradezu charakteriſtiſch find, 
in die alten indiſchen Schriften, während doch ganz ausgeſchloſſen iſt, daß die alten 
Inder etwa Polarexpeditionen ausgeſandt hätten? Im Aveſta, der heiligen Schrift 
ber Franier, kommt ebenfalls, und zwar an einer Stelle, die auch noch aus andern 
Gründen nach dem Nordpol weiſt, ein Satz vor, der durchaus polarcharakteriſtiſch 
iit: „a kann man Sterne, Mond und Sonnenur einmal auf— 
und untergehen ſehen, und ein Jahr erſcheint nur als ein 
Tag.“ Sterne und Sonne gehen zwar nicht am Pol auf und unter, wohl aber 
kann man ihr Sichtbar- und Unſichtbarwerden fo bezeichnen. Am Pol beſteht das 
Jahr tatſächlich nur aus einem Tag, der natürlich Tag und Nacht zuſammenfaßt, 
wie wir ja auch Tag und Nacht zuſammen einen Tag nennen. Derlei Stellen, 
die einen guten Sinn bekommen, wenn man den Mut hat, von der Nordpolhypotheſe 
anszugehen, bringt Silat nun viele herbei. Er behandelt bas Kuhgangopfer, das 
in älteſter Zeit nur zehn Monate, ſpäter aber zwölf Monate dauerte und als 
Symbolik des jährlichen Sonnenlaufes ſomit erkennen läßt, daß es im Leben der 
älteſten Inder eine Zeit gab, wo die Sonne nur zehn Monate über dem Horizont 
erſchien, zwei Monate aber überhaupt unſichtbar blieb. Das Hundertnachtopfer 
ſtärkte den Gott, der, um die Sonne zu befreien, die hundert nächtlichen Burgen 
des ſchlangenhaften Dämons der Finſternis zerſtören muß. Dies deutet auf eine 
ununterbrochene Winternacht von hundert Tagen hin. Eine Fülle folder Be- 
weiſe aus dem Opferritual und den Mythen bringt Tilak zuſammen, und es iſt 
kein Widerſpruch, wenn die Winternacht einmal nur einige Tage, dann zwei, dann 
über drei Monate dauert; alle dieſe Varianten kommen mit der Annäherung an 
den Nordpol in der Natur vor. Außer dem Veda, der Bibel der Inder, ſchöpft Tilak 
feine Beweiſe auch aus bem Aveſta, der Bibel der alten Perſer. Er weiſt nach, 
daß von den ſechzehn Ländern, die nacheinander die Heimat der Arier waren, 
weil jedesmal der böſe Geiſt ſeine Plagen über das neu beſiedelte Gebiet ſandte, 
das erſte Land, das Arierparadies, am Nordpol zu ſuchen ſei: denn jetzt ſolle dort 
zehn Monate lang Winter und nur zwei Monate Sommer herrſchen, während vor 
der Verſchneiung und Vereiſung dieſes Landes durch die Tücke des böſen Geiſtes 
das Arierparadies ein ſchönes Land mit vermutlich zehn Monaten Sommer und 
zwei Monaten Winter war. Dieſe Charakteriſierung paßt nur auf den Nordpol, 
und wir ſahen oben, daß auch Sonne und Sterne dort nur einmal im Fahr auf- 
und untergingen. Im Lichte der Polarhypotheſe geleſen erweiſt ſich ſogar eine 
Stelle des Aveſta als eine Erinnerung an den Hereinbruch der Eiszeit, die die 
Arier zur Südwanderung zwang. Während alſo früher es als auffällig vermerkt 
wurde, daß kein Bericht über die Eiszeit ſich in der Überlieferung der Menſchheit 
erhalten habe, hat man von jetzt ab die von Tilak in das rechte Licht gerüdte Stelle 
des Aveſta als die einzige Erinnerung an die Eiszeit zu betrachten. 

Wem unſre äußerft knappe Darlegung eines kleinen Bruchteiles des vor- 
handenen Beweismateriales nicht genügt, der wolle nicht vergeſſen, daß man nicht 
auf wenigen Druckſeiten den Inhalt von mehreren Hunderten von Oruckſeiten in 
lesbarer Form zuſammenfaſſen kann. Daß die Arier oder Indogermanen und 


360 Biedenfapp: Lag bas Paradies am Nordpol? 


vielleicht die Ahnen aller Kulturvölker einmal am Nordpol gewohnt haben, ſcheint 
mir erwieſen. Unter dieſer Vorausſetzung verſteht man auch die hohe Entwicklung 
der Aſtronomie und der Geftirnreligion bei Agyptern und Babyloniern am beiten. 
Denken wir uns die Kulturträger dieſer Völker als vom Nordpol gekommen, ſo 
mußten ihre Prieſter und Weiſen, nachdem ſie am Pol die Himmelserſcheinungen 
in ſonſt nirgends vorhandener Ebenmäßigkeit und Ganzheit der Kreiſe während 
einer monatelangen Nacht zu beobachten Gelegenheit hatten, bei ihrer Süd- 
wanderung nun allmählich das Schiefwerden der Weltachſe und das Hinabſinken 
des Himmelspols wahrnehmen. Auch auf die Erfindung des Rades und auf den 
naturwidrig ſchlechten Ruf der großen Schlangen fällt durch die Polarhypotheſe 
erhellendes Licht. Die oft ſchlangenhaft über den Himmel der Polarnacht fic 
ringelnden elektriſchen Lichterſcheinungen, die gewiſſermaßen über die wochenlang 
unter dem Horizont weilende, dort gefangen gehaltene Sonne triumphierten, 
mögen wohl den Anlaß zur Erdichtung des ſchlangenhaften Dämons der Finſternis 
gegeben haben, der die Sonne und das Tageslicht gefangen hält und deffen Be- 
ſiegung durch Gott Indra erfolgen muß, ehe es wieder dämmert und Tag wird: 
die Polarlichter verſchwinden natürlich mit dem Hellewerden. 

Iſt es aber zum Beiſpiel denkbar, daß fich Überlieferungen oder Erinnerungs- 
ſpuren von dem Nordpolparadies ſollten 6 bis 10 Tauſende von Jahren erhalten 
haben? Ganz gewiß, denn die indiſchen Brahmanen haben Verſe und Proſatexte, 
die zuſammen den mehrfachen Umfang der Bibel hatten, erweislich nur durch 
Gedächtniskunſt die letzten 3000 Jahre hindurch Wort für Wort bis auf unfre Zeit 
überliefert. Was 3000 Jahre jid) erhielt, davon kann ein Hundertſtel auch ſechs- oder 
zehntauſend Sabre alt fein. Und wenn man fragt, warum behielten die Inder und 
Sraner etwas von der zertrümmerten Polarkultur, und warum nicht die Germanen, 
die doch auch da oben gewohnt haben müſſen — dann iſt zu antworten, erſtens, 
daß erwieſenermaßen die Germanen vor 4000 Fahren (don ein Kulturvolk waren, 
und zweitens, daß ja nicht alle auf die Südwanderung getriebenen Stämme von 
gleichem Glück begünſtigt waren. Doch knappe Beantwortungen ſind vielleicht 
ſchlimmer als gar keine. Faſſen wir uns alfo dahin zuſammen, daß ein beträcht— 
liches Beweismaterial erbracht worden iſt, kraft deſſen das Paradies, die Wiege 
der Kulturmenſchheit, am Nordpol zu ſuchen iſt, in einer Zeit natürlich, die dem 
Glanze babyloniſcher und ägypptiſcher Herrlichkeit um Jahrtauſende voraufgeht. 
Die Gage von Phaethon, das Märchen von Rotkäppchen, bie Moſeslegende und 
viele andere Mythen und altheidniſche Gebräuche erhalten von der Polarhypotheſe 
neues Licht. 


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Die Kinder des Sebatian € Grün 
| Novelle von Hero Max 


1. 

hn einer halbdunklen, leeren, abgelegenen Kammer des kleinen Hauſes 
EN batte man die Leiche der Meiftersfrau aufgebahrt. Einige Sonnen- 
lichter ſuchten Einlaß durch das grüne Weinlaub des hochgelegenen 
vergitterten Fenſters in die abgeſchloſſene Stille des länglichen 
Raumes. Zu Häupten der Toten brannten zwei Kerzen, und ſchufen ein be— 
engendes Zwielicht. Ein ſchlichtes braunes Sterbekreuz hielt ſie in den ſchmalen 
verſchränkten Händen. 

Das glattgeſcheitelte ſchwarze Haar über dem feinzügigen Geſicht, in das 
ein ſtilles Leiden ſeine Linien eingegraben hatte, gaben der Verblichenen, mit 
dem dunklen Kleid, das man ihr angezogen, etwas Puritaniſches, Nonnenhaftes. 

Verſtärkt wurde dieſer Eindruck durch einen gewiſſen Zug um den ftridy- 
haften Mund, dem man es anſah, daß er im Leben wenig oder gar nicht gelacht hatte. 

Die Augenlider, über die der verirrte Sonnenflimmer ſuchend hinglitt, 
warfen ſo tiefe Schatten auf die Wangen, daß man einen Augenblick glauben 
konnte, es ſickerten Tränen unter den Wimpern hervor. 

Es war ſo ſtill in der Kammer, daß das Brummen der großen braunen 
Hummel, die man bier mit eingeſperrt batte und die nirgends mehr einen Aus- 
gang. fand, ſo mächtig klang, wie das Brauſen eines Orgelſpiels. 

Aber die Nerven der Toten ſtörte das nicht mehr. 

l Nach einer Weile ging die einzige Tür der ſtillen Rammer auf, und Buch- 
bindermeiſter Sebaſtian Grün trat herein. 
b+ Sein langes Geſicht mit dem dunklen Spitzbart, der ihm etwas Leidensvolles, 
Chriſtusähnliches gab, war kaum belebter als das der im Sarg Ruhenden. 

Er kam, um den letzten Abſchied zu nehmen von der Toten. Denn vor der 
Tür warteten (don die Männer, die den Sarg ſchließen und forttragen ſollten. 

Mit dem Meiſter traten die drei älteſten ſeiner vier Kinder herein. 

Marie, die zehnjährige, die eine große Ahnlichkeit mit der toten Mutter 
beſaß, weinte ſo herzbrechend in ihr Taſchentuch, als könnte ſie nie wieder Troſt 
finden in ihrem faſſungsloſen Schmerz. 

Sie hatte unter den dreien das tiefſte Verſtändnis für den großen Verluſt, 
den ihre Kindheit durch den Heimgang der Mutter erlitt. 


362 Max: Die Rinder des Sebaſtian Grün 


Der achtjährige Frieder hielt die Hand feines Vaters feſt gefaßt, blickte mehr 
zu deffen Geſicht hinauf, als auf das der toten Mutter, die ihm ſeltſam fremd er- 
ſchien in dieſer feierlichen Aufſtellung. Und weil er den Vater nicht weinen fab, 
hielt auch er ſich ſtandhaft zuſammen. 

Die ſechsjährige Eveline hatte ihre Hand in das ſchwarze Trauerkleidchen 
ihrer größeren Schweſter eingekrallt. Auf ihrem blonden Sonnenſcheingeſichtchen 
lag der Schatten der Beängſtigung über all das Seltſame und Fremde, das mit 
dem plötzlichen Sterben der Mutter in die Ruhe des Hauſes gekommen war. 

Noch fehlte es ihr an Verſtändnis und Weitſichtigkeit, ſich in die trüben 
Folgen des Geſchehniſſes hineinzudenken. Auch war ihr leichtes Vogelherz nicht 
für das Verweilen im Schmerz geſchaffen. Ihr Sinn glitt über die Trauer, in die 
fie die andern verſenkt (ab, taftend hin, wie der grüngoldene flimmernde Sonnen- 
ſtrahl vom Fenſter über das ſtarre Geſicht der Leiche. Eine gewiſſe Neugierde an 
den äußeren Geſchehniſſen miſchte ſich in ihre Empfindungen. 


2. 

Als der Meiſter eine Weile vor der lebloſen Hülle ſeines Weibes geſtanden, 
öffnete ſich die Tür noch einmal. 

Eine kräftige Frauengeſtalt trat herein mit munteren, dunklen, jetzt von tiefer 
Teilnahme verſchleierten Augen. 

Ein friſcher Luftſtrom des tätigen Lebens wehte mit ihr in die Kammer. 

Ihr von Trauer gedämpfter Blick ſtreifte das Geſicht des Meiſters, das in 
ſtummem Schmerz verſteinert ſchien. 

Ein Wille, zu tröſten und zu helfen, ging von ihr aus. 

Eliſe war bie Jugendfreundin der Toten. Eine jener ſelbſtändigen Frauen, 
die ſich ihr eigenes Leben mit ſtarker Hand bauen, und, mehr tätig wie leidend, 
ſich ihr Schickſal ſelber geſtalten. 

Eliſe und Marie hatten (id) ſchon in der Schulzeit gewiſſermaßen ergänzt. 
Dann traf ihr Leben auf einen Kreuzweg, der ſie beide ſchied. 

Marie ging die Straße der Anlehnungsbedürftigen, die in der Ehe ihr Ich 
hinzugeben ſich ſehnen. Sie nahm den Buchbindermeiſter Sebaſtian Grün zum Mann. 

Eliſe ſchritt kühn den Weg der freien Berufstätigkeit. Sie fand Genüge 
in dem ſelbſtgewählten Fach als Reformſchneiderin, deren Atelier bald bekannt 
und geſucht wurde. 

Die Eheleiden der Freundin blieben ihr erſpart. Aber auch deren kleine 
Lebensfreuden blieben ihr verſchloſſen. Als eine perſönlich Unbeteiligte nur er- 
lebte fie mit, was Marie traf, Glück und Leid, Kinderfreuden und -forgen. 

Sie ſtand, als Hausfreundin, auch in dieſen ſchweren Tagen dem verwaiſten 
Hauſe treulich helfend bei. 

Auf ihrem Arm trug ſie das jüngſte Kind der Verſtorbenen in die Kammer 
herein. Ein prächtiges Bürſchchen von anderthalb Jahren. 

Einige Minuten ſtanden ſie alle ſtumm in dem dämmerigen Raum. Dann 
ſcheuchte der Brummer ſich wieder auf, umflog die brennenden Kerzen und ſtieß 
gegen das vergitterte Fenſter, wie eine Seele, die ſtürmiſch nach Freiheit verlangt. 


Max: Die Rinder des Sebaſtian Grün 365 


Der kleine Jörg bog ſich aus dem Arm, der ihn hielt, herab. Als er gewahrte, 
daß die Sonnenflimmer im Lufthauch wie große gelbe Blumen über die Stirn der 
Mutter ſpielten und zitterten, ſtieß er ein Zubelgefchrei aus und langte mit beiden 
Händen nach dem Licht. 

Der Blutſtrom der Toten rauſchte in dem kleinen Herzen, das unter dem 
nun ſtille ſtehenden entſtanden war, weiter, in ungeminderter Kraft. Das Jauchzen 
des kleinen Burſchen ſchwebte wie ein ſieghaftes Zungadlergefchrei des Lebens 
über dem Räuber Tod. 

Die ſtarre Trauer ſchien durchbrochen. Die Tränen der kleinen Marie ſtockten. 
Eliſe und der Meifter ſahen fic ergriffen in die Augen. 

Nur einige Flügelſchläge lang herrſchte der Triumph. 

Der Brummer hatte am Gitter einen Ausweg in die Freiheit gefunden. Der 
verirrte Sonnenflimmer verließ die Stirn der Toten und zog ſich hinter die graue 
Mauer zurück. Die letzten Grüße des äußeren Lebens waren verſtummt, erloſchen. 

In die Tür traten die ſchwarzen, unheimlichen Geſtalten, die die entſchlafene 
Mutter forttrugen in die ewige Finſternis. 


P od 


o. 

Tag für Tag ſchaffte ber Meiſter in feiner Heinen Werkſtatt mit Rleifter- 
unb Farbentopf, Goldarabeskenſtift unb Preſſe. Mancher individuelle Runft- 
einband entſtand unter feinen geſchickten Händen. 

Nicht nur der Menſch, ſo dachte er, verlangt nach ſeiner Eigenart gekleidet 
zu ſein. Bücher wollen ebenſo behandelt werden. 

Eine andere Hülle verlangt ein Bändchen maiengrüner Lyrik, wie ein diogenes- 
graues Buch voll philoſophiſcher Eſſays. Eine kirchenpolitiſche Streitbroſchüre 
nimmt ſich vielleicht in einem braunen Kapuzinermantel gut aus, während ein 
modernes Drama, je nachdem, das farblofe Weiß mit Goldverzierung oder einen 
mit den feurigen Flammen des Inferno überloderten Einband bedingt. 

Anders will ein Buch voll naiver Märchen als ein frivoler franzöſiſcher 
Roman behandelt werden. 

Sieht man nicht den verſchiedenen Ständen unter den Menſchen ihre Stellung 
ſchon an dem charakteriſtiſchen Exterieur der Kleidung ab? Nicht ſchon etwas vom 
inneren Charakter und Weſen? Den Künſtler, den Beamten, den Bauer, den 
Sozen, den Stutzer — erkennt man ſie nicht daran, wie den Vogel an den Federn? 

Der ſchöpferiſch denkende Buchbinder muß ein nicht minder ſpezialiſierender 
Kleiderkünſtler ſein. Er ſchafft den geiſtigen Individualitäten ihre wandelbare 
Schlangenhaut. Vom ſilberbeſchlagenen antiken Schweinsleder bis zum ſchillernden 
bemalten Seidenſtoff, vom roten Saffian bis zum nelkenbunten Glanzpapier; 
in taufend Nuancen, Farbenharmonien unb -disharmonien, und auf Kleiſterpapier 
phantaſievoll hingezauberten Muſtern, fertigt er ihre künſtleriſchen Gewänder an. 

Ein Streichholz, ein Fingerhut, eine Bürſte, die Ecke irgend eines Schachtel 
deckels und ſo fort, die unſcheinbarſten und unwahrſcheinlichſten Dinge, müſſen 
feiner erfinderiſchen Phantaſie dienen, Muſter und Formen auf dem mit Farben- 
kleiſter überſtrichenen Umfchlagpapier hervorzubringen. 


564 Max: Ole Rinder des Sedaftian Grün 


Se feiner ber Wein, je künſtleriſch wertvoller muß das Glas fein, aus dem 
man ihn ſchlüͤrft. 

Anders wird uns zumute, wenn wir den ſchweren Flügel einer geſchnitzten 
Kirchentür zurückſchlagen, als wenn wir die leichte Rokokoſchließe eines Pavillons 
aufdrücken. Die äußere Bauart gibt uns einen leiſen präludierenden Vorgeſchmack 
deſſen, was wir im Innern zu erwarten haben. 

And dann die Vorſatzpapiere, bie gewiſſermaßen das Vorzimmer, die Vor- 
hallen des Hauſes bilden, wo wir erſt einen Augenblick zaudern, ehe wir ganz 
eintreten. Eine wie unendliche Fülle von künſtleriſch individualiſierenden Ver- 
ſchiedenheiten ſchließen ſie ein. 

Die Vorhalle einer Bibel foll uns etwas von der weihevollen Kirchen- 
ſtimmung vermitteln. Das Vorhöfchen eines Narrenſpiegels ſoll ſchon Luſtiges 
ahnen laſſen. Und in der modernen Diele eines Geſellſchaftsromans ſoll es uns 
je nachdem behaglich und gemütlich, oder pikant und ſpannend auf die Bewohner 
des Hauſes und ihre ſeltſamen Schickſale, anwehen. 


4. 

Tag für Tag ſaß der Meiſter in ſolche und ähnliche Gedanken vertieft unter 
feinen Gebilden, die er liebte wie eigene Kinder, die man, ungewiß ihres Schid- 
ſals, wohlausgerüſtet hinausſchickt in die Fremde. Von denen man nicht wußte, 
ob ſie in zartbeſaitete Hände kommen würden oder in Barbarenfäuſte fallen. 

Immer feinſinniger ſtattete er ſie aus. 

Aus dem myſtiſchen grauen Vorhang von Hofmannstals Tor und Tod 
ließ er den Tod ſchauen, der über der Stirn einen weißverblätternden Roſenkranz 
trug. Aus Nüderts Liebesfrühling ließ er duftige ſilberne Märzkätzchen ſprießen. 
Auf der blauen Samtdecke eines modernen Breviers ſtand in Golddruck das Stern- 
bild des Orion. 

Seit dem Tode ſeiner Frau fing der Meiſter an, ſich mehr und mehr in die 
Seele dieſer ſtillen Kinder zu verſenken. 

Zuerſt tat er es, um feinen Schmerz über den Verluſt der Gattin zu be- 
täuben. Und dann aus Luſt an der Lektüre ſelbſt. Kein intereſſantes Werk 
belletriſtiſcher Natur kam mehr in feine Hände, das er nicht in den Mittags- 
oder Abendſtunden verſchlang. Tiefgebeugt ſaß er darüber, oft bis in die tiefe 
Nacht. Und es kam vor, daß ihn die Morgendämmerung über dem Schluß der 
Buddenbrocks überraſchte. Das alltägliche Außenleben trat ihm dagegen immer 
mehr zurück. Es war, als habe fein totes Weib alles FIntereſſe daran mit ins 
Grab genommen. 

So kam es, daß Sebaſtian Grün auch ſeiner vier lebendigen Kinder gar oft 
vergaß. Sie wuchſen auf, wie ſie wollten. Er überließ ſie ausnahmslos der Obhut 
einer alten halbtauben Verwandten, der Baſe Babette, die ſeit Frau Mariens 
Tod im Haufe fchaltete. 

Eliſe zeigte ſich nur ſelten noch, ſeit er Witwer geworden war. Ihr eigener 
Beruf nahm ſie immer mehr in Anſpruch. 

So ging alles ſeinen eigenen Gang in dem kleinen Haufe. 


Max: Die Rinder des Gebaftian Grün 365 


Zweimal ſchon hatte der Apfelbaum, der ſeine Zweige gegen die Mauer 
neben der Werkſtatt drängte, geblüht, rotbackige Apfel getragen und ſein Laub 
abgeſchüͤttelt. 

Der Geſelle, der neben dem Meiſter arbeitete, pfiff, je nachdem, feine Früh- 
lings-, Sommer- und Herbſtlieder. Er war ein luſtiges Blut. Aber bes Meifters 
oft mit hypochondriſchem Trübſinn gemiſchte Weltverlorenheit wollte nicht weichen. 
And ſeine troſtloſe Einſilbigkeit. Sein ohnehin nie friſches Geſicht nahm einen 
gelben, kränklichen Ton an. 

Die drei Alteſten betrachteten den Vater oftmals während des Eſſens von 
der Seite. Sie waren ſcheu geworden ihm gegenüber, und ſprachen nur unter- 
einander manchmal heimlich über ſein verändertes Weſen. 

„Mutter fehlt ihm“, ſagte dann Marie altklug zu den beiden Geſchwiſtern, 
wenn dieſe immer wieder fragen konnten: „Was hat Vater nur?“ | 

Am wenigjten, ja gar nichts machte fid) der kleine Jörg daraus, deffen Jubel- 
geſchrei am Sarg der Mutter über den Tod triumphiert hatte, der nun ſchon 
wacker in Garten und Haus herumlief und das Leben einſtweilen nur von der 
genußreichen und ſpieleriſchen Seite auffaßte. 


5. 


Der Winter war ins Land gezogen. Ein lauer Winter, ohne Schnee und 
ſtarken Froſt, ber eine grüne Weihnacht vorahnen ließ. 

Seit der Mutter Tod war das Chriſtkind zweimal über die Dächer der Stadt 
geflogen. 

Auch diesmal tüjteten fid) die Kinder Sebaſtian Grüns, wie in den vergange- 
nen Jahren, am Frühnachmittag des Heiligabends zum Gang auf den Friedhof 
an der Mutter Grab. Das war ihnen ein Akt größter Wichtigkeit geworden, die 
Mutter am Heiligabend beſuchen. 

Die alte Babette hatte einen ſchwarzweißen Perlenkranz und einen grünen 
Tannenkranz mit Papierroſen beſorgt, und überdies hatte Evelinchen darauf be- 
ſtanden, daß diesmal noch ein kleines Tannenbäumchen dabei ſein mußte, mit 
Kerzen von einem Wachsſtock daran, wie ſie es auf den andern Gräbern geſehen 
hatten. 

Der Friedhofsbeſuch erhielt diesmal noch ein beſonderes Gewicht. Der 
kleine Jörg durfte zum erſtenmal mitgehen. Weil fie aber feinen kaum dreijährigen 
Beinchen noch nicht eine ſolche Strapaze zutrauten, denn der baumumwachſene 
Friedhof lag entfernt vor der Stadt, ſo ſetzten ihn die Schweſtern zuunterſt in ihren 
größeren Puppenleiterwagen, den er gerade ausfüllte. 

Die beiden Kränze legten fie über ihn her und das lichtergeſchmückte Tannen- 
bäumchen mußte er in den Arm nehmen. 

Gar friſch und lebensluſtig ſchaute der kleine Kerl in ſeiner feuerroten Woll- 
kappe mit der Faſanenfeder unter den zwei Totenkränzen herauf. Denn es diintte 
ihm noch alles ein Vergnügen, was in der Welt potging. 

Unter den Ermahnungen der alten Babette, die Haushaltungsgeſchäfte 


366 Max: Die Rinder bes Sebaftian Grün 


zu Haufe guriidbielten, fette fid) das Heine Gefährt in Bewegung, Marie und 
Frieder zogen. Evelinchen lief hinterdrein. 

Wo ſie jemand begegneten in den ſtilleren Außenſtraßen, blieben die Leute 
ein wenig ſtehen und blickten ihnen voll Humor oder voll Rührung nach. 


6. 
Endlich waren fie an dem Ziel ihrer Wanderung angelangt und fuhren 
durch die ſchwarzeiſerne Eingangspforte hinein. 

Viele Gräber ſtanden ſchon im Schmuck treuer Erinnerungen. Manche 
lagen kahl und vergeſſen an der Mauer, mit verroſteten Kreuzen und geborſtenen 
Steinen. 

Der Totengräber ſtand an der Seite des Mittelweges und ſchaufelte neben 
einem großen Monument ein herrſchaftliches Grab aus. Er wollte fie zurecht 
weiſen. Aber ſie dankten freundlich, ſie wußten ihren Weg. 

Das Grab der Mutter lag an einem der ſchmäleren Seitenwege, die ſtill 
und beſcheiden waren. 

Als ſie dort halt machten, bückte ſich Marie erſt und las einige verwelkte 
Blätter, die die Eſche noch abgeworfen hatte, vom Efeu des Grabes ab. Dann 
befreiten fie Jörg von den Kränzen. Den ſchwarzweißen Perlenkranz lehnten 
lie an das gußeiſerne Kreuz an. Den Tannenkranz mit den roten Papierroſen 
legten ſie zu Füßen nieder. Das Tannenbäumchen pflanzten ſie mit einiger Mühe 
mitten aufs Grab. Jörg kletterte aus dem Wägelchen heraus und wollte mit- 
helfen. Aber ſie wehrten ihm und hießen ihn abſeits ſtehen. Als das Bäumchen 
endlich feſt und gerade mitten im Efeu aufragte, zog Frieder die Streichhölzer 
aus ſeiner Hoſentaſche und zündete die kleinen Wachsendchen an. 

Bald brannten alle Kerzchen mit freundlichem weihnachtlichen Funkeln. 

Feierlich faßten die Kinder ſich an den Händen und ſtanden davor. 

„Nun weiß Mutter auch, daß Weihnacht iſt“, ſagte Marie endlich mit einem 
Würgen in der Stimme. 

„Sie liegt ja unten im Grab und kann es nicht ſehen“, entgegnete Frieder. 

„Sie ſieht es vom Himmel“, berichtigte ihn Eveline, die noch nicht ſkeptiſch war. 

„Wir wollen Mutter ein Weihnachtslied ſingen“, ſagte wieder Marie. 

Und Frieder: „Aber welches?“ 

Evelinchen rief: „O du fröhliche, o du ſelige“ wollen wir fingen!“ 

„O du fröhliche“ iſt aber kein Lied für den Friedhof,“ kritiſierte Frieder, 
„es muß etwas Ernſtes ſein.“ 

„Ja, ja,“ gab ihm Marie recht, „etwas Ernſtes.“ 

„Aber Weihnachten iſt doch ein frohes Feſt. Alle Menſchen freuen ſich. 
Warum ſoll Mutter ſich nicht freuen dürfen dazu?“ rief Evelinchen in ihrer leb- 
haften, durchdringenden Art. 

Dagegen wußten die andern nichts Schickliches und Bedenkliches vorzubringen. 

So wurden ſie nach einigem Zögern einig, daß ſie der toten Mutter im 
Grab das Lied „O du fröhliche, o du felige, gnadenbringende Weihnachtszeit“ 
ſingen wollten. 


Max: Die Rinder des Sebaſtian Grün 367 


1. 

Hell unb friſch klangen die Stimmen der Kinder durch bie nebelfeuchte Luft 
über die ſtillen Gräber hin. 

„Freue dich, freue dich, o Chriſtenheit!“ klang es weich und herrlich aus. 

Die Lichtſtümpchen waren herabgebrannt. Noch ſtanden die Kinder. 

„Ob es Mutter gefreut hat?“ fragte endlich Evelinchen leiſe. 

And Frieder ſagte: „Es iſt doch traurig, daß ſie nie wiederkommen kann.“ 

Und Evelinchen: „Und daß wir keine Mutter im Hauſe haben.“ 

Und Frieder: „Ja, auch keine andere, wie Konditor Küchlers Rinder.“ 

„Eine andere?“ ſtieß Marie erſchrocken hervor. 

„Ja, weil dieſe doch nie wiederkommt.“ 

„Eine andere —“ machte Marie noch einmal, als ſuche ſie einen innern 
Halt für dieſes ſchwerwiegende, auf und ab ſchwankende Vort. | 

Frieder stellte es feft: 

„Eine, bie bei uns bleibt, und die für Vater forgt.“ 

„Ja, Vater ſieht fo krank und traurig aus, feit keine Mutter mehr im Haufe 
ift,“ mit dieſen Worten trat nun auch Evelinchen für die Idee von Frieder auf, 
„er lacht nie mehr, und andere Kinder haben ſo luſtige Papas, die mit ihnen 
ſpazieren gehen.“ 

Die traurigen Verhältniſſe zu Hauſe leuchteten auch Marie ein. 

„Aber wo ſollen wir eine neue Mutter herbekommen?“ fragte ſie endlich 
nachdenklich. 

„Vater wird ſich darum nicht kümmern können, er hat zu viel zu ſchaffen“, 
gab Frieder zu bedenken. 

„Wir müſſen uns ſelber eine ſuchen,“ ſtieß Evelinchen hervor, „und eine 
gute, ſchöne!“ 

„Schön braucht fie nicht zu fein, nur gut“, bemerkte Frieder. 

„Ja, aber woher eine bekommen?“ fragte Marie wieder die Geſchwiſter. 

„Wir wollen Tante Eliſe um Rat fragen, die kennt viele Leute.“ 

Aber über Evelinchen kam bei dieſem Ausweg Frieders eine helle Ein- 
gebung. 

„Können wir ſie denn nicht ſelber fragen, ob ſie es werden will?“ 

„Tante Eliſe?“ machte Marie erſtaunt, die ſelbſt nie an dieſe gedacht hätte. 

„Sie war doch Mutters Freundin —“ 

„Aber ſie wird nicht wollen und hat keine Zeit dazu. Sie muß Kleider machen 
für vornehme Leute. Sie macht ſchöne Kleider aus Samt, Seide und Spitzen“, 
erklärte Marie. , 

„Wir brauchen fie ja nur zu fragen“, entſchied Frieder mit einem Ton von 
Beſtimmtheit, der alle Bedenken der Schweſtern aus dem Felde ſchlug. 

„Wir wollen ſie gleich fragen,“ jubelte Evelinchen mit der ganzen Fröhlichkeit 
eines friſchen Entſchluſſes, „wir wollen gleich zu ihr hingehen!“ 

Marte ſtimmte zu. Die drei waren einig. Nun galt es noch die Zuſtimmung 
des kleinſten Bruders zu erhalten, den ſie doch nicht übergehen mochten bei einer 
ſo wichtigen Sache. 


308 Max: Die Rinder des Sebaſtian Grün 


Sie wandten (id) zu Jörg, der jid, unbekümmert um die Beratung, damit 
beſchäftigte, herumliegende Steine in feine rote Wollkappe mit der Faſanenfeder 
zu ſammeln und auf einen Haufen zuſammenzutragen. Sie nahmen ihn in ihre 
Mitte. 

„Jörgle,“ begann dann Marie ſchmeichelnd, „möchteſt du wohl wieder eine 
neue Mutter zu Hauſe haben?“ 

„Eine, die dir bald neue Hoſen ſtatt deinem Kittel macht“, fügte Frieder hinzu. 

„Und die dir manchmal Schokolädle und Gutsle gibt“, bekräftigte Evelinchen 
die Verlockungen. 

Jörg ſchaute mit verlangenden Blicken um ſich und ſagte nur: 

„Mutter, Schokolade haben!“ 

Das war genug der Beſtätigung für die Geſchwiſter. 

Sie ſtülpten ihm feine rote Wollmütze mit der Faſanenfeder wieder auf 
die braunen Härchen, ſetzten ihn in das Wägelchen zurück und verließen das Grab 
der toten Mutter, wo ſie einen ſo inhaltsſchweren Beſchluß gefaßt hatten. 

Sie fuhren nach der Stadt, der Wohnung von Eliſe zu. 


8. 

Die Laternen brannten ſchon in der frühen Abenddämmerung, als Frieder 
die Schelle an Eliſens Glastüre zog. 

Die Kunſtſchneiderin war nicht wenig erſtaunt und erſchrocken, als ſie die 
vier in dem halbdunkeln Korridor vor ſich erblickte. 

„Sit etwas paſſiert?“ fragte fie ihnen entgegen. 

„Nein,“ antwortete Frieder, den die Schweſtern zum Sprecher ausgewählt 
hatten, und drehte ſeine Pelzmütze in der Hand, „wir wollen dich nur etwas ſehr 
Wichtiges fragen.“ 

„So kommt herein ins Zimmer!“ 

„Aber wir wollen allein mit dir reden, da, wo die Lehrmädchen es nicht 
hören.“ 

„Nun, ſo kommt ins Probierzimmer, das iſt gerade leer.“ 

Nun ſtanden die vier vor ihr mit ihrem ſchweren Anliegen. 

Frieder ergriff wieder das Wort: 

„Tante Eliſe, könnteſt du wohl von jetzt an keine Kleider mehr für vornehme 
Leute machen, von Samt und Seide und Spitzen?“ 

„Was meinſt du, Frieder?“ 

„Wir meinen, ob du aus deinem Hauſe fortgehen könnteſt und ganz zu uns 
ins Haus ziehen.“ 

„Zu euch ins Haus? Ja, aber Frieder —“ 

„Als unſere neue Mutter!“ riefen nun die drei uniſono. 

Und Zorg, ber fih bei dem Worte an das verlockende ſüße Verſprechen er- 
innerte, lallte wie ein Echo hinterher: 

„Mutter, Schokolade haben!“ 

Eliſe ſtand, mit einer widerſtreitenden Verlegenheit und Verwunderung 
kämpfend. 


Max: Die Rinder des Sebaſtian Grün 369 


„Aber ich verſtehe das alles nicht, Rinder. Weiß euer Vater, daß ihr bier 
bei mir ſeid? Wer hat euch geſchickt?“ 

„Niemand“, beteuerte nun Frieder kräftig, „wir kommen von allein, um 
dich das zu fragen.“ 

Marie vervollſtändigte feine Antwort: 

„Wir haben es unter uns ausgemacht am Grab der Mutter, wo wir eben 
geweſen ſind.“ 

„Und weil es bei uns zu Hauſe immer ſo traurig iſt, ohne Mutter!“ klagte 
Evelinchen. 

Eliſe ſtand gerührt, ja erſchüttert. 

„Und euer Vater weiß gar nichts davon?“ 

„Gar nichts. Er hat zu viel Arbeit und hat uns nicht mehr lieb. Aber wir wollen 
lieb gehabt fein von jemand!“ Es klang trotzig und herausfordernd aus Frieders Mund. 

And Jörg wiederholte noch einmal eindringlicher: 

„Mutter Schokolade haben!“ 

Die Bedrängte fand, daß ſie in der ſeltſamſten und ſchwierigſten Lage ſei, 
in der je eine Frau ſich befunden, der der Mann, um den es ſich handelte, nie 
Anlaß zu ſolchen Gedanken gegeben. 

Das nächſte, was fie tat, war, daß fie wortlos einen eichenen Eckſchrank auf- 
ſchloß und jedem der vier Kinder Sebaſtian Grüns ein Stück Schokolade gab. 

Vielleicht hoffte ſie damit die weiteren Wünſche von ſich abzulenken. 


9. 
Die Kinder ſchmauſten ſchweigend. 
Wenn Eliſe aber geglaubt hatte, ihre Wünſche damit befriedigt zu haben, 

ſo irrte ſie. 

Nachdem die Schokolade verzehrt war, fing Frieder, von den Schweſtern 
durch heimliches Puffen dazu ermuntert, alsbald wieder an: 

„Tante Eliſe —“ 

„Ja?“ 

„Möchteſt du uns nicht nun eine Antwort geben?“ 

„Oder ſelber gleich mitkommen?“ 

„Es iſt ja Weihnachtsfeſt heute!“ bat Evelinchen ſchmeichelnd. 

„Oder du könnteſt uns, wenn du ſelbſt nicht Mutter bei uns werden willſt, 
jemand anders angeben, den wir fragen könnten“, mahnte der praktiſche Frieder. 

Eliſe beſann ſich eine Weile auf einen Ausweg aus der ſeltſamen Lage. 

„Ich will euch wohl nach Hauſe bringen, denn es iſt faſt Nacht geworden, 
und ihr könnt nicht mehr allein gehen. Aber — euere Fragen kann ich heute nicht 
beantworten. Wir wollen die Sache einſtweilen ſchön unter uns behalten und 
niemand etwas davon ſagen. Auch Vater nicht. Wollt ihr mir das feſt verſprechen?“ 

Sie verſprachen es, mit einem bekräftigenden Eid und gaben ſich einſtweilen 
zufrieden. 

Sie waren ſo glücklich, daß die Gefragte ſie nicht gleich ganz abwies. 

Sie hatten nun ein Geheimnis mit Tante Eliſe. 

Der Türmer XV, 3 25 


370 Max: Die Rinder des Sebaftian Grün 


10. 

Schon einige Stunden brannten an dein frühdunklen Abend die Gasflammen 
in ber Werkſtatt des Meiſters. Den Gefellen batte er [don entlaſſen. Die Haupt- 
arbeit war bewältigt und abgeliefert. Er allein baftelte noch an einigen diffizilen 
Liebhabereinbänden herum. 

Über einen beſonders konnte er ſich nicht einig werden. Er follte in die 
Hände eines ganz beſonders verwöhnten Bücherfreundes kommen, der nur Original- 
einbände in ſeiner kleinen ausgewählten Bibliothek aufſtellte. Die Ausführung 
hatte er dem bewährten, gediegenen Sinn des Meiſters überlaſſen. 

Es war ein Band Gottfried Kellers, um den es ſich diesmal handelte. Er 
enthielt das Sinngedicht und die Sieben Legenden. Seinen ganzen Vorrat an 
Muſtern batte Sebaſtian Grün ſchon durchgekramt, ohne fic) ſchlüſſig werden zu 
können. Etwas Neues wollte ihm juſt nicht einfallen. Zerſtreut blätterte er in 
dem Buche herum, als müſſe ihm irgend eine Idee aus den Zeilen aufſteigen. 
Oft ſchon war es ſo gekommen, daß ihm das Paſſende einfiel. 

Immer wieder kam er zu dem kleinen Gedicht Goethes zurück, das die 
Herzenskataſtrophe im Sinngedicht abſchließen hilft: 


Fühle, was dies Herz empfindet — ja empfindet, 
Reiche frei mir deine Hand, 

Und das Band, das uns verbindet — ja bindet, 
Sei kein ſchwaches Roſenband. 


Wie der Dichter die Goetheſche Strophe im Munde des ſächſelnden ped- 
drahtziehenden Schuſters zu köſtlichſtem Schelmenhumor verwandelt, verfehlte 
auch auf ihn ſeine erheiternde Wirkung nicht. Ein Lächeln huſchte um den ſtreng 
geſchloſſenen Mund des Meiſters, wie cin verirrter Sounenſtrahl, der durch Wein- 
laub fällt... $ Fi 

Da wurde die Tür zur Werkſtätte mit einem Rud geöffnet, und bie Baſe 
Babette erſchien auf der Schwelle. Unter dem dunklen Tuch, das ſie um den 
Kopf gebunden trug, fab ihr Geſicht mit der aufgeſtumpften Nafe noch käuzchen⸗ 
artiger hervor wie gewöhnlich. 

„Meiſter,“ fauchte ſie etwas aſthmatiſch heraus, „die Kinder ſind noch nicht 
zuruͤck!“ 

„Die Kinder?“ fragte er, wie aus fernem Traum zurückkehrend, etwas 
unſicher, und ſein ſchmales Geſicht mit dem dunklen Spitzbart, der ihm einen 
leidensvollen, chriſtusähnlichen Ausdruck gab, erſchien wieder lichtlos und blaß. 

„Sie werden wohl gehen und ſie ſuchen müſſen!“ 

„Suchen?“ 

„Ja. ZH ſelber bin noch nicht mit Reinemachen fertig und kann's unmöglich.“ 

„Aber ich verſtehe das nicht, Babett. Wohin ſind denn die Kinder?“ 

„Die Kinder ſind doch ſchon am frühen Nachmittag auf der Meiſterin ihr 
Grab — und ſind als noch nicht daheim. Alle vier, der Kleine mit.“ 

Sebaſtian Grün ſchnellte empor und ließ den Band Keller auf den Tiſch 
fallen. Wie ein Schatten huſchte der ſchmale Raum mit dem Sarg ſeiner Frau 


Max: Die Rinder bes Sebaſtian Grün 371 


an ihm vorüber, als der Heine Jörg die Sonnenlichter haſchen wollte, auf feiner 
toten Mutter Geſicht. 

Er griff nach ſeiner Mütze am Nagel und eilte wortlos hinaus ins Dunkel, 
wo die Laternen ſpärlich und ängſtlich flackerten in dem feuchtſchweren Dunſt. 

In planloſer Verwirrung ſchritt er weiter, zuerſt nicht wiſſend, nach welcher 
Richtung er ſich wenden ſollte. Der Weg dünkte ihm endlos lang. 

Bis an die Ecke der nächſten Straße kam er, dann ſchallte ihm ein fröhliches 
Geplapper entgegen. 

Von Frieder und Marie gezogen, von Eveline geleitet kam das Gefährt 
auf ihn zu, gefolgt von einer dunklen, hohen Frauengeſtalt, die wie der mütterliche 
Schutzengel hinter ihnen herſchritt, vor der er im erſten Grauen entſetzt zurückfuhr. 

Da beleuchtete das milde Licht eines Schaufenſters die Gruppe. 

Sein wildſchlagendes Herz beruhigte ſich. Er ſah, es war Eliſe, die ihm 
die Kinder zurüͤckbrachte. 

11. 

In der Seele Sebaſtian Grüns hatte ſich durch den ſchnellen heißen Schrecken 
und die unerwartete Erlöſung daraus etwas gelöſt, das jahrelang wie ein ſtarrer 
Bann um ſie gelegen. 

Was ſeit dem Tode ſeiner Frau nicht wieder geſchehen war, geſchah heute. 
Er blieb am Heiligabend im Kreis ſeiner Kinder am runden Tiſch ſitzen nach dem 
Abendbrot. Eliſe gegenüber, die auf ſeine Bitten hin dablieb. 

Sie, mit ihrer geſchickten und lebensgewandten Art, hatte ſchnell den rechten 
Ton in der allgemeinen Oiſſonanz gefunden. Bald war die Stimmung harmoniſch 
ausgeglichen und von einer gewiſſen behaglichen Wärme getragen, die von ihrem 
ſicheren, beſtimmten Weſen ausſtrömte. Vom Heiligabend freilich merkte man nichts. 
Es waren weder ein Baum noch Überrafhungen für die Kinder vorgeſehen. Der 
Meifter hatte im Drang der Arbeit nicht daran denken können. Und die viel- 
geplagte Babette war noch immer nicht mit dem Reinemachen zu Ende gelangt. 

Eliſe, die in ihrer bisherigen Einſamkeit eine ſolche Feier nicht mehr gewöhnt 
war unb fie kaum vermißte, beklagte es dennoch für die Kinder, daß fie fie ent- 
behren mußten. Der heimliche Gedanke dämmerte in ihr auf, daß das nicht wieder 
geſchehen dürfe. 

Die Kinder ſtanden an den dunklen Fenſtern des Nebenzimmers und lugten 
nach den gegenüberliegenden Gebäuden des Pferdemarktes, wo das kleine Haus 
lag. Wo ſich Baum um Baum entzündete hinter unverhüllten Scheiben. Ein 
Glitzern von Freude und Leben drang mit dem fröhlichen Lichtſchimmer auf die 
naſſe ſchwarze Straße heraus. Und hie und da ſtahl ſich der verlorene Klang eines 
Weihnachtsliedes durch das ſtiller werdende Geräuſch der Wagen und Fußgänger. 

Der Meifter war allein mit Eliſe am Tiſch unter der verſchleierten Hänge- 
lampe ſitzen geblieben, Er war aufgetaut. Er war, was ſonſt nie geſchah, fogar 
geſprächig geworden. 

Er erzählte von feinen Büchern, die er liebte wie Kinder, die man, ungewiß 
ihres Schickſals, wohlausgerüſtet hinausſchickt in die Fremde. Von denen man nicht 
wußte, ob fie in zartbeſaitete Hände kommen würden oder in Barbarenfäuſte fallen. 


572 Max: Ole Kinder bes Sebaſtian Grün 


Es war das erſtemal, daß der Meiſter mit einer Frau in fo vertrauens- 
voller Weiſe über ſeine Berufsarbeiten ſprach. Frau Marien gegenüber hatte 
er es nie getan. Es hatte bei ihm bisher für Mann und Weib nur ein getrenntes 
Arbeitsfeld gegeben, in das einer dem andern nicht hinübergreifen ſollte. 

In allen dieſen Dingen war immer eine abſolute Fremdheit zwiſchen ihm 
und Frau Marie geweſen, ohne daß er ihr die tieferen Gründe hätte klar machen 
oder jid) ſelbſt Rechenſchaft darüber hätte geben können. Es war das althergebrachte 
Verhältnis der Geſchlechter, das er ohne Kritik reſpektierte und nachlebte. 

Vielleicht war es die berufliche Selbſtändigkeit Eliſens, die ihn zu dieſer 
Vertrauensäußerung anregte; gewiß aber ſprach ein Glaube an ihr Zntereſſe 
und Verſtändnis mit. Auch die Dankbarkeit, daß gerade ſie es war, die ihm ſeine 
Kinder zurüdbrachte, war beteiligt dabei. 

Eliſe zeigte in der Tat viel kluges Eingehen bei den Erklärungen des Meifters. 
So, daß er ſchließlich aufſprang, in die Werkſtatt hinüberlief und das Buch, das 
ihm am Abend zuvor ſo viel Kopfzerbrechen gemacht, herbeiholte. 

Sie ſollte ihre Anſicht entwickeln, ſie, die in künſtleriſcher Bekleidung keine 
Unwiffende war. 

Dazu aber hätte ſie des Buches Inhalt kennen müſſen, der ihr unbekannt 
war, meinte ſie. Denn, ſo erklärte ſie, einer Lehrerin habe ſie noch nie ein Kleid 
im felben Stil verfertigt wie einer Künſtlerin, und fo fort. So ähnlich müffe es 
wohl auch mit Inhalt und Einband der Bücher fein. Ein Buch brauche ein Eigen- 
kleid, ſo gut wie der Menſch. 

Sebaſtian Grün freute fid) fo febr über dieſes raſche Ergreifen feiner Ideen, 
daß wieder das helle Lächeln auf ſeinem Geſicht erſchien, das ausſah wie ein 
Sonnenſtrahl, der durch Weinlaub fällt. 

Er bedeutete Eliſe, daß er ſie ja nur mit einem Teil des Buches bekannt 
zu machen brauche, um ihr einen Begriff vom Geiſt desſelben und von der herz- 
erquickenden Art ſeines Urhebers zu geben. 

Er fing auch ſogleich an, ihr nach kurzer Vorerzählung das Schlußkapitel 
vom Sinngedicht vorzuleſen. Eliſe ſchüttelte verwundert lächelnd den Kopf über 
des Dichters Art, das Schickſal zweier eigenartiger Menſchen, die ſonſt nicht 
zuſammenfinden, ſo gewiſſermaßen an einem Pechfaden zu wenden. Sie meinte 
dann, ein Einband in dunkelgrün Leder, mit einer Kette von goldenen Ringen 
umſchlungen, die als Schloß ein Roſenkränzlein trügen, müſſe fid) nicht übel aus- 
nehmen dazu. Der Meiſter ſpendete ihr eifrig Lob und verſprach, den anregenden 
Gedanken, der ihm ſelber ſchon ähnlich gedämmert, zu verwerten. 

Dann kam er noch einmal auf das von Gottfried Keller ſo köſtlich gebrauchte 
Goetheſche Gedicht zu ſprechen, das er ſchon von ſeinen Wanderjahren her kannte, 
wo es ihm in einer Mondnacht ein wandernder Steinmetzgeſelle auf der Walze 
ſingen lehrte als Volkslied. 

So erzähl end, ſtand er auf und langte ein dünnes Heftchen Wanderlieder, 
aus jener Zeit, vom Bücherbrett herunter. Mit viel Empfindung las er ihr dann 
das kleine Lied Goethes „Kleine Blumen, kleine Blätter“ unverfälſcht vom ſächſiſchen 
Idiom vor. 


Max: Die Kinder bee Sebaſtlan Grün 373 


12. 

Inzwiſchen waren die Chrijthdume in den fremden Häufern am Pferde- 
markt erloſchen. Die Kinder kehrten deshalb, gelangweilt von dem Ausblick auf 
die leerer und leerer werdenden Straßen und von dem ungewohnten Ereignis, 
ihren Vater vorleſend zu ſehen, angelockt, an den Tiſch zurück. 

Sie ſtanden und hörten mit offenen Mündern und weit aufgeriſſenen Augen 
die Strophen des Goetheſchen Gedichtes mit an. 

Nur Zorg, der nichts davon verftand, ſchien intereſſelos dabei. 

Wie nun ber 9Reijter an bie Schlußſtelle kam: 

Reiche frei mir deine Hand, 

Und das Band, das uns verbindet, 

Sei kein ſchwaches Roſenband — 
und unwillkürlich, um der Wirkung des Gedichtes willen, Eliſe anblickte, und ſie 
ihm, für den ſeltenen Genuß dankend, die Hand über den Tiſch reichte, da packte 
auf einmal Frieder den Arm Mariens rechts und den Arm Evelinchens links und 
ſchrie kräftig heraus: 

„Seht ihr's, nun bleibt ſie doch hier als unſere neue Mutter!“ 

And Zorg, der daſtand, ohne zu verſtehen, hörte nur das wohlbekannte Stich- 
wort, dachte an das ſüße Verſprechen und ſeinen Erfolg, lief zu Eliſe hin, ſchlang 
ſeine Arme um ihren Leib und rief ſchallend: 

„Mutter! Schokolade haben!“ 

Die Erſchrockene ſuchte ein heißes Erröten, das ihr Geſicht überflutete, 
zurückzudrängen. Dann — lachte ſie hell heraus. 

Anwiderſtehlich lachte und lachte ſie über das verblüffte Geſicht des Meiſters. 

Kein Weihnachtslicht des Verſtehens ging ihm auf. 

Er wurde böſe über das ſeltſame, unſchickliche Gebaren ſeiner Kinder und 
ſchickte fie mit harten Worten, die ein ſonderbarer Kontraſt zu feiner vorher- 
gegangenen Stimmung waren, zu Bett. 


13. 

Sebaſtian Grün begleitete Elife in ihr Haus zurück. Auf dem langen Wege 
ſprachen ſie viel und eingehend miteinander. Aber was ſie ſprachen, iſt Geheimnis 
der verſchwiegenen Heiligen Nacht geblieben. Vermutlich ſprachen ſie über die 
alte Babette, das Haus, die Abſchiedsſtunde vor dem Sarg von Frau Varie, über 
die Kinder des Hauſes und die Kinder der Werkſtatt. 

So viel aber wurde gewiß, daß die Unterhaltung eine Folge nach ſich zog. 

Eliſe entſchloß ſich, keine Kleider mehr von Samt, Seide und Spitzen für 
vornehme Leute zu nähen, ſondern ganz in das Haus des Meiſters überzuſiedeln, 
wie es ſeine Kinder von ihr gewünſcht hatten, als neue Mutter. 

Vom nächſten Jahr ab brannte wieder ein Chriſtbaum in dem kleinen Haus 
am Pferdemarkt für die vier Kinder von Sebaſtian Grün. 

Im Herzen dankte er ſeinen Büchern, die er wie eigne Kinder liebte, als 
den Vermittlern zwiſchen fid) und Eliſe, die ihm an jenem Weihnachtsabend das 
Glück ins Haus gezaubert hatten. 


374 Bertram: Flucht nach Agypten 


Ein Glück des Verſtehens, das er bisher nicht einmal geahnt hatte, zwiſchen 
Mann und Weib. 

Aber das eine, die ganze Löſung, daß ſeine leiblichen Kinder ſchon vorher 
zu Freiwerbern geworden waren für ihn, ſollte er erft viel, viel ſpäter erfahren. 

Denn es iſt für Kinder außerordentlich reizvoll, mit der neuen Mutter ein 
wichtiges, ſchönes Geheimnis zu teilen. 


Flucht nach Agypten Von Ernſt Bertram 


Smmer lebt ein König, der brütet: „Ein böſer Stern 
Ging geſtern auf. Er dräut uns mit einem neuen Herrn. 
Die Weiſen ſprachen dunkel. Die Zeit iſt voll Gefahr: 
So ſchlachtet mir die Knaben von dieſem ganzen Jahr!“ 


mmer ziehen Henker mit Königsworten aus, 

Sie tragen Blut und Jammer in der Mütter Haus, 
Sie opfern alle Jugend in Treue ihrem Herrn, 
Dod) über keinem Dace gewahren fie den Stern. 


Und immer hat ein Klingen die Hüter aufgeſtört, 
Sie beugen ſich der Stimme, die ſilbern ſie gehört: 
Sie führen unter den Sternen im dürftigen Gewand 
Den zarten König ſchlafend in ſein Agyptenland. 


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Von der Pflicht 


chweiget ihr Saiten voll ſüßen Wohllauts in neinem Innern. Ich 
will kein Lied ſingen, ſondern klare, harte Worte ſprechen, auf daß 
‘aller felige Dunſt und alle roſigen Nebel, bie ſanft über meiner Seele 
O liegen, fid) heben, und auf daß ein herber Bergwind durch meine 
Bruſt ſtreiche. 

Die Pflicht iſt das Rückgrat des Menſchen, und wer dieſes Rückgrat bricht, 
der ſtirbt zwar nicht, aber alle Stärke iſt in ihm gelähmt, und er führt nur noch ein 
Leben voller Verächtlichkeit. Wer aber an die Pflicht glauben will, der muß vor- 
her an anderes glauben. Er muß daran glauben, daß jeder hier unten an feinem 
richtigen Platz iſt, und daß alle Härten und Unbilden des Lebens nur Felſenſtufen 
find, an denen wir uns halten können, um in die Höhe zu klettern. Und wir follen 
dankbar ſein, wenn dieſe Felſenſtufen recht hart ſind und nicht aus bröcklichtem 
Geſtein beſtehen, das unter unſeren Händen bricht, wenn wir uns daran halten 
wollen. 

ich will euch eine Geſchichte erzählen von der Pflicht. 

Dieſer Tage war ich auf einem Fechtboden, um die Muskeln meines Rör- 
pers zu ſtählen. Der Fechtmeiſter war ein junger Mann, der dem Michelangelo 
wohl als Modell für ſeinen David hätte dienen können. Durch ſeinen enganliegen- 
ben Fechteranzug fab man die mächtigen Muskeln ſpielen. Und aus feinem Ge- 
ſicht ſtrahlte die Schönheit kraftbewußter Jugend. Und geſtern trugen fie dieſen 
jungen Mann zu Grabe. Eine Muſikkapelle ſpielte einen rührenden Trauermarſch, 
als ſie ſeinen mächtigen Körper in die kühle Erde ſenkten. Und ſeine Braut konnte 
nur mit Mühe zurückgehalten werden, ihm ins Grab nachzuſpringen. Er hatte 
ſeinem jungen Leben durch einen Schuß ſelber ein Ende bereitet. Er hatte über ſie 
ein anderes Mädchen vergeſſen, das er früher geliebt hatte, und wie eine hohe 
Bergwand hatte ſich nun ſein Gewiſſen vor ihm aufgetürmt. Er war ein weicher, 
gutmütiger Menſch, und in feinem Athletenkörper ſteckte ein überzartes Gemüt. 
Die Muskeln ſeines Pflichtgefühls hatte er nie geübt. Und ſo verließ ihn vor dem 
mahnenden Gewiſſen der Verſtand. Er vergaß ſeine Pflicht gegen Vater und 
Mutter, gegen Brüder und Schweſtern und gegen die zwei Frauen, die er ge- 
liebt hatte, und ſchlug in der Verzweiflung das dunkle Tor auf, aus dem man nie 


376 Schmidt: Weihnachten 


wieder heraustritt. Wenn er gewußt hätte, was die Pflicht iſt, dann wäre es ihm 
nicht zu ſchwer geweſen, noch ein Leben voller Nützlichkeit für die Seinen und 
für ſich zu führen. Das iſt kein Stein, den ich ihm ins Grab nachwerfe; denn ich 
hab’ ihm eine große, ſchöne Rofe auf den Sarg gelegt. Aber wir follen nie ver- 
geſſen, aus den Fehlern der andern, die wir nicht richten ſollen, mit Liebe für uns 
zu lernen. 

Und noch eine andere Geſchichte von der Pflicht möchte ich euch erzählen. 

ich kenne einen Mann, der eine Frau febr lieb hat. Er weiß, daß er nie mit 
ihr wird zuſammenleben können; denn ſie iſt verheiratet und hat Kinder. Ohne 
daß ſie es weiß, iſt ſie um ihn in allem ſeinem Tun und Laſſen. Er lebt mit ihr 
und für ſie und kann's doch kaum zeigen. Und er vergißt über ſeine ſtille große 
Liebe nicht, was das tägliche Leben von ihm verlangt. Vielleicht zweifelt ſie manch- 
mal deswegen an ſeiner Liebe; denn auch ſie liebt ihn. Dieſe beiden Menſchen 
können ſich des Glücks nicht freuen, aber ihre Liebe iſt auch kein Unglück für ſie. 
Sie hält ſie alle beide in bitteren Stunden aufrecht, und ich glaube gewiß, daß, 
wenn fie einſt geſtorben find, Gottes Hand fie als Engel im Himmel zuſammen— 
tun wird. 


SD SNAM WER 


— 


Weihnachten Von Karl Schmidt 


Dämm'rung wechſelt mit des Tages Helle, 
Zitternd über eines Stalles Schwelle 
Tritt Maria. Ihre müden Glieder 

Sinken auf die Streu des Lagers nieder; 
Brennend reden über bleichen Wangen 
Dunkle Augen von der Seele Bangen. 
Sie erwartet nach des Engels Kunde 

Ihre ſchwere, ſchmerzensreiche Stunde. 
Joſeph kniet und faltet fromm die Hände. 
„Herr, mein Gott, die Trübſal gnädig wende!“ — 
Seufzt er, und mit himmliſchem Gepränge 
Füllt die heil'ge Nacht des Stalles Enge. 


ANN 


N 


Berufung 
Von Alwine von Keller (Hellerau) 


er junge Pfarrer ſaß vertieft in ſeiner Arbeit. Er ſchrieb ſeine Predigt 
auf. Er wollte ſie ſorgfältig bis ins kleinſte ausarbeiten und genau 
memorieren, ehe er ſie hielt. | 
Wenn er zum Nachdenken zwiſchen den ſchönen, feierlichen 
Sätzen einmal aufſchaute, ſchweifte ſein Blick durch das großſcheibige Fenſter über 
eine grünende Ecke des Kirchhofs hinaus und die Dorfſtraße entlang, deren kleine 
weiße Häuſer in der Maiſonne blendeten. Hier und da ſaß ein Weib, Netze flickend, 
vor der Schwelle. Die Männer waren auf Fiſchfang. Der Pfarrer ſann, beugte 
ſich über ſeine gelblichen Foliobogen und ſchrieb mit großen, ſtarken Buchſtaben. 
Sein Text war Petri Fiſchfang, und da es die erſte Predigt war, die er im regel- 
mäßigen Gottesdienſt ſeiner Gemeinde zu halten hatte, arbeitete er mit dem 
Bewußtſein, daß er die bedeutſamen Eindrücke, bie er ihr in Probe- und Ein- 
führungspredigt gemacht hatte, durch ſie erneuern und befeſtigen müſſe. Er ſchrieb 
langſam und las jeden Satz mit der Frage durch: wie wird er wirken? 

Die Predigt war gut. Nicht ſchwer, aber auch nicht zu leicht, nicht anſpruchs- 
voll, aber auch nicht zu beſcheiden. Sie war anſchaulich und doch erbaulich. Man 
nahm davon etwas mit nach Hauſe, dünkte es dem Schreiber; auch wurde es 
einem daraus klar, daß er, der Pfarrer, wohl auf allen Pfaden der heiligen Ge- 
ſchichte bewandert war. Er war mit ſich zufrieden, legte die Blätter ſorgſam 
zuſammen, Ecke auf Ecke, erhob und reckte ſich. Er war ein großer, ſtattlicher, 
blondbärtiger Mann, dem man es anſah, daß er einem gefunden, nordiſchen Ge- 
ſchlecht entſtamme. Man hätte ihn eher für einen Landmann als für einen Theologen 
gehalten. Er ſtreckte fich, als wolle er die Decke der weißgetünchten Stube be- 
rühren, machte mit den Armen ein paar kräftige Turnübungen und hob dann 
ein ſchweres filbernes Kreuz von dem Bücherſchrank, der ſchräg die große Ecke des 
Zimmers füllte. Dieſes Kreuz war als Andenken von der Gemeinde, die er eben 
verlaffen, ihm, dem jungen Hilfsprediger, zum Abſchied geſchenkt worden. Behut- 
fam und nicht ohne Selbſtgefälligkeit ſah er ſich die Unterfeite des Sockels an, 


378 Keller: Berufung 


wo eingraviert ſtand, daß die evangeliſche Gemeinde B.... ihrem verehrten 
Herrn Hilfsprediger Claus Hallern dieſes Kreuz als ein kleines Zeichen ihrer 
Dankbarkeit überreiche und als Erinnerung an die unvergeßliche Zeit feiner Wirt- 
ſamkeit in ihrer Mitte. Der Pfarrer ſtrich mit Vergnügen über die Buchſtaben 
und dachte einen Augenblick an die guten Fräulein Budde, die für ihn geſchwärmt 
hatten, und an das Bibelkränzchen in ihrem Haufe. Dann gab er fid) einen Ruck, 
ſtellte das Kreuz wieder auf, ſchloß die Fenſter feiner Stube und begann feine Pre- 
digt zu memorieren, wobei er acht gab, daß ſeine Stimme voll und maßvoll tönte. 

Am Sonntag war die Kirche wie am Einführungstage gedrängt voll. 
Rechts die Frauen, anders anzuſchauen als am Alltag, wenn der Meereswind 
mit blonden und braunen Haaren unter den hellen Tüchern zu fpielen liebte, 
während die braunen entblößten Arme kräftig in die Arbeit griffen. Unter runden 
oder unter Kapotthüten blickte man verſtohlen zu den Männern hinüber, bie in 
dunklen Anzügen ſteif und ſchwer in ihre Hüte hineinbeteten, ehe fie fih ſetzten. 
Dann wandten ſich alle Augen vor Beginn des Liedes auf die Pfarrbank, wo 
ſich vom dunklen Hintergrund des Geſtühls die kleine, zarte Geſtalt und das ſchmale 
Kindergeſicht der jungen Pfarrfrau licht und ſonnig abboben. Flimmernde Strahlen- 
bahnen fielen ſchräg durch die großen Kirchenfenſter, der Flieder vom Kirchhof 
duftete zu den offenen Türen herein, und die Narziſſen auf dem Altar leuchteten 
wie kleine Sonnen; hin und wieder tönte das Anrauſchen der Wellen, ein Möwen- 
ſchrei, ein verflattertes Lerchenlied. Dann ſetzte die Orgel ein, man ſang, die 
Stimme des Pfarrers und die Antwort der Gemeinde ertönte; ſchließlich während 
des Liedes trug Becker den Klingelbeutel herum, und der Pfarrer beſtieg die 
Kanzel und begann zu predigen. Man hob den Kopf, freute ſich an dem ſchmucken 
Mann, der dort ſoldatiſch gerade ſtand, hörte die Dispofition und ein paar volle 
Sätze, und wußte, daß alles in beſter Ordnung fei. Die Frauen ſetzten jid) bebag- 
licher zurecht, glätteten die Röcke oder legten ſich ihr Taſchentuch über die Knie 
und falteten darüber die heißen Hände. Die Mienen glätteten fid), fie wurden 
zufrieden, andächtig und ſchläfrig. Die ſchöne Stimme ſprach ihre ſchönen, erbau- 
lichen Sätze, die ſo voll tönten, und beſchrieb das gelobte Land, das weit weg iſt. 
Man lauſchte, als handle es fih ums Paradies, über das beſonders feierliche Ge- 
danken zu haben des Pfarrers Aufgabe und Recht ijt. Oldruckartig tauchten die 
Bilder des Heilands in ſeinen wallenden Gewändern auf und befriedigten die 
Zuhörer, über deren geſenkte Häupter die Morgenſonne in die Kirche hinein- 
ſpielte, auf den alten herrlichen Kerzenhaltern und Blakern ruhte und auf dem 
Dreimaſter, der klein und ſtattlich getatelt im Mittelſchiff hing. Draußen rauſchten 
ſommerlich die Wellen, Schmetterlinge tanzten über die Kirchhofsgräber, und der 
neue Pfarrer ſprach und ſprach. Es wurde heißer in der Kirche, man wiſchte ſich 
den Schweiß von der Stirn und ſeufzte. Dann tönte die Pfeife des Dampfers, 
ſeit Fahren das Signal, daß es halb elf und die Predigt nunmehr gleich vorbei 
fei; einer der Gemeindedlteften räuſperte fih, der Pfarrer ſagte Amen, man 
hüſtelte, ſchnaubte ſich, ſcharrte mit den Füßen, die Orgel ſetzte ein, der Pfarrer 
verlas ſeine amtlichen Nachrichten, ſprach Gebet und Segen, der letzte Vers des 
Hauptliedes wurde geſungen, — die Kirche war aus. 


Keller: Berufung 879 


Die Frauen gingen durch bie Dorfſtraße in die Heinen Haufer, wo Kinder 
und Arbeit, oft aber auch Krankheit und Not ihrer warteten, und die Männer 
ſchlenderten in den Hafen. „Mit den Pfarrer, dat geit“, fagte einer. „Dat geit 
gut“, war die Antwort, und ein Murmeln im Kreiſe ſtimmte bei. Dann ſprachen 
ſie von Fiſchpreiſen und von Winden, ſtanden breitſpurig, kauten, prahlten, zankten, 
und ließen ſich's wohl ſein. Nur ein paar ganz alte Leute meinten: „Er et noch 
to jung.“ 

Im jungen Eheglück ging den Pfarrleuten der Sommer hin mit ſeinen heißen 
Tagen und den langen, lichten Abenden, wo das Meer opalſchimmernd gleißt, 
ein ſilberner Spiegel, über dem das Licht zittert und ſtrömt. Der Herbſt kam 
mit langen Wanderungen durch die Dünen, bei denen Klaus Hallern oft die junge 
Frau hoch in ſeine Arme hob, damit ſie fern die See ſah, tiefblau mit den weißen 
Schaumkronen. Zuſammen gingen die beiden über Land, zuſammen ins Dorf; 
nur bei den Beſuchen trennten ſie ſich. Einmal, ganz zuerſt, hatten ſie zuſammen 
einen ſeelſorgeriſchen Beſuch gemacht, waren zuſammen in die gute Stube und 
aufs Sofa genötigt worden, während die Fiſcherfrau, die Schürze um die Arme 
gewickelt, vor ihnen ſtand, und der Fiſcher ihnen gegenüber, ſchwer und breit auf 
dem Stuhle ſaß, die Augen auf einen Punkt der Diele gebohrt, wo eine roſtige 
Stecknadel lag. Der Pfarrer hatte gefragt, die Leute hatten geantwortet, ein 
ſtockendes aber freundliches Geſpräch kam in Gang, der Pfarrer leitete es ins 
Geiſtliche über, die Leute hörten zu und nickten. — Bei dieſem Beſuch hatte die 
junge Pfarrfrau eine Abneigung bekommen gegen gute Stuben und ſonſtige 
Herrlichkeiten. „Klauſepeter,“ ſagte fie, „das ift nichts für mich, geh du man allein.“ 
So machte jeder für ſich ſeine Beſuche im Dorf. Der Pfarrer nachmittags, im Geh- 
rock zuerſt, dann aber allmählich etwas familiärer, in der Alltagsjoppe, kam vor 
allen Kindstaufen, Hochzeiten und Beerdigungen und war immer, wo er glaubte, 
daß man ſeiner bedürfe: gewiſſenhaft, leutſelig, ein bißchen ſteif. 

Die Pfarrfrau zu jeder Tageszeit, wo der Wunſch ſie ankam, wie ſie ging und 
ſtand, in ihren hellen Sommerkleidern, die einfach waren wie Kinderkleider, oder 
im wollnen Winterjäckchen, Verbandzeug oder Apfel und Pfeffernüſſe im Arm. 
Der Pfarrer traf ſie dann manchmal auf irgend einer Diele oder in den dunklen 
Küchen, mit Kindern ſpielend, einer Greiſin vorleſend oder zuſprechend, oder 
hilfreich am Bette eines kranken Kindes, die Hand einer weinenden Mutter in 
der ihren. 

„Sprachſt du ihnen vom Heiland?“ fragte fie der Pfarrer einmal, als fie 
müde und blaß von einem Sterbelager heimkam. „Nur ganz ſelten kann ich das,“ 
ſagte die junge Frau, „ich bin ſo dumm, ſo dumm“ — und die Tränen rannen 
ihr —, „ich kann nichts tun als ſie lieb haben, und —“ Sie faltete die Hände und 
war ſtill. 

Während fie aber immer heimiſcher im Dorfe zu werden ſchien, mit Ver- 
traulichkeit und tauſend kleinen Anliegen empfangen wurde, behielt er allmählich 
von feinen Gängen ins Dorf ein fröſtelndes Gefühl im Herzen zurück. Es vertiefte 
ſich langſam. Er kam unzufrieden von ſeinen Beſuchen heim. Worüber, wußte 
er kaum. Er wurde überall ehrerbietig aufgenommen und war ſich bewußt, in 


380 Keller: Berufung 


den überheizten Stuben manch gutes, gefalbtes Wort geſprochen zu haben. Aber 
ging er dann am frühen Winterabende durch bie Oorfſtraße dem Paſtorate zu, 
klang ihm aus dem Gaſthauſe das Grammophon entgegen und die lauten Stimmen 
der Trinker, taumelte dort ein Fiſcher, ſchimpfte dort ein Weib, ſah er hier einen 
Fleißigen bei der Arbeit, dort durch die Scheiben ein trauliches, ordentliches Bild: 
Mann und Söhne beim Handwerkszeug oder an den Netzen, Frau und Töchter 
über Flickerei gebeugt — dann kam's ihm vor, als fragten dieſe Menſchen nichts, 
aber auch gar nichts nach ihm und feiner Botſchaft vom Heile in Jefu, als lage das 
ganz abſeits ihres Lebens und als ſei kein Zuſammenhang zwiſchen ihm und ihnen, 
kam gleich alles regelmäßig Sonntags zu ihm in die Kirche. 

Da kam ein neuer Ton in ſeine Predigt. Er arbeitete länger an ihnen als 
früher, und wenn er fie memorierte, zitterten die Glasſcheiben feines Bücher- 
ſchrankes, auf dem das Kruzifix ſtand. Er hielt ſie mit laut erhobener Stimme 
in der kleinen Kirche, in die im Winter der Ton des Meeres oft orkanartig an- 
ſchwellend hereinbrauſte und deren Schindeln im Winde klapperten, ſo oft der 
Wind über die Dünen fegte. In ihr hielt er ſeiner Gemeinde ihre Sünden vor. 
Erſt väterlich und ermahnend, im Laufe der Monate aber immer grollender werdend, 
wählte er ſtarke Worte, die nichts verſchleierten, und ſprach unverhohlen von Saufen 
und Anzucht, Leichtſinn, Hartherzigkeit und Habgier, die in ihrer Mitte groß feien. 

Es erregte ſeine Gemeinde. Was fiel dem Paſtor ein? Tat ihm einer etwas 
zuleide? Bekam er nicht ſein gutes Gehalt? Es wurden jetzt oft drohende Worte 
gegen ihn laut; wenn er des Abends allein durchs Dorf ging, lachte man frech 
hinter ihm her, grüßte ihn nicht oder riß den Hut ſo vom Kopfe, tief dabei dienernd, 
daß der Pfarrer den Hohn der jungen und den Mißmut der älteren Leute wohl 
fühlen mußte. Einige Kirchenplätze wurden im Laufe des Winters leer. 

Fromm ſaßen nur die Tugendhaften und Geretteten vor ihm in den Bänken; 
wer einen beſaß, hatte die Füße im Fußſack, und vor jedem Aufſtehen gab's ein 
Scharren. Die Ofen glühten die zunächſt Sitzenden an; alle ſahen ſatt und ſchläfrig 
aus; erhob er ſeine Stimme zu beſonderem Nachdruck im Bußton, ſchielten ſie 
nach dieſem oder jenem Mitchriſten hinüber, als dächten ſie: „Gut, daß er's mal 
zu hören bekommt“, nickten ſeinen Worten zuſtimmend zu und ſtanden mit ihm 
im Bunde gegen die Sünde der Welt und des Fleiſches. 

Klaus Hallern hatte ſich zuerſt gefreut, die üblen Elemente, die nicht ins 
Gotteshaus paßten, entfernt zu haben, und geglaubt, daß nun ein regeres Leben 
und regere Gemeinſchaft in ſeiner Gemeinde erwachen würden. Da aber nur 
die allgemeine Behaglichkeit in den Kirchengehern zugenommen hatte, im übrigen 
aber das Alltagsleben feinen vom Sonntag völlig unbeeinflußten Charakter bei- 
behielt, begannen feine Augen geſchärft auf die Frommen im Kirchenſchiff zu 
ſchauen, und die Worte blieben ihm im Halſe ſtecken, die er ihnen ſagen wollte, 
um ſie in ihrem Gutſein zu beſtärken. Anſtatt deſſen ſprach er ihnen von den 
getünchten Gräbern, die von außen freundlich ausſehen, innen aber voll Un- 
reinigkeit ſind. 

„Schimpf' nicht ſo viel, Klauſepeter,“ ſagte ſeine Frau, „es iſt ſo viel Elend 
im Dorf, ſeitdem die Fiſche ausbleiben, man muß helfen. Schreib' an Fräulein 


Keller: Berufung 381 


Budde, daß fie uns Geld für Maukens leiht!“ „Er Maule fäuft, unb fie ift auch 
nur äußerlich auf rechtem Wege“, grollte der Pfarrer. „Die Kinder haben nichts 
zu eſſen, und die Stube iſt ungeheizt“, ſagte die Frau mit einer ſtillen, kleinen 
Stimme, die dem Pfarrer weh tat. 

Er tat ſein Außerſtes, die hereinbrechende Armut lindern zu helfen, ſprach 
den Leuten Mut und Troſt zu, ſammelte Geld, richtete Armenkaſſen ein, borgte 
den Tüchtigen und half denen, die in den harten Zeiten ihr Brot außerhalb des 
Dorfes ſuchen mußten. Als aber der Sommer kam, die Männer auf See waren 
und Geld wieder ins Dorf floß, mußte er ſich ſagen, daß zwiſchen ihm und der 
Gemeinde kein näheres Band ſich geſchlungen hatte; daß ihn ſelbſt zwar mancher 
wackere Mann ſchätze, Gott aber durch ihn keine Seele gewonnen worden war. 

Das Predigen wurde ihm je länger je mehr zur Laſt. Es ſchien ihm zwecklos. 
Schimpfen wollte und durfte er nicht mehr, und ſeinen Ermahnungen lauſchte 
man mit derſelben Verſtändnisloſigkeit, mit der man einer Bachſchen Kantate 
gelauſcht hatte, die ein Kantor ihnen vor dem Hauptliede ſpielte. 

Er wußte nicht mehr, was zu ſagen. Das Kruzifix mit der ſchönen Inſchrift 
nahm er vom Schrank herunter und ſchloß es ein; die Worte ärgerten ihn: „Lauter 
Vergißmeinnichtſuppe tiſchte ich denen vor, und ſie riefen bravo! Damit iſt hier 
nicht gedient! Womit weckt man die hier auf? Harte Worte ſtumpfen ihre Seelen 
ab, und ſanfte ſchläfern fie ein! — Was willft du eigentlich?“ fragte er ſich dann 
ſelbſt, „du haſt eine volle Kirche, volle Abendmahlstiſche und eine doch im ganzen 
nicht ungeſittete Gemeinde!“ Aber es war in ihm etwas erwacht, das zeigte ihm, 
daß etwas fehle, etwas Wefenbaftes, was allein fein Amt rechtfertigte, ihm Kraft 
und Sinn verlieh. Was war's? Er begann ſeine Predigten mit Anekdoten zu 
würzen, fie apart und ſpannend zu machen; aber das Vergnügen, das fie nun 
machten, verſtimmte und demütigte ihn; er ſchämte ſich, ein geiſtlicher maitre 
de plaisir zu ſein. Er las viele fremde Predigten, ja, er hielt große Teile aus ſolchen, 
von denen er gehört hatte, daß fie unvergeßliche Eindrücke hinterlaſſen und Be- 
kehrungen vollbracht hatten; feine gewohnheitsgemäß kommende ſchlichte Dorf- 
gemeinde zeigte dasſelbe undurchdringliche Geſicht. Er tat das Fremde von ſich, 
nahm nichts als die Bibel vor und vergrub fid) in die heiligen Bücher. Ein ſtärkerer, 
lebendiger Kontakt mit ſeiner Gemeinde kam nicht zuſtande. Die paar alten Fiſcher, 
die ihn von Anfang an als „to jung“ abgelehnt hatten, ſchüttelten nach wie vor 
verneinend den Kopf, wenn er wieder einmal bildreicher und kräftiger aus ſich 
herausging, und ſeine kleine Frau im großen Kirchengeſtühl hob über den gefalteten 
Händen ihr blaſſes Geſicht zu ihm empor mit einer bangen Frage in den Augen. 

Er hatte es ſo ſatt. „Lieber Steine klopfen!“ ſagte er ſich, wenn er wie 
geſchlagen aus der Sakriſtei wieder in ſeine Arbeitsſtube kam. „Was ſoll das alles? 
Was ſoll das?“ ſchrie er dann, warf die Bücher auf die Erde und trat darauf, oder 
ſetzte ſich todmüde in ſeinen Stuhl. Zweifel an ſeine Berufung als Geiſtlicher 
waren bei ihm längſt heimiſch. Nun wallten ernſtere auf und beſtürmten ihn. 
Er verdoppelte feine Bibelſtudien. Er ließ fid Kommentare kommen, orthodoxe 
und liberale. Je mehr er las, deſto unruhiger wurde er. Dinge, bie ihm unumjtop- 
lich geweſen waren, unb die er nie befragt hatte, wurden ihm problematiſch, Feft- 


382 Geller: Berufung 


ſtehendes wurde ibm weſenlos, wie ber zerrinnende Seenebel vor feinen Fenjtern. 
Er verbrachte jede freie Minute bei ſeinen fruchtloſen Studien, alle anderen 
Pflichten zurückſtellend, und rang fid) die Seele wund mit feinen fieberhaft un- 
geduldigen Gedanken, mit denen er Gott bald anrief, bald ihn leugnete, während 
im Nebenzimmer ſein junges Weib die Hände im Gebet zuſammenpreßte oder 
beim Nähen der winzig kleinen Kinderſachen oft ſtundenlang die Seele ſammelte 
in einem Flehen. 

Sie hatte in dieſen Monaten wenig von ihrem Mann, trotzdem ſie nie heißer 
nach der Gemeinſchaft mit ihm verlangt hatte. Er ließ ſie nicht an ſich heran, teils 
in dem Bedürfnis, ſie zu ſchonen, die in dieſer Zeit beſonderer Liebe und Sorgfalt 
bedürftig war, teils weil er, zerriſſen vom inneren Dialog, keine Kraft zum mit- 
teilen in ſich fühlte. Ohne Ausſprache erriet ſie ihn. Ihr ſonniges, impulſives 
Kindergeſicht bekam feine, verſchwiegene Leidenszüge und trug einen mütterlichen 
Ausdruck tapferer Heiterkeit, wenn ſie ihm gegenüberſaß. Nur wenn er ein ſeltenes 
Mal ihr zärtlich übers Haar ſtrich, ſenkte ſich das blonde Haupt und die feinen 
Augenlider preßten ſich feſt zu, um drängende Tränen zurückzuhalten. 

Es bedurfte feiner ganzen korrekten Pünktlichkeit und Rückſichtnahme in 
dieſen Wochen, um zu den Mahlzeiten zu Hauſe zu ſein und das mit ihm zu be— 
ſprechen, was ſie freundlich anregte. Ihr Anblick war ihm ein Vorwurf. Er atmete 
auf, wenn er allein war. Es trieb ihn auf die Düne heraus, fern an den Strand, 
wo er allein war und laut zu ſich ſprechen konnte, laut aufſtöhnen, wenn die Qual 
der Gedanken und der Wahl auf ihm lag, und laut beten; wo er auch, ungeſtört 
von den vertrauten, ſchmerzerweckenden Bildern ſeines Heims, Pläne machen 
konnte, rechnen, mit der Zukunft ringen um eine neue Exiſtenz. 

So kam zum drittenmal, ſeitdem Klaus Hallern in der Gemeinde war, der 
Dezember heran. In ihm war es langſam ruhig geworden. Er wußte, was er 
zu tun hatte. Er wollte die Weihnachtsarbeit, die Sylveſter- und Neujahrsgottes- 
dienſte erledigen, dann aber ſeinen Beruf niederlegen. Er glaubte an nichts mehr, 
was dazu nötig war, ihn voll auszufüllen. Gottes Exiſtenz war ihm, wenn auch 
philoſophiſch nicht zur Frage, doch perſönlich zur Unwirklichkeit geworden, über 
die er auf der Kanzel nichts zu fagen hatte. Zur pädagogiſchen Arbeit an Erwach- 
ſenen fühlte er ſich nicht berufen, da er immer deutlicher ſah, wie wirkungslos 
die ethiſchen Ermahnungen letzthin waren, in denen jetzt ſeine ſeelſorgeriſche und 
kirchliche Wirkſamkeit gipfelte, trugen fie auch manchmal die Zllufion eines Er- 
folges. Die Sakramente, an die er nicht mehr glaubte, ſchämte er ſich, auszuteilen. 
— Es war alles zu Ende. Er war es alles müde. Nur noch den Amtsdienſt dieſes 
Monats zu erfüllen, ſchien ihm Pflicht, um nicht den grellen Ton feiner Not- 
wendigkeiten in des Sabres ſchönſtes Feſt hineinzutragen. 

Er war ruhiger geworden. Das Herz lag ihm zwar noch wie ein unheimliches 
Gewicht in der Bruſt, und die ganze weihnachtliche Tätigkeit ſeiner Frau für 
Arme und für Verwandte, das Backen im Hauſe, die Ankunft der Feriengäſte, 
das Schmücken der Weihnachtsbäume, all dieſe Fröhlichkeiten anderer Jahre quälten 
ihn und nannten ihn heimlich einen Verräter und Betrüger. Es war ihm, als 
dürfe er an nichts mehr teilnehmen, und nur ſcheu und heimlich nahm er ſeiner 


Reller: Berufung 383 


Frau diefe und jene Laft des Tages ab, wenn ihr müdes Geſicht ihm verriet, daß 
es auch ihr eine Laſt ſei. Der Gedanke an das Leid, das er ihr bereiten würde, 
an den Kampf mit ſeinen Eltern und Schwiegereltern, an das Niederlegen ſeines 
Amtes war ihm immer gegenwärtig, und die Zukunft, ſeine Studienjahre, ſeine 
Lehrerlaufbahn waren ohne Lockung. | 

Als er am 24. Dezember erwachte, ſchien ihm der Tag endlos. Ihm graute 
vor der winterlichen Schwere all dieſer Stunden bis zur ſpäten Nacht, vor dem 
Klang der Lieder, die die Kinder in ſeiner hell erleuchteten, tannengeſchmückten 
Kirche ſingen würden, ſtrahlend, dem Altare zugewandt, ihm graute vor der 
Predigt, die er halten, vor den Beſcherungen, denen er beiwohnen mußte. Er 
raffte ſich auf: „Nur noch heute, nur noch am 25., 26., 31. und am erſten, nur 
noch ſechsmal, dann iſt's vorbei“, flüſterte er gequält beim Anziehen. Es ſchien 
ihm eine lange Zeit. 

Der Tag war voll tätigen Tuns. Nachmittags, als alles erledigt, ging er 
aus. Die Dorfſtraße lag ruhig unter der friſchen Schneedecke, in den Häuſern 
war lebendiges Wirken. Im Hafen zogen die Männer die Kähne hoch, ſtauten 
Ruder und Pfähle und zogen in Kompanien heim. 

Der Pfarrer ging hinaus auf die Mole. Das Meer lag ſtill unter dem fil- 
bernen Winterlicht, die fernen Ufer ſchimmerten weiß. Es war ganz ſtill hier 
draußen. Das Meer ſchäumte gegen die Brückenpfoſten und brandete eintönig 
und ruhig ans Ufer. Langſam ſenkte fid) die Dämmerung, grau und fahl. Lichter 
im Hafen brannten auf. Wenige zuerſt, dann auch aus den kleinen Fenſtern der 
Fiſcherhäuſer hervorſchimmernd. 

Ganz draußen am äußerſten Ende der Mole, außerhalb des Dorfes, wo 
die Winde kalt über die Steine ſtreichen, ſaß der Pfarrer und blickte aufs Dorf. 
Nach den Monaten ſeines Werbens um die Gemeinde hatte er es mit Haß, mit 
harten Vorwürfen wegen all der Dinge, die es ihm ſchuldig geblieben war, an- 
geſchaut, dann allmählich mit Stumpfheit, als eine Aufgabe, mit der er nichts 
anzufangen wußte. Zetzt aber, wie da in der kalten Dämmerung des Dezember- 
tages Licht auf Licht aufleuchtete und den armen, kleinen, flatternden Schein 
in die große Nacht hinausſchickte, überwältigte es ihn plötzlich: was war er dieſen 
Menſchen ſchuldig geblieben! Waren ſie denn wirklich ſo anders wie er? Quälten 
ſie ſich nicht gleich ihm unter der Dumpfheit des Lebens, eng hineingebunden 
in die Bande der Notdurft, von Zwang und Unwiſſenheit belaſtet? Waren fie nicht 
alle mit ihm auf denſelben ewigen mühſeligen Menſchheitswegen, ſtaubig, ſuchend? 
Ein bisher unbekanntes Gefühl der Einheit mit ihnen allen überkam ihn, ſchmerz- 
lich, heiß. Er ſtarrte durch die tiefer hineindringende Dämmerung hinüber zu 
den winzigen Fenſtern. Bild auf Bild tauchte in ihm auf; es war aber, als wenn 
ein jedes anklagend käme, heimlich ſprechend: Warum haſt du mich nicht geliebt, 
mich nicht nah an dein Herz genommen, mir nicht den Veg gezeigt? Vergangenes, 
das er überſehen und verachtet hatte, wurde lebendig und zeigte ihm, wie er als 
Prahler und Richter hier einhergegangen war unter lauter Bedürftigen, immer 
fordernd, aber keine Kräfte verleihend, zu all der Bürde, die ein jeder trug, neue 
hinzufügend, ohne Erkenntnis und ohne Liebe. Er dachte an die Ablehnung des 


384 Keller: Berufung 


einen Teiles ſeiner Gemeinde, aber anſtatt ſich dadurch gerechtfertigt zu wiſſen, 
erkannte er ſich plötzlich an deren Ausſchweifung und Verlotterung ſo ſchuldig 
wie an der Selbſtgerechtigkeit und Heuchelei vieler ſeiner Kirchgänger. Wie war 
er an ihnen allen ſchuldig geworden! Blitzartig erhellte ſich das vor ihm. Aber 
woher nehmen, wenn man nicht hat? Es brach das Bewußtſein ſeiner Armut 
plötzlich über ihn hinein, und mit ihm in dieſer harten Stunde das Wiſſen, daß er 
in dieſer ſeiner Armut und Not wie in einer Sackgaſſe ſtände, und daß das Leben, 
das vor ihm lag mit allen verwirklichten Plänen, die er jetzt geformt, doch kein neues 
ſein würde, ſondern eine Fortſetzung des alten, ſelbſt wenn er Amt und Gemeinde 
am zweiten Neujahrstage auf immer verließe. Dieſe Armut würde mit ihm geben, 
ihn ſchuldig machen an Weib und Kind und an den Schülern, bie auf den Schul- 
bänken vor ihm ſitzen ſollten. 

Da brach etwas in ihm zuſammen. Er ſprang mit einer jähen Bewegung 
aus ſeiner gebeugten Stellung empor und lehnte die geballten Hände auf die 
feuchtkalten Steine der Mole. „Mein Gott, wo iſt ein Ausweg aus all dieſem?“ 

Da klang's wortlos durch die ſtille Nacht: , Hier bin Ich — ergreife mich!“ 

Ein Entſetzen kam über ihn, wie nie zuvor in ſeinem Leben. Das Wiſſen, 
daß er vor einer Wahl ſtände: Hier der alte Weg —, dort ein neuer... 

„Hier bin Ich — ergreife mich!“ 

Ein kurzes Ringen, ein atembeklemmender Augenblick der Wahl, ein Schau- 
dern vor dem Alten, ein Zurückbeben vor dem Neuen, das ihn forderte. Ein Ent- 
ſetzen durch alle Fibern ſeines Weſens. Dann ſpannte er ſich und lauſchte nach der 
Stimme, wie ein Durſtiger nach Quellenklang. „Hier bin ich,“ ſchrie ſeine Seele 
als Antwort, „was ſoll ich tun?“ 

Da kam das Neue. Es ſtrömte über ihn hinein. Er wußte nicht, woher es 
kam und kannte keinen Namen dafür. Er hatte dies nie gerufen, denn er hatte 
nicht gewußt, daß es dies gibt. Dieſes Wunder. Aber es war da. Um ihn. In 
ihm. Offenbar. Vortlos, begrifflos, gegenwärtig. Es machte ihn ganz klein. 
Es brach allen Stolz und Hochmut, legte ihm alle Schuld zur Laſt, gab ihm alle 
Verantwortung, lockte Träne über Träne, heiß, unaufhaltſam, wie nicht feit Rinder- 
tagen. Und zugleich nahm es alle Bürde und alle Not hinweg, tröſtete, wie eine 
Mutter tröſtet, durchſtrich die Schuld, ſchuf alles von Grund auf neu, ſo daß er 
ſich erheben konnte, ein Gebrochener und doch Neugeſchaffener, aufgerüttelt und 
doch geſtillt, geborgen in ſo großem Lieben, daß er dem Dorfe zuſchreiten konnte 
als ein Inbrünſtiger und Liebender, überwunden und doch leuchtend zu neuem 
Beginnen. b 

Leiſe war die Stimme, die abends in der weihnachtlichen Kirche von der 
Kanzel herab ſprach. Und doch war ein Etwas in ihr, das ließ einen aufhorchen, 
daß die blaſſe Pfarrfrau nach einem kurzen Aufblick ihr Geſicht in den Händen barg, 
und die Alten in den hinterſten Reihen die ſteifen Finger falteten. Arm und holprig 
waren die Worte, wie keiner fie je von Pfarrer Hallern gehört hatte. Den Sätzen 
fehlte jede bildhafte Schönheit und feierliche Steigerung. Aber es war in ihnen 
jene Beredſamkeit, die keiner ſich geben kann. Da hieß es aufhorchen, als ſtände 
dort oben nicht der Pfarrer, als ſpräche dort einer ihresgleichen, einer, dem es 


Findelfen: Nach Haufe 385 


ſchlecht gegangen war, der fid) den Fuß wund geſtoßen batte, der überall gefehlt 
hatte, wenn er auch fein Beſtes tat, einer, arm wie fie, ſtaubig, ſtrauchelnd, müb- 
ſelig, trotz allem, womit er es zu vergeſſen ſuchte. Und dann ſprach dieſer da wie 
einer, der den Weg heraus weiß aus dieſem Dunkel, der ihn nicht weiß aus klugen, 
fertigen Gedanken heraus, ſondern weil er einen Führer fand, dem er ſich anver- 
trauen durfte, nicht als einem Fremden, ſondern als dem eigenen lebendigen Licht 
ſeiner Seele. Dieſe Predigt galt nicht dieſem Nachbar oder jenem, ſie galt einem 
ſelbſt, ſie ging einen ſelbſt an. 

Altvertraut war die Verkündigung der Weihnachtsverheißung, aber ſie klang 
heute wie die eines neuen, gegenwärtigen, inneren Geſchehens. 

Man lauſchte. Gott ward in den Herzen groß. Weihnachtsahnung ſenkte 
fih auf die volle, lichtergeſchmückte Kirche. — 


Nach Hauſe Von Kurt Arnold Findeiſen 


Auf jeder Straße iſt einmal 

Ein lieber Wunſch gegangen. 

An jedem Kreuzweg ſitzt die Qual 
Und das tiefe Bangen 

Nach Haufe. 


Auch unfree Seele wird einmal 
Sich ängſten im Abendwinde. — 
Beten wir, daß ſie im Strahl 
Des letzten Lichts ſich finde 
Nach Haufel 


oC? 
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Der Eürmer XV, 5 26 


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DANS Sil 


2) Vy yas fam, daß er fich glüdti) ſchätze, zu wiſſen, Milton habe Schnuͤrſchuhe und nicht 
: IE Schnallenſchuhe getragen. Dagegen äußert Bernhard Shaw, der vielleicht kein 
ſchlechterer Pſychologe ijt, ganz eee „Wenn wir einen großen Mann begreifen könnten, 
dann würden wir ihn hängen 

Indes, wie bod) man auch immer den Standpunkt ber heroiſchen Geſchichtsbetrachtung 
einſchätzen mag: zuzugeben wird auf alle Fälle fein, daß ohne Kenntnis der typiſchen Maſſen- 
züge eine umfaſſendere Lebensorientierung undenkbar iſt. Schon aus dem Grunde, weil die 
Bekenntniſſe der Großen, mögen ſie ſelbſt der heldenhaften Aufrichtigkeit eines Rouſſeau 
oder Strindberg abgerungen fein, viel zu viel Hemmungs- und Siebungsprozeſſe zu paſſieren 
haben, um auf ben Normalmenſchen, der auch im Allergrößten immer nur fid) ſelbſt wieder- 
finden will, völlig unvermittelt wirken zu können. Ihnen gab die ferne, ſeltene Gottheit, 
die auserwählten Leiden des einen, des einzigen Genius zu künden — das Alltagsweh, das 
bie keuchende Bruſt des Arbeitsmenſchen ſprengt, redet mit der geſammelten Wucht viel- 
tauſendſtimmiger, erdverhafteter Menſchenchöre. Und das betäubende Echo wird um ſo kom- 
plizierter und deutungsbedürftiger, je maſſenhafter es an unſer Ohr ſchlägt, je beharrlicher es 
längſt geſtellte Fragen zu wiederholen ſcheint: wie denn die unendlichen Wiederholungen im 
ungeheuren Rhythmus der Natur tiefere Rätſel bergen, als ihre noch fo wunderbaren Ein- 
maligkeiten. 

Wir behelfen uns hier wie dort mit der mehr oder minder willkürlichen Feſtſetzung von 
Einſchnitten und Grenzen, um das Chaos zu teilen, zu organiſieren. Und auf ſolchem Wege 
iſt kürzlich auch eine von privater Seite veranſtaltete Unterfudung Ober die ſozialpſychologiſchen 
und pſychophyſiſchen Einwirkungen des modernen Großbetriebs auf die Arbeiterſchaft zu ihren 
Problemſtellungen und Ergebniſſen vorgedrungen. Man mag an den Schlußfolgerungen, 
die Adolf Levenſtein in feiner bei Ernſt Reinhardt in München erſchienenen „Ar- 
beiter frage“ aus den Ergebniſſen feiner umfaſſenden Enquete gezogen hat, im einzelnen 
manches auszuſetzen haben: die im ganzen methodiſchen Bedenken treten zurüd hinter der 
Bedeutung der Tatſache, daß hier zum erſten Male Maſſenunterſuchungen vorgenommen 
wurden auf einem Gebiet, das gerade deshalb, weil es uns ſo greifbar nahe liegt (und wohl 
auch wegen der ſcheinbaren Gleichwertigkeit der zu erwartenden Reſultate) von ber Geſellſchafts- 
wiſſenſchaft bisher allzu wenig berückſichtigt worden ift: auf dem Gebiet der Arbeiter- 
pſychologie. 

Und es war Mühe, die ſich überreichlich lohnte. Wer nicht durch Leben und Beruf der 
koſtbaren Erkenntnis nähergebracht wurde, — hier bietet ſie ſich ihm in tauſenden ſchlichten 


Die Seele des modernen Atbelters 387 


Proletarierbeichten überzeugend an: der große Menſchheitsausſchnitt, der tagläglich am Triebrad 
und Selfaktor, an der Drehbank und in der Grube mit monotonen, ſeelenloſen Handgriffen 
Güter und Werte ſchafft, er iſt keine unterſchiedsloſe Maſſe — es iſt nur der gleiche Druck der 
Ermüdung, die gleiche Ungunſt der ſozialen und ökonomiſchen Verhältniſſe, was hier wie ein 
grauer Staubton die individuellen Unterſchiede innerhalb einer geſtaltenreichen Millionen- 
ſchicht verwiſcht. Laßt den einzelnen ſich ausſprechen, ſeine Freude und Traurigkeit, ſeine 
Wünſche, feine Hoffnungen, feine Verzweiflung künden: und aus dem formloſen Chaos erhebt 
ſich das Individualſchickſal, bunt von der Farbe des Lebens, bedeutend und intereſſant durch 
die Tragik und Glorie des ftampfenmüjfens . . . 
* 
* 

Die fragmentariſchen Autobiographien der Arbeit, bie hier gejammelt vorliegen, bilden 
in ihrer Gänze einen höchſt wichtigen Beitrag zur Pſychologie des modernen 
Großbetriebs, die zu ihrer Vollendung freilich noch eine gleich ſyſtematiſche Behand- 
lung des Unternehmertums und der ſeeliſchen Wechſelbeziehungen zwiſchen dieſem und der 
Arbeiterſchaft vorausſetzen würde. Hier galt es zunächſt auf induktivem Wege Unterlagen 
zu gewinnen für die Beantwortung des Fragenbereiches: Welche Art von arbeitenden 
Menſchen wird durch die moderne Maſchinenkultur und den modernen Großbetrieb geprägt? 
And ſind es vorwiegend Kräfte des Aufſtiegs oder der Entartung, die ſie entbinden? 

Die Erhebung umfaßte drei beruflich getrennte Kategorien der politiſch und gewert- 
ſchaftlich organiſierten Arbeiterſchaft ſozialiſtiſcher und freigewerkſchaftlicher Richtung: die 
Gruppe der Bergarbeiter des Ruhr- und Saargebiets und Schleſiens, die Gruppe der 
Berliner und Forſter Textilarbeiter und die Gruppe der Metallarbeiter in 
Berlin, Solingen und Oberſtein. Nach entſprechender Vorbereitung des Terrains durch einen 
ausgebreiteten perſönlichen und brieflichen Verkehr wurden 8000 Erhebungsformulare an 
die Enquetierten verſandt. Die 26 Fragepunkte erfaſſen den Arbeitenden ſowohl in rein 
materieller Beziehung, als auch — und zwar vorwiegend — in ſeinen durch das Arbeits- 
verhältnis geſchaffenen ſeeliſchen Dispofitionen; fie gehen auf die perſönlichen Wünſche und 
Beſchwerden des Arbeiters, auf ſeine Stellung zur Familie und zu den ſozialen Problemen, 
auf feine literariſchen und künſtleriſchen Neigungen und auf fein Verhältnis zu Natur und 
Glauben ein und geben ſo ein Kulturbekenntnis im allerweiteſten Sinne. 

Die Enquete wurde am 24. Auguſt 1907 eröffnet und am 1. April 1911 geſchloſſen. 
Im ganzen waren innerhalb dieſes Zeitraums 5040 (65%) ausgefüllte Erhebungsexemplare 
eingegangen; davon entfielen auf die Bergarbeiter 2084, auf die Textilarbeiter 1155 und 
auf die Metallarbeiter 1803. Levenſtein hat, um zu einer Erſaſſung der verſchiedenen pſycho⸗ 
logiſchen Typen innerhalb der drei Arbeiterkategorien zu kommen, eine Vierteilung des ge- 
ſamten Materials in der Weiſe vorgenommen, daß er eine „''ntellektuelle“, eine „Eon- 
templative“, eine „verbildete“ und eine „Maſſenſchicht“ unterſcheidet. Der 
Einteilungsgrund iſt durchaus ſubjektiver Art und wird mancherlei Anfechtungen unterliegen; 
aber das wäre ſchließlich auch bei jeder andern Gruppierungsmethode der Fall. Bedenklich 
erſcheint es immerhin, wenn etwa aus der Kargheit und Monotonie der Antworten auf die 
Zugehörigkeit zur vierten Gruppe geſchloſſen wird, oder wenn irgend ein Schalk, der auf die 
Frage: „Was würden Sie ſich für Dinge anſchaffen, wenn Sie das nötige Geld hätten?“ 
erwidert: „Vier Frauen“, kurzerhand zur „Schicht der ſeeliſch Toten“ verdonnert wird. Anderer- 
feite ift gewandtes Vortragen von Programmſätzen nicht unbedingt ein Zeichen von Intelligenz. 
Oer, verbildeten“ Schicht dürften unſchuldigerweiſe auch viele Elemente von Durchſchnittsintelli⸗ 
gema zugeführt worden fein, denen lediglich eine gewiſſe Unbeholfenheit im Ausdruck zur Laft 
fällt. An ſich iſt ferner die witzige Antwort eines Bergarbeiters, der auf die Frage: „Gehen 
Sie oft in den Wald?“ einfach das behördliche Verbot zitiert („Das Betreten des Waldes iſt 
bei Strafe verboten“), keineswegs ein zureichender Grund, den Mann als „verbildet“ 


588 Die Seele des mobernen Arbeiters 


einzuordnen. Sicherlich ließen ſich noch zahlreiche andere Einwände erheben; ſie betreffen 
aber lediglich Fragen der Methode und Einordnung, nicht aber das Material und die rein 
menſchliche Tendenz der Unterfudung, deren hervorragender Wert unbeſtritten bleiben foll. 


* 
a * 


Vor allem wird jede künftige Forſchung über den fortſchreitenden N ed an i- 
ſierungsprozeß in der Sphäre des modernen Großbetriebs auf die hier niedergelegten 
Gutachten maßgeblichſter Urteiler zurüdgreifen müſſen. ft der Menſch noch Beherrſcher 
der Maſchine oder iſt ſie nicht ſelbſt bereits ſeine tyranniſche Herrin geworden? Bedeutet 
die moderne Maſchinenarbeit eine Herabdrückung oder Befreiung der geiſtigen Perſönlichkeit? 
Atomiſiert die moderne Arbeitsteilung bloß die Arbeit oder auch den Arbeitenden? Steht 
es wirklich ſo, daß die Maſchine, die den Warenpreis verbilligt und dem Manne die Konkurrenz 
der Frauen- und Kinderarbeit an den Hals hetzt, die Lage des Arbeiters nur erſchwert, den 
Wert feiner Arbeit nur herabgeſetzt hat? Daß die Entgeiſtigung der Arbeit heute einen Gipfel 
erreicht bat und die Einzelarbeit auf die Stufe einer rein mechaniſchen Tätigkeit berabgebrüdt ift? 

Da ſchreibt ein 27jähriger Metalldrucker: „Ich mag und will nicht zur Maſchine de- 
gradiert werden! Lieber 20 Mark anſtatt 36 Mark verdienen, aber nicht tagtäglich mit Ekel 
zur Arbeit gehen müjjen." Ein Metallſchleifer: „Ich finde kein Intereſſe an meiner Arbeit, 
und ſehe ich am Feiertage auch nur die Schornſteine unſerer Fabrik, dann iſt es mir, als würde 
ich an etwas recht Ungehöriges erinnert.“ Ein Metalldreher, der ſeit ſechseinhalb Jahren 
tagtäglich dieſelben Stücke dreht, bringt unter dem Drucke der auf ihm laſtenden Monotonie 
feine Maſchine öfters mit Gewalt zum Stillſtand und läuft in die Schmiede oder in die Schloſſerei; 
ihm bereitet es eine wahrhafte Freude, wenn die Maſchine plötzlich verſagt, obgleich er als Afford- 
arbeiter dadurch Verluſte erleidet. Ein Maſchinenſchloſſer wirft gelegentlich, um das Vergnügen 
bet Abwechſlung zu empfinden, den Antriebsriemen herunter; oder er olt die Maſchine, bis fie 
überläuft — bloß, um nachher das Of wieder abwiſchen zu können! Ein Berliner Plüfch- 
weber zum Kapitel Arbeitsteilung: , Fd verrichte immer dieſelbe Arbeit: Doppel- 
plüjd. Der Widerwille dagegen richtet fic)... gegen die ganze Umgebung. Die Zeit vergeht 
zu langſam. Eine Stunde Arbeitszeit wird zur Ewigkeit. Und dann: die Arbeit iſt ganz weiß. 
Alles weiß: die Kette, die Poile, der Schuß, alles weiß. Die gewebte Ware auch weiß. Das 
Auge hat keinen Anhaltspunkt. Ein Haß gegen die beſtehenden Einrichtungen erfüllt die Seele, 
weil gar kein Menſch die Anſtrengungen ſieht, immer gleich der Maſchine auf dem Poſten 
ſein zu müſſen.“ Ein anderer: „Zu der langen Arbeitszeit und dem niedrigen Verdienſt kommt 
noch die den Geift verblödende Eintönigkeit und Gleichmäßigkeit der Arbeit felbit... Ich 
betrachte die Maſchine als meinen Feind... Die Maſchine iſt ganz aus Stahl, nur Stahl, 
hat weder Herz noch Nerven, kennt keine Müdigkeit, keine Angſt, keinen Schmerz, keine Wut. 
Steht aufrecht und kann ewig aufrechtſtehen und arbeiten. Dieſes verdammte Stahlgeſchöpf, 
es muß ſiegen in einem Kampf, der kein Kampf ijt. Herausreißen möchte ich das Stahlherz, 
das fo unbarmherzig und leidenſchaftslos ſchlägt!“ ... Bei den Bergarbeitern wirkt insbe— 
ſondere die Trennung der Gehirnarbeit von der harten Muskelarbeit niederdrückend. „Das 
Menſchentum wird ſchimpflich inmitten eines brutalen Arbeitsprozeſſes“, ſchreibt ein Kohlen- 
bauer. „Wenn ich als Lohnarbeiter in dem Getöſe der Grubenarbeit verhüllt darüber nach- 
grüble, wie es kommt, daß der Fluch der Arbeit ſo bleiern auf mir laſtet, dann möchte ich 
aufſchreien, wild, gellend vor Wut und innerem Groll ... Täglich heruntergeriſſen in die 
geologiſchen Tiefen des verkohlten Urwaldes, kühle ich die gemarterte Stirn an dem Gefels 
des Jura. Wahrhaftig: ein niederträchtiger Fluch hängt fid) an dieſe Arbeit.“ 


* * 
* 


Daneben ſtehen, in vereinzelten Fällen, Außerungen, die wirkliche Arbeitsluſt bekunden; 
meift dort, wo der Rhythmus ober bie Abwechſlung in ber Arbeitstätigkeit Luft- 


Die Seele bes mobernen Arbeiters 389 


gefühle erzeugt. So ſchreibt ein Forſter Weber: „Ich habe ber Maſchine gegenüber nicht bie 
Empfindung, als ſei ſie ein übergeordnetes Etwas, deren wohlfeilſter und entbehrlichſter Teil 
ich bin, ſondern ſie erſcheint mir als ein willfähriges Werkzeug oder als mein „Brotpferd“, 
wie ich ſchon öfters ſcherzend geſagt habe... Sogar Vergnügen macht mir die einförmige 
Arbeit am Webſtuhl. Wenn die Webſchützen faſt unſichtbar hinüber und herüber gleiten unb 
auch ſonſt alles feinen gewohnten Gang geht, wenn der dumpfe Stoß und Schlag der Treiber 
Takt in das Tohuwabohu der taſtenden Maſchinen bringt, dann iſt es mir oft, als ob der raſche 
Takt der Maſchinen ſich mir mitteilte und einen inneren Anſchluß herſtellte.“ „Die Arbeit an 
ſich macht mir ſehr viel Freude“, bekundet ein Werkzeugſchloſſer. „Ich glaube ſogar, ſie zur 
Erhaltung meines Gleichgewichts zu bedürfen. Es iſt dies allerdings nicht der Fall, wenn ich 
anhaltend monotone Arbeit verrichten muß.“ Als bedeutſam und einer näheren Unterſuchung 
wert mag die Tatſache verzeichnet werden, daß bei den Berg- und Metallarbeitern die Arbeits- 
unluſt gegenüber der Arbeitsluſt beiläufig um das Vierfache, bei den Textilarbeitern dagegen 
um mehr als das Zehnfache überwog. Für die beträchtliche Unterbilanz an Luſtgefühlen 
in der Weberkategorie dürfte in erſter Linie der Mangel an entſprechender Muskelbetätigung 
verantwortlich zu machen fein, der in den beiden andern Fällen immerhin ein gewiſſes Gegen- 
gewicht gegen das allzu ſtarke Überwiegen der Unluſtaffekte ſchafft. Daß bie Akkord- 
arbeit von durchſchnittlich mehr als zwei Dritteln der Arbeiterſchaft abgelehnt wird — 
während ſich bloß 10,7% bis 19% ausgeſprochen für fie erklären —, iſt in Anbetracht der viel 
engeren Bindung an Maſchine und Arbeitsmaterial, die dieſes Syſtem im Vergleich zum 
Stundenlohn mit ſich bringt, durchaus begreiflich. 

Einen pſychologiſch belangreichen Fragepunkt bildet in dieſem Zuſammenhange das 
Problem der Ermüdung. Als Folgeerſcheinung (zum Teil aber auch als Urſache) von 
phyſiſchen Schädigungen, von Unterernährung, Schlafmangel, Nachtarbeit und freudloſer 
Arbeitstätigkeit (Zerſtückelung bes Arbeitsobjekts !) treten Unluſtaffekte auf, denen der Arbeiter 
wehrlos unterliegt. Manche dieſer Ermüdungszuſtände bieten das charakteriſtiſche Bild von 
Pſychoſen. Ein alter Metallarbeiter, der von der ſtilleren Hausinduſtrie in den lärmvollen 
Fabrikbetrieb verſchlagen wurde, klagt: „Ich ſchwitze den ganzen Tag, bekomme Angſtgefühle. 
Ich weine öfters wie ein kleines Kind, kann die Nacht nicht mehr ſchlafen. Ich habe jetzt zur 
Nachtzeit ein Licht brennen, und dadurch tue ich meine Gefühle beſſer erhalten.“ Lichtelektriſche 
Ermüdung und das flimmernde Einerlei heller Farben erzeugen beim Textilarbeiter Druck 
in den Augenhöhlen und andere pathologiſche Erſcheinungen, wie Funken und Mücken -Sehen, 
allmähliche Abnahme der Sehſchärfe, Trockenheit des Auges und Kopfſchmerzen. Ahnliche 
Sehſtörungen ruft während der Grubenarbeit das ewige Flackern der kleinen Benzinlampen 
hervor: Zittern der Pupille und Unſicherheit im Griff. Auf Körpern und Seelen laftet hier 
ber Atmoſphärendruck. „Wir Bergleute,“ berichtet ein Hauer, „beſchäftigen uns viel mit der 
Sterbetafel in der Bergarbeiterzeitung. Bei mindeſtens 70% der Dahingeſchiedenen lautet 
der Vermerk immer: Lungenſchwindſucht. Wenn ich dieſe Tafel durchleſe, krampft ſich mir 
jedesmal das Herz zuſammen, und ich fühle ſchon den mordenden Bazillenbiß in meiner Bruſt.“ 
Ein Pferdetreiber, der feit zehn Jahren mit einem Pferde namens „Viktor“ im Bergwerk 
arbeitet, erzählt: „Wenn ich, die Augen geſchloſſen, halbwegs einſchlafe, glaube ich immer 
nachts, ich ſei wieder in der Grube, und viele Male rufe ich dann, wie meine Frau verſichert: 
‚Hoi, Viktor. Jö!“ 3d) mache alfo zwei Schichten jeden Tag und erwache gewöhnlich in 
Schweiß gebadet.“ Durchfchnittlich erklären die Bergarbeiter fünf Stunden, die Textil- und 
Metallarbeiter acht Stunden als das erträgliche Maximum der täglichen Arbeitszeit. Aber 
in den Tabellen kommt auch die Ausſage eines Saarbergarbeiters mit drei Kindern, fünfund- 
zwanzig Mark Wochenlohn und vierzehnſtündiger Arbeitszeit vor, deffen ſehnlich fter Wunſch 
es wäre, fid) einmal „hinzulegen und die Glieder ausruhen zu laffen...“ 


* 
* 


390 Die Seele des modernen Arbeiters 


So bedürfen dieſe Menſchen, um nicht innerlich zu veröden, einer heftigen Reaktion. 
Sie finnieren bei der Arbeit, nähren uͤberſchwengliche Wünſche und Hoffnungen, ſpinnen 
Träume und bauen Luftſchlöſſer. Wie wenige unſerer heutigen Sozialpolitiker ahnen etwas 
von den Tragödien des Denkens, die ſich tagtäglich inmitten des modernen Arbeitsprozeſſes 
abſpielen! „Das Denken ift in meinem Milieu „Leiden“, ſchreibt ein Bergarbeiter, weil 
ich durch das Denken eben weiß, wie elend und unglücklich ich bin. 
Lage noch der Fluch der Unwiſſenheit über meinem geiſtigen Auge, wahrhaftig, mein Herz 
fühlte nur halb fo ſehr dies Wehe des irdiſchen Leids.“ Wie glüdlid) find dagegen bie Unempfind- 
lichen, in ihrer Berufsarbeit bereits geiſtig Erſtickten! Ein anderer frägt ſich: „Iſt das Denken 
Wohltat oder iſt es Plage für das arbeitende Volk?“ „Verflucht iſt das Denken,“ ruft ein Metall- 
arbeiter; „jetzt bin ich unglücklich und könnte erſt dann wieder glücklich werden, wenn ich alle 
meine Kräfte darauf verwenden könnte, die anderen heraufzuziehen. Dieſer jetzige 
Zuſtanddes Erkennens iſt ſcheußlich! Es muß etwas geſchehen, oder bie Miſere 
des Denkens richtet mich zugrunde.“ 

Daß durch die Mechaniſierung des Arbeitsprozeſſes auch vielfach geiſtige Kräfte frei 
werden können, indem die Maſchine gewiſſe Funktionen von den Arbeitenden übernimmt, 
zeigt ein Blick auf die von Webern herrührenden Dokumente. Hier finden wir den größten 
Prozentſatz derer, die ſich während der Arbeit mit „außerberuflichen Problemen“ befaſſen 
(20, 9% gegen 5,1% bei den Bergarbeitern und 17,6% bei den Metallarbeitern). Weder 
Verdienſt, noch Familie, noch die berufsmäßige Arbeit oder Fragen der Organiſation und 
Politik beſchäftigen die Arbeiter Dieter Kategorie in gleichem Maße. Und diefe „außerberuf- 
lichen Probleme“ ſind oft ganz ungewöhnlicher und auserleſener Art. Das eine Mal ſind 
es Lichtjahre, Syriusweiten, Milchſtraßenſyſteme, die den Philoſophen am Webſtuhl beſchäf⸗ 
tigen, das andere Mal die Geſchichte der Erdepochen oder das Leben der einfachſten Organis- 
men. Ein alter Forſter Spinner ſpinnt ſeit Fahren am Faden einer äußerſt komplizierten 
Kataſtrophentheorie, die in der Lehre gipfelt, daß die nördliche Halbkugel unſeres Planeten 
abſolut nicht mehr imſtande fei, eine Höherentwicklung der Geſamtmenſchheit zu tragen.. 
Zweifellos begünſtigt die Beſchäftigung am Webſtuhl auch den Hang zu Reimereien: davon 
zeugen 817 von den Textilarbeitern eingelieferte Gedichte. Bei den Metallarbeitern iſt es 
nicht ſelten der toſende Rhythmus der Maſchinen, der die ſchöpferiſche Phantaſie erregt. „Man 
hört auf, anders als in Rhythmen zu denken“, ſchreibt ein Arbeiter. „Man dichtet, und der 
Treibriemen ſkandiert. Wie manches Gedicht verdanke ich dem metallenen Klingen der Dreh- 
bank.“ In den meiſten Fällen freilich richten ſich die Gedanken dieſer Kategorie während der 
Arbeit auf höchſt nüchterne Probleme: auf Fragen des Verdienſtes (27,895) und der berufs- 
mäßigen Tätigkeit (25,595); erft in ziemlich weitem Abſtande folgt die Beſchäftigung mit poli- 
tiſchen und Organifationsfragen (12,8%) und mit Familienangelegenheiten (3%). Den größten 
Prozentſatz gedanklich Indifferenter erzeugt die Grubenarbeit (42,8% gegen 14,8% bei den 
Textilarbeitern und 13,5% bei den Metallarbeitern). 

Sieht man jedoch von der zeitlichen Beſchränkung auf die eigentliche Berufstätigkeit ab, 
ſo bietet ſich ein völlig anderes Bild: der Mißmut über die Abhängigkeit vom Brotherrn, die 
Sorge um die Zukunft der Kinder, der ſeeliſche Orud der niederen Lebenshaltung nehmen 
alsdann den breiteſten Raum im Gedankenleben des Normalarbeiters ein. Je niedriger aber 
dieſe Lebenshaltung, deſto mehr wird die materielle Abhängigkeit als drückend, als perſönliche 
Anfreiheit empfunden, am wenigſten alfo bei den Metallarbeitern, am ſtärkſten dagegen 
bei den Bergarbeitern. „Ich fordere Remedur von euch!“ ruft einer aus. „Der Fluch: der 
Meißel, die Kelle in die nervige Fauſt. Aber diefe Fauſt gehört einem Menſchen. Achtet 
darauf! Bitter rächt fih unterdrückte Kraft!“ „Das Bewußtſein der Abhängigkeit vom Arbeit- 
geber verbittert mich, hat aus mir einen reizbaren Menſchen gemacht“, grollt ein Weber. Und 
ein anderer: „Früh ſieben Uhr beginnt die Fabrikſirene zu pfeifen. Es find die Pfeifen meines 


Die Seele des modernen Arbeiters 391 


Brotherrn ... So werde ich herangepfiffen, wie der Herr feinem Hunde pfeift. Fünf Minuten 
ſpaͤter wird das Fabriktor geſchloſſen oder der Markenautomat gefperrt, und ich bin im Zucht- 
haus drin.“ 

So weit die Unterfudung reicht, konnte feſtgeſtellt werden, daß die Erwerbsfrage faft 
immer nur im Zuſammenhang mit dem Schickſal der jungen Generation erörtert wurde; im 
übrigen ſpielten die rein materiellen Geſichtspunkte an ſich durchaus keine überwiegende Rolle. Am 
ſtärkſten ift die Freude an Familie und Heim bei den verhältnismäßig am beſten geſtellten Metall- 
arbeitern ausgebildet (45,395; bloß 5,1% gaben dem Wirtshaus den Vorzug). Die Reihenfolge 
ift hier wieder dieſelbe wie die für das Abhängigkeitsgefühl konſtatierte: von den Textilarbeitern 
votierten nur noch 38,2% für die Familie, dagegen 9,2% für das Wirtshaus, und bei den 
Bergarbeitern ſchließlich rücken die beiden Zahlen noch näher zuſammen (29,5% gegen 19,6%). 
Die gleiche Geſetzmäßigkeit ſpricht auch aus der Alkoholſtatiſtik. Für entbehrlich er- 
klären den Alkoholgenuß 69,2% der Metallarbeiter, dagegen nur 65% der Textilarbeiter und 
51,7% der Bergarbeiter; für unentbehrlich: 5,6%, 5,9% und 19,7%. Auffallend iſt, daß 
13,9% der Textilarbeiter den Alkohol zugeſtandenermaßen als Arbeitsſtimulans gebrauchen 
(gegen 8,8% der Bergarbeiter und 6,6% der Metallarbeiter). Daß zahlreiche Arbeiterfrauen 
in nicht immer ſehr zärtlichen Randgloſſen zum Fragepunkt „Alkohol“, und auch bei andern, 
noch heikleren Anläſſen ihren Ehemännern, wo es darauf ankommt, ziemlich unverhohlen 
und derb die Leviten leſen, erhöht noch den Reiz der Spontanität und Ungeſchminktheit, den 
dieſe ganze Generalbeichte atmet. 

* ai * 

Was wünſcht, was erhofft der Arbeiter perſönlich vom Leben? Welchen Anteil nimmt 
er an den höheren Kulturbeſtrebungen dieſer Zeit? 

Wo nicht die drückendſte Sorge um das Exiſtenzminimum die natürliche Willens- 
elaſtizität ſchwächt, ift der Bogen des perſönlichen Wünſchens und Erwartens hier kaum weniger 
weit geſpannt, als in jeder andern modernen Geſellſchaftsſchicht, ja er umfaßt eine um ſo 
reichere Fille des Lebens, als die Wunſchäußerung des Proletariers triebhafter, ungebrochener 
iſt als die des geſättigten Kulturmenſchen. Die Frage: „Was würden Sie tun, wenn Sie ge- 
nügend Zeit und Geld hätten?“ wurde in einer erſtaunlich großen Zahl von Fällen mit dem 
Wunſch nach Kunſtbetätigung beantwortet. „In der Malerei drücke ich aus, was 
ich am Tage gewaltſam unterdrücken muß“, ſchreibt ein Teppichweber. Ein Färber geſteht, 
daß er am liebſten den ganzen Tag zeichnen und malen würde. Ein anderer würde fid), wenn 
es anginge, ganz der Muſik widmen. Ein vierter möchte Dirigent ſein. Andere wieder wollen 
ſchnitzen und modellieren, oder ſie erſehnen im allgemeinen eine Betätigung von individuellem 
Charakter, die künſtleriſches Intereſſe und Schönheitsſinn erfordert. In einer Arbeiter- 
Dilettanten-Kunſtausſtellung, die der Veranſtalter der Enquete vor etwa drei Jahren in Berlin 
eröffnete, waren einige zum Teil recht anſehnliche Proben dieſer Kunſt zu ſehen, die für viele 
zu einem unentbehrlichen Gegengewicht gegen die Hatz, den Schmutz und die Enttäuſchungen 
des Werktags geworden iſt. Über den Weg, der ihn zur Kunſt führte, ſchreibt ein Maſchiniſt: 
„Verletzt durch die Manieren meiner Altersgenoſſen, abgeſtoßen von der Inhaltloſigkeit ihrer 
Bedürfniffe, zog ich mich bald von allen zurück. Ich fing an, zu malen, um meiner ſelbſt willen 
malte ich. Es war mir ein Troſt und ward mir zur Fundgrube der köſtlichſten Freude. Dem 
Spott von ſeiten meiner Frau trotzte ich, und ſchweigend verzieh ich der, die mich nicht ver⸗ 
ſtand. Ich male und zeichne nach zehn- bis zwölfftündiger Arbeit an der Maſchine .. Die 
Sorge ums tägliche Brot und die Zukunft ift unfer Gaſt, doch ich bin heiter, ich bin gliidlid.. .“ 
Kin, In politiſchen und wirtſchaftlichen Fragen werden Wunſch und Hoff- 
nung naturgemäß ſtark durch bie Parteizugehörigkeit beeinflußt, und auch die wiſſenſchaft⸗ 
lichen und Weltanſchauungsdirektiven ſtammen zum größten Teil von dieſer Seite her. Ein 
Bergarbeiter hofft, daß bei der nächſten Reichstagswahl ſämtliche Mandate den Sozialiſten 


392 Die Seele des modernen Arbeiters 


zufallen werden. Ein zwanzigjähriger Oreher findet, der Zeitpunkt ſei nicht mehr allzu fern, 
„wo wir uns den Himmel auf Erden gönnen werden“. Ein Forſter Weber wiederum meint, 
es beſtehe gar keine Veranlaſſung, fid) über das drückende Arbeits verhaͤltnis traurige Gedanken 
zu machen, „da die kapitaliſtiſche Entwicklung ja ihrem Untergang zutreibt.“ In unzähligen 
Varianten kehrt der neo-meſſianiſche Glaube an die Gottheit „Evolution“ wieder. Manchmal 
freilich klingt der ernüchternde Unterton einer allzu rechneriſchen Betrachtung durch: , Hatten 
wir darauf keine Hoffnung, würden wir nicht bezahlen“, läßt ſich beiſpielsweiſe ein kraſſer 
Realift aus Schleſien vernehmen ... Viele mellen zwar die Zukunftsideale der Bewegung 
von fidh, erklären aber die praktiſche Gegenwartsarbeit von Partei und Gc- 
werkſchaft für wertvoll. In einer Minderheit von Fällen, — die relativ am ſtärkſten in der 
Bergarbeiterſchicht hervortrat — war teilweiſe oder völlige Hoffnungsloſigkeit feſtzuſtellen, 
eine Hoffnungsloſigkeit, die ſich von trockenem Zweifel und elegiſcher Reſignation bis zum 
pathologiſchen Verzweiflungsausbruch ſteigert. In einem ſehr bemerkenswerten Einzelfalle 
wird dem einſeitigen Streben nach politiſcher Macht, der Verkündigung eines fertigen Gefell- 
ſchaftsideals die Forderung nach gleichzeitiger bewußter Umgeſtaltung der wirtſchaftlichen 
Grundlage, nach Vereinigung von Wirklichkeit und Zdeal auf dem Boden der Genoſſenſchaft 
und der Familie gegenübergeſtellt. 

Nebenher treibt eine Flut perſönlicher und ins allgemeine gehender Wünſche und 
Neigungen. Hier möchte ein junger Grubenarbeiter, wenn er mehr Zeit und Geld hätte, 
täglich mit ſeinem Schatz ſpazierengehen, dort ein ſchleſiſcher Kohlenhauer fleißig die Kirche 
beſuchen und Seelen retten (wie denn überhaupt die katholiſchen Bergarbeiter Schleſiens 
nebſt den Oberſteiner Metallarbeitern unter allen in Betracht kommenden regionalen und 
Berufsgruppen das prozentuell ſtärkſte Kontingent von Gläubigen ſtellen). Hier ſteht im 
Brennpunkt des individuellen Wünſchens und Hoffens ein Zweirad, dort fehlt es an einem 
Mikroſkop oder an den Werten Darwins, Hädels und Oſtwalds zur Fortführung naturwiffen- 
ſchaftlicher Studien. Dieſer ſucht Zerſtreuung im Wirtshaus, jener liebt die Waldeinſamkeit. 
Der eine erſtrebt Vertiefung in die Parteiliteratur, der andere eine Hühnerzucht. Dem iſt 
Kindererziehung höchſte Freude, jenes Ehepaar hinwiederum erſehnt Aufhören des Kinder- 
fegens... 

Ein Kapitel für (id) — und fein febr erfreuliches — bildet bie Arbeiterlektüre. 
Anſtreitig haben Gewerkſchaftsvorträge, Arbeiterbildungsvereine und Volksbibliotheken auf 
den Geſchmack des leſenden Arbeiterpublikums verbeſſernd eingewirkt: im ganzen handelt 
es ſich hier aber doch — günſtigen Falls! — um eine Lektüre, wie ſie von normalgebildeten 
15- bis 20jährigen jungen Leuten in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ge- 
trieben wurde. Und man möchte beinah glauben, daß zum Seil fogar eine einſeitige, von 
außen herſtammende Direktive dem völlig unbeeinflußten Leſen noch bei weitem vorzuziehen 
iſt. Denn begegnet man irgendwo in den Tabellen einem ſolchen Einzelgänger, ſo kann man 
ziemlich ſicher ſein, daß ſeine Lektüre ſich im weſentlichen auf okkultiſtiſche und „teoſoviſche“ 
Schriften, oder auf den Dottor Bilz, wenn nicht gar auf Stid-Garter-Qtomane beſchränkt. Die 
erwähnten günſtigſten Fälle betreffen vorzugsweiſe die Klaſſiker, Abhandlungen über den 
hiſtoriſchen Materialismus, „Das Kapital“ von Marx, Bebel und andere Parteiſchriftſteller, 
Büchners „Kraft und Stoff“, einige Naturforſcher und Philoſophen und ſtrichweiſe die Belle- 
triſtik von der Marlitt bis zu Clara Viebig. Daß 37 Metallarbeiter, 16 Textilarbeiter und 
2 Bergleute Nietzſche geleſen haben, iſt nur ſymptomatiſch für das heiße, unbeirrte Suchen 
und Ringen einer gehemmten Lebens- und Willensbejahung. Gleich daneben las man die 
„Nacktheit“ und die „Schöne Matuſchka “. 

* 


* 
* 


Maſſendokumente der verſchiedenſten und verſchiedenwertigſten Art... Es ijt nötig 
und nützlich, ins Detail einzugehen. Wer im Auge des Menſchen dieſer Zeit nach einem Urteil 


DVerblüffen! 393 


über Wert unb Unwert des Lebens forſchen will, darf fid) nicht ſcheuen, auch feine Haushalt- 
bücher zur Nadpriifung heranzuziehen. Im Haushaltbud ber Arbeiterfeele aber nehmen 
die Debetpoſten einen großen, einen übergroßen Raum ein. Man braucht durchaus nicht, 
wie es hier geſchah, in Form einer buchhalteriſchen Aufſtellung die ziffernmäßige Bilanz aus 
Luft- und Unluſtgefühlen zu ziehen, um im Leben des modernen Arbeiters ein ausgeſprochenes 
Defizit auf Roften der körperlichen und ſeeliſchen Energien feſtſtellen zu können: die 
Tauſende von Einzelergebniſſen, die hier zur Aufhellung eines vielfach noch dunklen pſycho⸗ 
pathologiſchen Fragengebietes an den Tag gefördert wurden, überzeugen die Zeitempfindung 
aufs nachdrücklichſte, daß ein ſolches Defizit vorliegt. Wenn die bisher angewandten Mittel, 
hier einen Ausgleich zu ſchaffen, nicht ausreichten, ſo liegt dies vielleicht weniger an den Mitteln, 
als am Ziel ! Dr. Max Adler (Berlin) 


Dy 
Verblüffen! 


(Bum Thema Weltſtadtkultur) 


anche halten es vielleicht für ein offenes Geheimnis. Aber für die allerme iſten 
N ſcheint es doch ein ewig verſiegeltes Geheimnis zu fein: daß eines vor allem 
N unter den Rindern der Welt zum Siege führt: bas Verblüffen. 

Militäriſch nennt man das wohl die moraliihe Wucht der Offenſive. Es ift gerade in 
diefen Tagen offenkundig wie nur je zuvor, daß der jäh und unerfchroden losſchlagende An- 
greifer ſtärker ift als der Gegner mit doppelt jo vielen Armeekorps. Auf Züdifch foll die Zauber- 
gabe, durch edle Oreiſtigkeit zu verblüffen, den Namen Chutzbe führen. Die Amerikaner nennen 
die Wirkung der gleichen Gabe, die im Lande der unbegrenzten Möglichkeiten des öftern erprobt 
zu fein ſcheint, kurz und ſchlicht: Bluff. Bei uns könnte man etwa von des Verblüffens Zauber- 
kraft ſprechen. 

Ein Zauber muß unbedingt dabei im Spiel ſein. Zn unſrem herrlichen National- 
kulturzentrum Großberlin dringen Beweiſe dafür beinah täglich in die breiteſte Öffentlichkeit. 
Unter Ausſchluß der Offentlichkeit, im ganzen weiten Bereich des offenen und des verhüllten 
Erwerbslebens ift der Zauber hier ohne Zweifel ſtündlich, minütlid) vielfältig am Werk. Zwei 
hübſche Beiſpiele aus der allerneueſten Tagesgeſchichte erhellen das mit ſozuſagen über- 
wältigender Beweiskraft. 

Seit kurzem verfolgten den Zeitungsleſer in Blättern verſchiedenſter Richtung große 
Anzeigen, die das Bild eines wohlgeſcheitelten, bartloſen, bekneiferten Herrn mit ſanftem 
Blick und konfisziertem Lächeln brachten und in längerer Darlegung ohne greifbaren Gehalt 
von den wunderbaren Erfolgen dieſes Herrn ſprachen. Er heißt GS. J. Macaura F. R. S. A., 
und wenn bei uns kaum ein Menſch weiß, was F. R. S. A. bedeutet, ſo haben die vier Buch- 
ſtaben — erſt recht ihren Zweck erfüllt. Der Mann kommt, woraus er keineswegs ein Hehl 
macht, aus Amerika zu uns; die unverſtändlichen vier Buchſtaben bezeugen die Echtheit des 
Imports. Das gehört zu dem Zauber. Das Unerforfchte, charakteriſtiſch Fremde reizt die Neugier 
der Menge, und fo einem ganz waſchechten Yankee alle Teufelskünſte zuzutrauen, find wir 
harmloſen Oeutſchen ja allemal geneigt. G. J. Macaura F. R. €. A. behauptet, einen Apparat 
erfunden zu haben — den „Pulſoconn“ —, eine „eklatante“ Erfindung, die bereits auf der 
ganzen Welt bekannt fei „und die fid) infolge ihrer großartigen Erfolge zur Beſiegung von Rheu- 
matismus, Lähmung und einer gewiſſen Art von Schwerhörigkeit einen Namen gemacht hat“. 

Der edle Menſchenfreund ſtellt dabei ſein Licht — wenigſtens das Licht ſeiner smartness 
— entſchieden unter den Scheffel. Er hat in England ſchon durch den gleichen Reklamefeldzug 
ſeinem Pulſoconn einen Namen gemacht. Und ein Freund, der eben von einer mehrwöchigen 


8 


J 


< 


494 Verbluffen! 


Reife durch Frankreich zurückgekehrt iſt, erzählt uns, daß man dort ebenfalls in keiner Zeitung 
dem Konterfei und den Lockungen des F. R. S. A. entgehen kann. Von den Erfolgen in 
England behaupten die Anzeigen, „Pulſoconn“ fei im größten Vortragsſaal Londons vor- 
geführt worden und habe „ſolch wunderbare Refultate erzielt, daß die 20 000 Leute, welche 
derſelben beiwohnten, ihrer größten Freude Ausdruck gaben. So etwas hatten ſie noch nicht 
erlebt...“ Der Apparat wurde dann, wie Macaura mit immerhin vorſichtiger Wahl des Aus- 
drucks mitteilt, „in der engliſchen Königsfamilie angewandt“ und foll die Gemahlin des Lord 
Roberts von achtjährigem Rheumatismus in kurzem ſo weit geheilt haben, daß ſie nicht mehr 
gefahren und getragen zu werden brauche. 

Den Berlinern war durch diefe ausdauernde Reklame unter der Spitzmarke „Be- 
kämpfung von Rheumatismus und Lähmung auf mechaniſchem Wege“ ein ſo heftiges Intereſſe 
für Macaura F. R. S. A. und den Pulſoconn beigebracht worden, daß die beiden öffentlichen 
Vorführungen, die an zwei aufeinanderfolgenden Tagen ſtattfanden, tatſächlich überlaufen 
wurden. Der große Naum des Wintergartens konnte die Menge der Einlaßbegehrenden 
nicht aufnehmen; Hunderte mußten vor den Toren umkehren. Und der Andrang zu der ſofort 
errichteten Berliner Verkaufsſtätte — Verzeihung: zu dem ſofort eröffneten „Inſtitut“ — war 
(und iſt vielleicht ſogar in dieſem Augenblick noch) gewaltig. 

Was iſt nun „der Pulſoconn“, die angeblich patentierte eklatante Erfindung des ameri- 
kaniſchen Menſchenfreundes? Ein Berliner Arzt und ein Fabrikant mediziniſcher Apparate 
haben ſich den Rummel angeſehen. Der Arzt erklärt (in der B. Z.): 

„Es ift nicht zu glauben, aber es ijt wahr, fo wahr es ift, daß die Macaura-Pilger „Wurzen“ 
ſind: der Pulſoconn iſt ein Inſtrument, das ich ſchon über zehn Jahre im Gebrauch habe; es 
ijt der einfach e, harmloſe Handapparat für Vibrations- Maſſage, den jeder 
in jedem Geſchäft, in dem man mediziniſche Waren erhält, für 12 bis 15 Mark, je nach der 
Feinheit der Ausführung, kaufen kann. Der Apparat, den uns der Manager gezeigt hat und 
der fünfzig Mark koſtet, war ſicher nicht made in Germany; dafür war er zu ſchäbig 
ausgeführt ...“ Der deutſche Arzt gibt ſchließlich dem amerikaniſchen Medizinmann den 
erfriſchend deutlichen, wiewohl nicht gerade anmutig ſtiliſierten Rat: „Kaufen Sie ſich Ihre 
Ihnen — wie Sie zu ſagen wagen — patentierten (wo?) Pulſoconn-Apparate hier in Berlin 
bei irgend einem Fabrikanten mediziniſcher Apparate; ſie werden dann ſchöner und handlicher 
ſein als bisher. Allerdings, ſie werden dann nicht mehr aus Amerika ſein — und damit iſt 
der ganze Zauber zum Teufel!“ 

Der Schluß dieſes Schluſſes trifft freilich nicht ganz den Kern der Sache. Die Herkunft 
des Apparates iſt minder wichtig als die Oreiſtigkeit des Bluffs. Die Reklame für den ſchäbigen 
Maffage- Apparat hat HYunderttaufende gekoſtet; fie wurden kaltblütig riskiert im dreiſten 
Vertrauen auf die blinde Hörigkeit der Maſſen gegenüber jedem verblüffend ſicher und ge- 
ſchickt auftretenden Doktor Eiſenbart, beſonders gegenüber einem mit dem myſtiſch überſeeiſchen 
Zuſatz „F. R. S. A.“. 

Da die Maſſe ſich ſelbſt nicht helfen kann und arme, breſthafte Menſchenkinder begreif— 
licherweiſe gern jegliches angeprieſene Heilmittel probieren, ſo haben diejenigen, auf deren 
Schutz die Maſſe ſich vertrauensvoll verläßt (und für deren Schutz ſie großenteils ſogar Laſten 
trägt), die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, v o r zuſorgen, daß beſagte Maffe, und na- 
mentli die Menge der Leidenden, nicht aufs Oreiftefte „geblufft“ und ausgebeutet werde. 
Segt, nach der einträglichen Maſſenſuggeſtion (um ein überaus mildes Wort zu wählen), 
ſcheint die Polizei ſich allmählich mit der Sache zu beſchäftigen. Jetzt, nad der Eröffnung 
des „Inftituts“, bat ein Arzt den Schwindel enthüllt. Konnte nicht vor her etwas dagegen 
geichehen? 

Per Mann, oder vielmehr die Geſellſchaft, die offenbar dahinter ftebt, gebt doch offen- 
kundig genug zu Werke. Man brauchte ſich bloß, nach dem Erſcheinen der erſten deutſchen 


DBerblüffen! 395 


Anzeige, in England oder bei unſeren Vertretern in Amerika zu erkundigen. Die Arzte brauchten 
bloß geſchloſſen vorzugehen und durch die Polizei das erklären zu laſſen, was jetzt der eine feft- 
geſtellt hat. Aber es fehlt uns offenbar noch die Organiſation der Abſicht, uns nicht 
verblüffen zu laſſen. 

Die Amerikaner haben fogar einen deutſchen oder mindeftens in Oeutſchland appro- 
bierten Arzt in ihren Dienſten; er ſucht die Patienten heraus, die mit bem „Pulſoconn“ zu 
behandeln find. „Man hat wahrhaftig,“ ſchreibt der ärztliche Enthiller, „einen Arzt gefunden, 
der ſich dazu hergibt, dieſe Komödie mitzumachen. Wie groß muß das Elend bei manchen 
Arzten ſein!“ Die ärztlichen Standesvereinigungen, die ſonſt ihre Berufsintereſſen ſo energiſch 
zu ſchützen wiſſen, daß beiſpielsweiſe die Tagespreſſe es faſt niemals wagt, Angriffe gegen 
ſchlechte, menſchenmörderiſche Arzte zu veröffentlichen, diefe Standesvereinigungen werden 
ja nun wohl auch hier eingreifen. Aber leider erſt nachträglich. Bis Ernſtliches geſchieht, wird 
der Raub längſt in Sicherheit gebracht ſein. Der Bluff iſt wieder einmal glänzend gelungen. 

Wir greifen nur hinein ins volle Berliner Menſchenleben und packen gleich einen Fall, 
einen durchaus einheimiſchen Fall ganz anderer Art, der doch einen nicht minder grotesken 
Beweis dafür liefert, wie — kinderleicht die ach ſo kluge Großſtadtwelt ſich verblüffen läßt. 
Dem „großen“ Macaura F. R. A. S. ſtellen wir den „kleinen Tipper“ gegenüber. Alſo nämlich 
ſprach ſoeben der Gerichtsbericht Berliner Blätter — (er ſpricht am beiten für fic felbft): 

„Der kleine Tipper“. Ein zwölfjähriger Rennbahnbeſucher, der feinem 
eigenen Onkel über 6000 Mark entwendet hatte, mußte ſich in der Perſon des Schülers O. 9. 
vor der Sugendftraftammer des Landgerichts I verantworten. Mitangeklagt war die Ron- 
fitürenhändlerin Charlotte V. Der Angeklagte H., der etwa einen Meter groß ijt unb 
kaum über die Schranke der Anklagebank hinwegſehen konnte, hat es fertig gebracht, langere 
Zeit hindurch den „Kavalier“ zu ſpielen. Die hierzu erforderlichen Geldmittel ſtahl er ſeinem 
Onkel, einem Schlächtermeiſter, aus der Tageskaſſe, die dieſer in ſeinem Schlafzimmer auf- 
bewahrte. Er fing hierbei mit kleinen Beträgen an, zuletzt eignete er ſich jedoch Beträge von 
300 bis 400 Mark an. Da fein Onkel einmal davon geſprochen hatte, er folle wegen feiner 
kleinen Geſtalt Zodei werden, ließ der Zwölfjährige fih zuerſt in einem vornehmen Tatterſall 
des Weſtens Reitunterricht erteilen. Bei einem Spazierritt im Tiergarten ließ er ſich dann 
auch mit dem Stallmeiſter hoch zu Roß photographieren. Außerdem war der kleine „Kavalier“ 
ſtändiger Rennbahnbeſucher. Er fuhr in Begleitung der Mitangeklagten V. im Automobil 
nach den Rennbahnen, wo er unter dem Spitznamen „der kleine Tipper“ ſchon allgemein be- 
kannt war. Er wettete mit Sachkenntnis am Totaliſator und ſoll dabei erhebliche Beträge 
gewonnen haben. Nebenbei unternahm der Zwölfjährige in leichtſinniger Geſellſchaft Fahrten 
durch verſchiedene Weinlokale, wo er den freigebigen Kavalier ſpielte. Erſt nachdem die Dieb- 
ſtähle die Höhe von über 6000 Mark erreicht hatten, erfolgte die Entdeckung. Der Staats- 
anwalt beantragte gegen die Angeklagte V. Freiſprechung, da nicht feſtgeſtellt ſei, daß ſie 
von der Herkunft des Geldes Kenntnis gehabt habe. Gegen H. wurde unter Anwendung 
der bedingten Begnadigung auf zwei Monate Gefängnis erkannt. — 

Ein Kind, ein Zwerg alfo kann es in Torheiten und übelſten Anfitten einem Erwachſenen 
gleichtun, und obendrein mit geſtohlenem Geld, wofern es oder er nur durch die Sicherheit 
feines Auftretens verblüfft! Natiirlid waren hier mancherlei erwachſene Individuen beteiligt, 
die ſich um unſauberen Gewinnes willen ſehr gern verblüffen ließen. Aber bei einem fo offen 
betriebenen Unweſen müjjen doch auch viele unbeteiligte, anjtánbige Menſchen auf den protzigen 
Zwerg aufmerkſam geworden fein, ehe die Entdeckung der lange fortgeſetzten Diebſtähle dem 
widerlichen Treiben ein Ende machte. Doch in der Welt der Rennſchieber iſt man nach keiner 
Richtung bin empfindſam. Da läßt man, was gelten will, gelten, ſolange die Polizei nichts 
dagegen bat. Hddftens deutet man durch einen wohlfeilen Spitznamen einen Abſtand zur 
Mehrheit an. 


396 Sugenbwebren 


Weder aus Mitleid mit einem irregehenden Kind noch aus Reinlichkeitsgefühl faßte 
jemand den Mut, dieſem plumpen Bluff auf den Grund zu gehen! Eine ſaubere Sorte Offent- 
lichteit! Da ſprechen die nackten Tatſachen eine fo beredte Sprache, daß Worte der Entrüftung 
oder des Ekels den Eindruck nur abſchwächen könnten. 

Um weitere Beiſpiele iſt man, wie geſagt, hier in Großberlin und auch anderswo nicht 
leicht in Verlegenheit. Bei uns könnte man vom unaustottbaren Geſchlecht der Hodftapler 
mit falſchen und echten Titeln erzählen, oder von der eben abgeſtraften „Meineidsfabrik“, oder 
von manchen Großtaten künſtleriſcher und kunſtwidriger Reklame, von „Millionengründungen“ 
ohne Geld. In Paris hat Camille Mauclair neulich enthüllt, wie der talentvolle Kunſthandel 
(natürlich nur in Paris!) mit ſchamloſer Oreiſtigkeit ſyſtematiſch „Hauffen“ in Künſtlernamen, 
meiſt in modernſten, macht, und wie bereitwillig vor allem die deutſchen Käufer ſich verblüffen 
laſſen uſw. uſw. uſw. 

Gegen des Verblüffens Zauberkraft iſt ſchlechterdings kein Kraut gewachſen, außer 
jenem, das da heißt: Selbſterziehung — Selbſterziehung zur redlichen Trennung von Schein 
und Wirklichkeit draußen und drinnen, zur Beſonnenheit auch gegen die eigenen Eindrücke 
unb zum frühen Mißtrauen gegen jede Abſicht des Verblüffenwollens. 

Wolfg. Rieth 


Sp 
Jugendwehren 


2 
GC a 6 ie Zugendwehren beſtehen nicht nur in Deutſchland, fondem auch in 
KE 2 Frankreich und Stalien, hier als Turnvereine mit militäriſcher Organi- 
“ſation, ferner in manchen dem Sportbetrieb verwandten Rreifen Englands 
und find neuerdings in den in fortſchreitender Bildung begriffenen Schülertruppen Ru $- 
lands im Begriff, zu einer geſetzlich geregelten, für das geſamte ruſſiſche Reich obliga- 
toriſchen Inſtitution zu werden. Der deutſche Kriegsminiſter widmet bekanntlich der mili- 
täriſchen Zugenderziehung ſorgfältige Beachtung und hat in einer programmatiſchen Erflä- 
rung Stellung genommen zu der ODenkſchrift des Abg. v. Schenkendorff, des Vorſitzenden 
des Zentralausſchuſſes für Volks- und Zugendfpiele in Deutſchland. Dieſe Oenkſchrift han- 
delt über nationale Erziehung durch Leibesübungen und beſchäftigt ſich mit der Frage 
der Erhöhung der körperlichen Tüchtigkeit der Jugend durch die Erziehung und den in 
letzter Zeit ſich geltend machenden Beſtrebungen auf Errichtung von Jugendwehr und Milizen 
uſw. Demgegenüber entrollt der Miniſter ein eigenes pofitives Programm. Mit der Ve- 
wertung der militäriſch organiſierten Zugendwehren erklärt fid) ber Miniſter einverſtanden 
und bemerkt: Vom Standpunkt der Heeresverwaltung aus müſſe er die beſtmögliche körper- 
liche Vorbereitung des Heereserſatzes als Endziel aller Jugendpflegemaßnahmen bezeichnen. 
Soweit aber auf Exerzieren und Schießen in dem Übungsplan ein Hauptwert gelegt werde, 
könne er ſich nicht verhehlen, daß eine derartige Ausbildung ſich für militäriſche Zwecke 
weniger nützlich erweiſen werde als eine planmäßige Durchbildung des Körpers, wie ſie in 
den Vereinen für Körperpflege betrieben werde. 

Damit trifft der Miniſter für unſere deutſchen Verhältniſſe offenbar das Richtige. Denn 
eine militäriſche Organiſation und Ausbildung der Zugendwehr lenkt die Jugend zweifellos 
ſowohl von der Erfüllung der Zwecke des Schulunterrichts, wie auch von den Aufgaben ab, 
die unmittelbar nach erfolgtem Schulbeſuch in den mannigfachen Zweigen der Erwerbstätigkeit 
an ſie herantreten, und vermag nur militäriſch minderwertige Reſultate zu erzielen. Das 
Scheitern der Schülerbataillone und der als Erſatz für fie gedachten militäriſchen Fugendvereine 
in Frankreich hat beides bewieſen. Die militäriſche Bedeutung der Jugendwehren in 


Zugendwehren 397 


den verſchiedenen Ländern ijt verſchieden. Denn für Länder, deren Bevölkerung es an ein- 
gewurzeltem Sinn für das Wilitärweſen mangelt, wie z. B. in Jtalien, England 
und Rußland und in neueſter Zeit infolge der antimilitariſtiſchen Beſtrebungen auch in 
Frankreich, beſitzen die Zugendwehren eine ganz andere Bedeutung als für ſolche, wo 
dieſer Sinn noch vorhanden ift, wie z. B. in Oeutſchland, deffen Heer 71 000 zweijährig und drei- 
jährig Freiwillige beſitzt. Trotzdem kann militäriſcher Sinn und Verſtändnis bei unſerer Jugend 
noch dadurch erheblich geſteigert werden, daß ihr, wie der Kriegsminiſter veranlaßte, bei mili- 
täriſchen Paraden und ſonſtigen militäriſchen Feierlichkeiten Plätze angewieſen und die nötigen 
freien Stunden gewährt werden. Ferner könnten die Jungens in den neuerdings vermehrten 
Schulferien hier und da Gelegenheit bekommen, bei einem freiwilligen Ausmarſch ins Gelände 
einer einfachen militäriſchen Übung beizuwohnen. Geben dabei die meiſt militäriſch geſchulten 
Lehrer die nötigen Unterweiſungen, fo erhalten fie derart einen Teil des ſchon von Graf Haefeler 
beim XVI. Armeekorps angewandten und nunmehr vom Kaiſer angeregten „Anſchauungs- 
unterrichts“, der fortan den Rekruten bei ihrer Ausbildung im Gelände zuteil wird. 

Sn Italien beſtehen bereits ſeit längerer Zeit militäriſch organiſierte Turnvereine 
von weſentlichem Wert nicht nur für die Körperentwicklung, ſondern auch für die Pflege des 
militäriſchen Sinnes. Allein da nur etwa 70 % ber dem Verband angehörenden ſchulpflichtigen 
Knaben auf einige Jahre die Schule beſuchen, ſo bleibt er ohne weitreichende Wirkung, obgleich 
alles geſchieht, um durch ſchmucke Uniformen und Muſikkorps zum Beitritt zu reizen. In ähn- 
licher Richtung zielen die militäriſch organiſierten Schützenvereine Italiens, und neuerdings ijt 
man beſtrebt, nach ſchweizeriſchem Beiſpiel durch Zugendvereine (Sugendwehren) den mili- 
tariſchen Sinn, und durch die gymnaſtiſchen Übungen der Turnvereine die körperliche Cnt- 
wicklung zu fördern. Für Stalien aber ift dies noch mehr geboten wie für Frankreich, weil 
die Zahl der körperlich Untauglichen und zeitlich Untauglichen in den letzten Jahren auf 50 % 
ſtieg, ja von einer namhaften militäriſchen Autorität ſogar auf 57 % berechnet wird. Zwar 
regelt das Geſetz über den Turnunterricht von 1909 bereits das Turnweſen; allein die darin 
enthaltenen Beſtimmungen ſind noch nicht zur Anwendung gelangt, und die Abneigung des 
italieniſchen Soldaten, über die geſetzlichen beiden Jahre hinaus bei der Fahne zu dienen, iſt 
groß. Während man alfo zunächſt von der italieniſchen Zugenderziehung und Rörperaus- 
bildung nur geringe Erfolge erwarten kann, verſpricht die jetzt von Rußland verfolgte 
Methode außerordentlich bedeutſam für die militäriſche Zugenderziehung zu werden. In der 
Fachpreſſe wird darüber berichtet, daß die militäriſche Vorbereitung der Zugend und die Bildung 
von Schülertruppen in Rußland immer weitere Fortſchritte mache. Vor kurzem ſei in 
A ſchabad das erſte transkaſpiſche Schülerregiment gebildet worden. Die zu dieſem Zweck 
erlaſſenen Beſtimmungen beziehen ſich hauptſächlich auf die den militäriſchen Schülern, den 
„Patjäſchnyje“, zuſtehenden Rechte und auf ihre Ausbildung. Zn erſter Hinſicht heißt 
es: Zeder Patjãſchnyje darf fih als künftiger ruſſiſcher Soldat betrachten und hat fih demgemäß 
außer Dienſt zu verhalten. So darf er auch alle ſeine Vorgeſetzten, Rameraden und Bekannten 
militäriſch grüßen und das gleiche von ihnen beanſpruchen. Es wird kein Unterſchied in Her- 
kunft und Religion gemacht. Alle Patjäſchnyje dürfen im Verbande ihres Truppenteils an 
allen feierlichen Gelegenheiten, Paraden uſw. teilnehmen, und erhalten ihren Platz auf dem 
linken Flügel der Aufſtellung. Leichtere Vergehen in und außer Dienft werden durch Verweiſe, 
ſchwerere durch Verluſt des Kreuzes oder Entlaſſung beſtraft. Alle Patjäſchnyje haben das Recht, 
ſich zu jeder Tageszeit um Hilfe und Rat an alle Offiziere und Kameraden ihrer Truppen zu 
wenden, desgleichen an bie Militärärzte. Gutes Verhalten während des ganzen Dienſtjahres 
wird mit einem metallenen, auch außer Dienſt an der linken Bruſt zu tragenden Abzeichen 
belohnt. 

In bezug auf die Ausbildung ift beſtimmt: Alle Schülertruppen betreiben ganzen Zn- 
fanteriedienſt durch Exerzieren, Feld-, Garniſon- unb inneren Dienſt, ferner Gymnaſtik, Hilfe 


398 | Anonpme Briefe 


bei Unglücksfällen, Verwundungen uſw. nach dem beſtehenden Reglement, Fechten mit Ge- 
wehren und Rapieren; die beiden älteſten Kompagnien haben auch Schießen mit Gewehren 
kleinen Kalibers und ſchwacher Pulverladung. Außerdem wird Unterricht in der ruſſiſchen 
Sprache, Geographie, Geſchichte und im Rechnen erteilt. Die älteren Patjafdnyje müffen 
mit den Taten der hervorragendſten ruſſiſchen Feldherren, ſowie mit den Beziehungen Ruß- 
lands zu den anderen Großmächten, beſonders Frankreich, England, Deutſch- 
land, Sſterreich- Ungarn und Japan vertraut gemacht werden. Zur Deckung 
der Koſten für Bekleidung und anderen Bedarf, Gerätſchaften, Fahnen, Muſik und dergleichen, 
laffen fih die Offiziere derjenigen Truppenteile, bei denen derartige Jugendwehren errichtet 
worden find, monatlich kleine Gehaltsabzüge machen. Ferner werden bie Muſikkorps und Lehrer 
zum Unterricht in ber Muſik ſowie Exerzierplätze und Reitſchulen zur Verfügung geſtellt. Bei- 
ſteuern zu den Koſten werden auch von Privatperſonen und ganzen Korporationen geliefert 
Die Jugend widmet ſich der Sache mit voller Begeiſterung, und man verſpricht ſich von dieſen 
Beſtrebungen fo gute Refultate, daß angeblich bei der Duma das Projekt vorliegt, die ganze 
Einrichtung, wie erwähnt, nicht nur für das geſamte Reich geſetzlich zu regeln, ſondern ſie auch 
obligatoriſch zu machen, vielleicht mit Rückſicht auf die Tatſache, daß die Deſertion im ruſſiſchen 
Heer noch in letzter Zeit durchſchnittlich jährlich etwa 715 % der Mannſchaftsſtärke betrug. 
Rogalla von Bieberſtein 


Anonyme Briefe 


ürzlich machte eine Beſchwerde eines höheren Staatsbeamten der Provinz Hannover 

ihren Weg durch die Preſſe. Es wurde darin Klage geführt über die beſtändig 
4 im Vachſen begriffene Unſitte, die Behörden mit anonymen Briefen zu beläſtigen, 
unb es hieß am Schluß, daß das Schreiben anonymer Briefe „einer niedrigen und hei m- 
tückiſchen Geſinnung entſpränge“. Auch Dr. Albert Hellwig, der in der ,,Ofter- 
reichiſchen Rundſchau“ die Mittel unterſucht, die der modernen Kriminaliſtik im Kampf gegen 
den „feigen Urheber der anonymen Schmähſchrift“ zur Verfügung ſtehen, vertritt offenbar 
die Anſchauung, daß der anonyme Brief eine durchaus nur ſchädliche Erſcheinung und un- 
bedingt zu verdammen ſei. 

Da iſt es nun zu begrüßen, wenn von berufener Seite dieſes ſchroffe Urteil auf das 
richtige Maß zurückgeführt wird. In der „Monatsſchrift für deutſche Beamte“ legt der Amts- 
anwalt Laufer die Kehrſeite der Medaille dar, nämlich daß der anonyme Brief neben aller- 
hand Schaden doch aud ſehr viel Gutes ſtiften kann, ja auf dem Gebiete friminal- 
polizeilicher Tätigkeit ſeit Fahren gar nicht zu unterſchätzende Mitarbeit leiſtet. 

Als langjähriges Organ einer Polizeibehörde hat der Verfaſſer fic tiefer in die Pſycho- 
logie des anonymen Briefſchreibers verſenkt und kommt zu dem Ergebnis, daß anonyme 
Beſchwerden oder Anzeigen faſt nie jeglicher Grundlage entbehren. Vielmehr iſt in den meiſten 
Fällen „was dran“: Natürlich war der Sachverhalt vielfach entſtellt und übertrieben. Aber 
haufig machten diefe Briefe doch in ſchicklicher Form auf unbekannte Übelftände aufmerkſam, 
deren Beſeitigung im öffentlichen Intereſſe lag. Diejenigen anonymen Briefe, welche War- 
nungen enthalten, ſind meiſtens gut gemeint. Sie verraten manchmal ein hochentwickeltes 
Rechtsgefühl, nicht felten Edelmut. 

Als wirklich ſchädlich haben ſich nur diejenigen Briefe erwieſen, die von entlaſſenen 
Beamten ober von Frauen aus „beſſeren Kreiſen“ ſtammten. Dieſe Frauen waren meiſtens 
hyſteriſch oder ſonſt geiſtig nicht ganz einwandfrei. 


Anonyme Briefe 399 


Warum aber unterzeichnen die Leute die Briefe nicht mit ihrem Namen, wenn Wahres 
darin enthalten iſt? Laufer gibt darauf folgende Antwort: „Nehmen wir an, der Mann, der 
einen Mörder bei ſeiner nächtlichen Fahrt beobachtete, hätte es getan. Begab er ſich dadurch 
nicht in Lebensgefahr? Denn der Mörder würde, da er nicht gleich feſtgenommen wurde, 
nicht gezögert haben, dem Briefſchreiber etwas anzutun, ihn wohl gar zu beſeitigen. Und 
ſo iſt es in den meiſten, in vielen Fällen. Man macht eine wertvolle Beobachtung, oder glaubt 
ſie gemacht zu haben. Man lieſt die Bekanntmachung der Staatsanwaltſchaft oder Polizei, 
welche um Mitarbeit und Mitteilung alles Zweckdienlichen erſucht. Aber man hat nicht nur 
Furcht vor der Rache des Beſchuldigten, ſondern auch Furcht vor dem ganzen peinlichen 
Gerichtsverfahren, der ſogenannten ‚Lauferei“. Und ijt diefe Furcht nicht begründet? Der 
Verbrecher ſchreckt nicht zurück, den durch Uniform, Waffe und Sondergeſetze gejdbübten 
Polizeibeamten anzugreifen, oder gar niederzuſchießen, um wieviel weniger fragt er danach, 
einem ſolch gefährlichen Zeugen eins auszuwiſchen?“ 

So kommt es, daß in einigen Großſtädten, namentlich aber in Berlin, ſtändig eine 
Anzahl Morde unb ſchwere Verbrechen unaufgeklärt bleibt, obwohl zweifellos die Verbrecher 
in den meiſten Fällen Spuren hinterlaſſen haben, die von einer Anzahl von Perſonen wahr- 
genommen ſind. Dieſe Wahrnehmungen, die zur Entdeckung der Täter bätten führen können, 
gelangen eben deswegen nicht zur Kenntnis der Behörden, weil die Wiſſenden aus Furcht 
vor der Rache des Verbrechers und ſeines Anhangs die Meldung — auch durch anonymen 
Brief — einfach unterlaſſen. Dagegen ſind bei leichteren, namentlich Eigentumsvergehen, 
die Fälle ſehr zahlreich, in denen anonyme Briefſchreiber der Behörde auf die Spur der 
Täter verhelfen. Laufer führt aus ſeiner amtlichen Praxis eine ganze Reihe ſolcher Fälle an, 
aus denen wir einen als typiſches Beiſpiel herausgreifen wollen: „Ein Emaillierwerk, welches 
Küchengeſchirr herſtellte, wurde nach und nach in empfindlicher Weiſe beſtohlen. Alles Auf- 
paſſen von ſeiten des Geſchäfts und der Polizei war vergeblich. Da lief ein anonymer 
Brief ein: „Sie ſuchen die geſtohlenen Emailleſachen. Gucken Sie mal dem Fabrikarbeiter 
N. N. unters Bett und ſehen Sie ſich den großen Reiſekorb an, den der Bote W. alle Frei- 
tage nach B. mitnimmt.“ — Die Polizei guckte natürlich unter das Bett, und was fand ſie? 
Einen kellerartigen Raum, durch eine Falltüre verdeckt, angefüllt mit geſtohlenem Geſchirr, 
von dem allwöchentlich ein großer Reiſekorb voll nach B. an einen Hehler geſandt wurde.“ 

Anzeigen dieſer Art, auch Warnungen und Beſchwerden, laufen täglich bei den Polizei- 
und Sicherheitsbehörden ein. Es erwächſt den Beamten dadurch eine beträchtliche Arbeit, 
aber ſie lohnt ſich, und man wird dem Verfaſſer zuſtimmen können, wenn er dem anonymen 
Brief einige Berechtigung zubilligt: „Am Kampfe gegen den Verbrecher ſoll der Bürger um 
ſo mehr teilnehmen, als er auch der inneren Wehrpflicht unterliegt und die verhältnismäßig 
ſchwache und leider nicht allwiſſende Polizei ſeiner Mithilfe bedarf. Die bisherige Mitarbeit 
des Bürgers iſt aber eine kaum wahrnehmbare und dabei nicht einmal einwandfreie — die 
anonymen Briefe. Soll man nun auch noch dieſe geringe Unterſtützung zurückweiſen, weil 
die Form tadelnswert ift? Kann es dem die Unterſuchung führenden Beamten nicht gleich- 
gültig ſein, warum und von wem der Bericht geliefert wurde, wenn er nur wahr iſt? Polizei 
unb Zuſtiz brauchen in vielen Fällen Hilfe — Helfer — Mitarbeiter. — Beſſer eine ſchlechte 
Hilfe, als gar keine.“ 


400 Eine Gefängnispreſſe 


Eine Gefängnispreſſe 


j merita, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, bedient ſich zur Beſſerung und 
V Hebung feiner Strafgefangenen unter anderem auch der Gefängnispreſſe. Georg 
A Stammer berichtet uns darüber in feinem jüngſt erſchienenen, febr lefens- 
boren oe „Strafvollzug und Zugendſchutz in Amerika“ (R. v. Deckers Verlag, Berlin), 
das die Eindrücke wiedergibt, die er auf dem im Oktober vorigen Jahres in Waſhington ab- 
gehaltenen VIII. Internationalen Gefängniskongreß und der dieſem Kongreß vorausgehenden 
Gefängnisſtudienreiſe gewonnen hat, und das uns um ſo intereſſanter ſein dürfte, als es uns 
die Einrichtungen des amerikaniſchen Gefängnisweſens, vom Standpunkte des deutſchen 
modernen Strafvollzugsbeamten aus betrachtet, ſchildert. Ich gebe zu, manches — oder ſagen 
wir ruhig: vieles — von der amerikaniſchen Strafvollſtreckung mutet uns echt „amerikaniſch“ 
an. Mit unſeren Anſchauungen von dem Ernſt des Strafhauſes läßt es ſich einfach nicht ver- 
einbaren, daß in den dortigen Gefängniſſen aus uniformierten Sträflingen Muſikkapellen 
zuſammengeſtellt und auf flotte Marſchmuſik eingedrillt werden, daß die Inſaſſen amerikaniſcher 
Strafanſtalten unter Trompetenſchall und Paukenſchlag mit wehenden Fahnen, das Holz- 
gewehr geſchultert, in Reih und Glied aufmarſchieren und allerhand Exerzitien ausführen, 
oder andere militäriſche Spielereien treiben. Auch bie Ausftattung vieler amerikaniſcher Ge- 
fängniszellen mit Schaukelſtühlen uſw. will unſeren Anſichten über den Strafvollzug wenig 
entſprechen. Aber „eines ſchickt fid) nicht für alle“; wir dürfen hier eben nicht unſere Verhält- 
niſſe zugrunde legen, ſondern müſſen mit den Anſchauungen und Lebensgewohnheiten des 
„freien Amerika“ rechnen. 

Trotz alledem birgt das amerikaniſche Gefängnisſyſtem vieles, was recht beachtenswert, 
manches, was direkt nachahmenswert erſcheint. 

Zu dieſen nachahmenswerten Einrichtungen des amerikaniſchen Strafvollzugs rechne 
ich die „Gefängnispreſſe“ — freilich: mutatis mutandis! Wenn es ſich dort um Zeitſchriften 
handelt, die, wie uns Stammer berichtet, in den Gefängniſſen von Gefangenen nicht nur 
gedruckt und geleſen, ſondern auch von ihnen verfaßt und redigiert werden, ſo dürfte das 
meines Erachtens zu weit gegangen ſein. Ebenſo erſcheinen mir — auf deutſche Verhältniſſe 
übertragen — die Sportsnachrichten und die Bekanntmachung von Telegrammen durch Ber- 
öffentlichung an beſonders ſichtbaren Stellen der Strafanſtalt — Extrablätter — unnötig. 
Aber „nehmt alles nur in allem“, die Preſſe iſt im Gefängnis ohne Zweifel ein ſehr wichtiges 
Hilfsmittel in dem Beſtreben, die Nechtsbrecher nach verbüßter Strafe nicht nur „hinaus- 
zulaſſen“, ſondern fie in jeder Hinficht gefördert und wohlgerüftet der Freiheit wiederzugeben. 
Sie könnte bie ſozialethiſche Aufgabe des Strafvollzugs erleichtern und, vereint mit Religion, 
Arbeit, Diſziplin, Unterricht, Bibliothek und Entlaſſenenfürſorge, ein recht brauchbarer Bundes- 
genoſſe ſein im Kampf gegen den Rückfall. 

Dieſer Gedanke ift nicht neu! Geheimrat Krohne ijt Iden vor vielen Fahren — 
in ſeinem „Blaubuch für Gefängniskunde“ — für das Leſen von guten Zeitungen eingetreten. 
Strafanſtaltsdirektor Dr. med. Pollitz ſagt darüber in ſeinem jüngſt erſchienenen Buche 
„Strafe und Verbrechen“ (Verlag von B. G. Teubner in Leipzig): „Um den Gefangenen, 
je nach feiner ſozialen Stellung, in Beziehung zu dem Außenleben zu halten und ihm den Ein- 
tritt in alle Lebensbedingungen zu erleichtern, iſt die Lektüre einer Zeitung oft von größter 
Wichtigkeit, nicht nur zur Belehrung über die laufenden Ereigniſſe, ſondern beſonders auch, 
um die Kenntnis wirtſchaftlicher und geſchäftlicher Vorgänge zu vermitteln.“ 

Dieſen Anforderungen ſind auch die Vorſchriften unſerer Strafvollſtreckung inſoweit 
bereits entgegengekommen, als es Gefangenen bei guter Führung in Rüdfiht auf ihre ſoziale 
Stellung oder ihr weiteres Fortkommen geſtattet werden kann, auf eigene Koſten Tages— 


Eine Gefángnispreffe 401 


zeitungen ober Fachzeitſchriften fid) zu halten. Abgeſchloſſene Jahrgänge belehrender oder 
unterhaltender Zeitſchriften haben auch mehr oder weniger zahlreich bereits Eingang in unſere 
Gefängnisbibliotheken gefunden. Aber — wie ſchon aus dem eben Geſagten hervorgeht — 
wer kein Geld hat, iſt von dieſer Bevorzugung ausgeſchloſſen, und dann der wichtigſte Punkt: 
Welche Zeitſchrift, vor allem Tageszeitung, iſt ohne weiteres für die Strafhäuſer geeignet?! 
Man hat bereits verſucht, die ſchwierige Frage zu löjen durch Herausgabe einer bejonberen 
Gefängniszeitſchrift; es ift die Halbmonatsſchrift „Kompaß“, volkstümliche Blätter für zeit- 
gemäße Belehrung und Unterhaltung (Herausgeber: Eduard Eggert), die in ſicher febr an- 
erkennenswerter Weiſe zur Belehrung und Unterhaltung der Gefangenen beiträgt, die aber 
nach meiner Anſicht doch noch nicht den Anforderungen entſpricht, die von einer Gefängnis- 
preſſe erfüllt werden müſſen. 

Wenn es ſich darum handeln ſoll, unſeren Gefangenen eine Zeitung in die Hand zu 
geben, die allen etwas bringt, dann werden wir wohl von den Zeitſchriften der „freien Preſſe“ 
abſehen müffen, und es wird eine eigens „für die Welt hinter den Mauern“ herausgegebene 
„Gefängniszeitung“ fid) nötig machen. Damit wäre ja andererfeits das Halten von Tages- 
zeitungen und Fachzeitſchriften, wie es bisher geſtattet war, nicht ausgeſchaltet. Dieſe ,,Ge- 
fängniszeitung“ müßte neben einem ausgeſucht guten belletriſtiſchen Teil und den Tagesneuig- 
keiten Arbeiten über unſere ſozialen Einrichtungen, Aufklärungen über Arbeiterorganiſationen, 
ſtändige Berichte Aber den Arbeitsmarkt, Beiträge aus Handel und Gewerbe, Gefundheits- 
pflege, Technik uſw. bringen, außerdem aber ſollte ſie auch, und das ſcheint mir ganz beſonders 
wertvoll, Arbeitgebern und Stellen vermittlern ihre Spalten öffnen, um den vor der Entlaſſung 
ſtehenden Gefangenen Gelegenheit zu geben, ſich nach einem geeigneten Arbeitsunterkommen 
beizeiten umzuſehen. Auf die einzelnen techniſchen Fragen einzugehen, in welcher Weiſe eine 
derartige Zeitung geleitet und geſchaffen werden und wie vor allen Dingen die Stellenver- 
mittlung damit Hand in Hand gehen könnte, dazu dürfte hier nicht der Platz fein. Jedenfalls 
würden dieſe Fragen keine unüberwindlichen Schwierigkeiten bieten, und: „Wo ein Wille, 
da iſt auch ein Weg“. 

Es beſteht wohl kaum ein Zweifel, daß eine ſolche Zeitung als regelmäßige Lektüre 
für unſere Gefangenen unendlich viel Gutes ſchaffen könnte, indem ſie nicht nur zur Belehrung 
und ſittlichen Förderung beitragen würde (das geſchieht ja auch durch die Bibliotheken und 
den Unterricht), ſondern indem ſie vor allen Dingen den Entlaſſenen wohlvorbereitet und 
mit der Zeit fortgeſchritten der Freiheit zurückgeben könnte — und gerade dies, düͤnkt mich, 
iſt eine der vornehmſten und wichtigſten Aufgaben unſeres Strafvollzugs. 


Ein Strafvollzugsbeamter 


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Die hier veröffentlichten, dem freien Meinungsaustauſch dienenden 
Einſendungen ſind unabhängig vom Standpunkte des Herausgebers 


„Anbewußtes Chriſtentum“ und „moderner 
Atheismus“ 


oe: d vorigen Türmer-Jahrgang (XIV. Jahrg. Heft 7) ſpricht Pfarrer Dr. ©. Beißwänger 

über „Unbewußtes Chriſtentum“. In dieſem Artikel las ich mit gelinder Empörung 
WSS (ich fage „gelinder“, da der Autor ſonſt gewiß nur aufrichtigſte Anerkennung ver- 
dient für den wahrhaft chriſtlichen Get der Verſöhnung und des Allverzeihens!) folgenden 
Satz: „Dennoch, mündet nicht auch Häckels Kampf wider das Chriſtentum in ben Verſuch aus, 
eine neue Religion zu gründen, ,die Religion des Wahren, Guten, Schönen?“ 

Und dies nach dem vorhergehenden Satze: „Man mag es gar nicht nachſprechen, 
was Häckel über Gott und Jefus Chriſtus und die Unſterblichkeitshoffnung der Chriften gejagt 
hat!“ — Mit deſto größerer Befriedigung las ich dagegen das hier eingefügte Wort des „Tür- 
mers“: „Darf das aller Myſtik entkleidete Nüchternheitsideal Hadels noch Religion genannt 
werden?“ — Wenn dieſes Wort ein Turmſignal von der Zinne hoher Warte wäre, jo würde 
ich ein Antwortſignal von einer anderen Warte in die Lande rufen: Nein! Hädel und feine 
Schildknappen haben nicht das Recht, von Religion zu ſprechen, wenn ihre ganze Welt- und 
Lebensanſchauungslehre alles „Wahre, Gute und Schöne“ in der Welt mit Füßen tritt, alle 
Ideale niederreißt (trotz Häckels „Nüchternheitsideales“ feiner „Zukunftskirche“), und nicht 
allein dem Chriſtentum, ſondern überhaupt jedem Gottesglauben, jedem Gottſuchen, jedem 
höheren, über das Niveau radiolar-biologiſcher Studien hinausführenden geiſtigen Streben 
die Dafeinsberechtigung abſpricht, ohne allen dieſen Lebenswerten etwas anderes, Beſſeres 
entgegenſetzen zu können, als eine Sumpfblaſe — ein Nichts. 

Nein, hochverehrter Herr Dr. Beißwänger, auch die Nihiliſten der Wiſſen— 
ſchaft find keine Chriſten, keine Gottſucher, keine Religionsgründer — ſondern einzig 
und allein nur Religions zerſtörer! — Eine andere Frage ift, ob Religion zerſtört 
werden kann? Es können Kirchen zerſtört, Gogmen für null und nichtig erklärt werden, 
die Religion aber, der Geiſt, der über den Waſſern des irdiſchen Lebens ſchwebt, das 
Streben aller im Daſeinskampfe ſtehenden Seelen nach der Erkenntnis der höchſten, ewigen 
Schöpfungsquelle dieſes Dafeins, kann nicht zerſtört werden! — Nenne ihn nicht Jehova, 
nicht Rha, nicht Ormuzd, nicht Brahma, nicht Jupiter, nicht Allvater Odin —: nenne ihn mit 
keinem Namen! Seine Werke verkuͤnden ihn dennoch lauter, als alle Gottesdienſte aller Tempel 
und Kirchen aller Jahrtauſende es je vermochten! 


Graf Zeppelin als Kundſchafter 1870 403 


In der bekannten Biographie Häckels von W. Bölſche finden fid) Ausiprüche über 
Gott und Chriſtentum, die keinen Zweifel darüber laffen, daß ein getreuer Jünger eines Mannes, 
„der eine neue Religion ſucht“ nicht ſo ſpöttiſch und wegwerfend über Fragen der Religion 
urteilen würde, wenn er nicht genau wüßte, wie kongenial er in dieſen Fragen mit ſeinem 
Herrn und Meiſter denkt! Ein Kapitel dieſer Biographie Hddels ſchließt mit dem Kriegsruf 
an die Nicht-Häckelianer, d. h. an alle diejenigen, denen die „Häckelſche Entwicklungslehre“ 
noch nicht die Augen darüber geöffnet hat, daß es mit Gott, Religion und Chriſtentum bald 
aus und vorbei fein wird: „Die Bombe (1!) ift geworfen, — wann wird fie platzen?“ () — 
Sollte mit dem „Platzen der Bombe“ wirklich der Triumph einer „neuen Religion“ gemeint 
ſein? Oder nicht vielmehr der Triumph des Häckelſchen Nüchternheitsideals in ſeiner ganzen 
wüftendürren, jeden geiſtigen Schleiers baren Nacktheit?! 

Trotz der im Innern der Geſteine kochenden Arbeit der Atome, die nach neueſten 
Forſchungsergebniſſen nicht nur in den radioaktiven Geſteinsarten, gleich dem Uran, Radium, 
Polonium, Thorium u. a. vor ſich geht, beginnt — trotz Häckel — das Reich der fühlenden 
Weſen erſt bei den organiſchen Geſchöpfen, die Pflanzen nicht ausgeſchloſſen. Nur durch das 
große Geheimnis des Todes kann auch dem geringſten Geſchöpfe, das da fühlt, daß es 
i ft, jener göttliche Odem genommen werden — zu ewiger Ruhe oder zu höherem Sein, wie 
wir Nicht-Häckelianer es glauben wollen — trotz allem: „Si Deus pro nobis, quis contra nos?“ 


Elfriede v. Haage 
St, 


Graf Zeppelin als Kundſchafter 1870 


x er gleichnamige Aufſatz im Oktoberheft bes „Türmers“ enthält eine Angabe, die 
der Richtigſtellung zu bedürfen ſcheint. Es ift dort geſagt: „Als Graf Z. jid 
nicht mehr verfolgt fab, ſtieg et vom Pferde und ließ es 
frei. Dann legte er am ſelben Abend und in der Nacht zu Fuß 
den weiten Weg in die Pfalz zurück.“ 

Selbſt wer nichts Näheres über den Vorgang weiß, legt ſich ſchon beim Leſen dieſer Zeilen 
unwillkürlich die Frage vor: Warum hat Graf Z., als ſchneidiger Reiteroffizier, dies getan? 
Er wurde nicht mehr verfolgt, batte ſomit keinen Grund, etwa durch Benutzung eines Ver- 
ſteckes, auf das Pferd verzichten zu müſſen; es konnte ihm doch nur zum raſchen Fortkommen 
dienlich fein?! 

Meine Kenntniſſe des Vorganges ſind abweichend, ſcheinen mir aber mehr der Natur 
der Verhältniſſe zu entſprechen. Mein Gewährsmann ijt der bayeriſche General a. 9. L., 
welcher vor einigen Jahren beim Austauſch von Erlebniſſen während des Feldzuges 1870/71 
gegen mich fih etwa folgendermaßen äußerte: 

86 ftand in jenen denkwürdig ſchwülen Tagen vor Ausbruch der Feindſeligkeiten als 
Leutnant und Kommandant einer Feldwache im Wißlautertale, an der Straße von Bobental 
nach Weißenburg. Mir wurde vom Doppelpoſten vorn an der Straße ein Fuhrwerk gemeldet, 
das ſich von Bobenthal her nähere und auf welchem neben dem Fuhrmann auf dem Bock ein 
Uniformierter fih befinde. Ich ging ſelbſt zum Examinieren vor, doch konnte ich beim Näher⸗ 
kommen die Aniform nicht ſofort erkennen, ja es ſchien mir zunächſt eine franzöſiſche zu ſein, 
in welcher Auffaſſung ich auch durch das dem Fuhrwerk folgende und an demſelben angebundene 
Pferd mit franzöſiſchem Sattelzeug beſtärkt wurde. Es war Hauptmann Z. vom wirttem- 
bergiſchen Generalſtabe, welcher von jenem denkwürdigen Erkundigungsritt bei mir die deutſchen 
Vorpoſten paſſierte. Er kam aber durchaus nicht als Triumphator, fondern war recht nieder- 
geſchlagen über den verluſtreichen Ausgang ſeiner Miſſion. Es ſchien ihm eine Erleichterung 


404 Noch einmal die theoſophiſche Bewegung 


zu ſein, die Vorwürfe, die er ſich machte, einem Kameraden nunmehr mitteilen zu können, 
und er ſchien den Wert deffen, was er an Beobachtungen mitbrachte, nicht hoch genug ein- 
zuſchätzen. Die nächſten Tage mögen ihn eines anderen belehrt haben. Sch. 


e 
Noch einmal die theoſophiſche Bewegung 


Ein kurzes Schlußwort zu dieſem Thema! 


1. Ich hatte im Septemberheft des „Türmers“ gebeten, dieſes ſchwierige Problem 
ſachlich und vorſichtig zu behandeln. Wenn nun ein gebildeter Schriftſteller wie Dr. Rudolf 
Steiner, ber im Goethe- und Nietzſche-Archiv gearbeitet hat, der von vielen geehrt wird, der 
feine Überzeugungen in die Formen prägt, die ihm die notwendigen erſcheinen — mit Caglioſtro 
verglichen wird, ſo kann man das abermals nicht ſachlich nennen, ſondern die Abſicht der 
gerabſetzung ſpringt zutage. 

2. Wenn jemand ſchreibt, die delikate Frage, ob neben der üblichen Forſchungsmethode 
neue Erkenntnisorgane denkbar waren, fei von ihm (Freimark) „im voraus erledigt“ 
durch den „Hinweis, daß die Subjektivität des innerlichen Schauens auch durch eine Mehr- 
zahl von Schauenden nicht in Objektivität verwandelt wird“ — fo rührt er damit an ein 
Grundproblem der Geiſtesgeſchichte. Die Art, wie er dieſes Erkenntnisproblem berührt, legt 
den Verdacht nahe, daß ihm die Größe und der Umfang dieſes Problems gar nicht bewußt 
find. Er würde ſonſt diefe Kardinalfrage, die von Plato bis Plotin, von Plotin bis Rant- 
Swedenborg („Träume eines Geiſterſehers“) und überhaupt von ber neueren Philoſophie 
eines Fichte, Hegel, Schopenhauer und Hartmann bis herab zur Gegenwart bie Geiſter be- 
ſchäftigt, nicht ſo ohne weiteres „erledigen“. 

3. Zu dieſen geiſtigen Faktoren kommt dann noch ein Gemütsfaltor. Freimark bat 
nun zweimal ſeiner Mißachtung Steiners Ausdruck gegeben. Ich habe beobachtet, daß andere 
Menſchen dieſen Forſcher als ihren Lehrer und Förderer herzlich lieben und verehren, mit ihm 
befreundet ſind und ihm öffentlich ihren begeiſterten Dank ausſprechen: ſo z. B. der bekannte 
franzöſiſche Schriftſteller Eduard Schurs in der Einleitung feines neueſten Buches ,L'évo- 
lution divine“. 

— Wer ſich ſachlich über diefe Fragen unterrichten will, greift vielleicht am beſten zu 
dem Buche von Ludwig Deinhard, „Das Myſterium bes Menſchen“ (Berlin, Reichl); etwa 
auch zu der Einführung von Präcurſor, „Das Unſichtbare“ (Leipzig, Altmann); von Steiners 
nicht leicht zu leſenden Büchern („Theoſophie“, „Geheimwiſſenſchaft“) wäre vielleicht am erſten 
das Buch zu nennen: „Wie erlangt man Erkenntnis höherer Welten?“ (Berlin, Philoſophiſch- 
theoſophiſcher Verlag, Motzſtraße 17). Durch die Lexikonbände der Blavatzky ſich durch- 
zufinden, dürfte jedem Laien ſchwer fallen. 

Die ganze chaotiſche Frage verlangt äußerſten Takt, Zurückhaltung und Sachlichkeit. 

F. Lienhard 


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Balkan 


er uns das gefagt hätte, in unſerer Kinderſtube, am warmen 

` Ofen, beim behaglichen Verſchlingen eines der vielgeleſenen 
O romantiſchen Schmöker aus der Zeit der Türkenherrſchaft in Europa 
S oder im Heiligen Lande! Daß wir, gerade wir auserſehen fein 
würden, dem letzten Akte des weltgeſchichtlichen Dramas beizuwohnen! Der 
Augenblick iſt groß genug, ſich das gewaltige Problem in ſeiner geſchichtlichen und 
völkerrechtlichen Entwicklung vor das Bewußtſein zu rücken, um recht zu ermeſſen, 
welch ein Schickſal ſich da eigentlich vollzieht. Nicht ſachlicher und eindringlicher 
aber glaube ich dieſem Zwecke dienen zu können, als wenn ich hier des Profeſſors 
Philipp Zorn, Geheimen Rats und Königlichen Kronſyndikus, Darlegungen wieder- 
gebe, die er ſchon vor den entſcheidenden Ereigniſſen im „Tag“ in einer Artikel- 
reihe („Die orientaliſche Kriſis“ veröffentlicht hat. 

„Im unmittelbaren Anſchluß an die Religionsgründung des Iflams fand 
jener gewaltige Vorſtoß der Heerſcharen Mohammeds aus Arabien ſtatt, der ganz 
Nordafrika dem Fflam gewann und die hohe Kultur jener Stätten des Glanzes 
der antiken Welt fo gut wie völlig vernichtete. Erft das neunzehnte und der An- 
fang des zwanzigſten Jahrhunderts haben diefe Länder wieder unter die Herr- 
ſchaft europäiſcher Kulturmächte gebracht. Hier ſoll nur daran erinnert werden, 
daß die Sturmflut des Iſlams fid) Anfang des achten Jahrhunderts nach Spanien 
ergoß (711), nach Vernichtung des Weſtgotenreiches in das Herz des Frankenreiches 
vordrang, bis es Karl Martell in der Schlacht von Tours und Poitiers 752 gelang, 
die wilden Horden der Mauren zu beſiegen und weiterhin über die Pyrenäen 
zurückzutreiben. Europa war damit vor der Überflutung durch den Iſlam 
gerettet. 

In Spanien aber erhielt fid) bie Herrſchaft der Mauren und des Fflams noch 
lange Zeit; erſt Ende des fünfzehnten Jahrhunderts wurde das Reich der Omajaden 
in Spanien völlig vernichtet und die Bekenner des Iſlams ſodann mit grauſamer 
Härte aus dem Lande vertrieben; ihre Reſte zogen ſich nach Nordafrika zurück, 
wohin die Spanier ihnen kämpfend folgten. Die in den jüngſten Streitigkeiten 


406 Türmers Tagebuch 


um Marokko mit zäher Energie geltendgemachten ſpaniſchen Anſprüche bilden den 
letzten Reſt jenes erſten großen weltgeſchichtlichen Prozeſſes der Auseinander- 
ſetzung der europäiſch-chriſtlichen Kulturwelt mit der Welt des Iſlams. Ganz 
Nordafrika aber blieb noch für ein Jahrtauſend Beſtandteil der Staatenwelt des 
Iſlams, geteilt in eine Reihe iſlamitiſcher Staatsgebilde, die weiterhin in mehr 
oder minder enge ſtaatliche Verbindung mit der Türkei kamen. Erſt das neunzehnte 
Jahrhundert brachte bier eine vollſtändige ſtaatliche Umwälzung, die ihren äuße- 
ren Abſchluß mit dem nunmehr nach langen Mühen zuſtande gebrachten italieni[db- 
türkiſchen Frieden von Lauſanne erreicht haben dürfte. 

Ohne Zuſammenhang mit dieſem erſten großen Zuſammenſtoß zwiſchen 
Europa und der Welt des Iſlams erfolgte ſodann ſeit Mitte des 14. Jahrhunderts 
(1355) der zweite große Vorſtoß der mohammedaniſchen Völker nach 
Europa, der bis zu dieſer Stunde nachwirkt, und der von Anfang bis zum jetzigen 
Augenblick eine immerwährende Gefahr für den Frieden Europas war. Von 
Kleinaſien drangen die Türken über den Bosporus in die Balkanhalbinſel ein und 
zertrümmerten die ganze Staatenwelt der reichen Länder jenes Gebietes, ver- 
nichteten das Reich der Bulgaren (1396), das große ſerbiſche Reich (1448), erober- 
ten Griechenland und erſtürmten Konſtantinopel (1453), bie Reſte des einſt fo 
gewaltigen Oſtrömiſchen Reiches über den Haufen werfend ... Die gefamte drift- 
liche Staatenwelt jener reichen und ſchönen Länder war ſeit 1453 völlig vernichtet 
und an ihre Stelle der Staat des mohammedaniſchen Eroberers, die Türkei, ge- 
treten; in drei Weltteilen beherrſchte der Staat der Türken ein ungeheures Ge— 
biet, wohl die ſchönſten und reichſten Länder der Erde umfaſſend. Das türkiſche 
Staatsweſen beruhte ſelbſtverſtändlich auf den Grundſätzen des Korans; bie drift- 
liche Bevölkerung trat zu einem kleinen Teile zum Iſlam über; bie große Haupt- 
maffe der von den Türken unterworfenen Völker aber hielt am chriſtlichen — grie- 
chiſch-katholiſchen — Glauben feſt. Die Türken bildeten in ihrem europäiſchen 
Staatsweſen von vornherein der Zahl nach nur die Minderheit; die das weite 
Land bewohnende Bevölkerung war überwiegend chriſtlich — die „Rajah“ (Herde) —, 
etnographiſch eine bunte Maffe von verſchiedenen Stämmen flawiſchen und griecbi- 
ſchen Urſprunges. Die türkiſche Eroberung aber begnügte jid) nicht mit ber Baltan- 
halbinſel; auch die Länder nördlich der Donau, vor allem Ungarn, kamen unter 
türkiſche Botmäßigkeit, bis der türkiſche Siegeszug vor Wien zum Stillſtand ge- 
bracht — Wien wurde zweimal, 1529 und 1683, von den Türken vergeblich be- 
lagert — und die Türken ſeit der zweiten Belagerung Wiens allmählich wieder 
unter ſchweren Kämpfen nach der Balkanhalbinſel zurückgedrängt wurden, wo ſie 
ihre Herrſchaft dauernd zu behaupten vermochten... Um die Wende des 18. und 
19. Jahrhunderts beherrſchte der türkiſche Staat immer noch eine ungeheure 
Ländermaſſe in Europa, Alien und Afrika.. 

Das Staatsgebiet der Türkei umfaßte im Anfang des 19. Jahrhunderts die 
geſamte Balkanhalbinſel einſchließlich der Europa zugerechneten Snfelwelt des 
Agäiſchen Meeres; die nördlichen Grenznachbarn der Türkei waren Ungarn und 
Rußland. Bereits in den erſten Jahren des 19. Jahrhunderts beginnen nun die 
Freiheitskämpfe der chriſtlichen Balkanvölker, die bis zu dieſem Augenblick ihren 


Zürmers Tagebuch 407 


Abſchluß noch nicht gefunden haben. Nur das kleine, tapfere Volk ber ſchwarzen 
Berge im Nordweſten der Halbinſel, die Montenegriner, hatten die Türken nie 
völlig zu unterwerfen vermocht; die Kämpfe mit dieſem kleinen Bergvolk ferbi- 
ſchen Stammes haben nie aufgehört und nie zu einem vollen Refultat geführt, 
trotz ihrer Dauer von Jahrhunderten; die Hauptmaſſen der Serben (Bosnien, 
Serbien, das weiter ſüdliche Gebiet bis Albanien) waren dagegen türkiſche Unter- 
tanen. Das völkerrechtliche Verhältnis Montenegros zur Türkei wurde endgültig 
erſt durch den Berliner Vertrag von 1878 im Sinne voller Unabhängigkeit des 
Fürſtentumes, das ſich dann weiter bis zum Königreich erklärte, feſtgeſtellt. 

Der erſte große Freiheitskampf der chriſtlichen Rajah gegen die Türken 
war der eines anderen Teiles des ſerbiſchen Volksſtammes, des nordweſtlichen 
Grenggebietes der Türkei, von 1804—12; er hat in keinem Geringeren als Leo- 
pold Ranke ſeinen Geſchichtſchreiber gefunden. Das übrige Europa blieb von die- 
ſen Kämpfen, angeſichts der damaligen Weltlage, unberührt; und das Ende des 
Kampfes war die Unabhängigkeit des Fürſtentumes Serbien, jedoch in dem eigen- 
tümlichen Verhältnis der ſogenannten Suzeränität zur Türkei, d. i. innere Gelb- 
ſtändigkeit des Staatslebens, aber völkerrechtliche Unterordnung unter die Türkei. 
In dieſem ftaats- und völkerrechtlichen Verhältnis verblieb Serbien bis zum Ber- 
liner Vertrag von 1878; durch die mittels dieſes Staatsvertrages durchgeführte 
Neugeftaltung der Staats- und Gebietsverhältniſſe auf der Balkanhalbinſel er- 
hielt Serbien eine nicht febr erhebliche Gebietserweiterung und die völkerrecht⸗ 
liche Stellung als vollkommen unabhängiger Staat in endgültiger Löſung jeder 
ſtaatsrechtlichen Verbindung mit der Türkei; bald darauf erklärte Serbien ſich 
als Königreich. Die Hauptmaſſe des ſerbiſchen Volksſtammes aber verblieb auch 
nach ber Umgeſtaltung von 1812 und weiterhin unter türkiſcher Herrſchaft. Die 
innere Entwicklung des neuen Staatsgebildes Serbien war keine günſtige, ſo daß 
man von lebhaften Sympathien Europas für den ſerbiſchen Staat kaum ſprechen 
kann. Immerhin hatte Serbien feinen Rückhalt an der großen flawifchen Vor- 
macht Rußland, und bei allen Mängeln des ſerbiſchen Staates wird ein gerechtes 
hiſtoriſches Urteil doch zugeben müſſen, daß die Staats- und Volkszuſtände des 
unabhängigen Staates Serbien trotz der bekannten ſkandalöſen Vorgänge weit 
höhere Kulturzuſtände waren und find als unter türkiſcher Herrſchaft. Die un- 
mittelbare Grenznachbarſchaft Serbiens mit Sſterreich- Ungarn nötigt, was ſchon 
hier feſtgeſtellt ſein ſoll, zur Anerkennung des Grundſatzes, daß die Geſtaltung des 
Staates Serbien die Lebensintereſſen der öſterreichiſch-ungariſchen Monarchie 
aufs ſtärkſte berührt. 

Die zweite große Freiheitsbewegung führte zur Loslöſung ber nordöſtlichen 
Gebiete der Balkanhalbinſel vom türkiſchen Staate, der damals ſogenannten 
Donaufürſtentümer Moldau und Walachei, des heutigen Königreiches Rumänien. 
Auch hier wurde die Türkenherrſchaft als unerträglich empfunden, und die Auf- 
ſtände der zwanziger Jahre hatten zur Folge, daß auch dieſen Donaugebieten die 
innere ſtaatliche Unabhängigkeit unter der Suzeränität der Türkei, wie bei Serbien, 
zugeſtanden werden mußte. Auch von dieſem Freiheitskampfe wurde das übrige 
Europa wenig berührt; nur Rußland, der mächtige Grenznachbar, machte ſeinen 


408 Türmers Tagebuch 


ſtarken Einfluß zugunſten der Unabhängigkeit ber Fürſtentümer geltend. Die ſtaat⸗ 
liche Entwicklung dieſer Länder, deren Bevölkerung überwiegend nicht flawiſchen, 
ſondern lateiniſchen Urſprunges iſt, war anfangs ebenſo wie bei Serbien keine 
günſtige. Erft in den letzten Jahrzehnten, unter der Regierung eines deutſchen 
Fürſten aus dem Hohenzollerngeſchlechte, hat der neue Staat, unter dem offiziellen 
Titel Rumänien, eine bedeutende militäriſche und kulturelle Entwicklung genom- 
men, ſo daß heute kaum ein Zweifel darüber beſtehen kann, daß Rumänien an 
innerer Ordnung und äußerer Haltung alle übrigen Balkanſtaaten weit überragt. 
Das Suzeränitätsverhältnis zur Türkei, materiell (don früher zum bloßen Scheine 
geworden, wurde durch den Berliner Vertrag von 1878 auch formell beſeitigt, 
und Rumänien als Königreich bildet heute ein ebenbürtiges Glied der völkerrecht 
lichen Staats- und Kulturgemeinſchaft. Als dem rumäniſchen Volksſtamme zu- 
gehörig werden die unter türkiſcher Herrſchaft in Mazedonien angeſeſſenen Rugo- 
walachen betrachtet. 

Ganz Europa dagegen wurde in Mitleidenfchaft gezogen durch den griedhi- 
ſchen Freiheitskampf von 1821. Wie im Nordweſten und Nordoſten ſo wurde auch 
im Süden des türkiſchen Staates, an den alten Stätten der größten antiken Kultur- 
welt, Hellas und Peloponnes, das türkiſche Joch als unerträglich empfunden, 
und 1820 begann der große Freiheitskampf, der nach einem Jahrzehnt denkwürdig— 
iter Kämpfe und Ereigniſſe zur Gründung des heutigen Königreiches Griechen- 
land führte. Auf die wechſelvollen Kämpfe braucht nicht näher eingegangen zu 
werden. Der Freiheitskampf der Griechen war von Anfang an von der machtvollen 
Sympathie der europäiſchen Völker — nicht der Regierungen! — getragen. 

Zwei Jahre hatten die aufſtändiſchen Griechen der ſtarken türkiſchen Heeres- 
macht tapferen und erfolgreichen Widerſtand geleiſtet und 1822 ihre Unabhängig- 
keit feierlich verkündet; nun aber war ihre Kraft gegenüber dem ſo viel ſtärkeren 
Gegner erſchöpft. In ihrer Not wandten ſich die Griechen an den 1822 in Verona 
verſammelten Kongreß der Großmächte mit der Bitte um Hilfe in ihrem Ver- 
zweiflungskampfe. Die Bitte war vergeblich; der öſterreichiſche Staatskanzler 
Fürſt Metternich, der damals die europäiſche Politik vollſtändig beherrſchte, 
jah in dem Kampfe, der für die Griechen ein verzweifelter Kampf ums Dajein war, 
eine Revolution gegen den legitimen Herrſcher, den Sul- 
tan, und war viel eher geneigt, dem Sultan Hilfe zur Unterdrückung der griechi- 
ſchen Revolution als den Griechen Hilfe im Kampf um ihre Freiheit und Exiſtenz 
zu leiſten. Der Kongreß zu Verona weigerte die erbetene Hilfe; die Geſandten 
der Griechen wurden nicht einmal zugelaſſen. 

Es ijt lehrreich, heute nach faſt hundert Jahren auf jene Vorgänge zurück- 
zublicken. Mit tiefer Entrüſtung gegen Metternich und die „Wiener Starrſucht“ 
hat fie Gervinus in feiner Geſchichte des 19. Jahrhunderts geſchildert. Und daß 
das Weltgericht der Weltgeſchichte cin vernichtendes Arteil über 
die damalige Politik, die der öſterreichiſche Staatskanzler Europa ditl- 
tierte, gefällt hat, iſt heute zweifellos. Auch der Griechenſtaat, der weiterhin ent— 
ſtand, hat die Hoffnungen derer, die damals Hab und Leben in hoher Begeiſterung 
für ihn opferten, nicht erfüllt und ift im ganzen bis jetzt ein kümmerliches Staats- 


Sirmers Tagebuch 409 


weſen geblieben; aber darüber bejtebt doch wohl nirgends ein Zweifel, daß die 
Wiederauslieferung der Griechen an die Türken, wie fie die Folge der Metternich- 
ſchen Politik geweſen wäre, als eine Barbarei von unerhörter Brutalität hätte 
verurteilt werden müſſen. Die Betrachtung der damaligen Metternichſchen Poli- 
tik gibt eine ernſte Lehre auch für die damalige orienta- 
liſche Kriſis. | 

And noch eine zweite Lehre entnehmen wir den damaligen Vorgängen. Seit 
der erſten Haager Friedenskonferenz geht eine ſtarke Bewegung durch die Welt, 
die mit dem Schlagwort: La paix par le droit die Forderung erhebt: alle Kon- 
flikte der Staaten müßten durch ein Welttribunal ‚nah dem Recht entſchieden 
werden. Und in Ronfequenz dieſes Gedankens wurde beſonders von amerikani- 
ſcher Seite gefordert: die Staaten müßten ſich gegenſeitig durch Staatsvertrag 
ihren Gebietsſtand garantieren. Noch jüngſt fand hierüber auf dem Genfer Kon- 
greß der Interparlamentariſchen Union eine intereſſante und lehrreiche Ber- 
handlung ott, An den griechiſchen wie überhaupt an allen orientaliſchen Vor- 
gängen des 19. Jahrhunderts erkennt man bie An möglichkeit jener Ge- 
dankengänge, die man um das Schlagwort La paix par le droit gruppiert, für 
unſere heutige Zeit und Staatenwelt. Ich muß mich auf kurze 
Andeutungen beſchränken. Aber man wird zugeben müſſen — wenigſtens kann 
man fid dieſer Folgerung nur durch einen Salto mortale des Gedankens ent- 
ziehen —, daß die modernſte Staats- und Völkerweisheit, die in dem Wort 
La paix par le droit jid) zuſammenfaßt, in der Frage des Griechenaufſtandes ein- 
fach zu dem Metternichſchen Reſultate geführt hätte; der Repräfentant des 
„Rechtes war der Padiſchah in Konſtantinopel, der „legitime“ Herrſcher, indes 
die Griechen juriſtiſch als Revolutionäre erſchienen, die unterworfen und beſtraft 
werden mußten. Auch darin liegt eine überaus wertvolle Lehre jener Vorgänge 
der Vergangenheit für die Gegenwart, die Lehre, daß es für die Staaten und 
Völker über dem formellen Rechte ein höheres Geſetz gibt, 
das mit den Formen und Formeln des Rechtes nicht erfaßt werden kann, fon- 
dern ſie im gegebenen Momente ſprengt. 

Die Folge des Verhaltens der Großmächte gegen die Griechen war dann 
jene gewaltige Bewegung des Philhellenismus, die ganz Europa durchflutete, 
und deren markanteſte Träger ber bayeriſche König Ludwig I. und der engliſche 
Dichter Lord Byron waren. Der Philhellenismus gab den Griechen durch Zu- 
führung von Geld und Mannſchaften die Kraft, abermals den Kampf gegen die 
Türken aufzunehmen und mehrere Jahre lang zu beſtehen. Als dann aber ein 
ägyptiſches Heer den Türken zu Hilfe kam, ſchien der ungleiche Kampf endgültig 
für die Griechen verloren. Nunmehr aber löſten ſich, um den Untergang der Grie- 
chen durch ihre Unterwerfung unter die Türken zu verhindern, Rußland, Frankreich 
und England von der Metternichſchen Politik los und brachten den Griechen durch 
Vernichtung der türkiſch-ägyptiſchen Flotte im Hafen von Navarin die Rettung 
(1827). 

Aber auch jetzt noch verweigerten in langen Verhandlungen die Türken die 
Freigabe Griechenlands aus dem türkiſchen Staatsverband: kein Land, auf dem 


410 Türmers Tagebuch 


eine Moſchee ſtehe, könne von der Türkei freigegeben werden. Die Verhandlungen 
mußten abgebrochen werden, und nur mit Waffengewalt vermochte Rußland ſeine 
Forderungen zugunſten Griechenlands durchzuſetzen. Ein ruſſiſches Heer unter 
Diebitſch überſchritt den Balkan, und erft als bie Ruffen vor den Toren Konſtati- 
nopels ftanden, entſchloß ſich 1829 die Türkei zum Frieden von Adrianopel, der 
das heutige Königreich Griechenland, in völliger Unabhängigkeit von der Türkei, 
geſchaffen hat. 

Die Hauptbeitandteile des alten Griechenland, Hellas und Peloponnes, 
nebſt den unmittelbar anliegenden Inſeln, find ſeitdem unabhängiger Staat. 
Aber Millionen von Griechen auf dem Feſtland wie auf den Inſeln blieben auch 
jetzt noch unter türkiſcher Herrſchaft. Zweimal noch hat dann das Königreich Grie- 
chenland nicht unerhebliche Gebietserweiterungen nach Norden erfahren, zuerſt 
nach dem Ruſſiſch-Türkiſchen Kriege von 1877, weiterhin im Jahre 1897 nach 
einem unglücklichen Kriege gegen die Türkei, der die militäriſche Überlegenheit der 
Türken in eklatanter Weiſe zur Erkenntnis brachte. Immer aber blieb noch bis 
heute ein ſehr großer Teil der Griechen unter Türkenherrſchaft. Die altberühmte 
Inſel Kreta hat zwar ihre Unabhängigkeit von der türkiſchen Staatsgewalt durch- 
geſetzt (1898), aber die Verbindung mit Griechenland bis jetzt nicht vollziehen kön- 
nen. In gemeinſamer Vormundſchaft hindern Rußland, England, Frankreich, 
Italien einerſeits ein militäriſches Einſchreiten der Türkei gegen Kreta, anderer- 
ſeits den von der Bevölkerung ſtürmiſch verlangten Anſchluß an Griechenland. 
Die mazedoniſche Frage ferner, die mit in erſter Linie zu der gegenwärtigen Kriſis 
geführt hat, iſt weſentlich eine griechiſche Frage. 

So waren 1830 Serbien, Rumänien, Montenegro und Griechenland frei 
von türkiſcher Herrſchaft als ſelbſtändige Staatsweſen eingerichtet; die Bevölke- 
rung aller dieſer Staaten gehört wie die Ruſſen dem griechiſch-katholiſchen Glauben 
an; bie Serben und Montenegriner find Slawen; die Selbſtändigkeit pon Numa- 
nien und Griechenland war das unmittelbare Werk ruſſiſcher Diplomatie und 
Waffenhilfe. 

Der ſtaatliche Emanzipationsprozeß auf der Balkanhalbinſel erfuhr ſodann 
eine Unterbrechung für Jahrzehnte, ... die Kämpfe aber zwiſchen Türken und 
Chriſten auf der Balkanhalbinſel haben das ganze 19. Jahrhundert hindurch nie 
geruht; es hat wohl noch nie in dieſer ganzen Zeit eine längere Periode gegeben, 
in der nicht Blut in dieſen Kämpfen floß. Trotz der ſelbſtändigen Staatsgeſtaltung 
jener vier chriſtlichen Staaten war der tiefe Völker- und Raffengegenfak gegen die 
Türkei immer vorhanden und führte fortwährend zu neuen blutigen Kämpfen, 
denn die Mehrheit der Bevölkerung des türkiſchen Staates beſtand nach wie vor 
aus der gewaltſam unterworfenen und in gewaltſamer Unterwerfung fortdauernd 
geknechteten chriſtlichen Bevölkerung. Die Türken, im Beſitze aller Machtmittel 
und erfüllt mit dem fanatiſchen Glaubenshochmut als auserwähltes Volk Gottes 
und ſeines Propheten, übten ihre Vormacht über die unterworfenen Völker als 
unbedingte Gewaltherrſchaft aus; der Daſeinskampf der Unterworfenen nahm da- 
durch, ſelbſt abgeſehen von dem Glaubens- und Raſſengegenſatz, vielfach den 
Charakter eines Kampfes mit allen, auch unlauteren und unehrlichen Mitteln an 


GCürmets Tagebuch 411 


gegen einen Feind, dem es nad) ben Glaubensſatzungen des Korans geradezu ver- 
boten ijt, den Ungläubigen, d. i. den Chriften, Treue zu halten, ein Zuſtand, der 
fih aus den Verhältniſſen erklärt, der aber dennoch im Abendland die aufſtändi- 
ſchen Chriften als Räuberbanden erſcheinen ließ und im allgemeinen in den zivili- 
fierten Ländern Europas zu einer harten, aber gewiß vielfach ungerechten Be- 
urteilung jener Völkerſtämme, anderſeits zu einer gleichfalls ungerechten, viel zu 
günſtigen Beurteilung der herrſchenden Türken führte. Daraus erklärt ſich auch 
die grenzenloſe Verwirrung, die in der europäiſchen und beſonders in der deutſchen 
Preſſe bei der Beurteilung der gegenwärtigen Vorgänge auf der Balkanhalbinſel 
bis vor kurzem herrſchte. Die Bulgaren haben in den wenigen Jahrzehnten des 
Beſtehens des bulgariſchen Staates gezeigt, was in geordneten Verhältniſſen und 
unter richtiger Führung die chriſtlichen Balkanvölker des Orients zu leiſten fähig 
ſind; und vielleicht in höherem Grade noch gilt dies von den Rumänen. 

Mitte der ſiebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts begannen nun neuer- 
dings im Nordweſten des türkiſchen Staates die Freiheitskämpfe gegen die Türken, 
immer mit der Begründung, das türkiſche Joch fei bis zur Unerträglichkeit ge- 
ſteigert, und immer zunächſt in der Weiſe räuberiſcher, hinterliſtiger Bandenkämpfe 
gegen eine Herrſchaft, die als brutale Gewaltherrſchaft empfunden und angeklagt 
wurde. Man war zuerſt geneigt, dieſe Kämpfe als eine geringwertige Erſcheinung 
zu betrachten, die nun eben einmal im Orient zum täglichen Leben gehöre. Das 
„bißchen Herzegowina“ und die „Knochen des pommerſchen Grenadiers“ wurden 
bei uns zum geflügelten Wort. Aber bald griffen dieſe Bandenkämpfe ſerbiſcher 
Leute auf den Staat Serbien über; ein kurzer ſerbiſch-türkiſcher Krieg endete mit 
einer ſchweren Niederlage der Serben (1876). Daraufhin erzwang die ruſſiſche 
Volksſtimmung das Eingreifen Rußlands. Aber auch dem gewaltigen ruſſiſchen 
Heere zeigten die Türken fid) militäriſch gewachſen, ja überlegen; einer militäri- 
ſchen Kataſtrophe entging Rußland bei Plewna nur durch das Eingreifen Rumä- 
niens. Dies aber war der Wendepunkt des Krieges; abermals wie 1829 über- 
ſchritten die Ruſſen den Balkan und ſtanden wieder wie damals vor den Toren 
von Konſtantinopel. Am 3. März 1878 mußte die Türkei den Frieden von San 
Stefano unterſchreiben. 

Der Friede von San Stefano änderte an den Verhältniſſen der bereits 
beſtehenden chriſtlichen Balkanſtaaten nichts Weſentliches; nur Serbien und Monte- 
negro erhielten einen erheblichen Gebietszuwachs. Der Kernpunkt des Friedens 
von San Stefano war die Gründung des neuen Staates Bul- 
garien. Ein neuer Staat Bulgarien wurde durch Rußland geſchaffen, der, die 
nördliche Türkei ſüdlich von Serbien und Rumänien umfaſſend, von der Donau 
aus über den Balkan bis hinab zum Agäiſchen Meere fid) erſtrecken ſollte; die Küſte 
des Agäiſchen Meeres mit der großen Hafen- und Handelsſtadt Saloniki war die 
Südgrenze des neuen Staates. Als türkiſcher Staat in Europa ſollte künftig nur 
mehr Konſtantinopel mit ſeiner unmittelbaren umgebung ſowie — territorial von 
Konſtantinopel völlig abgeſchnitten — das weſtliche Gebiet Bosnien, Albanien, 
Mazedonien erhalten bleiben. 

Eine ungeheure Aufregung entſtand in Europa nach dem Bekanntwerden 


412 SAemers Tagebuch 


dieſes ruſſiſch-türkiſchen Friedensvertrages. England, lebhaft unterftikt von 
Oſterreich- Ungarn, erklärte den Frieden von San Stefano rundweg als Kriegs- 
fall. Nach langen und ſchwierigen Verhandlungen brachte Bismarck, der ehrliche 
Makler“, die Berliner Konferenz zuſtande, welche durch den Staatsvertrag vom 
13. Juli 1878 die Gegenſätze, was niemand mehr zu hoffen gewagt hatte, ohne 
Krieg löſte. 

Die Anderungen, die der Berliner Vertrag am Frieden von San Stefano 
vornahm, waren folgende: 1. der Gebietszuwachs von Serbien und Montenegro 
wurde erheblich beſchränkt; 2. der neue Staat Bulgarien follte zwar errichtet wer- 
den, aber nur von der Donau bis zum Balkan reichen; 3. füdlich des Balkans ſollte 
unter einem chriſtlichen Statthalter eine autonome Provinz Oſtrumelien mit un- 
abhängiger innerer Verwaltung, jedoch getrennt von Bulgarien, hergeſtellt wer- 
den, in einer territorialen Begrenzung, die bie Küſte bes Agäiſchen Meeres mit 
einem erheblich weit nach Norden reichenden Gebiete bei der Türkei beließ; 4. Bos- 
nien und die Herzegowina follten behufs Herſtellung geordneter Verhältniſſe und 
in Anerkennung des hier obwaltenden öſterreichiſch-ungariſchen Lebensintereſſes 
von Sſterreich- Ungarn, beſetzt oder verwaltet“ werden. 

Damit war immerhin der Hauptpunkt des Friedens von San Stefano: 
die Herſtellung des ſelbſtändigen Staates Bulgarien — zunächſt unter türkiſcher 
Suzeränität — geſichert. Andererſeits aber war durch den erhaltenen Gebiets- 
zuſammenhang von Konſtantinopel mit den weſtlichen Landesteilen der Türkei 
auch ein lebensfähiger türkiſcher Staat verblieben, der insbeſondere das geſamte 
bisherige Küſtengebiet, auch das des Agäiſchen Meeres mit Saloniki, behielt. 
Außerdem war den gebieteriſchen Intereſſen von Oſterreich Ungarn Anerkennung 
und weitgehende Berückſichtigung zuteil geworden. 

Damit löſte ſich die furchtbare Spannung, die mehrere Jahre hindurch Europa 
aufs ſchwerſte bedrückt hatte. . 

Der Berliner Vertrag aber hatte noch eine ganze Reihe ſchwerwiegender 
weiterer Folgen, die aufs tiefſte in die Daſeinsbedingungen faſt aller europäiſchen 
Großmächte eingriffen. Unbeteiligt daran iſt nur das Deutſche Reich, 
das in einer, man möchte fagen, unerhörten Selbſtloſigkeit diefe 
ganze weitere Entwicklung fic vollziehen ließ, ohne in fie irgend erheblich ein- 
zugreifen. 

Was zunächſt England angeht, ſo war Lord Beaconsfield auf dem Berliner 
Kongreß der letzte Vertreter der alten traditionellen engliſchen Orientpolitik, deren 
Quinteſſenz die Erhaltung des Statusquo in der Türkei war, und die den eng- 
liſchen Handels- und Weltmachtintereſſen ohne jeden Zweifel weitaus den meiſten 
Vorteil bot. Mit dem Sturz der Toryregierung (1880) war diefe Orientpolitik 
definitiv und für alle Zeiten zu Grabe getragen. Disraelis Antipode und Nach- 
folger Gladſtone batte in feinen „Bulgarian atrocities, die furchtbarſte Anklage- 
ſchrift gegen die barbariſchen türkiſchen Staatszuſtände geſchrieben; die ſpätere 
engliſche Orientpolitik ſowohl der Whigs wie der Torys ift nie mehr zu den Prin- 
zipien zurückgekehrt, die Lord Beaconsfield auf dem Berliner Kongreß als Lebens— 
intereſſen Englands gegen Rußland vertreten hatte. — Die engliſche Orient- 


Türmers Tagebuch 413 


politik nad dem Berliner Kongreß iſt vielmehr durch folgende hiſtoriſche Tatſachen 
gekennzeichnet: 1. England ſchloß im unmittelbaren Anſchluß an den Berliner 
Vertrag mit der Türkei einen Vertrag des Inhalts, daß England der Türkei mili- 
täriſche Hilfe gegen weiteres Vordringen der Ruſſen in Kleinaſien zuſicherte, 
wogegen die Türkei bie Inſel Zypern an England zur Verwaltung und Ver- 
wendung übergab; 2. im Verfolg ſeiner ſeit 1870 eingeſchlagenen Politik der 
Verdrängung Frankreichs aus Agypten ſchlug England 1882 mit Waffengewalt 
eine ägyptiſche, auf Autonomie gerichtete Bewegung nieder — Beſchießung von 
Alexandria —, beſetzte ſodann im Zuſammenhange mit den kriegeriſchen Vor- 
gängen im Sudan die wichtigſten ägyptiſchen Plätze und traf alle Einrichtungen 
engliſcher Oberhoheit über das Land unter nomineller Erhaltung der Schein- 
herrſchaft des Khediven, aber unter völliger Beſeitigung der bisherigen Ober- 
herrſchaft der Türkei. Dieſer tatſächliche Zuſtand ſteht heute in voller Kraft, und 
ſeine Anderung liegt außer jeder Wahrſcheinlichkeit. Rechtlich allerdings ſind dieſe 
ägyptiſchen Verhältniſſe auch heute noch völlig unklar. Zwar hat Frankreich auf 
ſeine früher ſo machtvolle Stellung in Agypten zugunſten Englands durch den 
berühmten Vertrag vom 8. April 1904, das diplomatiſche Meiſterſtück König 
Eduards VII. von England, verzichtet; aber weder die Türkei noch die übrigen 
Großmächte haben bis jetzt formell und öffentlich — vielleicht in Geheimverträgen — 
die engliſche Oberhoheit über Agypten anerkannt. Es muß — wohl auch für Eng- 
land ſelbſt — als unter allen Umſtänden wünſchenswert bezeichnet werden, daß 
die ſtaats- und völkerrechtliche Stellung Ägyptens eine klare und feſte Formu- 
lierung findet. Jedenfalls hat England nach dem Berliner Kongreß in Zypern 
und dem alten Pharaonenlande zwei wichtige Länder des bisherigen türkiſchen 
Staatsbeſtandes unter ſeine Botmäßigkeit gebracht und damit die alte engliſche 
Orientpolitik der Erhaltung des Statusquo in der Türkei völlig aufgegeben. 

Einen weiteren Verluſt erfuhr die Türkei durch Aufrichtung der franzöſiſchen 
Herrſchaft in dem bisherigen türkiſchen Vaſallenſtaate Tunis im Anfang der acht- 
ziger Sabre des vorigen Jahrhunderts. Tunis, das Nachbarland des bereits feit 
1830 unter franzöſiſche Herrſchaft gebrachten Algier, wurde 1881 zum franzöſiſchen 
Protektoratsland erklärt, und dieſes Protektorat iſt, unter Widerſpruch der Türkei, 
der aber keinerlei Berückſichtigung fand, von den Mächten anerkannt. — Inzwiſchen 
hatte ſich Frankreich auch ein gewaltiges Kolonialreich in Nordweſtafrika geſchaffen, 
das nunmehr von Tunis über Senegal und Dahomey bis zum Kongo ſich erſtreckt. 
Nur Marokko war noch frei von franzöſiſcher Herrſchaft, der im übrigen der weit- 
aus größte Teil von Nordweſtafrika gehorchte. Daß nunmehr bie franzöſiſche Po- 
litik fic) mit aller Kraft auf die Einverleibung Marokkos richtete, iſt wohl verjtänd- 
lich; England erkannte durch den oben erwähnten Vertrag vom 8. April 1904 
das Alleinrecht Frankreichs auf Marokko gegen das Zugeſtändnis Agyptens an 
England an; die weiteren Schwierigkeiten, zu denen die Marokko-Frage ſpeziell 
mit Oeutſchland führte, find in allgemeiner Erinnerung und haben ihre Löſung 
durch den Novembervertrag von 1911 gefunden. 

Die Aufrichtung der franzöſiſchen Herrſchaft in Tunis hatte in Stalien leiden- 
ſchaftliche Erregung hervorgerufen; ein Blick auf die Karte macht dies wohl ver- 


414 Zürmers Tagebuch 


ſtändlich. Zwar fam es nicht zum Kriege zwiſchen Stalien und Frankreich; die 
tuneſiſchen Vorgänge aber waren bekanntlich ein für die ſeitherige Politik Italiens 
ſehr beſtimmendes Moment und ſcheinen zur Folge gehabt zu haben, daß ſeitens 
der übrigen Mächte der Vorrang Staliens in bezug auf Tripolis und die Cyrenaika 
anerkannt wurde. Von dieſem Anerkenntnis hat Stalien nunmehr 1911 den Ge- 
brauch gemacht, jene beiden Länder mit bewaffneter Hand für ſich in Anſpruch 
zu nehmen; der hieraus entſprungene Türkiſch-Ztalieniſche Krieg ijt durch den 
Frieden von Lauſanne beendigt; Tripolis und die Cyrenaika ſind damit für die 
Türkei endgültig verloren, und auch dieſer Verluſt muß als eine der weiteren 
Folgen des Berliner Vertrages von 1878 bezeichnet werden. Tripolis war zweifel- 
los ſtaatsrechtlicher Beſtandteil des türkiſchen Staates, wenn auch in vollſtändiger 
Verwahrloſung, und ohne daß die Türkei auch nur annähernd ihre Staatspflicht 
gegen das Land erfüllt hätte. Man hat Italien über fein plötzliches Vorgehen 
in Tripolis ſchwere Vorwürfe gemacht. Nach formellem Recht läßt fic dies Bor- 
gehen allerdings nicht begründen. Aber trug es einen anderen Charakter als das 
Vorgehen Englands in Agypten und das Vorgehen Frankreichs in Tunis und 
Marokko? Und Ftalien mochte mit Recht befürchten, daß Gefahr im Verzuge fei. 

Mit der Beſitznahme von Tripolis durch Stalien iſt die ganze Küſte von 
Nordafrika wieder unter europäiſche Oberhoheit geſtellt und die Staatsgewalt 
bee Iſlams, inſonderheit der Türkei, in dieſen Gebieten beendet. Zwar wird die 
ſtaatliche und kulturelle Neugeſtaltung dieſer Länder den drei daran beteiligten 
Großmächten noch Arbeit und Opfer genug koſten; aber die weltgeſchichtliche Cnt- 
ſcheidung über das ſtaats- und völkerrechtliche Schickſal von Nordafrika ift, ſoweit 
Menſchengedanken heute reichen können, endgültig gefällt. 

Ein Nachſpiel hatte endlich der Berliner Vertrag noch für Bosnien und 
Herzegowina. Dieſe Länder waren durch den Vertrag an Sſterreich- Ungarn 
gegeben zur ‚Beſetzung und Verwaltung“ unter formeller Aufrechterhaltung der 
türkiſchen Oberhoheit; zugleich war das Gebiet bis Mitrovitza, Der Sandſchak 
Novibaſar, als öſterreichiſche Intereſſenſphäre gekenn- 
zeichnet. Die Hauptmaſſe der Bevölkerung dieſes ganzen Gebietes iſt ſerbiſch. 
— Oſterreich- Ungarn hat in wenigen Jahrzehnten für jene Länder eine große 
Staats- und Kulturarbeit geleiſtet; in Wirklichkeit war das Gebiet feit 1878 Beſtand- 
teil der öſterreichiſch-ungariſchen Monarchie, und der türkiſche Staat war dort 
völlig verſchwunden. Unter dieſen Umſtänden war es erklärlich, daß man nach 
drei Jahrzehnten ſchwerſter Arbeit in Sſterreich ungarn den Vunſch hatte, an 
Stelle des Scheines die Wirklichkeit zu ſetzen und Bosnien- Herzegowina dem öfter- 
reichiſch-ungariſchen Staatsweſen einzuverleiben. Dies geſchah dann 1908 mit 
Zuſtimmung der Türkei, aber unter heftigſter Aufregung im Königreich Serbien 
und bei einigen Großmächten, beſonders Rußland; man ſtellte ſich hier auf den 
formellen Rechtsſtandpunkt, daß der Berliner Vertrag nicht ohne Zuſtimmung 
der beteiligten Mächte abgeändert werden könne. Schließlich wurde der Streit- 
fall, hauptſächlich infolge der feſten Stellungnahme Oeutſchlands, ohne Krieg, 
aber auch ohne Konferenz im öſterreichiſchen Sinne erledigt, allerdings unter 
formeller Preisgabe des öſterreichiſchen Anrechtes auf 


Türmers Tagebuch 415 


den Sandſchak Novibaſar. Jedenfalls hatte Sſterreich- Ungarn bei 
feinem Vorgehen 1908 den Rechtstitel, den eine 30jährige angeſtrengte Kultur- 
arbeit gab, während die drei Großmächte, die Nordafrika nahmen, dieſen Rechts- 
titel nicht hatten; nur Frankreich hätte ihn für Agypten geltend machen können 
(Leſſeps, Suezkanal, die Reformen der 60er Sabre). 

Endlich muß noch eine letzte Nachwirkung des Berliner Vertrages verzeich- 
net werden, die ſich auf Bulgarien bezieht. Der Berliner Vertrag hatte ein unter 
der Suzeränität der Türkei ſtehendes Fürſtentum Bulgarien bis zum Balkan 
und eine unter einem Statthalter ſtehende autonome Provinz Oſtrumelien ge- 
ſchaffen, die Bulgaren ſüdlich des Balkans zuſammenfaſſend. Dieſe Geſtaltung 
erwies (id) Iden nach wenigen Jahren als unhaltbar. Nach mehrfachen Wechſel⸗ 
fallen ſchwieriger Anfänge des neuen Staates Bulgarien trat eine ruhige, ge- 
ſunde und kraftvolle Entwicklung ein, als der jetzige König, zweifellos ein ganz 
außergewöhnlich hervorragender und weitblickender Staatsmann, zum Fürſten 
erwählt wurde. In raſcher Folge vollzog fid, ohne daß hieraus ſchwere euro- 
päiſche Verwirrungen entſtanden wären, die Entwicklung dahin, daß 1885 O ft- 
rumelien eines ſchönen Tages feine Vereinigung mit Bul- 
garien erklärte, daß dieſes Bulgarien die Oberhoheit der Türkei auf- 
hob und daß es endlich ſich als unabhängiges Königreich dem Staatenſyſteme der 
Balkanhalbinſel und Europas einfügte. Weder konnte die Türkei noch wollten die 
Großmächte dieſe Entwicklung hindern: ſo wurde in überaus kurzer Zeit aus dem 
unter türkiſcher Herrſchaft völlig verwahrloſten Bulgarien ein kraftvoller moderner 
europäiſcher Staat, deſſen Entwicklung in wenigen Jahrzehnten jedenfalls zu den 
hervorragendſten Leiſtungen auf dem Gebiete der Staatengeſchichte der Welt 
gerechnet werden muß. 

Das Jahrhundert von 1804 — dem Beginn bes ſerbiſchen Freiheitskampfes — 
bis 1912 hatte ſomit den Territorialbeſtand des türkiſchen Staates dahin ver- 
ändert: daß die ſämtlichen nordafrikaniſchen Gebiete der Türkei verloren gingen, 
und daß von dem ehemals die ganze Balkanhalbinſel umfaſſenden türkiſchen Staats- 
gebiete in Europa nur mehr das weſtliche Stück Albanien und Mazedonien ſowie 
das von hier nach Oſten reichende Land bis zum Bosporus und den Dardanellen 
den Staat der Türkei in Europa darſtellte. Von dieſen Gebieten iſt das Gebiet 
um Konſtantinopel ſowie Albanien überwiegend von Mohammedanern, Maze- 
donien überwiegend von griechiſch-katholiſchen Chriſten bewohnt: das Gejamt- 
verhältnis der Chriſten und Mohammedaner im damaligen türkiſchen Staate in 
Europa mag wohl mit einem Drittel Mohammedaner und zwei Drittel Chriſten 
annähernd richtig bezeichnet ſein. Die chriſtliche Bevölkerung in dem heutigen 
Reſte des türkiſchen Staates iſt überwiegend griechiſch; ein erheblicher Teil aber 
gehört auch dem bulgariſchen, ein anderer dem ſerbiſchen Volksſtamme an; die 
Kutzowalachen endlich werden von Rumänien in Anſpruch genommen. 

Wenn man wohl geglaubt batte, der türkiſche Staat werde nunmehr in 
dem ihm nach der Neuregelung durch den Berliner Vertrag verbliebenen Ge- 
biete eine intenfive Staatstätigkeit entwickeln und ſicher geordnete Verhältniſſe 
herſtellen, ſo erwies ſich dieſer Glaube und dieſe Hoffnung bald als vollſtändige 


416 Zürmers Tagebuch 


Täuſchung. Die Türkei bat militäriſch im 19. Jahrhundert nicht wenige bedeutende, 
öfters hervorragende Leiſtungen in das Buch der Geſchichte eingeſchrieben: es 
ſei nur an den ſerbiſchen Krieg von 1876, den griechiſchen von 1897 und vor allem 
an die ſchwere Kriſis des ruſſiſchen Krieges vor Plewna 1877 erinnert 

Auf dem Gebiete des Staatsrechts und der inneren Verwaltung hat die 
Türkei völlig verſagt, und deshalb iſt der allgemeine Zuſtand des türkiſchen Staates 
immer unerträglicher geworden ... Die Staatsgrundlage der Türkei war und ijt 
eine grundſätzlich andere als diejenige aller übrigen europäifchen — und ameri- 
kaniſchen — Staaten der Völkerrechtsgemeinſchaft. Der Koran iſt nicht nur das 
Oteligiensgefeb, ſondern auch das Staats- und Rechtsgeſetz bes Iſlams; auf jeder 
Seite faſt bringt der Koran den ſchärfſten Gegenſatz zu den Chriften, den „Ge- 
fährten des Höllenfeuers‘, zum Ausdruck; dieſer Gegenſatz beherrſcht alle Staats- 
und Rechtseinrichtungen der iflamitiſchen Welt und damit das ganze tägliche Leben 
der dieſer Welt zugehörigen Staaten und Völker, alſo insbeſondere der Türkei; 
nur der Gläubige darf die Waffen tragen, nur der Gläubige kann Richter und 
Beamter fein; nur der Gläubige darf Herrſcherrechte ausüben, der Ungläubige 
hat nur die Pflicht des Gehorſams und muß dem Staate Steuern und Abgaben 
entrichten; immer wieder wurde in den Verhandlungen des 19. Jahrhunderts 
von den türkiſchen Staatsmännern betont, daß das Religionsgefek eine grund- 
ſätzliche Veränderung des Rajahzuſtandes unmöglich mache. Wohl konnten ſchon 
feit längerer Zeit diefe Sätze nicht mehr in ihrer vollen Schroffheit zur Anwen- 
dung gebracht werden; den chriſtlichen Religionsgemeinſchaften wurde ein ge- 
wiſſes Maß von Rechten zum Schutze ihrer Angehörigen eingeräumt. Aber dieſe 
Zugeſtändniſſe erfolgten nur zögernd mit Widerwillen und Widerfprud; wo immer 
dies möglich war, wurden fie nicht beachtet, und an den im Koran, dem heiligen 
Gejeb', enthaltenen Staatsgrundlagen erfolgte keine Anderung. Bis zum Sabre 
1908 wurde — dies darf ruhig behauptet werden — kein ernſthafter Verſuch in 
dieſer Richtung gemacht. 

Als in den drei erſten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts jene drei großen 
Freiheitskämpfe der Serben, Rumänen und Griechen dem türkiſchen Staate 
die großen Gebietsverluſte im Norden und im Süden des Reiches gebracht hatten, 
erkannte wohl Sultan Mahmud, der von 1808 bis 1839 über die Türken herrſchte, 
daß die Exiſtenz des türkiſchen Staates nur dann geſichert ſei, wenn durch große 
Reformen die Türkei auch innerlich dem europäiſchen Staatenſyſtem eingefügt 
werde. Mit ber gewaltſamen Unterdrückung der Zaniticharen leitete Mahmud 
die große Reformarbeit ein und verſuchte dann mit großem, ſtarkem und gutem 
Villen ſeinen Staat nach modernen europäiſchen Geſichtspunkten zu erneuern, 
wenn er auch nicht daran dachte, die Grundlage des Staates, das heilige Geſetz', 
umzuſtürzen. Vergeblich. An dem ‚heiligen Gejeb', das vom Volke mit fana- 
tiſcher Treue feſtgehalten wurde, ſcheiterte Mahmuds ganze Reformarbeit. Moltke 
hat in ſeinen herrlichen Briefen aus der Türkei dieſe Vorgänge meiſterhaft ge— 
ſchildert und das Ergebnis der ganzen Reformarbeit ſeines Freundes Mahmud 
in den ergreifenden Satz zuſammengefaßt: „Sultan Mahmud hat ein tiefes Leid 
durchs Leben getragen; die Wiedergeburt ſeines Volkes war die große Aufgabe 
ſeines Daſeins, und das Mißlingen dieſes Planes ſein Tod.“ 


Zürmers Tagebuch 417 


Das war 1839. Der Einfluß Rußlands war zu jener Zeit infolge des Feld- 
zuges von 1829 und des Friedens von Adrianopel der mächtigſte am Goldenen 
Horn und blieb dies bis zum Krimkrieg. Es ijt für unſeren Zweck nicht erforder- 
lich, nach den Urſachen dieſes großen und blutigen Krieges (1854 bis 1856) im 
einzelnen zu forſchen: im letzten Ende war es doch der in dieſen orientaliſchen 
Dingen unüberbrückbare und unausgleichbare Gegenſatz zwiſchen England und 
Rußland, der dahin führte, daß fid) unter Führung Napoleons III. jene engliſch⸗ 
franzöſiſch-ſardiniſch-türkiſche Koalition gegen Rußland bildete, die nach ſchweren 
Kämpfen in der Krim das beſiegte Rußland zu dem demütigenden Pariſer Frieden 
von 1856 zwang. 
^ Gon diefem Pariſer Frieden von 1856 exiſtiert heute nichts mehr; er ijt 
völlig in Fetzen geriſſen, wie dies der ruſſiſche Zar Alexander II. am Grabe ſeines 
Vaters Nikolaus, dem Rußlands Mißerfolge im Krimkriege das Herz gebrochen 
hatten (1855), gelobt haben ſoll. An dem vorhandenen Staatsbeftande der Val- 
kanhalbinſel änderte der Pariſer Friede nichts; ſein Hauptinhalt beſtand aus zwei 
Punkten: einmal der Feſſelung Rußlands im Schwarzen Meere und ſodann der 
Aufnahme der Türkei als europäiſche Großmacht unter dem in hodtrabenden 
Worten gegebenen Verſprechen großartiger Reformen in der Türkei. Zur Ein- 
führung der Reformen wurde ein umfaſſendes Geſetz erlaſſen, das aber in ſeinem 
vollen Umfange toter Buchſtabe blieb — genau der gleiche Gang der Dinge wie 
bei den Reformen des Sultans Mahmud. Der mit Strömen Blutes erkaufte 
Pariſer Friede von 1856 war und blieb ein eitles Nichts; es wird in der Welt- 
geſchichte wenige ſo völlige Fehlſchläge geben wie der berühmte, unter ungeheurem 
Kräfteaufwand erkämpfte Pariſer Friede. 

EAngeſichts der Wirklichkeit klangen die Worte von der „beſtändigen Für- 
ſorge des Sultans für das Wohlergehen ſeiner Untertanen ohne Unterſchied von 
Religion und Raſſe' wie bitterſter Hohn. Schlimmer als je zuvor wurden bald 
nach dem Frieden von 1856 die ſtaatlichen Zuſtände in der Türkei, bis es fchließ- 
lich wieder zu jenen ſchweren Aufſtänden kam, die dann in den Ruſſiſch-Türkiſchen 
Krieg von 1877 und den Berliner Vertrag von 1878 ausmündeten. 

Auch bei dieſen neueſten welthiſtoriſchen Vorgängen ſpielen die Reformen’ 
in der Türkei eine Hauptrolle. Nachdem die Türken über die Serben geſiegt hatten, 
verlangten die europäiſchen Großmächte durch ihre Botſchafter in Konſtantinopel 
behufs Vermeidung der Wiederkehr von Aufſtänden der chriſtlichen Bevölkerung 
gebieteriſch Reformen im ganzen europäiſchen Staatsgebiet der Türkei; diefe 
aber lehnte das von den Botſchaftern hierfür entworfene Statut rundweg ab, 
fo daß bie ſämtlichen Botſchafter Konſtantinopel verließen; zu kriegeriſchem Cin- 
ſchreiten entſchloß ſich aber, ebenſo wie 1829, nur Rußland, und es folgten der 
Friede von San Stefano und der Berliner Vertrag. 

$m Zuſammenhange mit den in Konſtantinopel damals geführten Reform- 
verhandlungen erließ dann aber die Türkei von ſich aus eine konſtitutionelle, von 
Midhat-Paſcha ausgearbeitete Verfaſſung, bie fid) als in Ausführung des heiligen 
Geſetzes' erlaſſen bezeichnete, aber dennoch die Gleichheit aller Angehörigen des 
‚ottomanifchen Volkes“ ohne Unterſchied des Religionsbekenntniſſes ausfprad 


Der Türmer XV, 3 


418 Zürmers Tagebuch 


Auf Grund dieſer Verfaſſung trat auch ein ottomaniſches Parlament zuſammen. 
Aber nach kurzen Verhandlungen war die konſtitutionelle Herrlichkeit wieder zu 
Ende, Midhat-Paſcha ſtarb in der Verbannung, das Parlament wurde aufgelöſt 
und nie wieder berufen: die ganze Verfaſſung blieb leeres Blendwerk ohne wirt- 
lichen Erfolg. Im Berliner Vertrag iſt von der Verfaſſung nicht mehr die Rede, 
wohl aber werden wieder in feierlicher Weiſe — in Artikel 25 — Reformen ver- 
ſprochen. Volle innere Unabhängigkeit follte durch diefe Reformen den rift- 
lichen Völkerſchaften, ebenſo wie dies für Kreta ſeit 1868 geſchehen war, gewährt 
werden. Dieſes letzte Stück der türkiſchen Reformära nahm einen ſehr merkwür— 
digen Verlauf. Auf Grund des Berliner Vertrages wurde 1880 ein großes Reform- 
geſetz ausgearbeitet, aber es wurde nicht einmal der Verſuch ſeiner Ausführung 
unternommen; auch dieſer Geſetzentwurf blieb nur ein Stück Papier. Als die 
Türkei völlig untätig blieb, nahmen wenigſtens für Mazedonien die Mächte ſelber 
die Angelegenheit in die Hand, und es wurde dort eine internationale Gen- 
darmerie errichtet, welche unter einem italieniſchen General und europäiſchen 
Offizieren begründete Hoffnung bot, in dem unglücklichen, zerrütteten Lande 
allmählich Ruhe und Ordnung herzuſtellen. Aber als dieſe Entwicklung der Dinge 
ſich in einem durchaus hoffnungsvollen Stadium befand, erfuhr ſie plötzlich ein 
jähes Ende. Durch die Revolution der Fungtürken im Jahre 1908 wurde 
Sultan Abdul Hamid des Thrones entſetzt und die Verfaſſung, die 1876 nur ein 
ephemeres Daſein gehabt hatte, wieder hergeſtellt, das Parlament auch ſofort 
berufen und eine konſtitutionelle Regierung unter einem neuen Sultan ein- 
gerichtet. Dieſe Umwälzung hatte zur Folge, daß das ganze von den Gro ß 
mächten unternommene Neformwerk in Mazedonien ein- 
geſtellt und die Ausführung der erforderlichen Reformen der neuen 
türkiſchen Regierung ſelbſt überlaſſen, die internationale 
Gendarmerie aber aufgelöſt wurde. Damit aber wurde das Reformwerk aber- 
mals zu Grabe getragen. Es kann kein Zweifel beſtehen, daß es den Jung- 
türken voller Ernſt war mit der Einführung der konſtitutionellen Reformen 
in weſteuropäiſchem Sinne; daß dieſe Reform eine völlige Beſeitigung der reli— 
gionsrechtlichen Grundlagen des Korans in ſich ſchließen müſſe, war ihnen völlig 
klar und war ihr bewußter Wille. Die Zungtürten waren des feften Willens 
und des guten Glaubens, daß es ihnen gelingen werde, den türkiſchen Staat auf 
modernen Grundlagen wieder aufzurichten unter Zurückdrängung des Korans 
auf das rein religiöſe Gebiet, zumal da fie fic getragen wußten von der Sym- 
pathie der weſteuropäiſchen Völker und der Zuſtimmung hervorragender Männer, 
die als Diplomaten und Heerführer mit der Türkei in nahe Beziehungen getreten 
waren. 

Die große Hoffnung erwies ſich aber als eitel, da die jungtürkiſche Reform 
nicht den nötigen Rückhalt im türkiſchen Volke fand. In Konſtantinopel wurde 
die jungtürkiſche Herrſchaft geſtürzt und in den Provinzen, beſonders in Albanien, 
trat das altgläubige Türkentum in ſchärfſten Gegenſatz gegen die modernen Re- 
formen, ja ſchritt ſelbſt zur Revolution mit den Waffen. Abermals war die dies- 
mal mit fo großen Hoffnungen und mit dem aufrichtigſten guten Willen unter- 


Türmers Tagebuch 419 


nommene Reform geſcheitert: das „heilige Geſetz' des Korans war ſtärker als der 
glühende Reformeifer der jungtürkiſchen Staatsmänner und Offiziere. Auch 
von der Türkei als Staat gilt, wie die Geſchichte aller Reformverſuche im 19. Jahr- 
hundert beweiſt, der Satz: Sint ut sunt aut non sint. 

* 


„Wie lange“, erinnert Theodor Schiemann in der „Kreuzztg.“, „hat 
man nicht den Tag vorhergeſagt, der jetzt vor uns aufgeht? Alle diejenigen, 
die, um mit dem Herzog von Wellington zu reden, gewohnt waren, ‚zu erraten, 
was auf der andern Seite des Berges vor jid) ging‘, haben das Ende des „kranken 
Mannes“ angekündigt. 1807 haben Napoleon und Alexander I. in Tilſit den Plan 
entworfen, wie fein Mantel verteilt werden ſollte, 1808 Caulaincourt und Rum- 
janzow darüber geſtritten, wem Konſtantinopel zufallen ſolle, 21 Sabre danach 
ſtand Diebitſch an den Pforten Konſtantinopels, und nach wenig über einem halben 
Jahrhundert ftanden die Nuffen wiederum an derſelben Stelle; aber Kraft und 
Entſchluß reichten nicht aus, um das Kreuz an die Stelle des Halbmondes zu ſetzen. 
Jetzt ſind die Bratuſchki, die kleinen Brüderchen, im Begriff, es zu tun und die 
Frucht zu pflücken, nach der ſchon Oleg gelangt hatte, als er, wie die Sage erzählt, 
im Jahre 907 ſeinen Schild an das Haupttor Konſtantinopels ſchlug. Auch heute 
iſt die Frage, wem Konſtantinopel zufallen ſoll, brennend. Zwar, die 
ſlawiſchen Geſellſchaften in Petersburg und Moskau ſcheinen nichts dagegen zu 
haben, daß auch dieſer Siegespreis den Bulgaren zufällt. In der ͤ Nowoje Wremja“ 
wird der Tag, da fie ‚über den Kuppeln das rechtgläubige Kreuz ſchimmern laffen‘, 
ſogar in nicht üblen Verſen gefeiert. Aber es kann nicht zweifelhaft ſein, daß das 
offizielle Rußland eine ſolche Löſung nicht wünſcht und alles daranſetzen wird, 
fie zu verhindern. In der Tat würden Bosporus und Dardanellen, 
deren Beſitz kaum von dem Konſtantinopels zu trennen iſt, die Macht Bulgariens 
fo erheblich ſteigern, daß bie politiſche Vormundſchaft, die Rußland über Bulgarien 
als hiſtoriſches Recht beanſprucht, ſich auf die Dauer nicht würde behaupten laſſen. 
Im Beſitz von Konſtantinopel und Saloniki muß Bulgarien früher oder ſpäter 
Seemacht werden, und ſelbſt wenn wir uns vorſtellen, daß die Meerengen neutrali- 
ſiert werden, was keineswegs unmöglich iſt, muß doch als ausgeſchloſſen gelten, 
daß das Schwarze Meer in Zukunft ein mare clausum für die Kriegsſchiffe der 
andern Nationen bleiben könnte. Konſtantinopel in Händen einer völlig gefchwäch- 
ten Türkei muß in Petersburg um ſo mehr als eine erwünſchte Löſung erſcheinen, 
als die Pforte dann noch weniger als jetzt einem diplomatiſchen oder militäriſchen 
Druck Rußlands Widerſtand leiſten könnte. Auch wäre nicht undenkbar, daß der 
alte Gedanke des erſten Napoleon, der fih Konſtantinopel als europäiſche Frei- 
ſtatt vorſtellte, wieder auftaucht, was jedoch ebenfalls nur mit einer Offnung der 
Meerengen verbunden fid) ausführen ließe. Jedenfalls liegt hier ein Problem, an 
dem nicht vorübergegangen werden kann, und der von mehreren Seiten aus- 
geſprochene Gedanke, Konſtantinopel mit möglichſt kleinem Territorium den Tür- 
ken zu laffen (with a strip of territory ſchlägt z. B. der „Economiſt“ vor), ſcheint 
uns der bedenklichſte von allen zu ſein, weil er mit Notwendigkeit in einen neuen 
Krieg ausmünden muß und der Türkei die Ausſicht nimmt, auf 


420 &ütmere Tagebuch 


aſiatiſchem Boden fid zu regenerieren. Aber aud wir be- 
anſpruchen nicht, zu ſehen, ‚was hinter dem Berge vorgeht‘, und wiſſen aus Er- 
fahrung, daß die Wirklichkeit an die Stelle all der Möglichkeiten, die man erwägt, 
eine neue, völlig überſehene zu ſetzen pflegt. 

Nächſt dieſer Konſtantinopeler Frage, die, hiſtoriſch betrachtet, ohne Zweifel 
die wichtigſte ift, rückt jetzt die ferbif de in den Vordergrund. Sie verſucht fo- 
gar, ſich zu einer europäiſchen aufzubauſchen, wozu an ſich nicht die geringſte Be- 
rechtigung vorliegt. Es ijf der ſelbe Größenwahn, der die Serben im Herbft 
1908 in der bosniſch-herzegowiniſchen Frage plagte und eine Zeitlang ganz Europa 
in Atem hielt, weil fie politiſche Gegenſätze der Großmächte zu ihrem Vorteil aus- 
ſpielen wollten. Heute ſcheint die Rechnung die ſelbe zu ſein. Sie fordern einen 
Hafen an der Adria und wollen Albanien, das doch ebenfalls ein Balkanſtaat 
ist, aufteilen, obgleich die Deviſe, unter welcher der Krieg begonnen wurde: ‚Der 
Balkan den Balkanſtaaten“ lautete. Der ‚Economift‘ nennt dieſen Anſpruch „an 
alarming and, we must add, an extraordinary foolish demand“. Paſitſch babe 
ſeinen Anſpruch damit begründet, daß die Albaneſen ein primitives, unkultiviertes 
Volk feien. Er hätte hinzufügen können, daß fie kein Wort Serbiſch ver- 
iteben, daß fie die Serben haſſen und wahrſcheinlich jenes Großſerbien, 
das die Chauviniſten in Belgrad immer größer machen wollen, zugrunde richten 
würden. Der natürliche Ausweg Serbiens liege nicht im Weſten, ſondern im Often. 
In San Giovanni, Aleſſo und Durazzo werde es nicht nur auf kämpfende Alba- 
neſen, ſondern auf zwei Großmächte ſtoßen, endlich ſcheine Serbien zu vergeſſen, 
daß es finanziell hart am Bankero tt ſtehe und für künftige Anleihen von den 
Märkten in London, Paris, Berlin und Wien abhänge. Es würde ein ſchwerer 
Fehler des Foreign Office unb der britiſchen Preſſe fein, wenn fie den handels- 
politiſchen Intereſſen Oſter reichs und Ztaliens entgegentreten follten, die 
für ein autonomes und neutraliſiertes Albanien eintreten. 

Das alles ijt ſehr treffend bemerkt, nicht berüdjichtigt wird nur, daß die auf 
einen Krieg drängende ruſſiſche Preſſe den Serben den Rüden ſteift. Die ‚Nowoje 
Wremja’ klagt, daß die öſterreichiſche Diplomatie das Drama, das fic auf der 
Balkanhalbinſel abſpiele, mit einer ſchmutzigen Wiener Operette abſchließen wolle, 
verſpricht aber, daß dies nicht geſchehen werde, da zu ben Balkanſtaaten noch Ruß- 
land ſtehe und hinter ihm Frankreich und England. Der Golos Mostwn‘ 
vom 8. November konſtruiert einen gegen Rußland geplanten Überfall von feiten 
Oſterreichs, das mit Rußland ebenſo verfahren wolle, wie Bulgarien und Serbien 
der Türkei getan. Deshalb ſolle Rußland rüſten, das Bild werde dann bald ein 
andres fein. Deutſchland werde dann nicht wagen, Öfterreich zu unterſtützen, denn 
es riskiere zuviel. „Ein Mißerfolg — unb die Revolution in 
Deutſchland iſt fertig.‘ Herr Poincaré habe erklärt, daß England und 
Frankreich fertig ſeien, und wenn das richtig ſei, ſtehe Deutſchland auch vor einer 
ökonomiſchen Kataſtrophe. Für Ofterreich aber bedeute ein Konflikt mit Rußland 
das Ende der habsburgiſchen Monarchie uſw. Die ganze Tirade 
ſchließt mit den Worten: Bereitet euch zum Kriege vor. Die 
ganze Macht Nußlands ſteht bereit und wartet nur dar— 


Türmers Tagebuch 421 


auf, gerufen zu werden.“ Den gleichen Gedanken hat General Paren- 
ſow, der ſelbe, der als bulgariſcher Kriegsminiſter ſo kläglich Fiasko machte, in der 
Petersburger flawiſchen Geſellſchaft ausgeführt: die Einnahme Wiens werde fo- 
fort zum Zerfall ber habsburgiſchen Monarchie führen, es fei aber nicht einmal not- 
wendig, Wien zu nehmen, da es ein Grenzgebiet gebe, das von echten Ruſſen be- 
wohnt werde. Dieſe letztere Bemerkung, die auf Galizien hinweiſt, empfehlen 
wir ben öſterreichiſchen Polen, die neuerdings höchſt aus fahrend gegen 
Deutſchland geworden find, zu reiflicher Überlegung ...“ 

Die Sprache, an der ſich hier die ruſſiſche Preſſe erfreut, läßt ſich ja kaum 
noch überbieten. Mit Recht betont der „Reichsbote“, daß auch an dem alten Gegen- 
ſatz zwiſchen Rußland und Sſterreich, dem Gegenſatz, der heute die internationale 
Lage beherrſche unb fo kritiſch geſtalte, Rußlands zweideutige Haltung die Schuld 
trage: „Er machte fid) ſchon 1849, als bie allſlawiſche Idee in der Balkanfrage wirt- 
fam wurde, nachhaltig geltend. Seitdem die ſerbiſche Omladina und die Ofterreid 
feindliche Verbrüderung ber Balkanſlawen, die bis dahin Rußland haßten, ent- 
ſtanden war, wurde bie Nebenbuhlerſchaft Öfterreichs und Rußlands auf dem 
Balkan eine bie europäiſche Politik in hohem Maße beeinfluſſende Tatſache. Ge- 
tabe das allſlawiſche Element macht die Verſtändigung zwiſchen Ofter- 
reich und Rußland auch in Zukunft ſo ſchwer. Entſtände auf der Balkanhalbinſel 
ein kräftiges ‚großferbifches‘ Staatsweſen, eine Schöpfung des Allſlawismus, fo 
könnte dies im Verein mit Rußland Sſterreich gefährden, das dann einem Angriff 
von Süd und Oft zugleich ausgeſetzt wäre. Dem Großſerbentum würde fid) ber 
ſerbiſch-kroatiſch-illyriſche Bund, der ‚Zliyrismus‘, gejellen, wäh- 
rend im Norden das Tſchechentum aufſtehen würde. Dann wäre Wien in 
Nord und Süd von ber flawifhen Hochflut bedroht. Für ein auf deut- 
ſcher Grundlage fortbeſtehen wollendes Öfterreich iſt es ein Lebensintereſſe, dem 
Eintritt einer ſolchen Hochflut, die ſich mit der Entſtehung eines großſerbiſchen, 
bis an die Adria reichenden Staates vorbereiten würde, beizeiten vorzubeugen. 

Der aus dem uralten Haß der Slawen gegen die Deutſchen als ‚flawijche 
Intereſſenſolidarität“ entſtandene Allſlawismus ijt ein an jid) recht widerjpruchs- 
volles Weſen, weil es unter den Slawen niemals Gemeinſamkeit der politiſchen 
Beſtrebungen gegeben hat, ſo daß ſie alsbald einander ſelbſt auf das grimmigſte 
bekriegen würden, wenn ſie, wonach ſie ſtreben, die ihnen hinderliche Machtſtellung 
des Deutſchtums vernichtet hätten. Wie es dann auf der Balkanhalbinſel zugehen 
würde, lehrt die mit Blut geſchriebene Geſchichte dieſer Völker vor der türkiſchen 
Herrſchaft. Das Fehlen wirklicher Intereſſenſolidarität darf aber die vom 
Allflawentum drohende Gefahr nicht geringſchätzen 
laſſen, denn der gemeinſame Haß gegen das Deutſchtum 
einigt alle Slawen für den Kampf. Rußland hat den Gedanken einer 
ſlawiſchen Intereſſenſolidarität ſchon früh auszunützen verſucht. Schon Peter der 
Große handelte in dieſer Richtung, und ſeitdem ift das Rechnen mit den Sym- 
pathien der Balkanvölker ein Grundzug der ruſſiſchen Politik geblieben, obwohl 
das rein allſlawiſche Moment nicht immer vorherrſchte. Leitendes Prinzip, Staats- 
zweck ijt bie ‚jlawifche Miſſion“ ert nach dem Krimkrieg geworden, der nach ruſſi- 


422 &ürmete Tagebuch 


ſcher Auffaſſung einzig nur infolge ber (als undankbar empfundenen) Haltung 
Öfterreichs fo unglücklich geendet hat. Aus Rachegefühl gegen Ofter- 
reich ließ die ruſſiſche Regierung ſeitdem der Verkündung der flawifden Inter- 
eſſengemeinſchaft alle Förderung zuteil werden. Rußlands flawifde 
Miffion‘ wurde auf dem Moskauer Slawenkongreß von 1867 zum erſtenmal 
in aller Form feierlich verkündet, und unmittelbar darauf folgten die vom Mos- 
kauer Allſlawiſten-Komitee veranſtalteten bulgariſchen Putſche, die von den Türken 
ſo blutig unterdrückt wurden. Andere Zettelungen der allſlawiſchen Propaganda 
ſorgten dafür, daß die Begeiſterung für den Solidaritätsgedanken rege blieb, bis 
die ruſſiſche Regierung ſchließlich dadurch in den großen und erfolgreichen Krieg 
von 1877/78 getrieben worden war. Mit Hilfe des Allſlawismus hat die ruſſiſche 
Diplomatie auch weiterhin ſo große Erfolge in der internationalen Politik erreicht, 
daß eine Abſage an ihn nie zu erwarten iſt, und dies heute um ſo weniger, als 
ſeine revolutionäre Macht eine Losſagung gefährlich 
erſcheinen läßt. 

Wäre es demgegenüber für Oſterreich möglich, auf friedlichem Wege den 
Allſlawismus, der ausſchließlich auf den Haß gegen Oſterreich ſpekuliert, durch 
eine ,fluge und wohlwollende“ Politik gegenüber Serbien und Montenegro un- 
ſchädlich zu machen? Dieſe Frage muß verneint werden. Die längſt ſchon 
antiöſterreichiſche Haltung jener Völker entſpricht ſo vollkommen dem urzeitlich 
überlieferten Deutſchenhaß der Slawen und iſt ſo innig gepaart mit 
engen, ſeit mehr als einem Menſchenalter gepflegten Beziehungen zu Rußland, 
daß ein Bemühen, Wandel darin zugunſten Ofterreichs zu ſchaffen, ganz vergeblich 
bleiben müßte. Tatſächlich ſind ja auch Zugeſtändniſſe und Vergünſtigungen, zu 
denen Sſterreich fid) fo oft ſchon herbeigelaſſen hat, ſtets als Zeichen von Schwäche 
aufgenommen worden, iſt jedes Entgegenkommen mit um ſo unverſchämteren 
Forderungen erwidert worden. Demgemäß müßte jetzt Nachgiebigkeit gegenüber 
der ſerbiſchen Herausforderung in Albanien als ein ſchlimmer politiſcher Fehler 
betrachtet werden, der um ſo ſchwerer wiegen würde, als ſolche als Schwächegefühl 
zu deutende Nachgiebigkeit das hinter Serbien ſtehende Rußland zu weiterem 
Vorgehen ermutigen müßte. Die Anſtachelung und geheime Anterſtützung der 
Balkanſtaaten belaſtet Rußland mit der Verantwortung für einen europäiſchen 
Krieg. Dieſe zu tragen, mag ſeiner Gewiſſenloſigkeit leicht fallen, aber fragen muß 
man doch, ob das ſtaatlich bereits in jo weitem Maß desorganiſierte Rußland blind, 
dagegen fein kann, welches Unheil ihm ein abermaliger unglücklicher Krieg bringen 
würde. In der Tat zaudert ja die Regierung, aber es ſcheint, daß die revolutionäre 
Macht des Allſlawismus dem Zarentum wieder einmal über den Kopf wächſt. 

Wie Ojterteid) nicht dulden kann, daß ihm durch flawifche Neubildungen auf 
der Balkanhalbinſel der Zugang zum Agäiſchen Meere und der freie Weg nach 
Alien verſperrt wird, fo darf ihm auch nicht zugemutet werden, daß es durch Preis- 
geben Albaniens feine ganze albaniſche Politik verleugne und auf die Früchte 
langjähriger Kulturarbeit verzichte. Die ‚Wichtigkeit Albaniens für Oſterreich' ijt 
vor wenigen Jahren in dem famoſen offiziöſen Artikel des Wiener „Fremdenblatt', 
der ſo großes Aufſehen erregte und in Stalien ſogar eine Interpellation in der 


Türmers Tagebuch 423 


Kammer veranlaßte, eingehend behandelt worden. Darin hieß es auch: ‚Der Tag 
kann kommen, wo Oſterreich in Albanien fid) verteidigen muß.“ Bei einer anderen 
Gelegenheit hat Ofterreid) auf fein durch die Wiener Verträge von 1815 garantier- 
tes ,‚hiſtoriſches katholiſches Protektorat über die Albanier‘ 
hingewieſen. Als Schutzmacht des römiſchen Katholizismus hat es im nördlichen 
Albanien viele Kirchen und Schulen errichtet und die Ausbildung geeigneter Lehrer 
durch Lehrkurſe der albaniſchen Sprache organiſiert, worin die Anwendung deut- 
ſcher Schriftzeichen für dieſe bisher nur geſprochene Sprache gelehrt wird. Sehr 
charakteriſtiſch für Oſterreichs Ziele! Dazu kommt, daß Öfterreich längſt auch die 
Ausübung der Seepolizei in den albaniſchen Häfen und ebenſo den P o ft- 
verkehr daſelbſt an fid) genommen hat. Der Sſterreichiſche Lloyd vermittelt 
die Poſtverbindung zwiſchen Medua, Durazzo, Balona, Parga und Preveſa. 
Soll Ofterreid) aus dieſer mit drei Strichen nur gezeichneten Stellung vor einem 
Serbien zurückweichen? Dies hieße auf alles Anſehen als Großmacht verzichten. 

Es iſt ein Schauſpiel, wie wir es noch nicht erlebt haben: es wird gut ſein, 
daß man die Erinnerung daran feſthält. Faſt über Nacht änderten die Großmächte 
ihre Stellung auf Grund der kriegeriſchen Erfolge, die die Balkanſtaaten errungen 
hatten. Vor acht Tagen verkündete man noch, daß das türkiſche Reich ungeſchmälert 
im Beſitze ſeiner Länder bleiben würde, jetzt iſt man damit einverſtanden, daß 
Konſtantinopel bulgariſch wird oder Hauptſtadt einer autonomen Provinz. ‚Alles 
fließt.“ Die großen Worte der Staatslenker verhallen im Winde. Der Selbſtruhm 
der Offiziöſen verweht wie Rauch. Aber wir ſuchen als Chriften nach einem Stand- 
punkt, der nicht alle acht Tage ſich ändert, nach einem Urteil, das einen höheren 
Maßſtab anwendet. Wie ſtellen ſich, wie ſollen ſich die deutſchen 
Chriſten zum Balkankriege ftellen? | 

Wenn wir das Wort deutſch betonen, dann möchten wir zunächſt be- 
dauern, daß die Diplomatie des Deutſchen Reiches eine große 
Schlappe erlitten hat. Wir gönnen es dem früheren Botſchafter, Frei- 
herrn v. Marſchall, daß er dieſes Trauerſpiel nicht mehr miterlebt hat. Für das 
Deutſche Reich war die Türkei eine Reihe von Jahren hindurch ein wichtiger Fat- 
tor im diplomatiſchen Schachſpiel. Gegenüber England war die Türkei fchließ- 
lich die einzige Macht, die Deutſchland im ſchlimmſten Falle einen ernſthaften Bei- 
ſtand zu gewähren ſchien. England hat fih auf Koſten der Türkei zur Genüge be- 
reichert, Agypten hat es ihr weggenommen. Die Türkei wäre in der Lage geweſen, 
mit ihren Truppen die Herrſchaft Englands in Agypten zu bedrohen und den Ber- 
kehr nach Indien zu hindern. Ob ſolche Berechnungen jemals verwirklicht worden 
wären, iſt eine andere Frage. Aber man rechnete wenigſtens mit Möglichkeiten; 
und auch dies tat ſchon wohl. Aber nun ſcheint dies vorüber zu ſein. Die Türkei 
wird England nicht mehr gefährlich werden, zumal die britiſchen Kriegsſchiffe an- 
ſcheinend nad) dem Bosporus fahren, um der Türkei beizuſtehen. So hat ber 
Balkankrieg die Ausſichten der deutſchen Diplomatie erheblich verſchlechtert. 

Sollen wir darum als geſchädigte Nation nun einſtimmen in den Chor derer, 
die ſich ſelbſt einreden, nicht geſchädigt zu ſein, die ſich in die eigene Taſche lügen? 
Oder ſollen wir darauf beſtehen, daß die Balkanſtaaten mit ihrer Kriegserklärung 


424 Gürmete Tagebuch 


unrecht getan haben, und fie ſchelten? Ja, man erklärt, daß fie formal im Un- 
recht waren; aber angeſichts ihrer offenkundigen Uberlegenheit wagt man doch 
nicht zu fordern, daß ſie ihre Siegesbeute fahren laſſen. Manche Leute, die ſonſt 
auf gute Formen beſonders hohen Wert legen, ſind jetzt ſogar bereit, ein höheres 
Recht in der Geſchichte anzuerkennen. Niemand ſteht heute mehr auf dem Stand- 
punkte des alten Metternich. Bekanntlich war der darüber erzürnt, daß ſich im 
neunzehnten Jahrhundert die Griechen gegen den türkiſchen Sultan zum Freiheits- 
kampfe erhoben. Der war doch ihr legitimer Herr, alfo waren die Griechen Ne- 
volutionäre. Aber das Volk Europas empfand nicht mit den damaligen legitimifti- 
ſchen Staatsmännern, ſondern erkannte das göttliche und menſchliche Recht der 
Griechen an, die Fremdherrſchaft abzuwerfen; und zuletzt haben ihnen fogar die 
Großmächte dabei geholfen. Es war das chriſtliche Gemeingefühl, 
das dabei mitredete. Die Erinnerung machte ſich geltend, daß alle die Länder des 
Balkans einmal unter chriſtlichen Herrſchern geſtanden haben, und daß die Türken 
Eroberer waren, die mit Feuer und Schwert eindrangen. Für das chriſtliche Europa 
war es im Grunde eine Schande, daß die Türkenherrſchaft ſolange geduldet wurde. 
Sie wäre auch längſt beſeitigt, wenn nicht Neid und Eiferſucht unter den 
europäiſchen chriſtlichen Mächten zur Erhaltung der Türkei beigetragen hätten. 
Dazu kam, daß die chriſtlichen Balkanvölker unter der türkiſchen Mißwirtſchaft ſelbſt 
noch wenig Kultur beſaßen. Aber das iſt nun anders geworden. Die Bulgaren 
in erſter Linie haben es bewieſen, daß ſie von den weſteuropäiſchen Völkern gelernt 
haben und ihrer Kraft ſich bewußt geworden ſind. Der Haß gegen die Türken, die 
mit unbeſchreiblicher Verachtung auf die unterworfenen Chriſtenvölker herabgeſehen 
haben und noch heute voll Uberhebung find, hat dazu beigetragen, den heutigen 
Balkankrieg herbeizuführen. Wenn die Bulgaren jetzt mit dem Feldgeſchrei, Krest“ 
(Kreuz) in die Schlacht gehen, ſo mutet uns das zunächſt mehr altteſtamentlich als 
neuteſtamentlich an. Es erinnert an die Kreuzzugsſtimmung, und der Aufruf des 
Königs der Bulgaren wollte auch die Stimmung ſeines Volkes in dieſem Sinne 
beeinfluſſen. Er hat damit den Bulgaren nicht einen ihnen fernliegenden Ge- 
danken eingeimpft, ſondern nur ausgeſprochen, was im Volke lebt. Wir neigen 
leicht dazu, darüber ein Verwerfungsurteil auszuſprechen, da wir nichts von dem 
Haß zwiſchen den unterdrückten Chriſten und herriſchen Mohammedanern wiſſen. 
Niemand wird beſtreiten wollen, daß auch dabei Gottes Hand im Spiele ſein 
wird, wenn einmal früher oder ſpäter auf der Hagia Sophia in Konſtantinopel das 
Kreuz wieder zu ſeinem Rechte kommt und den Halbmond verdrängt. Wir ſind 
Zeitgenoſſen weltgeſchichtlicher Ereigniſſe, wenn die Stadt Konſtantins, der das 
Chriſtentum zur Staatsreligion der Mittelmeerländer erhob, wieder unter chrift- 
liche Regierung kommt ...“ 

Der tiefe Riß, der durch unſere „Kultur“ und Weltanſchauung geht, läßt 
fich nicht greller beleuchten, als wenn wir in ſchriller Diſſonanz diefe Stimme von 
der des Frankfurter „Freien Wortes“ begleiten laſſen. Zwar, ſo heißt es dort, 
nennen wir uns Chriſten, aber vom Träger der Krone bis zum letzten Amtsdiener 
hinab würde uns jeder für irrſinnig halten, wenn wir ihm die Befolgung irgendeines 
der Gebote des Chriſtentums zumuten wollten. „Unſer Gott ift der Mammon, 


Farmers Tagebuch 425 


der Wille zur Macht grinſt hinter allen fadenſcheinigen Masken hervor, die bem 
zwingenden Gebote der Heuchelei zuliebe angenommen werden, aber wir haben 
nichtsdeſtoweniger den Mut und die Stirn, unſeren Plänen und Unternehmungen 
ein chriſtliches Mäntelchen umzuhängen, und wenn wir die Repetiergewehre aus 
den Arſenalen hervorholen, ſo muß der Pfaffe unſere Waffen ſegnen, weil wir ſie 
nur zur höheren Ehre Gottes, nur in feinem Dienſte zu führen vorgeben. Dürfen 
wir uns da wundern, wenn die vier Balkankönige, die jetzt auf Länderraub aus- 
gezogen ſind, in den ſchwungvollen Proklamationen an ihre Völker nur von einem 
Kreuzzug reden, nur von dem Kampfe des Kreuzes gegen den Halbmond? 

Gewiß, auch die Kreuzzüge des Mittelalters waren ſo heilig nicht, wie die 
Kirchengeſchichte ſie gern darſtellen möchte, und Habſucht und Abenteuerluſt hatten 
daran ebenſogut ihren Teil wie der naive Glaube, das heilige Grab von den Un- 
gläubigen befreien zu können. Aber damals gab es doch noch dieſen naiven Glau- 
ben, wenigſtens bei den fanatiſierten Scharen, die von den predigenden Mönchen 
hingeriſſen wurden, und ein Wolfram von Eſchenbach, ein Friedrich II., die im 
Muſelman den ebenbürtigen Menſchen achteten, waren weit vorgeſchrittene Gei- 
ſter, denen von den Zeitgenoſſen nur die wenigſten folgen konnten. Heute gibt es 
keinen Negenten und keinen Staatsmann mehr, der den Zjlam nicht als ſittlich 
hochſtehende Lehre kennt ... Aber bie Kriegsmanifeſte predigen den Kreuzzug 
gegen den Halbmond, als ob dies Glaubensſymbol Hunderter von Willionen ein 
Zeichen verächtlicher Denkweiſe wäre. Und damit nicht genug. In dem diplo- 
matiſchen Notenſpiel, das dem Kriegsausbruch voranging, war mit keinem Worte 
von Landerwerb die Rede. Gott behüte, daß irgendeine dieſer braven, zart- 
bejaiteten Nationen die Integrität der Türkei antaſten, dem kranken Manne den 
Garaus machen wollte! Nein, nur der Leiden ihrer chriſtlichen Brüder haben ſie 
ſich erbarmt und Reformen von der Türkei verlangt, die der Padiſchah, dieſer 
Chriſtenhaſſer, verweigerte. In den andern Balkanſtaaten geht es ja fo mujter- 
haft zu. In Montenegro, Serbien und Bulgarien wird nicht gemordet und ge- 
ſchändet, in den Schluchten des Olymp gibt es keine Räuber; nur der Türke iſt ein 
geborener Verbrecher, der ſeinen andersgläubigen Nebenmenſchen ohne Grund 
und Anlaß hinſchlachtet, und der orthodoxe Ruſſe, der jetzt ſeinem bedrohten Glau- 
bensbruder um den Preis eines Weltkrieges zu Hilfe eilen möchte, hat nie einem 
Menfcentinde ein Haar gekrümmt, nie Pogrome veranſtaltet, nie politiſch Ber- 
dächtige gemartert und gehenkt. Es ijt ein tabellojes Europa, das den Türken aus 
Gründen der Humanität und der Kultur vom europäiſchen Boden verjagen will... 

Politik, wird man ſagen, war immer ein lichtſcheues, egoiſtiſches Metier und 
wird es immer bleiben. Politik iſt nackte Intereſſenvertretung und kann ſich nicht 
nach dem Kodex der individuellen, privaten Moral richten. Das ſagt man ſo, aber 
warum heuchelt man dann? Warum geſteht man nicht den Völkern, den eigenen 
zum mindeſten, was man will und für notwendig hält? Weil es dann auch die 
fremden erführen und ſich darauf einrichten könnten? Oh, die Unſchuld! Die 
fremden Diplomaten wiſſen gar nicht, was hinter den frommen Redensarten ihrer 
Rivalen ſteckt, und müßten es erft ſchwarz auf weiß haben, um ihre Gegenmaß- 
regeln zu treffen! Oder es wären die ‚Beziehungen‘ nicht mehr aufrechtzuerhalten, 


426 Türmers Tagebuch 


wenn man [don in Friedenszeiten alle Welt in feine Karten gucken ließe? Aber 
das verlangt ja gar kein Menſch; nur lügen und heucheln müßte man nicht. Der 
wahre Grund der Heuchelei liegt auch ganz wo anders. Eine freie Diskuſſion der 
Beſtrebungen und „Intereſſen“ der Mächte könnte auch die Völker ſelbſt veranlaſſen, 
Erwägungen darüber anzuſtellen, ob das, was als Staatsintereſſe bezeichnet wird, 
auch wirkliches Volksintereſſe ſei; ob es ſich lohne, dafür eine teure Armee zu halten 
und ſchließlich die eigene Haut zu Markte zu tragen; ob nicht dynaſtiſche oder groß- 
kapitaliſtiſche Intereſſen mit denen der arbeitenden Millionen verwechſelt werden...“ 
Und nun gar die Gefühle, die durch die Niederlage der türkiſchen Waffen 
bei unſern Nachbarn ausgelöſt wurden! Sind ſie nicht ein herrliches Zeugnis 
für den „chriſtlichen Geiſt“ in den Beziehungen der „chriſtlichen Kulturvölker“ 
zueinander? Eigentlich ijf danach weniger die Türkei unterlegen, als Deutſch- 
land, der Türkei angeblicher militäriſcher Lehrmeiſter und Lieferant. „Die Furcht 
vor dem deutſchen Schwert iſt heute in Frankreich reſtlos dahin“, läßt ſich ein 
„höherer Offizier“ in der „Poſt“ über die Kriegsſtimmung in Frankreich vernehmen. 
„Man betrachtet uns als ‚decadent‘ in der Ausnutzung der Wehrkraft, in der 
Qualität und der Führung der Truppe. Das find Anſichten und Überzeugungen, 
die fic) durch alles Gerede nicht beſeitigen laffen, ſondern nur durch die Tat! ‚Wir 
haben,“ fo ſagte jüngſt die ‚France militaire, ‚alle Vorkehrungen fov- 
weit getroffen, als das ohne direkte Provokation möglich war, und die 
Beratungen bei Poincars und im Kriegsminiſterium haben eine weitere 
Steigerung der Sereitid aft zum Ziele gehabt.“ 
ait die Fabel von der angeblichen Niederlage Deutſchlands in der Türkei 
eine der lächerlichſten, die je in der Weltgeſchichte Gläubige gefunden hat, 
ſo ändert das nichts an ihrer Gemeingefährlichkeit. Was nützt es, daß die wahren 
Urſachen des türkiſchen Zuſammenbruchs , wie fie u. a. der doch wohl unverdächtige 
Kriegsberichterſtatter des „Daily Telegraph“, Aſhmead Bartlett, in erjchüttern- 
der Weiſe aufdeckt, mit Händen zu greifen ſind, — der Haß macht blind. 
„Solange ich in Konſtantinopel blieb und mit eigenen Augen den wahren 
Zuſtand der Armee nicht ſehen konnte (der Berichterſtatter war zu Anfang des 
Krieges krank), war ich gezwungen, die Erzählung der Türken von ihrer Kriegs- 
bereitſchaft als wahr hinzunehmen. Aber in dem Augenblick, da ich bei den Truppen 
ankam, gerplagte die große Seifenblaſe und die große Zllufion war zerſtört. Ich 
fand, daß die militäriſchen Autoritäten in Konſtantinopel die Welt mit Vorbedacht 
betrogen und ſich auf ein rieſenhaftes Syſtem der kühlen und überlegten Lügen 
eingelaſſen hatten, um zu verhindern, daß die Wahrheit ans Tageslicht komme, 
indem ſie entgegen aller Wahrſcheinlichkeit hofften, daß ſie die Tapferkeit und 
Entſchloſſenheit des türkiſchen Soldaten in der letzten Stunde noch retten würde. 
Es ijt mir unmöglich, in Worten, bie [darf genug find, zu beſchreiben, in 
welchem gänzlich chaotiſchen Zuſtand, in welchem Sumpf, in welcher Verwirrung 
ſich alle Zweige des Heeres befinden. Hätte man dem türkiſchen Soldaten auch 
nur einen einzigen Zwieback den Tag gegeben, fo hätte er vielleicht das Feld gegen- 
über dem Eindringling behaupten können. Ich bin überzeugt, daß feine Nieder- 


Zürmers Tagebuch 427 


lage mehr dem direkten Hunger als irgend einem anderen 
einzelnen Faktor zuzuſchreiben iſt. 

Wenn ich auf die Tragödie der letzten Woche zurückblicke, ift es mir faſt un- 
möglich, zu verſtehen, wie der gemeine Soldat drei Tage lang ohne 
einen Biſſen Nahrung, ohne irgendwelchen Schutz exiſtieren konnte 
und fid) dennoch mit Nuhm bedeckte. Das prächtig ſte Menſchenmate— 
rial iſt auf dem Altar der Dummheit, der Einbildung, der Selbſtgefälligkeit 
und der ſchlimmſten Unfähigkeit geopfert worden. 

Das türkiſche Heer hatte nicht einmal einen Generalſtab, 
bet eine ODorfkirmes arrangieren konnte. Das türkiſche Heer 
batte keine Generale, die ſelbſt die elementarſten Grundſätze der modernen Kriegs- 
kunſt begriffen zu haben ſcheinen. Das Heer hatkeinerlei Secpflegungs- 
am t, und dennoch wurden vier Armeekorps zu einer gewaltigen Offenfiv- 
bewegung ausgeſandt. Mit einer ganzen Eiſenbahnſtrecke zur Verfügung und 
in einer Entfernung von 50 Meilen von der Hauptſtadt konnten die Behörden 
nicht eine Brigade ernähren. And obwohl ſie ſich dieſer Tatſache 
bewußt waren, machten fie mit wahrhaft orientaliſchem Gleichmut keine An- 
ſtrengungen, vier Armeekorps zu ernähren, fondern ließen fie hungern und ver- 
trauten darauf, daß Allah Manna und Wachteln aus dem Himmel fallen und 
Waffer aus ben Felſen ſprudeln laffen werde. 

Man begab fih in die größte Schlacht der Neuzeit unter dieſen Verhältniſſen 
mit einer frevelhaften Außerachtlaſſung der Folgen. Die Opfer wurden zur 
Schlachtbank geführt, ohne daß man die geringſten Vorbereitungen zur Nettung 
der Verwundeten gemacht hatte. Es gab nicht eine Feldverbands- 
ſtation, nicht ein Feldſpital wurde errichtet, und die wenigen Arzte 
an der Front waren aller notwendigen Dinge entblößt und mußten zuſehen, ohne 
einen Finger rühren zu können, wie Tauſende der Verwundeten dem Tode ge- 
weiht wurden, die ſonſt hätten gerettet werden können. 

Die Artillerie mußte mit Munition, die auf ein paar Stunden reichte, in 
Aktion treten, während die Neferpemunition fünfzig Meilen entfernt war, was 
zum Reſultat hatte, daß der türkiſche Soldat am zweiten Tage der Schlacht praktiſch 
ohne bie 2Inter[tü&ung dieſer Waffe kämpfen mußte. 

Ganze Bataillone und Brigaden unwiſſender Bauern aus Anatolien wurden 
nach Konſtantinopel geſchickt, dort in Khaki gekleidet, es wurde ihnen ein Gewehr 
gegeben, ein paar Hundert Patronen, Gepäck, das ſie kaum auf den Rücken zu 
ſchnallen wußten, und dann wurden fie von den Behörden auf der Eifenbahn- 
ſtation mit Vergnügen gezählt und offiziell als ‚unfere unbeſiegbare Infanterie“ 
beſchrieben. 

Tauſende dieſer Leute hatten nie ein Mauſergewehr in der Hand gehabt; 
man mußte ihnen im feindlichen Feuer zeigen, wie ſie die 
Waffe handhaben ſollten. Ganze Bataillone, die mit dieſer neuen 
Waffe nicht vertraut waren und die nie ſchießen gelernt hatten, verpul- 
verten ihre ganze Munition in einer kurzen Stunde; ſie trafen nur den Boden 
50 Meter vor ſich und fügten dem Feind nicht den geringſten Schaden zu.“ 


428 Türmers Tagebuch 


Es ſollte kaum lohnen, noch ein Wort über das alberne Gerede von der 
„deutſchen Niederlage in der Türkei“ zu verlieren. Aber auch in England, 
ſchreibt Carl Peters aus London, „tut man ſo, als ob in der türkiſchen Armee zum 
wenigſten die Vorhut des deutſchen Heeres vernichtet worden fei. Nicht nur be- 
tont die Preſſe bei jeder Gelegenheit, daß es deutſche Organiſationen ſeien, welche 
von den Alliierten immer wieder zum Fliehen wie die Haſen gebracht werden, 
ſondern aud, daß die Türken ‚elende Krupp-Kanonen“ führten, die Bulgaren 
aber franzöſiſche Schneider-Creuzot-Geſchütze, welche etwa eine Meile weiter trügen. 
Auch unter meinen Freunden wird dieſes ganze Thema, als mir peinlich, höflich 
vermieden. Ebenſo vergleichen Zeitungen, wie bie ‚Zimes’, die ‚Daily Mail‘, 
die Siege der Balkanſtaaten nicht etwa mit den Kriegen 1866 oder 1870, nein, 
niemals feit der Kampagne von Auſterlitz hat Europa etwas Glänzenderes gejeben. 
Kurzum, es läßt ſich nicht leugnen, daß Deutſchland, neben dem realen Verluſt 
eines eventuellen Bundesgenoſſen in einem zukünftigen Kriege, im Rücken Ruß- 
lands und in der Flanke der britiſchen Weltſtellung, in dieſem Oktober 1912 auch 
ein gut Teil ſeines militäriſchen Preſtiges verloren hat... Zwanzig Fabre deutſcher 
diplomatiſcher Arbeit find ‚für die Katz“ geweſen, und gleichmütig ſieht man zu, 
wie ihr Ergebnis über Bord gleitet. Wenn dies keine ungeſchickte Hand bedeutet, 
ſo doch jedenfalls eine unglückliche; das Fazit wird allererſt die Geſchichte ziehen, 
welche die Dinge objektiv beurteilen kann.“ 

Seine poſitive Politik in Konſtantinopel, „das glänzendſte Blatt der deutſchen 
Geſchichte im letzten Vierteljahrhundert“, habe Deutſchland aufgegeben, als 
es in der Marokkofrage und in der Tripoliskriſis kniff. „Herr v. Marſchall ſchnitt 
in Konſtantinopel mit einem klaren Fiasko ab; Großbritannien hatte das deutſche 
Erbe an der Hohen Pforte bereits übernommen, als Marſchall nach London ver- 
fekt wurde. gebt find wir augenſcheinlich wieder einmal bei dem bequemen 
Wahlſpruch: ‚Was iſt uns Hekuba?“ angelangt. Einem Vahlſpruch, der vor 
einem Menſchenalter am Platz geweſen ſein mag, heute aber ein Hohn 
auf ein Vierteljahrhundert deutſcher Geſchichte ift. Es it ein Sammer 
und vielleicht verhängnisvoll, daß in dieſem Augenblick kein Staats- 
mann an der Spitze der deutſchen Intereſſenſteht.“ 

Mit noch größerer, mit auffallender, ja leidenſchaftlicher Schärfe zieht die 
„Tägliche Rundſchau“ gegen die Leitung unſerer auswärtigen Politik vom 
Leder. Dort ſtößt „Lookout“ an leitender Stelle ins (Rolands-?) Horn: 

„And wir?“ 

„Während des Türkiſch-Italieniſchen Krieges hat England als Pro- 
vifion für bas Zuſehen die Solumbucht eingeſteckt. Zn dem Baltan- 
kriege verliert die Türkei ihr europäiſches Gebiet an die Sieger, in Aſien aber 
wünſcht England — „zur Sicherung der ägyptiſchen Grenze und des Geemeges 
nach Indien“ — ſich Syrien und Arabien anzugliedern. Eine Kleinigkeit am Liba- 
non oder der Hafen von Alexandrette könnte für Frankreich abfallen. Daß Ruß- 
land ſeine kaukaſiſche Grenze bis weit in das armeniſche Hochland hinein regu- 
liert, verſteht ſich am Rande. 

And wir? 


Zürmers Tagebuch 429 


Mit einer Verbitterung, von deren Tiefe unſere Negierenden anſcheinend 
keine Ahnung haben, wartet die deutſche Nation auf Antwort. Was fie bisher ge- 
hört hat, iſt immer wieder nur, daß wir eine Politik der ſauberen Veſte führen, 
wo das Volk auf gro ße Politik harrt, von einer Morgenwache zur anderen. 
So kamen wir um Marokko. So ſind wir allmählich als diejenigen abgeſtempelt 
worden, die bellen und nicht beißen; ein Geſpött für die kühn zugreifenden Po- 
lititer aller anderen Großmächte einſchließlich Italiens und Sſterreich- Ungarns. 
Nur um der ſauberen Weſte willen ſtehen wir jetzt auch — wogegen an ſich nichts 
einzuwenden wäre — unſerer Bündnispflicht getreu den Wiener Staatsmännern 
in der Balkanfrage zur Seite. 

Um ein Haar wären wir in die groteske Lage gekommen, unſeren Mus- 
ketieren ſagen zu müſſen: wir ziehen mit Gott in den Krieg, allerdings nicht für 
Kaiſer und Neich, aber dafür, daß die Serben nicht Durazzo kriegen. Mit Angſt- 
ſchweiß auf der Stirn hätte man es auch den Landwehrleuten vorerzählt. 

Dieſer Kelch ſcheint ja nun glücklich vorüberzugehen. Aber eine ähnliche Lage 
kann von heute auf morgen, kann über Nacht hereinbrechen. Was dann? Einem 
Krieg entgehen wir nicht, darum muß es ein von uns gewollter Krieg ſein. Tappen 
wir in ihn hinein, obwohl er uns äußerſt peinlich iſt, ſo haben wir ihn ſchon 
verloren: wenn einer auf die Menſur gezerrt wird, ſo iſt die Abfuhr ihm 
todſicher. 

Die Italiener haben auf gut Blücherſch geſagt: „Wo liegt Tripolis? Dabier, 
dahier. Den Finger drauf, das nehmen wir!“ Und heute haben ſie Tripolis. 
Die Türken dagegen berufen ſich in ihren weinerlichen Akklamationen Europas 
auf ihre ſaubere Weſte; die können fie demnächſt drüben an den ‚Süßen Waſſern“ 
aufhängen, — in Europa gibt ihnen kein Althändler auch nur fünf Pfennig dafür. 
Macht und nur Macht entſcheidet im Völkerleben. Bismarck hat dieſen Satz in die 
bekannten Worte von Blut und Eiſen gekleidet. Unfere heutigen Bismärckchen 
wollen davon nichts wiſſen. Mit Hochdruck preßt die Wilhelmſtraße in die ihr er- 
gebenen Zeitungen und Zeitſchriften die neue Lehre, daß die Federfuchſer 
die Weltenretter ſind, — eine Lehre, die uns zu allen großen Niederlagen unſerer 
Geſchichte geführt hat. 

„Wir müſſen bemerken, daß nur durch die Kunſt der Diplo- 
matie, welche erreichbare und berechtigte Ziele verfolgt, eine Verſtändigung 
mit England über die Weltpolitik der beiden großen germaniſchen Völker mög- 
lich ſein wird. Es iſt kaum zu bezweifeln, daß England große Nachteile 
durch feine bisherige Ententepolitik (h erlitten hat. Es wird 
deshalb auch in den engliſchen Negierungskreiſen die Konzentration der engliſchen 
Seemacht in der Nordſee für eine Schwächung der Weltmachtſtellung Groß 
britanniens gehalten.“ 

Dieſer Irrſinn ſteht in dem Novemberheft einer angeſehenen deutſchen 
Zeitſchrift, die ſtändig die Politik unſeres Auswärtigen Amts verficht. 

Man krampft die Hände 

Inzwiſchen vermehrt England feine Nordſeeflotte durch zwei moderne 
Dreadnoughts, die für Rechnung der Türken auf Stapel gelegt worden waren. 


430 Zürmers Tagebuch 


Und Frankreich, über deſſen B-Pulver wir nicht jo ſtürmiſch glücklich fein follten, 
bat zurzeit elf neue Dreadnoughts im Bau. 

Und wir? i 

Wir haben es erlebt, daß bie Flottennovelle dreimal von ben Hochweifen 
ber deutſchen Politik zuſammengeſtrichen wurde, bis nicht mehr als die Hälfte 
von ihrem urſprünglichen Umfang geblieben war. Bis wir das Dreier Tempo 
im Bau der Großkampfſchiffe wirklich aufgegeben hatten, das allein uns ſichern 
konnte, weil England zu einem Sechſer- Tempo den nötigen Atem nicht hat. Die 
Folgen zeigen ſich ſchon jetzt. Von 1898 bis 1912 ſind wir den Engländern immer 
näher an die Gurten gerückt, jetzt aber fallen wir langſam zurück, 
weil wir mit dem Peitſchenſtiel eins vor den Kopf be— 
femmen haben. Hört ihr es nicht wiſpern, was die ‚Runft der Diplomatie“ 
zu erreichen hofft? Doch noch ein Flottenabkommen mit England! Doch noch 
eine ‚Rontingentierung‘ der Seeſtreitkräfte! Nur einmal im Leben unſerer Nation, 
in den bitteren Fahren der Schmach, wo Napoleon in Berlin befahl, haben wir 
ähnliches erdulden müſſen: als Preußen nur die vorgeſchriebene Zahl von Sol- 
daten unter Vaffen halten durfte. 

Wenn die Zerſtückelung der Flottennovelle wenigſtens die entſprechende 
Summe für bie Heeresvorlage freigem cht hätte! Aber auch ba bleibt man in der 
Halbheit ſtecken. Die unumgänglich notwendigen Maſchin en gewehre find 
zum 1. Oktober 1912 nicht angefordert worden, weil, wie die eine Pythia er- 
rötend ſagt, wir nicht die nötigen Unterkunftsräume () dafür 
hätten, oder, wie die andere ſchamlos erklärt, die deutſche Waffeninduſtrie ſo viel 
auf einmal nicht liefern könne. 

Wir müſſen dabei ernſt bleiben. Man lacht nur in London und in Paris. 

Der Minifter Churchill ſpricht von Oeutſchland nur noch mit geſchürzten 
Lippen. Die Fronie in feiner letzten Rede war mit Händen zu greifen. Er will 
ber Flottenrivalität ein Ende machen“ indem er ein ſechſtes Panzergeſchwader 
auf Kriegsfuß ſetzt. Und was mir jüngſt ein aktiver franzöſiſcher Offizier ge- 
ſchrieben hat, das zu veröffentlichen, ſträuben ſich Feder und Papier. 

In einer ſolchen Zeit aber herrſcht, oben“ bei uns nur ein einziges Beſtreben: 
die charaktervolle Preſſe mundtot zu machen. Der Aufſchrei der Nation wird zu- 
gedeckt mit offiziöſen Waſchzetteln; und in amtlichen Konventikeln wird der 
gutgeſinnten“ Preſſe nahegelegt, fie möge doch alles tun, was fie könne, um den 
Leuten vom Wehrverein und ähnlichen Organiſationen das Handwerk zu legen. 

Wir wüßten nicht, was gleichgültiger wäre, ob gegen Äußerungen des nativ- 
nalen Unmuts gekämpft wird oder nicht. Das aber wiſſen wir, daß die 
Nation noch nie fo hoffnungslos dem Werke ihrer ver 
antwortlichen Staatsmänner zugeſchaut hat. Staaten gehen 
in Trümmer, Erdteile werden neu verteilt, Nationen ſchleifen wider uns das 
Schwert, bei uns aber heißt es: Ruhe iſt die erſte Bürgerpflicht. Warum ſind 
wir bei der Flottendemonſtration in der Levante nach— 
gehinkt? Jedermann weiß, daß das Einſetzen von Seeſtreitkräften nicht vom 
Flottenkommando abhängt, ſondern von den Anordnungen des Auswärtigen 


Türmers Tagebuch 431 


Amtes. Wenn wir alſo nicht fofort und nicht mit einer impoſanten Macht in 
ber Aegäis auftraten, [o ijt das bewußte Abſicht unſerer Regierung. Wer fid) vor- 
drängt, meint ſie, kann einen Spritzer auf die Weſte bekommen. Was würden 
wohl die Engländer, wenn ſie in Berlin regierten, jetzt 
tun? Jetzt, wo die europäiſche Türkei ‚gewefen‘ ijt, A Syrien, Arabien, Ar- 
menien zu folgen fcheinen? 

Sie würden erklären: dann übernehmen wir Staatsmänner von Berlin, 
weil wir von jeher die Organiſatoren und Helfer der Türkei geweſen ſind, jetzt 
das Protektorat über den Neft, über Kleinaſien und Meſopotamien, zumal da wir 
dort die allergrößten wirtſchaftlichen Intereſſen haben, nicht nur an der ana- 
toliſchen und Bagdadbahn. 

Und wir? 

Niemand bei uns denkt an eine derartige „Vermeſſenheit“, niemand bei uns 
denkt überhaupt daran, was wir haben m üffen, wenn alle anderen Nationen 
ſich bereichern und durch Landerwerb für ihre Enkel ſorgen. Wir haben ja die 
beiden Kongozipfel; wir kriegen vielleicht einmal etwas von Portugieſiſch- Afrika... 

Wohin dieſe Politik führt, das ijt völlig klar: zur abſoluten Ent- 
fremdung zwiſchen der Negierung und den nationalen 
Schichten des Volkes. Viel ſtärker, als die Herren am grünen Tiſch ahnen, 
wirkt die äußere auf die innere Politik. Es iſt kein Wunder, daß die preußiſche 
Kammeroppoſition der Konfliktsjahre am Tage von Königgrätz zuſammenbrach. 
Es ijt umgekehrt kein Wunder, daß 1912, im Fabre nach Agadir unb dem nach- 
herigen kläglichen Rückzug, 110 Sozialdemokraten in den Reichstag einzogen. 
Man hat keine Luft mehr. ‚Es iſt doch alles vergebens!“ So fpreden 
nicht junge Brauſeköpfe, ſondern weißhaarige Herren der geiſtig führenden Kreiſe, 
unſerer höchſten Beamtenſchaft ſelbſt. Eine freſſende Wut hat ſie alle gepackt, 
weil Oeutſchland mit einem ſtarken Heer und einer mächtigen Flotte nichts anzu- 
fangen weiß, ein geradezu raſender Zorn gegen die Verpaſſer aller Gelegen- 
heiten. Wer wagt es, das zu beſtreiten? Oder geben nicht viel- 
mehr Zehntauſende mir recht? 

Vor drei Jahren ſagte mir einmal Colmar Frhr. v. d. Goltz, unſere 
Armee fei derartig auf dem Höhepunkt der Leiftungsfähig- 
keit angelangt, daß man ein ſolches Training kein Jahrzehnt mehr in gleicher 
Schärfe durchhalten könnte. 

Inzwiſchen ſterben die Generale mit Kriegserfahrung bei uns aus, und den 
letzten, der noch Pulver gerochen hat, wird man über kurz oder lang ins Banopti- 
kum ſtellen. Was für eine Gefahr das iſt, ſcheint man oben nicht zu begreifen. 
Ein Schüler, der nie ein Extemporale ſchreibt, nie geprüft wird, nie eine Zenſur 
bekommt, m u ß allmählich faul werden, und eine Nation, die nie mit der Fauſt 
auf den Tiſch ſchlägt, nie ihr Schwert — auch nur diplomatiſch — in die Wagſchale 
wirft, nie es auf eine Prüfung ankommen läßt, geht zugrunde. 

König Ferdinand von Bulgarien hat 25 Jahre lang den harmloſen Gdmetter- 
lingsſammler und Lokomotivführer gefpielt, derweil aber raſtlos an der Armee ge- 
arbeitet. Kaiſer Wilhelm hat 25 Jahre lang Denkmäler enthüllt und Wiſſenſchaften 


452 Zürmers Tagebuch 


gefördert, derweil aber das Landheer (darf gemacht und die Flotte von ſechſter 
an zweite Stelle unter den Seemächten erhoben. Es iſt alſo alles da. Es fehlt nur 
an einer Kleinigkeit: an einem Bismarck. Wir haben korrekte Gentlemen mit 
ſauberer Weſte. Aber die Zeit ſchreit nach Männern!“ 

Man braucht den Wert einer „ſauberen Weſte“ nicht zu unterſchätzen, 
braucht fid) nicht der Theſe „Macht geht vor Recht“ mit Leib und Seele zu ver- 
ſchreiben und wird doch nicht verkennen dürfen, daß in dieſem Notſchrei die 
Stimmung von mehr als Zehntauſenden unſerer Beſten mitſchwingt. Es handelt 
fi auch nicht um die fimpel-brutale Alternative „Krieg oder Frieden“, ſondern 
um das Gebot nationaler Selbſterhaltung: 

„Bereit ſein!“ 

Und noch eins: „Es gibt Staaten außerhalb der Balkanhalbinſel, die von den 
Kriegsereigniſſen zwiſchen Muſtafa-Paſcha und Burgas allerlei Gutes lernen 
können. Die von allen an allen geübte Kritik erſetzt, ſobald hart auf hart trifft, 
gläubige Zuverſicht und vertrauenden Gehorſam nicht. Für die Entſcheidungs- 
ſchlachten, die keinem Volke erſpart bleiben, zumal keinem beneideten und gefättig- 
ten Volke, iſt ungebrochener, kriegeriſcher Geiſt wertvoller als Geiſtreichtum. Jeder 
für die Armee ausgegebene Groſchen, jede Schießſtunde, ſelbſt jeder Griff auf dem 
Kaſernenhofe lohnt fid) am eiſernen Tage hundertmal mehr, rettet hundertmal 
eher die Kultur als jahrzehntelanges Kulturgeſchwätz. Aufklärung ijt gut, doch Be- 
reitſchaft iſt beſſer. Prägen wir uns in ernſter Stunde, unbekümmert um goldiges 
Phraſengebimmel, immer wieder die eine Wahrheit ins Herz: Deutſche Geſittung, 
deutſche Bildung, deutſcher Wohlſtand und Fortſchrittsdrang können nicht leben, 

zerſchellen elend ohne deutſche Kanonen und Bajonette. 
ö Machen wir uns feſt! Erhalten wir uns in rauher Kraft! Sorgen wir, daß 
es dem Heere an nichts fehle; an Geld nicht, an Mannſchaften nicht, an beherzten, 
klugen Führern nicht! Niemand weiß, wie nahe die Stunde der Prüfung gerückt 
iſt. Wir werden ihr ruhig ins Auge ſehen können, wenn wir neben und über all 
den neudeutſchen Friedensbeſtrebungen den alten Schlachtengeiſt recht gepflegt 
haben.“ 

Auch diefe Mahnung Rihard Nordhauſens (im „Tag“) zwingt uns nicht, die 
„neudeutſchen Friedensbeſtrebungen“ gering zu ſchätzen, nur dürfen wir deren 
Verwirklichung nicht für unſere Tage anſtreben, weil fold Erwarten 
jeglicher Vorausſetzung entbehrt, verhängnisvolle Selbſttäuſchung, Wahnwitz wäre 
und fih nur in eine Wirklichkeit umkehren würde, wie fie furchtbarer und erbärm- 
licher nicht ſein könnte. In unſeren Tagen den Frieden um jeden Preis 
durchſetzen wollen, hieße nicht mehr und nicht weniger, als unfer Volk in den Selbft- 
mord treiben. Wenn anders man uns dann auch nur dieſe genügſame Auskunft 
noch in Gnaden bewilligen würde. Als politiſche Heloten wären wir ja immerhin 
ein wertvollerer „Artikel“, denn als Kadaver. 


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Das Perſönliche in Gerhart 
Hauptmanns Werken 


(Zu ſeinem 50. Geburtstag, 15. November 1912) 
Von Hermann Kienzl 


b auch hinter feinem Werke verborgen, die Perſönlichkeit des Schöp- 
Y fers verleiht dem Werke Gewicht. Es war der Grrtum ber deutſchen 
Naturaliſten in den achtziger Jahren, daß fie das Verbergen des 
(QS > dichteriſchen Subjekts verwechſelten mit ber Ausschaltung jeder Be- 
ziehung des Dichters zum Kunſtobjekt. Sie ſtellten damals (Arno Holz: 
„Die Kunſt, ihr Weſen und ihre Geſetze“) die Forderung auf, daß die Dichtung 
eine bloße Schilderung von Zuſtänden ſein müſſe, und kein Verhältnis beſtehen 
dürfe zwiſchen bieten Zuftänden und dem Gemüt des Dichters. Als wenn nicht 
ſchon die Eingebung des rechten Stoffes eine Gnade der Liebe wäre! And felt- 
fam: der Dichter, den man alsbald zum Führer der naturaliſtiſchen Bühne 
ausrief, weil feine erſten Zuſtandsdramen den neuen Weg babnten, unb ben 
man an die Spitze einer Partei ſtellte, obwohl er ſtets nur ein Genoſſe ſeiner 
ſelbſt war, er ift der perſönlichſte unter allen Dramatikern und trotz der ſtrengſten 
Objektivierung des eigenen Selbſt — der ſubjektivſte: Gerhart Haupt- 
mann. Er mußte, wie übrigens jeder wahrhafte Dichter, die Stricke der Theo- 
retiker in heilloſe Verwirrung bringen. Er, dem jedes keimende neue Werk neue 
Formen, neue Ziele auftrug; er, der ſich vom Erfolge nicht hemmen ließ und der, 
nur dem inneren Drange folgend, vom Gelingen hinauswuchs in manches große 
Mißlingen; er, der nichts geſchrieben hat, was nicht gelebt oder doch durchlebt 
geweſen wäre; er, der die mannigfaltigen Menſchen ſammelte, wie der Botaniker 
die Pflanzen der Länder, und dem Baum und Blume in der eigenen Erde Wurzel 
faßten; er, der in jedem Geſchöpf ſich ſelbſt offenbarte und ſich ſelbſt verbarg. 

Das mit dem inneren Weſen des Dichters vertraute Gefühl erkennt in 
allen Dichtungen Gerhart Hauptmanns ſein Perſönliches. Es erkennt ihn auch 
in den Zügen der vielen Menſchengeſtalten, die der Phyſiognomie des Dichters 

Der Türmer XV, 5 29 


434 füengl: Das Perſönliche in Gerhart Hauptmanns Werten 


durchaus fremd ſcheinen, und die ein konſequenter Realismus ganz und gar aus 
dem Objekt gebildet hat. Denn Gerhart Hauptmann hat Merkmale, die un- 
wandelbar blieben bei allen Verwandlungen des Milieus und des Stils in feinen 
Dichtungen; Merkmale, die wir deutlicher empfinden als begrifflich feſtſtellen lön- 
nen. Die weiteſte Diſtanz im Kreiſe der Menſchenwelt beſteht zwiſchen dem armen 
kleinen Hannele und der heißen Sünderin Elga, zwiſchen dem fürchterlichen 
Rächer Starſchenski („Elga“) und dem an feiner Schwäche zugrunde gehenden 
Johannes Vockerat („Einſame Menſchen“), zwiſchen der mütterlich-weiſen Frau 
Flamm („Rofe Bernd“) und der diebiſchen Klugheit der Mutter Wolffen („Biber- 
pela“ und „Roter Hahn“), zwiſchen dem holden Raubelf Rautendelein („Ver- 
ſunkene Glocke“) und der prächtigen Hausehre Griſelda, zwiſchen der ruchlos be- 
gehrlichen Hanna Elias („Gabriel Schillings Flucht“) und der in frommer Liebe 
ihr Blut hingebenden Ottogebe („Der arme Heinrich“), zwiſchen dem dumpf fei- 
nem Geſchick erliegenden Fuhrmann Henſchel, der in der Primitivität eines fchle- 
ſiſchen Volksmannes einen Odipuszug der Antike hat, und dem Helden Florian 
Geyer, der, in der Hand den Stumpf der ſchwarzen Fahne, den Rittern fein tod- 
jauchzendes „Her! Her!“ entgegenruft. Man kann ja hervorheben, daß die Vor— 
liebe Hauptmanns den Duldern gilt — und daß ihm jener Typus des Mannes 
am nächſten ſteht, den der Sprachgebrauch ohne gründliches Recht feminin nennt; 
das iſt der Mann von ſo einſeitiger Männlichkeit, daß er der Ergänzung durch das 
Weib, um Vollmenſch zu werden, bedarf, und der entweder erlöſt wird vom 
Weibe (Wilhelm im „Friedensfeſt“, der arme Heinrich) oder am Weibe verdirbt 
(Johannes Vockerat, der junge Kramer, Gabriel Schilling, Kaiſer Karl) oder auch 
aus des Weibes Hand (wie der Glockengießer Heinrich) den Becher mit dem roten 
Lebens- und den anderen mit dem dunklen Todeswein empfängt. Aber es läßt 
fich aus dieſen Analogien, die von ganz anders gearteten Menſchenſchöpfungen 
durchbrochen werden, kein Syſtem bereiten. Nur eines offenbaren die leidenden 
ſowie die kämpfenden Menſchen Gerhart Hauptmanns: ein weiches Herz, 
das in der harten Welt Schmerzen leidet, ein unenb- 
liches Mitleid, eine lautere, alles verſtehende Menf d- 
lichkeit. 

Hauptmann iſt nicht der predigende Evangeliſt der Menſchenliebe, er iſt 
abſoluter Plaſtiker, und er läßt ſich ſeine Menſchengebilde von keiner zärtlichen 
Rückſicht fälſchen. Er ſpricht in Geſtalten. Wie ift es zu erklären, dak trotzdem 
aus feinen unverſchönten, aus feinen natürlichen und zum Teil alltäglichen Men- 
ſchen, die (in den naturaliſtiſchen Dramen) natürliche und alltägliche Geſpräche 
führen, die mit unbeholfener Zunge Anakoluthe ſtammeln und die ihre häßlichen 
Blößen nicht verhüllen, — daß aus ihnen die Liebe des Menſchenfreundes uns be- 
wegt? Das liebende Auge des Dichters verweilt, wo das des Gleichgültigen vor- 
überwandelt, ſein Blick dringt ein zu den wahren Wirklichkeiten und entdeckt auch 
in Laſter, Elend und Schmutz, entdeckt an den „ausgeſetzten Kindern der Sonne“ 
einen flagenb-anflagenben letzten Schimmer. Der halb vertierte Bruno Mechelke 
in den „Ratten“ hat einen Mord begangen. Er flieht vor der Polizei. Aber noch 
einmal treibt es ihn zu feiner Schweſter, zu dem einzigen Menſchen, für den der 


Kienzl: Das Perſönliche in Gerhart Hauptmanns Werken 435 


Verbrecher in ſeiner Stumpfheit eine Art Anhänglichkeit beſitzt. Er begreift keine 
Reue. Es erregt ihn nicht ſonderlich, daß ſein Kopf verfallen iſt. Doch wie er von 
der Schweſter ſcheidet, kehrt er an der Tür nochmals um: „Vart ma Zette: hier 
is noch "n Hufeiſen! — Det ha ick jefunden! Det bringt Glück! 8d brauche ihm nich.“ 

Hauptmann prägt nicht ſolche geflügelte Worte, die aus dem Munde des 
Dichters ſtolz über die Sphäre feiner Geſchöpfe emporſchweben. Im letzten Akt 
der „Weber“, als die Verhungerten ſich dem kurzen Rauſch des erraubten Glücks 
hingeben, möchte ſich der alte Baumert ſeines unrechten Gutes ſchämen. Und er 
beſinnt ſich der Folgen. Aber dann verſteht er, wie es kam und kommen mußte: 
„Im Zuchthauſe is immer noch beſſer wie d'rheeme. Da is ma' verſorgt; da braucht 
ma’ nich darben. Ich wollte ja gerne nich mitmachen. Aber fieh ock, Guſtav; d'r 
Menſch muß dod a eenziges Mal an' Augenblick Luft kriegen.“ Und ber Fuh r- 
mann Henſchel ſagt, ehe et fid) aufhängt: „Schlecht bin ich gewor'n, bloß ich 
kann niſcht dafier.“ — Die junge Kindesmörderin Rofe Bernd ift wie Hen- 
ſchel von Schlinge zu Schlinge geraten. Jetzt, da alles Schreckliche geſchehen, weiß 
ſie: „'s hat een ken' Menſch ne genung liebgehabt.“ Und in dieſem Drama ſpricht 
die Einfalt eines Hilfloſen das Schlußwort, das allen Hochmut des Gerichtes bricht: 
„Das Mädel — was muß die gelitten han!“ 

Hauptmanns Weſen iſt eben im Grunde von reiner Güte, und dieſe Güte iſt 
nicht Schwäche, fie ift der feltene Opal, fie ift Größe. Auch wenn er uns in den ent- 
ſetzlichen Dunſtkreis des Elendsdramas führt: man wird ein beſſerer Menſch an 
ſeiner lieben Hand. | 

Und bann ijt nod etwas, was von Gerhart Hauptmanns tiefſter Natur aus- 
ſtrahlt und als ein Glanz, von matten Augen kaum wahrgenommen, über feinen 
düſterſten Dramen ſchwebt. Nennen wir ihn „Himmelsſehnſucht“ — dieſen lichten 
Streif am Saum unſeres Horizonts, jo fid) über dem Erdenweh wölbt. Als 
ich am 20. Oktober 1889 der hiſtoriſchen Uraufführung von Bor Sonnen- 
aufgang“ beiwohnte, der Feuer-, Blitz- und Qonnertaufe der Berliner „Freien 
Bühne“ uud des jungen Dichters, gehörte auch ich noch halb und halb zu denen, 
die wehleidiger als mitleidig waren, und die der Fuſelduft und Seelenſtank des 
verkommenen Säuferdorfes von der Dichtung abſtieß. Mein kritiſcher Niederſchlag 
von damals beweiſt es mir. Doch ſprach ich von einem Ingenium, das durch 
die Not zur Schönheit ringt, und ich ſagte von Helene und der Liebesſzene: 
„Ahnen wir die Bedeutung der Elendsdichtung, in die ein Strahl des Himmels- 
lichtes fällt?“ 

Es war freilich ein Spiel mit Begriffen, dieſes Deutenwollen der Bedeutung. 
Noch fehlte der Schlüſſel zu Hauptmanns Seele, in der ſich der Menſchheit ganzer 
Jammer, die Not der Täler, mit dem Durſt nach Licht und freien Höhen zum per- 
ſönlichen Weltgefühl verband. Man kannte nicht Hauptmanns Zugenddichtung, 
das „Promethidenlos“; und man hätte auch in dem Epos, das in Allegorien und 
alten Formen durchaus ein lyriſches Geſtändnis gab, nur den einſeitigen Eifer 
des jungen Dichters wahrgenommen, bem jid, als er durch den Garten Staliens 
wanderte, das Herz zuſchnürte beim Anblick der Notleidenden, und der der Schön- 
heit, die keinen Hunger ſtillt, entſagen wollte: 


436 Klenzl: Das Perſönliche in Gerhart Hauptmanns Werten 


„So laßt in eurem Schmutz mich hocken, 
Laßt mich mit euch, mit euch im Elend ſein!“ 

Aber dieſe Schönheit war doch in ihm, unausrottbar, unüberwindlich. Sie 
erſchien in der Geſtalt der unverſehrten, lieblichen Helene im Brodem des „Sonnen- 
aufgang“- Dramas, und wider des Dichters Willen blieb von dieſer Dichtung, bie 
den Sieg der modernen naturwiſſenſchaftlichen Lehren und die Unterwerfung des 
einzelnen unter die ſozialen Anſprüche der Allgemeinheit verkündete, als ſtärkſte 
Wirkung das tragiſche Mitleid mit dem Opfer, mit dem Los des Schönen. Immer 
mächtiger trieb es in den folgenden Dichtungen Hauptmann, das dritte Reich auf 
Erden zu ſuchen. In „Hannele“ findet er einen Weg, der durch den Natura- 
lismus hindurch und über ihn hinaus führt; aber aller Erdentroſt, der ſich bietet, 
iſt doch nur der Himmelstraum eines ſterbenden Kindes! In ſeinem faſt zwanzig 
Sabre ſpäter erſchienenen Roman „Emanuel Quint“ endigt der Gottſucher 
als Narr in Chriſto. Nicht der genjeiteglaube kann Hauptmann, dem Schüler 
Haedels, die Zllufion geben, nach der die Seele hungert. Er flüchtet ins Märchen 
und träumt in der „Berſunkenen Glocke“ von den reinen Elementen der 
Natur, denen er ein neues Gotteshaus errichten will. Und im Glashüttenmärchen 
„And Pippa tanzt“, feinem innigſten Bekenntnis, will er noch einmal der 
von Sorgen befreiten Schönheit glauben, die ihm glitzernd, glänzend durch Win- 
ters Schnee auf dem Pfad zum ewigen Frühling voranſchwebt. Wie zerbrechliches 
Glas zerſchellt die kleine Pippa. Iſt die Welt nun dunkel? O nein! Wem gnädige 
Blindheit die Augen ſchließt, daß er Leid und Schmach nicht ſehen kann, dem bleibt 
fie licht. Dem blinden Michel Hellriegel ift das [chine Mädchen nicht geftorben. .. 

Nicht bloß in Myſterien ſucht Hauptmanns Sehnſucht nach Erlöſung. Sie 
regt ihren Fittich im Qualm der Armutshütte („Weber“), in der Qual des All- 
tags („Das Friedensfeſt“) und in erdrückenden Herzenswirren („Einſame Men- 
ſchen“, „Kaiſer Karls Geiſel“, „Gabriel Schillings Flucht“). Ja, über dem All- 
täglichen, das er ſo unerhört treu abſchildert, ſprüht hier und da ein feiner Duft, 
nicht in Worten zu ſammeln, der von irgendwo fernher kommt: von Ufern der 
Sehnſucht. Wenn der kranke, erſchöpfte Gabriel Schilling ſtumm die 
Arme gegen das ewige Meer ausbreitet, hören wir das leiſe Rauſchen der Dichter- 
ſehnſucht. Mächtiger brauſt es im nächtlichen Seeſturm. Dann weckt es Gabriel 
Schillings todmüde Seele, daß er ſich vom Leben befreien und reinigen kann und 
freudig jenen Tod ſucht, den der herzensweiſe Michael Kramer die mildeſte 
Form des Lebens genannt hat. 

Das Schlagwort hat Gerhart Hauptmann als „Stürmer und Dränger“ des 
deutſchen Naturalismus abgeſtempelt. O, es ging ein Stürmen und Drängen durch 
das geiſtige Deutſchland der achtziger Fahre! Die Lenz-Rumpane machten Re- 
volution gegen den Winter welter Überlieferungen. Naturwiſſenſchaft und Gogia- 
lismus eroberten die Dichtung und die Philoſophie. Der Schöngeiſterei und der 
Theaterlüge wurde der Krieg bis aufs Meſſer angeſagt. Es war ein ernſter Zubel, 
eine ernſte Begeiſterung. Aber abgeſehen davon, daß diefe Frühlingsſtürmer, fo- 
viel Moder ſie auch hinwegfegten, und ſoviel Samen ſie über das Land trugen, 
keinen glorreichen Sommer der Literatur im Gefolge hatten: war denn Haupt- 


Kienzl: Das Perſönliche in Gerhart Hauptmanns Werken 437 


mann feiner Natur nach ein Kämpfer? Was bie Gemüter der erſten Zuſchauer 
des „Sonnenaufgang“ - Dramas fo gründlich aufwühlte, das konnten doch wohl 
nicht die Ideen der Zeit ſein, die theoretiſch längſt den Gebildeten vertraut waren. 
Hauptmann war als Theoretiker nicht radikaler als andere. Nicht die Mein ung, 
ſondern das Weſen des Dichters rief bei den einen Bewunderung, bei den ande- 
ren Entrüſtung hervor. 

Es wird der künftige Biograph, den keine Rüdfiht auf Lebende mehr hemmt, 
die Beziehungen zwiſchen Gerhart Hauptmanns Lebensgeſchichte und feiner Did- 
tung aufweiſen. Leicht wird es ihm nicht gemacht fein; denn die meiſten der Mo- 
delle, die Hauptmann benutzte, find durchaus nicht porträtiert. Von manchen ge- 
nũgte ihm ein ſtarker Zug, aus dem heraus er mit pſychologiſcher Folgerichtigkeit 
einen anderen, neuen Menſchen ſchuf. Einzelne Urbilder hat er perſönlich nicht 
kennen gelernt, nur ſtumm beobachtet. So weiß ich, daß ihm der bloße Anblick 
eines fremden Mannes, der auf mächtigem Körper ein ſorgengebeugtes Haupt 
trug, die Geſtalt ſeines Fuhrmann Henſchel lebendig machte. Andere Perſonen, 
bie bedeutſam auf fein Leben und Gemüt eingewirkt haben, veränderten in meh- 
reren Dichtungen proteusartig ihre Züge, fo daß nur ein letzter Kern des In- 
dividuellen den dichteriſchen Geſtalten gemeinſam blieb. Man könnte auch von 
Erfahrungen und Entwicklungen ſprechen, ſofern junge und alte, beglückende und 
verderbende Geſtalten auf ein Urbild zurückzuführen ſind. Es iſt eine nicht zu 
beweiſende Vermutung, daß die reine, hellfunkelnde Pippa und die fiebgehn- 
jährige Buhldirne Gerſuind („Kaiſer Karls Geiſel“, die verderbte ſchöne Tänze- 
rin im Roman „Atlantis“ und ſogar der lemurenhafte Vampyr Hanna Elias in 
„Gabriel Schillings Flucht“ aus der Befruchtung durch ein weibliches Weſen 
entſtanden ſind. 

Mehrere Figuren der Hauptmannſchen Dramen können allerdings bei ihrem 
bürgerlichen Namen gerufen werden. Den „Webern“ gab der zu Salzbrunn in 
Schleſien geborene Dichter Widmungsworte an feinen Vater zum Geleit: „Deine 
Erzählung vom Großvater, der in jungen Jahren, ein armer Weber, wie die Ge- 
ſchilderten hinterm Webſtuhl geſeſſen, iſt der Keim meiner Dichtung geworden.“ 
Dem Vater Robert Hauptmann ſetzte der Sohn ein lebendiges Denkmal in dem 
Gaſthofbeſitzer Siebenhaar („Fuhrmann Henſchel“). Aus feiner frühen Jugend 
nahten ihm die Geftalten der herrnhutiſchen Verwandten, die fid) vergebens müb- 
ten, den kleinen Gerhart für Landwirtſchaft und Katechismus zu gewinnen, — 
und fie find die in aller Beſchränktheit prachtvollen und rührenden alten Eheleute 
Vockerat in den „Einſamen Menſchen“ geworden. Aus feiner Breslauer Runft- 
ſchũlerzeit hat Hauptmann den Grundriß zum genialen und verbummelten Akademie- 
profeſſor Crampton gerettet. Als Hauptmann, der lange zwiſchen den Künſten 
ſchwankte, vom Hang nach plaſtiſcher Geſtaltung in den Vorſatz getrieben war, 
Schauſpieler zu werden, wurde er Schüler des ehemaligen Straßburger Theater- 
direktors Alexander Heßler; dieſes Original ift ziemlich haargetreu im Schmieren- 
direktor der „Ratten“ aufgezeichnet. Aus der Züricher Studenten- und Sozialiſten- 
zeit und noch mehr aus dem jungdeutſchen Freundeskreis, mit dem Hauptmann 
in der Mitte der achtziger Jahre in Erkner und Friedrichshagen verkehrte, kamen 


438 Schiller unb wir 


einige klaſſiſche Zeittypen in feine erſten Dramen; gewiß der moderne Doktrinär 
Loth in „Vor Sonnenaufgang“, der ſchnuppige und radikale Braun und die ruf- 
ſiſche Studentin Anna Mahr in „Einſamen Menſchen“, vor allem aber der tief- 
menſchliche „Michael Kramer“, den Hauptmann dem Andenken ſeines Freundes 
Hugo Ernft Schmidt gewidmet hat. Paul Schlenther erzählt in feiner vor- 
trefflichen Hauptmann Monographie von dem Dreimädelhaus bei Dresden, wo 
drei Brüder Hauptmann junge Bräutigame geweſen. Als der Dichter mit dem 
Freunde einmal im Eiſenbahnzug an dem Heimatort feiner erſten Gattin vorüber- 
fuhr, rief er: „Wenn ich je einen Sommernachtstraum ſchreiben ſollte, ſo kann er 
nur dort oben ſpielen!“ Er hat die Tage von Hohenaus in dem Luſtſpiel „Die 
Sungfern vom Biſchofsberge“ ſich mit Hauch und Klang wiederzuſchenken geſucht, 
als der Traum längſt ausgeträumt war. 

Und Gerhart Hauptmanns eigene Perſönlichkeit? Sie lebt wohl in jeder 
ſeiner Dichtungen; hier unter der Tarnkappe, dort zu erkennen für jene, die ihn 
in einer beſtimmten Phaſe feiner Entwicklung gekannt hatten ... Sind die Cle- 
mente, fremde und eigene, im Becher der Dichtung gemiſcht, fo können fie ſchwer⸗ 
lich wieder voneinander geſchieden werden. Und was nicht alles unternimmt ein 
Geſtalter mit ſeinem eigenen Selbſt! Er nimmt ſich einen Schickſalstag und 
einen Zug des vielverſchlungenen Weſens und Wellt die Frage an bae Schid- 
fal, wie es hätte kommen müſſen, wenn dieſer Tag und dieſer Weſenszug eine un- 
gehemmte dauernde Wirkung erlangt hätten. Oder er überblickt das geweſene, 
jetther gewandelte Ich (Johannes Vockerat). Oder er vertauſcht fein Lebens- 
alter und fein Zeitalter, fein Schickſal und ſeine Umwelt gegen andere Sabre, 
andere Zeiten, ein anderes Schickſal und eine andere Umwelt und erkennt doch 
den Reit des Perſönlichen in der entfernten Geſtalt (Raifer Karl). Ja, Haupt- 
mann ift Johannes Vockerat, ift der Glockengießer Heinrich, ift Gabriel Schilling.. 
Er ijt jeder und ift keiner von ihnen. 

„Ich lege dieſes Drama in die Hände derjenigen, die es gelebt haben.“ So 
ſteht auf der erſten Buchſeite der „Einſamen Menſchen“. Dieſe Worte grüßen 
uns, ungeſchrieben, über dem Eingang zu j eb er Dichtung Gerhart Hauptmanns. 


Sur 
Schiller und mir 


n 

ei "du dem Literaturblatt „Eckart“ (Berlin SW. 68, Schriftenvertriebsanftalt) hat Cäſar 
> G Flaiſchlen über dieſes Thema Gedanken ausgeſäet, denen man nur wünfchen kann, 
(ERK dab fie in fruchtbare Gemüter fallen. Hier eine Auslefe: 

Es iſt ein kleines, unſcheinbares Häuschen in einem abgelegenen Winkel Schwabens, 
in dem er zur Welt tam... 56 Fahre vor Bismarck, in deffen Hand dann abermals 56 Jahre 
fpdter zu Tat wurde, was Schillers Werk vorbereitet. 

Und wir denken an feinen Kampf mit Enttäuſchungen und Mühſalen und wie er alles, 
was er wollte, Gabr um Jahr einem nichtwollenden, widerſtrebenden Körper abtrotzen mußte. 
und wie es immer wieder der Glaube an das Gottesgnadentum in ſeiner Bruſt und ſein auf 
die Knie zwingender Idealismus war, der ihn Schritt um Schritt zum Sieger werden ließ. 


Schiller und wir 420 


Es ijt Schiller und immer wieder Schiller, ber in Überlebensgröße am Toreingang 
des vorigen Jahrhunderts unſerer Geſchichte aufragt und gleich einem unſichtbaren Führer 
unfer Volk von Jahrzehnt zu Jahrzehnt geleitet ... den Weg, den er ſelbſt uns vorgegangen: 
per aspera ad astra. 

Wie Rolandruf hallt fein Werk durch die Welt des zuſammenbrechenden alten Reiches 
und weckt die Geiſter aus ihrer Gleichgültigkeit und einigt ſie um das Banner einer großen 
Idee: das jahrhundertlang getragene Joch fremder Zwingherren endlich abzuſchuͤtteln und 
ſich zu ſich ſelbſt zu ſuchen. 

Und der unbeugſame Glaube an den Sieg des Ethiſchen im Menſchen, an die alles 
zwingende Macht eines ſtarken Willens, die ibn ſelbſt zur Höhe getragen, führt uns von Auf- 
ſtieg zu Aufſtieg. Aber auch nachher, in den Zeiten der Reaktion und der Stagnation, immer 
wieder ift es Schiller, zu dem bie wachgewordene Erkenntnis unſeres Volkes flüchtet ... bis 
ſie in dem Jubel ſeiner Hundertjahrfeier 1859 rückhaltlos durchbricht und bis dann Tat daraus 
wird und Bismarck mit dem Schwert in der Hand ihrer Sehnſucht Erfüllung erzwingt. 

Es war Bismarck, der das Reich ſchuf, aber es war Schiller, der den Boden bereitete, 
auf dem es werden konnte. 

Der Mann des Schwertes kam aus Norden, der Mann des Worts aus Güden. 


* * 
* 


Schillers Art ift antithetiſch, zornig, bie Gegenſätze zufammenzwingend: 
„Leicht beieinander wohnen die Gedanken, 
doch hart im Raume ſtoßen fid die Sachen!“. 


überraſchend, aufwirbelnd, ſtutzig machend und zum Widerſpruch herausfordernd, wenn man 
nicht wie Schiller ſelbſt darüber ſteht und ſich freut an der Leichtigkeit, mit der er Worte und 
Gedanken meiſtert. 

Goethes Art ift ſynthetiſch, ruhig, die Gegenſätze verbindend, vermittelnd, überbrüdend 
und zum Ausgleich bringend. | 

Und wie im einzelnen und kleinen, fo im großen und ganzen, und nicht bloß in ihrer 
Kunſt, ſondern auch in ihrem Leben. 

Schiller muß ſich durchſetzen, Goethe läßt ſich treiben. 

Schiller ift Kämpfer, Goethe von vornherein Sieger. 

Schiller will, Goethe iſt. 

Dieſe zwei verſchiedenen Arten zu ſein und zu denken ſind im letzten Grund vielleicht 
die zwei Auslöſungsmöglichkeiten alles künſtleriſchen Schaffens überhaupt. Eine Analyſe 


wird immer auf diefe beiden Quellgebiete zurückkommen, obgleich fie fih ineinander überzweigen. 


* *. 
* 


Wir kommen von hier aus auch zu einer Erklärung der immer müßigen, aber immer 
wieder auftauchenden Frage: Schiller oder Goethe? Wer iſt größer? 

Man könnte immer wieder dicke Bücher darüber ſchreiben, aber wir müßten nachgerade 
fo viel Diſtanz zu beiden haben, um zu erkennen, daß wir beide nicht anders nehmen und ver- 
ſtehen dürfen, denn fo, wie fie fidh ſelbſt deuteten und wie fie von Rietſchels Meiſterſchaft ver- 
ſtanden und geformt in Weimar ſtehen: als Ein Eines. 

Es iſt bekannt, wie wenig Schiller und Goethe ſich zuerſt vertrugen, wie ablehnend 
fie fic) zueinander verhielten, trotz einzelner Beſuche, und wie lange es dauerte, bis eine An- 
näherung zuſtande kam. Sie fühlten die Verſchiedenheit ihres Weſens und Wollens und daß 
ſie ſich gegenſeitig im Wege ſtünden. Und das war auch wohl ſo. Bis ſchließlich aber doch der 
Tag kam, an dem ihnen eine beſſere Erkenntnis wurde. 

Sch kenne kein ergreifenderes und erhebenderes Sinnbild, als dieſes Denkmal der 
beiden Oichterfürſten, die fidh erft als Gegner betrachteten, bis jeder von ihnen fo reif geworden, 


440 Schiller und wir 


die Art des anderen in neidloſer Größe anzuerkennen und mit eigener beſter Kraft zu fördern 
und zum Siege zu tragen. 

Und es iſt ja nicht nur Schiller und Goethe, es iſt unſer deutſches Volk, das da oben 
ſteht, in Geſtalt zweier ſeiner Beſten, unſer deutſches Volk, das ſich auch lange genug feindlich 
gegenüberſtand, bis dann endlich doch die Stunde ſchlug. 

Es wäre wirklich an der Zeit, daß wir dieſe Primanerfrage, wer größer ſei, endlich 
ausſchalten und beide als Ein-Eines zu verſtehen und zu empfinden lernten, als Verkörperung 
eines Geiſtes, nur eben in verſchiedenen Phaſen ſeiner Entwicklung, in Phaſen, die wir alle, 
als Volk und als Einzelne, völlig parallel durchlaufen. Auch der Einzelne iſt ja nicht bloß 
entweder oder, ſondern immer Schiller und Goethe, jedes eben zur gegebenen Zeit. Sehn- 
ſucht und Erfüllung. Anſere Jugend ift an tithetiſch, unſere reiferen Jahre find ſynthetiſch. 

* " * 

Und nod) eines. 

Schiller ftarb im Alter von 45 Jahren. Man überbenfe, was das heißt! Während 
Goethe ein Alter von 83 beſchieden war. 

Hätte Goethe dieſes Schiller-Schickſal getroffen, ſo hätten wir vom Jahre 1794 an 
nichts mehr. Zu allererſt Rietſchels Denkmal nicht. Alſo weder ihren Freundſchaftsbund noch 
ihren Briefwechſel. 

Wir hätten einen großen Teil der beſten Gedichte Goethes nicht. Wilhelm Meiſters 
Lehrjahre wären Fragmente geblieben, Hermann und Dorothea ungeſchrieben. 

Wir hätten vor allem keinen Fauſt. 

Wir hätten weder die Wahlverwandtſchaften, noch Wahrheit und Dichtung, noch den 
weſtöſtlichen Divan, noch Wilhelm Meiſters Wanderjahre, noch den zweiten Teil des Fauſt, 
noch Eckermanns Gejprádje. 

Man überdenke, was das heißt! 

* * 
* 

Zu den Wandlungen in der Einſchätzung Schillers: 

Immermann ſchon ſchreibt in feinen Memorabilien, in denen er aus der Zeit von 
1812 erzählt: 

„Ich halte es als ein Hauptverdienſt Schillers, der größere Jugendſchriftſteller der 
Nation geworden zu ſein. Unbeſchadet meiner Berechnug für ihn darf ich wohl geſtehen, 
daß die Zeit mir ziemlich nahe zu ſein ſcheint, in welcher er dem männlichen Alter eben ſo wenig 
mehr bieten wird, als ihm z. B. Herder ſchon jetzt noch bietet.“ 

Dieſe Bemerkung war mir immer intereſſant als frühes Symptom einer Erſcheinung, 
die man heute auf den verſchiedenſten Seiten bemerken kann: Schiller ſozuſagen nur für die 
Jugend gelten zu laſſen. Der Erwachſene glaubt über ihn hinaus zu ſein und ihn überwunden 
zu haben. 

Es war namentlich aber auch die Kritik Otto Ludwigs, die von Schiller abdrdngte... 

und zuletzt dann die der Generation, die zu Anfang der achtziger Jahre zwanzig war 
und eine moderne Kunſt zu ſchaffen ſuchte. 

* * 
: * 

Aber bie Gründe liegen tiefer und find zugleich auch bie Gründe, bie Schiller ber Welt 
von heute in der Tat etwas entfremdet haben: wir haben keine große einheitliche Weltanfdau- 
ung... es fel denn, man nenne den Materialismus eine ſolche. 

Wir haben überall das Ziel verloren, in dem die Dinge ſich zuſammenſchließen. Es 
iſt alles ſchwankend geworden und gewiſſermaßen dem Belieben des einzelnen anheimgeſtellt. 
Ignoramus, ignorabimus! 

Wir müſſen zurück zu Schiller mit unſerer Kunſt, wenn wir wieder vorwärts kommen 
wollen! Zurück mit den Bereicherungen, die wir von uns und aus unſerem veränderten Leben 


Schiller und wir 441 


neu gewonnen haben. Wir müffen zu einer großen Linie zurück! und nicht bloß unſere Kunſt, 
unſer geſamtes Leben! 

Es ſind völlig andere Bedingungen, unter denen ſich das Daſein heute abwickelt, unſer 
Seelenleben aber iſt ſo gleich geblieben, wie es ſich wohl immer gleich bleibt. Es iſt die Form 
nur, die ſich wandelt! 

Wir haben uns mit einer faſt beängſtigenden Schnelligkeit in einer Zeitſpanne von 
kaum zwei Generationen auf allen Gebieten zu einer Höhe emporgeworfen, deren ſich jeder, 
der noch Erinnerung oder Empfindung für die Zeiten und Zuſtände vorher hat, nur mit immer 
neuem Staunen bewußt werden wird. 

Unfere Naturwiſſenſchaft hebt Schleier um Schleier und enträtſelt Geheimnis um 
Geheimnis. 

Unſere Forſchung durchleuchtet die verborgenſten Winkel, unterwirft Punkt um Punkt 
einer Reviſion und ruht und raftet nicht, was jahrtauſendelang verſchüttet und begraben lag, 
zu neuem Leben zu erwecken. 

Unfere Künſte haben ſich zu einer Virtuoſität und einer Verfeinerung durchgeſtaltet, 
die kaum noch weiter getrieben werden kann, wenn man mehr als bloße Seiltänzerei von 
ihnen will. 

Unfere geſamte Lebensführung hat ſich in einer Weiſe geſteigert, daß heute fo gut wie 
faſt allen möglich geworden iſt, was zu Schillers Zeiten nur ganz wenigen möglich war. 

Wir leben durch unſere Preſſe in unmittelbarem Zuſammenhang mit der geſamten 
Welt, und jeden Morgen brauſt ihr ganzes buntes Treiben in unſer ſtilles Zimmer. 

Und doch und dennoch ſtehen wir da und haben trotz allem keine wirkliche innere Freude 
an unſeren Triumphen. Der Augenblick berauſcht uns, aber er ſchafft uns kein Genügen für 
morgen. Wir ſtehen voll Sehnſucht in der Bruſt und ſuchen nach allen Seiten und warten 
und warten . .. als ob etwas kommen müſſe, irgend etwas, das uns zurüdgäbe, was wir ein- 
mal gehabt! 

Solange Bismarck da war, ging es noch, aber feit er. weg ijt, ift niemand mehr da. Es 
gibt wohl viele, die politiſch an die Spitze drängen, aber es iſt niemand, der unſerm Volk auch 
ethiſch als Führer voranginge. 

Wir müſſen zurück zu Schiller, wenn wir wieder vorwärts kommen wollen! 

Wir ſind dem Glauben untreu geworden, der ihn zur Höhe trug und uns mit ihm! 
Wir wollen nichts Großes mehr gelten laſſen und haben doch Sehnſucht danach! Wir zerzerren 
alles ins Kleine! 

Wir haben alles aufgelöſt, was wir aus früheren Zeiten als Ewigkeitswerte über- 
kommen haben, zerdacht und zerlacht! 

Wir find fo weit, daß wir das bloße Wort Ideal nur noch in Anführungszeichen zu 
ſprechen wagen und daß man es nur noch mit Achſelzucken beantwortet! 

Verſtand iſt alles, Empfindung nichts! 

Wir ſind ſo geſcheit und ſo gelehrt geworden, daß wir vor lauter Bäumen keinen Wald 
mehr kennen, und geraten immer hilfloſer in eine immer unerquicklichere Spezialiſterei, auf 
allen Gebieten, anſtatt uns zur großen Linie durchzuſuchen! 

Wir denken alles auseinander, anſtatt zuſammen! 

Wir müſſen zu Schiller zurüd! 

Backſteine allein ſind kein Haus! wir müſſen endlich anfangen, an ſeinen Bau zu gehen! 

Wir (ënnen, was man können kann! Wir haben Wiſſenſchaft genug und auch Technik 
genug... wir müſſen endlich weiterkommen! 

Auch das Automobil iſt nur ein neuer Betrug und keine Erlöſung! 

Es iſt völlig gleichgültig, ob ein Dampfſchiff viereinhalb oder fünf Tage nach New Vork 
braucht ... es gibt wichtigere Dinge! 


442 Vom weihnachtlichen Büchertifch 


Wir müſſen heraus aus dieſem Induſtrialismus und aus dieſer Rekordmeierei, bie uns 
alle Werte verſchiebt! 

Wir müſſen wieder Diſtanz gewinnen und die Dinge des Daſeins in eine vernünftige 
Perſpektive bringen.. 

Wir müſſen den Blick zur Ewigkeit wieder freibekommen und uns wieder begeiſtern 
können und auch dürfen! Auch das iſt ein Naturrecht! 

Was Begeiſterung vermag, bewies der Tag von Echterdingen! 

Da waren wir für ein halbes Jahr lang wieder einmal, die wir fein möchten! Da 
waren wir Schiller! 

Und es war noch eine Zeit, vor zwölf Jahren: Die Zeit der Burenkriege! Auch da 
waren wir Schiller! Wir ſchämen uns heute biejer Begeiſterung! Die Nicht-Schiller haben 
uns ihre Klugheit aufgezwungen! Gewiß! Gewiß! 

Aber wir dürfen Schiller nicht zu bloßer Zugendſchwärmerei werden laffen und uns 
zu Goethe flüchten! 

Wir ſind als Volk noch lange nicht reif für Goethe! Wenn wir es wären, griffen wir 
ganz von ſelbſt zu Schiller! Wir können ſeiner nicht entbehren! 

Wir find in einer Zeit wie Goethe von 1788 an, da er von Stalien zurückkam, bis er 
zu Schiller fand. 

Er hatte die Luſt verloren zu großem Schaffen und zerſplitterte ſich an hundert Dinge, 
die alle aber nur feinem Wiſſens- und Erkenntnisdrang Genüge taten, ohne ihm gemütlich 
und innerlich etwas zu geben, und — er mochte Schiller nicht, er fühlte ſich ihm überlegen, 
nicht bloß den Jahren nach, fein Pathos mißhagte ibm, feine ganze ungeſtüme Art... 

und da fielen ihm eines Tags „Die Götter Griechenlands“ in die Hände, und er ging 
zu ihm und ſuchte ihn von (id aus zu verſtehen . 

und neues Leben überkam ihn, und er fing wieder an, jung zu werden, und begann zu 
arbeiten und Schiller half mit... 

Wir wollen es Goethe nachtun und uns Schiller holen! er hilft! er hat noch immer 


geholfen 
AD 


Vom weihnachtlichen Büchertiſch 
1. Biographien 


d ir legen in unſerer diesmaligen weihnachtlichen Bücherſchau den Nachdruck auf 
die biographiſche Literatur, weil gerade ſie uns beſonders zu Feſtgeſchenken 
geeignet erſcheint. In den letzten Jahren ift ein erneutes Wachſen der Teil- 
nahme für die Lebensbeſchreibungen bedeutender Menſchen unverkennbar. Es offenbart 
fid) darin ein begrüßenswerter Rückſchlag gegen den materialiſtiſchen Gett, der in der Milieu- 
theorie das Drumherum als das eigentlich Ausſchlaggebende, den einzelnen Menſchen mehr 
als eine Folgeerſcheinung hingeſtellt hat. Mochte es nun zuweilen den Anſchein haben, als ob 
vielfach das Seltſame und Problematiſche heute ein ungebührliches Maß der Teilnahme auf 
ſich vereinige, fo zeigt fid) in der Biographie doch erfreulicherweiſe auch der gegenteil. ge Zug. 
Einen fo großen Raum die Neuveröffentlichungen von Kunſtwerken einnehmen, die nicht 
durch ihr Maß von Vollendung uns feſſeln, ſondern durch rätſelhafte, ja geradezu kranke Er- 
ſcheinungen; ein fo großer Raum auch in den fetzt fo beliebten Memoirenwerken jenen zu- 
gebilligt wird, die man nach keiner Richtung als Vorbilder des Lebens aufſtellen dürfte, — in 
der Biographie kommt doch vor allen Dingen das Verlangen nach Heldentum zum Ausdruck. 


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In unſerer Zeit, fo ſkeptiſch fie fid) gebärden mag, ift dieſes Verlangen fo ſtark wie nur je. Was 
(t auch natürlicher, als daß gegen die vielfältigen, einem ſteten Wechſel unterworfenen An- 
ſchauungen und Meinungen des Tages Hilfe geſucht wird in dem, was dauernd bleibt, im 
Menſchentum ſelber. Und fo ift beinah auf den Kopf geſtellt, was der Materialismus ver- 
kündigte: das Milieu wird uns nun inſofern wichtig, als an ihm gezeigt werden kann, wie 
der Geiſt, wie der einzelne ſich mit ihm auseinanderſetzte, durch ſeine Einflüſſe gefördert oder 
gehemmt wurde, wie es ihm letzterdings gelang, aus dieſer Umwelt eben in Höhen binauf- 
zuwachſen, in denen das Heldentum thront. 

Se mehr manche jener moraliſchen Grundfeſten, die durch Jahrhunderte als Erziehungs- 
mittel gedient haben, vor der zernagenden Kritik unſerer Tage zuſammenbrechen oder doch 
in ihrer freudigen Kraft beſchränkt werden, um fo wichtiger iſt es, daß wir neue Mittel diefer 
ethiſchen Stärkung des Menſchentums gewinnen. Die Lebensbeſchreibung tüchtiger Menſchen 
ift ſicher eines der vorzüͤglichſten. 

So ſtelle ich an die Spitze dieſer Betrachtungen ein Buch, das aus dieſem Geiſte heraus 
entſtanden iſt, wenn es ihn auch nicht ſcharf betont. Vielleicht liegt aber darin auch wieder 
ein Vorzug bieles Buches, das den bezeichnenden Titel führt: „OJrei hundert berühmte 
Deutſche. Bildniſſe in Holzſchnitt von M. Klinkicht. Lebensbeſchreibungen von 
Dr. K. Siebert“. (Stuttgart, Greiner & Pfeiffer. Geb. 4 5.50.) Man läßt hier grund- 
ſätzlich nur das Tatſächliche zum heutigen Menſchen ſprechen. Die Bildniſſe ſind nach den 
beſten authentiſchen Vorlagen und nur nach ſolchen mit großem Geſchick in Holz geſchnitten, 
und zu jedem ſteht auf der gegenüberliegenden Seite ein gedrängter ſachlicher Text, der den 
Lebensgang und die eigentliche Arbeit des Dargeſtellten ſchildert. Die Nutzanwendung liegt 
dann beim Leſer ſelbſt. 

Von Rudolph von Habsburg an bis auf die neueſte Zeit führt dieſe Bildergalerie, ein 
ſtolzes Heer deutſchen Mannestums, deutſchen Talentes für Geiſt und Tat. Die Reihe hätte 
können vergrößert werden, fie konnte auch kleiner fein. Vielleicht brauchte man nicht fo ängft- 
lich zu ſein, daß, wo kein beglaubigtes Bildnis vorhanden war, der Mann überhaupt nicht 
aufgenommen wurde. Unbillig iſt es auch, daß keiner der deutſchen Myſtiker des vierzehnten 
und fünfzehnten Jahrhunderts, die doch ſo außerordentlich bedeutſam für das religiöſe deutſche 
Leben waren, vor uns ſteht. Aber dieſe Mängel kommen einem kaum zum Bewußtſein vor 
der Fülle von Kraft und Schönheit, von Wollen und Vermögen, von Güte und Gewalt, von 
edlem Volkstum, das hier zu uns ſpricht. In Anbetracht des Gebotenen iſt der Preis des Buches 
ganz ungewöhnlich billig, und es verdient auf dem Weihnachtstiſche dieſes Jahres einen be- 
ſonders bevorzugten Platz. 

Die rund drei Dutzend Bände umfaſſende Zahl von Einzelbiographien, die hier natürlich 
nicht kritisch beſprochen, ſondern nur würdigend angezeigt werden follen, erſtrecken fid auf 
die entlegenſten Zeiten und die verſchiedenſten Gebiete. Mit beſonderer Freude verweiſe 
ich den gebildeten Leſer auf ein zweibändiges Buch „Sokrates. Geſchildert von 
feinen Schülern“. (Leipzig, Inſel-Verlag. Geh. 9 &, geb. 12 &.) Sokrates gehört 
zu den Männern, mit deren Namen ſich für jeden die Empfindung verknüpft, einem der be- 
deutſamſten und epochemachendſten Geiſter aller Zeiten gegenüberzuſtehen. Trotzdem ijt die 
wirkliche Kenntnis von ihm auch bei den Gebildeten durchweg ſehr unvollkommen und ganz 
äußerlich. Dabei hat gerade die praktiſche Lebensweisheit, für die Philoſophie doch im 
höchſten Sinne Moral bleibt, allen Grund, ſich in dieſen herrlichen Erzieher der Menſchen, 
der in die nächſte Nähe zu Chriſtus rückt, zu vertiefen. Nun hat es ja niemals Schriften von 
Sokrates ſelbſt gegeben, aber Schriften über ihn aus der Feder ſeiner Schüler und in dieſen 
eine große Zahl lebendiger Geſpräche, ſind uns erhalten. Da nun obendrein dieſe Schriften 
von Xenophon und Plato an fid) meiſterhafte Werke find, da in ihnen fih die höchſte Bildungs- 
ſtufe des edlen Griechenvolkes ſpiegelt, ſollte man meinen, ſie müßten Gemeingut ſein. 


444 Vom weihnachtlichen Bůͤchertiſch 


Wie weit ſind wir davon entfernt! Und doch ſind die Fragen, die in dieſen Schriften 
abgehandelt werden, jene Probleme, die den Menſchen zu allen Zeiten gleichmäßig beſchäftigen. 
Es gibt ſicher nur wenige Gebildete, die imſtande ſind, dieſe Schriften mit vollem Genuß im 
Original zu leſen. Gewiß haben wir alle Griechiſch gelernt. Aber ſelbſt jene, die Lehrer des 
Griechiſchen find, gelangen doch erft nach langer wiederholter Arbeit dahin, über das Sprach- 
liche dieſer Werke ſo vollkommen Meiſter zu werden, daß ſie ſich ganz der Tiefe ihres Inhalts 
und der Schönheit der Form hingeben können. Nun haben wir ſchon lange gute Mberfegungen. 
Aber auch fie find nicht ohne weiteres zugänglich und bergen das Weſentliche vielfach neben 
Überflüffigem. 

So iſt es denn ein großes Verdienſt, bag Dr. Emil Müller eine Auswahl der 
wichtigſten Schriften zuſammengeſtellt, und in ein Deutſch übertragen hat, das man wirklich 
lieben kann und außerdem dazu alles übrige beibringt, was das Verſtändnis dieſer Schriften 
fördert. Wir beginnen mit Xenophons Erinnerungen an Sokrates, alfo den Inbegriff deffen, 
was geſchichtlich vom Verkehr des atheniſchen Weiſen mit feinem Zeitgenoſſen feſtſteht. Außer- 
dem erhalten wir die zwei weiteren freier entworfenen Lebensbilder, bie Xenophon von So- 
krates in der Kunſt der Haushaltung und im Gaſtmahl gegeben hat. Von den Werken Platos 
aber bekommen wir die ſechs wichtigen Dialoge, in denen des Sokrates Lehre, ſein Weſen 
und Wirken geſchildert wird (Protagoras, Gaſtmahl, Gorgias, Verteidigung des Sokrates, 
Kriton und Phädon). Müller ſelbſt hat eine umfängliche Einleitung hinzugefügt, in der uns 
die Umwelt des Sokrates geſchildert wird, der in das geſamte Geiſtesleben feiner Zeit ein- 
geſtellt erſcheint, wodurch auch ſein tragiſches Ende erklärt wird. Der Anhang bringt außer den 
Biographien von Xenophon und Plato eine Würdigung des Kritias, der erſt ein Schüler, dann 
der Gegner des Sokrates war und indirekt ſogar ſeine Verurteilung durch das atheniſche Volk 
verurſacht hat. Anmerkungen, wo fie nötig find, erfüllen die Aufgabe, auch die letzten Schwierig 
keiten aus dem Wege zu räumen. 

In die gleiche Welt führt uns „Platon. Sein Leben, feine Schriften, 
feine Lehre“. Von Konſtantin Ritter. (München, C. H. Beckſche Verlags- 
buchhandlung. Von den beiden Bänden ift bislang der erſte erſchienen, geb. 8 &, geb. 9 &.) 
Auch dieſes Buch will „nicht etwa bloß den Fachgelehrten neue Anregungen geben, ſondern 
allen Gebildeten, die Sinn für geiſtige Werte und Zeit zu geſchichtlichen Studien haben, eine 
gründliche Bekanntſchaft mit dem Manne vermitteln, dem unſere heutige Geiſteskultur wohl 
mehr als irgendeinem anderen einzelnen zu danken hat“. Zu dieſem Zwecke wird zuerſt 
eine Schilderung der Perſönlichkeit Platons entworfen und ſein Leben erzählt. Dann 
folgt eine kritiſche Überfiht über feine Schriften und danach die Betrachtung der einzel- 
nen Schriften. 

So weit reicht der erſte Band. Der zweite foll den Stoff unter allgemeinen Geficts- 
punkten behandeln. Der Verfaſſer hat an dieſes Buch eine Lebensarbeit gewendet und iſt 
ſchon vor ihm mit einer Reihe wertvoller Einzelunterſuchungen hervorgetreten. Es iſt um fo 
erfreulicher, daß es ihm gelungen ijt, in Sprache und Stoffwahl das Spezialiſtentum zu über- 
winden, und man merkt ſeinem Buche an, daß, wie er ſelbſt im Vorwort ſagt, „jede Stunde, 
die er ſich um ein tieferes Verſtändnis Platons gemüht hat, Bereicherung gebracht und keine 
ſolche Stunde ihn gereut hat“. Dieſe Liebe zum Stoff, dieſe tiefe Ergriffenheit von der Auf- 
gabe und die völlige Hingabe an ſie erleichtert es auch dem Leſer, die nicht geringe Arbeit 
des Studiums dieſes Werkes zu erfüllen. 

Gehört zu dieſer innigen Beſchäftigung mit Platon die Muße und die Zeit für Arbeiten, 
zu denen nicht die Forderungen des Tages drängen, fo ift eine eindringliche Beſchäftigung 
mit Zohann Gottfried Herder eine Forderung, der fid) heute kein Deutſcher entziehen darf, 
dem es um die innere Entwicklung feines Volkstums ernſt ijt. Es ijt eine ganz eigentümliche 
Erſcheinung, daß, während wir von Herder ein verhältnismäßig ſchwaches Abbild in unſerm 


Vom weihnachtlichen Büchertiſch 445 


Innern tragen, jede Beſchäftigung mit feinen Werken, zu der uns oft ein ganz äußerlicher 
und zufälliger Anlaß führen mag, eine Überraſchung, ja geradezu eine überwältigende Ent- 
deckung bedeutet. Es iſt, als habe der Mann ſich mit allen jenen Problemen befaßt, die auch 
uns aufs lebhafteſte beſchäftigen. Er muß ein Ahnungsvermögen und eine Gefühlsfähigkeit 
gehabt haben, zu dem ich nur, wenn auch auf ganz anderem Gebiete, in Joh. Seb. Bach das 
Gegenſtück finde. Er ift fo bei allen Dingen, die er aufgriff, an bie Grundwurzeln ihres Weſens 
vorgedrungen, daß alles, was er fand, auch fiir alle Zeiten an das Grundproblem rühren muß, 
mögen die Folgerungen, das eigentliche Wiſſen von den Dingen auch oft verſagen. Ein geiſtiger 
Reichtum, eine Urgewalt von Begabung war ihm verliehen, für die die höchſte Bewunderung 
nicht übertrieben ijt. Und ebenſo entſchieden war in Herder ein Idealbild deffen lebendig, wozu 
ihn dieſe einzigartige Begabung berief, und er hat ein Leben lang ſich ſtrebend bemüht, es 
zu verwirklichen. Wenn es ihm trotzdem in ſeiner Geſamterſcheinung nicht gelungen iſt, ſo 
kann das nicht nur in der übergroßen Aufgabe, die ihm geftellt war, liegen, ſondern muß einer- 
feits in der Zeit, in der Umwelt begründet fein, in die er hineingeſtellt worden ift, anderer- 
ſeits doch auch in Eigentümlichkeiten ſeines Weſens. 

Eine aus dieſer Erkenntnis heraus geſtaltete Darſtellung Herders gehörte zu den ſchönſten 
Aufgaben für den Biographen. Eugen Kühnemann hat fie in bedeutſamer Weiſe 
erfüllt in ſeinem Buche „Herder“. (München, C. H. Beckſche Verlagsbuchhandlung. Geb. 
8 K.) Vor fünfzehn Jahren ijt dieſes Buch zum erſtenmal erſchienen. Damals hieß es in dem 
umfänglichen Vorwort: „Das Leben der großen Dichter und Denker gehört eigentlich dem 
Schriftſteller. Sem Manne, der weiß, wie Gedanken und Werke fid bilden, und wie in geiſtigen 
Bildungen das Leben aufgeht und beſchloſſen iſt mit ſeinem Kämpfen und Leiden. Unmittel- 
bares Verſtändnis für das ſchöpferiſche Arbeiten des Genius ijt wichtiger, als beleſen und ge- 
lehrt zu ſein. Es iſt der einzige wirkliche Zugang zu ſeinem Leben. In dieſem Sinne habe 
ich Herder zu begreifen geſucht. Soll ich aufrichtig ſagen, in weſſen Händen ich mein Buch 
am liebſten fände? In den Händen derer, denen es nach ihrer ganzen Anlage am ernſteſten 
um das Leben ift, in den Händen der jungen Künſtler. Die andern wollen etwas im Leben 
erreichen, bleiben meiſt befangen im Bereich der Güter, die eigentlich nur Mittel zum Leben 
ſind, einſchließlich der geſellſchaftlichen Ehren. Der Künſtler will allein die Dinge ſehen, wie 
ſie wirklich ſind, und Werke ſchaffen, die das Leben ſelber ſind.“ 

Seht hat Kühnemann als gereifter Forſcher die Arbeit wieder aufgenommen. Was 
er in begeiſterter Jugend im Sturme erobern zu können vermeinte, ſuchte er als Mann in 
langſam ergründender Sachlichkeit aufs neue zu gewinnen. So ift die objektive Bewältigung 
des Stoffes zur ſubjektiven Erfaſſung der Herderfeele gekommen, und fo erhalten wir die Ge- 
ſchichte des inneren und äußeren Werdens des unvergleichlichen Anregers. Der Verfaſſer 
ſagt in ſeinem neuen Vorwort: „Wir leben einmal wieder in einer Herderiſchen Epoche. Es 
ift das gleiche Gären einer mächtigen Übergangszeit, die den neuen und urſprünglichen Aus- 
druck für die nie erhörte Eigenheit ihres Lebens ſucht. Es iſt das gleiche Verlangen nach einer 
Erneuerung in allen Gliedern. Wieder werden Talente verbraucht, Propheten ſprießen hervor 
und verdorren. Die ſeeliſche Feinfühligkeit ſteigt, das Verlangen nach künſtleriſcher Durch- 
geiſtigung unſeres Daſeins wird ſtark, eine religiöſe Erſchütterung durchbebt die Seelen. Alles 
aber iſt Ahnung und Vorgefühl, und ſelbſt die Ahnung erkennt ſich noch kaum. Das Schickſal 
Herder berührt uns wie von heute. Vielleicht gibt es manchem, der heute fic ſelber ſucht, etwas 
Verſtehen und etwas Hoffnung.“ 8d glaube zuverſichtlich, daß das Buch diefe hohe Erwartung 
zu erfüllen vermag. 

Für den gewaltigen Eindruck, den die Perſönlichkeit des jungen Herder hervorrief, zeugt 
indirekt ein Buch von Günter Jacoby: Herder als Fauſt. (Leipzig, Felix 
Meiner. Geh. 7 K.) Das Buch beabſichtigt den Nachweis zu führen, daß das Urbild der 
Goetheſchen Fauſtgeſtalt eben Johann Gottfried Herder ift. Hören wir ben Verfaſſer in feiner 


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Einführung: „Dies Buch heißt: Herder als Fauſt. Es will mit dieſer Aberſchrift andeuten, dah 
im Entwurf das ganze Fauſtſchauſpiel und in der Ausführung der erſte Teil des Fauſt bis zum 
Auftritt im Auerbachkeller der Geſtalt Herders gewidmet ſei. Dieſe Erkenntnis wird mit einem 
Beweisſtoff geſtützt, deſſen Umfang bisher unbekannt war. Es läßt ſich erweiſen, daß nicht nur 
Anregungen aller Art, Worte und Gedanken des Fauſt in viel weiterem Ausmaße, ols man bis- 
her annahm, von Herder ſtammen; ſondern vor allem, daß Fauſts innere und feine äußeren 
Erlebniſſe Herders Erlebniſſe juſt zur Zeit der Fauſtentſtehung und unmittelbar vorher geweſen 
find. Damit ſtellt (id dies Buch in Widerſpruch zu einer althergebrachten Überzeugung der Goethe- 
Forſchung, und fo ſehe ich einer fröhlichen Fehde im Kreiſe der Fachwiſſenſchoft wie im wei- 
teren Kreiſe der Gebildeten entgegen. Möge der Kampf unſere wiſſenſchaftliche Einſicht fördern! 
Der Satz: „Herder iſt Fauſt“ ſteht im Mittelpunkte des Buches, weil nur durch ihn der 
Beweisſtoff zureichend erklärbar ift. Früher als man Anklänge an Herder nur zerſtreut im 
Schauſpiel glaubte, konnte man allenfalls aus der ‚Seelengemeinfchaft‘ Herders mit Goethe 
erklären, daß er Dieſes von Herder habe und genes. Zest ijt es nicht mehr Dicfes und Senes, 
ſondern fajt alles. Und fo ſtehen wir vor der Entſcheidung: entweder find die erſten Auftritte 
des Fauſt eine dichteriſche Ausplünderung Herders; oder Goethe hat in der Geſtalt des Fauſt 
Herder ſelbſt darſtellen wollen. Ich habe mich für die letztere Annahme entſchieden: nicht nur, 
weil bie erſtere befremdet, ſondern vor allem weil der ganze Beweisſtoff ſelbſt in diefe Rid- 
tung drängt.“ 

Gegen den Einwurf „Goethe iſt Fauſt“ meint der Verfaſſer: „Wohl möglich, daß das 
Fauſtſchauſpiel den Eindruck des ſelbſt Erlebten macht. Es hat damit immerhin feine Richtigkeit. 
Von allen menſchlichen Geſtalten, die Goethe in ſeinen Werken dargeſtellt hat, iſt ihm ſeeliſch 
feiner fo nahe geweſen als Herder zur Zeit ber Entſtehung des „Fauſt'. Aus der eigentüm- 
tümlichen ſeeliſchen Gemeinſchaft Goethes mit Herder erklärt fid der Eindruck, daß das Er- 
lebnis Herders im Fauſt wie Goethes eigenes Erlebnis erſcheint.“ Man wird es den Goethe- 
philologen überlaſſen können, ſich mit den philologiſchen Beweisführungen dieſes Buches 
abzufinden. Auch bie Goetbepbilologie bat ja Wen oft behauptet, daß Einzelzüge der Fauft- 
natur dem Vorbild Herders entſprechen. In der Richtung dieſer Einzelheiten bringt Zacobys 
Buch entſchieden eine Fülle des Neuen. Alles in allem aber zeigt ſich im ganzen Unterfangen 
des Verfaſſers, wie ja in einem großen Teil unſerer literaturgeſchichtlichen Quellenforſchung 
überhaupt, ein völliges Verkennen des dichteriſchen Schaffens. Wir wiſſen aus Goethes eigenen 
Zeugniſſen, welch ungeheuren Eindruck die Perſönlichkeit Herders auf ihn in Straßburg ge- 
macht hat, und da iſt es doch ſehr naheliegend, daß ſich dem jungen Studenten Goethe im 
Anblick Herders, feines ganzen Weſens, die Erkenntnis erſchloſſen bat, wie ewig wieder- 
kehrend das Urweſentlichſte der fauſtiſchen Natur fei. So wurde das Erlebnis Herder für Goethe 
zu einer Klärung und Geſtaltung des Erlebniſſes des Fauſtiſchen. Daher die Beziehung. Aber 
das ändert doch nicht einen Augenblick die Tatſache, daß der Fauſt durchaus Selbſtbekenntnis 
Goethes ift. Immerhin, das Buch Sacobps bietet außerordentlich viel Anregung, wie ja über- 
haupt alle dieſe Quellennachweiſe im Kleinen und Größeren viel Reizvolles enthalten und 
auch von innerem Nutzen fein können, wenn man fie immer wieder einſtellt unter größere Ge- 
ſichtspunkte und fid) durch alle diefe fleißige Kärrnerarbeit nicht irremachen läßt in der Über- 
zeugung, daß das Weſentliche des dichteriſchen Prozeſſes davon gar nicht berührt wird. 

„Solche Menſchen leben in ihrem eigenen Sonnenſyſtem; darin muß man fie auf- 
ſuchen.“ Diefes Wort Nietzſches ſpricht das oberſte Geſetz für die echte Biographie des Genies 
aus. Es ſteht als Motto vor dem Werke, das Richard M. Meyer, der bekannte Berliner 
Germaniſt, dem Präger des Wortes gewidmet hat: „Nietzſche. Sein Leben und 
feine Werke“. (München, C. 9. Beckſche Verlagsbuchhandlung. 9 A) „Die deutſche 
Philologie als die Wiſſenſchaft vom deutſchen Geiſte dürfte an dem größten neueren Oeuter 
und Wegweiſer dieſes Geiſtes auch dann nicht vorübergehen, wenn er wirklich, wie man uns 


Vom weihnachtlichen Büͤchertiſch 447 


aufreden will, kein Philoſoph geweſen wäre.“ Es wird gewiß dem Verfaſſer niemand das 
Recht beftreiten, „daß nach Philoſophen, Theologen, Aſthetikern auch der deutſche Philolog 
ſeinen Teil dazu beitragen dürfte, daß Nietzſche als deutſches Ereignis angeſehen und gewürdigt 
werde.“ Es iſt uns überhaupt ganz gleichgültig, woher einer kommt, wenn er nur etwas zu 
ſagen hat. Meyer ijt als kluger, ungemein wiſſensreicher Gelehrter uns aus feiner Deutfchen 
Literaturgeſchichte, ſeiner Stiliſtik, ſeiner Biographie Goethes und zahlreichen Abhandlungen 
bekannt. Daß er das gejamte ſtoffliche Material beherrſcht, verſteht fid am Rande. Daß ibn 
die philologiſche Methode dazu bewog, der Würdigung der Einzelperſönlichkeit Nietzſche vier 
Kapitel (Die große Wegſcheidung, Typiſche Erlebniſſe, Verwandte Naturen, Der Zeitpunkt) 
voranzuſtellen, in denen das, was in Nietzſche typiſch oder zeitlich bedingt iſt, als Hintergrund 
für das Einzelſchickſal verarbeitet wird, erſcheint mir ſehr dankenswert. Gefährlich iſt Meyers 
Beſtreben, immer und überall „intereſſant“ zu fein. Dadurch zieht er unendlich viele Einzel- 
heiten in die Darſtellung hinein, die an fih ganz nett und richtig find, die aber doch vom Kern 
ablenken. 8d) erwähne nur zwei Dinge auf zwei aufeinander folgenden Seiten aus der Dar- 
ſtellung des Lebens. Die Familie tjt „eine langlebige, kinderreiche Familie, als deren Abn- 
herr ein Steuerbeamter daſteht, der, wie die berühmteren ſächſiſchen Steuerbeamten Rabener 
und Weiße, ein febr geſunder und frohmütiger Mann geweſen fein foll“. Was foll hier nun 
die Einbeziehung von Rabener und Weiße, lediglich weil dieſe auch Steuerbeamte geweſen 
find?! Ein paar Zeilen weiter unten, wo über bie polniſche Abſtammung Nietzſches die Rede 
iſt, die Meyer wohl mit Recht bekämpft, heißt es: „Sein ſtarker Schnurrbart gab ihm etwas 
„Schlachtſchitzenhaftes; doch die ſtarken Schnurrbärte find in jener Epoche wahrhaftig nicht 
nur polniſch. König Humbert von Stalien hatte einen noch viel ſtärkeren.“ Da koſtet es denn 
doch (bon Mühe, fid) das Lachen zu verhalten, wenn der gute König Humbert an feinen 
Schnurrbarthaaren in eine Nietzſche- Biographie hineingezogen wird. Der Verfaſſer hätte es 
doch viel näher gehabt, in der Berliner Schutzmannſchaft oder unter den Feldwebeln eine 
Maſſe von Belegen für Rieſenſchnurrbärte aufzubringen. Auf der nächſten Seite iſt betont, 
daß Nietzſche ſich gelegentlich einer etwaigen Abſtammung von polniſchen Adligen freute. 
Dann heißt es weiter: „Übrigens ijt es ein eigentümlicher Zug mancher bedeutenden Per- 
ſönlichkeit, daß ſie auch in genealogiſcher Hinſicht auf Ariſtokratie Gewicht legt: Paul de 
Lagarde hat wegen ſeiner Verwandtſchaft mit dem Eintagskönig Theodor von Korſika ſogar 
von Napoleon III. einen Orden erbeten, und Goethe ſich als Kind in eine Abſtammung von 
Kaiſer Karl VI. hineingeträumt“. Alſo eine Kinderſpielerei Goethes muß hier dieſen cigentim- 
lichen Zug bedeutender Perſönlichkeiten belegen helfen. 

Solcher Fälle ließen (id) Dutzende aus dem Buche aufzählen. Es ift eben die Arbeits- 
weiſe mit dem Schubfach. Ein Stichwort taucht auf, aus dem ungeheuren Zettelkaſten wird 
alles das herausgebracht, was fid) zu dieſem Stichwort im Laufe der Sabre angeſammelt hat. 
Man könnte dieſe Spielerei als ſolche hinnehmen, wenn ſie nicht dauernd von der Sache ſelber 
ablenkte. Trotz des großen Wiſſens, trotz der emſigen Arbeit wirkt dann doch das Ganze mehr 
als ein Schaffen von außen her und nicht als ein Geſtalten aus dem Innern der darzuſtellenden 
Perſönlichkeit heraus. 

Zn dieſem Zuſammenhange ſei auch auf das große zweibändige Werk „Große 
Denker“ aufmerkſam gemacht (Leipzig, Quelle & Meyer. 14 &, geb. 16 K). Unter Mit- 
wirkung von ſiebzehn Gelehrten hat es E. von After herausgegeben. In zwanzig Mono- 
graphien werden uns die bedeutendſten philoſophiſchen Syſteme aller Zeiten dargelegt. Ich 
hebe aus den einzelnen Darjtellungen heraus: Platon (von P. Natorp), Ariftoteles (F. Brentano), 
Auguſtinus und Thomas von Aquino (Baumgartner), Giordano Bruno (R. Hönigswald), 
Spinoza (O. Baenſch), Kant (Menzer), Hegel (Falkenheim), Schelling (O. Braun), Shopen- 
Hauer (R. Lehmann), Herbart (R. Lehmann), Nietzſche (A. Pfänder). Vindelband behandelt 
zum Schluß die philoſophiſchen Richtungen der Gegenwart. 


448 Vom weihnachtlichen Büchertifch 


In keiner anderen Wiſſenſchaft ſteht die ſachliche und hiſtoriſche Betrachtung in ſo 
engem Zuſammenhang, wie in der Philoſophie. Die Geſchichte der Philoſophie iſt ein Weg 
zum philoſophiſchen Verſtändnis. Daß trotzdem hier nicht einfach ein neues Kompendium 
der Geſchichte der Philoſophie geſchaffen worden iſt, ſcheint mir ſehr begrüßenswert. Es liegt 
in der Natur der Sache, daß ein Hiſtoriker der Philoſophie ſich zu jenem Syſtem beſonders 
hingezogen fühlt, zu dem er ſelber als Denker das menſchliche Zugehörigkeitsgefühl gewonnen 
hat. Wir erhalten auf dem hier eingeſchlagenen Wege deshalb viel gediegenere Darſtellungen 
der einzelnen Syſteme, und auch die Perſönlichkeiten ihrer Schöpfer treten viel plaſtiſcher 
hervor, als es in einer allgemeinen Geſchichte der Philoſophie der Fall ſein könnte. 

Auch die Reihe unſerer Oichterbiographien hat eine beträchtliche Bereicherung erfahren. 
Für Goethe weiſe ich auf vier Bücher hin, die für einzelne Abſchnitte ſeines umfangreichen 
Lebens bedeutſam ſind. Eliſabeth Mentzel hat in ihrem Buche Wolfgang und 
Kornelia Goethes Lehrer“ (9 Abbildungen, 12 Handſchriftproben. Geh. & 4.80, 
geb. 6 &. Leipzig, R. Voigtländer) nach ben Perſonen geforſcht, die auf den jungen Goethe 
durch Unterricht ſtarken Einfluß gewonnen haben. Der alternde Goethe hat, als et feine Er- 
innerungen ſchrieb, als Hauptlehrer und Hauptbildner feiner Jugend den Vater hingeſtellt. 
Aber ſchon Goethes Darſtellung ließ erkennen, daß da noch andere Helfer vorhanden waren, 
deren Namen mit Ausnahme einiger bis vor kurzem vollſtändig verſchollen waren. Der emſigen 
Arbeit der Verfaſſerin iſt es gelungen, hier eine ganze Reihe bisher unbekannter Exiſtenzen 
ans Licht zu ziehen. „Welch bunte Geſellſchaft bilden dieſe Goethiſchen Lehrer für unſer 
Auge! Zwei Lehrer der Geſchwiſter wirkten am Gymnaſium, ihre erſte Lehrerin ſtand einer 
Spiel- und Strickſchule vor, ein Lehrer unterhielt eine öffentliche, ein anderer eine Privat- 
ſchule. Zwei weitere waren Mitglieder der ſtädtiſchen Kirchenkapelle und empfingen ſpäter 
angeſehene Stellen. Der Reitlehrer war Frankfurter Stallmeiſter, der Informator im Juden- 
deutſch Sergeant beim ſtädtiſchen Militär und zugleich Ordonnanz und Furier beim Kriegs- 
zeugamt. Unter den übrigen Lehrkräften befand ſich noch ein Frankfurter Künſtler, der Leiter 
einer dortigen Fechtſchule, und ein Ausländer des gleichen Faches, ſowie ein ehemaliger Do- 
minikanermönch aus Neapel, ferner die Vorſteherin einer Handarbeitsſchule, in der auch Fran- 
zöſiſch gelehrt wurde. Der Meiſter im Engliſchen kam von auswärts und blieb ungefähr nur 
ein Jahr in Frankfurt.“ So wächſt das Buch über die immerhin bedeutenden Aufklärungen 
für Goethes eigene Biographie zu einer febr lebendigen Darftellung eines feſſelnden Aus- 
ſchnittes aus dem Erziehungsweſen einer großen Stadt des achtzehnten Jahrhunderts. 

Die, wie ich glaube, abſchließende Darſtellung eines febr wichtigen und ungemein po- 
puldren Abſchnittes aus Goethes Leben bringt das Buch Friederike Brion: Eine 
neue Darſtellung der „Geſchichte in Seſenheim“ von Adolf Metz. 
(München, C. H. Beckſche Verlagshandlung. Geb. 4 M.) Goethe hat einmal zu Eckermann 
geſagt (17. Februar 1830), „in den Wahlverwandtichaften fei kein Strich enthalten, der nicht 
erlebt, aber kein Strich fo, wie er erlebt worden; dasſelbe gelte von der Geſchichte in Gefen- 
heim“. So müſſen wir uns darüber klar fein, daß die Darftellung, die Goethe von dem für 
fein ganzes Leben fo nachhaltigen Erlebnis in „Dichtung und Wahrheit“ gegeben hat, ein 
Roman auf hiſtoriſcher Grundlage iſt. Goethe hat ſpäter ſelber Einſpruch dagegen erhoben, daß 
Briefe aus der Straßburger Zeit veröffentlicht wurden, weil die gute Wirkung der in „Dich- 
tung und Wahrheit“ gegebenen Oarſtellung auf ſinnige Lefer „durch eingeſtreute ungujammen- 
hängende Wirklichkeiten notwendig geſtört werden müßte“. So gut man nun des Dichters 
Widerwillen gegen das Aufſpüren von Modellen für feine Dichtung begreifen kann, jo wenig 
darf ſich die Forſchung davon abhalten laſſen, für bedeutſame Vorgänge in ſeinem Leben die 
wirkliche geſchichtliche Wahrheit aufzudecken. 

Adolf Metz unterſucht nun mit großer Sorgfalt das Verhältnis zwiſchen Roman und 
Wirklichkeit. Es fällt da manche feine Bemerkung über die Art dichteriſchen Schaffens. Es 


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ift febr feſſelnd zu beobachten, wie der Dichter bas ſelbſt erlebte Material verwendet. Die 
Unterſuchung führt zu dem Ergebnis, daß der Dichter „in der Tat die geſchichtliche Wahrheit 
nicht nur nach dichteriſchen Geſichtspunkten geſtaltet, ſondern zum Teil aus perſönlichen Gründen, 
aus dem eigenen Bedürfnis der Entlaftung heraus verändert und die Schranken, die auch 
der dichteriſchen Biographie geſetzt ſind, überſchritten hat“. Man ſieht, daß man es hier nicht 
mit einem blinden Goethomanen zu tun hat, ſondern mit einem Manne, dem es wirklich um 
bie Darſtellung der Wahrheit zu tun ift. Um fo wertvoller wird dadurch der Abſchnitt des Buches, 
der ſich gegen jene traurige Literatur richtet, die unter dem Mantel der Wiſſenſchaftlichkeit 
nur das Geſchäft jener beſorgt hat, bie (id) wohlfühlen, wenn es ihnen gelingt, das Strahlende 
zu ſchwärzen. Wir haben eine ganze Verleumdungsliteratur über Friederike Brion, und dieſes 
arme Mädchen, das „den Strahl der Dichtung, der ſie unſterblich machen ſollte, mit dem Glück 
ihres Herzens bezahlen mußte“, hat nachträglich ihre Unſterblichkeit noch damit bezahlen müſſen, 
daß ihr auch die Ehre der Unbeſcholtenheit im Andenken der Nachwelt geraubt wurde. 

Die eindringliche und ſcharfſinnige Darſtellung von Adolf Metz zerreißt nun dieſes 
Gewebe von Klatſch, Verleumdung, und kennzeichnet mit wohltuender Schärfe dieſe geradezu 
gemeine Art literariſcher Miſtkäferarbeit, wie ſie ſich in dieſem Falle an den Namen Froitzheim 
knüpft. Auch Goethe gewinnt als Menſch nur bei dieſer ſcharfen Beleuchtung. Die ſittlich 
frivolen Verkünder ſinnlicher Selbſtherrlichkeit des Genies finden an ihm keine Stütze. So 
fei das ſchön ausgeſtattete Buch warm empfohlen. Dafür, daß die Widerlegung der Ver- 
leumdungen reichlich lang ausgefallen ift, wird man dadurch entſchädigt, daß fie nun endgültig 
abgetan ſind. 

In jene Zeit reichen die Anfänge des Goetheſchen „Fauſt“ zurück. Die bereits ins Un- 
gebeure angewachſene Fauſtliteratur wird um ein bedeutendes, gluͤcklicherweiſe nicht nur philo- 
logiſch reiches, ſondern auch mit ſtarker Einfühlungskraft geſchriebenes Werk bereichert, das 
dazu angetan ſcheint, den weiten Kreis der Gebildeten und vor allem auch die ſtudierende 
Jugend in das wirklich eindringliche Studium der herrlichen Dichtung einzuführen und durch 
fie hindurchzugeleiten. Es ift „Goethes Sou", Nach Entſtehen und Zn- 
halt erklärt von Ernſt Traummann. (Münden, C. 9. Beckſche Verlagsbuchhand⸗ 
lung. Von den beiden Bänden iſt einſtweilen der erſte zum Preiſe von 6 & erſchienen.) 

Das letzte der Goethebücher, bie ich hier beſprechen möchte, führt uns auf „Entlegene 
Spuren Goethes“. Goethes Beziehungen zu der Mathematik, Phyſik, Chemie und 
zu deren Anwendung in der Technik, zum techniſchen Unterricht und zum Patentweſen. Dar- 
gelegt von Max Geitel. (München, R. Oldenbourg. 35 Abbildungen.) — Die Allgemeinheit 
weiß von Goethes Arbeiten auf dieſem Gebiete eigentlich nur, daß er in der Farbenlehre einen 
ganz anderen Standpunkt eingenommen hat, als ihn die exakte Wiſſenſchaft bis heute ver- 
kündet. Die Maler freilich behaupten, daß ſie aus Goethes Buch mehr lernen könnten, als 
aus den ſtreng phyſikaliſchen Werken. Das mag ſeinen Grund darin haben, daß Goethe ſich 
bei ſeinen naturwiſſenſchaftlichen Studien ganz auf die Fähigkeiten der eigenen Sinne verließ 
und im übrigen auf rein philoſophiſchem Wege zu bindenden naturwiſſenſchaftlichen Schlüſſen 
zu gelangen ſuchte. 

„Seheimnisvoll am lichten Tag 
Qägt fid) Natur des Schleiers nicht berauben, 


Und was ſie deinem Geiſt nicht offenbaren mag, 
Das zwingſt du ihr nicht ab mit Hebeln und mit Schrauben.“ 


Hat auf dieſem Gebiete der Farbenlehre die Wiſſenſchaft mit ihrem Spotte nicht ge- 
kargt, ſo hat ſie ihm doch dort, wo es nicht auf die Ergründung von Geſetzen, ſondern auf die 
praktiſche Auswertung ankam, zuerkennen muͤſſen, daß er eine Fülle wertvoller Anregungen 
und Oarlegungen gegeben hat. Für ben Menſchen Goethe ift es bedeutſam, wie ernft und þin- 
gebungsvoll er fid) feiner amtlichen Stellung, die ihn ja zur Leitung der Bergwerk-, der 

Der Türmer XV, 3 30 


450 Vom weihnachtlichen Süchertiſch 


Kriegs-, der Wafferbau- und der Wegebau-Kommiſſion berief, hingegeben hat. Fir ben Dichter 
Goethe bezeichnend iſt es, wie auch die Erfahrungen, die er in dieſer Tätigkeit gewonnen hat, 
(id) alle in feinem Dichtertum widerſpiegeln. Es bleibt das Wunderbarſte an dieſem Menſchen, 
wie alles, was er tut, ſelbſt das ſcheinbar Abſchweifende und Zerſplitternde, ihm dadurch zum 
Nutzen gerät, daß er es wirklich erlebt, ſo daß manches, was bei anderen die Einheitlichkeit 
zerſtört hätte, bei ihm nur dazu beiträgt, ſeine wunderbare, allumfaſſende Harmonie zu ſteigern. 

Für Schiller habe ich auf zwei gute Biographien hinzuweiſen. Ludwig Beller- 
manns „Schiller“ iſt in zweiter Auflage erſchienen. (Leipzig, E. A. Seemann. Geh. 
3 &, geb. & 3.60.) Das Buch tjt mit ſechzehn ſchönen Bildniſſen geſchmückt, von denen einige 
wenig bekannt find, unter denen ich beſonders auf das Zugendbild Schillers von Jakob Friedr. 
Weckerlin hinweiſe, das wohl das ſchönſte Bild Schillers ijt, das wir überhaupt beſitzen. Beller- 
mann hat ſeinen Beruf zu dieſer Biographie durch eine vorzügliche Ausgabe von Schillers 
Werken und durch zahlreiche Einzelarbeiten betätigt. Es iſt ihm gelungen, die Perſönlichkeit 
Schillers aus ſeiner Zeit heraus begreiflich zu machen. Das Buch iſt frei von Phraſen, aber 
von wohltuender Wärme. 

Auch Albert Ludwigs „Schiller. Sein Leben und Schaffen 
dem deutſchen Volke erzählt“ (Berlin, Allſtein & Co. Geb. 3 A), ift ein gutes 
Buch. Die Art ſeiner Einſtellung iſt durchaus berechtigt. Niemand „darf das Leid abſchwächen, 
das dem Lofe dieſes Dichters zugefallen ijt, aber bitteres Unrecht ift ihm geſchehen, als man 
ihm darum nur menſchliches Bedauern zollte. Man hat da die Seiten feines Veſens über- 
ſehen, die als die ſtärkſten, die heldenhafteſten gelten müſſen — wo man das Opfer eines bitteren 
Schickſals beklagte, hatte man feinen heldenhaften Überwinder preifen ſollen“. Bei der Wiirdi- 
gung von Schillers Werken hat ſich Ludwig ganz auf den Standpunkt der Gegenwart geſtellt. 
Es bedeutet das bei ihm, der fid) durch fein Buch über „Schiller und die deutſche Nachwelt“ 
großen Ruf erworben hat, einen edlen Verzicht auf eindrucksvolles Gelehrttun zugunſten einer 
lebendigen Wirkung, die zum Werke des Dichters ſelber führt. 

Neben dem Helden mann der Heldenjüngling. Bald jährt jid zum hundertſten 
Mal Theodor Körners Todestag. Karl Berger, der vortreffliche Biograph 
Schillers, hat zu dieſer Gelegenheit auch ein ſchönes Körnerbuch geſchaffen. (8 Einſchaltbilder, 
64 Abbildungen im Text. Geb. 5 &. Bielefeld, Velhagen & Klaſing.) Das ift ein ſehr liebe- 
volles, gründlich geſchriebenes, bei der literariſchen Würdigung durchaus nicht einfach ver- 
himmelndes Buch, das alle Anwartſchaft beſitzt, das Volksbuch über dieſen Liebling des Volkes 
zu werden. 

Eine ſehr ſchwierige Aufgabe glänzend gelöſt hat Wilhelm Herzog in ſeinem 
Buche „Heinrich von Kleiſt. Sein Leben und fein Werk“. (München, 
C. H. Beckſche Verlagsbuchhandlung. Geb. K 7.50.) Wir haben ſchon zwei bedeutende Werke 
über Kleiſt. Wilbrandts aus einer gewiſſen ſeeliſchen Verwandtſchaft, wenigſtens in dieſe 
verwandten Teile der Pſyche Kleiſts, tief eindringende Studie und Otto Brahms geſcheites 
Buch. Wilhelm Herzogs Werk ſtellt beide weit in Schatten und ſcheint mir überhaupt zu den 
beiten Biographien zu gehören, die wir beſitzen. Einige Stellen aus dem Vorworte des Ber- 
faſſers mögen hier ſtehen: „Ich habe verſucht, den Menſchen Kleiſt in ſeinen Zeitverhältniſſen 
darzuſtellen, zu zeigen, inwiefern ihm das Ganze widerſtrebt, inwiefern es ihn begünſtigt, 
wie et fid eine Welt- und Menſchenanſicht daraus gebildet, vor allem aber: wie er fie als Dichter 
nad außen abgeſpiegelt. Ich habe verſucht, die Zuſammenhänge zwiſchen dem Leben und 
dem Schaffen des Dichters, wo und wie ich fie fab, kenntlich zu machen ... Das Leben eines 
Künſtlers ruht in feinen Werken. Daß er auch leben muß, wie die andern, daß er fid) in den 
Sewöhnlichkeiten des Daſeins mit ihnen zuſammenfindet, er, ber immer und überall einfam 
iſt, daß er, wie Nietzſche einmal ſagt, auch äußerlich ſichtbar werden muß, iſt nur in dem Maße 
intereſſant und darſtellungswert, als er darunter leidet und wie er dieſem Leiden Ausdruck 


Dom weihnachtlichen Büͤchertiſch 451 


zu geben vermochte. Es galt, die durch übernommene Meinungen, Vorurteile und Mißver⸗ 
ſtändniſſe erzeugten Oünſte zu zerſtreuen, mit zweifelhaften Hypotheſen und herkömmlichen 
Anſichten, die einer Prüfung nicht ſtandhielten, aufzuräumen, und nur das Wejentlide des 
äußeren Lebens auf Grund der uns überlieferten Tatſachen feſtzuhalten. Worauf ich alſo 
abzielte, war: das ganz und gar Individuelle, das Einzigartige der Kunſt Kleiſts aufzuzeigen, 
zu beſtimmen, das Problem feiner Perſönlichkeit, (eines Schickſals, feiner Tragik zu analy- 
ſieren, und auf ſein äußeres Leben nur inſoweit einzugehen, als es in Wechſelwirkung mit 
feiner Kunſt ſteht ... Ich wollte nirgends den philologiſchen Apparat ſichtbar werden laffen. 
Die literarhiſtoriſche Forſchung war mir immer Vorausſetzung, nie Ziel meines Strebens.“ 

Das Buch iſt das Ergebnis eindringlichſten Studiums, genaueſter Kenntnis, aber vor 
allen Dingen auch einer ſeeliſchen Einfühlungsfähigleit und einer hohen eigenen künftlerifchen 
Veranlagung. 

Wie einfach ift dagegen die Perſönlichkeit Ludwig Ublands! Einfach liegt darum auch 
für den Schilderer derſelben die Aufgabe da. Dr. Artur Hartmann nennt ſeinen 
„Ludwig Ahland“ (Stuttgart, W. Spemann. Geb. 2 4) ein Volksbuch. In dem „vor- 
liegenden Schriftchen ſoll nicht der Dichter als ſolcher geſchildert werden, ſondern als der Mann, 
der wegen feiner Charaktereigenſchaften jedem Deutſchen als Vorbild dienen kann. 8d ſuchte 
neben einer kurzen Geſamtſchilderung einige Züge aus ſeinem Leben aufzudecken, die ihn 
beffer kennzeichnen als große Abhandlungen, und die geeignet find, ihn dem Herzen näher- 
zubringen“. Uhland ift wie feine Dichtungen ſchlicht und gut, ein echter Volksmann. Die zweite 
Hälfte des Buches bringt eine Auswahl aus Uhlands Gedichten. 
| Auch Franz Grillparzer ftellt bem Biographen keine ungelöſten pſychologiſchen Probleme 
mehr, erſt recht nicht, ſeitdem ſeine Tagebücher und Briefe in ſo großer Vollſtändigkeit vorliegen. 
Durch die Benutzung dieſer neuen Quellen konnte die zweite umgearbeitete Auflage eines 
Buches, das aus der gemeinſamen Arbeit eines franzöſiſchen und eines deutſchen Gelehrten 
entſtanden war, ſich in noch erhöhtem Maße die Anerkennung verdienen, die es bereits in der 
erſten Auflage gefunden hat, eben die befte Darſtellung von Leben und Werken Franz Grill- 
parzers zu fein. Es ift das Buch von Auguſt Ehrhard und Moritz Necker. (Münden, 
C. 9. Beckſche Verlagsbuchhandlung. Geb. & 7.50.) 

Eine problematiſche Natur war auch Annette von Droſte-Hülshoff, problematiſch in 
den innerſten Kräften ihrer eigenartigen und eigenwilligen Seele. Dagegen war es ober- 
flächlich und äußerlich, in ihren Lebensgang, genauer genommen in ihr Verhältnis zu Lewin 
von Schüding, ein tragiſches Problem hineinzutragen, wie es Karl Buſſe getan hat. Die ganze 
innere Haltloſigkeit dieſer ſich geiſtreich gebärdenden Art wird ſchlagend dargetan in der dritten 
Ausgabe des vor einem Vierteljahrhundert zum erſtenmal erſchienenen Buches von ger mann 
Hüffer: Annette von Droſte-Hülshoff und ihre Werke. (Gotha, 
Fr. Andreas Perthes. Geh. 7 &, geb. 8 4. Mit 5 Bilderbeilagen und 2 Schriftproben.) 
Hermann Cardauns, dem wir die Ausgabe der Briefe der Dichterin verdanken, hat 
unter ſorgſamer Wahrung des urſprünglichen Textes dieſer um die Oichterin hochverdienten 
Arbeit doch überall die Ergebniſſe der inzwiſchen ſtark angewachſenen Forſchung über die 
Dichterin beigebracht und fo aufs neue den Ruf des Werkes befeſtigt, die befte Biographie 
Annettens zu ſein. Auf die beſondere Bedeutung der Abſchnitte über das Verhältnis zu Lewin 
von Schüding habe ich ſchon hingewieſen. 

In denſelben Kreis gehört ein liebenswürdiges, anſpruchsloſes Büchlein von Thekla 
Schneider: Schloß Meersburg, Annette von Oroftes Oidterbeim. (Titelbild, 
14 Abbildungen und Handſchriftenproben. Stuttgart, Muthſche Verlagshandlung. & 2.50.) 
Die Verfaſſerin iſt oft Gaſt auf dem alten Biſchofsſitz am Bodenſee und hat dort aus dem Munde 
der Nichten Annettens viele perſönliche Erinnerungen über die Dichterin erhalten. Wir er- 
fahren recht Anſchauliches Aber den alten Freiherrn von Laßberg und das Leben auf der Burg. 


452 | Dom weihnachtlichen S3üderti[d 


Außerdem ijt das Werkchen eine Werbefchrift für Annette, bie vor allem in Sũddeutſchland 
nod immer nicht im gleichen Maße gelejen, wie bewundert wird, Als Feſtgeſchenk auch für 
junge Mädchen verdient das Bändchen warme Empfehlung. 

In die neuere deutſche Literatur führt uns ,£6eobort Storm. Ein Bild 
(eines Lebens“ von Gertrud Storm. (Berlin, Karl Curtius. Geh. & 3.50, 
geb. 5 K.) Es ijt das wohl nur ber erte, die Jugendzeit umfaſſende Teil einer Darſtellung 
des geſamten Lebens von Storm, die wir von ſeiner jüngſten Tochter zu erwarten haben. 
1887, zum ſiebzigſten Geburtstag des Dichters, erſchien die bekannte Würdigung von Paul 
Schüte. Ein Freund hatte dem Dichter gegenüber (id) fo geäußert, „das Buch müßte „Theodor 
Storm in feiner Dichtung“ heißen; denn von deinem Leben hätte ich daraus doch gern mehr 
erfahren“. Storm ſelbſt hat daraufhin feine Aufzeichnungen über feine Jugendzeit aufgenommen. 
Er iſt über den Anfang — veröffentlicht als „Nachgelaſſene Blätter von Theodor Storm“ 1888 
in der Oeutſchen Rundſchau — nicht hinausgekommen. Dagegen bat nun Gertrud Storm 
in feinem Nachlaſſe „Skizzen von einzelnen gewichtigen Perſönlichkeiten und Huſumer Ori- 
ginalen gefunden, die von ſeinen Kindheitserinnerungen unzertrennlich ſind“. Sie ſind in 
dieſe Arbeit aufgenommen, in der überhaupt die Verfaſſerin ihren Vater möglichſt viel ſelbſt 
erzählen läßt. Das anſpruchsloſe Buch bringt das, was es verſpricht — eine lebendige, liebe- 
volle Darftellung von Storms Leben und feinem Werdegang. Auf die äſthetiſche und literatur- 
geſchichtliche Würdigung iſt, nicht zum Schaden des biographiſchen Reizes, verzichtet. 

Hat hier die Tochter dem Vater ein Denkmal geſetzt, fo hat ger mann Lingg 
ein ſolches von einer geiſtigen Verwandten erhalten. Fried a Port hat nicht nur in ihren 
Dichtungen eine innere Weſensverwandtſchaft mit Lingg geoffenbart, ſie hat ihm auch im 
Leben durch viele Jahre ſehr nahe geſtanden. So war ſie denn durch genaue Kenntnis berufen, 
an der Hand eines umfangreichen Materials das lange und auch große Leben Linggs in ſeinen 
geringen äußeren und ſo ſtarken inneren Geſchehniſſen vor uns aufzurollen. (München, Beckſche 
Derlagshölg., geb. 4.50). Auch Frieda Port läßt die eigene äſthetiſche und literaturkritiſche 
Arbeit zurücktreten. Aber auch für die engere Literaturgeſchichte bietet ſie ſehr Wertvolles, 
weil fie die vielen Zuſammenhänge zwiſchen Leben und Dichtung bei Lingg aufdeckt. Lingg 
ſelbſt iſt nach meiner Meinung bei weitem nicht genug geachtet. Seine Werke bergen ſo Schönes 
und Großes, ſeine Phantaſie iſt von einer oft ſo gewaltigen Art, daß man die Gewaltſamkeiten 
gern ertragen ſollte, um zu ihr hinanzukommen. Frieda Ports Buch wird, da ſie für den 
Menſchen fo überzeugend wirbt, auch dem Dichter neue Freunde zuführen. 

Für die ausländiſche Literatur habe ich nur auf zwei Biographien zu verweiſen. Dafür 
ſind dieſe beiden an ſich ausgezeichnete Werke und auch durch den Gegenſtand, den ſie behandeln, 
von beſonderem Intereſſe. Ro man Woerners Henrik Zbſen (München, C. 9. 
Beckſche Verlagsbuchhandlung. 2 Bände, geb. je 9 A), der bereits in der zweiten Auflage 
vorliegt, ift eine ausgezeichnete Würdigung der einzelnen Werke Fbjens und feiner Gejamt- 
perſönlichkeit. Gründlichkeit, Geſchmack, hohe Warte der Beobachtung, weltgeſchichtlicher 
Standpunkt und doch nationales Fühlen find die Kräfte, die den Verfaſſer zu ſeiner tief- 
eindringenden Arbeit, bie in ihrer Art niemals überflüſſig gemacht werden kann, befähigten. 

Auch in zweiter Auflage, die freilich ein Menſchenalter von der erſten getrennt iſt, 
liegt der Be aumarchais von Anton Bettelheim (München, C. 9. Beckſche Verlags- 
huchhandlung. Geb. 10 4). Eine Zeit, die gelernt bat, in Caſanova mehr als den frivolen 
Abenteurer zu ſehen und aus ſeinen früher lediglich pikanten Gelüſten dienenden Erinnerungen 
das Kulturbild einer Zeit herauszufühlen, muß für einen Beaumarchais eine noch viel größere 
Teilnahme aufbringen. Abenteurer und Glücksritter wie jener, iſt Beaumarchais einer der 
geiſtvollſten Köpfe ſeiner Zeit, und vor allem doch auch wirklicher künſtleriſcher Schöpfer. 
Seine beſten Werke leben keineswegs bloß dank der genialen Muſik, zu der ſich zwei der größten 
Meiſter aller Zeiten begeiſtert haben. Sie tragen eigene Lebenskräfte in ſich. Aber man braucht 


Bom weihnachtlichen Büchertlſch | 453 


für dieſes Buch nicht zu werben. Sobald es einer in der Hand hat, lieft er es auch zu Ende. 
Es iſt ſo unterhaltſam und feſſelnd, wie wir es ſonſt nur von ſpannenden Romanen gewöhnt 
ſind, und es entrollt ein Zeitbild von einer Farbigkeit, wie ſie der Kulturhiſtoriker nur ſelten 
erreicht. 

Unter den Biographien bildender Künſtler nenne ich an erſter Stelle das vom öſterreichi⸗ 
ſchen Miniſterium für Kultus und Unterricht herausgegebene große Prachtwerk über g oſe ph 
Führich von Moriz Dreg er (Wien, Artavia & Co., 82 KM). Das Werk zerfällt in zwei 
Teile: einen Textband in Großoktav, der mit 45 Bildern in Lichtdruck und Zinkätzung, darunter 
fünf farbig, geſchmückt ift, und einen in großem Folioformat gehaltenen Tafelband mit 60 Bild- 
tafeln in Lichtdruck und Heliogravüre. Dem großen äußeren Aufwand entſpricht die geleiftete 
Gelehrtenarbeit. Es iſt hier alles an tatſächlichem Material verwendet, was irgendwie auf- 
zutreiben war, und wird nach allen biographiſchen Richtungen hin Erſchöpfendes geleiſtet. 
Auch die kulturgeſchichtliche Einſtellung Führichs iſt trefflich. Aber die Bewertung im einzelnen 
entſcheidet natürlich zuletzt der Geſchmack. Aber ſicher wird dieſer edle Künſtler, deſſen ganzes 
Streben fo ftart auf Verinnerlichung gerichtet ijt, in der Zukunft eine noch ſtärkere Wertſchätzung 
erfahren, als ſie ihm bislang zuteil geworden iſt. Ich hoffe, daß wir im Türmer recht bald 
einmal Bilder von ihm zeigen können. . 

Einem zu wenig Gekannten, der ſich freilich trotzdem ſchon lange der Wertſchätzung 
aller wirklichen Kenner erfreut, gilt das Buch: „Louis Gurlitt. Ein Künſtler⸗ 
leben des neunzehnten Zahrhunderts.“ DSargeftellt von feinem Sohne 
Ludwig Gurlitt (Berlin, Julius Bard. Geh. 18 K. 50 Abbildungen und ein Fakſimile). 
Der Geburtstag Gurlitts jährte ſich in dieſem Jahre zum hundertſten Male. Fünfundachtzig 
Sabre alt iſt er geworden und hat in dieſer Zeit mit hingebungsvollem Fleiße gearbeitet. Die 
Zahl feiner Werke ijt denn auch kaum zu überſehen. Sein Sohn bat fih nicht die Oarſtellung 
der Kunſtentwicklung und des Kunſtſchaffens des Künſtlers zur Aufgabe geſtellt, ſondern eine 
möglichſt genaue Schilderung ſeines Lebens, und zwar ſo weit es irgendwie anging, mit den 
Worten Gurlitts ſelbſt. Stück um Stück rollt ſich nun vor uns langſam dieſes arbeitſame Leben 
eines deutſchen Mannes und echt deutſchen Künſtlers auf, im Kampfe mit feiner Zeit, mit 
den Widerwärtigkeiten, die gerade den deutſchen Künſtler im letzten Jahrhundert ſo ſchwer 
belaſteten, im Kampf auch für die Seinen, aber doch voll freudiger Tat und ſtarken Glaubens. 
„Wenn ich wieder ins Leben käme, ſo würde ich wieder Maler werden“, hat er als Greis oft 
geſagt, denn es gehe doch nichts über das Glück des Künſtlerlebens. — Auch dieſen Künſtler 
gedenken wir unſeren Leſern bald näherzubringen, verweiſen ſie aber jetzt ſchon mit allem 
Nachdruck auf dieſes ſchöne Buch feines Sohnes. Es ift voll der echten Pietät, nämlich dem 
Streben nach unbedingter Wahrheit. 

Einem Vielgenannten, aber meiſtens doch nur in Einzelheiten Gekannten, gilt Os tar 
Levertins Studie „Jaques Callot” (Minden i. W., J. C. C. Bruhns Verlag. Geh. 
1.80 &, geb. 2.80 4). Callot ift entſchieden nicht nur einer der eigenartigſten, ſondern auch 
der tiefdringendſten Künder des Menſchlichen, vor allem dort, wo es an die Geheimniſſe des 
Rosmifchen grenzt. Nicht umſonſt hat E. T. A. Hoffmann ihn fo leidenſchaftlich geliebt. Levertins 
kleines Buch erſchürft in feinem Nachempfinden des Künſtlers Art, was eigentlich bereits die 
berſchriften feiner Rapitel ahnen laffen. Nach einer Umfchreibung von Leben und Werk 
unterſucht er das Spiel der Proportion und zeigt uns nacheinander Callot als Schöpfer im 
unendlich Kleinen, als Schilderer der Maſſe und des Krieges. Ein beſonderer Abſchnitt gilt 
dem überreichen Skizzenbuch in der Albertina zu Wien, das der Verfaſſer Callot ſelbſt ab- 
ſpricht und mit guten Gründen ſeinem Schüler Stefano de la Bella zuweiſt. 

Jetzt, wo wir daran gehen können, den Impreſſionismus des neunzehnten Jahrhunderts 
hiſtoriſch zu würdigen, ijt ein Buch febr willkommen, das mit einer hier noch ſeltenen Sach! 
lichkeit Edmond und Zules de Goncourt in ihrer Bedeutung für die Kunſt bes 


454 Vom weihnachtlichen Büchertifch 


neunzehnten Jahrhunderts unterſucht (Leipzig, Kenien-Derlag, geh. 4 K, geb. 3.50 A). Das 
Ergebnis ſeines Buches kündet Dr. Erich Köhler bereits im Untertitel an mit den Worten: 
„Die Begründer des Impreſſionismus“. In der Tat iſt das Ergebnis dieſer ſtilgeſchichtlichen 
Studie zur Literatur und Malerei des neunzehnten Jahrhunderts, daß die merkwürdigen, 
ſo vielfach rätſelhaft wirkenden Brüder noch vor der impreſſioniſtiſchen Malerei deren Probleme 
pſychiſch erlebt haben und auch in ihren nicht zu unterſchätzenden maleriſchen Schöpfungen 
bereits impreſſioniſtiſch find. Köhler ſtellt die beiden Männer in große geſchichtliche Sujammen- 
hänge, betrachtet ſie als Kunſtkritiker und Hiſtoriker, unterſucht ihre Zeichnungen und Aquarelle 
nach dem Stofflichen und Formalen, betrachtet dann die Kunſt als Zentrum des Lebens und 
wie die Goncourts in ihrer Perſönlichkeit und ihren Lebensbetätigungen die typiſchen Bilder 
bes Artiſtentums darſtellen. So ſchließt das Buch logiſch mit einer Beſchreibung des Kultur- 
ideals ber Goncourts. Die Unterſuchungen find fo ſachlich und wiſſenſchaftlich ernſt geführt, 
daß für jeglichen Standpunkt der Kunſtbetrachtung wertvolle Ergebniſſe zutage gefördert werden. 

Auch für den Muſikfreund deckt der Weihnachtstiſch manche Biographie auf. Sie ſind 
mit einer Ausnahme bei Schuſter & Löffler in Berlin erſchienen, und man kann das Gefühl 
nicht ganz zurüddrängen, daß ber Wunſch des Verlegers, moͤglichſt raſch über die bedeutenden 
Komponiſten Biographien zu beſitzen, bei den Veröffentlichungen mehr als billig mitſpreche. 
Dazu rechne ich vor allen Dingen die überſtürzte Herausgabe einer Biographie Franz Schuberts, 
und auch die Tatſache, daß über zwei kerndeutſche Männer Überfegungen ausländiſcher Bio- 
graphen dargeboten werden. Gewig ijt bes Franzoſen André Pirro Buch über Job. 
Geb. Bach (geh. 5 &, geb. 6 4) eine liebevolle und auch verſtändnisinnige Arbeit. Aber 
ſie bietet doch nichts, was nicht von deutſcher Seite — denn dahin dürfen wir ja doch auch 
Schweitzer rechnen, der von ſeinem zuerſt franzöſiſch geſchriebenen Buch ſelber eine ſelbſtändige 
deutſche Bearbeitung herausgegeben hat — ſchon eindringlicher und ſtärker geſagt worden wäre. 
Sicher hat auch der ſehr bewanderte Bearbeiter der deutſchen Ausgabe, Dr. B. Engelke, in 
ſeine Abertragung manches Eigene noch mit hineingebracht. Aber man bedauert, daß dieſem 
gründlichen Gelehrten und feinſinnigen Muſiker nicht die volle Selbſtändigkeit überlaſſen worden 
iſt. Indeſſen, wie geſagt, Pirros Buch bietet an und für ſich betrachtet ein gutes Lebensbild 
Bachs und iſt zumal für die Würdigung der Kantaten ein beredter Künder Bachſcher Kunſt. 
Gerade für den Liebhaber hätte ich allerdings gewünſcht, daß die Klavierwerke ausführlicher 
beſprochen worden wären. — Das Buch iſt mit dreißig Abbildungen auf beſonderen Tafeln 
geſchmuͤckt. 

Hundertſechzehn Seiten Abbildungen enthält das Buch „Schubert“ von Walter 
Dahms (geb. 12 4, geb. 14 4). Auf dem Titelblatte müßte auch der Name des Profeſſors 
Alois Fellner fteben, denn das Wertvolle des Werkes ſtammt von dieſem. Er hat ein un- 
gemein reiches Material über Schuberts Lebensgeſchichte und das Verhältnis ſeiner Zeit zu 
ihm zuſammengebracht. Dahms eigene Arbeit liegt alfo in der muſikgeſchichtlichen und äſthetiſchen 
Würdigung von Schuberts Werken. Leider bleibt die äſthetiſche Beurteilung vielfach ganz an 
der Oberfläche haften, und für die hiſtoriſche fehlt dem Verfaſſer die ausgiebige Kenntnis der 
einſchlägigen Gebiete. Es iſt für die Geſchichte des deutſchen Liedes vor Schubert in den letzten 
Jahren ſo viel aufklärende Arbeit geleiſtet worden (von Friedländer, Kretzſchmar u. a.), daß 
der Verfaſſer hier ſelbſt aus zweiter Hand viel mehr hätte geben können. Und auch die Wiener 
Muſik zweiten Ranges aus der Zeit unſerer Klaſſiker hätte zur gerechten Beurteilung viel 
ſtärker herangezogen werden müſſen. Man wird den Eindruck nicht los, als ob hier etwas 
überhaftet gearbeitet worden wäre. Zch will bei dieſer Gelegenheit mitteilen, daß die Ver- 
öffentlichung eines dreibändigen Werkes über Schubert aus der Feder von Erich Deutſch im 
Verlag von Georg Müller, München, bevorſteht. Wenigſtens die beiden erſten Bände ſind 
noch für dieſes Jahr angekündigt. Eines der nächſten Türmerhefte wird über beide Werke 
eindringlicher berichten können. 


Vom welhnachtlichen Büͤchertiſch 455 


Beſondere Teilnahme wendet fid) für das kommende Erinnerungsjahr natürlich R i- 
ch ard Wag ner zu. Da fei nochmals betont, daß wir zwei Biographien über ibn beſitzen, 
die auch hinſichtlich des Preiſes die Bezeichnung „volkstümlich“ verdienen, und zwar die eine 
aus der Feder Ferdinand Pfohls aus dem Verlag von Ullfteint Berlin (geb. 6 4). 
Das Buch ift gut bayreuthiſch. — Mehr Selbſtändigkeit ſtrebt die Biographie von Dr. Julius 
Rapp an, der in 112 Abbildungen auch ein ſehr wertvolles Bildermaterial beigegeben iſt (Berlin, 
Schuſter & Löffler, geb. 3 &, geb. 4 4). Das volkstümliche Buch über Wagner ſcheint mir 
keines von beiden zu ſein. Ich meine, gerade das Volk ſtecke noch mitten in den Problemen 
bes Kunſtwerkes und bedürfe einer gründlichen Einführung in dieſe allgemeinen Fragen. 
Und zwar nicht nur als Darlegung der Gedanken Wagners, ſondern kritiſch in ihrem Wert für 
Vergangenheit und Zukunft. Wir ſind nach meiner Überzeugung für die Entwicklung der 
Oper rettungslos verloren, wenn wir da nicht Klarheit ſchaffen. Denn wie ſoll der einfache 
Menſch darüber hinwegkommen, wenn auf der einen Seite immer geſagt wird, daß nur dieſe 
Form bes Muſikdramas bie künſtleriſch berechtigte fei, wo er doch auch von den anderen hidften 
Genuß und künſtleriſche Erbauung findet. Das ift ein Zwieſpalt, der durch eine volkstümliche 
Biographie Wagners nicht vermehrt werden darf, ſondern gerade durch ſie behoben werden 
kann. Wagner kommt weder für die Bedeutung ſeiner Werke, noch für die ſeines geſamten 
Schaffens zu kurz, wenn dieſe künſtleriſche Stellung ſeines Werkes möglichſt ſcharf umſchrieben 
und dadurch anders Gearteten ihr Platz gerettet wird. 

Nun hat Julius Kapp ein kleineres Werk veröffentlicht: Richard Wagner 
und die Frauen (Berlin, Schuſter & Löffler. 40 Abbildungen, geh. A &, geb. 4 4). 
Ich ärgere mich über den Untertitel: „Eine erotiſche Biographie“, einmal weil mir das Herein- 
ziehen dieſes Modewortes faſt wie eine unwürdige Spekulation auf nicht ganz reine Inſtinkte 
vorkommt, die das Buch nicht nötig hat, und zweitens weil der Begriff „erotiſche Biographie“ 
ſprachlich und logiſch verfehlt ift; endlich aber auch, weil hier von einer großen Zahl von Dingen 
die Rede ift, die mit Erotik gar nichts zu tun haben. Alfo wozu? — Der Verfaſſer unterſucht 
mit ehrlichem Streben, Licht und Schatten gleichmäßig zu verteilen, Wagners Verhältnis 
zu den Frauen. Naturgemäß treten Minna Planer, ſeine erſte Gattin, Mathilde Weſendonck 
und Cofima von Bülow, ſeine ſpätere Gattin und Verwalterin ſeines Erbes, beſonders in 
den Vordergrund. Kapp hat ſich mit Erfolg bemüht, die ſtark einſeitige Veröffentlichung des 
Briefmaterials, wie ſie von Bayreuth aus betrieben wird, zu ergänzen, und bietet uns z. B. 
für das Verhältnis zu Minna ausgiebig auch die Auffaſſung dieſer beklagenswerten Frau. Ich 
meine, er habe danach nicht genügend die Stellung des Biographen eingenommen und das 
unterbreitete Material von höherer Warte aus gewürdigt. Überhaupt fehlt mir diefe gufammen- 
faſſende und klärende Tätigkeit des Hiſtorikers. Als Darſtellung des Stoffes aber iſt das Buch 
von Kapp willkommen zu heißen. 

Über Johannes Brahms erhalten wir dann das engliſche Buch von FJ. A 
Fuller-Maitland in einer deutſchen Bearbeitung von A. W. Sturm. (Berlin, 
Schuſter & Löffler, geh. 4 K, geb. 5 4). Auch dieſes Buch ift mit dem reichen Schatz von 150 Ab- 
bildungen geſchmückt. Ich glaube doch, daß wir jetzt, wo der ganze Briefwechſel vorliegt, über 
Leben, Denken und Empfinden von Brahms ganz anderes erfahren müſſen, als hier der ja 
recht gut gemeinte erſte Teil bringt, der auch im übrigen in allen allgemeineren äſthetiſchen 
Bemerkungen manchen Widerſpruch herausfordert. Es dürfte dem Verfaſſer recht ſchwer fallen, 
nachzuweiſen, daß z. B. Bach „eine warme Begeiſterung für das Volkslied gehegt habe und 
daß feine eigenartigſten Themen auffallende Ahnlichkeit mit der echten Volksmuſik aufweisen“. 
Auch bei Mozart müßte man dazu den Begriff des Volksliedes ſehr dehnen (S. 45). Sehr 
gewagt iſt doch auch die Behauptung: „Wer reich an Inſpiration iſt, findet die alten Formen 
fiir ſeine Zwecke völlig genügend.“ Beethoven hat doch gewiß genug Formen geſprengt, und 
Mozart war ebenſo wie Bach auch in vielen Formdingen ein recht gewaltſamer Neuerer 


456 Vom weihnachtlichen Büchertifch 


— Beſſer als der erſte iſt der zweite Teil: die Würdigung und Analyſe der einzelnen 
Werke. 

Ganz ins Zeitgenöſſiſche greift Max Steinitzer mit feiner Biographie von Ri- 
hard Strauß (Berlin, Schuſter & Löffler. Geb. 5 &, geb. 6 A: 56 Abbildungen). Ich 
ſtehe in ſehr vielen Fragen auf einem ganz anderen Standpunkte als der Verfaſſer, aber 
erkenne freudig an, daß hier ein ſehr ernſtes Buch geboten iſt, das ſeine Stellung in der ſicher 
nod rieſig anwachſenden Straußliteratur niemals verlieren wird. Da der Verfaſſer ſehr forg- 
fältig in der Sammlung der Literatur über Richard Strauß iſt, wundert es mich eigentlich 
recht ſehr, daß er meine Aufſätze im Türmer gar nicht kennt und nur meine gelegentlichen 
Arbeiten an anderer Stelle anzieht. Gerade für manche allgemeinen Geſichtspunkte hätte 
fih Steinitzer ſicher mit meinen Meinungen ausführlicher auseinandergeſetzt und der Meinungs- 
austauſch hätte nur fördernd wirken können. 


2. Zur Weltliteratur 


Im fernen Oſten hebt unſer Weg an. Ex oriente lux. Aus dem Oſten kommt das Licht. 
Noch ſcheint das tiefe geiſtige Leuchten und die Erhellung ſeeliſcher Urgründe nicht ausgenutzt, 
in die die Weisheit des Orients eingedrungen iſt. Vielleicht ſtehen wir überhaupt erſt am An- 
fang. Die genauere Kenntnis der öſtlichen Völker, der engere Verkehr mit ihnen erſchließt 
uns langſam den Weg zu ihrer pſychiſchen Renntnis. Wir müffen überall erft an Hochmut ver- 
lieren, müſſen uns ſelbſtlos hingeben, dann erſt kann die Erkenntnis beginnen. 

Staunend [eben wir Ringe fid) ſchließen, wenn wir uns in des Lao-Tfe kleines 
Büchlein „Jie Bahn und der rechte Weg“ verſenken, wie es Ale x ander Ular 
der chineſiſchen Urſchrift nachgedacht hat (Leipzig, Inſel⸗ Verlag. Geh. 4 M, geb. 5 K). In- 
dem der Überſetzer die Sprache aus Nietzſches „Zarathuſtra“ übernahm, ſo ſcheint mir, daß ihn 
eine geiſtige Verwandtſchaft zwiſchen dem alten Chineſen und dem zweieinhalbtauſend Sabre 
jüngeren Deutſchen dazu berechtigte. Lao-Tſe ijt aber dann der Größere, weil weniger Rheto- 
riſche, weil ganz vom Anthropomorphiſchen Freie. Uar ſpricht Gutes und, ſoweit einem Laien 
ein Urteil möglich ift, berzeugendes über die inhaltliche Bedeutung ber fo vielfältig gedeuteten 
alten Texte. Gegen manche der allgemeinen Bemerkungen kann man lebhaften Widerſpruch 
erheben. 

Desſelben Lao-Tſe Werk ijt unter dem Titel „Vom Sinn und Leben“ in der 
neuen Verdeutſchung von Richard Wilhelm erſchienen (Jena, Eugen Diederichs. Geh. 
3 &, geb. 4 M). Schon der Titel zeigt, daß hier ins Moralethiſche übertragen ift, was bei 
Lao-Tſe einfach fachlich abſtraktes Denken ijt. Wilhelm hat für die Überſetzung wie für die Er- 
klärungen ſich durchweg an die chineſiſchen Quellen gehalten. Man tut vielleicht gut, beide 
Arbeiten nebeneinander zu benutzen. 

In der gleichen ſchönen Ausſtattung wie dieſer Band ſind von dem gleichen Gelehrten 
überſetzt „N ung Futſes Geſpräche“ (Sena, Eugen Diederichs. Geb. 5 K, geb. M 6,20). 
Oer Verfaſſer verweiſt für die Art dieſes Buches ſehr geſchickt auf Eckermanns Geſpräche mit 
Goethe und vielleicht noch fachlicher auf bie ſogenannte Loggia Chrifti. Es find auch hier Aus- 
ſprüche und Reden des Meiſters, die die Grundlage der religiöſen und ethiſchen Erziehung 
der konfuzianiſchen Gemeinde gebildet haben und noch bilden. Der Verfaſſer hat hier eine 
außerordentlich große Arbeit mit hingebungsvoller Sorgfalt geleiſtet. Er hat dieſes bedeut- 
fame Lun-Bü in feinem urſprünglichen Sinne zu erfaffen geſucht und eine bei aller Treue 
auch echt deutſche Faſſung angeſtrebt. Um das zu erreichen, iſt er auf den Ausweg gekommen, 
eine doppelte Überſetzung zu geben und neben den möglichſt getreuen Wortlaut eine fachliche 
Aberſetzung in moderner Sprache zu ſtellen. Es ift dadurch auch dem Lefer ermöglicht, gegebenen- 
falls ſeine eigenen Wege der Oeutung zu gehen. 


Vom weihnachtlichen Büchertifch 457 


Aus dieſem Bereich der ſchweren philoſophiſchen Forſchung in den einer fröhlichen Unter- 
haltung führen uns die ,Chinefifden Geiſter- und Liebesgeſchichten“, 
die Martin Bube rüberſetzt hat (Frankfurt a. M., Rütten & Loening. In Seide gebunden 
6,50 A). Dieſes Buch bedeutet eine wirkliche Bereicherung dieſes Literaturgebietes. So viele 
Geiſter- und Geſpenſtergeſchichten wir auch beſitzen, — die hier vertretene Art fehlte ganz. 
Da ift gar nichts von Graufen, von Unnatürlichem, eigentlich auch nichts von Übernatürlichem. 
Es gibt nichts Totes für dieſe Anſchauung. Alles lebt, was in den Bereich meines geiſtigen Lebens 
tritt. So kann für mich alles wirkliches Leben werden und ſich mit mir verbinden. Alles, was 
ich denke, ſehe, phantaſiere, tue. Der Menſch ſteht in alledem inſofern im Mittelpunkt, als ſeine 
Geſtaltform die Sehnſucht aller anderen Weſen zu ſein ſcheint, als in Blume und Tier im Bilbe 
wie im Geſpenſt im engeren Sinne das Verlangen nach dieſer menſchlichen Geſtaltung herrſcht 
und jede Gelegenheit wahrgenommen wird, zu ihr zu gelangen und durch den engeren Verkehr 
mit dem Menſchen aus dem Schein zum Sein zu gelangen. Durch dieſe Einſtellung verliert 
der Verkehr zwiſchen Menſch und Geiſt alles Unheimliche, und es entſteht ein wunderbar be⸗ 
glückendes Allumfaſſen der ganzen Welt, ob ſie nun rein geiſtig, begrifflich oder materiell iſt, 
zu einem einzigen großen Ganzen, in dem ſich jegliche Formen des Lebens daheim wiſſen. 

Dieſe Geijtet- und Liebesgeſchichten find im chineſiſchen Volke entſtanden, wie etwa 
bei uns unſere Märchen. Dann hat fie Pu-Sſung-Ling von feinem Freunde Liu-Hfien, d. i. 
der Letzte der Unfterbliden, geſammelt und etwa um 1680 fein Werk vollendet. Der Titel 
dieſes Buches „Liao-Tſchai-Tſchih-Bi“ würde wörtlich zu deutſch etwa „Merkwürdige Mit- 
teilungen aus der Arbeitsſtube Zuflucht“ lauten. Merkwürdige Mitteilungen ſind in der Tat 
dieſe etwa vierhundert Geſchichten der Originalſammlung, und eine Zuflucht bedeuten fie ge- 
rade dadurch, daß für jeden beladenen Menſchen ſich hier die Hoffnung auftut auf die Erfüllung 
ſeines geiſtigen Sehnens, ſofern er dieſes nur ſo ſtark zu verdichten verſteht, daß es lebendig 
werden kann. Das Buch genießt in China klaſſiſches Anſehen, und ich denke mir das Ber- 
hältnis feines Verfaſſers zu dem von ihm geſammelten Material ähnlich wie das Wilhelm Grimms 
zu unſeren deutſchen Märchen. Die köſtliche Faſſung gehört ihm. 

Martin Buber hat ſechzehn Stücke überſetzt. Zu einigen ließen ſich auch von unſerm 
Beſitz Fäden binüber[pinnen. Aber gerade bei der Verwandtſchaft einzelner Motive tritt bas 
im innerſten Weſen Verſchiedene um fo ſtärker hervor. Ich würde mich freuen, wenn fid) der 
berſetzer entſchließen könnte, uns noch eine weitere Folge zu ſpenden. 

Während für dieſe Werke aus dem Chineſiſchen auf die Originale zurückgegriffen wurde 
— auch Buber hat wenigſtens unter Beihilfe eines Chineſen die Originale verglichen —, iſt 
der altjapaniſche Roman der Muraſaki Shikibu „Die Abenteuer des Prin- 
zen Genji“ (Genji Monogatari) leider nur nach einer engliſchen Überſetzung übertragen 
(München, Albert Langen. Geh. M 4,50, geb. 6 M). Giele engliſche Überfegung rührt ſelbſt 
von einem Japaner her, der natürlich wieder die engliſche Sprache nicht fo vollkommen beherrſcht, 
wie es zu einer künſtleriſchen Leiſtung notwendig geweſen wäre. Wir ſollten doch endlich mit 
bieten Übertragungen aus zweiter Hand aufhören. Wir rühmen uns immer fo febr unſerer 
Aberſetzerkunſt und leben doch für das Oſtaſiatiſche von Gnaden der Franzoſen und Engländer. 
Es handelt ſich bei dem vorliegenden Buche um einen der bedeutendſten Sittenromane der 
ganzen Weltliteratur, gleichzeitig um die eindringliche Darſtellung der klaſſiſchen Zeit Japans. 
Da ſollte man uns nicht mit einem Surrogat abſpeiſen. Wenn das Werk nun ſchon nicht ganz 
gebracht werden ſollte, ſo hätte ein deutſcher Bearbeiter doch vielleicht eine andere Auswahl 
getroffen, und jedenfalls hätte er nicht die von engliſcher Prüderie aufgezwungenen Aus- 
laſſungen nötig gehabt. Indeſſen wird man ja einſtweilen ſich mit dem Vorliegenden behelfen 
mũſſen, hoffentlich aber dauert es nicht lange, bis wir dieſes Werk in einer getreuen Übertragung 
erhalten und dann auch das gleichzeitige und gleichwertige Seitenſtück „Makura-Zoſhi“ (Oie 
Plaudereien unter dem Kopfkiſſen) der boshaft geiſtreichen Sei- Shonagon. Dieſe Werke find 


458 | Vom weihnachtlichen Bücertifch 


jetzt neunhundert Jahre alt, wirken aber mit verblüffender Friſche und würden auch in einer 
Zeit, die für die Literatur des franzöſiſchen Sonnenkönigtums fo viel übrighat, dank ihrer Ber- 
wandtſchaft mit derſelben ein Publikum finden. Wenn unſere Überfeger, ſtatt immer wieder 
bereits Gewonnenes neu zu übertragen, ſich dem noch Unbewältigten zuwendeten, fo würden 
ſie ſich den Dank aller wirklichen Literaturfreunde verdienen. 

; Nachdem uns Friedrich Rofen vor wenigen Fahren feine ganz ausgezeichnete Über- 
tragung der Sinnſprüche „Omars des Zeltmachers“ aus dem Perſiſchen gegeben hat, war es 
doch recht überflüffig, daß Hektor G. Preco ni ſich nochmals die Arbeit machte, zumal et 
nicht auf das perſiſche Original zurückgehen konnte: Omar Khayyam, die Sprüche 
der Weisheit“ (Verlag von Raſcher & Cie., Zürich. Geh. 1M, geb. M 2,50). Dabei 
wollen wir dem Verfaſſer keineswegs die Anerkennung vorenthalten, daß es ihm gelungen iſt, 
recht geiſtvolle Vierzeiler zu prägen. 

Da lobe ich es mir, wenn alte gute Überfegungen durch billige Neuausgaben allgemein 
zugänglich gemacht werden. So ift es febr zu begrüßen, daß der Inſel-Verlag zu Leipzig in 
feine Bibliothek der Romane die ganz ausgezeichnete Übertragung des Tut i- Nameh von 
Georg Rofen aufgenommen hat (& 2,22). Das Papageienbuch gehört zu jenen Ur- 
quellen ber Erzählungskunſt, aus denen die Novelliſtik aller Zeiten und Völker geſchöpft bat. 

In dieſe orientaliſche Umgebung find auch zwei Bücher einzuſtellen, für die wir Mar- 
tin Suber aufrichtig zu danken haben: 1. Die Legende des Baalſchem, 2. die 
Gefhidte des Rabbi Nachman Frankfurt a. M., Rütten & Loening. Geb. 6.M 
bzw. 3 A: geb. je & 1,50 mehr). Buber erſchließt uns hier einen Einblick in die Geiſteswelt 
des Chaſſidismus, jener ganz merkwürdigen Myſtik, die das Judentum vor über hundert Jah- 
ren in Podolien und Ukraine ausbildete. Buber bearbeitet frei die Volksüberlieferung, aber 
doch wohl mit der echten inneren Treue. Kenntnisreiche Einleitungen führen in dieſe Welt 
ein, die wir nicht nur aus allgemeinem Wiſſensdrang, ſondern auch zur eindringlicheren Rennt- 
nis der jüdiſchen Seele ſtudieren ſollten. Wie fremd ift uns doch oft das ſcheinbar fo Nahe! 

Viel vertrauter wirkt auf uns die antike Welt. Wenn man aus den Bemühungen des 
Verlagsbuchhandels auf das Verlangen der Leſerſchaft ſchließen darf, ſo muß parallel mit dem 
Kampf gegen das humaniſtiſche Gymnaſium der Wunſch geben, (id) doch in Geiſt und Gemüt 
der antiken Welt zu verſenken. Es handelt ſich alſo dort offenbar mehr um eine Bekämpfung 
des rein Philologiſchen, hier um den Glauben, daß an die Stelle der mühſeligen Beſchäftigung 
mit den alten Sprachen die genußreiche mit den antiken Geiſtesſchöpfungen treten ſollte. Es 
iſt ja in der Tat auch nicht zu leugnen, daß, von den Sprachwiſſenſchaftlern abgeſehen, heute 
nur wenige der akademiſch Gebildeten, wenn ſie erſt die Schulbank verlaſſen haben, ſich noch 
mit der Literatur der Antike befaſſen. Es liegt das ſicher zum Teil auch an der Art, wie dieſe 
buchhändleriſch angeboten wird. Die Überſetzungen find vielfach zu ſchulmeiſterlich, keine wirt- 
lichen Verdeutſchungen, und zumeiſt in ein Gewand gekleidet, das mehr dem verbotenen Um- 
gang mit der Ejelsbrüde unter der Schulbank, als einer künſtleriſchen Freundſchaft entſpricht. 
Es dürfte die Hoffnung nicht trügen, daß, wenn uns die Schriftſteller der Antike in gleicher 
Weiſe nahegebracht werden, wie die anderer Zeiten, der Literaturfreund ſich wieder emſiger 
mit ihnen befaffen wird. Ich glaube es zuverſichtlich, denn jede auch nur vorübergehende Be- 
ſchäftigung weckt aufs neue das Staunen vor dieſer herrlichen Schönheit, vor Dieter barmoni- 
ſchen Größe und auch vor dieſer echten Lebensweisheit. 

Wie reich an alledem ſind doch die neun Bücher der Geſchichte von Herodot. Welche 
Klarheit der Erzählung! Welche Anſchaulichkeit der Schilderung! Welche Achtung vor dem 
Stoff! Und das iſt doch in hohem Maße Objektivität. Und wie fein tritt die kluge und gebildete 
Perſönlichkeit des Verfaſſers doch überall zutage! Wenn man dieſes wahrhaft klaſſiſche Buch 
in der ſchmucken, prächtig klar gedruckten Ausgabe aus der von Heinrich Conrad heraus- 
gegebenen Sammlung ,Rlaffiter des Altertums“ (München, Georg Miller. Geh. 


Vom weihnachtlichen Buͤchertlſch 459 


je 5 K, bei der Subſkription auf die ganze Reihe 1 & billiger) in der Hand hält, möchte man 
am liebſten gleich ſtundenlang dieſem ſo bedächtigen und auch innerlich warmherzigen Erzähler 
lauſchen. Man hat ganz vergeſſen, wie unterhaltſam ſolch ein Alter ſein kann. Die Überſetzung 
von Goldhagen ift ganz ausgezeichnet. — Sd) will gleich noch den anderen Band aus dieſer 
Sammlung nennen, der mir vorliegt. Es ift „Sueton, Die zwölf Ceſaren“, in ber 
vom Herausgeber aufgefriſchten Uberjegung von Adolf Star (ein Band, geh. 5 A), Diefe 
kühn entworfenen, farbenreichen, dabei klar gezeichneten Charakteriſtiken find gleichzeitig 
Sittenbilder von einprägſamer Lebendigkeit. 

Unermüdlich iſt das Ringen um Homer. Und wahrlich, der Gewinn iſt fo unvergleid- 
lich, daß uns keine Mühe zu ſchwer fein darf, eine Übertragung zu ſchaffen, die ihn uns wirt- 
lich fo nahe bringt, daß wir alles Fremdſein vergeſſen. Vielleicht ift Joh. Heinrich Voß für uns 
doch zu abgegriffen. Hunderte ſeiner Prägungen von bildlichen Beiworten ſind zu einer 
Scheidemünze geworden, die man nur ungern in die Hand nimmt, bei der man jedenfalls 
nicht mehr auf die an fid) ſchöne Prägung achtet. Vielleicht wäre es ja nicht unmöglich, den alten 
Voß ſprachlich aufzufriſchen. Jedenfalls ſollte man, meine ich, das außerordentlich viele Gute, 
das er hat, nicht mutwillig preisgeben. Wenn fid) neue Überjeger an die ſchwierige Aufgabe 
machen, ſollten fle ſich nicht zum Ziele ſetzen, nun immer alles anders zu fagen, als Voß es ge- 
tan hat, ſondern ſollten verfuchen, auf dieſer vorzüglichen Grundlage weiterzuarbeiten. Da 
wird man viel eher ans Ziel kommen. 

Rudolf Alexander Schröder, der in ſchwierigen Formen ſo oft Bewährte, 
hat Homers „Odyſſee“ neu übertragen (Leipzig, Inſel⸗Verlag. Geh. 2, geb. 3 &). 
Es ijt ficher e ine ganz bedeutende Leiſtung, aber doch mutet mich manches fremd und gezwun- 
gen an, was mir bei Voß vertraut und behaglich war. Gewiß mag da die Gewohnheit mit- 
ſprechen. Aber man wird ſich nicht leicht neu eingewöhnen. Nun kommt hinzu, daß auch Schrö- 
der eine Vorliebe für ſeltſame Wortbildungen und vielfach außer Gebrauch gekommene For- 
men hat, die einen ſchließlich ebenſo aufhalten und doch vom Innerſten ablenken, wie es das 
Veraltete bei Voß tut. Manches iſt prächtig, vieles aber viel mehr im Vorte ftedend als die 
doch recht kräftige Anſchaulichkeit des alten Voß. Es würde hier zu weit führen, das im einzelnen 
zu belegen. Da nod eine andere Überſetzung des ganzen Homer angekündigt ijt, wird fid) 
ſpäter Gelegenheit bieten, auf dieſe Fragen einmal eindringlicher zurückzukommen. 

„Die Tragödien des Sophokles“, deutſch von Heinrich Schnabel 
(Leipzig, Dr. Werner Klinkhardt. 2 Bde. Geh. 6 M, geb. T M). Das knappe Wort „deutſch“ 
im Titel ſagt alles, was der Verfaſſer anſtrebte und in hohem Maße erreichte. Gerade bei 
Sophokles haben wir auf der einen Seite die Pedanterie des Gelehrten, auf der anderen die 
ſchier ſündhafte Vergewaltigung von bearbeitenden Dichtern. Wirkliche Umdichtungen ins 
Deutſche haben wir kaum. Auch Wilbrandt ijt wohl zu ſelbſtherrlich vorgegangen. Schnabel 
ijt vom Geiſt der Treue beſeelt. 8n manchem hätte fid) eine noch höhere Formvollendung er- 
reichen laffen. Doch ift es nach meiner Kenntnis jedenfalls die befte Gelegenheit, die Herrlich 
keiten des klaſſiſchen Atheners zu genießen. 

Von Xenophons „Gaſt mahl“ ift eine gute deutſche Übertragung von Benno 
von Hagen bei Eugen Diederichs in gena erſchienen (geb. 2 M, geb. 34). Der Band ift 
mit einer Silenmaske nach einer Terrakotta im Archäologiſchen Muſeum zu Sena geſchmückt, 
in der die koſtbare Häßlichkeit des Sokrateskopfes ins Freikünſtleriſche ausgenutzt ijt. 

Abgelegenere Stüde der griechiſchen Literatur, die zahlreichen Fragmente der Dra- 
matiker, Komiker, Lyriker und reimenden Philoſophen bietet Siegfried Mekler in 
feinem „Helleniſchen Oichterbuch“ (Leipzig, Feit & Co. Geb. 3 M). Die İber- 
ſetzungen ſind ausgezeichnet. Es iſt viel Weisheit und Klugheit in dieſem Bande beſchloſſen, 
und die klare Anſchaulichkeit der bildhaften Rede kann einen mit bewunderndem Neide er- 
füllen. 


460 Vom weihnachtlichen Büchertiſch 


Freilich auch die hingebungsvollſte Pflege der Antike darf uns nicht noch einmal von 
den Quellen unſeres eigenen Weſens ablenken, d. h. wir find ja noch gar nie zu ihnen vor- 
gedrungen, kaum ahnen konnte bis heute die Allgemeinheit, welche Größe des Empfindens, 
aber auch des künſtleriſchen Könnens dem germaniſchen Geiſte im nordiſchen Mittelalter be- 
reits einmal beſchieden war. Nun ſehnen wir uns heute aus dem Wirrwarr und der Berriffen- 
heit, in die uns ſchließlich der vom Norden her eindringende Realismus Fbfens doch geſtuͤrzt 
hat, nach Größe und Stärke, nach epiſcher Kraft. Wir können ſicher nur im Germaniſchen die 
Heilung finden. So geht denn ein Unternehmen des wagemutigen Verlages von Eugen Diede- 
richs in Jena, die Schätze der altnordiſchen Literatur einem breiteren Leſerkreiſe zugänglich zu 
machen, weit über die Bedeutung der bloßen Bereicherung einer Bibliothek der Weltliteratur 
hinaus. Und dieſe Bücher können von einer ſo geſunden Anregungskraft werden, wie kaum eine 
andere Literatur. Wie einſt das Volkslied zum belebenden Geſundheitsquell für unſere neue 
Lyrik wurde. ſo kann dieſe altnordiſche, vorwiegend isländiſche Literatur ein ſtärkendes Heilbad 
werden für unſere erzählende Kunſt. 

Unter dem Geſamttitel „Thule, Altnordiſche Sidtung und Profa“, 
herausgegeben von Prof. Felix Niedner, iſt zunächſt eine Folge von vierundzwanzig 
Bänden geplant. Orei liegen bis jetzt vor. An der Spitze ſteht mit Recht die „Edda“, über- 
tragen von Feli x Genzmer, mit Einleitungen und Anmerkungen verſehen von Andreas 
Heusler (1. Bd. geb. 3M, geb. M 4,50). Mit tiefer Dankbarkeit darf man fagen: Zegt end- 
lich ijt die Edda unfer! Was Simrock, Jordan, Gering getan haben, foll ihnen gewiß nicht ver- 
geſſen werden, aber ein wirkliches Bild von dieſer großartigen altnordiſchen Poeſie gibt uns 
erft diefe neue Übertragung, die weder alt noch modern anmutet, ſondern eben einfach echt 
ijt. — Oer dritte Band bringt die Geſchichte vom Stalden Egil in einer Übertragung von 
Felix Niedner. Das Buch ift von echt heroiſcher Größe, um fo heroiſcher, weil der Held ohne 
Heldenſchönheit ift. Das ſcheint mir urdeutſch, dieſes Wagnis, den körperlich Unſchönen der- 
artig ins Gewaltige, Allbezwingende zu ſteigern. — Als dreizehnter Band in der ganzen Reihe 
ſtehen die Grönländer und Faeringer Geſchichten, die Erich von Men- 
delsſohn übertragen hat (geb. 5 K, geb. M 6,50), ein Buch von recht buntem Inhalt, von 
erſtaunlicher Mannigfaltigkeit der ſtiliſtiſchen Art. Es umſchließt alles, was auf die gewaltigen 
Seereiſen, die Entdeckung Amerikas, die Beſiedelung Grönlands Bezug hat. Monumentale 
Einfachheit ſteht neben einer erſtaunlichen Kompliziertheit des Charakters. Größe, Lift, Ge- 
walt, Treue, Liebe, Haß — es ijt, als feien die Urmächte am Werke. Fd verweiſe mit befonde- 
rem Nachdruck auf dieſe Sammlung, auf deren eindringlichere Würdigung ich mich freue. 

Aus der engliſchen Literatur betone ich zunächſt, daß die von uns wiederholt erwäbnte 
neue Ausgabe von Shakeſpeares Werken, die unter dem Titel „Shakeſpeare in deut- 
(det Sprache“ bei Georg Bondy in Berlin erſcheint, rüftig vorwärtsſchreitet. Hier liegt 
fie bis zum ſiebenten Bande vor. Die Arbeit Friedrich Gundolfs bleibt auf der Höhe. 
Bekanntlich benutzt er Schlegel und Tieck, greift aber beffernd ein. Seine Anderungen be- 
gründet er im Anhang. Einzelne Stücke hat Gundolf auch neu überſetzt. Die Ausgabe be- 
friedigt die verwöhnteſten Anſprüche an Ausſtattung und iſt im Hinblick auf das Gebotene 
nicht teuer. Der geheftete Band koſtet jetzt, wo noch die Subſkriptionspreiſe gelten, 6 4 unb 
im einfachſten der verſchiedenen Einbände & 7,50. — Von Shakeſpeares Vorläufern erſcheint 
Chriſtopher Marlowe mit feiner urgewaltigen, überſchäumenden Tragödie 
Eduard II., die Alfred Walter Heymel in einer neuen Überſetzung darbietet 
(Leipzig, Inſel.⸗ Verlag. Geh. 3 K, geb. A A), Die Übertragung wirkt hier und da durch das 
Streben, den knappen Worten der engliſchen Sprache gleichartige deutſche entſprechen zu laf- 
ſen, etwas gewaltſam, hat aber, wenn man ſich erſt eingeleſen hat, eine beſondere Kraft. Es 
ijt ein praͤchtiges Stück wilden Lebens. 

Zahm und geſittet wirken dagegen Tennyſons Königsidyllen, aus denen 


Bom weihnachtlichen 93üderti[d 461 


uns Emin a Zborahim drei Stück unter dem Titel: Arthurs Kommen, Lancelot 
und Elaine, Guinevere in gut lesbaren Verſen vorlegt (Straßburg, H. 3. Ed. Heitz). 

Eine febr ſchöne Dberfegung, die Treue gegen das Original mit feinem deutſchen Sprach- 
gefühl verbindet, hat dann Dr. Albert Sleum er von Longfellows „Sang von 
Hiawatha“ geſchaffen (Limburg a. L., Gebr. Steffen. Geh. 2 K, geb. 3 4). Eine bio- 
graphiſche Einleitung weiſt nachdrücklich auf den Dichter und fein Werk hin, das heute ent- 
ſchieden zu wenig beachtet wird und den einſtigen Uberſchwang mit allzu großer Gleichgültig- 
keit büßen muß. | 

Mit befonderer Freude verweiſe ich auf zwei Bände von Algernon Charles 
Swinburne, durch die dieſer größte engliſche Dichter der Neuzeit einem weiteren deutſchen 
Publikum nahegebracht wird. Der eine Band „Ausgewählte Gedichte und Bal- 
laden“ ijt aus ben beſten Überfegungen zuſammengeſtellt und gibt einen halbwegs ausreichen 
den Überblick über das ausgedehnte lyriſche Schaffen des Dichters. Er ift mit einer gut unter- 
richtenden, allerdings der wirklichen Bedeutung des Dichters nicht gerecht werdenden Ein- 
leitung des Herausgebers Walter Unos verſehen (Berlin, Erich Reiß. Geh. 5 K, geb. 
7M). Walter Unos hat dann auch eine gute Übertragung des Trauerſpiels Chaftelard 
gegeben (ebenda, geb. A 3,50, geb. K 4,50), und es wäre dringend zu wünſchen, daß er recht 
bald die beiden anderen Teile dieſer gewaltigen Stuart Trilogie folgen ließe. 

In ſchöner Ausſtattung, geſchmückt mit Bildern von Vogeler (Worpswede), 
und zum überraſchend billigen Preiſe von 3 & legt dann der Inſel- Verlag zu Leipzig die Er- 
zählungen und Märchen von Oskar Wilde auf den Büchertiſch. Dieſe prächtig 
geſchriebenen, phantaſievollen und gedankenreichen Schöpfungen gehören zu den ſchönſten Gaben 
ber geſamten modernen Märchenliteratur, wenn fie auch nicht gerade für Kinder geeignet find. 

Etwas Rührendes haben die Bemühungen unferer Überfeger um € ante; rührend, 
weil ich trotz mancher Büchererfolge nicht an den rechten inneren Erfolg glaube. Man achtet 
und bewundert Dante fo ſehr, daß man in ſcheuer Verehrung ſich von ihm fernhält. Leſen, 
leſen! Ja, wenn es ohne die Kommentare ginge! Aber wie ſoll man ſich mit den vielen Namen 
und dergleichen helfen? Ich glaube, es ijt wohl ein gutes Mittel, zunächſt mit Epiſoden aus 
Dante zu beginnen. Dadurch wird dann erfahrungsgemäß das Verlangen nach dem Ganzen 
geweckt. Gewiß liegt das, wodurch Dantes Gedicht einzigartig ijt — das gewaltige Staats-, 
Kirchen- und Weltgebäude — im Ganzen und ift nur durch das Ganze zu gewinnen. Aber das 
Ewige in Dante liegt im rein Oichteriſchen; dadurch gehört er allen Zeiten und Völkern. Zu 
dieſem aber führen uns zuerſt einzelne Epiſoden. Aus dieſem Geſichtspunkt hat Stef an 
George feine Übertragungen aus der „Göttlichen Komödie“ gegeben (Georg Bondi, 
Berlin. Geh. 3 A. geb. M 4,50). Das find ganz herrliche Stücke. — Umfangreicher und fyfte- 
matiſcher ift die Auswahl, die Fran z Gettega ft getroffen hat: Dantes Göttliche 
Komödie. Ausgewählte Abſchnitte aus dem Gedicht mit Überſetzung, Erklärung und Ein- 
leitung“ (Leipzig, Dieterichſche Verlagshandlung. Geh. AM, geb. 5 4). Etwa ein Fünftel 
des Ganzen iſt geblieben, die Striche fallen auf das Scholaſtiſche und Theologiſche. In den Er- 
läuterungen freut mich, daß der Verfaſſer an manchem Alten feſthält und auch in Beatrice 
die leibhaftige Geliebte des Dichters ſieht. Daß bie Überſetzung in reimloſen fünffüßigen Zam- 
ben geboten wird, bildet mir — wie bei Witte und Philalethes — ein unüberwindliches Hinder- 
nis. „Der Überſetzung habe ich den Originaltext gegenübergeſtellt, in der Erwägung, daß eine 
Überfegung, auch die befte, niemals das Original zu erſetzen imſtande ift, und daß gerade der 
wunderbare, dem jeweiligen Gedanken aufs genaueſte fih anſchmiegende Klang der Dantifden 
Verſe ein ganz weſentliches Element des Genuſſes bildet, den die Lektüre des Gedichtes dem 
empfänglichen und feinfühligen Lefer gewährt.“ Settegaſt folgte mit dieſem gut begründeten 
Gegenüber von Urtext und Überfegung dem Vorgange Richard Zooz manns, deffen vier- 
bändige Ausgabe von „Dantes poetiſchen Werken“ bereits in zweiter Auflage 


462 Dom welhnadtliden Büchertifch 


vorliegt (Freiburg, Herder; geb. 20 M). Für diefe wunderſchöne Ausgabe darf man bie Lobes- 
töne ſehr hoch greifen, zumal Zoozmann in der Zwiſchenzeit nicht geraſtet hat und ſeine faſt 
dem einzelnen Worte folgende Parallelüberſetzung hinſichtlich der Treue wie der Schönheit 
ſtetig verbeſſert hat. Die neue Ausgabe ijt des weiteren vermehrt um Einführungen und Er- 
läuterungen aus der Feder Franz Sauters, der feinen Beruf dazu durch eine vorzügliche 
Ausgabe von Dantes „Gaſtmahl“ erwieſen hat. Buchtechniſch iſt es ſehr geſchickt eingerichtet, 
daß man den Kommentar in beſonderem Heft neben dem Buch liegen haben kann, daß er aber 
doch dem Buche feſt eingeheftet iſt. Ein prächtiges Feſtgeſchenk. — Eine ſehr willkommene 
Gabe ift auch der ſchön ausgeſtattete Band „IFtalieniſche Lyrik des Mittelalters“ 
(Dresden, Alex. Köhler. Geh. 3 K, geb. AM). Die Übertragungen aus der klaſſiſchen italie- 
niſchen Lyrik des 12.—15. Jahrhunderts, die Artur Altſchul bietet, ſind ſchön, die Auswahl 
zeugt von guter Sachkenntnis. Nur hätte ich ſie weſentlich größer gewünſcht, oder, wenn der 
Umfang nicht überſchritten werden ſollte, wären ftatt der Gedichte Dantes und Petrarkas, 
die man auch anderswo findet, andere zu wählen geweſen. Sehr willkommen wäre auch hier 
die Beigabe des Urtextes geweſen. 

Aus der franzöſiſchen Literatur erhalten wir die köſtliche Novelle von „Aucaſſin 
und Nicolette“ durch F. von Oppeln-Bronikowskis oft bewährte Überſetzungskunſt 
(Leipzig, Amelang. 1 &). In der ganzen mittelalterlichen Literatur ſteht diefe wunderlieb⸗ 
liche Liebesmär aus dem 13. Jahrhundert wie eine duftende La-France-Roſe in einem Bauern- 
garten. — Sehr begrüßenswert ijt auch die neue Übertragung von „Kameaus Neffe“ 
des Diderot, die Guſtav Rohn nach dem 1891 aufgefundenen Original gibt (Wien, 3. Eifen- 
ſtein. 3 J£). Goetzes Übertragung ijt unter Umftänden zuſtande gekommen, unter denen eine 
wirklich treue Überſetzung unmöglich war. So, wie ſie jetzt erſcheint, wirkt diefe Satire wie 
ein neues Werk und beftätigt erft recht Goethes Urteil: „Diderot ift Diderot, ein einzig Zn- 
dividuum. Wer an ihm oder feinen Sachen mäkelt, ijt ein Philiſter.— Rouſſe aus „Emil“ 
iſt in einer zweibändigen Ausgabe in der trefflichen Volksausgabe bei Alfred Kröner in Leipzig 
(2 M) erſchienen. Leider bat uns das Zubiläumsjahr keine gute Ausgabe der „Bekenntniſſe“ 
gebracht. — Zum Abſchluß gebracht ijt jetzt auch vom Inſel- Verlag in Leipzig die ſechzehn 
Bände umfaffende Ausgabe von Balzacs „Menſchlicher Komödie“ (je 4M der Band). 
Laſſen manche Teile der Übertragung leider auch viele Wünſche unbefriedigt, ſo iſt es doch 
ſehr willkommen, dieſes nach Plan und Ausführung riefenbafte Werk nun fo bequem kennen 
lernen zu können. — 

Zum Schluſſe noch zwei Anthologien, die ihr Schwergewicht aus deutſcher Literatur 
erhalten. „Bon unten auf. Ein neues Buch der Freiheit. Geſammelt und geſtaltet 
von Franz Diederich“ (Berlin, Buchhandlung Vorwärts. 2 Bde., 6 JC). Der Verlag jagt 
ſchon, daß dieſe Sammlung aus der Lyrik der letzten anderthalb Jahrhunderte Tendenzen hat. 
Aber es iſt keine Parteitendenz, ſondern Weltanſchauung. Darum ſollte das Buch, das ein 
Symbol ijt des dauernden Freiheitskampfes der Menſchheit, auch Gegnern der fogialdemotrati- 
ſchen Partei willkommen ſein. Man kann ihre Form des Freiheitskampfes mißbilligen und wird 
doch den Kampf ſelbſt für nötig halten. Die Auswahl iſt ſehr geſchmackvoll; das Buch iſt mit 
vierundzwanzig Bildern von Klinger, Rethel, Fidus, Menzel, Steinlen, Thoma u. a. geſchmückt. 

Nachdrücklich empfehle ich ,Garben und Kränze. Gute Kunſt und Literatur 
fir Schule und Haus. Herausgegeben von Heinrich Correy“ (Leipzig und Aarau, Edw. Ew. 
Meyer. Geb. A 6.50). Es ijt hier im weſentlichen aus neuerer Literatur ein ausgezeichnetes, 
ungemein vielſeitiges Leſebuch zuſtande gekommen, für Verſtand und Seele eine koſtbare 
Nahrung. 27 Bildertafeln, zum Teil farbig, liegen bei und bieten auch ſchöne Augenweide. 
Es kommt gar nicht darauf an, daß man ſelber vieles anders ausgewählt hätte. Die geleiſtete 
Arbeit iſt gut, und wohlhabende Leute ſollten jeder Volksſchule alljährlich mehrere Stück dieſes 
Buches für Preiſe Hitten, 


Dom welhnachtlichen Buͤchertiſch 463 


3. Neue Erzählungsbücher 


Wir verweiſen hier nur auf eine beſchränkte Zahl von Werken, die auch durch ihre 
Stoffe aus dem Gewohnten herausragen und andererſeits auch Dichter uns näher bringen, 
die bislang noch weniger bekannt ſind. S 

Heinrich Federer: Pilatus. Eine Erzählung aus den Bergen (Berlin, 
G. Groteſche Verlagshandlung; geb. 4 4). Dieſer Schweizer, der bis ins reife Mannesalter 
geſchwiegen hat, fpendet nun aus aufgehäuftem Reichtum. Den beiden erſten Büchern („Lach- 
weiler Geſchichten“, „Berge unb Menſchen“) folgt hier die reifere Gabe. Das bewußte Können 
ift geſteigert, aber die naive Friſche iſt geblieben. Ein wunderſchönes Gemiſch entſteht fo, etwas 
von jugendlicher Überlegenheit und köſtlicher Anbefangenheit, fo daß man den Menſchen hinter 
dem Künſtler liebgewinnt. Wir haben nur ganz wenige folder Verſchwender, wie dieſer 
Federer einer iſt. Eine Fülle von Geſtalten wandeln an uns vorüber, unbedingt ſicher ſind ſie 
geſehen, mit wenigen Zügen feſtgehalten. Nur an der Hauptgeftalt modelliert er lange. Die 
anderen ſind gezeichnet — hier iſt Bildhauerarbeit. Langſam entwickelt ſie ſich aus dem Ton. 
In den Umriſſen iſt ſie von Anfang an ſicher hingeſetzt, aber dann beginnt jene Arbeit, bei 
der ſchließlich jeder Fingerdruck zum Charakteriſierungsmittel wird. 

Es hat noch kein Dichter fo leidenſchaftlich (tart die Seele der Gebirgswelt mit der 
Menſchenſeele zur Einheit verbunden wie Federer. Dieſer „Pilatus“ trägt ſeinen Namen vom 
Heimatberge. Auf einer Matte an den Hängen des Pilatus ſteht fein Saterbaus. Der ganze 
Trotz dieſes Berges, aber auch die Nebeldünſte, die verwirrenden, verdeckenden, enthillenden 
und lockenden, die um das Felsgeſtein dieſes trutzigen Alpenwächters brauen, liegen um 
Seele, Geiſt und Herz dieſes Bergſohnes. Eigentlich ijt der tiefſte Zug feiner Natur eine über- 
ſtarke Liebe, die nur deshalb ſich nicht entfalten kann, weil die gleichſtarke Gegenliebe fehlt. 
Kämpfen iſt die innerſte Lebensnotwendigkeit für eine ſo mit Kräften geladene Natur. Wo 
ſoll aber ein ſolcher Menſch hin, wenn ſich kein Gegenkämpfer ſtellt? Da wird vieles, was 
köſtliche Frucht tragen könnte, zur zerſtörenden Kraft. So kann ſich auch dieſer menſchliche 
Pilatus nicht freiſprechen vom Tode eines lieben Freundes, vom frühen Hinſterben ſeines 
geliebten Weibes. Und fein kühner Kampf gegen die Gewalten ber Natur fteigert nur deren 
verheerende Kraft für das Gemeinweſen. 

Ingrimm im Herzen, ein Haſſer der Heimat aus übergroßer Liebe zu ihr, verläßt er 
ſie und zieht ins Hochgebirge, mit dem er geradezu zur Einheit verwächſt. Menſchen, die das 
Bergheimweh im Herzen tragen, finden in ihm einen unvergleichlichen Führer, er in ihnen 
die verwandten Seelen, die das Leben ihm bislang vorenthalten hat. Und daraus wächſt 
langſam in ihm empor die Liebe zu den Menſchen, das Verlangen nach ihnen. Demut und 
Güte im Herzen, kehrt er in die Heimat zurück, die aber den Verwandelten noch weniger ver- 
ſteht und mit bitterem Haffe verfolgt. So wird er wieder ein Einſamer. Zuletzt iſt es nur 
noch das Tier, ja eigentlich die lebloſe Kreatur, der er ſeine übergroße Liebe ſchenken kann, 
und in dieſer Liebe opfert er ſein ſtarkes Leben für einen Einſatz, der der gewöhnlichen Welt 
als ein Nichts erſcheinen muß. 

Gerade darin, daß diefe pſychologiſch ſchwer zu umſchreibende Geftalt nur langſam 
zur Deutlichkeit herauswächſt, offenbart (id) die Meiſterſchaft des Erzählers. Der Künſtler 
foll nicht deutlicher fein als das Leben, und wo dieſes Ratfel gibt, ſoll er nicht voreilig Ge- 
heimniſſe deuten wollen. Aber alle Offenbarungen des Lebens feſtzuhalten und durch ihre 
rechte Einordnung in die beſtummauerte Seele Licht hineinzubringen, das iſt ſein Werk. Ich 
erquide mich an dieſer inſtinktiven Sicherheit, mit der dieſer Erzähler feine Charatteriftit an- 
legt und die Mittel dazu nutzt; wie er mit ſpielender Hand eine große Reihe von Menſchen 
unvergeßlich charakteriſiert, fie an einem einzigen kleinen Zuge, einer Redensart, einer Körper- 
bewegung für immer kenntlich hinſtellt; wie er verwickelteren Naturen aber auch ſelber mit 


464 Vom welhnachtlichen Büͤchertiſch 


einer gewiſſen Scheu nahetritt und den Leſer nur allmählich in die eindringen läßt, ſo daß 
dieſer gewiſſermaßen bie Menſchenforſcherarbeit miterlebt, die der Künſtler geleiſtet hat. 
Alfons Paquet: Kamerad Fleming. Roman. (Frankfurt, Rütten & 
Loening; geb. 3 A, geb. 4 K.) 9er Verfaſſer dieſes Buches tritt feit einiger Zeit bedeutſam 
hervor. Zeder der zahlreichen Aufſätze, die man von ihm findet, zeigt einen eigenartigen, 
wiſſensſtarken, ſprachkräftigen Mann, der eine tiefe Weltanſchauung mit außerordentlich ſcharfer 
und farbenfreudiger Sehfähigkeit verbindet. Auch dieſer Roman ift eine febr ernſt zu neh- 
mende Leiſtung. Er gehört zu den wenigen Büchern, in denen das Erotiſche faſt ganz fehlt 
und die ein durchaus in der Zeit liegendes Problem bei aller Berückſichtigung der Tages- 
geſchichte, frei von jedem journaliſtiſchen Geiſte behandeln. Karl Fleming trägt ſicher ſehr viel 
von Alfons Paquet in ſich, vielleicht ſogar auch in der äußeren Entwicklung. „In wenigen 
langſam vorbereiteten Entſcheidungen, die ihn dann jedesmal mit der Kraft elektriſcher Schläge 
vorwärts trieben, hatte fid) fein Zugendſchickſal merkwürdig entfaltet.“ Nach der Schule, die 
ihn bis zum Einjährigen gebracht, ift er einige Jahre in einem Gefchäfte tätig, geht dann nach 
Amerika, arbeitet ſich dort ſchließlich bei einer Zeitung empor, faßt den Entſchluß, nachdem 
ihm das Leben reichliche Erfahrungen gebracht hatte, nach Deutſchland zurückzukehren, um 
zu ſtudieren. Er fühlte „die Kraft und den Beruf in fic, ſtatt Werkzeug irgend eines geld- 
verdienenden großen Betriebes ein Erforſcher der Erde zu werden“. Dann entſchließt er 
ſich für die Staatswiſſenſchaften. In ernſtem, hartnäckigem Studium gelangt er ans Ziel. 
Die Begegnung mit einer Bildhauerin bringt ihm ein eigenartiges erſtes Erleben des Weibes. 
Eigenartig deshalb, weil ihre ſtarke Seele ihn zur Freundſchaft und doch wohl auch zu einer 
mehr verhaltenen Liebe zwingt, während ihn ihre unſchöne Körperlichkeit abſtößt. Erſt als 
ein früher Tod ſie hinweggerafft hat, fühlt er, daß ſie doch ſeinem ganzen Weſen gehört hatte. 
Unmittelbar vor dem Examen lieſt er Zeitungsberichte über die Ferrerunruhen in Paris. 
Was ijt das: Straßenkundgebung? Ihn, in feiner Dumpfheit von Bücherwiſſen und unge- 
trauertem Schmerz wehte plötzlich das Wort an, wie der Klang einer großen Zeit. Vas ſollte 
er hier zwiſchen Büchern und Mauern? — Mit nicht mehr Gepäck, als in ſeinem Handkoffer 
Platz hatte und zweihundert Mark in barem Gelde fuhr er am ſelben Mittag nach Paris.“ 
Er will hier eine Woche lang den Beobachter ſpielen. Ohne recht zu merken wie, wird aus der 
beobachtenden die tätige Anteilnahme. Bei einer Demonſtration hatte er aus perſönlichen 
Gründen einen der angreifenden Polizeihunde niedergeſchoſſen. Dadurch wird er ſo etwas 
wie ein Held für gewiſſe Kreiſe. Etwa ungünſtige Folgen dieſer Tat von anderen auf ſich 
ſelber abzulenken, bringt ihn in die treibenden Kreiſe des Aufruhrs. Ohne eigentliche Leiden- 
ſchaftlichkeit, mehr aus einem faſt wiſſenſchaftlichen Sachintereſſe läßt er ſich dazu gewinnen, 
unter den deutſchen Arbeitsgenoſſen Propaganda für eine Demonſtration zu machen und 
bei bevorſtehendem Aufzug die Kolonne der Angeworbenen zu führen. 
Ein ganz eigenartiges Leben und Empfinden umfängt ihn. „Hier ruhte er nun in ſeinem 
Bette in Paris, wie auf dem Rücken einer gigantiſchen Welle, mitten in der fid) auseinander- 
ſpaltenden Stadt, die ihre Abgründe zeigte. Eine ſtarke, neue, fruchtbare Idee hatte ihn in 
ihren Bann gezogen, doch gleichzeitig hielten ihn die Zweifel am alten Gedanken feſt. Noch 
fühlte er ſich ſtark genug zu einer beſtimmten Wendung. Dieſer Abend noch und der morgige 
Sonntag war ihm zum Sehen, zum Überdenten vorbereitet. Er wird durchführen, was er 
ſich vorgenommen und dann wiſſen: entweder — oder.“ Er täuſcht ſich. Die Maſſe, der er 
ſich hingegeben, läßt ihn nicht mehr los. Der zum Erkennen Berufene verlor ſich ſelbſt, indem 
er ſich dem gärenden und formloſen Element auslieferte. Wohl wird er geiſtig frei, aber den 
Folgen ſeiner Handlung kann er ſich nicht entziehen. In einzelnen ſeiner Augenblicksgenoſſen 
iſt Mißtrauen und Haß gegen den ſelbſtändig nach eigenem Ermeſſen handeln wollenden 
Fremden erwacht, und ſo wird er unmittelbar vor der Abreiſe von einem Fanatiker erſchoſſen. 
Es iſt ganz merkwürdig, wie ruhig und ſachlich dieſes Erſtlingsbuch geſchrieben iſt. 


Bom welhnachtlichen Büchertifch 465 


Aber man fühlt auf jeder Seite, daß ein ftarkes leidenſchaftliches Empfinden hier durch eine 
vielleicht friibreife, aber jedenfalls durchaus natürlich wirkende Selbſtzucht und künſtleriſche 
Einſicht gebändigt wird. Nur ein Streben, alles und jedes zu jeder Zeit farbig und als über- 
tragenes Bild ſehen zu wollen, wobei es freilich zu ſehr ſchönen Bildern kommt, könnte leicht 
zu einer Manier werden. 

Hermann Kurz: Die Guten von Gutenburg. (München, Verlag Süd- 
deutſche Monatshefte; 4 K.) Der Verfaſſer, der gut täte, feinem Namen zur Unterſcheidung 
vom älteren Schwabendichter Baſel oder Schweiz hinzuzufügen, wirkte Iden in feinen erſten 
Büchern „Die Schartenmättler“ und „Stoffel Hiß“ unter den gleichzeitigen Erzählern durch 
feine Sprache, wie ein Holzſchneider unter den farbenſchillernden Malern und den nach male- 
riſchen Wirkungen ſtrebenden Zeichnern und Radierern unſerer Tage. Das erſtgenannte Buch 
iſt 1907 erſchienen, und fünf Jahre ſind für die heutige literariſche Mode eine lange Zeit. 
Inzwiſchen iſt das Erzählen als ſolches wieder mehr in Anſehen und Übung gekommen, das 
Stoffliche wird ſo ſtark in den Vordergrund gerückt, daß als neueſte Errungenſchaft der ganz 
Modiſchen der Abenteurerroman und die eindringliche Lebensdarſtellung von internationalen 
Hoteldieben und ähnlichen Größen unſeres Lebens bevorſteht. 

Hermann Kurz hat alſo nur derſelbe zu bleiben brauchen, um noch einmal ganz modern 
zu werden. Modiſch wird er wohl nie ſein, denn dazu iſt er zu echt, iſt ſeine Sprache zu wenig 
Mache, ijt feine Sarítellung von einem zu grimmigen Ernſt erfüllt, Zwar fein Stil zeigt viel 
Bewußtes. Man vermeint, den Zwang zu [püten, den fih die Jugend antut, um ja nie über- 
zuſchäumen, nie weich zu ſein, niemals üppig zu verſchwenden. Bei jenen erſtgenannten 
Büchern ſtörte mich das, weil ich trotzdem zu ſtark den jungen Menſchen fühlte, der ſie ſchrieb. 
Bei den „Guten von Gutenburg“ wirkt das Ganze natürlicher, weil notwendiger. Notwendig 
für den Verfaſſer, auf deſſen Seele ſich die Bitterkeit der zornigen Liebe niedergelegt hat. 
Kurz liebt mit ganzer Seele das Alemannenvolk in den badiſchen und ſchweizeriſchen Winkeln 
am Oberrhein, und aus dieſer heißen Liebe entſpringt der blutvolle Haß, der nur ſchwer ver- 
biſſene Wut über die Schwächen, die kleinen und großen Schlechtigkeiten, die auch hier das 
ganze Leben durchdringen, die einen darüber ſtehenden Beobachter vielleicht um fo mehr ver- 
ärgern können, als das füdlichere Blut zwar nicht zu einem befreienden Leichtſinn, wohl aber 
zu jenem Gehenlaſſen ausreicht, das das Kennzeichen des ſchlimmſten Philiſtertums iſt. Da 
gibt's nun nur eins für den Künſtler: er muß zum Humor gelangen. 

Ich glaube, Kurz ift auf dem Wege dahin. Einſtweilen ift er wohl noch zu jung dazu; 
er ärgert ſich ſelber zu ſehr und bekommt den bitteren Geſchmack auf der Zunge nicht los. So 
bekommt denn auch der Leſer noch des Galligen genug. Aber die Kraft der Schilderung von 
Vorgängen, der ſicheren Geſtaltung von Menſchen, iſt ſo bedeutend, daß ſich eine große Zahl 
der Geſchehniſſe und Menſchen aus dieſem Buche einem unvergeßlich einprägen, wie eben 
Holzſchnitte von der ſicheren Hand altdeutſcher Meiſter. An dieſer unbedingten Sicherheit 
und Wahrhaftigkeit, mit der jeder einzelne Vorgang erfaßt iſt, liegt es auch, daß ſich die ſcharf 
getrennten Einzelbilder, deren jedes vollſtändig abgeſchloſſen in ſich ſteht, nachher doch zum 
Ganzen runden. Aus Geſchichten und Vorgängen in einem Dorfe wird die Entwicklungs- 
geſchichte einiger Menſchen. Za hinter dieſer Entwicklungsgeſchichte einiger Menſchen taucht 
ſogar etwas wie Menſchheitsgeſchichte auf. Und darin liegt das Troſtvolle. Hat man zunächſt 
vielleicht mit einem gewiſſen Bedauern feſtgeſtellt, daß dieſer Verfaſſer, der das Zeug in fid) 
hätte, das Schildbürgerbuch von heute zu ſchreiben, ſo ganz auf das wohlige Behagen verzichtet, 
fo freut man fid) deffen am Schluſſe, denn das Behagen am Schildbürgertum will keine Ent- 
wicklung zum Höheren. Dieſer Zorn aber treibt aufwärts, und da er im Grunde nur eifernde 
Liebe iſt, ſieht er zuletzt auch überall die Zeichen eines troſtreichen Beſſerwerdens. 

Der heilige Zudas. Roman von Ernſt Hladny. (Leipzig, Dieterichſche 
Verlagsbuchhandlung Theodor Weicher; geb. A 4, geb. 4 4.) — „Was ift das ng das 

Oer Türmer XV, 3 


466 Vom weihnachtlichen Büchertifch 


die Deutſchen zu Deutſchen macht?“ — Das ijt die Frage, die immer wieder aufgeſtellt und 
von jedem einzelnen nach ſeiner Art ſowie nach den verſchiedenen Entwicklungsſtufen, auf 
denen ſie ſich befinden, anders beantwortet wird. Der Grundgedanke aber iſt doch der mit 
Schillers Worten dem Buch vorangeſetzte: „Der Geiſt iſt's, der den Körper baut.“ 

Der Held des Buches, Duſchan Rokiantic, wächſt als Sohn eines öſterreichiſchen Generals, 
eines geborenen Kroaten, heran und ſteht dank der ſyſtematiſchen Erziehung zum Slawen, 
die ihm ſein Vater angedeihen ließ, als Fremder unter den deutſchen Mitſchülern in Wien. 
Seine geiſtige und ſeeliſche Veranlagung treibt ihn aber zum Deutſchen, in dem er die Be- 
friedigung ſeines innerſten Verlangens findet. Vor allem iſt es natürlich die deutſche Kunſt, 
das deutſche Denken, was ihn gefangen nimmt. Nach dem Tode des Generals erfährt er, 
daß dieſer nicht ſein Vater geweſen, daß ihn ſeine Eltern zur Pflege angenommen haben, als 
er, ein Säugling, neben der Leiche ſeiner erſchlagenen Mutter drunten in Kroatien aufgefunden 
worden war. Trotz aller Bemühungen gelingt es ihm zunächſt nicht, Aufſchluß über ſeine 
Herkunft zu gewinnen, aber immer entſchiedener wird ſein Wahldeutſchtum. Freilich hat 
er damit bei den zielbewußten Erbpächtern des Deutſchen wenig Glück. Seine ſtarke Be- 
tonung des Geſühlsmäßigen ijt den Realpolitikern ein Zeichen fſlawiſchen Blutes, und aus 
der eigenen, vielfach von Geſchäftsrückſichten geleiteten Art folgern die meiſten das Recht, 
die Lauterkeit ſeiner Abſichten in Zweifel zu ſetzen. 

Seine Liebe zur Tochter eines der Hauptführer der deutſchen Bewegung treibt ihn 
aus feinem mehr geiſtigen Ringen ums Oeutſchtum zur praktiſchen Tat. Auf feinem flawifden 
Gute gründet er eine deutſche Anſiedlungskolonie. Sein Werk ſcheint zu gedeihen, als er 
nun endlich auch die Beſtätigung feiner deutſchen Blutsabſtammung erhält. Aber die natio- 
nalen Schwächen auf der deutſchen, der nationale Fanatismus auf der anderen Seite zer- 
ſtören ſeine Arbeit und treiben ihn wieder in den breiteren Lebenskampf hinaus. Inzwiſchen 
hat ihm ſein Gegner von der Schule her, ein politiſcher Führer der deutſchen Partei, das 
Weib ſeiner Liebe weggewonnen. Duſchan oder, wie er ſich jetzt nach ſeinem wirklichen Vater 
nennt, Martin Echterhauſer, gerät immer mehr in ein Einſpännertum hinein, das ihn dem 
wirklichen Leben entfremdet. Das deutſche Ideal, dem er nachjagt, wird immer gedankenhafter, 
und ſein ganzes Tun, ſo ſelbſtlos und ſachlich es in den inneren Trieben iſt, entbehrt doch der 
wahrhaft lebendigen Liebe. 

Das Buch greift dann in den letzten Kapiteln unſerer Zeit vor. Es zeigt, wie unter 
der völligen Herrſchaft des Slawentums das Deutſchtum geſchwächt wird bis zur völligen Opn- 
macht. Und da verſagt Martin. Seine Liebe zum Deutſchtum iſt zu einem Haß 
gegen die Deutſchen geworden; er vertrutzt fid) in ſtarrer Einſamkeit gegen das 
Leben; er möchte die Heutigen zugrunde gehen laſſen, um erſt in der Zukunft mit einem neu 
herangewachſenen Stamme eines vergeiſtigten Deutſchtums den Kampf doch wohl mehr für 
eine geiſtige Weltherrſchaft wieder aufzunehmen. Aus dieſem Verrat an der lebendigen Sache 
iſt der etwas befremdende Titel des Buches gewonnen. Von allen Freunden verlaſſen, hauſt 
Martin einſam. Da ſchmilzt ihm im Erfühlen der deutſchen Seele fein harter Hochmut zu- 
ſammen. Er erkennt, daß die eigene Enttäuſchung in der Liebe zu einem deutſchen Veibe 
für fein ganzes nachheriges Denken beſtimmend geweſen, daß es im Grunde aljo doch Selbſt- 
ſucht war, wenn er ſich ſeinem Volle entzog. Geläutert durch die innere Demütigung, ge- 
feſtigt durch die Liebe zur Gejamtbeit, tritt er dieſer nun wieder nahe. Die Oeutſchen Ofter- 
reichs haben inzwiſchen den Kampf gegen das flawiſche Joch aufgenommen. Die Geliebte 
ſeines Herzens iſt frei geworden, und ſo liegt vor ihm eine freie Bahn zur Betätigung für 
ben Deutichgedanten in Kampf und Liebe. 

Die geſamte Führung des Buches ijt nicht immer fo klar, wie man es wohl münjden 
möchte. Es iſt auch hier zu viel Gedankenhaftes, zu wenig wirkliches Erleben. Darum wirkt 
die Entwicklung des Helden gerade an den entſcheidendſten Punkten nicht jo mit jener fdlagen- 


Vom weihnachtlihen Büchertifch 467 


den Notwendigkeit, bie man vom Kunſtwerk beiden müßte. Aber als Zeichen der Zeit, als 
Beleg für den tiefen Ernſt, mit dem unſern Volksgenoſſen in Öfterreih das Problem des 
Deutſchtums und der Herrſchaft bes Deutſchgedankens aufgegangen ift, ift das Buch ein wert- 
volles Zeugnis. Auch das gedankliche Material, das es in fidh birgt, verdient ehrlich nach- 
gedacht und empfunden zu werden. Es ift ein rechtes Männerbuch und kann eine gute Vor- 
bereitung ſein für Kämpfe, die wir ſicher in nicht allzu ferner Zeit zu beſtehen haben werden. 

Valerian Tornius: Der goldene Chriſtus. (Leipzig, Schulze & Co.; 
geb. 3 &, geb. 4 K.) Der goldene Chriftus ift der Spottname, mit dem der Fabrikant Mark 
Dorn in einem Kreiſe von Menſchen belegt wird, die er für feine Freunde zu halten ſich be- 
rechtigt glauben darf, von denen ihn aber keiner liebt, weil das viele, was Mark Dorn an 
Güte gibt, ohne echte Liebe iſt. Ich habe das Gefühl, daß das Problem dem Verfaſſer nicht 
ganz ausgereift ſei, oder genauer, daß das Problem ihm fertig daſtand, aber nur nicht ganz 
mit der Geſtalt, an der er es darlegen wollte, verwachſen fei. Man glaubt an dieſen Mark Dorn 
nicht recht. Man vermag nicht recht dieſem Mann zu glauben, der auf der einen Seite höchſte 
Tatkraft iſt, der durch Klugheit ſich aus armen Verhältniſſen zu einem der einflußreichſten 
Großinduſtriellen emporgeſchwungen hat, und nun auf der anderen Seite ſo durchaus Schwäche 
und Unfähigkeit den Menſchen gegenüber ſein ſoll. Eher würde ich dieſem Mark Dorn glauben 
als Erben eines ungeheuer großen Vermögens, der jid) nun den Sport ſozialen Wirkens leiſtet. 
Aber wer ſelber fo ſchwer hat arbeiten und erringen müſſen, wer in jo hohem Maße Tatmenſch 
war, der pflegt auch ſtarker Menſchenkenner zu fein. Von dieſem Einwande abgeſehen, ift das 
Problem des Buches feſſelnd und künſtleriſch durchgeführt. 

Man muß in der Tat von einem Sport bes Wohltuns reden. Dorn hilft dieſen verſchieden⸗ 
artigen Geſchöpfen, die ſich an ihn herandrängen, oder mit denen ihn das Leben zuſammenführt, 
weniger aus heiliger Liebe zu ihrer Not, als um feinen eigenen Drang zum Wohltun zu be- 
friedigen. So liegt etwas Phariſäerhaftes in ſeinem Tun, obwohl nach außen hin alles Phari- 
ſäertum vermieden iſt. Und fo viel er auch gibt, niemals gibt er ſich ſelbſt. Wer aber nicht 
fidh ſelber gibt, bekommt auch die anderen nicht. Und wenn ihm doch einer in Liebe entgegen- 
drängt, fo vermag er diefe Liebe nicht zu erkennen und wagt fie vor allen Dingen nicht anzu- 
nehmen, weil er ja eben die Gegengabe dafür nicht hat. So kommt es denn auch, daß Mark 
Dorn gerade in den entſcheidenden Augenblicken gegenüber den Menſchen verſagt, denen 
er lange geholfen hat, und daß er die Hand dann von ihnen zieht, wo er ſie am innigſten lieben 
müßte. Da muß denn das Leben über ihm zuſammenbrechen, und jener Reichtum, den er 
ſo oft geſegnet, weil er ihm die Mittel gegeben hat, Wohltaten zu ſpenden, erſcheint ihm als 
ein Fluch. Der Scheiterhaufen, den er aus ſeinem Beſitz aufrichtet, wird zum Brande, der 
ihn ſelbſt verzehrt. 

Ams Menſchentum. Ein Schiller- Roman. Von Walter von 
Molo. 1. Teil. (Berlin, Schuſter & Löffler. Geh. 3 &, geb. 4 KH.) Mit dieſem Buche 
wird ſich Walter von Molo, der in den letzten Jahren raſch hintereinander eine Reihe von 
Büchern veröffentlicht hat, die Beachtung aller ernſten Literaturfreunde erzwingen. In einer 
groß angelegten Trilogie, von der leider vorläufig nur der erſte Teil vorliegt, wird er das Leben 
Schillers behandeln. Dieſer erſte Teil iſt ein in ſich abgeſchloſſenes Buch und führt bis zu 
Schillers Flucht aus Stuttgart. Man kann ganz abſehen von der hiſtoriſch treuen und kultur- 
geſchichtlich ſehr lebendigen Darftellung der Welt, in der Schiller heranreift. Sie nimmt mit 
jeder Biographie den Wettbewerb auf. Der Hauptwert des Romans liegt in dem Feuer von 
geradezu vulkaniſcher Kraft, das in dieſem Buche lodert. Der Verfaſſer verſteht es, ohne 
Grellmalerei, ohne Aufdringlichkeit die innere Empörung, die in ihm ſelber glüht, auf den 
Lefer zu übertragen, der in bebendem Mitgefühl die Knechtung des Menſchentums erduldet, 
wie ſie von einem Karl Eugen im ganzen Staate, ja in ſeinen Wohlfahrtsgründungen geübt 
wurde, wie ſie als Zwang der Zeit auch den gutwilligen Vater zu einem Haustyrannen machte. 


468 Zugendſchriften 


Wir werden ganz eingeſponnen in dieſe Atmoſphäre eines gedrückten Lebens. Wir ſieden 
und kochen mit in dem Brodel aus jugendlichem Freiheitsdrang, aufgeſpeicherter Kraft, 
raſender Empörung, unentbundenen Empfindens, das ſchließlich in einem wilden vulkaniſchen 
Ausbruch alle Bande ſprengen mußte. 

Der Aberſchwang der „Räuber“ wird zur natürlichen Sprache. Keine Schiller Biographie 
hat bis heute in dieſem Maße uns die innerſten Gründe von Außen- und Innenwelt ſo ſtark 
miterleben laſſen, aus denen der Feuergenius Schiller herausgewachſen iſt, wie dieſes Buch, 
das wir darum auch in ganz beſonderem Maße für die reifere Jugend empfehlen. 

Guſtav Falke: Die Stadt mit den goldenen Türmen. (Berlin, 
G. Grote. Geb. 4 &, geb. 5 K.) Guftav Falke bat uns mit dieſem Buche fein beſtes Profa- 
werk gegeben. Es ijt bie ſchlichte, ungeſchminkte Erzäblung feines eigenen Lebens und eigent- 
lich ein prächtiger Entwicklungsroman. Der Lebensgang ift im Grunde einfach, und doch 
birgt er, wie jedes Menſchenſchickſal, des äußeren und inneren Geſchehens genug, um tief 
zu feſſeln, weil er eben mit überzeugender Kraft erzählt wird. Die glückliche Kindheit im Eltern- 
hauſe, dann die Schatten, die durch der Mutter zweite Ehe hineinfallen, danach die unfrohe 
Arbeit in dem widerwillig ergriffenen Berufe des Buchhändlers, hernach die Tätigkeit als 
Muſiklehrer und das langſame Heranreifen zum Dichter. Freunde und Frauen greifen in 
die Entwicklung ein, die fid) ohne ſchwere Kataſtrophe vollzieht. Ein glückliches Leben trotz 
vielfacher äußerer Beſchränkung, wie der Oichter ſelbſt dankbar geſteht. Und ein geſunder, 
lebenstüchtiger und gutmachender Optimismus ſtrömt aus dem Buche auch auf den Leſer 
über. Es tut wirklich wohl, in einer Zeit, in der die meiſten ſich ſo übermäßig bedeutſam 
gebärden und der Welt in grellen Farben die Schmerzen aufdrängen, an denen ſie leiden, 
einer ſo braven warmherzigen Männlichkeit und geſunden Menſchlichkeit zu begegnen. 


Karl Storck 
S 
Jugendſchriften 


ö aye d edes ber letzten Jahre hatte eine Hochflut von Kinderbüchern und Zugendfcriften 
29 aller Art und für jedes Alter gebracht; ein wahrer Wetttampf in dem Beſtreben, 
2 das Beſte, bas Geeignetſte und Billigſte der deutſchen Jugend darzubieten, war 
zwiſchen Künſtlern und Dichtern, zwiſchen den Verlegern entbrannt. Die Vielſeitigkeit dieſer 
Produktion ſchien den Büchermarkt für ein Jahrzehnt mit künſtleriſchen Ideen und Motiven, 
mit Liederſammlungen, Bilderbüchern, mit Märchen und Erzählungen verſorgt zu haben. Es 
iſt vielleicht zu wünſchen, daß nun, da ſo viel des Schönen und Eigenartigen geſchaffen iſt, 
Fahre der Ruhe folgen mögen, damit das Gute ſich einleben kann. Wir ſcheint, als ob dieſe 
Einſicht auch hier und da in Verlegerkreiſen beſteht; denn ein gewiſſes Nachlaſſen in der 
Produktion iſt in dieſem Jahr zu bemerken. Namentlich ſcheint in der Herſtellung von 
Bilderbüchern eine gewiſſe Stabilität eingetreten zu ſein. 

Wenn ich mit bieten für jüngfte Kinder beſtimmten Büchern meine Überficht 
beginne, ſo kann ich mich kurz faſſen; denn alle dieſe Bücher ſehen ſich ziemlich ähnlich. Man 
iſt allgemein und mit Recht von dem phantaſtiſchen, in allen Farben ſchillernden Stil zu dem 
naiven, plaſtiſchen, in den Linien und Konturen kräftig, in den Farben friſch und keck, doch 
harmoniſch wirkenden Stil zurückgekehrt. Ich hebe daher nur einige beſonders empfehlens- 
werte Neuerſcheinungen hervor. 

Der Verlag 8of. Scholz - Mainz, zu deffen Mitarbeitern namhafte Künſtler, 
wie Arpad Schmidhammer, E. Oswald, Hans Thoma, 3. V. Ciſſarz u. a. zählen, hat folgende 
„Unzerreißbare“ diesjährig herausgebracht: „Mein Spielzeug“, Anſchaubilder von E. Heins- 


Zugendſchriften 469 


dorff; „Kikeriki“, Tierbilderbuch von Eug. Oswald (je 1 4); „Frohes Spiel“, luftige Kinder- 
bilder von Schmidhammer, in Verſen (1.50 M), und „Komm“, ebenfalls ein febr drolliges 
Tierbilderbuch, mit Verſen, von Eug. Oswald (3 K). Der künſtleriſchen Qualität und dem 
Anterhaltungswerte nach find alle diefe Bücher, die nur in der Menge des Gebotenen und 
in der äußeren Ausſtattung ſich unterſcheiden, gleich zu empfehlen. Dasſelbe gilt von den 
preiswerten und geſchmackvoll ausgeſtatteten Bilderbüchern des Verlages Alfred Hahn, 
Leipzig. Szenen aus dem Leben des Kindes ſind in dem liebenswürdigen Bilderbuch: 
„Für unſre Einjährigen“ (von Gertrud Caſpari, mit Verſen von Adolf Holft) dargeſtellt (un- 
zerreißbar, 2.60 M). Das Buch „Auf der Bunten Wieſe“, Kindergedichte von Paula Dehmel, 
mit bunten Bildern von E. Rehm-Victor (3 M), wirkt in feinen zarten, aparten Farben be- 
ſonders fein und freundlich, während, in ihrer Art ebenſo luſtig und originell, die Bücher „Für 
die Kleinen“ (unzerreißbar), „Schöne Kinderlieder“ (Bilder von G. und W. Caſpari, Verſe 
von Holft, —.80 und —.60 M) eine Zierde für den weniger vornehmen Weihnachtstiſch bilden 
mögen. Ich hebe weiter hervor bas amüſante Bilderbuch „Strampelchen“ von Hedwig und 
Albert Sergel (1.75 M, auf Karton 5 K, Verlag Enßlin & Laiblin, Reutlingen) 
unb einige Neuerſcheinungen des Verlages Guſtav Weiſe, Stuttgart: „Schnick- 
Schnack“ (mit Bildern von Reinhold Hanſche, Verſen von Julius Marfeld, 2.50 /), das naive 
und feinſinnige Märchen „Und ſie verſchwanden durchs grüne Tor“, mit Text von Fritz Herz 
(3 ), und „Rotkäppchen“, mit ſtimmungsvollen Bildern von Maria Hohneck (3 M). Dieſe 
zuletzt genannten Bücher berühren Iden das Gebiet der Kinder, die anfangen, zur Schule zu 
gehen. Für dieſes Alter ſind auch die vortrefflichen Künſtlerbilderbücher und vaterländiſchen 
Bilderbücher — mit Text — des Verlages Sof. Scholz beſtimmt (je 1 AM), „Die ſieben Raben“, 
„Friedrich der Große“, „Zehn Jahre deutſcher Not“ (1805—12) und „Nach Frankreich hinein“ 
(1814—15) u. a. 

Wenn ich meinem perſönlichen Geſchmacke folgen würde, ſo würde ich kleinen und 
großen Kindern, auch alten Menſchen, zum Weihnachtsfeſte immer wieder empfehlen: Kauft 
und leſt Märchen und wieder Märchen, ſie ſind der Born aller Poeſie, aller feinen und 
eigenen Empfindung. And keine neuen, noch ſo fein erſonnenen Märchen nehmen es mit 
den alten auf, die unter den Namen der Märchen von Grimm, Hauff, Bechſtein und Anderſen 
bekannt ſind. Von dieſen Märchenerzählern gibt es eine Reihe wundervoll — auch zum Teil 
mit Bildern — ausgeſtatteter Neuausgaben, die für große Kinder — und damit meine ich 
Zünglinge und Zungfrauen, Männer und Frauen — beſtimmt find. Zch nenne bie ſchöne 
Ausgabe der Geſammelten Märchen und Geſchichten von Anderſen 
des Verlages Eugen Diederichs, Jena (4 Bände mit Initialen und Bildern von 
Gudmund Henge), ferner die koſtbar ausgeſtattete Ausgabe der Grim mſchen Märchen 
des Verlages Georg Müller, München. Derſelbe Verlag hat auch eine vollſtändige 
Ausgabe von „Hauffs Märchen“, mit Zliuftrationen von Alfred Kubin heraus- 
gegeben, in großem Format, in ſtarkem Leder gebunden, in Papier und Druck ein Wunder- 
werk der Buchausſtattungskunſt. Freilich, Kubins Art iſt nicht für jedermann; aber hier zeigt 
et fid) doch gerade als ein Stimmungsmeiſter, der zunächſt durch feine Primitivität überraſcht, 
bald aber pſfychiſch feſſelt, bis in aller Suggeſtivität die volle, reine Märchenſtimmung empfunden 
wird. In demſelben Verlage ſind ferner, ebenfalls in vornehmer Ausſtattung, der Brüder 
Grimm „Oeutſche Sagen“ erſchienen (herausgegeben von Hanns Floerke). Gerade 
dieſe erſten Sagenſammlungen (der Gebrüder Grimm) ſcheinen jenem Bedürfnis der menfe- 
lichen Seele, ſich in uralte Weisheit und Vorſtellungsſphären zu vertiefen, am meiſten zu 
entſprechen: dies ift auch aus dem Zauber zu erklären, der feit altersher bas Brüderpaar Grimm 
umweht, aus dem Perſönlichkeitszauber, aus der immer wieder aus ihren Werken von der 
Nachwelt unmittelbar empfundenen Liebe, mit der ſie, dieſe einzigen Menſchen, ihre Werke 
geſchaffen, ihre Miſſion erfüllt haben. 


470 Zugenbigriften 


Ein großgedachtes Märchenunternehmen plant der Verlag Eugen Diederichs, Jena: 
„Die Märchen der Weltliteratur“ — es foll nicht nur die Volksmärchen der 
Deutſchen, der nordiſchen Völker, der Kelten, Franzoſen, Staliener, Serben, Ruffen uſw., 
die ſchönſten Kunſtmärchen von Muſäus, E. T. A. Hoffmann, Brentano, Tieck, Mörike, Anderſen 
uſw., ſondern auch indiſche und arabiſche, chineſiſche und japanifche, altägyptiſche, malaiiſche 
Märchen, Märchen der Indianer, Neger uſw. umfaſſen. Herausgegeben werden die einzelnen 
Bände von Prof. Fr. v. d. Leyen, Dr. Paul Zaunert und anderen Gelehrten, in einbeitlicher 
Ausſtattung, dieſer und jener Band mit Bildern von Schwind, Richter u. a. geſchmückt. Bisher 
ift der Band „Deutfhe Märchen ſeit Grimm“ (herausgegeben von Paul Zaunert) 
erſchienen. Er erſchließt in der Tat einen ungeahnten Reichtum von noch unbekannten Märchen- 
ſchätzen, von wundervollen alten Motiven, von Beziehungen zu bekannten Märchen und Sagen 
deutſcher und anderer Völker. Ich kann hier auf dieſes eigenartige Unternehmen, das ſich 
durch dieſen Band vortrefflich einführt, nur nachdrücklich hinweiſen, indem ich mir eine aus- 
führliche Würdigung vorbehalte, — es iſt ein Werk für alle Volkskreiſe und für alt und jung. 
— Ebenſo gehört eine originelle Sammlung „Indiſche Märchen“ von A. Paſſo w 
(Guftav Weifes Verlag, Stuttgart, mit bunten und ſchwarzen Bildern) zu den eigenartigſten 
Darbietungen ber letzten Jahre. Die Inder find bie erſten, welche ihre Märchen aufgezeichnet 
haben zu einer Zeit, als in Europa noch niemand daran dachte. So entſtanden die Samm- 
lungen Pantſchatantra, Hitopadefa und der große Märchenſchatz Kathaſaritſagara, „Das Meer 
der Märchenſtröme“, ganz in Verſen und in Sanskrit, der klaſſiſchen Sprache des alten Indien, 
geſchrieben. Im indiſchen Volke hat ſich die Luft am Märchenerzöhlen bis auf den heutigen 
Tag erhalten, und es find im Laufe der Jahrhunderte immer neue Märchen entſtanden. Seit 
einer Reihe von Jahren baben die Europäer in Indien begonnen, diefe Volksmärchen zu 
ſammeln, und eine ſolche Samnilung beſchert Frau A. Paſſow der deutſchen Jugend. Eine 
engliſche Dame hat fie fid) von indiſchen Frauen und Mädchen erzählen laffen; es find alfo 
echte indiſche Märchen, ins Deutſche übertragen. Wie alle indiſchen Märchen zeichnen fic 
ſich aus durch glänzende Phantaſie, kunſtvollen Aufbau und tiefe Lebensweisheit. 

Neu find einige forgfältig unter Berückſichtigung des Geſchmackes jüngerer Kinder 
ausgewählte Sammlungen, von denen ich folgende beſonders empfehlen mochte: Märchen 
H a u f f s (mit vielen farbigen unb ſchwarzen Bildern von W. Claudius u. a., 2 A), Verlag von 
Enßlin & Laiblin, Reutlingen. „Die ſchönſten Kindermärchen der Brüder 
Grimm“, mit vielem Geſchmack ausgewählt von Paul Moritz, und ausgeſtattet mit farbigen 
und ſchwarzen Bildern. Dieſe anſehnliche Sammlung erſcheint in größerem Format, beſonders 
anzuerkennen iſt der klare, große, angenehm zu leſende Oruck, das ſtarke, ſtumpfgetönte Papier. 
Das Buch erſcheint in mehreren Ausgaben und zu verſchiedenen Preiſen (3 M bis 4.50 M). 
gn bemfelben Verlag (K. Thienemann, Stuttgart) erſcheint eine Anthologie: „Märchen- 
welt“, mit farbigen Bildern, Aquarellen uſw. von P. Grot Johann und R. Leinweber, 
enthaltend Märchen von Bechſtein, Grimm, Hauff und anderen. Neben dieſen ſorgfältig aus- 
gewählten Märchen bietet das Buch amüſante neue, wie z. B. das reizende von Heulpeterle. 
Das Werk ijt vor allem für jüngere Rinder beſtimmt. — Auf einige Neuerſcheinungen, die na- 
mentlich für Mädchen geeignet find, verweiſe ich fpäter. 

Die eigentliche Erzählung für die Jugend, der Roman für Knaben und 
Mädchen, ift durch intereſſante Neuerſcheinungen nicht gerade zahlreich vertreten. Ich be- 
dauere es, daß die alte gut geſchriebene Zndianer-Geſchichte — im Stile Coopers 
— ſich nicht mehr des Zuſpruches wie früher zu erfreuen ſcheint. Ich kann es nicht zugeben, 
daß ſie auf geiſtig geſunde Knaben verwirrend wirkt, im Gegenteil, ſie erweckt Kräfte der Seele, 
des Gemüts, der Phantaſie, fie erſchließt ein ganzes Reich des Naturhaften, und die Erinnerung 
daran trägt unvergeßliche Eindrücke aus der Kindheit in das Leben hinein. Von Neuerſchei- 
nungen aus dieſem Gebiete möchte ich, nicht allein wegen ihrer ſpannenden Darſtellungsart, 


Zugenbſchriften 471 


ſondern auch wegen ihrer ethiſchen Vorzüge, einige neue Bändchen der Serie „Bache ms 
Volks- und Zugend erzählungen“ empfehlen: „Schawiſſant, der große Zauberer“, 
Erzählung aus den Oblatenmiſſionen in Britiſch-Kolumbien von P. Humbert, und „Das 
Opfer“, eine hiſtoriſche Erzählung aus dem Zululande von Robert Streit, beide mit Bildern 
von H. W. Brockmann (je 1.20 M). Der Verlag K. Thienemann, Stuttgart, fügt feinen vielen 
bewährten älteren Erzählungen: „Conanchet, der Indianerhäuptling“, „Der Waldläufer“, 
„Der Prärievogel“ uſw., eine mit ſchönen farbigen Bildern gezierte neue Erzählung: „Oie 
gagddes weißen Roffes“, nach Kapitän Mayne-Reid frei bearbeitet von Otto Hoff- 
mann, hinzu. Die Erzählung ſpielt während des Krieges, den Nordamerika 1846 mit Mexiko 
führte, und zwar nicht auf dem Schauplatz ſelbſt, ſondern an ſeinem Rande. Kühne Abenteuer, 
prächtige Schilderungen von Land und Leuten ſind in die Erzählung hineingeflochten. 

Man könnte zu dieſen exotiſchen Erzählungen auch die Robinſonaden rechnen. 
Von Neuerſcheinungen iſt mir nur eine vorzügliche Bearbeitung des alten „Robinſon Cruſoe“ 
Daniel Oefoes, von Robert Münchgeſang, mit vielen Bildern von F. Müller⸗Münſter, be- 
kannt geworden (Enßlin & Laiblin, Reutlingen; 2.50 A6). Auch die weiteren Schickſale Robin- 
fons und feiner Inſel, ihre Beſiedelung mit Weißen, der Ausbruch einer Meuterei uſw., wie 
fie in den Nachträgen zum „Robinfon“ geſchildert werden, find in dieſe Bearbeitung mit auf- 
genommen worden. 

Diefem Typus fteben nahe die Abenteurer- bie Seemanns- und die Nord- 
polfahrer Erzählungen. Eine verdienſtvolle Abenteurer-Erzählung möchte ich die von 
den Erlebniſſen eines deutſchen Fremdenlegionärs handelnde: „Die Sklaven der Marianne“ 
von Gerh. Hennes, mit Bildern, Verlag von Bachem, Köln, nennen; ſie wird Aufklärung 
über die entſetzlichen Verhältniſſe dieſer Truppe unter der Jugend verbreiten. 

Von Geemanns- und Polarforſchergeſchichten hebe ich beſonders zwei friſch und flott 
erzählte hervor: „Verſchlagen in unbekannten Meeren“ von Franz Treller (mit Bildern von 
9. Suſemihl; 2.75 K) und „Im Lande des ewigen Eiſes“ von E. Salgari, 
freie deutſche Bearbeitung von Prof. Arthur Wihlfahrt, Turin (mit 14 Tondruckbildern, 5 M) 
Beide erſchienen im Stuttgarter Verlag Guſtav Weiſe. Kapitän Emilio Salgari, der bekannteſte 
Zugendſchriftſteller Italiens (geſtorben im April 1911), bat es verftanden, die Jugend mit 
ſeinen ſpannenden Reiſeabenteuern zu begeiſtern, — war doch ſein Leben ſelbſt eine Reihe 
von Abenteuern, die nun in weiterem und reicherem Gewande aus feinen Erzählungen dem 
Lefer entgegentreten. Seit 1887 erſchienen feine Erzählungen: „Die Braut des Mahdi“, „Zwei- 
tauſend Meilen unter Amerika“, „Das Schwert Buddhas“ u. v. a., denen allen ſelbſterlebte 
Schickſale zugrunde liegen. Aber Salgari iſt nicht nur Erzähler, ſondern auch ein feinfühlender 
Beſchreiber der Natur; als Kenner der unziviliſierten Menſchen, als Gegner habgieriger tolo- 
niſierender Mächte, — als Forſcher und Erzähler tritt er dem Herzen nahe. Alle diefe Vor- 
züge bietet auch die vorliegende Erzählung, die von der rätſelhaften Welt des Nordens handelt, 
von der Gefangenſchaft im ewigen Eis, von Schiffbruch, von Kämpfen mit Eisbären in der 
Baffinsbai von dem Leben der Eskimos uſw. 

Zurück in das Land der Märchen führt uns der Typus des ritterlichen Aben- 
teurers. Grundtypus biefer Kategorie ift und bleibt der unſterbliche „Don Quixote“, 
der in jedem Sabre mehrfach neu aufgelegt wird Diesmal wartet der Münchener Verlag 
Martin Mörike mit einer empfehlenswerten Neuausgabe auf: es ift die alte, vortreffliche ano- 
nyme Übertragung von 1837 unter Benutzung der Übertragungen von Soltau und Tieck. 
Diefen ſtarken, ſchön gedruckten Band (3.50 M) zieren die genialen Zeichnungen von Guſtav 
Dors. Auch eine andere amüjante Neuerſcheinung desſelben Verlages gehört dieſer Kategorie 
an, das Buch „Fröhliche Abenteuer“. Es enthält bie Geſchichten von vier der fröh- 
lichſten Geſellen, die je von Dichtern geſchaffen worden find: von Ulenſpiegel, Guliver, Münch- 
hauſen, Schelmuffsky, und zwar in den Originalfaſſungen (6 A. mit Bildern von Rolf v. Hoer- 


472 Zugendſchriſten 


ſchelmann). Wer dieſe Originalfaſſungen lieſt, wird freilich bald erkennen, wie wenig doch in 
Wahrheit davon bekannt iſt und wie unrecht man tut, dieſe geiſtvollen, witzigen Werke nur 
als Zugendſchriften anzuſehen. Eine völlige Neuentdeckung wird für die meiſten Schelmuffsky 
ſein, der in der Tat eines der genialſten Werke der komiſchen Oichtung iſt. 

Der Don Quixote leitet auch über zur Ritter geſchichte, zur Darſtellung 
mittelalterlichen Lebens. Eine derartige Erzählung — voll Leben, Poeſie und 
Humor — iſt im Verlage von Alfred Hahn, Leipzig, erſchienen: „Herr Henning oder 
Die Tönniesfreſſer von Hildesheim“, geſchichtliche Erzählung von Gu ſt av 
Falke, mit Bildern von Benno Eggert (3 M). Die in einem kecken realiſtiſchen, „mittel- 
alterlichen“ Stil gehaltene Erzählung führt in das alte fürſtbiſchöfliche Hildesheim, mit feinen 
berühmten Fachwerkbauten, ſeinen Wällen und Toren, den hohen Giebeln und Oächern, 
den kunſtvollen Kirchen; wir blicken hinein in die engen, unregelmäßigen Straßen und Gaſſen, 
in die die Stadtmauer und die vorſpringenden Stockwerke der Häufer nur wenig Luft und 
Licht laffen, wo frei umherlaufende Schweine große Löcher wühlen und die Bürger bei Regen- 
wetter im Schmutz ſtecken bleiben. Das 15. Jahrhundert geht zu Ende, die Reformation hat 
die Geiſter noch nicht aufgerüttelt, in der Pfarrkirche zu St. Lamberti ſteht der Altar des 
heiligen Antonius; jedes Fahr ſind von der Stadt zwei Schweine aufzuziehen und gut zu 
mäjten, damit der Erlös für die Borſtentiere, bie das Volk Tönniesſchweine (Antoniusſchweine) 
nennt, auf den Altar des Heiligen niedergelegt werden kann. Dieſe Tönniesſchweine ſpielen 
eine wichtige Rolle in der Geſchichte. Sie find es, die den ehrenfeſten Ratsherrn und Sung- 
geſellen Herrn Henning Bernheide in Verſuchung führen und ihn und feine Rumpane, denen 
von Amts wegen die Obhut über die Tönniesſchweine anvertraut iſt, um Amt und Würden 
und guten Namen bringen. Wie das alles geſchieht, wie das Wort „Tönniesfreſſer“ dem 
ſonſt ſo tapferen Ratsherren einen furchtbaren Schreck in die Glieder jagt, das mag man nur 
in dem prächtigen, von feinem Humor getragenen Buche ſelbſt nachleſen. 

Eine Reihe wertvoller geſchichtlicher Erzählungen ſind neu in der beliebten Sammlung 
„Aus allen Zeiten und Ländern“ des Verlages Z. P. Bachem, Köln, erſchie⸗ 
nen (jeder Band mit 4 Bildern 3 & geb.). In die an fid) Iden intereſſante Zeit der Eroberung 
Preußens durch den Deutfchen Orden und deffen Landmeiſter Hermann Balk, den Gründer 
vieler preußiſcher Städte, verjebt die Erzählung ,Hercus Monte“ von Ad. Sof. Cüppers. Sie 
knüpft an den Namen eines ſagenberühmten Heerführers der Preußen an und ſchildert im 
Verlaufe der eigentlichen romanartigen Handlung die Kämpfe dieſes Helden mit dem Orden. 
— Zahlreicher ſind neuerdings die Erzählungen aus den großen Epochen und bedeutungsvollen 
Kriegen der Neuzeit — das ijt charakteriſtiſch für das nationale Fühlen und Denken der Gegen- 
wart. Namentlich Preußens Heldentaten 1813/14 und 1870/71 find Gegenſtand 
dieſer Romane für den zum Jüngling heranwachſenden Knaben. Ich hebe aus der Reihe dieſer 
Erzählungen ein paar hervor, die ſich in gleicher Weiſe durch unterhaltſame Darſtellung wie 
durch eine maßvolle Behandlung der nationalen und kriegeriſchen Momente, wie durch ethiſche 
und pädagogiſche Vorzüge, wie endlich auch durch eine ſolide, geſchmackvolle Ausſtattung vor 
anderen auszeichnen: „Aus eiſerner Zeit“, Erzählung aus der Zeit der Freiheitskriege (mit 
Bildern) von Emil Frank (8. P. Bachem, Köln), und „Helden“, Erzählung aus dem letzten 
deutſch-franzöſiſchen Krieg von Wilhelm Momma (mit vielen Bildern von Prof. Anton Hoff- 
mann, München; Verlag von Enßlin & Laiblin, Reutlingen; 3 M). — Im Anſchluß hieran 
will ich auf einige hiſtoriſche Werke hinweiſen, die zum Teil aus Anlaß der hundertſten 
Wiederkehr jener glorreichen Gedenktage entſtanden ſind und die mit beſten Gründen der 
reiferen Jugend empfohlen werden können. Der verdienſtvolle Verlag Deutſche Land- 
buchhandlung, Berlin SW. 11, hat ein außerordentlich intereffantes Büchlein heraus- 
gegeben, das von den ſchweren Erlebniſſen eines preußiſchen Offiziers und ſeiner Reiter — 
während der Kataſtrophe 1812 — erzählt: Major von Werder und ſeine Ula 


Jugenbſchriſten 473 


n e n^, Preußiſche Kriegs- und Heldenbilder aus dem Feldzuge des Jahres 1812, von Dr. Rudolf 
Peſchke (mit mehreren Abbildungen und 2 Karten; 2.50 M). — Auch die durch ihre vorzügliche 
Reproduktionen von vielen Porträts, Schlachtbildern, Uniformbildern, durch die Beigaben von 
Zeitungen, Armeebefehlen, Briefen, Karten uſw. beſonders wertvolle Erinnerungsausgabe 
für das deutſche Volk: „Der Zuſammenbruch Preußens im Sabre 1806“ 
(Verlag Eugen Diederichs, gena; 6 & geb.) kann der reiferen Jugend getroſt in die Hand 
gegeben werden, weil bier das über die Nation hereingebrochene Unglück in allen feinen tul- 
turellen Gründen wahrheitsgemäß und in ſehr lebendiger Erzählung dargeſtellt wird. Gerade 
ſolche tragiſchen Ereigniſſe vertiefen die ſich bildende Weltanſchauung und das Empfindungs- 
leben. Der ernſten Jugend geziemt es daher ſehr wohl, derartige Schilderungen auf ſich 
wirken zu laffen. Nationalen ethiſchen Erziehungszwecken dient auch das Buch: „Drei- 
hundert berühmte Deutſche“, Bildniſſe in Holzſchnitt von M. Klinkicht, Lebens- 
beſchreibungen von Dr. K. Siebert (Verlag von Greiner & Pfeiffer, Stuttgart, geb. 5.50 ). 
Ein derartiges Nachſchlagewerk in populärem Stil hat in der Tat gefehlt. Der von dieſen 
und jenen Eindrücken in Schule, Haus und Leben angeregte Knabe wird in den an Aufſchluß 
reichen, liebevoll geſchriebenen Biographien unterhaltſame Belehrung finden. Die Sammlung 
beginnt mit Rudolf von Habsburg und endet mit Hermann von. Wiſſmann; fie gibt Auskunft über 
deutſche Kaiſer, Staatsmänner, Feldherren, Geſchichtſchreiber, Philoſophen, Dichter, Künſtler, 
Maler, Muſiker, Erfinder, Techniker, Patrioten, kurz über hervorragende deutſche Männer 
aus jedem Kulturgebiet. Die einheitlich nach authentiſchen Vorlagen ausgeführten Holzſchnitte 
ſind anzuerkennen, namentlich auch in Bezug auf Ahnlichkeit mit dem Original — ſoweit ich 
dies beurteilen kann. Einige Porträts allerdings, wie z. B. die Liliencrons und Wildenbruchs, 
ſcheinen mir weniger gelungen zu ſein. 

Nachholend möchte ich noch einige aus dieſen Gruppen herausfallende Erzählungen 
erwähnen. Das Buch „Heinz, der Lateiner“ iſt der wohlgelungene Verſuch, ethiſche 
Motive aus dem Knabenleben pſychologiſch wirkſam und zugleich in gefälliger und für Knaben 
geeigneter Form zu behandeln. Es nennt ſich mit Recht eine „Schulgeſchichte für Knaben 
bis zu vierzehn Jahren“; es ijt geſchrieben von Emma Biller (mit 6 Bildern von Karl Mühl- 
meiſter, Verlag Thienemann, Stuttgart). Der Inhalt iſt kurz: Nach dem frühen Tode ſeiner 
Eltern kommt Heinz zu feiner alten Tante und deren Mamſell. Als der ſtrebſame Rnabe in 
die Volksſchule geſchickt wird, wird der bisher muntre, ſympathiſche Junge trbſelig und ver- 
bittert. Aber ein Fahr muß er es ertragen, dann kehrt er in das Gymnaſium zurück. Dieſe 
Erlebniſſe, Übergänge uſw. find, wie gefagt, mit feinem pſychiſchem Nachempfinden geſchildert. 
— Raum nod einer Empfehlung bedarf das Büchlein Wenn die Sonne aufgeht“, 
eine Auswahl aus den Dorfjugendgeſchichten von Meiſter Heinrich Gobnrey (mit Beid- 
nungen von F. Müller-Münſter, Deutſche Landbuchhandlung, 1.25 M). Es find herzerquickende, 
friſch und fröhlich erzählte kleine Geſchichten, denen oft feiner Sinn und Lebenswert inne 
wohnt. — Der neueſte Band der „Mainzer Volks- und Zugend bücher“, Curt 
Geudes Erzählung: „Der Steiger vom David-RNicht- Schacht“ (mit Bildern von Willibald 
Weingärtner, Berlag von Jof. Scholz, Mainz; 3 M), ijt ebenfalls mit Anerkennung hervor- 
zuheben. Hier bietet ſich dem Leſer ein Bild der modernen Technik des Bergwerks und des 
Hüttenbetriebs. Wir ſehen in das Getriebe des Hamburger Hafens, wir ſehen den Welthandel 
ſich vor unſren Augen abſpielen und werden in die Kolonien geführt. Der Held der Geſchichte 
muß ſich durch alle menſchliche Not hindurcharbeiten, und er erreicht durch Fleiß, Treue und 
Umſicht ſein hohes Ziel. Der Gedanke der immer höheren ſeeliſchen Entwicklung des Menſchen, 
der unmerkbar in das Gange verwoben ijt, wird den jugendlichen Lefer lebensfroh ſtimmen. 
Das Buch vereinigt in fid) alle Vorzüge der übrigen Mainzer Volks- und Zugendbücher: 
reiche Belehrung, naturwahre Darſtellung, ſpannende Handlung und auch vorbildliche Buch; 
ausſtattung. 


474 Zugendſchriften 


Die Menge der ſpeziell fir Mädchen beſtimmten Bücher iſt naturgemäß nicht fo groß 
als die der für Knaben geeigneten: ein Teil der letzteren wird immer auch von Mädchen in 
Anſpruch genommen werden können. Dies gilt 3. B. auch von den Märchen büchern. 
Wenn ich nochmals auf das Märchen in dieſem Zuſammenhange zurückkomme, ſo geſchieht 
es, weil ich hier einige Märchen empfehlen möchte, die ihrem ganzen Gehalt, ihrer ganzen 
Form und Ausſtattung nach mehr für jüngere und auch ältere Mädchen geeignet zu ſein 
ſcheinen als für Knaben. „Die Himmelsleiter“ nennt ſich ein nach Art vornehmer 
Bilderbücher ausgeſtattetes Buch. das anmutige und drollige Erzählungen in Reimen, nach 
Art der Märchen, von Ernſt Weber enthält — mit ganz köſtlichen poetiſchen und phantafie- 
vollen farbigen Bildern von Joſeph Mauder. Die feine, ſinnige Art dieſer Erzählungen wird 
zarte Mädchen beſonders anſprechen (5 ). Dies gilt auch dem poetiſch wertvollen Märchen: 
„Der Elfenraub“ — in Verſen — von Marie Charlotte Siedentopf, mit farbigen Bildern 
und ſonſtigem Buchſchmuck von Alexander Vollorth (6 ). Das außerordentlich geſchmackvoll 
ausgeſtattete Buch mit den originellen, ſtimmungsvollen Bildern und Verſen, deren Wohllaut 
an die bekannten Scherzballaden von Kopiſch erinnert, iſt eine Gabe von bleibendem Wert. 
Endlich aber kann ich mir kein zarteres Geſchenk für Mädchen denken, als die unſterbliche 
Märchenerzählung „Undine“ von Friedrich be la Motte-Fouqué. Auch hiervon ift eine 
modern ausgeſtattete, vornehme Neuausgabe erſchienen, und zwar mit den wundervoll pitto- 
resken, in matten Farben gehaltenen Bildern des Engländers A. Rackham, eines geborenen 
Romantiters, eines Stiliſten von unübertrefflicher Grazie in der Linienführung. Das Buch, 
dazu ſchön gedruckt, in großem Format, iſt gewiß eine der hervorragendſten Neuerſcheinungen 
auf dieſem Gebiet (6.50 &). Dieſe drei Bücher ſind erſchienen im Verlage Georg W. Dietrich, 
München. 

Zwiſchen den diesjährigen Neuerſcheinungen finde ich übrigens noch ein zweites origi- 
nelles Märchenbuch, das Arthur Rackham in feiner feinen, phantaſievollen Art mit 
künſtleriſch hoch zu bewertenden Bildern ausgeſtattet hat; es iſt das Buch: „Alice im 
Wunderland“ von Lewis Carroll, deutſch von Helene Scheu-Ries (4 4). In ihrem 
naiven Ton, in dem ſinnvollen, menſchliche Beziehungen klug andeutenden Charakter, in der 
Vermenſchlichung der Tierwelt, von Gegenſtänden uſw. erinnern dieſe die Phantaſie an- 
regenden unterhaltenden Märchen an Anderſens unſterbliche Dichtungen. — Sn demſelben 
Verlage, Guſtav Kiepenheuer, Weimar, ſind noch zwei andere, vorzugsweiſe 
für Mädchen beſtimmte Bücher neu erſchienen. Das Buch „Märchen aus der 
Mutter Kindheit“, erzählt von Sophie von Ruhfitz, enthält altbekannte Märchen, 
wie Rotkäppchen, Schneewittchen, Frau Holle, Dornröschen, Hans im Glück u. a., aber gerade 
dieſe Auswahl altvertrauter, einfachſter Märchen gibt dem Buche einen intimen Charakter. 
Hinzu kommt der reizvolle, feine Stil der vielen Zeichnungen von Joh. Sluyters. Dieſe Beidh- 
nungen wirken wie die zarten farbigen Holzſchnitte alter Märchenbücher, fie find vielfach nur 
in Schwarz und Rot gehalten. Endlich möchte ich in dieſem Zuſammenhange noch desſelben 
Verlags Bilderbuch „Tante Krinoline und andere Geſchichten“ — Bilder und Verſe von Helene 
Vrieslander — erwähnen, das mit ſeinen luſtigen Szenen und drolligen Verſen ſich den beſten 
älteren Bilderbüchern zur Seite ſtellt. 

Für ſechs- bis zehnjährige Mädchen beſtimmt ift eine nicht nur feſſelnde, ſondern auch 
unmerklich durch die Handlung ſelbſt belehrende Erzählung: Regen muß fein!“ von 
Wera Niethammer (mit 4 Farbbildern, K. Thienemanns Verlag, Stuttgart). „Regen muß 
fein. Die Hauptfache ift, daß wir ſonnig find — dann kommt's auf das Wetter draußen nicht 
an.“ In einem großen Kreis kleiner Knaben und Mädchen vertritt Tante Lotte immer wieder 
diefe Anſicht. Ihre kleine Nichte Trude ſteht ihr feft zur Seite. Dieſe bringt all den Sonnen- 
ſchein ihren Freundinnen, darunter der armen blinden Lilli, ihren Eltern und dem jüngeren 
Bruder, der lange Wochen liegen muß, ba er das Bein fid) gebrochen hat. 8a, auch in die arme 


Zugenbſchriften | 475 


Arbeiterfamilie verſteht fie das Glück zu führen. — Beſonders zu empfehlen find ferner die 
beiden biographiſch angelegten, übrigens bereits weit und breit bekannten und beliebten Er- 
zählungen von Heinrich Sohnrey: „Frideſinchens Lebenslauf“ (31. Auflage, 
4 M) und „Grete Lenz, ein Berliner Mädchen“, Erlebniſſe, von ihr ſelbſt er- 
zählt (8. Auflage, 4 M); beide im Verlage der Deutſchen Landbuchhandlung, Berlin. Die 
erſtere, eine von dem Oichter erſonnene anmutige, an Handlung und Epiſoden reiche Erzählung, 
ſpielt auf dem Lande, im Südhannoverſchen, die andere ijt ein „durchaus realiſtiſches Lebens- 
bild aus der Großſtadt, das Zug um Zug nur wirklich Erlebtes wahrheitsgetreu darſtellt, und 
zwar ſo darſtellt, wie die leibhaftig lebende Grete Lenz es ſelbſt dem Herausgeber ſchriftlich 
und mündlich im Laufe von drei Jahren erzählt bat". — Fd nenne weiter noch zwei mit hübſchen 
Bildern ausgeſtattete Bücher des Verlages Guſtav Weiſe, Stuttgart: „Das Röfeli im Otztal“, 
eine Erzählung für jüngere Kinder, von der mit Recht beliebten Jugendſchriftſtellerin Berta 
Clément, und „Zugendglüd“, Erzählung für junge Mädchen von Laura Scheer; ferner „Die 
Erbin von Udara“, dem Engliſchen nacherzählt von Anna Hilden (mit Bildern, Verlag 3. P. 
Bachem, Köln). Sowohl in bezug auf den Inhalt wie auf die Art der Darſtellung können 
dieſe Bücher den beſten ihrer Art zugerechnet werden. 

Für die reifere Jugend endlich nicht zu überſehen iſt ein neues volkstümlich gedachtes 
Unternehmen: „Belhagen und Klaſings Volksbücher“, eine Blütenleſe großen 
Stils, die weit hinein ins Volk und in die Jugend wirken möchte und m. E. dazu auch mit allem 
Rüſtzeug verſehen iſt. Vor allem iſt der Verlag imſtande, ein derartiges Unternehmen mit 
vortrefflichem Anſchauungsmaterial zu verſehen und es dennoch billig zu halten. Sodann iſt 
ein Hauptvorzug dieſer Hefte die knappe, leicht faßliche, das Intereſſante betonende textliche 
Darſtellung. Mag der wiſſenſchaftliche oder literariſche Wert dieſer Bio- und Monographien 
hier und da nicht bedeutend fein, der Zweck, in gefälliger Weiſe einzuführen, einen Überblick 
zu geben, wird faſt jedesmal erreicht. Dieſe Volksbücherei will allen Gebieten menſchlicher 
Kultur gewidmet ſein. Von Oichtern ſind u. a. bisher Schiller, Körner, Wilh. Raabe, Scheffel, 
Paul Heyſe, Dickens, Kleiſt, von großen Malern Rembrandt, Tizian, Dürer, Holbein, Watteau, 
Hals, Rubens, von Fürſten, Feldherrn und Staatsmännern Blücher, Bismarck, Friedrich der 
Große, Napoleon, der Große Kurfürſt in knappen, doch durchaus inſtruktiven Biographien 
gewürdigt worden. Beſondere Monographien beſchãftigen ſich mit dem Schwarzwald, Deutfch- 
Südweſtafrika, dem Telephon, der Luftſchiffahrt, dem Mond, den Tierrieſen der Vorzeit uſw. 
Durch die jorgfaltig ausgewählten Bilder, Porträts uſw. wird jedem diefer etwa 30 Seiten — 
in Zeitſchriftenformat — großen Hefte ein beſonderer Charakter und oft intimer Reiz verliehen 
(Preis je —. 60 ). 

Einige für die reifere Jugend beſtimmte und durchaus vom künſtleriſchen wie vom 
pädagogifchen Standpunkt zu empfehlende Anthologien hat der Stuttgarter Verlag Guſtav 
Weife unlängſt ediert. Das Buch „Der Zugend das Beſte“, ausgewählt von Val. 
Tornius, enthält Meiſterſtücke deutſcher Proſakunſt, die ſehr wohl von der Zugend geleſen 
werden können, u. a. „Das Märchen“ von Goethe, „Die Sage von Herzog Ernſt“ von Guſtav 
Schwab, „Aus dem Leben eines Taugenichts“ von Eichendorff, „Michael Kohlhaas“ von 
Heinrich von Kleiſt, „Dietrich von Bern“ von Uhland, „Orollige Geſchichten“ von J. P. Hebel. 
Die Bildniſſe der Dichter, nach guten Vorlagen, bilden eine Zierde des Buches (3.50 4). — 
Im Anſchluß hieran nenne ich die elegant ausgeſtattete Anthologie — für junge Mädchen — 
„Die goldene Zeit“, die ſchönſten Blüten des Liebesfrühlings von Erika Lenz, mit 
erleſenen Gedichten von Schiller, Goethe, Chamiſſo, Rückert, Eichendorff, Uhland, Möride, 
Heine, Lenau, Geibel und den Bildniſſen dieſer Dichter (4.50 4). — Ebenſo wird vielen die 
Sammlung „111 Fabeln“, herausgegeben von dem bekannten Fabelſammler und Oichter 
Theodor Etzel, mit bunten und ſchwarzen Bildern von Willy Planck (3 4), willkommen fein; 
ſie enthält Fabeln u. a. von Pocci, Hey, Hoffmann von Fallersleben, Chriſtoph von Schmid, 


476 Zugendfchriften 


Grimm, Möride, Reinid, Rückert, Uhland, Grillparzer, Gimrod, Gellert, Lafontaine, Wop, 
aud von Theodor Etzel ſelbſt. 

Zu den hervorragendſten diesjährigen Neuerſcheinungen gehört die gediegen aus- 
geſtattete Sammlung nationaler Dichtung von Friedrich dem Großen bis auf unſere Tage 
„Ou mein Vaterland“ — Reutlinger Verlagsbuchhandlung Enßlin & Laiblin — von 
Albert Sergel (mit bunten und ſchwarzen Bildern von Anton Hoffmann; 3.80 4). Die um- 
fangreiche Anthologie enthält bie ſchönſten und intereſſanteſten vaterländiſchen Gedichte, ins- 
beſondere Balladen, in hiſtoriſcher Anordnung, und kann, da ſie literariſch wertvoll iſt, als 
ein Bildungsbuch erſten Ranges gelten. Sie enthält viele bekannte Dichtungen von Arndt, 
Eichendorff, Fontane, Freiligrath, Geibel, Gerok, Hoffmonn von Fallersleben, Körner, Rückert 
uſw., auch originelle von vergeſſenen Dichtern, wie Hugo von Blomberg, Fouqué, Gleim, 
Heſekiel, Schubert u. a.; aber auch moderne Dichter wie Liliencron, Falke, Holz, Schönaich 
Carolath, Ompteda, Wildenbruch ſind reichlich vertreten, und ſolche Gedichte, die letzte hiſtoriſche 
Ereigniſſe unter der Regierung Kaiſer Wilhelms II. feſtgehalten haben. 

Endlich möchte ich auf den neuen (IV.) Band des „Jeutſchen Zugendbuches“ 
aufmerkſam machen, unter Mitarbeit namhafter Schriftſteller und Künſtler herausgegeben 
von Wilhelm Kotzde (3 4). Verlag von Sof. Scholz, Mainz. Es wird in dieſem für 
Kinder jeder Altersſtufe beſtimmten, ſtattlichen Buche nur Gediegenes geboten. Dichter wie 
Wilhelm Lennemann, Georg Ruſeler, Leo Sternberg u. a. beteiligen fid) daran. In buntem 
Wechſel bringt es Märchen, Geſchichten, Lieder, Reime, farbige Bilder und Zeichnungen; 
Rätſel, Spiele und Aufgaben mancherlei Art geben dem Kinde Gelegenheit zu heiterer Be- 
ſchäftigung. Es ift alfo ein rechtes Haus- und Familienbuch, in das auch die Eltern gern hinein- 
ſehen werden. 

* 

Nachträglich find mir nod) einige Neuerſcheinungen zugegangen, auf die ich leider 
nur kurz hinweiſen kann, die ich aber dennoch nicht zu überſehen bitte, da manches Eigenartige 
und Vortreffliche darunter ift. Die Sammlung „Lebensbücher der Jugend“ des 
Verlages George Weſtermann, Braunſchweig, iit um einige durchweg mit ge- 
ſchmackvollen oder belehrenden Bildern ausgeſtattete Bände bereichert: „Die Märchenwieſe“ 
(& 2,50), Märchen, Geſchichten und Gedichte von Elifabeth Dauthendey, einer mit Phan- 
tafie und poetiſcher Geſtaltungskraft reich begabten Dichterin, — der Charakter dieſer Mär- 
chen ift zumeiſt ein heiterer, doch auch das ſinnvolle, nachdenkliche Moment findet Berüdfichti- 
gung. „Das fröhliche Buch für die Zugend“, herausgegeben von Friedrich Düſel ( 2,50), 
bietet eine gute Zuſanimenſtellung der beſten alten und neuen Schwänke, ſcherzhafte Erzäh- 
lungen in Proſa und Poeſie, Dichtungen von Hans Sachs, Geſchichten vom Eulenſpiegel, vom 
Dottor Cifenbart, Lieder, Balladen uſw. von Goethe, Kopiſch, Uhland, Chamiſſo, Pocci, Glas- 
brenner, Fritz Reuter vim, Knaben wird das Buch „Die Flammenzeichen rauchen“ — Oeutſche 
Männer im Freiheitskampfe gegen Napoleon — von Albert Sergel willkommen fein ( 2,50), — 
es ift keine Nacherzählung eines, der nicht dabei war, ſondern eine lebendige Kette zeitgenöfji- 
ſcher Berichte derer, die jene Kämpfe von 1806 bis 1815 mitgekämpft, die alles, was fie erzäh- 
len, ſelbſt erlebt und erfahren haben, — Aufzeichnungen von Nettelbeck, Gneiſenau, Stein, 
Körner, Blücher, Arndt u. a. Das Buch „Frau Aja, Goethes Mutter“ von Adolf Matthias 
( 2,50) dagegen mag vorzugsweiſe für Mädchen beſtimmt fein. 

Eine ganze Reihe bemerkenswerter Neuerſcheinungen legt der Verlag der gZugend⸗- 
blätter (Karl Schnell), München, vor, u. a.: „Mit Heidi und Tralala“ — ein Bilderbuch 
für jung und alt von R. F. Günther, mit vielen Bildern nach Ideen des Verfaſſers von Harry 
Schults, das in feiner herzhaften Friſche und Luſtigkeit für lebhafte Knaben beſonders geeignet 
ift, ſodann das ausgezeichnete „KFaulbach-Güll- Bilderbuch“ — Auswahl aus 
Friedrich Gülls Kinderheimat mit Bildern von Hermann Kaulbach, herausgegeben vom Be- 


Zugendſchriften 477 


zirkslehrerverein München, 3 4. Profeffor Kaulbach hat damit dem Lebrer feiner eigenen 
glücklichen Rinderjabre, dem Kinderliederdichter Friedrich Gill, ein unvergängliches Dent- 
mal geſetzt, deffen Vollendung ihm noch kurz vor feinem Tode gegönnt war. Ich finde viel- 
leicht Gelegenheit, an anderer Stelle auf dieſes künſtleriſch wertvolle Buch ausführlich hin- 
zuweiſen. Ebenſo iſt das Buch „Alte liebe Lieder“ — nach Wort und Weiſe geſammelt und 
herausgegeben von Karl Henniger, Klavierbegleitung von Wilhelm Müller, und mit feinen 
Zeichnungen und farbigen Bildern von Sof. Mauder — anzuerkennen, wertvoll wird es be- 
ſonders durch die Notenbeigaben. — Als 10. Band der bekannten „Bücher für die deutſche 
Jugend“ ijt eine prächtige Auswahl aus ben Volksbüchern von Ludwig Aurbacher unter dem 
Namen „Ein Volksbüchlein“ (46 1,50) erſchienen, enthaltend u. a. Abenteuer der ſieben Schwa- 
ben, Doktor Fauſtus, Legenden vom Ritter St. Georg und allerlei Hiſtorien. — Ein neues 
billiges unternehmen des Verlages nennt fi „Quellen, Bücher zur Freude und 
Förderung“, herausgegeben von Heinrich Wolgaſt; jedes der kleinen, ſehr gefällig auch 
mit holzſchnittartigen Bildern ausgeftatteten Bücher koſtet nur 25 J. Bisher find erſchienen: 
„Gudrun“ (Bericht von Uhland, Überſetzung von Gimrod), „Ernſt, Herzog von Schwaben“, 
Trauerſpiel von Upland, „Robinfon Cruſoe“, „Gullivers Reife nach Liliput“, „Eines Knaben 
Kriegserlebniſſe 1806—1814“ von Wilh. v. Kügelgen, „Balladen aus neueren Dichtern“, 
Schillers „Wallenſtein“. — Das für die reifere Jugend beſtimmte Buch „Bilder aus der Natur“ 
von Dr. Friedrich Goll beſchäftigt fido mit intereſſanten Schilderungen aus dem Leben der In- 
ſekten und Pflanzen. 

Erſt jüngft ijt der bekannte Berliner Verlag von Neufeld & Hen ius mit zwei vor- 
trefflichen Büchern für reifere Knaben hervorgetreten. Beide find mit ſchönen, farbigen Fllu- 
ſtrationen ausgeſtattet. Das eine „ie Helden Afrikas“ ( 4,50) von Major a. D. 
W. Langheld, mit Vorwort von Prof. Carl G. Schillings, ſchildert in einzelnen ausführ- 
lichen Lebens- und Charakterbildern die Taten und Verdienſte Slatin Paſchas, Emin Paſchas, 
Graf Samuel Telekis, Wißmanns, Stanleys u. a. Das andere — „Frohe Wander 
fahrten“ von Aug uſt Trin ius ( 4,50) — mit ſchönen deutſchen Landſchaftsbildern, 
enthält eine Reihe glänzend geſchriebener Reiſeſchilderungen: „Eine Moſelfahrt“, „Durch ben 
Spreewald“, „Über den Thüringer Wald“, „Hamburg mit der Vaterkant“, „Im Fidtel- 
gebirge“ uſw.; Trinius, der bekannte, ftets friſch und originell wirkende Erzähler, ganz er- 
füllt von deutſcher Freude an deutſcher Natur und Geſchichte, bietet auch hier nicht nur Land- 
ſchaftsbilder, ſondern er erzählt auch alles das, was an Geſchichte, Sage und Runft von Be- 
deutung für die betreffende Landſchaft ijt. 

Endlich möchte ich nod aufmerkſam machen auf zwei Spätlinge des Verlages En hlin 
& Laiblin, Reutlingen, auf zwei mit prächtigen Bildern ausgeſtattete Märchenſammlungen: 
„Max Geißlers Tauſendundeine Nacht, der Jugend erzählt“ (M 4,50) und 
„Heideprinzeßchen und andere Märchen für kleine und große Kinder“ von Anna 
Plot ho w (berausg. von der Freien Lehrervereinigung für Runftpflege zu Berlin: 34) — 
und auf die Auswahl aus Gedichten und Erzählungen von Aug uſt Kopiſch „Allerlei 
© e i fter“, beſorgt von Leo Greiner, mit vielen Bildern von Rolf von Hoerſchelmann (Mar- 
tin Mörikes Verlag, München). Dr. Hans Benzmann 


478 Gefhaft it Gefchäft 


Geſchäft ift Geſchäft 
(Berliner Theater -Rundſchau) 


NE eſchäft ift Geſchäft. Zur moraliſchen Rechtfertigung der Theaterſtadt Berlin läßt 
O (iD mit einiger Genugtuung darauf hinweiſen, daß die unſauberſten Theater- 
A geſchäfte mitunter bie unglüdlichften waren. Was bei ben jüngſten Direttions- 
ae denen in nächſter Zeit noch einige folgen follen, ans Tageslicht kam, gibt das Recht, 
von einer neuen Schwindelgründerperiode zu ſprechen. Der Zuſammenbruch Alfred Halms 
im Neuen Schauſpielhaus und die groteske Kataſtrophe der Direktion Rudolf Lothars, 
der knapp ſechs Wochen im Romödienhaus fein Lämpchen mit fremdem Ol nábrte, das waren 
Ereigniſſe, die auch den Berliner Kritiker zwingen, einmal einen Blick hinter die 
Kuliſſen zu tun. Denn iſt er berufen, künſtleriſche Abſichten zu vertreten, ſo kommt es ihm 
auch zu, dagegen zu proteſtieren, daß mit Kunſtdingen ein wüſtes Haſardſpiel, alſo mit höheren 
Intereſſen Schindluder getrieben werde. Freilich wäre es zunächſt Sache der Behörde, die 
doch ſonſt gerne ihre Naſe — am unrechten Ort (Zenſur!) — in künſtleriſche Angelegenheiten 
ſteckt, dem ſchimpflichen Skandal vorzubeugen. Sie hat es ja in der Hand. Sie ſtelle, ehe 
ſie zu einem neuen Theaterunternehmen die Konzeſſion erteilt, die Bedürfnisfrage. Sie 
fordere von dem Unternehmer einen genau zu prüfenden Vermögensnachweis und die Hinter- 
legung einer Kaution, die hinreichen muß, den Gagenetat für ein ganzes Jahr zu decken. 
Nein, nicht bloß die Schauſpieler müſſen geſichert ſein, ſie, die ſich der neue Unternehmer aus 
guten Stellungen holt, um ſie dann, wenn ſein Karren ſtecken bleibt, mitten im Spieljahr 
der Not zu überlaſſen; auch den Autoren, die ihre Stücke dem Direktor überließen, ſollte 
materielle Bürgſchaft geleiſtet werden. Gegen einen anderen Schaden ſind ſie ohnedies kaum 
zu ſchützen, — gegen den Verluſt ihrer Chancen nämlich, den ſie zu beklagen haben, wenn 
ſie das Aufführungsrecht einem Unverläßlichen übertrugen. Rudolf Lothar, dieſer bewegliche 
„Doktor Barnum“, hat fein Komödienhaus mit einer Rieſenreklame, aber mit keinem tauf- 
männiſchen Saldo fundiert. Siebenundachtzig Soliſten für fein Schauſpieler-Enſemble bat 
dieſer Menſch engagiert und fo viel Stücke erworben, beziehungsweiſe der Konkurrenz weg- 
geſchnappt, daß ein Theater für volle vier Jahre verſorgt geweſen wäre. Aber jon am 
Eröffnungstage des Komödienhauſes ftat Dr. Lothar tief in der Unterbilanz, und wenige 
Wochen ſpäter mußte er ſeinen Bankrott anſagen. Kunſtausbeuter ſcheuen dieſes harte, auf- 
richtige Wort; man veröffentlichte, daß bei Einleitung der Sanierungsaktion im Komödien- 
haus Herr Dr. Lothar die Direktion „niedergelegt“ habe. Ein Kaufmann, der ſeine Wechſel 
nicht einlöſen kann, „legt ſein Geſchäft nieder“! — Suaviter in modo, fortiter in re: die in 
äußerſte Bedrängnis geratenen Schauſpieler haben wenig davon, daß der ſchuldige Mann 
feine Handlungsweiſe verſchleiert. Eine Entſchuldigung gibt es für feine gewiſſenloſe Handlungs- 
weiſe nicht — wohl aber eine Erklärung. Und die gerade iſt das Bemerkenswerteſte fir 
den Kunſthiſtoriker: Dr. Lothar durfte ſich nicht ohne Fug berufen auf gewiſſe epidemiſche 
Zuſtände des Berliner Theater-Handels und Wandels. Er konnte, als er ohne einen Pfennig 
in ber Taſche fein Komödienhaus eröffnete, fo gut wie andere hoffen, daß die Schieber helfen 
werden. Seine beſondere Schuld und ſein beſonderes Verdienſt iſt es nicht, daß die Welt 
durch dieſen Zuſammenbruch Einblick gewann in ein faules Syſtem. 
l & e x 

SGSeeſchäft ift Geſchäft. Torheit, Verleumdung, den Berliner Theatern insgefamt den 
Makel der einzelnen anzuheften. Torheit, Verleumdung, ihnen allgemein zuzumuten, daß 
ſie auf künſtleriſchen Ehrgeiz und ſauberes Gewiſſen pfeifen. Es gibt hier Theaterdirektoren 
in allen Farben. Einige von ihnen haben es auch gar nicht nötig, Barbaren zu ſein; denn 
fie machen mit dem guten Geſchmack gute Geſchäfte. Und außerdem beſtehen die Königlichen 


47) 


Geſchäft Vt Geſchäft 479 


Theater, die von den fürſtlichen und ſtaatlichen Zuſchüſſen den Tagesſorgen entrückt werden. 
Sie hätten, wenn für ſie ein künſtleriſcher Wille maßgebend wäre, die Arme frei, der Kunſt 
zu dienen. Dem Königlichen Schauſpielhaus ginge ſein Publikum nicht durch, auch wenn 
man einmal einen anderen Vertreter der Moderne, als ausgerechnet Oskar Blumen- 
thal zu Worte kommen ließe. Der Hofbühne jüngſte Neuheit, des ſehr unblutigen Oskar 
trauriges Luſtſpiel „Waffengang“, ſchien, obgleich fein Vater es eben erft gezeugt hatte, 
aus dem verſtaubteſten Winkel der Rumpelkammer zu kommen. Es pries den toten Benedix, 
wer den lebendigen Blumenthal erlebte. Man lobte aber auch den älteren Blumenthal im 
Vollgenuſſe dieſes jüngſten; man erinnerte ſich mit einer gewiſſen Ehrfurcht des „Weißen 
Röſſels“ ... Kaum war mir diefe unvorſichtige Wehmut entſchlüpft, jo packte mich [don 
der Teufel beim Kragen; es führte das Schillertheater wahrhaftig das „Weiße Röſſel“ auf! 
Nun, nun, gegen ein harmloſes Theatervergnügen ſoll man nicht mit Kanonen ſchießen, und 
unter den ſterblichen Schwänken ijt ber Blumenthalſche einer der gelungenſten. Was mich reizte, 
des Schillertheaters zu erwähnen, ijt die Beobachtung, daß diefe große volkstümliche Kunſt- 
anſtalt in der letzten Zeit den Freunden wenig Gelegenheit bietet, fid mit ihren kü n ſt le- 
riſchen Leiſtungen zu beſchäftigen. Wem der Gedanke und die Vergangenheit der Schiller 
bühne koſtbar dünken, der muß rechtzeitig vor einem Abgleiten auf das Niveau der Geſchäfts⸗ 
theater warnen. Die vieltauſendköpfige Gemeinde des Schillertheaters iſt ſo treu, daß man 
ihr ſogar Kunſt zu bieten wagen darf... 
* M * 

Als Goethes Theaterdirektor feine vor neunzig Jahren noch recht ſchlichten Zauber- 
maſchinen aufzog, da rief ein Teireſias den Namen „Max Reinhardt“. Der leiſtet nun 
Ungeabntes in Himmelslichtern und Maſſenſuggeſtionen, und die vielfältigen Einfälle, die 
er manchem geradlinigen Werke der Klaſſik aufpfropfte, beſtätigten reichlich den Satz: „Wer 
vieles bringt, wird manchem etwas bringen.“ Sein Prinzip ijt es, áltejte Reſpektsdramen 
durch irgend einen verblüffenden Coup neu zu machen. Aber eines unterſcheidet ihn weſentlich 
vom Herrn Kollegen im „Fauſt“: den Dichter behandelt Reinhardt nicht als angeftellten Diener; 
freilich dient auch er ihm nicht mit blindem Gehorſam. Er erhebt fih (manche (agen: er über- 
hebt ſich ..), als ſchöpferiſcher Schaufpieler den Schöpfer brüderlich zu grüßen. Es ijt fait 
eine Senſation, wenn im Oeutſchen Theater einmal die Dichtung eines großen Alten ohne 
die Senſation einer jungen Eindichtung aufgeführt wird! Vor Shakeſpeares Genius 
hat ſich Reinhardt jüngſt mit Selbſtloſigkeit gebeugt. Und ſeine Aufführung des zweiteiligen 
„König Heinrich IV.“ war ſchön. Sie überwand alle toten Punkte der Chronik, fie 
holte aus dem Schutte der Geſchichte bas Lebendig⸗Menſchliche. Und das gelang ihm wunder- 
barerweiſe ohne Zange und Schere der Bearbeiter. Auf der raſch gedrehten Bühne wurde 
zum erſtenmal ſeit Altenglands Tagen das unverkürzte Königsdrama geſpielt. Der Kunſt des 
Malers (Ernſt Stern) ward ein voller Reiz nach dem anderen abgewonnen. Belebte Bilder 
ſchuf der Regiſſeur. Die Szenen in Witwe Hurtigs Wirtsſtube — beſonders das kannibaliſch 
wohlige Zechgelage des zweiten Teils — ſchienen die Geiſter großer Niederländer aus der Ruhe 
der Gemälde zu elementarer Bewegung geweckt zu haben. Den gelehrten Krämern und den 
ſteifleinenen Überlieferungshütern der Hoftheater zum Trotze, hatte Reinhardt den Bann 
des Stildramas durchbrochen und in der menſchlichen Tragikomödie, die alles Dichten Ghate- 
ſpeares ijt, der Komödie ihr volles Recht gegeben. Der Humor Falſtaffs unb feiner Rumpane 
war fo zügellos, wie er in Shakeſpeares Hirn fih ausgelebt bat, unb ein überkühner Natura- 
lismus des Gemeinen, aber zugleich des reinigenden Genies, ſtäupte jene zimperlichen Seelen, 
die den Gott Pan zu einem braven Paſtor machen möchten. Falſtaff triumphierte im Geiſte 
der Aufführung, obwohl der dicke Ritter einen nur äußerlich feiſten und innerlich mageren 
Vertreter gefunden hatte. Auch das ernſte Drama, das zwiſchen dem Vater, König und 
dem Prinzen aus Genieland ſpielt, kam an Bedeutung nicht zu kurz, obwohl wiederum an 


480 Geſchaft iit Geſchaſt 


wichtigſter Stelle der einzelne Schauſpieler verſagte. Die affettierte Gedankenbläſſe, bie Moiſſi 
dem Prinzen Heinrich aufſchminkte — Prinz Heinz könnte nicht feine tollen Sprünge tun, 
wäre er nicht mit all ſeinem verborgenen Adel ein Leichtfuß! — dieſe Verkehrtheit bedeutete 
mehr als einen Fehler — nämlich eine Entartung. Man hat den begabten jungen Künſtler 
zum Flageolett-Virtuofen feiner fügen Kehle verbildet, und die Weiber von Berlin WW. 
drohen ihn zu verderben. Hat man die Mänadiſch-Hyſteriſchen im Vorleſeſaal um den ge- 
liebten Jüngling brünſtig raſen geſehen, ſo begreift man bedauernd, daß er auf der Bühne 
dem Selbſtgötzenkult verfällt. Hier gilt's, daß ſich ein edles Glied noch ſelber rette. Wie 
flat? mußte bie Geſamtmacht der „König-Heinrich“- Aufführung fein, daß fie große Schwächen 
mit großem Glanze überſtrahlen konnte! 
* 


* 
* 


Fern dem Markte wollte Gerhart Hauptmann bie Geftalten feiner Villen, 
feinen, vom Hauche der Unendlichkeit angewehten Dichtung: „Gabriel Schillings 
Flucht“ erſtehen ſehen. Das ländliche Tempelchen Goethes zu Lauchſtedt gab ihm die Ge- 
währung. Nun aber holte fid) doch auch das Berliner Leffingtheater, die alte Wiege der Haupt- 
mannſchen Bühnendichtungen, ihr Stammgut heim. Die Bühne und nicht das Publikum war 
dem Drama weh-feliger Erdenflucht geweiht. Was in unferen Premieren Frack oder Decolleté 
zeigt, das gleicht dem Geiſt, den es begreift, das hat nie die Sehnſucht nach der Reinigung 
des Lebens durch einen freien Tod geſpürt. Das Drama iſt in dieſen Blättern von einem 
Mitempfinder gemeſſen worden, der für die kranke Schwäche des Gabriel Schilling, des am 
Weib und an ſich ſelbſt verdorbenen Künſtlers, wenig Gnade, aber für das Flügelrauſchen 
der Seele ein zartes Gehör hatte. Ich beſcheide mich, feſtzuſtellen, daß das Berliner Publikum 
vorwiegend der Pſychoſe und nicht der Pſyche der Dichtung nachging, daß es daher nur inter- 
eſſiert, nicht bewegt ſein konnte. Man bereitete dem Dichter immerhin widerſpruchsloſe 
Ehrungen. 

* * * 

Einen ſtarken Theatererfolg dagegen trugen Ludwig Thoma und bas Kleine 
Theater mit dem Volksſtück „Magdalena“ davon; unb voll Genugtuung fei es geſagt: 
Dichter und Bühne mit reinen, ehrlichen Mitteln. Ein Volksſtück! Man denkt an das theatra- 
liſche „Volk“, das aus Kliſcheefiguren in Lodenrock und Kniehoſe beſteht; und an ein „Stück“, 
das für die Kliſcheezuſchauer in feinerer Gewandung grob gepinſelt ift. Thomas Volksſtück 
ijt Dichtung, geſchöpft aus dem Volke der Einfachen; ift ſelbſt einfach, aber in der Primitivität 
nicht arm, ſondern reich, — reich an wahrhaftem Leben. Eine ähnliche Gegenſtellung, wie 
ſie Schmidtbonn für ſein Jugendwerk „Mutter Landſtraße“ benützt hat, iſt auf dem Grundriß 
des Dramas „Magdalena“ ausgeführt. Hier wie dort der ehrſame, ehrgeachtete, im Ronjer- 
vativismus väterlicher Anſchauung erſtarrte Bauer, dem das eigene Kind ſcholle- und hausehr- 
flüchtig geworden iſt. Bei Schmidtbonn iſt's der Sohn, bei Thoma die Tochter, die in der 
großen Stadt den Zuſammenhang mit der Heimat verlieren. In beiden Dramen kehren die 
Kinder, in tiefer Verkommenheit, ins Vaterhaus heim. Nicht etwa lehrhaft predigt einer 
der Dichter das: „Bauer, bleib' du der Stadt fern!“ Beide Dichter nehmen nur ein Stück 
Natur vor ihr ſeeliſches Auge und betrachten es eiferlos. Sie nehmen wahr, daß die Stimme 
des Blutes ſchweigt, da Vater und Kind, einander räumlich wieder nahe, durch eine Welt ge- 
trennt bleiben. So groß iſt die Fremdheit, daß Väter und Kinder ſich taub geworden ſind, 
ſo ſtark iſt die Selbſtſucht der Ehre und die Macht der gewohnten Moral, daß nicht einmal das 
Mitleid gegen den tiefen Gegenſatz aufkommt. Aus dieſem Grundthema entwickelten fid) bie 
zwei Schauſpiele, die im übrigen keine Weſensgemeinſchaft beſitzen. In Schmidtbonns ſtillos 
verworrenem romantiſch-ſozialen Phantaſiedrama drängt alles zur Verkündigung freimenſch⸗ 
licher Theſen gegen die Ordnung der Welt, und dieſem Demagogendrang wird der Realismus 
der Charakterzeichnung geopfert: fein Vater Bauer ift ein Anmenſch mit verborgenem weichen 


Geſchäft ift Geſchäft 481 


Gemüt, und der Sohn ein Edelmenſch mit den äußeren Zügen eines Lumpen. In Thomas 
Tragödie ſchrillt auch e in Anterton der Gronie gegen die Allzugerechten, die Hüter der Ordnung; 
doch keine vorgefaßte Abſicht fälſcht die Pſychologie, feine Geſtalten find Menſchen, nicht 
Tendenzorgane. Die Tochter Leni, die in der Stadt einem freien Gewerbe nachgegangen 
war, wird per Schub und vom Gendarmen ins Elternhaus gebracht. So ſchwer empfindet 
der makelloſe alte Vater dieſe Schande, daß er ſein Kind lieber tot als unter ſeinem Dache 
wüßte. Noch überdies wird er von der Tücke ſeiner feindlichen Nachbarn ſchimpflich gehöhnt 
und gereizt, und feine gütige Frau, Lenis Mutter, ftirbt vor Gram. Immerhin — gerade 
der äußere Widerſtand verbindet ihn feſt mit ſeiner Pflicht. Nur eiſenſtrenge, eiſenkalte 
Pflicht zwingt ihn, der Tochter das Obdach und den Schutz eines häuslichen Gefängniſſes 
zu gewähren. Die Liebe, die ein jedes braucht, kann er ihr nicht geben. Thoma widerſtand 
der Verſuchung, den anderen Teil, die Tochter, im Konflikte zu begünſtigen. Magdalena trägt 
den Namen der Büßerin wie zum Spotte, ſie iſt kein böſes, kein gutes, ſie iſt ein vollkommen 
amoraliſches Geſchöpf — wie die meiſten Opfer der Straße. Wohlbegreiflich ginge die Forde- 
rung, daß der Vater die Unverantwortlichkeit des ſchuldloſen Tierchens begreife, gegen alle 
Vorausſetzungen feiner Natur unb feines Wiſſens. Es ift befte Dichterarbeit, wie diefe Menſchen 
aneinander vorüberſprechen, vorüberleben, ohne fid) zu verſtehen! Leni nimmt, um aus 
der Qual der heimatlichen Verhältniſſe fliehen zu können, ein paar Markſtücke von einem 
begiinftigten Burſchen. Der Gentleman verbreitet's im Dorfe, wo Wut aufſchäumt. Nun 
ja, die Sittſamen wehren ſich gegen die Verteuerung der Lebensmittel... Der heißblütige 
alte Mann, der Vater, hält Gericht ohne Verhör; et erſticht fein Kind. Ach, hatte er das Theater- 
meſſer doch nicht zur Hand gehabt! Es hat einen zu abgenutzten Griff, es wirft ein fremdes 
Blitzen in dieſes Schauſpiel, das ſo kernechte Bauern und Menſchen herſtellt, wie ſie im Reich 
des Nagelſchuhs ſeit Anzengrubers Tagen keiner mehr geſchaffen hat. Gerade ſo ohne Falſch 
war auch die Vorſtellung im Kleinen Theater: mit Centa Bré als Magdalena, Rlein-Rhoden 


als altem Bauer und Jita Grüning, bie eine Mutter ſterben ließ, daß uns das Herz bebte. 
xk 


x 
* 


Die Privattheater find an bie Geſchäftsmaximen mit ihrer Exiſtenz gebunden, und 
wir müffen zufrieden fein, wenn fie mit der Kunſt und nicht gegen die Kunſt ſpekulieren und 
wenn nicht unter dem Vorwand künſtleriſcher Beſtrebungen ein ſchmutziges Getriebe gedeiht. 
Aber es gibt einen Ausblick auf eine Entwicklung zu geſicherten Verhältniſſen. In den Organi- 
ſationen der freien Volksbühnen wird jenes Theater der Zukunft ſichtbar, das der 
Privatſpekulation entrückt und vom Volke erhalten ſein und dem Volke gehören wird. Die 
„Neue Freie Volksbühne“ in Berlin, der gegenwärtig 60 000 Mitglieder angehören, iſt im 
Begriffe, ein großes Volkskunſthaus zu erbauen. Schon ſeit zehn Jahren bietet fie, die für 
ihre Mitglieder auch die Sonntagnachmittag-Vorſtellungen von zehn Berliner Theatern ge- 
pachtet hat, in ihrem beſcheidenen Heim in der Köpenickerſtraße durchaus künſtleriſche Arbeit. 
And jetzt bat fih als ihre Tochtergründung der Verein der literariſchen Berſuchs bühne 
gebildet, der die Aufgabe der hiſtoriſchen „Freien Bühne“ von 1889 übernahm, Oichter und 
Dichtungen entdecken will, die den Geſchäftstheatern zu wenig Gewinn verſprechen, und in 
Vorſtellungen vor geladenem Publikum die Kunſt befreien wird von den Schrauben und 
Ketten der Zenſur. Das erſte Geſellenſtück der Volksbühne, das Schaufpiel „Walter Volk“ 
des Deutſchruſſen Fedorow, war allerdings in keiner Hinſicht gefährlich. Ein verſpätetes 
Problemdrama wurde uns gezeigt, das noch einmal die Frage aufwirft, ob der vorurteilsfreie 
Mann fih in der rauhen Wirklichkeit mit der Theorie der unbedingten Frauenfreiheit ver- 
tragen kann. Das iſt, nebenbei bemerkt, niemals ein ſoziales, immer nur ein individuelles 
Problem, und auch nur perſönlich wird es trotz der akademiſchen Debatten in dem Stüd mit 
„nein“ gelöſt. Der Freiheitsapoſtel Walter Volk geht an der Konſequenz feiner Lehre zu- 
grunde. Das Schauſpiel, das geiſtige Werte hat, wurde würdig dargeſtellt. 

Der Türmer XV, 3 32 


482 Die Unſtetheit des Schriftſtellers 


Das Volkstheater brachte außerdem zwei ältere literariſche Werke für fein großes 
Stammpublikum heraus: die geiftvolle ſatiriſche „Do ppelgängerkomödie“ bes 
höchſt eigenartigen deutſch-ſchwediſchen Dichters Ad olf Paul, und Wilhelm Schmidt- 
bonne Drama „Mutter Landſtraße“. Es wäre zu wünſchen, daß bie Wufmertjam- 
keit unſerer kritiſchen Kunſthorcher fid regſamer zuwenden möchte der Arbeit eines Inſtituts, 
das dem Worte „Geſchäft iſt Geſchäft“ ein anderes entgegenſetzt: „Die Kunſt dem Volke!“ 

Hermann Kienzl 
X 


Leſe 


Die Vnſtetheit des Schriftitellers 


In einer kleinen pſychologiſchen Studie, die Georg Hermann in der „Boff. Ztg.“ ver- 
öffentlicht, wird die tragiſche Seite des Schriftſtellerdaſeins beleuchtet. „In der großen Organi- 
ſation des Lebens und des Staates,“ heißt es da, „nimmt der Schriftſteller eine bedeutende 
Stellung ein, und doch ſcheint für ihn kein Plätzchen frei zu ſein. Er iſt ein wichtiger Faktor 
in der Geſellſchaft und ſteht doch ganz außerhalb. Er betet das Leben an, das er bezweifelt, 
haßt und verflucht. Er ſchildert es, ohne ihm anzugehören. All fein eigenes Erleben ijt zer- 
riſſen von Kritik und Selbſtbeobachtung. Er fragt da, wo er ſchweigen ſollte — und wird um 
Genuß betrogen. Und er ſchweigt da, wo er fragen ſollte — und wird um Glüdsgüter betrogen. 
Da er nie vergißt, daß das Leben ein Problem ijt, vergißt das Leben zum Schluß ibn..." 
So wird alles, was für andere gilt, bei dem Schriftſteller aufgehoben oder ins Gegenteil ver- 
kehrt. „Jeder andere führt doppelte Buchführung, der Arzt, der Zurift, der Kaufmann, der 
Techniker. Er hat feinen Tag eingeteilt in Berufsſtunden und in — ich will Lebensſtunden 
jagen, in die Zeiten, da er Vater ift, Geliebter, Spaziergänger, Spieler, Dinergaſt, Hoch- 
touriſt. Gewiß mögen die Sorgen auch aus dem einen in die anderen hinüberſpielen, aber 
das ſpricht doch nicht gegen die reine Scheidung; und das eine iſt ihm nie Problem für das 
andere. Beide fließen nicht ineinander, vereinen ſich nicht zu einem unlösbaren Wirrwarr 
von Beziehungen, ſtehen nicht unter gegenſeitiger Kontrolle, wie das beim Schriftſteller der 
Fall iſt, bei dem nur allzu leicht die rein menſchlichen Dinge unter dieſer Zwitterſtellung leiden, 
Emerſon ruft nach dem Tode eines Sohnes aus, daß das Schlimmſte daran wäre, daß es ihn 
nichts lehre. Ein Wort — wundervoll und grauſig. Und Maupaſſant ſchreibt, daß er auf der 
Beerdigung eines Freundes iſt, alle anderen weinen, auch ihm geht es nahe, aber er muß 
ſehen, wie hart und blank die Lichter auf den Kirſchlorbeerzweigen der Kränze ſind, und muß 
hundert Einzelzüge bemerken und halbbewußt buchen.“ Oer Verfaſſer führt aus, wie diefe 
Anſtetheit viele Schriftſteller in die Ehe hinein und wieder hinaus treibt, wie nicht wenige 
an ihr zu Nomaden werden, — um doch nicht aus dem Umhertreiben in der Welt, ſondern 
aus Jugendeindrücken und Heimatserinnerungen das Weſentliche ihrer Lebenseindrüde zu 
beziehen. 


IN N. RU S g 0 VIVAL 
NUN RU MIT H AIR N 


Bildende Kunst. 


Kinderbilder aus drei Jahrhunderten 
Von Artur Dobsky 


Nenn zu allen Zeiten das Kind einen wichtigen Anteil allen menfch- 
VIA lichen Intereſſes für fid) in Anſpruch genommen und auch ge- 
EN RZ) funden bat, fo ijt ihm die vielleicht weitaus bedeutendſte Nolle, 
die es zu ſpielen batte, in der Kunſt und inſonderheit in ber Male- 
rei zugefallen. Fern vom gewaltig brauſenden Leben hat das Kind feine eng- 
umgrenzte Welt für ſich, in die wir alle, wes Geiſtes wir auch ſind, zuzeiten uns 
doch gern einmal zurückverſetzen. In ſeiner keuſchen Unberührtheit, ſeiner tind- 
lichen Lieblichkeit, die ſich in anmutigen Formen des Körpers, des Geſichts, in 
graziöſen Bewegungen und drolligen Außerungen der Sprache und Gebärde tund- 
gibt, hat das Kind immer eine begeiſternde Suggeſtion auf den Künſtler ausgeübt 
und ihn zu Auslaſſungen in ſeiner Kunſtbetätigung angeregt. Können wir doch 
ſchon in der Antike das Bild des Kindes, freilich ſeltener als ſelbſtändige Perſon 
von Bedeutung und Charakter, als vielmehr als mitwirkendes, untergeordnetes 
Glied zwiſchen den Gruppen der Erwachſenen finden. Nähern wir uns dann dem 
Mittelalter und kommen ſpäter auf das Quattrocento und Cinquecento zu, fo 
tauchen hier und da unter den Werken der Botticelli, Ghirlandajo, des Broncino 
und Tizian und deutſcherſeits bei Holbein und Dürer u. a. Kinder in beſtimmter 
Form, als Porträt oder handelnde Perſonen, auf. Gern würde ihnen allen, die 
in Tizians „Tochter des Roberto Strozzi“ vielleicht die höchſte Vereinigung von 
künſtleriſcher Meiſterſchaft und kindlich-lieblicher Anmut fanden, als wichtige 
Dokumente für die Kunſt jener Zeitepochen Erwähnung gezollt werden, jedoch 
die räumliche Beſchränktheit legt hier ein energiſches Veto ein. So ſoll dieſe Ab- 
handlung da einſetzen, wo ſich von vornherein quantitativ wie auch qualitativ 
die ausſichtsreichſte Perſpektive eröffnet: im 17. Jahrhundert. Soll die Welt 
der Kleinen und Kleinſten in ihren typiſchen Erſcheinungen vor dem Auge vorüber- 
ziehen, und uns in die reine Atmoſphäre kindlichen Seins und Geiſtes verſetzen, 
aus der wir vielleicht, ich wage es zu ſagen, am Ende nur ungern ſcheiden. 
Glanzvoll find die Namen der Künſtler, die das 17. Jahrhundert hervor- 
gebracht hat. Stellt es doch mit ſeinen holländiſchen und ſpaniſchen Meiſtern 


a 
2 


ag’ / gaa 
* 


484 Oobetp: Rinderbilder aus drei Jahrhunderten 


den Höhepunkt der klaſſiſchen Malerei überhaupt dar, die zu Ende dieſes Gatu- 
lums, als alle diefe Künſtler ins Grab geſunken waren, fid) einem nicht weg- 
zuleugnenden Verfall näherte. Unter den Großen jener Zeit iſt einer der Größten 
Diego Velasquez (1599 — 1660), der mit dem Reiterbildnis des jugendlichen 
Prinzen Don Baltaſar wohl eine der reifſten Schöpfungen ſeiner großartigen 
Kunſt aufſtellte. In vier Gemälden iſt das von ſeinen Eltern zärtlich verhätſchelte 
Kind von dem Neiſter dargeſtellt worden, einmal auch als Säger, von allen 
aber iſt das Reiterbild unſtreitig das bedeutendſte. Auch die kleine Infantin 
Margareta Thereſia fand in Velasquez einen glänzenden Porträtiſten. Kaum, 
daß das reizende Prinzeßchen auf den eigenen Füßen trippeln konnte, mußte 
der große Maler ſeine Kunſt in den Dienſt der kleinen Dame ſtellen, und es entſtand 
jenes entzückende, an maleriſchen Qualitäten ſo reiche Kinderbild, das damals 
als Geſchenk für die Großeltern beſtimmt, heute noch im Hofmufeum zu Wien 
als eine ſeiner vollkommenſten Leiſtungen prangt und bewundert wird. 

Auch Velasquez' Landmann Bartolomeo Eſtéban Murillo (1618—1682), 
der fromme Heiligenmaler, der fein ganzes Leben lang in feinen Werken dem 
Kultus der Kirche diente, hat einige Kinderbilder geſchaffen. Wer kennt ſie nicht, 
die berühmten Sevillaner Straßenſzenen, auf denen meiſt eine Gruppe arm- 
ſeliger Kinder ſich beim Spiel oder bei der noch angenehmeren Beſchäftigung des 
Eſſens vergnügt. Der hier abgebildete trinkende Knabe (Nationalgalerie, London) 
ift weniger bekannt, ſicher aber ift er, vom rein künſtleriſchen Standpunkt aus be- 
trachtet, den bekannten Münchener Darſtellungen ebenbürtig an die Seite zu 
ſtellen. Man möchte ihn um ſeiner ganz eminenten Charakteriſtik willen eher 
noch höher einfhäßen. — Wie fein ſpaniſcher Kollege, fo bat auch der Großmeiſter 
der Antwerpener Schule Anton van Oyck (1599 — 1641) gerade als Hofmaler Karls I. 
von England Gelegenheit gefunden, eine Anzahl Kinderbilder zu ſchaffen, die heute 
den Beſchauer noch ebenſo erfreuen als ehedem die fürſtlichen Eltern. Und mit 
der gleichen Vollendung und Bravour, mit der der Künſtler ſeine Aufgabe löſte, 
wenn es galt, erwachſene Menſchen darzuſtellen, hat er auch die fünf Bilder be- 
handelt, auf denen die königlichen Sprößlinge der Nachwelt überliefert wurden. 
Trotz des großen künſtleriſchen Ernſtes, trotz der beiſpielloſen Nobleſſe des male- 
riſchen Vortrages, wieviel kindliche Anmut und Orolerie ijt über die allerliebſten 
Perſönchen ausgegoſſen, mit welch feinem Empfinden hat er ſich in die kindliche 
Seele verſenken müſſen, um zu ſolchen Nefultaten zu gelangen. Ein anderes Bild 
ſieghafter Oyckſcher Schönheit, in dem der Künſtler mit ſouveräner Beherrſchung 
der techniſchen Mittel wohl mit ſein Beſtes gab, iſt der „Prinz Vilhelm von 
Oranien“. Leider iſt das Bild allzuſehr Paradeſtück geworden, und künſtleriſch nicht 
minder wertvolle Bilder, wie das prachtvolle Porträt des Prinzen Ruprecht von 
der Pfalz (Galerie Wien), haben unter ihm leiden müſſen. — Daß auch Peter 
Paul Rubens, der große, allſeitige Träger der flämiſchen Kunſt, unter der ge- 
waltigen Zahl ſeiner unvergleichlichen Werke das Kinderbild nicht ganz vergaß, 
ijt hocherfreulich. Hat er doch wieder eine ganz andere füunjt, eine ganz andere 
Malweiſe, die auch in dieſer Richtung neuartige Schöpfungen erwarten läßt. 
So ſtellt er mit dem Gemälde feiner beiden Knaben aus der Ehe mit Ffabella 


Dobsty: Rinderbilder aus drei Jahrhunderten 485 


Brant ein ebenſo ſympathiſches als hochbedeutendes Werk auf, das unter allen 
Kinderbildniſſen, die die Kunſt je erzeugt, mit an erſter Stelle ſteht. Die ganze 
Anordnung der Gruppen, das wundervolle Spiel der Farben, auf dem Licht und 
Schatten eine große Rolle ſpielen, ſtempeln das Gemälde zu einem Werke, in 
dem fic rührende Vaterliebe mit wahrhafter künſtleriſcher Meiſterſchaft zu einem 
großartigen Ergebnis vereint. 

Die große Liebe, die der Künſtler zu ſeinen Kindern gehabt haben muß, 
ſpricht auch mit ganz beſonderem Nachdruck aus dem entzückenden Bildchen in der 
Berliner Galerie, das den kleinen blondlockigen Nikolaus, den Jüngſten der Ge- 
ſchwiſter, zeigt, wie er mit ſeinen fleiſchigen Patſchhändchen ſich bemüht, ein 
Springvögelchen fliegen zu laffen. Wie viele Tauſende unſerer modernen oft wider- 
lich kitſchigen Kinderbilder müſſen vor dieſem köſtlichen Dokument echter, großer, 
ausgereifter Künſtlerſchaft die Segel ſtreichen. 

Frans Hals (1580 — 1665), der Maler lachender, luſtiger Menſchen, der fröh- 
liche, immer liebenswürdige Zecher, auch er hat Kinderbilder gemalt. Er, dem die 
Wiedergabe des Lachens in allen Abſtufungen, vom heimlich verhaltenen Schmun- 
zeln bis zum hellaufjauchzenden, herzerſchütternden Gelächter den Kulminations- 
punkt feiner einzigartigen Kunſt bedeutete, hat Erwachſene wie Kinder mit Vor- 
liebe unter den Eindruck mehr oder minder behaglichen Vergnügtſeins geſtellt. 
Wie dies ihm gelungen, das iſt wohl am eindrucksvollſten in dem Gemälde des 
„Singenden Knaben“ (Berliner Galerie) dokumentiert. Man könnte dieſem im 
Format kleinen, in der techniſchen Vollendung ſo großen Bilde gar viele Worte 
widmen, aber es ſpricht ja aus ſich ſelbſt heraus, und jeder, der es ſah, wird dieſe 
Sprache vernommen haben. — Nicht allzuweit von dieſem prächtigen Werke Hals- 
fher Kunſt entfernt hängt ein anderes Kinderbild, an dem wohl niemand vorüber- 
gehen wird, ohne aufrichtige Freude an den dargeſtellten allerliebſten kleinen Per- 
ſonen zu empfinden. Es ſind die auch vielfach als „Königskinder“ bezeichneten 
Töchter von Cornelis de Vos (1585 — 1651). Freilich es find in der Tat zwei rei- 
zende Geſchöpfchen, die da teden Blickes in die Welt ihrer kindlichen Träume hinein- 
ſchauen, wohl geſchaffen, daß ein Künſtler, wie Cornelis de Vos es war, ſie in 
einem Meiſterwerke verewigte. Ein rieſig drolliges Kinderbild vom ſelben Künſtler 
beſitzt das Frankfurter Städelſche Muſeum. Ein kleines Mädchen, das ſicher ohne 
„Mellin's food“ zu ſolch prächtiger Entwicklung gelangte, fist ftillvergnügt in feinem 
Stuhl und zerbröckelt mit den dicken Fingern das vor ihm liegende Gebäck. Es 
iſt der Typ eines flämiſchen Kindes und vom Meiſter in ſeiner ganzen, etwas 
unbeholfenen Natürlichkeit mit derber Realiſtik dargeſtellt. 

Eine Menge ſchöner und künſtleriſch bedeutſamer Kinderbilder ließen ſich 
aus den Werken der Ter Borch, Gottfried Schalten, Frans Mieris u. a. noch 
herausholen, doch der Raum erlaubt es nicht, und fo foll mit dem Künſtler, der 
über ſie alle gigantiſch hinausragt, mit Rembrandt van Rijn das 17. Jahrhundert 
ſeinen glanzvollen Abſchluß finden. Die Bilder von ihm, die unter die Kategorie 
Kinderbild zu fallen haben, ſind der Allgemeinheit durch ihre allzu entlegenen 
Aufenthaltsorte leider wenig erreichbar. Die Eremitage zu Petersburg, die dortige 
Galerie des Fürſten Zuffupoff, die Wallace Collection in London und die Samm- 


486 Dobsty: Kinderbilder aus drei Jahrhunderten 


lung Rothſchild in Paris find die glücklichen Beſitzer jener mit wahrhaft Rem- 
brandtſcher Meiſterſchaft gemalten Kinderporträts, die bezeugen, wie er, der alle 
Provinzen der Kunſt unter ſeine Hände zwang, auch dem Kinde gegenüber der 
einzigartige geniale Künſtler war. — 

Von geradezu epochaler Bedeutung für die Entſtehung einer ſchier unerſchöpf⸗ 
lichen Fülle entzückender Kinderbilder iſt das 18. Jahrhundert. Und hier tritt 
England, das bis dahin von einer ſpezifiſch eigenen Kunſt kaum reden konnte, 
deſſen Souveräne, wenn ſie einen Hofmaler brauchten, ſich die Malerfürſten anderer 
Länder kommen laſſen mußten, mit einer Reihe glänzender Namen unvergäng- 
lichen Ruhmes an die Spitze. Wo immer Gainsboroughs Name genannt wird, da 
werden neben ſeinen unvergleichlich ſchönen Frauengeſtalten auch die Geſtalten 
feiner Kinderbildniſſe in der Erinnerung aufſteigen. Man denkt an das reizende 
Figürchen der kleinen Miß Haverfield, das unter dem rieſigen Hute fajt verfdwin- 
det, an den allerliebſten „pink boy“ und ganz beſonders an den in der gleichen 
Sammlung (Wallace Collection, London) hängenden „blue boy“. Dort herz- 
erfriſchende kindliche Naivität, hier unkindliche, faſt tragiſche Poſe, die uns das 
eigenartige, faſt viſionär wirkende Kinderbild wohl nie vergeſſen laſſen wird. 
Eine ganze Galerie Kinderbilder pon der genialen Hand Gainsboroughs ließe fid 
mühelos zuſammenſtellen, zu der die Sprößlinge engliſcher Lords und Füriten 
ebenſogut Modell geſtanden haben wie das ſchlichte Kind des Dorfes, und in allen 
werden wir den großen Meiſter wieder finden. Mehr aber noch als Gainsborough 
hat fein bedeutendſter Rivale Sir Joſhua Reynolds (1725—92), der erklärte Maler 
der Londoner Hofgeſellſchaft, ſich dem Studium des Kindes gewidmet, deſſen Er- 
gebniſſe für alle Zeiten eine Sonderſtellung unter den Kinderbildern einnehmen 
werden. Wenn ich „Simplicity“, „Innocence“, „Love me, love my dog“ nenne, 
wenn ich an das wunderbare, ſo unendlich nobel gemalte aber wenig bekannte 
Porträt des jugendlichen „Lord Morpeth“ erinnere, ſo ſind genug genannt. Sie 
allein genügen, um den Ruhm Reynolds’ ‚neben einem glänzenden Techniker, 
einem raffinierten Koloriſten auch ein feinſinniger, tiefgehender Seelenſchilderer 
geweſen zu feiu, hinreichend zu dokumentieren. 

Von den großen Meiſtern der engliſchen Schule ſind noch Thomas Lawrence 
(1769—1860) zu nennen, der mit feinem „Maſter Lambton“ vielleicht das eigen- 
artigſte, perſönlichſte Werk ſeiner ſonſt ſo liebenswürdigen Kunſt bot. Man mag zu 
dem ſchönen, ſchwarzlockigen Knaben mit den großen, ſeelenvollen Augen immer mit 
ſeltſamem Empfinden emporſchauen, ijt es doch, als fei es eine eigene geheimnis- 
volle und ahnungsſchwere Welt, in die dieſes Kind träumenden Ernſtes hineinſieht. 
— Dann käme noch George Morland (1763—1804) mit feinen drollig- heiteren 
Kindergeſellſchaften, John Hoppner (1759 — 1810), der mit den kleinen Pringeffin- 
nen Mary und Sophie ſich die denkbar reizendſten Modelle ſuchte, und Sir Wil- 
liam Beechy (1753—1839), deffen „Little Mary“ geradezu der Znbegriff kindlicher 
Drolerie und Lieblichkeit iſt. Es iſt aber auch in der Tat ein ſüßes Weſen, 
diefe kleine engliſche Lady in dem ſchlichten weißen Kleidchen, unter dem ganz un- 
geniert ein Paar ſpitzenbeſetzte Hoͤschen hervorlugen, und mit dem rieſigen, rot- 
bebänderten Hut, deſſen Faſſon unſere ſechsjährigen girls von heute wieder genau 


Oobstp: Kinderbilder aus brei Jahrhunderten 487 


jo gern tragen, wie damals ihre Schweſtern vor hundert Fahren. — Wenn wir 
nun zu den Meiftern der franzöſiſchen Schule des 18. Jahrhunderts übergehen, 
fo ift es beinahe ſelbſtverſtändlich, daß Jean Baptiſte Greuze (1725—1805) ben 
Reigen eröffnet. Schauen wir uns das Oeuvre dieſes äußerſt produktiven Herrn 
an, ſo ſtellen kleine, ſüße, verträumte Mädchengeſtalten und Köpfchen in hunderterlei 
Variationen das Hauptkontingent ſeiner ganzen Tätigkeit dar. Freilich dieſe oft 
von ſtiller, ergebener Verzückung, oft von jammervoller Weinerlichkeit erfüllten 
Mädchenblumen find wohl alle in ein endloſes Meer von Sentimentalität unter- 
getaucht, ſie appellieren alle an irgendwelche weichen Regungen des Beſchauers, 
aber ſie haben den Ruhm ihres Meiſters beſſer und nachhaltiger bewahrt als ſeine 
einſt geprieſenen und heute vergeſſenen Sittenſchilderungen. Neben Greuze haben 
auch Nattier und der kürzlich erſt wieder viel gefeierte Fragonard einige ganz 
bedeutende Bilder aus dem Reiche des Kindes geſchaffen, doch mit keiner ihrer 
Schöpfungen haben ſie das erreicht, was ihr berühmter Vorgänger Antoine 
Watteau (1684—1721) mit feinem einzig daſtehenden Bilde „Der Tanz“ erreicht 
hat. Dieſe im Beſitze des deutſchen Kaiſers befindliche Perle Watteauſcher Kunſt 
iſt gleichſam ein Preislied auf die reinſte, vollkommenſte Kindesunſchuld. Wohl 
gibt es wertvollere, höher einzuſchätzende Werke des Meiſters, aber keines kann an 
inniger, herzerhebender Lieblichkeit dieſer wahrhaft lieblichen Kinderidylle gleich- 
kommen. Koloriſtiſch geradezu bravourös behandelt iſt die Figur des tanzenden 
Perſönchens, das ſich mit vollendeter Grazie nach den Klängen der Schalmei 
ihres jugendlichen Schäfers bewegt; unendlicher Liebreiz liegt über den beiden 
kleinen Knaben, von denen der eine mit kritiſchen, der andere mit wohlgefälligen 
Blicken der Tänzerin folgt. — Mit Jean Baptiſte Chardins (1699 — 1769) fo 
prächtig geſchautem und trefflich gemaltem Kinderbild „Das Kartenhaus“ in der 
Eremitage in Petersburg, einem lieben, etwa zehnjährigen Knaben, ber, am Spiel- 
tiſch ſitzend, Rartenhäufer baut, muß ich leider [dor das 18. Jahrhundert ſchließen. 
Das jetzt beginnende 19. Jahrhundert in feinen Wandlungen der Anſchau- 
ungen und Ausdrucksformen, bie in den letzten Dezennien faſt eruptiv zum Aus- 
druck kommen, iſt zu vielgeſtaltig, zu reich an Material, ſo daß es am beſten in zwei 
Hälften geteilt wird. In ſeiner Geſamtheit aber wird dieſes Jahrhundert unter 
einer faſt ausſchließlich deutſchen Signatur ſtehen. Das, was einzelne Franzoſen 
— ich nenne Sean Aubert Charderon, den bedeutenderen Bougouereau —, was 
einzelne Engländer, voran die Präraffaeliten Burne Jones, Watts, Roſetti u. a., 
was der große Menſchenſchilderer des modernen Holland Zoſeph Ffraels uns 
an Kinderbildern hinterließen, verſchwindet, wenn wir nur das, was deutſche 
Kunſt uns gab, recht würdigen wollen. Wenn ich noch ein Kinderbildnis von Sir 
William Oyce (1806—1864) nenne, der vielleicht weniger bekannt ift als alle die eben 
Genannten, ſo geſchieht es, weil es ſich in der Tat um ein hochbedeutendes Werk 
handelt. Das Bild ftellt des Künſtlers Sohn in Halbfigur dar, ift in friſchen, kräf⸗ 
tigen Farben der alten Holländer gemalt und beſtrickt durch ungemein ſympathiſche 
Schlichtheit in der Darſtellung. 
> Dod jetzt zu den Deutſchen. Da tritt Franz Krüger, der „Pferde-Krüger“, 
wie man ihn um ſeiner Pferde- und Paradebilder willen nannte, gleich mit einem 


488 Dobsty: Kinderbilder aus drei Zahrhunderten 


allerliebſten Kinderbildchen in die Erſcheinung. Die Nichte des Künſtlers, die 
ſpätere Gattin des Anatomen Billroth, ijt als etwa zehnjähriges Mädchen dar- 
geſtellt. Die zierliche Figur, an einem Tiſche ſitzend und leicht angelehnt, ift in 
ein blau und weiß geſtreiftes Kattunkleid gehüllt, aus dem altmodiſchen Halsbund 
ſchaut der feine, ſchlanke Hals hervor. Die klugen Augen blicken lebhaft auf den 
Beſchauer, während die Hände einen Strauß friſcher Blumen halten. Zn ſchlicht 
natürlicher Auffaſſung und trefflich im Kolorit iſt es von ganz beſonderer Anmut 
und innigem Reiz. Von Gottlieb Schick iſt unter ſeinen vielen achtbaren, aber 
wenig bekannten Gemälden das Doppelbildnis der Adelheid und Gabriele von 
Humboldt wohl mit eine der tüchtigſten Leiſtungen. Kopf an Kopf ſitzen die beiden 
Mädchen auf einer Steinbank unter dem weinbewachſenen Fenſter, das den Blick 
in die ſchöne, frühlingsfrohe Landſchaft führt. Ehrlich empfunden in der Beobach- 
tung kindlichen Seelenlebens, farbig überaus feinakzentuiert, iſt es ganz und gar 
typiſch für Schicks zur Antike neigende Malweiſe. Auch Julius Hübner (1806—82), 
der, aus der Schule Wilh. von Schadows hervorgegangen, ſich zu einem der Träger 
der Düſſeldorfer Romantik entwickelte, bat neben feinem großen Kompoſitionsbild 
„Das goldene Zeitalter“ in der Dresdner Galerie manches hübſche Kinderbild 
geſchaffen. Das Bild, das wir vorführen, ſtammt aus dem Sabre 1854. ungemein 
amüſant ift es, das allerliebſte kleine Mädchen in feinem ſteifen, ſittſamen Kleid- 
chen, ſeinen breiten, ſchwerfälligen Schuhen, der ſteif geſtärkten Schürze mit ſeinen 
graziöſen Geſchlechtsgenoſſinnen zu vergleichen, die hundert Jahre vorher ein 
Watteau, ein Fragonard der Nachwelt überlieferten. Ganz wie dieſes, ſo zeichnet 
fid) auch das kleine Fräulein, in dem Ed. Steinle (1810—86), derals Hijtorien- und 
Monumentalmaler ſehr geſchätzte Nachfolger Overbecks, ſeine Tochter vorſtellt, 
durch jene typiſche Steifheit aus, die, leicht fürchterlich trocken und nüchtern erjchei- 
nend, die damalige Zeit und ihre Mode doch ſo trefflich charakteriſiert. 

Mit einem äußerſt maleriſchen Kinderbild tritt noch Ferdinand von Rapski, 
der der Jahrhundertausſtellung 1906 feine künſtleriſche Wiedergeburt verdankt, in 
bie Erſcheinung. Ein kleines Kerlchen aus altadeligem Geſchlecht ijt es, das breit- 
ſpurig, die Hände in die Hoſentaſchen vergrabend, mit recht gut entwickeltem 
Standesbewußtſein zu ſagen ſcheint: Der bin ich. Das Bild zeichnet ſich, wie faſt 
alles, was der von ſeiner Zeit kaum nach Gebühr geſchätzte Künſtler ſchuf, durch 
ungemein harmoniſche, noble Farbengebung aus, die in den meiſten ſeiner 
Schöpfungen ſich zu leuchtender Brillanz ſteigert. 

Gewiß ließen ſich noch viele Bilder entdecken, die für jene Kunſtepoche von 
charakteriſtiſcher Bedeutung ſind, doch es muß auch hier ein Ziel und Ende geben. 
Ein herzhafter Sprung muß uns zu jenen Künſtlern führen, die, wohl aus den 
Anfängen des 19. Jahrhunderts hervorgegangen, zum Teil noch unter uns leben 
und wirken und noch heute in der Zeit erregteſter Strömungen auf ihrem fouveranen 
Standpunkte ſich ſiegreich behaupten, zum Teil erſt in den letzten Jahren und 
Dezennien von uns gingen. 

Zwiſchen dieſen beiden Perioden, der frühen, der die Klaſſiziſten, die Naza- 
rener und die franzöſiſchen Barbizonen ihr Signum verliehen, und der gegenwätti- 
gen, die mehr und mehr ganz dem Zmpreſſionismus verfällt, ſteht ein Künſtler. 


Sobsty: Kinderbilber aus drei Jahrhunderten 489 


Ein Neuerer, ein Eroberer neuer maleriſcher Probleme, ein kühner Phantaſt und 
Könner, der, ohne ſich kaum ſelbſt gefunden zu haben, die Perioden überbrückt — 
Anſelm Feuerbach. In einer koloſſalen Menge von Zeichnungen hat er das Weſen 
des Kindes, ſeine Natur und ſeine Seele durchforſcht und iſt zu Ergebniſſen gelangt, 
die unter keine Vorgängerſchaft einzuſchachteln ſind. 

Wer kennt ſie nicht, die einzig ſchöne „Idylle von Tivoli“, wo zwei Kinder 
in lebendurchpulſter Natürlichkeit in eine poeſieumwobene Landſchaft hinein- 
verſetzt ihre kindlichen Träume träumen? Und umfloſſen von ergreifender, zu 
Herzen gehender Innigkeit, von einem keuſchen Lyrismus in uns das wohlige Ge- 
denken an die eigene, ſelige Kinderzeit auslöſen! Soll ich Feuerbachs Kinder- 
bildern — es ſind eine ganze Anzahl — noch mehr ſchöne Worte widmen? Gern, 
aber wo käme ich hin? Und zuletzt würde der ſonnig heitere Reigen doch bange 
Reminiſzenzen wachrufen an die düſtere Tragik, die über des Künſtlers Leben lag. — 

Defregger. Knaus. Welche Perſpektiven eröffnen ſich beim Nennen dieſer 
Namen dem erftaunten Auge! Von mildem Glanze umfloſſen ſteigen jene gemüt- 
vollen Zeiten wieder auf, da ein Bild von Defregger, Benjamin Vautier oder 
Ludwig Knaus das Haus jedes guten und kunſtliebenden Bürgers zieren mußte. 
Wenn ich an Knaus denke, dann denke ich zunächſt an feine wundervolle alte Juden- 
gaſſe und an den „Oorfprinzen“. Und wenn der ſelbſtbewußte, freche Lausbub 
die Erinnerung paſſiert hat, dann kommt auch gleich das „Gänſelieſel“, die „Karten 
ſpielenden Schuſterjungen“, kommt der meiſterlich gezeichnete jugendliche „Frei- 
beuter“ und noch eine Menge lieber kleiner Menſchlein in ernſten und heiteren 
Situationen. Und wie Knaus, dieſer liebenswerteſte unter den Meiſtern des 
Guteſtubenbildes, ſo hat auch Defregger in ſeinem langen, geſegneten Wirken 
ein gut Teil ſeiner Tätigkeit dem Kinde und ſeiner Welt gewidmet. Das, was 
fie beide geſchaffen haben, ijt Gemeingut einer Nation geworden, und wenn man 
ſie auch heute etwas in den Hintergrund drängen will, ganz und gar werden ſie 
dem deutſchen Empfinden nie zu entfremden ſein. Hinter dieſen beiden, die man 
nur mehr und mehr vom hiſtoriſchen Standpunkt aus zu betrachten ſich gewöhnt, 
leuchtet der Name Franz von Lenbach. Die Bilder ſeiner Lieblingstochter Marion 
kennt heute jeder Menſch und ſchätzt ſie nach Vorſchrift. Aber ſein wundervolles 
Erſtlingswerk, den ſchlafenden „Hirtenknaben“, der ſo viel, viel mehr Künſtlerſchaft 
enthält als die virtuos herunter gemalten Marionbilder, nicht, und deshalb ſei er 
den Verehrern des großen Meiſters dringend empfohlen. 

Mit den Namen Kaulbach habe ich zwei Künſtler zu erwähnen. Hermann 
Kaulbach, den Schöpfer all der urdrolligen Kinderſzenen, die er mit wahrhaft 
rührendem Eingehen auf alle Gefühlsnuancen der kindlichen Seele ſchildert 
und damit in den meiſten Fällen aufrichtiges. Ergötzen feiner Bewunderer wach- 
ruft. Und dann den großen Porträtmaler Fritz Auguſt von Kaulbach, der in 
der Darſtellung des Kindes aus der vornehmen Geſellſchaft wahre Meiſterwerke 
ſchuf, die freilich nicht immer ganz frei von einem Einſchlag kühnen Virtuoſentums 
blieben. Mögen ſeine Schöpfungen der letzten Jahre auch künſtleriſch bedeuten- 
der erſcheinen, die kindliche Seele zu erfaſſen und durch ſeine Bilder ſchauen zu 
laſſen, das hat er früher doch beſſer vermocht. Den neuen Bildern, mögen ſie auch 


490 Dobsty: Rinberbilber aus drei Jahrhunderten 


von noch ſo beſtrickender Grazie und Anmut ſein, haftet allzuſehr der Stempel 
der vornehmen Herkunft und des vornehmen Malers an. l 

Hiervon ſpürt man gar nichts in Hans Thomas prächtigem „Kinderreigen“, 
wo ein kräftiger, friſcher Erdgeruch und helles, frohes Kinderjauchzen ſich zu einem 
wahren Hymnus auf die glückliche Verſchmelzung von Menſch und Natur vereinen. 
Ganz erfüllt an des Künſtlers ſchöpferiſchem Ingenium und liebenswert wie 
kaum ein anderes. Thomas Kinderreigen ift das meijtverbreitete Kinderbild, das 
je geſchaffen wurde, und diefe Tatſache ift dem Meifter und auch uns erfreulicher 
als die beſtgemeinten Worte. 

Auch Franz Stuck, der Waler des ſtillen, weltfernen, von geheimnisvollem 
Zauber erfüllten Haines, in dem Zentauren und Faune ein ulkig ausgelaſſenes 
Dafein führen, hat in den letzten Jahren Kinderbilder geſchaffen, die in der Beid- 
nung eminent flott, im Kolorit von ſchwellender Uppigkeit, ihres Schöpfers 
geniales Können mit tödlicher Sicherheit erkennen laſſen. 

Wie viele Namen müßten noch genannt werden, um nur einigermaßen der 
Vollſtändigkeit nahezukommen, wie viele Kinderbilder wären noch vorzuführen, 
die hellſtes Entzücken hervorrufen würden. Doch wir müſſen uns dies verſagen und 
können von den Vertretern der neueren deutſchen Kunſt nur Raphael Schuiter- 
Woldau, Adolf Hengeler, A. v. Zumbuſch und Walter Firle durch Erwähnung den 
ſchuldigen Tribut entrichten. Wollen wir auch auf Max Liebermanns prachtvolle 
Kinderſtudien, die ſich in der Nähſchule, der Kleinkinderſchule glänzend verwandt 
wiederfinden, verzichten und auch auf Gotthardt Kühls „Lübecker Waiſenhaus“ 
mit ſeinen ärmlichen, aber vom Glanz der grell einfallenden Sonne wunderbar 
umſtrahlten Inſaſſen nur einen Blick werfen, ſo nähern wir uns zum Schluß einem 
ganz Eigenen, Abſeitsſtehenden — Fritz von Uhde. Da taucht ſchon in Geſtalt 
eines durchaus fertigen Bildes eine „Studie“ auf. Eine Mädchengeſtalt iſt es, die 
Ubde mit bravouröſer Löſung des techniſchen Problems in einem geſchloſſenen 
Raum gegen das Licht malte, da iſt ferner die entzückende Zeichnung eines in 
feinem Stuhle eingeſchlafenen Bübchens. Des weiteren das allerliebſte „Heide- 
prinzeßchen“, als welches er ein kleines, ſonnenverbranntes Bauerndirnlein vor- 
ſtellt, und nicht zuletzt die einzigſchöne Gruppe der drei Kinder in der Stuttgarter 
Galerie, die, geſehen mit dem tiefinnerſten Auge, das frei und unbeirrt von 
Konvention und falſcher Sentimentalität nur eine Kunſt kennt und übt: Menſchen 
darzuſtellen, wie ſie eben ſind, wohl die lebensvollſte und lebenswahrſte aller 
Kinderdarſtellungen des Meiſters iſt. Es ſind Kinder aus den Niederungen des 
Alltags, aber verſchönt und verklärt durch das maleriſche Werk. Eines Bildes 
ſei noch gedacht: „Laſſet die Kindlein zu mir kommen“. Wohl nennt man es 
ein religiöfes Bild, denn Chriftus, der Träger unſerer Religion, (tebt im Mittelpunkt 
der Handlung. Er gibt dem Moment die Weihe und das erhaben Hoheitsvolle, 
das dort waltet, wo immer er auftritt. Und doch: in dieſer ſchönſten Szene 
ſeines ſzenenreichen Lebens iſt er Haupt- und Nebenfigur zugleich. Wir ſtaunen 
und erbeben vor ſeiner ſchlichten Größe, vor ſeiner menſchlichen Gottheit, aber in 
dieſes Staunen, dieſe Ehrfurcht miſcht ſich ein herzinniges Wohlgefallen an 
dieſen göttlichen und doch ſo menſchlichen Kindern. 


2 


Rudolf Schäfers Silber nach ber Heiligen Schrift + Unfere Bilder 491 


Zu Schäfers Bilder nad) der Heiligen Schrift 


€ er große farbige Steindruck bat ſiegreiche Einkehr gehalten in unſere Hdufer. Das 
€ it froh und dankbar zu begrüßen. In viel höherem Maße als die meiſten anderen 
x X Reproduftionsverfabren birgt biejes die ſegensreichen Kräfte des Originals in 
ſich, zumal wenn nicht Übertragungen, ſondern vom Künſtler für den Stein Gedachtes gedruckt 
wird. Dabei eine Billigkeit, gegen die ſelbſt dem ſchrecklichen Oldruck der Wettbewerb ſchwer fällt. 

Die Vorzüge dieſer Technik müſſen auch unſerm religidfen Wandbild zugute kommen. 
Manches iſt ſchon geſchehen; mit beſonderer Freude begrüßen wir dieſe ſechs Bilder von Rudolf 
Schäfer. Der Künſtler hat ſchon ſeine Gemeinde; ſeine Bilder zu Paul Gerhardts Liedern 
haben ſie ihm gewonnen. Zu dieſen volkstümlichen Wandbildern war er ſo berufen, wie kein 
anderer. Das Volk darf gerade bei religiöſen Bildern nicht über Außendinge ſtutzig werden. 
Bei Uhde und Gebhardt — von andern, denen ihre ſubjektive Willkũr über alles geht, zu ſchwei⸗ 
gen — ijt das nicht zu vermeiden. Dieſe geiftige, jagen wir ſchärfer verſtandesmäßige Über- 
legung, zu der die Bilder der beiden Genannten durch Koſtüm und Tppik zwingen, ijt ſehr er- 
ſchwerend für eine rein religiöfe Empfindungs-Aufnahme beim Volke. Schäfer nimmt da eine 
beſonders gliidlide, weil ganz natürlich und gar nicht „überlegt“ wirkende Mittelſtellung ein. 
Sie ſind konſervativ und doch durchaus aus dem Heutigen heraus empfunden. Natürlich aus 
dem Heutigen eines gläubigen Gemütes. Es ift alles fo ſtark auf den Empfindungsgehalt 
der immer „gegenwärtigen“ Vorgänge eingeſtellt, daß alles Hiſtoriſche ausfällt. Schäfers 
künſtleriſche Stärke liegt in der einfachen, aber febr eindringlichen Charakteriſtik und in der Be- 
handlung des Lichtes. Die Farbengebung erhöht den Eindruck der zeichneriſchen Kraft, auf 
die mit Recht der Nachdruck gelegt iſt. 

Von den ſechs Bildern haben der barmherzige Samariter, Abendmahl und Weihnachten 
das große Format 75x 55 om, Jefus der Kinderfreund, die Hochzeit zu Kana und Bergpredigt 
das etwas kleinere von 60x 50 cm. Die erſteren koſten je fünf, die letzteren je vier Mark. Auker- 
dem find alle ſechs Bilder in Mappe für 24 M zu haben. 


A 
Ainjere Bilder 


Cie Kinderbildniſſe und Rudolf Schäfers „Weihnachten“ gehören zu beſondern 
Aufſãtzen. 

A Des Düffeldorfers Georg Macco „Im ewigen Eiſe“ bat auf der letzten 
großen Berliner Kunſtausſtellung berechtigtes Aufſehen erregt. Die Farbe und die plaſtiſche 
Form vereinigen ſich zu einem unvergeßlichen Eindruck von der furchtbaren Gewalt, aber auch 
der erhabenen Größe der winterlichen Natur. Von dem Bilde iſt eine alle Feinheiten des 
Originals aufs getreueſte bewahrende farbige Fakſimile-Gravüre in dem bekannten Kunſt- 
verlag Paul Sonntag, Berlin W., erſchienen. Das Blatt, deſſen Bildgröße 87x 54½ om be- 
trägt, iſt ein Wandſchmuck erſten Ranges, wird überdies der ja immer wachſenden Zahl von 
Beſuchern Spitzbergens ein herrliches Andenken ſein an einen der größten Eindrücke, die die 
Natur bietet. 

Aber die Bilder, die wir unter dem Titel „Vor hundert Jahren“ vereinigen, und ihren 
Schöpfer unterrichtet am beſten der buchhändleriſche Aufruf, mit dem ſeinerzeit das von 1851 
bis 1843 erſchienene Werk „Blätter aus meinem Skizzenbuche“ angezeigt wurde. 

„Oer Verfaſſer dieſer Blätter machte den Feldzug im Jahre 1812 gegen Rußland als 
Artillerieoffizier in der 25. Diviſion (Württemberger) des dritten Armeekorps mit und ent- 


492 Unfere Silber 


warf als Augenzeuge der wechſelvollen Begebenheiten dieſes Krieges feine Skizzen an Ort und 
Stelle, deren Ausführung er vielfachen Aufforderungen zufolge im Zahre 1827 begann und 
im Jahre 1830 beendigte. 

Oer Bekanntmachung dieſes Wertes liegt die Abſicht zugrunde, in einer ungezwunge⸗ 
nen Reihenfolge die mannigfaltigſten Szenen der verſchiedenen Lagen, in denen fid) die fran- 
zöſiſche alliierte große Armee vom Anfange bis zum Ende dieſes ewig denkwürdigen Feldzuges 
befand, treu und wahr wiederzugeben und den Zeitgenoſſen noch einmal vor ihren Augen das 
büftere Bild jenes Krieges porüberzuführen, infolgedeſſen ein Heer, wie die Geſchichte kaum 
ein zweites aufzuweiſen vermag, nach zwanzigjährigen Siegen und den glänzendſten Waffen- 
taten in dem feſſelloſen Kampfe mit allen Arten von Anſtrengungen und Entbehrungen dem 
nordiſchen Winter unterlag. 

Die 25. Diviſion war dem dritten Armeekorps unter dem tapfern Marſchall Ney zu- 
geteilt, fie befand fid) im Zentrum der großen Armee unter den unmittelbaren Befehlen Napo- 
leons, nahm an allen Begebenheiten dieſes Krieges einen rühmlichen und ausgezeichneten 
Anteil und half ihrem Marſchalle in der Schlacht bei Mojaisk den Titel eines Fürſten von der 
Moskwa, ihrem Diviſionsgeneral den eines franzöſiſchen Reichsgrafen erkämpfen. Der Stand- 
punkt dieſer Diviſion und ſomit auch der einzelnen Individuen derſelben war demnach vor- 
zugsweiſe geeignet, ein vollſtändiges Bild aller Wechſel und Erſcheinungen dieſes mertwürdig- 
ſten aller Feldzüge zu geben. 

Denjenigen, welche Mitſpieler in dem großen Drama waren, nicht minder als ſolchen, 
bie dasſelbe nur aus der Beſchreibung kennen, bietet der Verfaſſer diefe Blätter einesteils 
als eine lebendige Erinnerung an die gleich ruhm- und mühevollen Tage des Sabres 1812, 
andernteils als eine vervollſtändigende Zugabe zu dem, was fie darüber geleſen, dar. 

Den erſten ruft dieſe Sammlung die Bilder aller Lagen und Vorfälle dieſes Feldzuges 
zurück, ihnen ſowohl den Glanz der Taten, welche fie verrichten halfen, als auch die Strapazen, 
die ſie erduldeten, und die Trümmer dieſes ungeheuerſten aller Schiffbrüche zeigend, aus 
welchen fid) zu retten fie das feltene Glück hatten. 

Den zweiten vergegenwärtigen jene Blätter, was feine Beſchreibung auszudrucken ver- 
mag. Sie begleiten auf ihnen die Armee über den Niemen, ſehen ihre Märſche und Biwaks, 
die Städte Polozk, Witepsk, Smolensk, Wiazma, Ghyacz im Hinwege, ſie befinden ſich auf den 
Schlachtfeldern von Oſtrowno, Crasnoé, Smolensk, Valutina-Gora und Mojaist, erblicken 
die Brandſtätte von Moskwa und die unzähligen goldenen Kuppeln ſeiner dreihundert Kirchen, 
verlaſſen mit der Armee Moskwa, wenden fid) gegen Kaluga, verlaffen bei Borowsk diefe Rich- 
tung, um die alte von Moskwa nach Smolensk führende Straße zu gewinnen, und kommen, 
Zeugen der tauſend und abertauſend Opfer an Menſchen und Material, über die Schneefelder 
Rußlands nach Smolensk, Crasnoë unb an die Bereſina, überfchreiten diefe und erreichen end- 
lich über Wilna, Ponari bei Kowno den Niemen uſw. Der Verfaſſer der erläuternden An- 
deutungen hat dem Feldzuge 1812 in Rußland gleichfalls in der K. Württ. Artillerie angewohnt 
und ſpricht ſomit von den meiſten der hier gegebenen Szenen als Augenzeuge.“ 

Faber du Faur, der 1853 als General geſtorben iſt, hat aus ſeinem Skizzenbuche hundert 
Blätter veröffentlicht. Ich finde, daß in unſerer Verkleinerung die ſtarken künſtleriſchen Werte 
der lebendigen Erfaſſung viel beredter hervortreten, als in den Originallithographien von 
größtem Folioformat. Ein Waffengenoffe des Zeichners, Major F. v. Kausler, hat übrigens 
einen erläuternden Text zu den an Ort und Stelle entworfenen Bildern geſchrieben, auf den 
hier verwieſen ſei. Die Bilder bedürfen ja keiner Erklärung; ihre Sprache iſt ſehr beredt und 
dürfte gerade jetzt gut verſtanden werden, wo, nachdem Tauſende den Schrecken des Krieges 
anheimgefallen find, der Tod auf feinen Sondertriumph nicht verzichten will und wieder ein- 
mal mit den Schrecken der Natur und der furchtbaren Seuche die der Menſchen übertrumpft. 


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Zum Vergnügen des Verſtandes und 
Witzes diber „Ariadne auf Naxos“ von Richard Strauß 
Von Dr. Karl Storck 


Motto: Hier iſt nichts rein! Hier kam alles zu allem 
(Aus dem Text ber Oper) 


| 7$ ebet Lefer, gu bem ich heute ſpreche, hat ſchon viele Urteile über die 

G neue Schöpfung von Richard Strauß vernommen. War doch die 
ganze deutſche Kritik, ja auch die des Auslandes zur erſten Auf- 
x 2 führung in Stuttgart verſammelt. Der Draht ſpielte nach allen 
Richtungen die mannigfachen Stimmen, die fid) zur Geſamtſinfonie des fachmänni- 
ſchen Urteils vereinigten. 

Es iſt ein bedrückendes Gefühl, abſeits zu ſtehen vom Chore. Es iſt mir nie 
ſchwerer gefallen, über ein neues Werk meine Meinung auszuſprechen, als dieſes 
Mal. Immer habe ich es als den vornehmſten Beruf des Kritikers erkannt, Werte 
zu entdecken. Immer habe ich freudig alle Bedenken zurückgedrängt, habe mich 
willig der Gefahr zu rückhaltloſer Begeiſterung ausgeſetzt, wenn ich das Gefühl 
hatte, daß bejahende Kräfte am Werke waren. Und hier, wo ich willig ein ſchier 
beiſpielloſes Können anerkenne, wo ich eine Fülle einzelner Schönheiten ſehe, 
fühle ich mich im Gewiſſen verpflichtet, mit aller Kraft zu widerſprechen, zu ver- 
urteilen. Ich bin nicht eitel genug, um mir von meinem Tun viel Erfolg zu ver- 
ſprechen. Aber wenn ich ehrlich ſein ſoll, kann ich nicht anders, und Schweigen 
wäre Feigheit. 

Ein derartiges Werk muß nach meiner Überzeugung für unſere geſamte 
künſtleriſche Entwicklung, für die Stellung der Kunſt in unſerem Leben, für den 
Wert der Kunſt um das Menſchentum als ein Fluch wirken. 

Drei Geſichtspunkte drängen fid für die Beurteilung auf: 1. die Kultur- 
erſcheinung, 2. dieſe Schöpfung „Ariadne auf Naxos“ von Hugo von Hofmanns- 
thal und Richard Strauß als geſchloſſenes Kunſtwerk, und 3. die Muſik von Richard 


494 Storck: Zum Bergnilgen des Verſtandes und Witzes 


Strauß. Daß man zu dieſer Trennung in der Betrachtung gezwungen iſt, zeigt, 
daß es ſich um eine innerlich zerriſſene, uneinheitliche, von keiner höheren Not- 
wendigkeit gebotene Tat handelt. Dieſes eine iſt denn auch von den begeiſtertſten 
Lobrednern zugegeben worden. Aber das behindert fie nicht in ihrem Jubel, 
und hundert Arzte preiſen die Mittel zur Heilung dieſes Gebrechens an, das ihnen 
im Außerlichen zu beruhen ſcheint, während es in Wirklichkeit das Weſen des Werkes 
ausmacht. | | 

Wir find es gewohnt, daß bie neuen dramatischen Werke von Richard Strauß 
zu den Senſationen unferes Theaterlebens gemacht werden. Die Kunſtgeſchichte 
hat niemals etwas Ähnliches erlebt. Vom erſten embryonalen Zuſtande einer 
neuen Schöpfung Richard Straußens bis zu ihrer endlichen Geburt wird jeder 
Zuſtand an die breiteſte Offentlichkeit gezerrt. Ankündigungen, Mutmaßungen, 
die am nächſten Tage wieder als falſch widerrufen werden, äußerliche Begleiterfchei- 
nungen werden ſchon Jahr und Tag vorher der widerſtandsloſen Leſerſchaft nicht 
nur der Fachblätter, ſondern auch der Tageszeitungen aufgedrängt. Ge näher der 
Geburtstag dieſes von den ſonſt fo ſcheuen Muſen in frechſter Öffentlichkeit gezeug- 
ten Kindes heranrückt, um ſo dichter wird der Hagel der Preſſemeldungen. 

Es liegt mir fern, Richard Strauß für den Urheber dieſes widerwärtigen Ge- 
tues zu halten. Aber ich meine, er müßte doch Mittel haben, es zu verhindern. 
Statt deffen ſteigert fid) dieſer NReklamerummel, den man früher abenteuerlichen 
Zirkusleuten vom Stile Barnums überließ, mit jedem neuen Werke. Wenn Richard 
Strauß wirklich der überlegene Satiriker iſt, für den ihn viele halten, und nicht bloß 
ein vom Tage lebender Spötter, ſo muß ſein Inneres von Hohn und Verachtung 
erfüllt fein gegen dieſes ganze Treiben, durch das ein Kunſtwerk mit dem wider- 
wärtigen Geſchleime geiler Geſchäftsgier und lüſternen Nervenkitzels beſudelt 
wird. Ich begriffe dann ſein Losdonnern vor wenigen Wochen im Streit um den 
Parſifal und müßte mich dann nur wundern, daß er nicht ehrlich genug war, ſein 
Verdammungsurteil ſtatt gegen die Hausknechte gegen den ihn umjubelnden 
Bildungsmob loszudonnern. 

Doch ſei's drum! Laßt die Narren tanzen! Wenn das Kunſtwerk heute zu 
jener Maſſenausſtellung kommen ſoll, die allein eine raſche Wirkung verbürgt, ſo 
muß es den Geſchäftsleuten des Kunſtlebens ausgeliefert werden, und es iſt eine 
Angerechtigkeit, den Künſtler für das Gehaben dieſer Rotte verantwortlich zu 
machen. Vielleicht ijf es auch ungerecht, vom Künſtler zu verlangen, daß er, an- 
gewidert von dieſer Sippe, ſich fernhalte und abwarte. Nur die ganz Stolzen, 
bie ganz von fid) und ihrem Tun Überzeugten — der Muſiker denkt mit verehren 
der Scheu an Wagner und Liſzt — können warten. 8d) babe von Richard Strauß 
einmal ein halb melancholiſches Wort geleſen, wo er von der Zukunft ſeiner Werke 
ſpricht und offenbar nicht an ein langes Leben derſelben glaubt. Da iſt es ja be- 
greiflich, daß er die Wirkung der Stunde, die ihm gehört, voll auskoſten will. Aber 
das Bedauern muß doch ausgeſprochen werden, daß ein vornehmes deutſches 
Hoftheater in einer Stadt, in der bisher am Theater wenig Lärm gemacht, dafür 
um ſo mehr gearbeitet wurde, daß das Hoftheater in Stuttgart dieſes tolle Treiben 
mitgemacht hat. Man wollte wohl den neuen großen Theatern die allgemeine 


Stord: Zum Vergnügen bes Gerftandes unb Witzes 495 


Aufmerkſamkeit erzwingen. Ich glaube, das Mittel war ſchlecht gewählt. Denn es 
heißt dem eigenen Vermögen nicht eben ein glänzendes Zeugnis ausſtellen, wenn 
man alle maßgebenden Kräfte von auswärts zuſammentrommelt und zum Ge- 
lingen des Ganzen ſelber weiter nichts beiſteuert, als den Schauplatz, wo es ſich 
vollzieht. Wenn man boshaft wäre, könnte man auf die Handlung des „Bürgers 
als Edelmann“ anſpielen, wo auch der reiche Protz nichts anderes kann, als ſein 
Haus den anderen zur Verfügung ſtellen und das Vergnügen derer bezahlen, die 
ihn in ſeiner Dummheit ausnutzen und ſich über ihn luſtig machen. Die Art, 
wie die Dresdener Aufführung, die der Stuttgarter folgte, von der Preſſe faſt 
gegen Stuttgart ausgeſpielt wird, dürfte eine Warnung ſein. 

Doch wir wollen nicht bosbaft fein. Und fo wollen wir dankbar annehmen, 
daß die Stuttgarter Hofbühne ſich von dem idealen Gedanken leiten ließ, einmal 
einem Künſtler für das Ans-Licht-treten feines Werkes alle Wünſche zu erfüllen, 
um ſo möglichſt dem Idealbilde nahe zu kommen, das der Schöpfer von ſeinem 
Werke in ſich trägt. Richard Strauß hat bei dem Bankett, das für manche Leute 
die Krönung der Stuttgarter Feſttage bedeutete, ja auch erklärt, daß ihm hier ein 
Traum verwirklicht worden ſei. Er hat dabei nur von der Bühne, ihrem Leiter 
und den mitwirkenden Künſtlern geſprochen. Die von überallher herbeigeeilten 
Zuhörer, die fünfzig Mark für ihren Platz bezahlt hatten, hat er nicht erwähnt. 
Nehmen wir an, daß dieſe nicht zur Traumerfüllung gehörten. Freilich, ein Richard 
Wagner dachte immer bei feinen Werken an das Vol kz und als (id) ihm der Traum, 
um den er jahrzehntelang gekämpft, für den er ein Leben lang gelitten, im Feft- 
ſpielhauſe zu Bayreuth freilich nur mit herben Schmerzen erfüllte, da mußte er 
traurig erklären, daß ihm die Freude getrübt ſei durch den Gedanken, daß er nicht 
imſtande ſei, dem Volk ſein Werk zu ſchenken. Es wäre gut, wenn die Leute, 
die immer davon ſprechen, daß Richard II. Richard I. fortſetze und vollende, in 
dieſer kulturellen Hinſicht den „Fortſchritt“ ins rechte Licht ſetzen würden. 

Doch halten wir an dem feſt, daß eine erſte deutſche Bühne zu jedem Opfer 
bereit war, um einem Künſtler eine ideale Aufführung feines Werkes zu ermög- 
lichen. Das beſtätigt, was ich ſchon gelegentlich der Aufführung des „Noſen- 
kavaliers“ an dieſer Stelle hervorhob, daß noch niemals ein Rünftler fo unabhängig 
von Kückſichten auf Publikum, Theaterleitungen, überhaupt auf alle Verwirk- 
lichungsmöglichkeiten ſeines Werkes hat ſchaffen können, wie Richard Strauß. 
Niemals noch konnte ein Künſtler ſo ganz der Kunſt leben wie er. Nie hätte einer 
weniger dem Tage in ſeiner Gier ein Opfer zu bringen brauchen, als er. Wer wagt 
zu behaupten, daß Richard Strauß diefe einzigartige Stellung in hohem künſtle- 
riſchen Geiſte ausnutzt? Ich höre ſchon jene, die mir entgegenrufen: Strauß iſt 
nun einmal der, der er ift, und daß ihm die hoheprieſterliche Gebärde fehlt, ijt 
eher ein Glück! — Die Gebärde ſchenke ich ihm gern, aber jenes heilige Feuer, 
von dem K. F. Meyer kündet: „Eine Flamme zittert mir im Buſen, lodert warm 
zu jeder Zeit und Friſt, die, entzündet durch den Hauch der Muſen, ihnen ein be- 
ſtändig Opfer iſt“, muß im Herzen des Künſtlers brennen, ſonſt iſt er kein Künſtler, 
und ſei er der größte Könner. Und es wird an ihm in Erfüllung gehen, was der 
ernſte Schweizer weiter kündet: 


496 Storck: Zum Vergnügen des Berftandes und Witzes 


And ich hüte ſie mit heil'ger Scheue, 
Daß ſie brenne rein und ungekränkt; 
Denn ich weiß, es wird der ungetreue 
Wächter lebend in die Gruft verſenkt. 


* * 
* 


Für die Geſamtgeſtalt des Werkes ſcheint mir der Mann verantwortlich, 
deſſen Name auf dem Widmungsblatt des Klavierauszuges ſteht, das da lautet: 
„Max Reinhardt in Verehrung und Dankbarkeit gewidmet. Richard 
Strauß. Hugo von Hofmannsthal.“ Jedenfalls ijf es der Reinhardtſche Geijt, 
der hier waltet. Die Neubelebung alter Werke wird dadurch verſucht, daß ein 
Epiſodiſches in den Mittelpunkt geſtellt und ein techniſcher Ausführungsgedanke 
über den dichteriſchen geſetzt wird. So war's doch ſchon bei den vielberufenen 
Zirkusaufführungen von Werken der Antike, wo der große Gedanke, das Dauernde 
des Volkstums durch einen erleſenen Chor ausſprechen zu laſſen, die Verfälſchung 
erfuhr, daß das Volk als Maſſe aufgefaßt wurde. Von dieſem Punkte aus erfolgte 
dann die Vergewaltigung des ganzen Kunſtwerkes. 

Dieſer „geniale“ Regiſſeur betrachtet ſich nicht als ſelbſtloſen Diener am 
Kunſtwerke, ſondern dieſe Kunſtwerke ſind dazu da, um ihm Gelegenheit zu geben, 
feine Künſte und Mäbchen zu zeigen. Daß unter dieſen Künſten manches hübſch 
iſt, ſoll ja gar nicht beſtritten werden. Aber die ganze Tätigkeit dieſes Mannes iſt 
nur ſchädlich. Seine innere Herzensroheit gegen das Weſentliche des 
Kunſtwerkes und gegen reines Künſtlertum hat er {dhon letztes Jahr dem „Georges 
Dandin“ des Molière gegenüber bewieſen. Molière hat mit dem grimmigen 
Lachen der Verzweiflung und der geiſtigen Überlegenheit, die die Zeiten über- 
dauert, die Tragikomödie des von ſeiner Gattin betrogenen Pierrot geſtaltet. Er 
ſtand im Zwang feiner Zeit und im ſtärkeren Ludwigs XIV. Als Diener des 
Sonnenkönigs mußte er die Launen desſelben befriedigen, mußte er bie Ginbeit- 
lichkeit feines Werkes durch eingeſchobene Schäferſpiele und Bacchantentänze aet- 
reißen und ſein tiefgeſchürftes Bild eines armen Menſchentums unter den billigen 
Luſtbarkeiten eines verwöhnten Hofes verſtecken. Aber als Moliere dann feinen 
„Georges Dandin“ der Nachwelt zum Druck übergab, hat er dieſes balletthafte 
Beiwerk vernichtet. Wie alle großen Künſtler hat er den Glauben an die Nachwelt 
gehabt, auf ihre Gerechtigkeit und höhere Einſicht vertraut. Es war Max Reinhardt 
vorbehalten, dieſen Glauben zu betrügen. Gegen den klaren Willen des Künſtlers, 
gegen den Geiſt des Kunſtwerkes, hat er aus Eigenem wieder hinzugetan, was 
jener mit blutender Seele, der Not gehorchend, geduldet hatte. Und auf derartige 
künſtleriſche Roheiten und Vergewaltigungen pocht dieſer Mann wie auf Ber- 
dienſte. Und ein Publikum, das literariſch zu fein vorgibt. jubelt ihm zu, ſtatt 
dieſen Schänder zum Tempel hinauszujagen. 

Ein Gleiches, wie am „Georges Dandin“, ift nun auch am „Bourgeois Gentil- 
homme“ vollbracht worden. Es iſt allerdings zuzugeben, daß die muſikaliſchen 
Elemente hier inniger mit dem Ganzen verbunden find. Dann bat Molière, viel- 
leicht gewarnt durch den inneren Schmerz, den er beim „Georges Dandin“ hatte 
erleiden müſſen, in dem zwei Sabre fpäter entſtandenen „Bürgerlichen Edelmann“ 


Stord: Zum Vergnügen bes Verſtandes und Witzes 497 


die auch reichlich vorhandenen Motive zur Tragikomik ungenutzt gelaſſen und fid 
darauf beſchränkt, ein Zeitbild nur als Ausſchnitt aus dem Zuſtande der Gejamt- 
heit zu geben. Die Entwicklung der Hauptgeftalt hat er nicht bis ans Ende 
gezeigt. | 

Aber trotzdem kann kein Menſch verkennen, was Moliere mit feinem „Bürger- 
lichen Edelmann“ wollte und was er damit geleiſtet hat. Und außerdem hat er 
ſein künſtleriſches Gewiffen dadurch zu beruhigen verſtanden, daß der aufgeführte 
Mummenſchanz dazu dient, zwei prächtige Menſchen gegen den tyranniſchen Wil- 
len des hinters Licht Geführten glücklich zu machen. Wie groß ift doch dieſer Molière ! 
Vom Hof erhält er den Auftrag, ein türkiſches Ballett auf die Bühne zu bringen. 
Er benutzt dieſen vom König beſtellten Mummenſchanz dazu, um ein an ſatiriſchen 
Schlaglichtern überreiches Geſellſchaftsbild und den unvergänglichen Charakter- 
typus des über feinen Stand hinaus ſtrebenden Bürgers zu geſtalten. Auch äußer- 
lich weiß er den Mummenſchanz auf das richtige Maß zu beſchränken und fo er- 
träglich zu machen, ganz abgeſehen davon, daß auch diefe Mummerei für die Beit- 
genoſſen den Reiz der Zeitſatire hatte. 

Wie hat doch Richard Strauß auf ſeinem kühnen Ritt ins Politiſch-Kulturelle 
gepredigt? Achtet eure Genies! — Fft Molière kein Genie? Und wie bat fid) Strauß 
dazu bereit finden laſſen, ein Meiſterwerk dieſes Genies zu vergewaltigen? Bei 
Hugo von Hofmannsthal wundert mich das ja weiter nicht; er hat ſchon in der 
Vorrede zu Schnitzlers „Anatol“ bekannt: „Alſoſpielen wir Cheater, ſpielen 
unſere eigenen Stücke — die Komödie unſerer Seele!“ Aber Strauß!? 

$6 weiß nicht, worüber ich mich mehr wundern foll, über das in feiner Summ- 
dreiſtigkeit faſt verſöhnende Eingeſtändnis der eigenen Ohnmacht oder über die 
Gleichgültigkeit, mit der die Kritik dieſer Vernichtung überkommener Kunſtwerte 
gegenüberſteht. Ja, es geht als Grundzug durch die kritiſche Beurteilung der Vor- 
wurf: „Warum habt ihr den Molière nicht viel mehr zuſammengeſtrichen? Sein 
Werk hat höchſtens als Auftakt zur Ariadne zu dienen!“ Freilich iſt zu bedenken, 
daß die Muſikkritiker ſo geſprochen haben, die mit Recht darüber ungehalten ſind, 
daß die Oper „Ariadne“ in dieſer unglückſeligen Verbindung auch zu kurz kommt. 
Aber wird die Zerſtörung des Werkes Moliéres dadurch gerechtfertigt, daß der Zer- 
ſtörer auch geſchädigt worden iſt? — Nein, das iſt die verdiente Strafe, und Hof- 
mannsthal und Strauß mögen an der ſo entſtandenen Mißgeburt noch ſo viel 
herumkurieren, noch ſo grauſam amputieren, es wird ihnen niemals gelingen, den 
Wecfelbalg in ein geſundes, lebensfriſches Weſen umzuwandeln. Unter fo un- 
gefunden Vorbedingungen kann (id) kein lebensfähiger Organismus entwickeln. — — 

Wie gefagt, für den „geiſtigen“ Erzeuger der Idee halte ich Reinhardt. Ein 
ſolcher Gedanke kann nur einem Regiſſeurgehirn entſpringen, und er ijt ein Zwil- 
lingsbruder des im „Georges Dandin“ bereits verwirklichten. Hier hatte Reinhardt 
das Sommerfeſt des Sonnenkönigs vom Jahre 1668 wieder erſtehen laffen, warum 
ſollte nicht auch ebenſogut die Feier des Hubertustages vom Jahre 1670 wieder er- 
ſtehen? Dort hatte man die Ballettſpiele und Gartenfeſte neu belebt und hatte ſich 
auf bie Muſik Lullys geſtützt. Warum ſollte man nicht auch einmal die ganze Art 
des Opernbetriebes jener Zeit vorführen? 

Der Türmer XV, 3 35 


498 Storck: Zum Vergnügen bes Verſtandes unb Witzes 


Reinhardt hat natürlich an eine Aufführung im „Deutſchen Theater“ ge- 
dacht. Damit ſtimmt eine der erſten Preſſenotizen, die ſchon vor Fahr und Tag 
etgingen, überein. Sie lautete: „Molières Komödie ‚Der bürgerliche Edelmann“ 
foll im „Deutſchen Theater“ in einer Umarbeitung von Hofmannsthal aufgeführt 
werden. Die fünf Akte des Urſtücks ſind auf ganze zwei zuſammengeſtrichen, 
dafür aber iſt das von Moliére vorgeſehene Ballett durch eine Oper für ganz kleines 
Orcheſter erſetzt worden, deren Muſik von Strauß herrührt.“ Der kluge Herr Rein- 
hardt kannte ſeinen Freund Richard Strauß ſchlecht. Wenn der mit ſeinem 
Draufgänger - Temperament, um deſſentwillen man ihn immer wieder liebhaben 
muß, von einer Sache erfaßt wird, dann kümmert er ſich natürlich den Teufel 
um einen ausgetiftelten Regieplan, ſondern arbeitet mit jener ſelbſtherrlichen 
Laune, zu der ihn nicht nur ſein Können, ſondern auch ſeine herrſchende Stellung 
im heutigen Kunſtleben ermutigt. Was in Reinhardts Plan eine „Einlage“ fein, 
den Ruhm des „genialen“ Regiſſeurs mehren und die Kaſſen des Deutſchen Zbea- 
ters füllen ſollte, das wuchs ſich unter Strauß' Händen zu einem Umfang aus, 
der den Rahmen des „Deutſchen Theaters“ ſprengte, neben dem überhaupt nichts 
mehr Platz hatte. Wenn Hofmannsthal und meinetwegen auch Reinhardt Künſtler 
wären, ſo hätten ſie über dieſe Entwicklung jubeln und zu Strauß ſagen müſſen: 
„Lieber Freund, was du da ſchaffſt, wird ja eine prachtvolle Oper. Wir hätten es 
wiſſen können, daß du nach deiner ganzen Art nicht dazu angetan biſt, anderen zu 
dienen. Unter biefen Umständen müſſen wir aber den urſprünglichen Plan fallen 
laſſen, und ich, Hugo Hofmannsthal, werde dir ein Opernbuch ſchaffen.“ — Aber 
die innere Fruchtbarkeit war niemals Hofmannsthals Stärke. Nun hat er einmal 
einen Einfall gehabt, den konnte er nicht opfern. Und fo iſt denn dieſe künſtleriſche 
Wißgeburt ans Licht der Welt gekommen. 

In dem Augenblick, wo man die türkiſche Mummerei preisgab, konnte man 
die Liebesgeſchichte von Cleonte und Lucile, der Tochter des bürgerlichen Edel- 
manns, entbehren. Man brauchte das Feingefühl nicht zu haben, daß Moliere 
der Mummerei dadurch, daß ſie das Lebensglück der beiden Menſchen begründet, 
die einzige künſtleriſche und menſchliche Berechtigung geſchaffen hatte. Zebt 
wurde ausſchließlich der Wille des Geldſacks Trumpf, und das iſt ja ſchließlich 
„modern“. Der Geldſack will eine Oper haben in ſeinem Hauſe; es iſt ganz 
ſelbſtverſtändlich, daß ein ſolcher Befehl vom Künſtler befolgt wird. Wir find ja 
der Zeit eines Molière ſo ſehr überlegen und faſſen es als eine Schande auf, daß 
ein Dichter im Dienfte eines abſoluten Königs ſteht. Das abſolute Königtum des 
Geld protzen jedoch ijt uns durchaus ſelbſtverſtändlich. Es entwickelt (id) deshalb in 
Hofmannsthals Umdichtung auch durchaus kein Konflikt aus dieſer neuen Lage, 
trotzdem auch ihm vorübergehend der Gedanke daran gekommen zu ſein ſcheint, 
wie ſich daraus ergibt, daß er mit der von ihm eingeführten Perſon des jungen 
Komponiſten eine jetzt recht dumm wirkende Szene eingefügt hat. 

Aber Herr Hofmannsthal batte noch eine zweite Idee, die beinah wie ein 
witziger Einfall ausſieht, freilich dafür auch nicht von ihm herrührt, ſondern für Bier- 
mimiken, Parodien und ſonſtige Verulkungen ſchon ſehr oft verwendet worden iſt. 
Nämlich der Geldprotz hat nicht nur eine Oper, ſondern auch eine Mummerei be- 


Storck: Zum Gergniigen bee Verſtandes und Witzes 499 


ſtellt. And da bie Zeit für die Aufführung bei feinem Feſte knapp wird, kommt 
der Banauſe auf das tolle Verlangen, daß beides gleichzeitig geſpielt wer- 
den foll, 

Sc möchte wetten, daß gerade durch dieſen Einfall Richard Strauß dem 
Plane gewonnen worden iſt. Er iſt noch immer der alte Eulenſpiegel, und es 
eröffnete ſich ihm hier die Ausſicht auf eine Fülle luſtiger Streiche. Nur ſchade! 
Die Kunſt iſt, wenn ſie noch ſo luſtig auftritt, eine verteufelt ernſte Sache. Und 
jo kann fid) der Eulenſpiegel nicht wundern, wenn er ſich nun ſelber den fchlimm- 
ſten Streich geſpielt hat. 

Nach alledem entſtand nun folgende Lage: Der Charakter des Jourdain, 
des „bürgerlichen Edelmannes“, iſt getreu aus Moliere übernommen, wie denn 
auch faſt alles, was in den zwei Akten ſteht, bloß wortgetreu überſetzt iſt, und zwar 
fo unverſtändig, daß ſogar jene Szenen beibehalten worden find, die als zeit- 
geſchichtliche Satire für Molieres Zeitgenoſſen ungemein witzig waren, heute aber 
nur noch läppiſch wirken können. (Dazu gehören vor allem die lautphyſiologi- 
ſchen Alfanzereien des Philoſophen, die ſeinerzeit als Satire gegen Cordemons 
1668 erſchienenen „Discours physique de la parole“ wirkten.) Jourdain tut alles, 
was die vornehme Welt tut, oder was ihm von dieſer Welt, nach der er ein fo gie- 
riges Verlangen trägt, eingeredet wird. Muſik-, Tanz- und Fechtlehrer quälen den 
armen Mann, den ſein Schneider zum affigen Papagei ausſtaffiert. Auch hier 
nutzt ihn der Graf Dorante für ſeine Zwecke aus, und auf dieſe Weiſe kommt das 
glänzende Feſtmahl und im Anſchluß daran die Theateraufführung im Hauſe 
Zourdains zuſtande. 

Es ijt nun klar, daß, wenn der Molierefhe Jourdain (id) eine Oper beſtellt 
hätte, er entweder eine opera seria oder eine komiſche Oper erhalten hätte. Und 
wenn man alſo hiſtoriſch treu ſein wollte, ſo konnte Richard Strauß entweder 
eine ernſte oder eine komiſche Oper im Stile jener Zeit ſchaffen. Bis zu einem 
gewiſſen Grade hat man das gewollt. In den ernſten Teil ſind eingefügt eine 
Najade, Dryade und Echo, alſo jene allegoriſchen Figuren, ohne die die alte Oper 
nicht auskommen zu können glaubte. Strauß übernahm auch getreu die unorganiſche 
Art, mit der dieſe Geſtalten dem Kunſtwerk aufgezwungen wurden. Das Hiſtoriſche 
wurde noch verſtärkt durch die Regie, indem man dieſe Geſtalten ganz im Stil der 
Zeit kleidete. Daß das nicht etwa eine nachträgliche Regieanordnung, ſondern 
von vornherein vorgeſehen war, geht aus einer der zahlloſen Notizen hervor, mit 
denen man vorher für die Aufführung Stimmung machte. Es hieß da: „In jedes 
der Oamenkleider find Mieder pon der unbarmherzigen Form der Barockzeit ein- 
gearbeitet, richtige Holzbretter ſtellen die auch damals beliebte ‚gerade Front“ her. 
Und — kurios genug — auch bie Najade, die Ornade und die Darſtellerin des Echo 
in der Oper tragen ‚bukolifche‘ Gewänder mit Korſetten und Reifröcken, tragen 
einen Kopfputz von wahrhaft monumentaler Geſchmackloſigkeit nach heutigen Be- 
griffen. Dazu ſtattete man die Häupter der Quell- oder Waldnymphen gern mit 
kunſtvollen Gebilden aus hochgetürmten Reifen, beſetzt mit einer Unmenge von 
Korallen und anderen möglichſt bunten Steinen aus, ließ grellgrüne Strauß 
federn dazwiſchen herunternicken und gab den Wald- und Wieſendamen putzige 


500 Store: Zum Vergnügen bes Verſtandes unb Witzes 


Fächer mit bunten Bändern in die Hand. So ſangen ſie ihre ſchmelzenden Arien, 
graziös und kokett in die Landſchaft gelagert.“ 

Man ſieht alſo, daß hier eine gewiſſe ironiſche Behandlung der opera seria 
des ſiebzehnten Jahrhunderts vorgeſehen war. Es iſt ſelbſtverſtändlich, daß das 
nur möglich geweſen wäre, wenn dieſer ganze Teil ironiſch behandelt worden wäre. 
Aber für die Geſtaltung der Ariadne und des Bacchus ſcheint man niemals daran 
gedacht zu haben, denn die Textlallereien Hugo von Hofmannsthals find, fo albern 
ſie teilweiſe wirken, denkbar ernſt gemeint. 

Auch die Muſik iſt, ſoweit Bacchus und Ariadne in Betracht kommen, von 
Strauß ohne irgendeine andere Rückſichtnahme als die des dramatiſchen, ja tragi- 
ſchen Ausdrucks geſchaffen. Hiſtoriſche Stileigentümlichkeiten oder Rückſichten auf 
die Einſtellung der Oper in das Luſtſpiel Molieres find nicht vorhanden. Nur daß 
der Komponiſt einige alberne Bemerkungen Zourdains zu den erſten Geſängen 
Ariadnes nicht unterdrückt hat. Etwas zweifelhafter ift das ſchon bei den Nym- 
phen. Soweit der Notentext als ſolcher in Betracht kommt, hat auch hier Richard 
Strauß durchaus als moderner Komponiſt geſchaffen. Aber die ganze Stimmung 
ijt die einer gewiſſen Verſpieltheit, wie auch z. B. eine Vortragsbeſtimmung ge- 
radezu „ohne Ausdruck“ heißt. Ganz Kunſtſpielerei und hier ja auch, wenn man 
will, eine hiſtoriſche Stilnachahmung, iſt die Verwendung der Echoſtimme, die 
nicht nur „ſeelenlos“ iſt, wie es wieder die Vortragsbezeichnung erheiſcht, ſondern 
über den Willen des Komponiſten hinaus läppiſch wirkt, fo hübſch in rein muſikali- 
ſcher Hinſicht die inſtrumentalen Wirkungen dieſes Mittels ſind. Da aber, wie ſchon 
hervorgehoben, dieſe Nebengeſtalten der ernſten Oper durch ihre koſtümliche Aus- 
ſtattung für unfer Empfinden Karikaturen find und ganz als hiſtoriſche Mert- 
würdigkeiten auftreten, ergibt ſich hier ſchon ein ſtarker Zwieſpalt des Gefühls. 

Nun aber ſoll nach des Beſtellers Befehl die Ballettmummerei gleichzeitig 
mit der Oper aufgeführt werden. Das hat muſikaliſch dazu Anlaß gegeben, in 
und zwiſchen die ernſten Szenen das Treiben der typiſchen Perſonen der italieni- 
ſchen Stegreifkomödie ſingend einzuſchieben. Es ſind die kokette, immer verliebte 
Zerbinetta und das Männerquartett von Harlekin, Scaramuccio, Truffaldin und 
Brighella. Die Einſchiebung vollzieht ſich leicht, indem dieſe luſtigen Perſonen als 
Tröſter der traurigen Prinzeſſin Ariadne auftreten und Zerbinetta dabei gegenüber 
dem Weibe den Standpunkt des Weibchens vertritt. Betrachtet man die dieſen 
fünfen zugewieſenen Muſikſtücke an und für ſich, ſo ſind die den Männerſtimmen 
zugewieſenen Teile Singſpielmuſik, luſtig, zum Teil auch albern, aber ohne iro- 
niſche oder ſatiriſche Abſichten. Zerbinetta dagegen iſt vom Komponiſten auch 
muſikaliſch als Gegenſtück zur Ariadne gedacht und iſt eine Koloraturrolle, wie ſie 
feit den Zeiten Donizettis nicht mehr geſchrieben worden ift. Ihrer großen Szene, 
die in dem hundertneunzig Seiten umfaſſenden Klavierauszug der eigentlichen 
Oper volle zweiundſiebzig Seiten füllt, von denen wieder dreiundzwanzig der 
Koloraturarie zugewieſen find, kann das Schickſal blühen, daß fie als Bravourſtuͤck 
für Kehlakrobatinnen in den Konzertſaal verpflanzt werden wird. Die Muſik- 
literatur dürfte kaum eine ſchwierigere Aufgabe für Koloraturſängerinnen auf- 
weiſen und in gewiſſem Sinne auch keine dankbarere. 


Store: Zum Vergnügen des Verſtandes unb Witzes 501 


Es ijt hier Strauß ebenſo gegangen, wie einftens Wilhelm Hauff, als er 
im „Mann im Monde“ Clauren verſpotten wollte. Er ijt felber ganz dem Stil, 
den er verſpotten wollte, anheimgefallen. Natürlich darf er das nicht zugeben, 
und ſo verfällt er an mehreren Stellen in eine aufdringliche Karikatur, die in dem 
dramatiſchen Zuſammenhange, in den er dieſe Arie hineingeſtellt hat, ganz finn- 
los iſt. Denn auf einmal ſoll dieſe Zerbinetta nun die Unarten der alten italieni- 
ſchen Koloratur karikieren. (In der noch nicht ganz vergeſſenen italieniſchen Rari- 
tatur „La prova d' un opera seria“ von Francesco Gnecco aus dem Sabre 1805 
ſind ganz ähnliche Mittel der Verſpottung angebracht.) Aber man ſieht, Strauß 
vergißt hier ganz, daß Karikatur ein überlegenes Spiel von ſeiten des Trägers 
derſelben mit dem karikierten Gegenſtande vorausſetzt. Zu dieſer Aufgabe iſt 
Zerbinetta aber in dem Stücke nirgendwo berufen. 

Wenn jemals ein Stück in Stücken geſchaffen wurde, ſo iſt es dieſe Oper, 
wo man, um überhaupt zum Genießen zu kommen, jedesmal nur die einzelne 
Nummer anſehen und niemals die verſchiedenen Nummern zueinander in Be- 
ziehung ſetzen darf. So ſpielt eben der ironiſche Geiſt auf der einen Seite und 
das techniſche Alleskönnen auf der anderen dem Komponiſten den böſen Streich, 
ihm das Gefühl für das große künſtleriſche Ziel zu trüben, ſo daß er immer nur 
das Nächſte im Auge hat, ganz wie es das Wort Ariadnes, das ich, einem ganz 
anderen Zuſammenhang entnommen, an die Spitze geſtellt habe, ſagt: „Hier iſt 
nichts rein! Hier kam alles zu allem.“ 

Aber das iſt nicht das Schlimmſte. Das mir völlig Unbegreifliche iſt, daß 
Richard Strauß es über ſich brachte, ſich die tiefgehenden Wirkungen, die er durch 
die Geſänge Ariadnes erreicht, wieder ſelber zu zerſtören. Wie harmlos erſcheint 
Heine mit ſeinen die Stimmung zerreißenden und alles Vorangehende zur Lüge 
ſtempelnden Schlußſtrophen fo mancher lyriſcher Gedichte im Vergleich zu der 
hier geübten Art. Denn es ift immerhin noch ein ganz anderes um das geſprochene 
Wort, als um bie Muſik. Selbſt bei der Lyrik ijt es noch eher ein geiſtiges Emp- 
fangen, bei der Muſik iſt es ganz Gefühl. Dann ſind es hier bei Ariadne doch Mo- 
mente der tiefſten Seelenqual eines vor Schmerz faſt irre gewordenen Sinnes, 
eine ekſtatiſche Todesſehnſucht, bie auf diefe Weiſe verhöhnt werden. Lage in den 
Geſängen Ariadnes ein einziges karikierendes Moment, etwa das der freimilli- 
gen Übertreibung?! Aber nichts von dem. Wie heimtückiſche Peitſchenhiebe aus 
dem Hinterhalt ſauſen dieſe Intermezzoſzenen auf die Seele nieder, die ſich eben 
willig und vertrauensvoll vom Gefühlsüberſchwang der Ariadnemonologe in 
höhere Sphären hat tragen laſſen. 

3m habe Hinweiſe auf Mozarts „Zauberflöte“ geleſen; andere Leute ver- 
wieſen auf die Miſchung von Komik und Ernſt bei Shakeſpeare. Es fällt einem 
recht ſchwer, an eine fo ehrliche Dummheit zu glauben, die hier wirklich Vergleichs- 
punkte finden ſollte; es fei denn, um eben den himmelweiten Unterſchied, die 
völlig andere künſtleriſche Einſtellung nachzuweiſen. Ich kenne überhaupt kein 
Werk, auch in der Sturm- und Srangliteratur nicht, nicht bei Grabbe oder den 
franzöſiſchen Romantikern, bei dem die Miſchung von Tragik und Komik fo ab- 
ſolut unkünſtleriſch iſt, ſo völlig bar jeder inneren Notwendigkeit, wie hier. 


502 Stord: Zum Vergnügen bes Verſtandes und Witzes 


Sd) babe Iden vor Jahren im Hinblick auf die Entwicklung des Dramatikers 
Strauß hervorgehoben, daß er die Stilgeſetze ſeines Schaffens ganz von außen 
erhalte. Das iſt bei einem Sinfoniker überraſchend. Aber wie ich ſchon bei der 
„Elektra“ nachweiſen konnte, daß trotz der vielgerühmten Einheitlichkeit dieſes 
Wertes das ſtückhafte Schaffen darin fo [darf heraustrete, daß es mich nicht wun- 
dern würde, wenn Richard Strauß uns zur Nummernoper alten Stils zurück- 
führte, ſo iſt das hier eigentlich bereits geſchehen. Nur daß leider äußerlich die 
Trennung in Nummern noch nicht ſcharf genug vollzogen iſt, während die innere 
Gegenſätzlichkeit zwiſchen den einzelnen Stücken ſo groß iſt, daß ſie unmöglich zu 
einem Ganzen zu vereinigen ſind. 

So bleibt es ein Stück in Stücken, die ſich für mein Empfinden wechſelſeitig 
ſchädigen und das Empfinden des Hörers in mutwilligſter Weiſe hin und her zerren. 
Es gibt nur eine Rettung: man muß die gläubige Hingabe an das Kunſtwerk, den 
mitlebenden Glauben an die darin vorgetragenen Empfindungen und Gefühle auf- 
geben; man darf nicht mitleben wollen, ſondern muß als überlegener Ge- 
nießer ſich hinſetzen. Wenn man das Ganze hinnimmt als ein durchaus bewußtes 
Spiel, als eine Arbeit des Verſtandes und Witzes, dann mag man auch zum 
Vergnügen des Verſtandes und Witzes kommen. 

Damit wären wir alſo glücklich wieder auf einem Standpunkte, wie ihn die 
Zeit vor der großen deutſchen Kunſt verkündet hat. Wer wollte dieſem Stand- 
punkte feine Dafeinsberechtigung verſagen? Aber das eine ift ſicher: was unfere 
großen Komponiſten von Bach über Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert und 
Schumann bis Wagner, was unſere großen Dichter von Klopſtock bis zu Goethe, 
Schiller, Kleiſt und Hebbel erkämpft haben, das war vor allem das eine, daß die 
Kunſt eben kein Vergnügen des Verſtandes und Witzes ſei. 

Es wird Leute geben, die Richard Strauß ein Verdienſt daraus machen, 
daß er aus der Kunſt eine — nennen wir es mit der Bezeichnung der franzöſiſchen 
Troubadours — „fröhliche Wiſſenſchaft“ (gay saber) gemacht babe oder wenig- 
ſtens auf dieſem Wege vorwärts ſchreite. Wer ſeine Ideale bei Goethe, Beethoven 
und Wagner, aber auch nicht weniger bei Mozart ſieht, der kann einen ſolchen Weg 
als ganz amüſanten Seitenſprung gelten laſſen und ihn auch gelegentlich mit- 
machen. Wer aber bedenkt, ein wie geringer Teil unſeres Volkes bislang erſt ſo 
weit gekommen iſt, jene höchſten Wirkungen der Kunſt als Lebensgeſtalterin, wie 
fie durch unſere Großen erkämpft worden ift, fid) zu eigen zu machen, dem ver- 
geht dann auch noch die letzte Freude an einer ſo unterhaltſamen und vielfach 
feſſelnden Erſcheinung vor der Sorge um ihre Wirkung auf dieſes Volk; dem ver- 
blaßt das Vergnügen des Verſtandes und Witzes im Anblick der Gefahr für das 
Gemüt und jenen Geiſt, der nicht der Eſprit der Sekunde, ſondern die Ahnung des 
Ewigen iſt. 

* ü * 

Noch bleibt bie Frage nach ber rein muſikaliſchen Bedeutung dieſes Werkes. 
Das kühl Verſtandesmäßige überwiegt bei Strauß während der Empfängnis des 
künſtleriſchen Gedankens, weshalb er denn auch nicht imſtande iſt, das einzelne 
zugunſten des Ganzen unterzuordnen, und zwar hauptſächlich deshalb nicht, weil 


Store: Zum Vergnügen bes Verſtandes und Wikes 503 


es für die Technik nicht innerlich Wichtiges und Unwidtiges gibt, ſondern ein 
Verſtandesmäßiges hier entſcheidet. Das in geiſtiger und ſeeliſcher, alſo in 
dramatiſcher Hinſicht Belangloſeſte kann für die techniſche Ausführung ebenſo 
„intereſſante Aufgaben bieten, wie das Bedeutſamſte. Im Techniſchen aber wurzelt 
das Temperament von Strauß. Hier ſteckt feine ganz eigentümliche Art der Leiden- 
ſchaft. Im Techniſchen liegt auch ſeine künſtleriſche Eigenart, ſeine Bedeutung. Nun 
ijt das in der Muſik febr viel. Es hat lange Zeitalter gegeben, in denen die Runit- 
muſik im Grunde nur Technik war, nur Art der Bearbeitung eines gegebenen 
muſikaliſchen Gedankens. Da hat alſo die ganze Form lediglich auf der Technik 
beruht. Nun kommt aber bei Strauß hinzu, daß ſeine Technik nicht nur im rein 
Formalen, Zeichneriſchen, ſondern auch im Farbigen ſchier unbegrenzt iſt, daß er 
hier wirklich ein Neuſchöpfer iſt. Das Orcheſter von Strauß hat einen ganz be- 
zaubernden Klang, und er hat bei dieſem neuen Werke durch Einbeziehung des 
Klaviers und des Harmoniums ganz ungeahnte Klangwirkungen erzielt. 

Noch in einem anderen offenbart fih die Meiſterſchaft und die Selbſtherrlich- 
keit feines techniſchen Vermögens. Das große Maſſenorcheſter, das bisher als ein 
Charakteriſtikum für Strauß erſchien, ift aufgegeben. Ganze ſechsunddreißig Mufi- 
ker ſaßen beim Spiel. Nicht preisgegeben iſt damit die vielſtimmige Veräſtelung 
der kontrapunktiſchen Schreibweiſe. Aber es iſt eine Art von Kammermuſik, ein 
ſoliſtiſches Gegeneinandermuſizieren der verſchiedenen Inſtrumente, wodurch ein 
Ganzes entſteht, bei dem nichts Füllſel iſt, nichts bloß Begleitung, ſondern wo 
durch ein gleichberechtigtes Zuſammenwirken ganz verſchiedenartiger Elemente ein 
durchaus einheitlicher Klangkörper entſteht. Für dieſes Können ſcheint mir kein 
Wort des Lobes zu hoch. Anders ſteht es um das eigentliche muſikaliſche Ber- 
mögen. Wenn unſere üppig ins Kraut ſchießende Muſikphilologie erſt zu jener 
Freude am Quellennachweis gelangt ſein wird, wie ſie für die Literaturgeſchichte 
von der Schererſchule ausgebildet worden iſt, ſo kann der Nachweis der Quellen 
für das thematiſche Material der Ariadne auf Naxos eine köſtliche Doktorarbeit 
werden. Es iſt auch nicht ein einziges Thema wirklich von Richard Strauß. Kein 
Operettenkomponiſt hat mit größerer — ſagen wir einmal Ungeniertheit ſein 
Material überallber genommen, wie er es gerade paſſend fand. Da einige dieſer 
Fälle, z. B. bei der Dinermuſik, als bewußte muſikaliſche Witze anzuſehen ſind, ſo 
weiß man auch bei den anderen nicht, ob das von Strauß nun Abſicht ijt. Zeden- 
falls bleibt das eine Tatſache, daß die ja [dion immer hervorgetretene Schwäche 
Richard Straußens in der eigentlichen muſikaliſchen Erfindung hier als organiſcher 
Zuſtand auftritt. 

Vielleicht kann das Werk trotz alledem einen ſehr ſegensreichen Einfluß für 
die rein muſikaliſche Entwicklung ausüben, wobei freilich zu bedenken iſt, daß bei 
der Eulenſpiegelnatur des Komponiſten niemand wiſſen kann, ob nicht ſeine nächſte 
Schöpfung das alles wieder auf den Kopf ſtellt. Aber wer es ſich überlegt, daß 
Richard Strauß von ſtrengem Formalismus ausgegangen iſt und gerade in jenen 
Jugendjahren, in denen ein Aberſchäumen am eheſten wirkliche Natur ijt, eigent- 
lich der Brahmsrichtung zuzuzählen war, der wird die Rückkehr zur ſtrengen Form 
und dieſes rüdbaltlofe Bekenntnis zur Tonalität als eine ganz natürliche Entwick- 


504 Erlebniſſe eines königlichen Rapellmeiſters in Berlin 


lung anſehen. Sie mag bei Strauß beſchleunigt fein durch die völlige Verwilde⸗ 
rung, die die muſikaliſchen Grundbegriffe bei den modernen Franzoſen und vor 
allem etwa bei Schönberg erfahren haben. Jedenfalls kann bei der einzigartigen 
Stellung, die Richard Strauß einnimmt, ſein Wandel in dieſer Hinſicht nicht ohne 
kräftige Wirkung auf die Jugend fein. Leider wage ich diefe Hoffnung, die einen 
ja für manches andere entſchädigen könnte, nicht mit vertrauensvoller Zuverſicht 
auszuſprechen. Denn leider habe ich die Überzeugung gewinnen müſſen, daß für 
das Schaffen von Richard Strauß das Gegenteil von dem gilt, was die Zerbinetta 
für ihre Liebe behauptet, wenn ſie ſagt: „Immer ein Müſſen, niemals Launen.“ 
Für Strauß heißt es: „Niemals ein Müſſen, immer Launen.“ An ſeinem bewunderns- 
werten Können, das man aber in manchen Stunden verfluchen möchte, liegt es, 
daß das weitere Wort aus dem Texte zutrifft: „Immer ein neues unſägliches 
Staunen.“ 

Jedenfalls beſitzt Strauß heute noch das willige Gehör feiner Zeit, und die 
Kritik leiſtet ihm mit ſeltener Freudigkeit faſt einmütig Folge. Ich glaube nicht, 
daß er ein Prinz aus dem echten Genielande iſt. Aber im Reiche der Muſik nimmt 
er entſchieden eine eigenartige, faſt unheimlich ſeltſame Stellung ein. Ich möchte 
glauben, daß der bürgerliche Edelmann Jourdain am Ende des Werkes die große 
Öffentlichkeit vertritt, wenn er nach allen den ſchweren Täuſchungen und Schlägen, 
die er erlitten, ſagt: „Ich wollte, daß es mir ein paar Finger aus der Hand gekoſtet 
hätte und daß ich dafür ein Graf oder Marquis von Geburt wäre und dieſes ge- 
wiſſe Etwas mitbekommen hätte, mit dem ſie allem, was ſie tun, ein ſolches großes 
Anſehen zu geben wiſſen.“ 

Sch bekenne mich zum Schluſſe noch einmal als einen leidenſchaftlichen 
Gegner dieſes Jourdain, und ich bin fo durchaus voll eifernber Liebe für das Volks- 
tum, daß ich wollte, daß es mir ein paar Finger aus der Hand gekoſtet hätte und 
ich dafür die Macht bekommen hätte, denen, die allem, was ſie tun, ein ſolches 
großes Anſehen zu geben wiſſen, die Maske vom Geſicht zu reißen und ſie in ihrer 
inneren Armut und Hohlheit und ihrer fluchwürdigen Wirkung für die Gefamt- 
heit an den Pranger zu ſtellen. Zum Heile für das Volk, zum Heil auch für 
ſie ſelbſt. 


W 


Erlebniſſe eines königlichen Kapellmeiſters 
in Berlin 


VM 
5 N S iefer Winter brachte in das überfüllte Bild des Berliner Muſiklebens einen neuen 
A d Zug. Felix Weingartner dirigiert in Fürftenwalde in vier Konzerten die Beethoven- 
ER ſchen Sinfonien. In Extrazũgen fahren die Berliner hinaus, um dort in einem un- 
möglichen Konzertſaal von einer leider immer noch nicht erſtklaſſigen Kapelle Werke vorgeführt 
zu erhalten, die zu hören das regelmäßige Berliner Muſikleben ſchon allzuviel Gelegenheit bietet. 
Die Berliner fahren wirklich hinaus. Das erſtemal konnte man es als Senſationsgier 


bezeichnen. Aber das zweite Konzert war, trotzdem die Begleiterſcheinungen des erſten ab- 


A 


Erleb niſſe eines königlichen Rupellmeifters in Berlin 505 


ſchrecken konnten, noch beſſer beſucht, bie Begeiſterung ſchlug noch höhere Wogen, die fünjtle- 
riſchen Eindrüde gingen entſchieden tiefer, und ich glaube, der Erfolg des Unternehmens wird 
ſich noch ſteigern. Von einem nennenswerten pekuniären Erfolge kann natürlich nicht die 
Rede ſein. Das ſchaltet hier aus. Daran hat man auch nie gedacht. Aber es ſcheint hier eine 
moraliſche Tat von grundſätzlicher Bedeutung ſich zu entwickeln. So groß jene Gemeinde von 
Muſikfreunden iſt, für die Beethoven unter keines anderen Dirigenten Darſtellung fo rein und 
ſtark wirkt wie unter der Veingartners, ſo gewiß darum dieſe rein muſikaliſche Seite bei der 
Entwicklung der Fürſtenwalder Epiſode eine große Rolle ſpielt, — unendlich wichtiger iſt die 
moraliſche und rechtliche Frage, die hier unbekümmert um alle Paragraphenwirtſchaft aus dem 
Rechtsempfinden des Volkes heraus entſchieden wird. Ich bin überzeugt, daß die ſoeben er- 
ſchienene Broſchüre Felix Weingartners „Erlebniſſe eines Königlichen Kapellmeiſters in Ber- 
lin“ (Berlin, Paul Caſſirer) dieſe Einſtellung noch weſentlich verſchärfen wird. 

Wenn das Fürſtenwalder Unternehmen zunächſt manchem als eine Art von fünjtler- 
laune erſcheinen mochte oder als eine Art Widerſpruchsgeiſt, manchem ſogar als Reklame, 
fo bin ich nach eindringlicher Prüfung heute der Überzeugung, daß hier ein Mann nicht nur um 
fein perſönliches Recht kämpft, ſondern daß mit dieſer vielleicht aufdringlichen Form der All- 
gemeinheit zum Bewußtſein gebracht wird, daß hier ein Streit vorliegt, der weit fiber das 
perſönliche Intereſſe hinausgewachſen iſt und eine allgemeine Bedeutung gewonnen hat. 

Es ſteht zur Frage, ob ein Künſtler in Deutſchland imſtande ift, fein Recht zu gewinnen. 
Mit der Erkenntnis, daß es (id hier tatſächlich um diefe Frage handelt, muß das halb fdómun- 
zelnde Behagen, mit dem man bislang den Fall Weingartner — Königliche Intendanz Berlin 
verfolgte, einer ernſten Teilnahme Platz machen. Bislang ſagte man ſich, daß es ja gewiß mert- 
würdig fei, aber grundſätzlich von Wert fein könne, daß die Königliche Intendanz auf einem 
Schein beſtand, der einem bedeutenden Künſtler das Auftreten in Berlin unmöglich machte. 
Man ſagte ſich auf der anderen Seite, daß einem Weingartner die ganze Welt zur Wirkung 
offenſtehe, ſo daß es für ihn perſönlich nicht allzuviel verſchlagen konnte, wenn er auf Berlin 
verzichten müßte. Und fo konnte man der Meinung fein, daß es fic hier lediglich um perfön- 
liche Eigenwilligkeiten handle. Ich bin heute der Überzeugung, daß ſich Weingartner ein großes 
Verdienſt um die Kunſtwelt, ja um die Allgemeinheit dadurch erworben hat, daß er die Ruhe 
feines Dafeins drangab und alle Mittel daran fegt, der Öffentlichkeit zu zeigen, wie eine erſte 
königliche Behörde in den Beſitz ihres Scheines gekommen iſt, und darüber hinaus, wie in der 
Wirklichkeit die nach draußen hin ſo glänzende Stellung und die oft beneidete Wirkſamkeit an 
ſo hervorragendem Orte beſchaffen iſt. Es handelt ſich hier nicht um eine beliebige private 
Kunſtſtelle, ſondern um die erſte ſtaatliche Pflegeſtätte der deutſchen Muſik, gegen die ſich in 
ben letzten Jahren die Unzufriedenheit ernfter kunſtfreundlicher Kreiſe immer ſchärfer zu einem 
ingrimmigen Unwillen verdichtet hat. Auch hier ſcheidet das Perſönliche aus, es ift ein Syſtem, 
das es zu bekämpfen gilt im Intereſſe der Kunſt und der Menſchlichkeit. 

Wir ſind geneigt, bei einer königlich preußiſchen Behörde allenfalls einen Mangel an 
Fähigkeit und Geſchick zuzugeben, jedoch immer anzunehmen, daß fie „korrekt“ nach dem Buch- 
ſtaben vorgehe. Da ift es denn ganz wertvoll, daß bie Engagementsverhandlungen mit Wein- 
gartner im Februar 1901 von der Intendanz aufgenommen wurden, als ber Künſtler noch 
in einem feſten Vertragsverhältniſſe ſtand. Der Vorſitzende des Deutſchen Bühnenvereins 
machte ſich damit eines Benehmens ſchuldig, um deſſentwillen er fpäter gegen Weingartner 
ſelbſt eine Diſziplinarunterſuchung einleitete. Es würde zu weit führen, hier die vielen kleinen 
Vorfälle aufzuzählen, durch die ſich Weingartner als Künſtler und Menſch in Berlin enttäuſcht 
fab. Die Darftellung bezeugt aufs neue, daß die ſogenannte Ara Pierſon zu den dunkelſten 
Seiten der neueren Theatergeſchichte gehört. Es wird immer ein Ratfel bleiben, wie es mög- 
lich war, daß dieſer Mann, den in feiner Laufbahn nichts dazu berechtigte, zu dieſer allmadti- 
gen Stellung am Königlichen Opernhauſe gelangen konnte, lediglich weil er der Freund des 


506 Erlebniffe eines königlichen Kapellmeiſters in Berlin 


Intendanten war. Noch unbegreiflicher ift es, daß er ſich zehn Jahre in dieſer Stellung behaup- 
ten konnte; daß ſeine Gattin, die als Sängerin ſelbſt an einer Provinzbühne unmöglich ge- 
weſen ware, auch nachdem Pierſon bereits eine amtliche Stellung an der Königlichen Oper 
erhalten hatte, noch immer in bevorzugteſter Weiſe an der Königlichen Hofoper wirken konnte, 
daß Pierſons Freund Eloi Sylva trotz des Einſpruchs der geſamten Kritik, des geſamten Publi- 
kums, dauernd die beherrſchende Tenorſtellung bekleiden konnte. Das alles ſind Dinge, die in 
einem Zeitalter, in dem die Volksvertretung ſchließlich doch auch einen wenigſtens ideellen Ein- 
fluß auf die ſtaatlich unterſtützte Bühne ausüben kann, unmöglich fein ſollte. Sie find aber 
Tatſache geweſen, und das von Weingartner beigebrachte Material könnte, wie ich ſelbſt, wohl 
jeder im Muſikleben Berlins ſtehende Mann beträchtlich vermehren. Doch man möge dieſe 
Dinge ebenſo wie die vielen kleinen perſönlichen Schikanen, durch die man einen ſelbſtändigen 
Künſtler quälte und aufzureiben ſuchte, bei Weingartner ſelbſt nachleſen. 

Für das öffentliche Kunſtleben wertvoller ift der Fall „Geneſius“, weil er zeigt, wie man 
Kunſtwerke ſyſtematiſch zu Fall bringen kann. Die künftlerifhe Bewertung dieſer Oper Wein- 
gartners ſcheidet dabei völlig aus. Eine Bühne, vor allem ein Inſtitut, das, wie die Königliche 
Oper, von allen Privatrückſichten frei ſein ſollte, darf ein Werk zur Aufführung nur annehmen, 
wenn ſie der Überzeugung iſt, daß es dieſe Aufführung um ſeiner künſtleriſchen Werte willen 
verdient. Dann aber ift fie aus künſtleriſchen wie aus pekuniären Gründen moraliſch verpflich- 
tet, alles daranzuſetzen, dem von ihr vertretenen Werke einen Erfolg zu verſchaffen. Das ſind 
ſo einfache Grundregeln, daß man einen Verſtoß gegen ſie für unmöglich halten ſollte. Ich 
würde bei dem Fall „Geneſius“ eine Selbſttäuſchung Weingartners nicht für ausgeſchloſſen 
halten, wenn ich nicht ein genau dazu paſſendes Seitenftüd kennte. 

1891 hatte Weingartner ſeinen „Geneſius“ der Intendanz vorgeſpielt. Das Werk war 
angenommen und für den Beginn der nächſten Spielzeit angeſetzt worden. Plötzlich wird dem 
Komponiſten mitgeteilt, daß die Oper nicht gegeben werden foll. Die Gründe kann er nicht er- 
fahren, es wird ihm nur bedeutet, daß er ſich eine Verſchiebung auf unbeſtimmte Zeit gefallen 
laſſen müſſe. 8m Laufe der Saiſon wird dann Weingartner mitgeteilt, daß „Graf Hochberg 
beſchloſſen habe, den ,Genejiue' ſofort aufzuführen“. Man zwingt dabei dem Komponiſten 
einen denkbar ungeeigneten Vertreter der Hauptrolle auf. „Zu meiner Aberraſchung erfuhr 
ich, daß ein Verbot ergangen war, ſzeniſch auch nur das geringſte für mein Werk anzuſchaffen, 
trotzdem man geheimnisvolle Andeutungen gemacht hatte, man wolle mich mit einer ſchönen 
Ausſtattung überraſchen. Während ſonſt an einem Inſtitut vom Range der Königlichen Oper 
für jede Novität neue Dekorationen angeſchafft werden, behalf man fih hier mit Sufammen- 
jtüdeln alter und älteſter Inventarſtüͤcke. Auch jetzt hätte ich bei gereifter Erfahrung wohl noch 
ſelbſt verſucht, eine Aufführung zu verhindern, die von ſeiten der oberſten Leitung mit ſo wenig 
Intereſſe, wenn nicht gar mit geheimen feindlichen Abſichten veranſtaltet wurde. Aber die 
Proben waren ſchon im Zuge, und die muſikaliſche Wirkung erweckte in mir die Hoffnung, 
daß trotz der erwähnten mißlichen Umſtände wenigſtens die Muſik des Werkes nicht im Stiche 
laſſen könne. Am 15. November 1892 fand die Erſtaufführung ſtatt.“ | 

Ich babe jener erjten Aufführung und auch der zweiten als junger Student beigewohnt 
und kann die Darftellung Weingartners über die öffentliche Wirkung genau beftdtigen. Für 
die Geſamtlage iſt wichtiger das Folgende: 

„Kurz vor der erſten Aufführung ſagte mir Graf Hochberg, die zweite Aufführung eines 
neuen Werkes ſei immer die gefährlichſte, er habe ſie deshalb für das Genoſſenſchaftsbenefiz 
beſtimmt, welches außer Abonnement gegeben wird und alljährlich ein ſehr volles Haus bringe. 
Dadurch wolle er abwenden, daß die zweite Vorſtellung wie gewöhnlich wenig beſucht ſei. Ich 
war damals vollkommen geſchäftsunkundig und durchſchaute nicht, daß zum mindeſten ein 
grober Irrtum des Herrn Generalintendanten vorlag, denn ſpäter erfuhr ich, daß dieſes Bene - 
fiz ſtets eine Verlegenheitsvorſtellung war, und daß ſogar bekannte und zugkräftige Opern bei 


Grlebnifje eines königlichen Kapellmeiſters in Berlin 507 


dieſer Gelegenheit nicht beſonders beſucht waren. Vorſtellungen außer Abonnement rentieren 
ſich ja bekanntlich nur bei außergewöhnlichen Anläſſen, berühmten Gäſten, Senfationspremie- 
ren uſw. Aber gar die zweite Vorſtellung eines neuen Werkes außer Abonnement zu geben, 
während man die Premiere im Abonnement gegeben hatte, war ein arger geſchäftlicher Fehler. 
An dem Tage der zweiten Vorſtellung wurde es auf das ſtrengſte unterſagt, irgendwelche 
Freibilletts auszugeben, trotzdem man bereits wußte, daß der Verkauf ſehr ſchlecht war. Mit 
großer Mühe erlangte ich für einige von auswärts gekommene Freunde noch Freikarten. 
Was fid) im Theater befand, war daher eigentlich kein Publikum, ſondern eine Anzahl Per- 
ſonen, die jedoch aus wirklichem Intereſſe gekommen waren und das Werk mit großem Beifall 
aufnahmen. Bereits am Vormittage der Vorſtellung ließ mich Graf Hochberg holen, und 
als ob er von ſeiner früheren mir geäußerten Meinung gar nichts mehr wüßte, eröffnete er 
mir, daß er das Werk von der nddjten, bereits angekündigten Sonntagsvorſtellung abſetzen 
müffe, da die zweite Vorſtellung febr ſchlecht verkauft fei. Es wurde alfo ſyſtematiſch dem Ber- 
liner Publikum ... unmöglich gemacht, das Werk zu hören.“ 

Es gehört nun ſo recht in den Charakter des tyranniſchen, ſelbſtherrlichen Betriebes, 
daß man Künſtler möglichſt ärgert und an ihrer Entfaltung hindert, daß man ſie aber dennoch, 
auf den Buchſtaben geſtützt, an einem Snititut feſthält und ihnen ein beſſeres Fortkommen 
an anderer Stelle unmöglich macht. Das mußte Weingartner erfahren, als er gern einem Ruf 
nach Frankfurt gefolgt wäre. Doch befand fid) hier die Königliche Intendanz wenigſtens dem 
Wortlaut nach im Rechte. Anders liegt der Fall mit Weingartners Münchener Engagement. 

„Ungefähr im April des Jahres 1893 erhielt ich die telegraphiſche Aufforderung, in 
Mailand zwei Konzerte zu geben. Sch erhielt den Urlaub zugeſagt. Am Tage ehe ich abreiſte 
traf ein Telegramm des damals ſoeben zum Generaldirektor der Münchener Hoftheater er- 
nannten Herrn Ernſt Poſſart ein, das mich einlud, gaſtweiſe zweimal den ‚Tannhäuſer“ in 
München zu dirigieren. Die Zeit ſtimmte zufällig mit dem Mailänder Engagement fo über- 
ein, daß ich unmittelbar von Mailand hätte nach München fahren und von da wieder nach 
Berlin zuruͤckkehren können. Ich machte Graf Hochberg von dieſem Telegramm Mitteilung und 
frug ihn, allerdings etwas zaghaft, ob er mir eventuell auch dieſen Urlaub gewähren könne. 
Graf Hochberg, der trotz unſerer Verſtimmung mir ſtets eine gewiſſe Sympathie bewahrte, 
die ſich namentlich dann betätigte, wenn er von Pierſons Einfluß ausnahmsweiſe frei war, 
ſagte mir, er freue (i, wenn einer feiner Kapellmeiſter von einem anderen Hoftheater fo aus- 
gezeichnet werde, und erteilte mir den Urlaub. Am Abend ber Abreiſe nach Stalien dirigierte 
ich noch im Königlichen Opernhauſe. Vor dem letzten Akte erſchien plötzlich Pierſon und ſagte 
mir, ehe id) abreiſe, folle ich einen neuen Vertrag auf zehn Jahre unterſchreiben, der mir 
12 000 & und 3000 4 aus dem Erträgnis der Konzerte zuſichere. Ich ſagte Pierſon, ob er 
denn glaube, daß ich zwiſchen Türe und Angel eine ſolche für mein ganzes Leben wichtige 
Entſcheidung treffen könne. Pierſon, der ſehr aufgeregt ſchien, beruhigte ſich, nachdem ich ihm 
geſagt batte, daß wir nach meiner Rückkehr ja unterhandeln könnten. Auf der Reife nach Sta- 
lien hielt ich mich in München auf, einerſeits um mit Poſſart die Modalitäten der Tannhäuſer- 
vorſtellung zu beſprechen, andererſeits aber auch weil ich von einem mir naheſtehenden Privat- 
mann die telegraphiſche Nachricht bekommen hatte, daß es fih das Münchener Hoftheater an- 
gelegen laſſen ſein werde, mich dauernd für ſich zu gewinnen.“ 

Gn München wurde nun tatſächlich Weingartner ein Vertrag angeboten, den der Rünft- 
ler von dem Zeitpunkte abſchloß, wo er in Berlin frei war (15. April 1896). Das war doch 
ſein ſelbſtverſtändliches Recht. Um ſo überraſchter konnte Weingartner ſein, als er in Mailand 
eine Depeſche des Grafen Jochberg vorfand, durch die ihm die Erlaubnis, in München zu di- 
tigteren, entzogen wurde, da er dort abgeſchloſſen hätte, was den Verabredungen widerſpräche. 
nd ſchrieb an Graf Hochberg unb ftellte ihm in reſpektvollſter Weiſe dar, daß es doch ſchließ⸗ 
lich ſeiner nicht ganz würdig ſei, mir wegen eines vollkommen legalen Abſchluſſes ein gegebenes 


508 Erlebniffe eines königlichen Kapellmeiſters in Berlin 


Wort zu entziehen. Statt einer Antwort Graf Hochbergs kam ein Telegramm Pierſons, daß 
Graf Hodberg den ‚in Ausſicht geſtellten“ Urlaub nicht erteile. Damit war ein Widerſpruch 
geſchaffen, der die Kampfesweiſe der Berliner Generalintendantur ſowohl in dieſem wie in 
ſpäteren Fällen charakteriſiert, denn der Urlaub für München war mir nicht in Ausſicht ge⸗ 
ſtellt, ſondern erteilt worden; feine Zurückziehung war daher eine Willtürlichkeit, für die 
man Griinde konſtruieren mußte.“ 

Als Weingartner, durch neue Zurückſetzungen gereizt, in einem ſcharfen Briefe von der 
Intendanz feine Entlaffung verlangte, antwortete man ihm mit einer Diſziplinarunterſuchung 
wegen der ſchroffen Form dieſes Briefes. 

„Während dieſer Vorgänge ſtellte mich ein Freund zur Rede und ſagte mir, es ſchwirrten 
Gerüchte in der Luft, ich hätte in Berlin mein Ehrenwort gegeben, wieder nach dort abzu- 
ſchließen, und hätte dieſes Ehrenwort gebrochen. Ich forſchte mit allen zu Gebote ſtehenden 
Mitteln nach dem Urſprung dieſer Gerüchte. Endlich hatte ich ermittelt, daß dieſe Nachricht 
von — Pierſon herrührte, der fie dem damaligen Kammerſänger Brucks in München mit- 
geteilt und ihn erſucht hatte, ſie nach Möglichkeit zu verbreiten. Ich konſultierte nun einen 
Anwalt und ſchrieb auf ſeinen Rat Pierſon einen Brief, worin ich ibn um Aufklärung erſuchte. 
Dieſe Aufklärung erfolgte nicht, wohl aber erhielt ich einen Brief von dem Sujtitiat der König⸗ 
lichen Schaufpiele, Herrn Volkmann, daß Herr Pierſon in dienſtlichem Yntereffe verhindert 
fei, die gewünſchte Erklärung abzugeben. Nun ſtrengte ich gegen Herrn Pierſon die Privat- 
klage wegen Ehrenbeleidigung an. Einige Zeit nachher erhielt id) fpát am Nachmittag eine 
Karte aus der Oper, ich hätte am ſelben Abend die „Cavalleria rufticana^ zu dirigieren. Seit 
Beginn der laufenden Saiſon hatte ich es tatſächlich erreicht, daß mir dieſes Werk für einige 
Zeit abgenommen war. Zch eilte pflichtgemäß ins Opernhaus und leitete die Vorſtellung. 
Schon beim erſten Auftreten der Frau Pierſon, die die Santuzza ſang, fiel mir auf, daß ſie, 
mit ganz wuͤtenden Blicken auf mich, den Takt mit dem Fuße trat, als ob fie mich korrigieren 
wolle. Dies wiederholte ſich einige Male, ſonſt ereignete ſich nichts Bemerkenswertes; die 
Vorſtellung verlief ohne Störung. Ich unterließ es, Frau Pierſon zur Rede zu ſtellen, da 
ich es nicht für angebracht hielt, mit der Frau des Mannes perſönlich zu verkehren, gegen den 
ich eine gerichtliche Klage angeſtrengt hatte. Ich behielt mir jedoch vor, gegen die Dame wegen 
ungebührlichen Benehmens auf der Bühne die Anzeige zu erſtatten, ſo wenig Ausſicht ich 
auch batte, gegen die Gattin des omnipotenten artiſtiſchen Sekretärs mit dieſer Anzeige durch- 
zukommen. Wenige Tage darauf erhielt ich abermals eine Vorladung des Zuſtitiars Volk 
mann, der mir anzeigte, daß gegen mich eine erneute Diſziplinarunterſuchung eröffnet fei, 
weil ich die Vorſtellung der „Cavalleria“ mit Abſicht verdorben hätte. Auf dieſe geradezu 
unerhörte Mitteilung antwortete ich Herrn Volkmann, daß ein ſolches Vorgehen einen Skandal 
für ein königliches Inſtitut bedeute, worauf mir Herr Volkmann erwiderte, er werde dieſe 
Worte protokollieren. Ob er es getan, weiß ich nicht. Ich ließ diefe Diſziplinarunterſuchung 
ruhig über mich ergehen, machte meine Mitteilungen und wartete, daß man auch Zeugen 
verhören würde. Nach einiger Zeit wurden mir die Zeugenausſagen vorgeleſen; der Inſpizient 
und mehrere Mitglieder des Orcheſters hatten fid) geäußert, daß die Vorſtellung einen voll- 
ſtändig ungeſtörten Verlauf genommen hätte. Frau Pierfon batte ausgeſagt, fie habe den Ein- 
druck gewonnen, daß ich ſie mit Abſicht ſchikaniert hätte, um ihrer Leiſtung zu ſchaden. Ganz 
beſonders aber fiel mir das Zeugnis des Konzertmeiſters, Herrn Rehfeld auf, den ich ſelbſt 
als Zeugen genannt hatte. Dieſer Herr erklärte tatſächlich, ich hätte an dieſem Abend mit 
Abſicht ſchlecht dirigiert. Dieſes Zeugnis, von einem Muſiker, der an der Spitze des Königlichen 
Orcheſters ſtand, ausgeſprochen, enthielt nicht nur eine ſchwere Beleidigung ſeines Vorgeſetzten, 
ſondern war auch eine vollſtändige Unwahrheit, wie ſich ſpäter herausſtellen wird. Sch wurde 
auf Grund dieſer Zeugenausſagen zu einer Strafe von 120 Mark wegen „ſchlechten Dirigierens“ 
verurteilt. Bezeichnend ift es, daß mir kein Strafreſolut und auch ſonſt keine ſchriftliche Be- 


Erlebniſſe eines königlichen Napellmeiſters in Berlin 509 


gründung dieſes fabelhaften Urteils zugeſtellt wurde. Ich legte ſofort Beſchwerde beim Mini- 
ſterium des Königlichen Haufes ein, die aber abgewieſen wurde, da Strafen bis zu 120 Mark 
einer Berufung an dieſer Stelle nicht unterliegen. An die Gerichte konnte ich nicht gehen, 
ba die Streitigkeiten aus Verträgen damals und bis vor kurzem einem Schiedsgericht unter- 
worfen waren und mein Anwalt mid) (don damals vor dieſer höchſt bedenklichen Inſtitution 
warnte. Die einzige einer derartigen Handlungsweiſe würdige Antwort, nämlich meinen 
Taktſtock hinzuwerfen und die Räume des Königlichen Opernhauſes nicht mehr zu betreten, 
konnte ich mit gutem Gewiſſen nicht geben. Ich hatte nicht allein fuͤr mich zu ſorgen. Eine 
Kontraktbruchserklärung, und eine ſolche wäre unrettbar erfolgt, hätte mich damals, wo mein 
Name noch nicht überall bekannt war, nicht nur, wie es heute der Fall iſt, ſchwer benachteiligt, 
ſondern fie hätte durch den damit verbundenen Ausſchluß von allen deutſchen Bühnen geradezu 
meine Exiſtenz vernichtet. Es hieß alſo die Zähne feſt aufeinander beißen und zunächſt dem 
Königlichen Opernhauſe in Berlin die Ehre überlaſſen, mich wegen „ſchlechten Dirigierens“ 
beſtraft zu haben. Inzwiſchen nahmen die anderen Diſziplinarunterſuchungen, ſowie der Prozeß 
gegen Pierſon ihren Fortgang. Pierſon zog die Sache hinaus, indem er wiederholt Ber- 
ſchiebungen der Termine beantragte. Inzwiſchen ſuchte Zuftitiae Volkmann auf mich einzu- 
wirken, daß ich, wie er ſich wiederholt ausdrückte, im dienſtlichen Intereſſe den Prozeß zurüd- 
ziehen möge. Ich hatte immer nur die eine Antwort, daß es ſich um Wahrung meiner per- 
ſönlichen Ehre handle, und daß dies mit dienſtlichen Intereſſen gar nichts zu tun habe, daß ich 
aber bereit fei, die Klage zurückzuziehen, wenn Herr Pierſon eine vollgültige Erklärung abgäbe. 
Graf Hochberg erklärte mir, mich nicht mehr zu empfangen, wenn ich den Prozeß gegen Pierſon 
nicht zurückzöge. Aber aud) diefe „ſchreckliche“ Drohung konnte mich nicht beſtimmen, die 
Wünſche meiner vorgeſetzten Behörde zu erfüllen. Endlich, nachdem noch einmal ein Termin, 
in dem der Hauptzeuge, Kammerſänger Brucks, vernommen werden ſollte, auf Anregung 
Pierſons verſchoben worden war, ließ ſich Pierſon herbei, folgende Erklärung abzugeben: 
„Das ſeinerzeit verbreitete Gerücht, daß Hofkapellmeiſter Weingartner ein dem Grafen Hoch- 
berg gegebenes Ehrenwort bezuglich eines auswärtigen Vertragsabſchluſſes gebrochen hätte, 
entſpricht den Tatſachen nicht. Die Verbreitung eines ſolchen Gerüchtes rührt nicht von mir 
her und kann auch nur durch ein Mißverſtändnis auf meine Perſon zurückgeführt worden fein. 
Es hat mir zu allen Zeiten fern gelegen, der Ehre des Hofkapellmeiſters Weingartner zu nahe 
zu treten. Henry Pierſon.“ 

Als Weingartner dieſe Erklärung offiziell an die Generalintendanz einſchickte, erhielt 
et vom Zuſtitiar derſelben einen Brief mit folgenden Sätzen: „Ich bin an dem Vergleich 
gänzlich unbeteiligt, denn die Injurienklage mußte zweifellos abgewieſen werden, und hätte 
es fiir richtiger gehalten, dem zu Erkennen gegebenen Wunſche Seiner Exzellenz einfach Folge 
zu leiſten, um dadurch Exzellenz zu verpflichten.“ 

Alſo, wenn ich mich gutwillig dareinfügte, daß meine Ehre auf das ſchärfſte beſudelt 
wird, „verpflichte“ ich dadurch den Generalintendanten der Königlichen Schauſpiele !! Fad 
nehme zur Ehre des Grafen Hochberg an, daß er von all den Unterſtrömungen, die fid in 
dem von ihm geleiteten Inſtitut damals geltend machten, nicht vollkommen unterrichtet geweſen 
iſt. Aber dieſer Vorfall iſt charakteriſtiſch dafür, welche Vorgänge ſich an einem königlichen 
Inſtitut abſpielen können, ohne daß die geeigneten Maßnahmen getroffen werden, fie zu ver- 
hüten.“ 

Noch toller ift die Erledigung des anderen Falles wegen des ſchlechten Dirigierens 
der „Cavalleria ruſticana“. Der Konzertmeiſter Rehfeld, auf deffen Zeugnis hin die Ber- 
urteilung erfolgt war, erklärte vor Zeugen, daß er „durch Heren Pierſon verleitet worden 
war, gegen feine Überzeugung gegen Herrn Kapellmeiſter Weingartner auszuſagen“. Natürlich 
machte Weingartner ſofort unter Beilegung der Zeugniſſe dreier Orcheſtermitglieder von dieſem 
Widerrufe der Generalintendanz Anzeige mit dem Erſuchen, „das Verfahren in der Cavalleria- 


510 Erlebniſſe eines königlichen Kapellmeiſters in Berlin 


Angelegenheit wieder aufzunehmen. Es bedarf wohl keines Hinweiſes, daß jedes ordentliche 
Gericht, wenn der Verdacht einer falſchen Zeugenausſage vorläge, ein erneutes Verfahren 
eingeleitet hätte. Die Generalintendantur der Königlichen Schauſpiele war aber anderer An- 
fidt und teilte mir durch den Juſtitiar Herrn Volkmann mit, daß fie es ablehne, meine Eingabe 
zu würdigen. Die drei Mitglieder der Königlichen Kapelle erzählten mir nachher, daß Herr 
Volkmann fie vorgeladen und mit allen Mitteln verſucht hätte, fie zur Zurücknahme ihrer Aus- 
fagen zu bewegen, was jedoch keinen Erfolg hatte. Die Herren blieben feſt dabei. Trotzdem 
geſchah nichts, die mir zugefügte Beleidigung gutzumachen. Jeder Weg einer Genugtuung 
war mir verſperrt. Ein Immediatgeſuch an Se. Majeftät wäre an den Reſſortchef, in dieſem 
Falle Graf Hochberg, zurückgeleitet worden, war alfo ausſichtslos, und die in Oſterreich fo 
wohltätige Einrichtung, daß man beim Landesherrn Audienz erbitten darf, exiſtiert in Preußen 
nicht. Ein Theatervertrag in der gegenwärtigen Form zieht um das Mitglied eine dicke Mauer, 
die kaum zu durchbrechen iſt. Nur wenige hervorragende Mitglieder find in der Lage, fic 
durch Sonderbeſtimmungen ihre Rechte kräftiger zu wahren. Die überwiegende Mehrheit 
muß die allgemeinen Formulare unterzeichnen und iſt damit auf den guten oder ſchlechten 
Willen des Theaterleiters angewieſen. Es iſt die höchſte Zeit, daß ſich die Regierung mit dieſen 
Verträgen beſchäftigt.“ | 

8 hielt es für gut, dieſen Fall in feiner ganzen Ungeheuerlichkeit ausführlich darzuſtellen, 
und will nur noch dazu bemerken, daß man gleichzeitig in höchſter Selbſtgerechtigkeit den 
Kapellmeiſter wegen ſeines im Tone verfehlten Briefes an die Intendanz mit tauſend Mark 
Diſziplinarſtrafe belegte, daß man ſeinen Vertrag mit München in ſchwer zu bezeichnender 
Weiſe hintertrieb und ihn überhaupt ſo einzwängte, daß er ſchließlich nicht anders konnte, 
als einen neuen, freilich nun viel günſtigeren Vertrag mit Berlin abzuſchließen. Vor dieſem 
neuen Abſchluß „erbat ich eine Unterredung mit Graf Hochberg und fagte ihm ungefähr fol- 
gendes: ‚Wenn id) mich entſchließe, in Berlin zu bleiben, fo foll unter alles, was mir hier zuge- 
fügt worden ift, ein Strich gemacht werden. Ich verlange nur von Eurer Exzellenz, daß die 
Angelegenheit der ‚Cavalleria‘ ausgeglichen wird. Ich verlange dies nicht meinetwegen, 
ſondern ich wünſche, daß einem Snjtitut, bem ich für die Zukunft angehören foll, ein derartiger 
Flecken wie dieſe Angelegenheit nicht anhaften foll. Die 120 Mark würde ich nicht für mich in 
Anſpruch nehmen, ſondern fie einer wohltätigen Inſtitution des Inſtituts, etwa der Penfions- 
kaſſe, überweifen.‘ Graf Hochberg ſagte mir: ‚Es ift ja ſchwer, ein einmal ergangenes Urteil 
rückgängig zu machen, aber ich werde es tun.“ Pierſon verſprach mir aus freien Stüden hoch 
und teuer, meinen ,Genefius’ wieder aufzunehmen, erteilte fogar in meiner Gegenwart ent- 
ſprechende Aufträge. Ich unterſchrieb den neuen, auf zehn Jahre ausgeſtellten Vertrag. Trotz 
aller Erfahrungen war ich damals noch nicht gewitzt genug, um zu wiſſen, daß man ſich beim 
Theater alles ſchriftlich geben laffen muß. Von der Aufführung des ,Genefius’ wurde nichts 
mehr geſprochen, nachdem ich den Vertrag unterſchrieben hatte, und auch die Cavalleria- An- 
gelegenheit blieb unberührt. Dieſer Flecken haftet alſo an dem Königlichen Opernhauſe.“ 

Die hier geſchilderten Vorkommniſſe find nicht mehr Gegenſtand der heute ſchwebenden 
Prozeſſe zwiſchen Weingartner und der Königlichen Generalintendanz zu Berlin. Aber die 
neuen Zwiſtigkeiten waren die Folge dieſer nun ſcheinbar beigelegten Vorgänge. Man hat 
Weingartner dahin gebracht, daß er im Jahre 1898 eine Gelegenheit benutzte, ſeinen Vertrag 
als von der Königlichen Intendanz gebrochen hinzuſtellen und daraufhin ſeine Stellung zu 
verlaſſen. Es mag wohl ſein, daß jener Vorgang auf einem Verſehen bei der Intendantur 
beruhte und nicht auf böſer Abſicht, unb fo habe auch ich damals hier im Türmer unter dem 
Eindruck der offiziellen Darſtellung der Intendanz gegen Weingartners Verhalten Stellung 
genommen. Ich hätte es nicht getan, wenn ich auch nur den geringeren Teil dieſer jahrelangen 
Qualereien gekannt hätte, von denen diefje Broſchüre ſpricht. Denn da ift es nur zu felbftver- 
ſtändlich, daß der feünftlet jede Gelegenheit ergreifen mußte, endlich diefe Feſſeln abzufchütteln. 


Zur Notenbeilage | 511 


Seither kämpft nun Weingartner um Aufhebung eines Vertrages, den er, um endgültig frei- 
zukommen, in ſchwerſter Zwangslage im Fahre 1908 unterzeichnet hatte, eines Vertrages, 
der nach ſeiner Meinung, der wohl die meiſten Leſer ſeiner Darlegungen beitreten werden, 
„gegen die guten Sitten verſtößt“. Hätte man auf der Gegenſeite ein gutes Gewiſſen, ſo 
hätte man den Prozeß nicht in der bisherigen Weiſe zu führen brauchen. Man hat die Sache 
fo lange hin und her gedreht, bis man fid) glücklich hinter die Perſon des Königs von Preußen 
verſchanzt hatte, gegen den nun die Prozeſſe geführt werden. Wie der endgültige Ausgang 
dieſes ungleichen Kampfes ſein wird, iſt heute ſchwer zu ſagen. Weingartner ſelbſt gibt ſich 
keinen übertriebenen Hoffnungen bin. Es ift ſchlimm genug, daß man nicht mehr mit dem- 
ſelben Stolze wie vor anderthalb Jahrhunderten ſagen kann: Es gibt noch Gerichte in Berlin! 
Es mag auch ſein, daß das Buchſtabenrecht für die Königliche Intendanz in Berlin entſcheidet. 
Aber ſicher iſt das dann wieder ein Fall, wo „Summum jus summa injuria“ iſt. Zu Oeutſch: 
Die höchſte Zurifterei — die tiefſte Ungerechtigkeit. 

Hier liegt der eine Grund, weshalb dieſer Fall Weingartner uns alle angeht. Der 
andere iſt, daß, wie der ganze Betrieb der Königlichen Oper beweiſt, in ſolchen Verhältniſſen 
trotz glänzendſter Mittel ein gedeihliches künſtleriſches Arbeiten unmöglich iſt. K. St. 


W. 


Zur Notenbeilage 


R a eine eingebenbere Würdigung des Schaffens von Martin Frey aus räum- 
lichen Gründen zurüdgeftellt werden muß, begnügen wir uns heute damit, feine 
in Steingräbers Verlag zu Leipzig erſchienenen Sammlungen: Acht Kinderlieder, 
Soldatenlieder für kleine Rekruten, Lieder fürs Haus, Allerlei Ned- und Liebeslieder jedem 
muſikaliſchen Hauſe auf das nachdrücklichſte zu empfehlen. Es wird hier eine eigenartige, 
nach Form und Gehalt gleich reizvolle Kunſt geboten. 


Colignyverehrer 


S Wilhelmshaven hat Wilhelm II. vor 
etwa zwei Monaten dem Gaspard von 
Coligny ein Denkmal geſetzt. Für die Leute, 
die ſich darüber wundern könnten (denn 
ſchließlich vermöchten wir trotz unſerer bci- 
fallswürdigen Fruchtbarkeit in ſolchen Stücken 
doch nicht allen in deutſchen Landen Denk- 
ſteine zu weihen, die in der franzöſiſchen 
Bartholomäusnacht ihr Leben aushauchten), 
bat der Monarch in feiner Gntbüllungsrebe 
noch eine Art Erläuterung beigefügt. Er hat 
den Coligny ale ſeinen Verwandten gerühmt 
und einen vor anderen vorbildlichen Mann, 
der ſeinem Gott und ſeinem Könige die Treue 
gehalten und dieſem noch dazu die Feſtung 
Saint-Quentin gerettet hatte, Leider fehlte 
dieſem Hymnus auf die Treue ein ſehr wefent- 
liches Requiſit: die hiſtoriſche Treue. In 
Wahrheit hatten nämlich in Gaspard von 
Colignys Leben, das in mancherlei Beziehung 
gewiß ein Heldenleben war, die Dinge nahezu 
umgekehrt gelegen. Aber ſelbſt wenn die tai- 
ſerliche Darſtellung in allen Einzelheiten zu- 
traf, wäre doch wohl die verwunderte Frage 
verſtattet geweſen: Wie kam man dazu, dieſen 
Yugenottenführer und Vorkämpfer des Ral- 
vinismus unſeren doch aus Katholiken wie 
Evangeliſchen zuſammengeſetzten Marine- 
truppen zur Verehrung anzubieten? Und 
warum überhaupt der Marine? Ginte- 
malen Gaspard von Coligny zwar den Titel 
„Admiral von Frankreich“ geführt hatte, 
aber doch nur wie etwa der jeweilige Königs; 
berger Oberlandesgerichtspräfident Kanzler 
im Königreich Preußen heißt. Nie mit Navi- 


gation ſich befaßt, niemals ein Schiff kom⸗ 
mandiert oder gar einer Seeſchlacht bei- 
gewohnt hatte 

Aber das Ergötzliche oder — wenn man 
will — auch das Erbärmliche war, daß eigent- 
lich niemand ſich verwunderte. Ein paar 
katholiſche Blätter murrten. Und noch ein 
paar Einſpänner, die ohnehin im Geruch der 
Ketzerei und des profeſſionellen Nörglertums 
ſtehen. Gegen ſie aber erhob ſich alsbald 
der Chorus der Gutgeſinnten, und in einem 
norddeutſchen Blatt focht eine keuſche Mannes- 
feele, bie fid) ſelbſt den Beſitz einer „geſchätz⸗ 
ten“ Feder atteſtierte, unter hämiſchen und 
bösartigen Ausfällen gegen die Anders- 
meinenden fiir die „Gültigkeit der kaiſerlichen 
Weiheworte“. Und alfo ift dieſem Volke nur 
recht geſchehen. Dieſem Volk, das die Treue 
gegen fid ſelbſt und die Mannheit einzubüßen 
beginnt. $ R. B. 


Schneeball⸗Hetze gegen Deutſch⸗ 
land 


an kennt in Deutfchland die fogenann- 

ten „Schneeball Sammlungen“, die 
ihrer Gemeingefährlichkeit wegen unter das 
Strafgeſetz fallen. Die Sammelſtelle eines 
ſolchen meiſt unter erdichteter Wohltätigkeits⸗ 
flagge ſegelnden Unternehmens läßt Tauſende 
von Bettelbriefen ins Land gehen mit der 
Bitte an den Adreſſaten, ſeinen Obolus zu 
entrichten und dann Abſchriften des Bettel- 
briefes an Freunde und Bekannte weitergu- 
geben. Auf dieſe Veiſe wächſt die Zahl der 
Bettelbriefe ins Angemeſſene, und die Samm- 
lung bleibt, wie nachgewieſen ijt, auf Jahr; 
zehnte hinaus unausrottbar. 


Auf der Warte 


Einem engliſchen Blatte iſt es vorbehalten 
geblieben, dasſelbe ſinnreiche Syſtem auf 
politiſches Gebiet zu übertragen und ſo eine 
Deutſchenhetze in die Wege zu leiten, die alle 
bisherigen Leiſtungen in den Schatten ſtellt. 
„The Throne“, das iſt der Name des Blattes, 
tut mit ſtaunenswerter Offenheit ſeinen Plan 
dem engliſchen Publikum in folgendem Auf- 
ruf kund: 

„Oeutſchland macht gewaltige Vorberei- 
tungen für einen Krieg gegen England. Seine 
Abſicht iſt, unſern Handel durch unſern Ruin 
an ſich zu reißen. Unſere Heimſtätten und 
unſere geliebten Angehörigen ſind in Gefahr. 
deber Penny, der für deutſche Artikel oder 
Nahrungsmittel ausgegeben wird, iſt Geld, 
das an Deutſchland gegeben wird, um ihm bei 
ſeinem Feldzug zu helfen, während unſere 
eigenen Arbeiter es verlieren. Wollen Sie 
fid von heute unter allen Umſtänden zu der 
Weigerung verpflichten, irgend etwas zu 
kaufen, das in Oeutſchland gemacht ijt? Da- 
mit werden Sie einen Hieb führen für den 
König, das Land und Ihr Heim. Wollen Sie 
fi dem „Schneeball! Schema der Zeitung 
‚Throne‘ anſchließen? Bitte, ſenden Sie dann 
dieſe Poſtkarte einem Freund und ſchreiben 
Sie an uns um freie Zuſendung ſo vieler, wie 
Sie immer bedürfen. Gott ſegne den König! 
„The Throne“, Geſchäftsſtelle London, 20 u. 
21, Eſſex Street, Strand W. C.“ 

Welches Geſchrei würde ſich wohl jen- 
feits des Ranals erheben, wenn ein deutſches 
Blatt eine derartige Hetze gegen England zu 
inſzenieren wagen würde? L. 9. 


Auch ein Denkmal 


ei Jauernick hat man einen eineinviertel 

Meter hohen Granitblock errichtet, der 

die ſtolze Inſchrift trägt: „Hier ſtieg Seine 

Majeftät Raifer Wilhelm II. am 8. September 

1906 anläßlich der Enthüllung des Denkſteins 
auf dem Pfaffenberge zu Pferde.“ 

Da an dem „Zu⸗-Pferde-ſteigen“ Seiner 
Majeſtãt beim beſten Villen nichts Beſonderes 
zu finden ift, kann dem Denkmal doch eigent- 
lich nur die Aufgabe zufallen, von der Minder- 
wertigkeit feiner Errichter der Mit- und Nach 

Der Zürmer XV, A 


513 


welt Runde gu geben, „Ein guter Menfd 
in feinem dunkeln Drange —“ 


** 
Eine „große patriotiſche 1913- 
Sade“ 
WR einem Berliner Glatt war neulid) fol- 
gende Anzeige zu leſen: „Für große 
patriotiſche 1913-Gadhe werden zur Grünbg. 
einer G. m. b. 9. 20 000, — & (auch geteilt) 
geſucht. Sache zeitigt hohe Anerken. und 
bringt großen Gewinn. Herftellgs.-Untoften 
betragen M 0,25. Verkaufspreis M 2,50. 
Offerten an: Dipl.-Ingenieur 1813—1888— 
1913, Charlottenburg 5, lagernd.“ Das er- 
innert mich an ein Gefprdd, das ich vor vielen 
Sabten — um die Hochflut deutſcher Buren- 
begeiſterung — mit einem Manne hatte, der 
an der Spitze dieſer Bewegung ſtand. Wir 
ſprachen von dem und jenem, und ſchließlich 
fragte ich ihn, wovon denn eigentlich ein Herr 
lebe, der ſich in der gleichen Richtung agita- 
toriſch betätigte, ohne daß ihm doch, wie mei- 
nem Gegenüber, breite Subſiſtenzmittel zur 
Verfugung ſtünden. „Aber, ich bitt Sie, von 
ber Burenbewegung.“ Und auf meine er- 
ſtaunten und ein wenig zweifelnden Mienen: 
„Oh, da kann man ein ſchönes Stück Geld mit 
verdienen. Man muß es nur richtig anfangen.“ 
Seither weiß ich, daß der gute Goethe ge- 
irrt hat. Begeiſterung mag gerade keine 
Heringsware ſein, aber Marktware iſt ſie im 
neuen Deutfdland durchaus. Als patriotiſch 
gefärbte Begeiſterung, heißt das. (Wofern 
man nämlich in Hohenzollernkult unb Wilhelm- 
verehrung Iden ohne weiteres Bekundungen 
des Patriotismus ſehen will.) Aber in dieſem 
landläufigen und doch auch höheren Orts ap- 
probierten Sinne wird Anno 1913 manche 
„große patriotiſche Sache“ — man verzeihe 
mir die berliniſch vulgäre Wendung — „ge- 
ſchoben“ werden. Schon jetzt rühren fid) — wer 
genauer um fid) (baut, jtößt allerorten auf den 
nämlichen Gewerbefleiß — tauſend geſchäftige 
Hände. Die einen — und dieſe reichen bis in 
bie Miniſterſphäre — wollen Orden und Rang- 
erhöhungen erſtreiten; die anderen begnügen 
ſich ſchon, wie der Charlottenburger Diplom- 
ingenieur, mit einer Verzinſung von 10 96. 
34 


514 


Aber verdienen wollen fie alle an der „großen 
patriotiſchen 1913-Sadhe“. Für die Begeiite- 
rungsagenten kommt eine fette Saiſon: den 
Leuten von Geſchmack und Takt legt es ſich 
jetzt [don bitter auf die Zunge. 9t. B. 


* 


Die Deutſchen in der Front 


n Torgau wird ein Denkmal Friedrichs 
J des Großen enthüllt. Dabei wirkt aus 
irgend einem Grunde ein Aufzug von „Raub- 
rittern“ mit, d. h. von Zeitgenoſſen in Küraß 
mit Feldbinde, koſtümgeſchichtliches Muſter: 
30jähriger Krieg. Der zur Enthüllung auto- 
matiſch erſchienene Prinz ſchreitet mit mili- 
täriſcher Gefolgſchaft die Faſtnachtsfront dieſer 
aufgeſtellten Blechbürger ab, und das Kliſchee 
trägt den zeitgeſchichtlichen Moment zu den 
ferneſtwohnenden Völkern. Prinz O. ſchreitet 
die Front der Raubritter ab, beſagt die Unter- 
ſchrift, die der wiſſensdurſtigen Zeitbildung 
genügt. 

Es ift beluftigend, die Geſichter der be- 
teiligten Militärs zu ſtudieren. Wie ber eine 
die ſchneidige Muſterungsmiene aufgeſetzt hat, 
der am beſten ausſehende vornehme alte 
Soldatenkopf nicht ohne eine ſtille Privat- 
empfindung ſcheint, die der Offizier im Dienſt 
ja übrigens nicht nötig hat. 

Vom nächſten Tag ein anderes Bild. 
Grenadiere mit Helmbuſch in prachtvoller 
Präſentierfront. Vorbeihaſtend eine ver- 
ſchleierte zarte elegante Dame, im Bilde 
faſt erdrückt von dem mächtigen begleitenden 
Oberſt hinter ihr, deſſen Schultern ihren Hut 
überragen. Der Kommandeur des Regi- 
ments und deſſen „hoher Chef“, Prinzeſſin 
ſoundſo. 

Die Zeit mit ihren hundertgeſtaltigen 
Feminismen denkt ſich nichts mehr dabei. 
Einſt war ein feiner empfindliches Fühlen bis 
ins einfache Volk, zu deſſen Märchen die ſchöne 
Erzählung vom Rieſenſpielzeug des Burg- 
fräuleins von Niedeck gehört. „Es ſprießt der 
Stamm der Rieſen aus Bauernmark hervor, 
Oer Bauer iſt kein Spielzeug, da ſei uns Gott 
davor.“ Soll nun das Volk der Scharnhorſt- 
ſchen Wehrpflicht geeignet geworden ſein? 

Was wohl der in Torgau enthüllte alte 


Auf der Varte 


Fritz zu dieſen beiden Hohenzollernbildern aus 
der Mehr- als-Enkel-Zeit an den Rand ge- 
ſchrieben haben würde? 

Wir reden ſo unglaublich viel von „Stil“ 
Was nützen aber alle geſtaltloſen Theorien 
nebſt allen Akademien und Kunſtgewerbe⸗ 
ſchulen, wenn am meiſten das, woraus jeg- 
licher Stil allein, dann aber frei von ſelbſt 
entſpringt, beſtändig in Grund und Boden 
geftampft wird: das taktvoll natürliche und 
richtige Empfinden? Schablone überall, im 
Leben wie in der Kunſt, und wahllos zu den 
unmöglichſten Zuſammenſtellungen ausge- 
dehnt. Wenn täglich irgendwo die Front, ab- 
geſchritten wird, verlangen es auch die Raub- 
ritter. Dem einſtigen Volk, das die alten deut- 
ſchen Städte ſchuf und die feine und tiefe 
Sage vom Rieſenſpielzeug fand, brauchte man 
keinen Stil zu lehren, was heute mit allen 
Formeln und Linealen nicht gelingt. 

* Ed. 9 


Frankreich als Erzieher 


Jer Einführung des Made in Germany iſt 
jetzt eine ähnliche Bewegung in Frant- 
reich gefolgt. Sie richtet ſich weniger gegen 
die Brauchbarkeit der deutſchen Waren als 
gegen ihre ſchleicheriſche Verkapptheit mit 
franzöſiſchen Aufſchriften und zweideutigen 
Firmen, die von Unkundigen für franzöſiſche 
zu halten ſind. Gegen das „Munich“ und die 
saucissons de Francfort richtet fie fid) nicht. 
Man hat längſt bei uns vergeblich geblie- 
bene Vorſtellungen gegen dieſe feile, aber ver- 
breitete Selbſtableugnung unſeres Fabri- 
kantentums erhoben, die der Angſt entſpringt, 
es könnte irgendein Franzoſe, Madjare, Pole, 
Tſcheche an der deutſchen Herkunft Anſtoß 
nehmen, ober die mit dieſem Anſtoß krieche 
riſch im voraus rechnet, wo nicht einmal ein 
vernünftiger Grund dazu iſt. Bekommt man 
doch ſogar in der deutſchen Schweiz von 
deutſchen Firmen, die das Gras wohl be- 
ſonders fein wachſen hören, franzöſiſche Of- 
ferten zugeſandt. 

Wir können es nur begrüßen, daß gegen 
dieſen Teil von verddtliden Landsleuten das 
Ausland ſelber uns eindrucksvoll zu Hilfe 
kommt. Es ijt peinlich genug; aber uns da- 


Auf der Warte 


durch gekränkt zu fühlen, liegt kein Grund vor. 
So weit geht die Solidarität mit dem Men- 
ſchenſammelſurium, das innerhalb derſelben 
Grenzpfähle lebt, denn doch nicht; es gibt 
auch eine Solidarität der Selbſtachtung unter 
den Nationen. Sehr richtig wurde kürzlich 
von Paris aus bemerkt, daß in der vielen er- 
bãrmlich auftretenden Profitlichkeit zum guten 
Teil die Erklärung liegt, weshalb das hoch- 
entwickelte deutſche Volkstum noch immer nicht 
dazut gelangen will, in der Geſellſchaft der 
Nationen „jein Genie auszuſtrahlen und ihm 
Freunde und Anhänger zu gewinnen“. Alſo 
ein Hauptgrund auch für unſeren politiſchen 
Mißerfolg. Ed. H. 


* 


Die edle Hebjagd 


ie ehemaligen, ebenſo grauſamen wie 
koſtbaren Hofjagden ſind endlich, dem 
Himmel ſei Dank! aus der Mode. Noch im 
Anfange und in der Mitte des 18. Jahrhun- 
derts machten fie eine der vornehmſten fürft- 
lichen Vergnügungen aus. 

Es war auch wohl, wahrhaftig! febr fürft- 
lich, ein armes, unſchuldiges Tier, unter der 
wütendſten Todesangſt, bis zum Stürzen zu 
hetzen, um am Ende den unnützen Brot- 
freſſern, den Hunden, einen leckeren Fraß zu 
verſchaffen. — 

Sonſt, ſagt man, ijt die Jagd eine der an- 
ſtändigſten und nützlichſten Vergnügungen. 
Sie erhält die Geſundheit des Körpers, weckt 
den Mut, ſchärft das Auge, härtet ab gegen 
Beſchwerden. 

Alles recht ſchön! wenn nur nicht bei ſo 
manchen Fürſten die Jagd zu einer Leiden- 
ſchaft würde, die ſie von ihren notwendigeren, 
beſſeren Geſchäften abzieht. Denn über Recht 
und Ordnung im Lande zu wachen, ohne ſich 
blindlings den Dienern des Staates zu ver- 
trauen, Anſtalten zum allgemeinen Wohl in 
allen Fächern zu treffen und ſelbſt den Fort- 
gang dieſer Anſtalten zu beobachten und zu be- 
fördern: das iſt denn doch, beim Himmel! ein 
wenig wichtiger, als einen Haſen aus ſeinem 
Lager zu ſtöbern oder einem Schmaltiere die 
Kugel durchs Herz zu jagen oder mit eigener 
höchſter Hand eine Sau abzufangen. 


515 


Ein gewiſſer Antiochus von Syrien, der 
ſich einſt auf der Jagd von ben Seinigen ver- 
loren hatte, ſoll in einer Bauernhütte, worin 
man ihn nicht erkannte, febr derbe Wahr- 
heiten hierüber gehört haben. Wenn doch 
jeder fürſtliche Jäger ſich ebenſo wie Antiochus 
verirren und gleiche Wahrheiten über ſich 
hören müßte! Doch wer weiß, ob er den 
Edelmut hätte, fie ebenſo dankbar wie Antio- 
chus aufzunehmen?“ 

Alſo ſchrieb der Philoſoph und Schrift- 
ſteller 3. 3. Engel, Erzieher Friedrich Wil- 
helms III. und ſpäterer Hoftheaterdirektor in 
Berlin (1784—94), in feinem „Fürften- 
ſpiegel“. —th— 

1 


Ruffe, Deutſchruſſe oder Deut- 
ſcher? 


er Artikel „Aus der Zeit baltiſcher Kultur- 
kämpfe“ in Heft 10 des Türmers bringt 
in feinem Untertitel das Wort „Oeutſchruſſe“. 
Das ift (eit einigen Jahren der Erſatz für den 
„Ruſſen“ ſchlechthin, wie bisher der ruſſiſche 
Staatsangehörige in Deutſchland in weiteſten 
Kreiſen genannt wurde, auch wenn er rein 
deutſcher Nationalität war. 

In der Frage: „Was für ein Landsmann 
ſind Sie?“ liegt doch vor allem die Frage 
nach ber Nationalität, nicht nach der Staats- 
angehörigkeit. Herr Korfanty iſt und heißt 
Pole, Herr Niſſen Däne; daß ſie deutſche 
Staatsangehörige ſind, iſt hier irrelevant. Die 
Untertanen des türkiſchen Sultans ſind doch 
nicht alles Türken, es gibt unter ihnen zahl- 
reiche Griechen, Bulgaren, Armenier, Alba- 
neſen uſw. Die Araber in Tripolis bleiben 
Araber, ob fie nun unter türkiſcher oder ita- 
lieniſcher Oberhoheit ſtehen. Warum ſollen die 
Deutſchen des Ruſſiſchen Reiches hier eine 
Ausnahme bilden? Rußland iſt, wie jeder, 
der es nicht aus Erfahrung weiß, nachſchlagen 
kann, von allerhand Völkerſchaften bewohnt. 
Da find in erſter Linie Ruffen (Groß-, Klein- 
und Weißruſſen), dann Polen, Litauer, Letten, 
Eſthen, Finnen, Rumänen uſw. Warum ſoll 
nun beim ODeutſchen durchaus die deutſche 
Staatsangehörigkeit die conditio sine qua non 
fein, um ihm den Namen „Deutſcher“ rüd- 


516 


haltslos zuzuſprechen? Sind etwa die ebe- 
maligen Eroberer der heute ruſſiſchen Oſtſee- 
provinzen, bie [amt und ſonders aus deutſchen 
Gauen ſtammten, des Rechtes, ſich Deutſche 
zu nennen, verluſtig gegangen, weil ſie ſeit 
1710 reſp. 1795 politiſch zum Ruſſiſchen Reich 
gehören? 

Die Einſicht, daß dies eine grundloſe Be- 
hauptung wäre, ſcheint ſich denn auch all- 
mählich Bahn gebrochen zu haben. Man 
hört und lieft heute dafür viel vom „Oeutſch⸗ 
ruſſen“. Meiner Meinung nach iſt mit dieſem 
Kompromißnamen nicht nur nichts gewonnen, 
ſondern ein abſolut unſinniges Wort ge- 
ſchaffen worden. Sprechen wir etwa in glei- 
cher Weiſe vom Rumänenruſſen, vom Letten- 
ruffen, vom Polenruſſen? Kennen wir Dänen- 
deutſche, Griechentürken? Deutſchamerikaner 
oder Oeutſchöſterreicher läßt man ſich zur Not 
noch gefallen, da Amerikaner und Sſterreicher 
keine Nationalität bezeichnen. Aber „Oeutſch⸗ 
ruſſe“ geht doch wirklich nicht. Ein Ruſſe iſt 
unbedingt Slawe oder cum grano salis auch 
der Nichtſlawe, der ſich auf ſeine ruſſiſche 
Mutterſprache und Kinderſtube berufen kann, 
mithin ruſſifiziert ij. Der Deutfche ift Ger- 
mane, hat ſeine Art und Sprache und bleibt 
Deutſcher, ob er nun ruſſiſcher, franzöſiſcher 
oder chineſiſcher Staatsangehöͤriger freiwillig 
oder unfreiwillig geworden ift. Es ift zu be- 
achten, daß der wirkliche Ruſſe die Deutſchen 
der Oſtſeeprovinzen weder Ruffen noch Deutfch- 
ruſſen nennt, für ihn ſind es eben durchaus 
„hjemzy“, d. h. Oeutſche. 

Die Urſache, weshalb die Oeutſchen inner- 
halb ihrer Grenzpfähle ſich ſträuben, ihren 
reinen Stammesgenoſſen im Baltenlande den 
Namen „Oeutſche“ ohne Umſchweife guguer- 
kennen, liegt in dem beklagenswerten Mangel 
an Nationalgefühl, auf den auch der Türmer 
oft genug hingewieſen hat. Zuweilen läuft 
naturlich auch Unkentnnis mit unter. Ich babe 
im übrigen hochgebildete Menſchen kennen 
gelernt, die mir nicht glauben wollten, daß 
in meinem Vaterhauſe in Mitau nur deutſch 
geſprochen wird, daß es bei uns ältere Leute 
gibt, die überhaupt kein ruſſiſches Wort ver- 
ſtehen, daß die vorläufig noch überwiegende 
Mehrheit der Angehörigen der gebildeten 


Auf der Warte 


Stände ſich zu deutſcher Art und Sprache 
bekennen. 

Aber auch wo man über die baltiſchen 
Verhältniſſe Beſcheid weiß, zögert man oft, 
das Oeutſchtum der Balten kurz und bündig 
anzuerkennen. Das gehört dann nicht weniger 
ins Kapitel über das mangelhafte National- 
gefühl, wie die Geſchichte vom Five o'clock, 
vom Mr. Schmidt und vom Meffenger boy. 

H. G. 


* 


& 
Qtational«"begrenate Wohl⸗ 
tätigfeit 

Cs kurzem ſtarb in Bilfen der Gemeinde- 

rat Houska. Er war lange Sabre hin- 
durch Verwaltungsratsmitglied der Urquell- 
brauerei geweſen. In ſeinem Teſtament hat 
er nun der Stadt Pilſen für tſchechiſch- natio- 
nale Zwecke 200 000 Kronen, des weiteren fiir 
Armenzwecke eine Million Kronen vermacht 
unter der ausdrücklichen Beſtimmung, daß 
deutſche Arme von der Nutznießung aus- 
geſchloſſen bleiben ſollten. 

Deutſchland ijt das größte Abſatzgebiet für 
das Tſchechenbier. Alljährlich fließen der Ur- 
quellbrauerei Millionen deutſchen Geldes zu. 
Auch Herr Housta wird den weitaus größten 
Teil ſeines Vermögens deutſcher Kundſchaft 
zu verdanken haben. Allein das hindert ihn, 
wie man ſieht, nicht, feinem Oeutſchenhaß 
noch über bas Grab hinaus Geltung zu ver- 
ſchaffen. Sollte das nicht für die allzu be- 
geiſterten Liebhaber tſchechiſchen Bieres in 
Deutſchland eine Mahnung fein? H. L. 


* 
Denn das Auge des Geſetzes 

wacht — — 
Dos ſich die Berliner Polizei durch be- 
ſonderen Spürſinn auszeichnet, wird 
ſelbſt der größte Optimiſt nicht behaupten. 
Gerade in den letzten Jahren iſt eine Reihe 
ſchwerer Bluttaten unaufgedeckt geblieben, 
und der Fall Hoffmann, in dem zwei er 
wieſenermaßen gänzlich UAnſchuldige monate- 
lang trotz Mangels an jeglichem Beweiſe unter 
Mordverdacht in Haft behalten wurden, 
dürfte noch nicht vergeſſen ſein. Wer jemals 


Auf der Warte 


in der unangenehmen Lage war, der Krimi- 
nalpolizei eine Anzeige übermitteln zu müf- 
fen, kennt die paffive Reſiſtenz der Beamten- 
ſchaft, die jede Anzeige als eine unliebſame 
Vermehrung der Arbeit empfindet. 

Welche Schwierigkeiten es aber ſogar 
macht, einen ſchweren Verbrecher, deſſen 
Perſönlichkeit agnofziert und deffen Auf- 
enthalt bekannt ijf, durch die Polizei ver- 
haften zu laffen, darüber gibt eine Gerichts- 
verhandlung, die dieſer Tage vor der Erſten 
Strafkammer des Landgerichts III in Ber- 
lin ſtattfand, erbauliche Aufſchlüſſe. Bei der 
Wirtſchafterin eines Zahnarztes war nddt- 
licherweile ein Einbrecher eingedrungen und 
hatte ſie unter Drohungen veranlaßt, ihm 
ihre Schmuckſachen auszuhändigen. Einige 
Tage fpdter fab die Wirtſchafterin den Täter 
in einem Café und benachrichtigte den Arzt 
davon. Wir laſſen den offiziellen Gerichts- 
bericht weiter ſprechen: Der Arzt eilte nach 
dem Café, ließ zunächſt feſtſtellen, daß der be- 
zeichnete Herr einen ebenſolchen Alfter und 
Hut, wie ihn der Einbrecher getragen, bei 
der Garderobenfrau abgegeben habe, und 
telephonierte an die Kriminalpolizei, daß der 
Einbrecher ſich im Café befinde. Darauf 
wurde ihm geantwortet: „Der Beamte, der 
die Sache bearbeitet, iſt heute, am Sonntag, 
nicht hier, verfolgen Sie doch den 
Mann ſelbſt!“ Dies tat der Arzt, als 
ſich der Mann entfernte; er folgte deſſen 
Spuren durch die verſchiedenſten Straßen 
bis zur Behrenſtraße. Dort bat er einen an 
der Ecke poſtierten Schutzmann unter ſchneller 
Angabe des Tatbeſtandes um Feſtſtellung der 
Perſönlichkeit des Verdächtigen, erhielt aber 
die Antwort: „Ich kann hier nicht 
von meinem Fleck weg; ſagen 
Sie es meinem Kollegen an 
der nächſten Ecke!“ Oer Arzt batte 
das Bedenken, daß der Fremde, der offen- 
bar ſchon gemerkt hatte, daß er verfolgt werde, 
vielleicht in einem Auto entkommen könnte, 
und dieſe Befürchtung erfüllte ſich ſofort: der 
Angeklagte ſprang mit ſeiner Begleiterin in 
ein Auto und war bald verſchwunden. Durch 
einen günftigen Zufall erhielt der Arzt dann 
durch einen Kollegen den Hinweis, daß der 


517 


Angeklagte wohl der Verbrecher ſein müſſe. 
Die Polizei wurde wieder benachrichtigt, 
aber — ſo ſagte der Zeuge — „es dauerte 
eine Voche, bis wir die Kriminalpolizei 
dazu hatten, den Mann zu verhaften“. 

Es genügt alſo noch nicht, daß man der 
Polizei auf die Spur des Verbrechers ver- 
hilft. Die Polizei verlangt offenbar auch noch, 
daß ihr das Publikum den Verbrecher auf 
eigne Koſten und Gefahr ins Haus liefert. 


* 


von Pufferl 


Sei einiger Zeit gibt es Geſchäftsleute, die 
uns auf ihren Anſchriften in den Adels- 
ſtand mit „von“ erheben. Das gar zu ab- 
gedroſchene „Hochwohlgeboren“, meinen ſie 
wohl, tut es nicht mehr, beſonders nicht, wenn 
man darauf noch ein Recht hat. Ich wiirde 
ſolche Zuſtellungen für ein Verſehen gehalten 
haben, hätte nicht ein Freund diefelbe Be- 
obachtung gemacht und mir Anſchriften an 
ihn mit „von“ zur Verfügung geſtellt. 

In Ofterreid) war man’s in der mündlichen 
Höflichkeit ja gewohnt, und wenn in der Wiener 
Operette Girardi als Friſeur Pufferl für ſeine 
Gehilfen der Herr von Pfufferl iſt, ſo iſt das 
ganz amüfant. Aber daß „ein ehrbarer deut- 
fher Kaufmann“, wie man zur Hanſezeit fagte, 
nun zu dieſem Mittel eines katzbuckelnden 
Hauſierens gediehen ijt, treibt doch die Scham 
rote ins Geſicht. Ed. H. 


x 


Orden und Adel billiger 


Wo en Ordens vermittlung mußte fid) in 
Aachen der 54 Zahre alte frühere 


Rechtsanwalt Fſidor F., zuletzt in Berlin tätig, 
vor der Strafkammer verantworten. Er hatte 
unwiderſprochen behauptet, päpſtliche Orden. 
ſo z. B. den Orden zum heiligen Grabe, mit 
dem der Grafentitel verbunden iſt, für 
45 000 K, ſowie ruſſiſche, griechiſche, rumä- 
niſche, bulgariſche und koburg⸗gothaiſche Hof- 
prábifate vermitteln zu können. Ein Rauf- 
mann machte der Polizei Witteilung, F. 
wurde verhaftet. Bei der Verhandlung be- 
hauptete der Angeklagte, päpftliche und andere 
Ordens aus zeichnungen beforgen zu 


518 


tónnen, ebenfo aud den Adelstitel, 
ber gewöhnlich eineinhalb Millionen Mark 
koſte, den er aber um 400 000 K billiger 
liefern könne. Ein als Zeuge vernommener 
Berliner Kriminalkommiſſar beſtätigte in 
der Hauptſache die Angaben des Angeklagten, 
der darauf freigeſprochen wurde. 

Es muß nun alſo, wie in der Urteils- 
begründung feſtgeſtellt wird, „als not o- 
riſch angeſehen werden, daß in 
Berlin derartige Orden und 
Titel beſchafft werden können.“ 

Was freilich nicht mehr zu beweiſen war. 

* 


Die modernen Verhältniſſe 


G" Werbefeuilleton der Erziehungsſchule 
zu Biſchofſtein beruft ſich zu ihrer Emp- 
fehlung auf die genügend bekannten modernen 
Verhältniſſe. „Gerade in vielen gut fituierten 
Familien hat man oft nicht mehr die Zeit und 
die Ruhe, die nötige Sammlung und mora- 
liſche Befähigung, das junge Geſchlecht 
ordentlich zu erziehen.“ Das aufreibende 
Kulturleben, die körperliche Dekadenz uſw. 
Snhaltsgedrängte Wahrheiten, mit bemertens- 
werter Kälte denen ins Geſicht geſagt, deren 
Kinder man zu Zöglingen gewinnen will. 

And doch will dieſe Aufrichtigkeit nicht 
ganz erfreuen. Die treffliche Verſorgung der 
vor ihren Eltern geretteten Kinder wird außer 
Frage ſtehen, aber den richtigen Arndtſchen 
Zorn, ber die Gegenwart packen und fchüt- 
teln und vielleicht noch wieder zurechtreißen 
könnte, vernimmt man darin ſo wenig wie 
in der meiſten literariſchen Zeitkritik. Es iſt 
nicht erfriſchend, viel eher beklemmend, wenn 
man die Zeit ſo weit gekommen ſieht, daß 
man ihre Vernichtung ihr mit der Nejignation 
des Selbſtverſtändlichen ſagt, gleich dem Arzt 
gegenüber dem Hoffnungsloſen. 

In unſerer Dekadenz iſt ſchon peinlich viel, 
was an das Zuendegehen des alten Roms er- 
innert. Wie da im Gallien der Völkerwande⸗ 
rung die Träger der Kultur, entkräftet von 
Mode und Reichtumsjagd, im Zirkus ſaßen 
und in ben Zwiſchenakten der Schaumetze⸗ 
leien, welche die ſenſationsbedürftigen Nerven 
aufpeitſchen mußten, einander zuwitzelten: bis 


Auf der Varte 


der Alamanne vor den Toren ſtände, ſo lange 
hätten fie’s noch, dann werde man zur Ab- 
wechſlung ſie umbringen. 

Sollte es wirklich fo um unfer Deutſchland 
zweiund vierzig Jahre nach dem großen 
Kriege ſtehen! War er nur Anachronismus? 
Wird der folgerichtige Hiſtoriker der Zukunft 
fagen, von dem Geſchlecht vierzig Jahre 
nach dem vergebens warnenden erſten Bu- 
ſammenbruch im großen Gründerkrach ſei 
nichts anderes zu erwarten geweſen? 9. 


* 


Seid wahrhaftig! 


err Rudolf Lothar ijt trotz der Mode- 
ſchauen und Fünf-Uhr Tees, von denen 
neulich hier die Rede war, zufammenge- 
brochen. Er wird zwar — und wenn nicht 
in Berlin, fo ſicher im mehr oder minder an- 
geſtammten Wien — nach einer Anſtandsfriſt 
uns wieder als „Kulturpſychologe“, als Plau- 
derer, als Verfaſſer dramatiſierter Feuilletons 
begegnen. Aber fein „Romödienhaus“ hat er 
verlaſſen müſſen; der Traum der Direktoren 
herrlichkeit (mit Zubehör) ijt einſtweilen aus- 
geträumt. And nun iſt es amüſant zu ſehen, 
wie aus den Reihen der kollegialen Schreiber 
zunft ihm überallher böſe, zum Teil ſogar 
bitterböfe Nachrufe nachflattern. Amüfant und 
— wenn man das Ding recht faßt — doch auch 
wieder beſchämend und betrüblid). Denn alle 
dieſe Leute hatten gewußt, daß Herrn Lothars 
Unternehmen keinen Beſtand haben konnte; 
daß es — ſagen wir einmal — zumindeſt 
dichteriſche Übertreibung war, was bie [hwül- 
ſtigen Reklamenotizchen verhießen, die mit dem 
heurigen Sommerregen um die Wette auf uns 
niedergingen. And haben ſie trotzdem viele 
Monate lang geduldig und ohne mit der Wim- 
per zu zucken nachgedruckt, fo dem Irrtum und 
der Täuſchung den Weg bereitend. 

„Seid wahrhaftig!“ hatte auf dem Jubel- 
feſtmahl des Vereins Berliner Preſſe dem 
Nachwuchs von ſo ganz anderem Schnitt der 
alte Karl Frenzel zugerufen. Wirklich: ſeid 
wahrhaftig! Ein öffentliches Amt ward in 
eure Hand gegeben. R. B. 


Auf ber Warte 


Rino-Woral 
as ift nun wirklich die Moral des 
» Kino-Dramas?“ fragt Rreisjdul- 


infpettor Dr. Rauh im „Tag“. Es iſt mit 
einem Worte Pariſer Moral: „Apachen und 
Ehebrecher ſind ſeine Helden, und zwar nicht 
realiſtiſch in der ruchloſen Frechheit ihrer 
Feindſchaft gegen die Geſellſchaftsordnung, 
fondern ſentimental mit einem Mäntelchen 
gutbürgerlicher Moral aufgeputzt. Bei den 
Verbrecherhelden iſt unter das Gruſeln und 
Beſtaunen über die Verwegenheit eine übel 
angebrachte Reminiſzenz an den verlorenen 
Sohn gemengt, bie den guten Philiſter an- 
genehm kitzelt. Bei den Ehebrechern — und 
die ſcheinen mir doch das beliebtere Thema 
zu bilden — unterfcheidet man zwei Arten der 
Behandlung: entweder wird der Ehebrecher 
durch ſeine kluge und nachſichtige Frau duͤpiert 
— das ijt die Komödie; oder er leidet eine 
Zeitlang mit der Miene eines Märtyrers und 
wird dann unter Tränen der Rührung wieder 
in Gnaden angenommen, oder gar er endet 
im donnernden Pathos als Selbſtmörder, 
worauf der hartherzige Gatte über ſeiner 
Leiche zuſammenbricht. In jedem Falle aber 
hat er durchaus, gerade wie der Apache, die 
Sympathien des Publikums auf ſeiner Seite. 
Und bier ſehe ich die Gefahr des Kinos. 
Dieſe Pariſer Typen ſind unſerem Volke, 
Gott fei Dant, in der Wirklichkeit fremd; den 
Verbrecher betrachtet es mit Argwohn und 
einer gefunden Doſis Pharifdertum, den Ehe- 
brecher — mag auch dies Laſter zunehmen — 
verdammt es, wo es ihn entdeckt. Aber wenn 
eine ausländiſche Firma ihm eine neue Moral 
verkündet, fo hört es mit der alten Unart des 
Oeutſchen begierig zu. Das Zuhören aber, 
gar zu hingebend und gar zu häufig, weckt 
die ſchlummernden znſtinkte, die menjd)- 
lichen, allzu menſchlichen, und wird ſo zu 
einem ſchleichenden Gift. 

Darum heißt — fo meine ich — für uns 
als Volksethiker bas erſte Gebot in der Rino- 
frage: Rampfgegen die ausländi- 
ſchen Films. Das muß ich ausſprechen 
auf die Gefahr, daß die ‚anderen‘ mich für 
gedungen von der Konkurrenzfirma von 
Pathé Frères erklären. Wir können nirgends 


519 


fo wenig Importen vertragen wie in dieſer 
volkspſychologiſchen Sache. Hier ijt es hödhite 
Zeit, für Schutzzoll und Schließung der Gren- 
zen zu agitieren ...“ 


Beſchämend 


» . . Die Hinrichtung wurde in der Weiſe 
vorgenommen, daß zunächſt der ältere Bruder 
auf den Richtblod geſchnallt wurde, worauf der 
Scharfrichter in Funktion trat. Dann wurde 
der Block mit warmem Waſſer vom Blute ge- 
fäubert und mit einem Tuch bedeckt, worauf 
der jüngere dem gleichen Schickſal verfiel.“ 

Das iſt nicht, wie mancher wohl meinen 
könnte, ein Stück aus einer mittelalterlichen 
Chronik, ſondern eine Notiz, die dieſer Tage 
durch die Preſſe ging und ausführlich die 
Doppelhinrichtung der Gebrüder Stadtkowitz 
in Bielefeld ſchildert. Es wird jedem zivili- 
ſierten Menſchen unbegreiflich ſein, wie die 
Behörde eine fo unglaublich brutale Szene 


anordnen konnte. L. 9. 
x 


Was ber Bogelmord bedeutet 


$ as kommt einem erſt recht zum Be⸗ 
wußtſein, wenn man fid vergegen- 
wärtigt, wie viele ſchädliche Inſekten eine ein- 
zige unſerer Vogelfamilien vertilgt. Durch den 
Terragraphen, eine Erfindung des Zagdichrift- 
ſtellers Ludwig von Merey (Hegendorf), iſt es 
möglich geworden, ſcheues Wild und Vögel 
in nächſter Nähe zu beobachten, das heißt durch 
photographiſche Aufnahmen und einen Re- 
giſtrierapparat feſtzulegen. Wie O. Günther 
in der „Umfchau“ erzählt, war es z. B. Hegen- 
dorf möglich, den Terragraph an ein Schwanz 
meiſenneſt, in dem fid) Junge befanden, anzu- 
ſchließen. Acht Tage lang verzeichnete der 
Apparat von morgens halb vier bis abends 
gegen ſieben, fünf Meter davon unter der 
Erde, die Arbeitsleiſtung der Vögel. Dieſe 
ergab das überraſchende Refultat, daß die 
Tierchen nicht weniger als etwa 2000 Raupen 
von dem gefürchteten „Eichenwickler“ ver- 
zehrten. Im Monat macht das eine Summe 
von 60000 Raupen, die eine einzige 
Vogelfamilie vertilgt. Die Beobachtungen an 
Schwalbenneſtern ergaben, daß die in neun 


520 


Gehöften wohnenden 32 Schwalbenfamilien 
annähernd 3 Millionen Inſekten im 


Monat vernichten. 
* 


Handgreiflich 


mpfgegner haben es dem Türmer öfter 
verargt, daß er ſich ihrem Sturmlauf 


gegen das Impfgeſetz nicht anzuſchließen 


vermochte. Jetzt lieft man im „März“: 
„Eine im April aus Rußland zugereiſte 
Dame ſchleppte die echten Pocken in Frank- 
furt a. M. ein, drei Mitglieder der Familie, 
bei der ſie zu Beſuch weilte, erkrankten daran, 
der Verlauf war leicht, fie waren ſämtlich in 
ihrer Kindheit geimpft und wieder geimpft. 
Zwei Hausgenoſſen, Tochter und Dienſt- 
mädchen, vor vier bzw. fünf Jahren erfolg- 
reich geimpft, blieben völlig verſchont, da- 
gegen erkrankt der niemals geimpfte be- 
handelnde Arzt, einer der leidenſchaftlichſten 
Führer der Impfgegner, ſchwer an echten 
Pocken, infiziert ſein vierjähriges Kind und 
ſeine ihn in Gemeinſchaft mit ſeiner Frau 
pflegende Couſine, verſchont bleiben die Ehe- 
frau, drei ältere Kinder und das Haus- 
mädchen, die frühere deutliche Impfnarben 
aufweifen. Im Anſchluß an dieſe Fälle er- 
kranken noch fünf weitere Perſonen an 
Pocken, die drei erſten in der direkten Nach- 
barſchaft. Dr. Spohr, der Träger der Er- 
krankung, hält es nicht für notwendig, die 
geſetzlich vorgeſchriebene Anzeige von dem 
Ausbruch der Epidemie zu erſtatten . , und 
erſt im Lauf einiger Zeit kommt die Ber- 
heimlichung an den Tag. Kommentar zu 
dieſem verantwortungsloſen Gebaren über- 
flüffigt Der Frankfurter „Arztliche Verein“ 
hat mit der Veröffentlichung des authenti- 
ſchen Herganges („Frankfurter Zeitung“ vom 
24. VIII. Nr. 234) den in der Zwiſchenzeit 
verſuchten Verdrehungen der Tatſachen ein 
Ende bereitet, er ſchließt fein Expoſs mit der 
Feſtſtellung: ‚Die Erfahrungen aus dieſer 
Pockenepidemie ſprechen eine beredte Sprache 
über den Wert des Impfſchutzes. Nicht 
erkrankt find die Tochter und das Haus- 


Auf der Warte 


mädchen bei der Familie, bei der fid) bie ruf- 
ſiſche Dame aufgehalten, beide waren drei 
reſp. vier Jahre vorher geimpft, nicht er- 
krankten die unter Impfſchutz ſtehenden 
Familienmitglieder des Dr. Spohr, nicht 
die Angehörigen der übrigen Erkrankten, die 
Arzte, das Pflegeperſonal, die Sektions- 
wärter, der Leichendiener, die Desinfetto- 
ren uſw., die ſämtlich geimpft waren, bzw. 
friſch geimpft wurden.“ 

* 


Wenn die Maske fällt 


Se: der Berliner Markthallenrevolution iſt 
das Publikum den Schlächtern gegen- 
über mißtrauiſch geworden. Mit vollem Recht! 
Denn nach der böswilligen Obſtruktion der 
Schlächter beim Verkauf des erſten ruſſiſchen 
Fleiſches kann man nicht gut mehr annehmen, 
daß die beweglichen Klagetöne, mit denen ſie 
den Chorus der unter der Fleiſchnot Leiden- 
den verſtärkt haben, ganz echt geweſen ſind. 
Es will vielmehr ſcheinen, als ob das Seufzen 
und Jammern über ſtändige Abnahme des 
Verdienſtes und drohenden Ruin auf eine 
gar nicht einfältige Taktik zurückzuführen iſt, 
durch die (id) das Publikum von der Anſchuld 
der Fleiſcher am Preisauftrieb überzeugen ließ. 

Sa, wenn die Maske fällt! Gar fo ſchlimm 
ſcheint es um die Not des Fleiſchergewerbes 
doch nicht zu ſtehen. Merkwuͤrdig genug war 
ſchon der Streik der Berliner Schlächtergeſellen 
in Varſchau, die dort das ruſſiſche Fleiſch für 
Berlin zurichten ſollten. Offenbar iſt der 
Streik von Berlin aus in Szene geſetzt wor- 
den, um zu verhindern, daß das ruſſiſche Ron- 
kurrenzfleiſch nach Berlin käme. Übrigens er- 
fuhr man bei dieſer Gelegenheit ſo nebenbei, 
daß die Schlächtergeſellen, die auf geheimes 
Kommando prompt die Arbeit niederlegten, 
in Warſchau pro Kopf einen wöchentlichen 
Arbeitslohn von 100 & ohne „Biergeld“ er- 
halten haben. Das iſt ein Arbeitsverdienſt, 
auf den mancher Kopfarbeiter neidiſch fein 
könnte. Wenn fo viel ſchon die Geſellen ver- 
dienen, wie muß es dann erſt in den Taſchen 
der Meiſter ausſehen! 


Verantwortlicher und Chefredakteur: Jeannot Emil Frhr. v. Grotthuß + Bildende Runſt und Muſik: Dr. Rart Store. 
Sämtliche Zuſchriften, Ginfenbungen nfiv. nur an die Redaktion des Tarmerd, Berlin-Schöneberg, Bogener Str. 8. 
Orud und Verlag: Greiner & Pfeiffer, Stuttgart. 


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Junges Madchen m 


Vor hundert Jahren 


Blatter aus dem Skizzenbuche von Faber du Faur 


Zwischen Dorogobusch und Mikalewka Faber du Faur 
7. November 1812 i 


In der Vorstadt von Smolensk Faber du Faur 
12. November 1812 


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Faber du Faur 


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23. November 1812 


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In der Gegend von Smorgony 
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XV. Jahrg. Januar 1913 | Heft 4 


Chriſtentum und Moderne 
Von Friedrich Lienhard 


( bel und ernft hat ein weitſchauender Europäer wie Houfton Stewart 
Chamberlain von Chriftus geſprochen. Man braucht nicht allen 
OR Gedankengängen des ungewöhnlichen Schriftitellers in den „Grund- 
SP lagen des XIX. Jahrhunderts“ ober in den „Worten Chrifti“ und 
anderen Werken zu folgen: doch immer ijt die Art, wie er von jener „unvergleich- 
lichſten Erſcheinung aller Zeiten“ ſpricht, bedeutend und würdig. „Die Geburt 
Chriſti,“ heißt es einmal (Grundlagen, V. Aufl., S. 42), „iſt das wichtigſte Datum 
der geſamten Geſchichte der Menſchheit.“ Und ſpäter (S. 190): „Laſſen wir uns 
bei der Betrachtung der Erſcheinung Chrifti durch keinerlei hiſtoriſche Vorſpiege⸗ 
lungen und eben fo wenig durch die vorübergehenden Anſichten unſres Jahr- 
hunderts das Urteil trüben! Ich glaube vielmehr, daß wir noch fern, ſehr fern 
von dem Moment ſind, wo die umbildende Macht der Erſcheinung Chriſti ſich in 
ihrem vollen Umfang auf die geſittete Menſchheit geltend machen wird.“ 

Ich entſinne mich, wie ich in jungen Jahren ſtarke Gemiltseindriide empfangen 
habe von den religids-nationalen Freiheitskämpfen der Niederländer oder von 
der kriegeriſchen Stoßkraft der Puritaner, dieſer „Eiſenſeiten“, die pſalmierend 
und geiſtliche Lieder ſingend fern vom Feind dahinritten, in der Nähe unheimlich 
ſchwiegen und dann plötzlich mit unerhörter Wucht und Taktik auf das Stuart- 
Heer einſtürmten (vgl. z. B. Bleibtreus Cromwell bei Marſtonmoor). 39 SE 

Der Türmer XV, 4 


522 Lienhard: Chriftentum und Moderne 


früh an die Orgel gewöhnt, lernte die Würde dieſes Inſtrumentes bei den Chorälen, 
Kantaten und Paſſionen eines Bach immer tiefer erfaſſen. So ſpürte ich dann 
auch den religidfen Unterton, der durch Goethe geht, den Sohn der deutſchen 
Reichsſtadt, als ausgleichende Kraft gegen flatternd- verliebte Rokoko - oder Sturm- 
und Drang-Stimmung, aus ber fid) der Dichter des Fauſt emporgerungen hat. 
Man leſe z. B. einmal „Goethes Selbſtzeugniſſe über ſeine Stellung zur Religion“, 
die Theodor Vogel im Verlag Teubner, Leipzig, zuſammengeſtellt hat — und 
beantworte jid) dann die Frage, ob der moderne Monismus oder Materialismus 
ein Recht habe, den Dichter für feine Parteirichtung in Anſpruch zu nehmen! 
In Novalis klingt harfenartig, früh verhauchend, beſonders in den „Fragmenten“ 
ſehr tief und in den Gedichten ſehr innig, jene „wunderbare Heimatmelodie“ 
(Lenau). Es iſt damals, in den Zuſammenklang der deutſchen klaſſiſchen Dichtung, 
durch Klopſtock ein eſoteriſch-chriſtlicher Ton in die weltliche Literatur eingefloffen; 
jenes Geſchlecht kam vom genialen Bach, von Paul Gerhardt und feinen Beit- 
genoſſen; und ſo führte ſich mit einem Erlöſungswerk, dem „Meſſias“ („Sing', 
unſterbliche Seele, der ſündigen Menſchen Grlojung!^, bie neue Dichtung ein 
(1748), um ſpäter in einem andern Erlöſungswerk, dem zweiten Teil des „Fauſt“ 
(1832), die Epoche des deutſchen Idealismus zu beenden. Die Väter und Vor- 
fahren jener Generation waren durch die Drangſale und Nachwehen des Dreißig- 
jährigen Krieges hindurchgegangen. Ohne ſolchen Hintergrund tödlich ernſter 
Glaubenskämpfe (Niederlande, England, Deutſchland, Frankreich) iſt moderne 
Religiofität gar nicht denkbar. Aus Blut und Sterben, nicht aus Wiſſenſchaft 
und Feuilletonismus wird ber große Ernſt geboren; ein Geſchlecht, das geübt ijt, 
dem Tod ins Auge zu ſchauen und das Sinter-bem-Sob ahnend zu verehren, bat 
den unterſcheidenden Blick für Vergängliches und für Ewiges. 

In neueſter Zeit haben Laienprediger wie Hilty, Förſter, Joh. Müller, 
Lhotzky, oder vielgeleſene Schriftſteller wie Frenſſen, oder die theoſophiſche Gruppe 
um Rudolf Steiner, das chriſtliche Problem wieder in den Vordergrund getragen. 
Gleichzeitig haben Kalthoff, Drews u. a. ihre Theſen ins Volk geworfen. Es tauchen 
ferner Vorſchläge einer „germaniſchen Religion“ auf; der verſtorbene Burggraf 
ſprach gern von einem „deutſchen Chriſtus“; in ſchöner Wärme malt man einen 
„Germanentempel“ und geſtaltet eine „Germanenbibel“ (Schwaner); Guido Liſt 
in Wien hat ſogar eine ganze ariſche Geheimreligion der „Armanen“ aufgedeckt. 
Und nicht wenig hat der „Antichriſt“ oder „Immoraliſt“ Nietzſche zur Belebung 
dieſer Fragen beigetragen. 

So ſammeln ſich Kämpfe um die Perſon des Chriſtus, um das religiöſe 
Problem. Soweit dieſe Kämpfe gegen kirchliche Tradition gerichtet ſind, oder ſich 
innerhalb der modern - kritiſchen Theologie bewegen, gehen fie uns hier nichts an. 
Das iſt Sache der Fachmänner. Sollen ſie aber den Edelgeiſt treffen, der nach 
unſrem Empfinden von Chriftus felber ausgegangen, fo ift es des gebildeten Laien 
Pflicht, das Seine zu ſagen. 

* 
x 

In einer geiſtvoll-agreſſiven Zeitſchrift des Münchners Georg Muſchner 

(„Der Kulturſpiegel“) fiel uns vor einiger Zeit ein Angriff auf das Chriſtentum 


Qlenbard: Gbriftentum und Moderne 523 


nicht angenehm auf. Verfaſſer ift Herbert Eulenberg, jener temperamentvolle 
Dramatiker und Literat, dem es nicht an Kühnheit, wohl aber an Klärung fehlt. 

Der Fall iſt typiſch; wir greifen ihn heraus. 

„Dieſer 1100 Jahre nach der Vernichtung unfrer germaniſchen Religion 
geſchriebene kleine Aufſatz wurde von allen heutigen deutſchen Zeitungen und 
Zeitſchriften, denen er eingeſandt wurde, unter großem Bedauern der Redakteure 
‚als zu frei“ abgewieſen. Wer ein Gehirn hat, zu denken, der denke!“ 

So leitet Eulenberg ſeinen Angriff ein. Schon dieſe herausfordernde Tonart 
ijt bezeichnend. Wenn Eulenberg etwa bei Wachlers „Jahreszeiten“ oder Horneffers 
„Tat“ oder bei den „Mittgart“ und „Hammer“ -Leuten oder bei ſozialdemokrati- 
ſchen Propagandablättern angefragt hätte, ſo wäre ſein Aufſatz ſchwerlich als zu 
frei empfunden worden. Denn es gibt feit Hädel, Oübring und Nietzſche in Deutfch- 
land Gruppen genug, die das Chriſtentum befehden. Und es gehört ſogar heute 
mehr Mut dazu, fid) für den hoheitvollen Ernſt einer Bergpredigt oder des Jo- 
hannes-Evangeliums einzuſetzen, als dagegen kritiſche Ausfälle zu machen. 

Es war ja wohl Zohannes Schlaf, der neulich einmal die feine Wendung 
erneuerte, die Bergpredigt ſei an eine „Elite“ gerichtet, nicht an die Maſſe. Dieſer 
Geſichtspunkt führt in den Kern der Frage. Wo ijt wohl — wie Culenberg be- 
hauptet — die germaniſche Religion als eſoteriſche Kraft wirklich vernichtet worden? 
Iſt denn etwa, von der Edda bis zu Wolfram, Walter und zu Herder, Schiller, 
Goethe, nicht überall in unſrem Dichten, Denken, Philoſophieren und Muſizieren 
die „deutſche Religion“ eine immanente Kraft, die fic) immer wieder felbft erneuert? 
Lebt fie nicht in der Elite unſres Geiſtes, in unfrer großen Muſik, in der Architektur 
unſrer Dramen? Zſt ſchöpferiſcher Geiſt an zerſchlagbare Formen gebunden? 

Sd) habe größeres Vertrauen zur religiöſen Kraft des deutſchen Geiſtes. 
Er hat immer gewaltet, auch damals, als er die Anregungen und Zuflüſſe des 
Chriſtentums verarbeitete und in ſeine Weſenheit aufnahm. Er hat Antike, Römer- 
tum und Renaiſſance aufgenommen und verarbeitet; er hat das Chriſtentum 
aufgenommen und geſtaltet. Und damit kommen wir auf ein Grundgeſetz: es 
ijt geradezu notwendig, daß bie verſchiedenartigen Subſtanzen Europas fih unter- 
einander miſchen und elektriſch oder magnetiſch aufeinander wirken, wenn das 
Leben in Schwingung bleiben ſoll. Das beweiſt die Geſchichte allenthalben; das 
kann jeder einzelne an feiner eigenen Lebensgeſchichte feſtſtellen. Dauernde Ffo- 
lierung wäre Tötung. Es handelt jid) aber freilich darum, die Zuflüffe auch wirklich 
in Eigenes umzugeſtalten, ſie aus Fremden oder gar Feinden in Freunde zu 
verwandeln und ſich ſo zu bereichern. Auf die Aufnahme- und Verarbeitungskraft 
kommt es an. Ein hierin Geſunder fürchtet ſich vor keiner „ſemitiſchen Peſt“. 

Ferner: das Chriſtentum des Chriſtus iſt weder natur- noch frauenfeindlich. 
Unter den erſten Züngern waren Frauen; im Idyll von Bethanien, am Kreuz, am 
Oſtermorgen waren mitfühlende Frauen in das Drama verflochten. In der Apoſtel- 
geſchichte desgleichen. Das berühmte dreizehnte Kapitel des erſten Korintherbriefes 
handelt allerdings nicht von der modernen freien Liebe, ſondern von einer heroiſchen, 
unfentinientalen und unlüſternen Liebe zur Menſchheit. So gingen die Chriften als 
eine Gruppe der Geſunden und Stolzen durch die Fäulnis der Mittelmeerkultur. 


524 Lienhard: Chriſtentum und Moderne 


An der Wiege des Chriſtentums ſteht Heroismus. Heinrich von Stein rief 
einmal mit Recht: „Vergeßt das Heroiſche nicht in Chriſtus!“ Sie waren die 
Unzeitgemäßen; fie batten ihre Augen ins Geiſtige eingeſtellt. Dieſe Schauweiſe 
war überſinnlich, aber nicht widerſinnlich; es war kein Ausſtreichen und Verneinen 
der Natur oder Außenwelt, ſondern ein Durchdringen und Verklären. 

Es brodelte zwar nicht ſchlecht in jenem Hexenkeſſel am Mittelmeer, als 
die Subſtanzen Chriſtentum, Griechentum und Römertum ineinanderziſchten. 
Aber das neue Europa ſollte ſich aus dieſen Miſchungen gebären. Und ſo halten 
wir uns über Zerrbilder und Leidenſchaftlichkeiten weiter nicht auf. Genau ſo 
gab es ein Ziſchen und Aufbrauſen, als dann die Mittelmeerkultur unter Rom 
mit dem germaniſchen Norden zuſammenkam. Solche Zuſammenſtöße koſten Blut. 
Das ijt weiter nichts Abſonderliches in der Welt- und Naturgeſchichte. Veſſen 
Entwicklung geſchieht ohne Wunden und ſchmerzliche oder freudige Lebensberüh- 
rung? So iſt es auch, wenn Raſſen, Völker, Meinungen zuſammenſtoßen und 
ſich befruchtend bekämpfen oder miſchen. 

Das Chriſtentum iſt nicht frauenfeindlich; es hat vielmehr die Frau befreit. 
Wenn der Apoſtel Paulus für ſeine Perſon der Ehe entſagte, ſo war das ein Opfer 
um einer größeren Sache willen, deren Durchſetzung damals einen ganzen Mann 
verlangte, eine ungeteilte Seelenkraft. Das wiederholt fidh oft in der Menſchheit. 
Die Gattung ſorgt ſchon von ſelber dafür, daß ſie nicht ausſterbe! Die Mönchsidee 
aber war der Verſuch einer Schulung einzelner, um beſtimmte Aufgaben mit 
ungeteilter Kraft durchzuführen. Mönche gibt es auch in andren Religionen; 
und Opfer gibt es in jedem geiſtigen Beruf. 

Was überhaupt hat das Chriſtentum mit dem Geſchlechtsunterſchied zu 
ſchaffen? Chriſtus wendet ſich ohne Anſehen der Perſon, des Standes oder des 
Geſchlechts an die unſterbliche Seele. Seine Offenbarung gilt durch alle 
äußere Natur hindurch der inneren Natur des einzelnen Menſchen. Es ſtehen 
in der Bergpredigt (Matth. 6) die bekannten Worte über das Nicht-Sorgen, ſondern 
Vertrauen: „Sehet die Vögel unter dem Himmel an — ſchauet die Lilien auf 
dem Felde!“ Wo hat in dieſem hellen und ſtarken Vertrauen auf den alles erhal- 
tenden himmliſchen Vater Naturfeindſchaft Platz? Chriſtus lebte und lehrte in 
freier Natur, am See, auf dem Berg, meiſt fern von Jerufalem und den Knifflich- 
keiten der Fachgelehrten. Er war Einfachheit, Geſundheit, ruhige Schönheit; 
denn er lebte am Urquell „wie die Kindlein“, die er liebte. „Chriſti Rede war 
ſchlicht bis zur Herbheit“, ſagt Chamberlain („Worte Chriſti“, Einleitung). „Wie 
am Horizont die Erde und der Himmel ſich berühren, ſo verſchmolz hier das ganz 
Natürliche mit dem Übernatürlichen. Eine beſondre Eigenſchaft dieſes Redens 
iſt ſeine volle Anſchaulichkeit; es geht im Bilde oder in der angedeuteten Handlung 
auf; kein Wort wird über das unerläßliche Maß hinzugefügt.“ So iſt in ſeinen 
Außerungen eine wunderbare Sicherheit. 

„Gegen bie aſiatiſche Weiberverachtung,“ heißt es aber in Eulenbergs Artikel, 
„wie fie das Chriſtentum, und dies ift feine verächtlichſte Seite (), lehrte, bat 
ber bekehrte Germane dann in dem WMadonnentult rückgewirkt, und das ift der 
einzige (2) Verſuch geweſen, das Chriſtentum zu germaniſieren, der in etwas ge- 


Lienhard: Chriſtentum und Moderne 525 


glückt ift (?). Die ganze Verehrung der Gottesmutter Maria ift eigentlich etwas 
Antichriſtliches —: ‚Weib, was habe ich mit bit zu ſchaffen“, ſagte Chriftus zu ihr 
auf der Hochzeit zu Kanaan, und die frauenfeindlichen Ausſprüche des Apoſtels 
Paulus und die noch ſchlimmeren vieler Kirchenväter ſind allgemein bekannt.“ 
Dahingegen „aus dem Naturgefühl und der Frauenverehrung des Germanen 
ging auch die ſchöne körperliche Schamloſigkeit () unſrer Altvorderen hervor, 
von der der aufs höchſte kultivierte Tacitus in ergriffener Bewunderung berichtet. 
Dieſe ſittliche Vorſtellung von der Schönheit des Nackten (, des freien hüllenloſen 
Körpers, diefe Freiheit im Geſchlechtsverkehr (2) ward den Germanen geraubt“. 

Ein höchſt bezeichnender Ausfall! Eulenberg, der Verfaſſer des „Ritter Blau- 
bart“ und anderer Gewagtheiten, zitiert den ehernen Tacitus. Ich habe die „Ger- 
mania“ des knappen, herben, Volen Römers wieder in die Hand genommen, um 
nachzuſchlagen, wo von „körperlicher Schamloſigkeit“ oder „Freiheit im Gejdledts- 
verkehr“ in oder zwiſchen den Zeilen des markanten Werkes die Rede ſein könnte. 

Was ſteht alſo bei Tacitus? 

„Keine lüſternen Schauſpiele, keine wollüſtigen Gelage verderben dort die 
reine Reufchheit. Keine heimlichen Briefe wandern zwiſchen Männern und Frauen, 
Dem Ehebruch, der trotz der Größe des Volkes verſchwindend ſelten vorkommt, 
folgt die Strafe ſofort und iſt dem Gatten überlaſſen. Er ſchneidet der Ehebrecherin 
das Haar ab und jagt ſie dann nackt () in Gegenwart aller Verwandten mit 
Peitſchenhieben aus dem Haus und durchs ganze Dorf. Ein Mädchen, das ſich 
hingab, kommt nie wieder zu Ehren. Selbſt Schönheit, Zugend und Reichtum 
finden ihr keinen Gatten.“ 

Das ſteht bei Tacitus. 

„Dort amüſiert nämlich das Laſter niemanden, und verführen oder feil fein 
ift dort noch nicht modern“, heißt es ferner in der Uberfegung ganz fein (Vesper). 
„Und trotzdem ſteht es um jenes Volk nicht ſchlecht, wo nur Jungfrauen in die 
Ehe kommen und als Gattinnen für immer all ihre Erwartungen und ihr Verlangen 
erfüllt ſehen. Nur einen Gatten habe jede Frau, wie fie nur einen Leib und 
ein Leben hat, und nebenher keine geheimen Wünſche, keine Leidenſchaft.“ 

Das ſteht in der „Germania“ des Tacitus. 

Sedes Wort iſt ein Peitſchenhieb nicht gegen das Chriſtentum, denn dieſes 
ſtellt genau dieſelbe Forderung, wohl aber gegen die Entartung, ob modern oder 
antik. Von der „Freiheit im Geſchlechtsverkehr“ oder von „körperlicher Scham- 
loſigkeit“ nirgends ein Wort. Denn daß man [id innerhalb des Hauſes auf einer 
geilen Stufe der Ziviliſation unbekleidet hielt, kommt auch heute bei Natur- 
völkern vor und kann alfo nicht gegen ſeeliſche Schamhaftigkeit einer hehren Re- 
ligion ausgeſpielt werden. 

Gleichwohl wird dem Chriſtentum die Lehre aufgebürdet, „daß der Ber- 
kehr mit dem anderen Geſchlecht und die Liebe eine Sünde ſei“. Man weiß nicht, 
was man zu ſolchen Behauptungen ſagen ſoll. Verſteht man unter „Verkehr“ 
etwa „Freiheit im Geſchlechtsverkehr“, je nach Trieb und Laune? Nun, ſo hat 
Tacitus die deutliche Antwort gegeben. Wann aber wohl hat irgend ein großer 
Sittenlehrer Zuchtloſigkeit („Freiheit“) in der heiligen Frage des Verhältniſſes 


526 Lienhard: Ebriftentum und Moderne 


der Geſchlechter eingeräumt? Heiligung und Veredelung aller diefer Lebensverhält⸗ 
niſſe iſt auch des Chriſtentums Sinn und Abſicht, nicht Vernichtung. Aber ſolche 
Kardinalfragen kann man ſich aus bekannten Werken, von „Luthardts Apologetiſchen 
Vorträgen“ bis zu den Büchern von Harnack, Schell, Eucken, Bouſſet und ähnlichen 
Schriften aufklären, wenn man guten Willen hat. Ganz abgeſehen von einem 
einfachen Studium des Neuen Teſtamentes. 

Eulenberg ſpricht vom „Mut“ als der ſchönſten Eigenſchaft der Deutfchen. 
Mit Hilfe dieſer Eigenſchaft (die aber doch an ſich ſchwerlich zur Kulturarbeit ge- 
nügt?) will er uns „vom Fluche des Chriſtentums freimachen, der uns ſeit etwa 
700 nach Chriftus im Fleiſch und in der Seele fibt, daß diefe Erde ein Jammer- 
tal (2) und unfer Dafein nur ein Vorbereitungskurſus (2) für den Himmel fei; 
es kann nicht oft genug geſagt werden, daß das Chriſtentum uns Deutſchen etwas 
Fremdes, Aufgezwungenes iſt, das unſer Volk um ſeine Freude, ſeine Freiheit 
und ſeine eigene Religion gebracht hat. Die chriſtliche Sittenlehre iſt nicht für 
unfer Klima () noch für unfer Temperament () geeignet“... 

Wo zerſtört unbefangenes Chriſtentum die Freude? Man leſe den Philipper- 
brief des gefangenen Kulturbringers Paulus — dieſen Freudengeſang eines 
Mannes, der Rom eroberte, weil er „mächtig war durch Chriftus“! Es kann nicht 
oft genug geſagt werden, daß die Chriſtuslehre mit der Seelenfreude zu 
tun hat, nicht mit der Naturfreude junger Füllen oder Mädchen — kurz, 
nicht mit ber animaliſchen Gattung. Germanentum ift Gattung, natür- 
liche Stufe, Schöpfung, Stufe des Siegfried; die Chriſtus-Offenbarung 
bezieht ſich auf die nächſthöhere Stufe: auf das Unſterbliche in uns — Stufe des 
Parſifal, der den Gral ſucht. Erſteres entwickelt wertvolle Eigenſchaften des 
Körpers und der geſellſchaftlichen Betätigung, als da find Mut, Treue, Wahr- 
haftigkeit, Sinn für Kameradſchaft, Familie, Volkstum. Es ſind Grundforderungen 
geſellſchaftlicher Ethik. Alle großen Religions- und Sittenlehrer betonten die 
Notwendigkeit dieſer Elementarſtufe der Ziviliſation; die Patriarchen in Paläſtina 
ſo gut wie die Urväter der Germanen. Das Chriſtentum aber beſchäftigt ſich mit 
dem Aufſtieg der einzelnen Seele, wofür Gattungs- oder Gruppentugenden 
allein nicht mehr ausreichen. Das erſtere nennt man in alttheologiſcher Sprache 
„Geſetz“, das zweite nennt man „Evangelium“. Sie verhalten ſich zueinander 
wie bie Gerta eines Gymnaſiums zur Prima. 

Hier betreten wir die Region der eſoteriſchen Tradition aller Zeiten, von 
den indiſchen Beden bis zu den Druiden oder der nordiſchen Urzeit. Giele Offen- 
barungen hatten untereinander Zuſammenhänge; diefe Geheimlehre der Menfch- 
heit verbreitete ſich auf ſtillen Wegen. So wanderten Erkenntniſſe dieſer Art von 
Agypten, dem Land der Myſterien, nach Hellas (Eleuſis). Hier hat nicht mehr 
die Gattung als ſolche Zulaß, ſondern innerhalb der Gattung die „Erwählten“, 
die „Eingeweihten“; denn hier werden nicht Gattungsinſtinkte, auch beſter Art, 
gezüchtet, ſondern das unſterbliche Sch in jedem einzelnen Menſchen, der zum 
Bewußtſein dieſes höheren Ich erwachen will. 

Im 18. Jahrhundert nannte man es „Humanität“, Edelmenſchlichkeit, das 
Reinmenſchliche, gegenüber dem unbewußt hinlebenden Tiermenſchlichen. Eine 


Ltenhard: Chriſtentum und Moderne 527 


Gruppe biefer Art waren und find die Freimaurer, bie Roſenkreuzer, bie Myſtiker 
des 14. Jahrhunderts („Gottes freunde“) und ähnliche eſoteriſche Verbände, die 
fich zeitweilig von der Maſſe zurückzogen, um einen fteileren Aufſtieg zu verſuchen, 
der nicht jedermanns Sache iſt und auch nicht jedermanns Sache zu ſein braucht. 
Solche Innenarbeit war wohl immer nötig neben der exoteriſchen Kirchlichkeit, 
von deren Maffe ſich jene ſtillen Einzelnen [often — nicht immer aus Ketzerei, 
ſondern zu geſonderter Geiſtes-Zuchtwahl und Entwicklung, deren Ergebniſſe 
dann wieder befruchtend zurückwirkten auf die Geſamtheit. 

Man ſieht, das Problem Chriſtentum ift vielſeitig. Mit einer ſummariſchen 
Ablehnung iſt nichts getan. Für alle, die poſitiv zu arbeiten gewillt ſind, erhebt 
fih die Forderung, aus dem Chaos dieſer Beſtrebungen das Aufbauende heraus- 
zugeſtalten. Denn „Reich Gottes“ iſt Aufbauungsarbeit. 

„Was es mit der „Freiheit“ für eine Bewandtnis habe, worunter Schiller 
unb Kant „Unabhängigkeit von der Macht der Neigungen“ verſtehen, der un- 
geſchulte Moderne jedoch Willkür in der Entfaltung der Triebe, ſo möge man das 
für ſich durchdenken. Doch vom vielfach mißverſtandenen „Reich Gottes“ ziemt 
es ſich noch, ein Wort zu ſprechen. Das Reich Gottes hat weder mit Jammertal 
noch mit einem bequemen Luxushimmel irgend etwas gemein. Die Unſterblichkeit 
unſeres höheren Ich ijt uns zwar ſelbſtverſtändlich; da aber der Geiſt weder an 
Raum noch an Zeit gebunden iſt, ſondern ſeinen beſonderen Geſetzen folgt, ſo hat 
es keinen Sinn, zwiſchen „Hier“ und „Dort“ ſtreng zu ſcheiden. Es kommt auf 
unſren ſeeliſchen Zuſtand an. Himmel ift Harmonie, Hölle ijt Diſſonanz 
und Chaos; Himmel ift Seelen-Frieden, Hölle ijt Seelen- Qual und Verzweiflung. 
In weſſen Dafein und Wejensart fid) die eine oder andre Grundſtimmung heraus- 
bildet und verfeſtigt: in dem ift [don hier und heute Himmel oder Hölle. Denn 
jeder Augenblick iſt ein Teil der Ewigkeit. 

»Es feien zwei Stimmen angeführt von zwei entgegengeſetzten Flügeln 
der breiten chriſtlichen Phalanx: der Viſionär Swedenborg und der Philoſoph 
Rudolf Eucken. „Das Leben der Liebtätigkeit,“ ſagt jener Myſtiker, „iſt ein Leben 
der Nutzwirkungen; ein ſolches Leben iſt das des ganzen Himmels; denn das 
Reich des Herrn, weil es das Reich der gegenſeitigen Liebe iſt, iſt ein Reich der 
Nutzwirkungen ... Diejenigen, welche wahrhaft in gegenſeitiger Liebe oder Lieb- 
tätigkeit (eben, find in ihrer Luft und Seligkeit, wenn fie dem Nächſten wohl- 
tun . . . und diefe Luft und Seligkeit ijt der Lohn, und dieſer macht im andern Leben 
die Freude und Seligkeit aus, welche im Himmel ift (Himmi. Geheimniſſe). 
Man ſieht, der Nachdruck ijt auf die in das Ganze wirkende € at zu legen. „Edel 
fei der Menſch, hilfreich und gut“, fagt der Dichter des unermüdlichen „Fauſt“, der- 
ſelbe Goethe, der ſich auch die ewige Seligkeit nicht ohne Tätigkeit vorſtellen konnte. 
Und er fügt hinzu, wenig mit dem entgötterten Monismus übereinſtimmend: 

„Heil den unbekannten 
Höheren Wefen; 

Die wir ahnen! 

Ihnen gleiche der Menſch! 
Sein Beiſpiel fehr’ uns 
gene glauben“. 


528 Lienhard: Chriftentum und Moderne 


„Wer den Willen Gottes tut,“ ſagt Chriſtus, der wird erleben, ob meine 
Worte von Gott find. Denn die Chriſtus-Weſenheit wird durch inneres Erlebnis 
gewonnen, nicht durch Beweis. So faßt auch Eucken (Lebensanſchauungen großer 
Denker) im Kapitel „Die Lebensanſchauung Jefu” den Begriff Himmelreich 
dahin zuſammen: „So ſehen wir in der Verkündigung des Himmelreiches eine 
urſprüngliche und wahrhaftige, in ihrer Einfachheit umwälzende Wirklichkeit 
aufſteigen. Alles iſt hier jugendlich und friſch; das Ganze durchflutet der gewaltigſte 
Drang, alle Weite der Welt für das neue Leben zu gewinnen“ uſw. Das ver- 
ſteht der gebildete Chriſt unter Himmelreich. 

Wer dieſes Abenteuer unternimmt, der betritt den Boden einer neuen 
Geographie; er trennt ſich in dieſer Hinſicht von der Gattung („Weib, was habe 
ich mit dir zu ſchaffen?“) und nimmt teil an der Gralsfahrt einer Ausleſe, einer 
Ritterſchaft. Es werden immer zwiſchen „Frau Welt“ und der ſtillen Sammlung 
eines „heiligen Hains“ Gegenſätze oder Austauſchwirkungen beſtehen. Schon 
Buddha verließ den Königshof und bekam unter dem Baum ſeine Erleuchtungen; 
Chriftus war oft in der Stille der Wüſte und des Gebirges (Tabor); Mofe auf dem 
Sinai oder der Patriarch Abram im Hain Mamre, abſeits von Sodoms Gejellig- 
keit, ſind typiſch. Alles Große und Tiefe bedarf einer Epoche der Stille, wie die 
Saat, die unter der Erde oder unter dem Schnee Kraft ſammelt. In der Wüſte 
reiften die Sfraeliten, ehe fie Kanaan betreten durften; in den Katakomben fam- 
melten ſich die erſten Chriſten. Es iſt der alte Myſterienweg durch Nacht zum 
Licht. Oben rauſchte indeſſen die römiſche Luxuskultur — ein ähnlicher Gegenſatz 
zu der ſtillen Seelenkraft des Chriſtentums, wie dort der Tanz ums goldene Kalb 
zur Stille des Berges Horeb. =e 

Gon Berg zu Berg rufen die Groben ber Menfchheit einander zu. So ſind 
manche Berge ſymboliſche Namen geworden in der Geiſtesgeſchichte: Sinai, Zion, 
Golgatha, Akropolis, die ſieben Hügel Roms, die Gralsburg, die Vartburg, der 
Kyffhäuſer! Und. wer wirklich, nach Nietzſches Wort, ein „guter Europäer“ iſt, 
der ahnt ein planmäßiges Wirken der Meiſter, die hinter ber europäiſchen Menfch- 
heitsgruppe ſtehen. Wie fih einft die Fluß-Kultur vom Indus, Nil, Euphrat, 
Jordan erweitert bat zur Mittelmeer- Kultur des Diadochen- und Römerreiches; 
wie dieſes wieder fidh. ausbebnte vom Binnenmeer zur ozeaniſchen Ziviliſation 
der Gegenwart: — ſo ſtrebt die europäiſche Geiſtesentwicklung eine Wedhfel- 
befruchtung verſchiedener Arbeitsgebiete an. Den Faktor des Chriſtentums dabei 
ausſcheiden zu wollen, wäre ebenſo töricht, als wollte man römiſche Kraft und 
griechiſche Kunſt aus Europa ſtreichen. 

Es ijt ein europäifches Ideal, Kreuz und Rofe, Golgatha und Akropolis 
in neuen Formen zu vereinigen. 


Eliſabeth Diakonoff 


Das Tagebuch einer ruſſiſchen Studentin 
(Fortſetzung) 


reitag, T. Juni. Ein grauer Brief mit der bekannten Hand- 

ſchrift liegt vor mir. 

Vig Er ijt von ihm. Er teilt mir mit, daß er für einige Tage ver- 
reiſen muß. „Ich hoffe, daß es Ihnen zurzeit nicht ſchlecht geht, und 

daß Sie mit Ihrer juriſtiſchen Arbeit ernſthaft angefangen haben. Die Arbeit iſt 

das ausgezeichnetſte Hilfsmittel gegen viele ſeeliſche Leiden.“ 

Sit das wahr? 

Ich griff nach dem ſchweren Bande der „Zeitgenöſſiſchen Geſchichte“ von 
Anatole France und ſuchte eine Stelle, die mir in Erinnerung geblieben war. 
Da las ich nun: „Die Arbeit iſt ein koſtbares Gut für den Menſchen. Sie lenkt 
ibn von feinem eigenen Leben ab und verdeckt ihm fo dieſen erſchrecklichen An- 
blick. In ethiſcher und äſthetiſcher Beziehung iſt das von beſter Wirkung. Eine 
ausgezeichnete Eigenſchaft der Arbeit iſt ferner, daß ſie unſerer Eitelkeit ſchmeichelt, 
uns über unſere Ohnmacht hinwegtäuſcht und uns die Hoffnung auf fruchtbares 
Wirken gibt. Wir bilden uns ein, mit ihrer Hilfe auf die Geſchicke einwirken zu 
können. Wir vergeſſen die unlösbaren Ketten, mit denen alle unſere Tätigkeit 
bem Weltgefüge eingeklammert ijt, und glauben mit unferer Arbeit etwas voll- 
bringen zu können, was uns allein gegen den Reft der Maſchine zum Vorteil ge- 
reicht. Die Arbeit gibt uns den Traum des eigenen Willens, der Kraft und der 
Unabhängigkeit. Sie vergöttert uns in unſern eigenen Augen. Sie macht aus 
uns für uns Helden, Genies, Dämonen, Halbgötter, ja Gott ſelber. Wirklich, 
man bot fid. Gott eigentlich immer als Arbeiter vorgeſtellt.“ — 

. $a, wem foll man glauben? Recht hat natürlich jener feine Skeptiker, deffen 
ewigironiſches Lächeln durch allen Schmerz, alles Leid, alle Teilnahme zum un- 
glücklichen Menſchen hindurchblickt. 

Ich nahm meine Bücher und öffnete das Programm. 

Der Gedanke, daß er (id draußen erholte, während ich in der ſtaubigen Stadt- 

wohnung ſaß, machte mich froh. Wenn doch dieſe Arbeit ihn mir erſetzen könnte! 


530 Elifabeth . Dtatonoff 


Sonntag, 9 Zuni. Wann wird er wiederkehren? „Ich verreife für 
einige Tage“ — alfo bald. 2 

Wenn er zurückkehrt, wird er ſchreiben .. Wahrſcheinlich am Freitag. 
Dann hat er im Krankenhaus zu tun. 

11. Zuni. Erſt Anfang der Woche. Wie lange noch muß ich warten! 

Als ich heute elektriſiert wurde, lernte ich eine intereſſante Schweſter kennen: 
Sie it Kommuniſtin geweſen und gehörte der Partei der Sozial- Revolutionäre 
an. Sie iſt eine energiſche, kluge Frau. Die andere Schweſter, Fräulein Angela, 
ijt febr ſympathiſch und einfach. Es ift hier beffer als in der Calpétriére. Es werden 
keine Trinkgelder erwartet, obgleich kein Anſchlag an den Türen iſt. 

Während ich mit Schweſter Angela ſprach, öffnete ſich die Tür, und ein 
älterer Herr trat ein, gefolgt von vielen Studenten. Der Blick ſeiner ſchönen, 
dunklen Augen wirkte durchbohrend — und ließ ihn auffallend erſcheinen. 

Er trat auf uns zu und fragte einen jeden, wer ihn hergeſchickt habe. 

„Wer iſt dieſer Mann mit dem eigentümlichen Blick?“ fragte ich Schweſter 
Angela, als er draußen war. 

„O, das iſt ein berühmter Spezialiſt für Hautkrankheiten, Dr. Drogue.“ 

„Er iſt ſehr ſympathiſch.“ 

„Leider klerikal“, flüſterte mir die Schweſter „Rommuniftin“ mit einem 
Seufzer ins Ohr. „Ich ſage es Ihnen abſichtlich ſo leiſe. Mit Schweſter Angela 
kann man darüber nicht ſprechen. Sie iſt Katholikin und glaubt an all dieſen 
Anſinn.“ 

Freitag, 14. Zuni. Als ich heute aus dem Krankenhaus zurückkehrte, 
legte Madame bie Morgenpoſt für bie Penſionäre aus. 8d fab mit gefpanntem 
Ausdruck hin, ob ein Brief mit der bewußten Handſchrift da war —. Nein, es 
war nichts für mich. 

Mittwoch, 19. Juni. Es war ſpät am Abend, id ſchob das umfang- 
reiche Buch über Konſtitutionsrecht beifeite und fab aus bem Fenſter . 

Wie ſchön wäre es, in die Maiennacht hinauszugehen! Was ſind es für 
törichte Vorurteile, daß Paris bei Nacht gefährlich ſei! Seitdem ich mich von dieſen 
Vorurteilen befreit hatte, ging ich überall allein hin. 

Plötzlich fiel mir ſeine Adreſſe ein: 5 rue Brézin... Gerade in dieſe Straße 
wollte ich gehen, an dem Hauſe vorbei, in dem er lebte. 

8d ſuchte die rue Brézin auf dem Plan. Sie ijt unſchwer zu finden —: 
rue Berthollet, darauf tiber die Lieblingspromenade der Ruſſen, den Boulevard 
Port Royal, und dann rechts längs der rue Denfert Rocherau, rue avenue 
d'Orléans — die dritte Straße: rue Brézin. | 

Es war Mitternacht. Wir haben keinen Portier; das ſonſt unvermeidliche 
„Cordon, s'il vous plait“ fällt weg. Zeder Penſionär bat einen Schlüſſel zur 
Eingangstür. 

Ich ging längs dem Boulevard Port Royal und atmete mit Genuß die friſche 
Nachtluft ein. Rings umher war keine Seele. 

Ich ging raſch. Da zeigte fih auch ſchon der Belfort - Löwe auf bem Platze 
Denfert-Rocherau. In der Dunkelheit der Nacht zeichnete er fid) beſonders ein- 


Eliſab eth Oiatonoff 531 


drucksvoll gegen den Abendhimmel ab. Zch hatte vergeffen, bie wievielte Quer- 
ſtraße der avenue d'Orléans die rue Brézin ijt. Wen follte ich fragen? Schutz⸗ 
leute gab es nicht. Ein kleines Reſtaurant an der Ecke war hell erleuchtet; zwei, 
drei Frauen umarmten ſich mit den letzten Beſuchern. 

ich trat an die Kaſſiererin heran, fragte — und erſchrak über den unver- 
hohlen neugierigen Blick, den ſie mir zuwarf. Es ſchien mir, als hätte ſie den Grund 
erkannt. Ich war verwirrt, errötete, und der Gedanke kam mir nicht, daß eine 
anſtändige Dame jid) um dieſe Nachtzeit in einem Neftaurant nicht zeigt. 

„Es iſt noch weiter — die zweite Straße rechts.“ 

Ich dankte und eilte davon. 

Es verhielt ſich auch ſo — die zweite Straße rechts war rue Brézin. Auf 
welcher Seite ſind die geraden, auf welcher die ungeraden Zahlen? Rechts — 
4, 6. Alſo links — da iſt 5, ein mittelgroßes, fünfſtöckiges Haus. Nur aus zwei, 
drei Fenſtern ſah man Licht. War eines davon bei ihm? 

Ich ging die Straße hinunter bis ans Ende. Hier war ein kleiner Platz 
mit Blumenanlagen und Bäumen. 

8 ſetzte mich auf eine Bank. Rube, tiefe Ruhe umfing mich. Rings umher 
ſchlief die mächtige Stadt mit all ihrem Leid, ihrer Luſt, ihren Erfolgen — und 
ihren Enttäuſchungen. Wenn die Menſchen ſchweigen, beginnt die Natur zu reden. 
Die Bäume wirkten in ihren Schutzgittern wie Gefangene. Am Tage übertönt 
das Läuten der Elektriſchen, der Straßenlärm, das Nauſchen der Blätter. Abends 
ſcheinen ſie die Erlebniſſe des Tages untereinander auszutauſchen. 

Dieſe nächtliche Stille ergriff mich. 

Während ich unbeweglich auf der Bank ſaß, hörte ich das Flüſtern der Blätter 
und die Stimme der Nacht — geheimnisvoll, ſchrecklich — und dachte: Wo iſt 
er jekt? 

Als ich die rue Brézin hinunterging, näherten ſich einige Leute dem Eingang 
feines Hauſes. Wenn er es wäre, was würde er denken, wenn er mich hier er- 
blickte? Ich habe die Adreſſe nicht von ihm erfahren, ſondern zufällig auf einer 
Karte geleſen. Mein Herz ſtockte. Doch nein... es waren zwei Damen und ein 
alter Herr. 

Dieſes Haus — alles, was mir am teuerſten auf der Welt ijt, chließt es ein. 

Und ich ging nach Hauſe, voll einer Stimmung, wie der Wallfahrer, der 
heilige Orte beſucht hat. 

Ich lachte bei dieſen Gedanken auf — wie lächerlich mußte id) erft anderen 
erſcheinen. 

Wenn jemand mir Sabre großen Erfolges verſprechen würde — ein Erreichen 
meiner tiefſten Ziele —, nein, gegen dieſe Stunde tauſchte ich ſie nicht ein. 

Freitag, 21. Juni. Es ift Freitag — ich habe noch immer keinen Brief! 
Wie foll ich erfahren, ob er zurück ift? Soll ich nad) Boucicaut gehen? Fn feine 
Wohnung? ... Undenkbar! 

Sonnabend, 22. Zuni. Sch jab mir heute abend den Leſeſaal ber 
ruſſiſchen Zeitungen an. Mir gegenüber ſaß ein Herr von zwanzig Jahren und 
las aufmerkſam die „Ruſſiſchen Nachrichten“. Wir verließen den Leſeſaal zur 


532 Elifabeth Dtatonoff 


jelben Zeit; als wir hinuntergingen, wurden wir bekannt. Er ijf Jude und ſtammt 
aus Odeſſa. Er hat eine techniſche Mittelſchule abſolviert und arbeitet in Paris 
als Praktikant in einer Eiſen-Fabrik. 

Der Abend war zu ſchön, um gleich nach Hauſe zu gehen. 

Er lebt nicht weit von den Feſtungen und ſchlug mir vor, bis Mont-furé 
zu gehen. Ich war damit einverſtanden. Auf der Rückkehr bat ich ihn darum, 
ſich zu erkundigen, ob Lencelet in Paris ſei. 

Und ich ſagte wie nebenbei: „Wenn ich mich nicht irre, ſind wir hier nicht 
weit von der rue Brézin. Dort, im Hauſe Nummer fünf lebt ein Herr Lencelet. 
Ein Kommilitone hat mich darum gebeten, zu erfragen, ob er ſchon zurück iſt. 
Sd habe es immer aufgeſchoben.“ 

„Geſtatten Sie, daß ich Ihnen behilflich bin!“ ſagte er eilig. „Ich kann den 
Schutzmann fragen, wo die Straße iſt, dort werde ich alles erfahren. Setzen Sie 
ſich hierher auf die Bank; ich komme gleich zurück.“ 

Und während er zum Schutzmann ging, ſuchte ich meine Aufregung zu 
bezwingen. Gleich wird er kommen — die rue Brézin iſt kaum drei Schritte von 
hier — und ich werde alles erfahren. 

„Es gelang mir nicht, den Portier herauszuklingeln, doch werde ich es mit 
Vergnügen morgen in Erfahrung bringen.“ 

Im Herzen dankte ich ihm innig, laut ſagte ich jedoch gleichgültig: „Gut. 
Gehen Sie morgen hin, wenn Sie Zeit haben.“ 

Sonntag, 25. Zuni. Schon am frühen Morgen fagte ich Madame: 
„Falls jemand nach mir fragen ſollte, ſo bitten Sie den Beſuch in mein Zimmer. 
Es iſt eine eilige Sache!“ 

Ich erwartete ihn mit Ungeduld; er wollte um die Mittagszeit kommen. 
Als mir gemeldet wurde, daß mich ein Herr zu ſprechen wünſche, ſtürzte ich, die 
lange Zeremonie des Eſſens nicht abwartend, in mein Zimmer. 

„Ich habe Sie geſtört, Sie waren noch nicht fertig?“ fragte er. 

„O, nein, nein — im Gegenteil, ich bin ſehr froh; ich kann dieſe langen 
Mahlzeiten nicht leiden.“ 

„Ich habe Ihren Auftrag ausgeführt. Der Portier ſagte mir: ‚Er verläßt Paris 
nie. Er kam auch geſtern abend aus ſeinem Krankenhauſe heim und iſt den ganzen 
Tag über frei“. Er forderte mich auf, zu ihm hinaufzugehen. Da ich ihm aber nichts 
mitzuteilen hatte, ſagte ich dem Portier, ich würde ein anderes Mal wiederkommen.“ 

„Ich danke Ihnen febr! Setzen Sie fidh, bitte, hierher, ich werde gleich 
Tee kochen.“ 

Er öffnete ſeinen Nod, ſetzte ſich bequem in einen Lehnſtuhl und zündete 
eine Zigarette an. 

Während er rauchte, Tee trank und ſprach, ſuchte ich ihm zu folgen. — Doch 
meine Gedanken waren weit, weit weg. Mein Herz wand ſich und ſtöhnte. 

Mittwoch, 26. Juni. Er hat nicht an mich gedacht! Warum ſollte 
ich an ihn denken? Oder habe ich ſchon alle Gewalt über mich verloren? 

Ich muß zum Examen arbeiten. Das Fahr über habe ich nichts getan —, 
jetzt fällt es mir ſehr ſchwer. 


End 


Eliſabeth Diatonoff 535 


André Morthon, der Kommilitone von Kornewskaja, kommt faſt täglich zu 
mir; er bringt mir Programme und Bücher. Es ſcheint ihm ſehr ſchmeichelhaft 
zu ſein, mit der einzigen Frau ſeines Kurſes gemeinſam arbeiten zu können. 

Freitag, 28. Zuni. Als ich heute auf die Straße ging, kam mir ein 
Zunge mit einem Pack bunter Blätter entgegengelaufen. Er ſchob mir eines in 
die Hand und lief ſchreiend weiter. 

Es war die Zlluftration des im „Petit Parisien“ erſcheinenden Romans: 
„La Griefie d'or“. Das große farbige Bild zeigte einen jungen Mann im Lehn- 
ſeſſel liegend, neben ihm ſtand eine Frau mit der Miene einer Verbrecherin, und 
ſchüttet ein Pulver in ein Glas. Es wird in Paris ſo viel gedruckt, ſchon wollte 
ich das Blatt wegwerfen, als ich plötzlich unten im Text das Wort „interne“ las. 

Was konnte wohl in einem Feuilletonroman über einen Internen ſtehen? 

Es iſt immerhin intereſſant, es zu erfahren. 

Und ich las den Text aufmerkſam. Der Anfang war recht feſſelnd geſchrieben. 
Eine Frau hat ihren Gatten, einen ehemaligen Internen, einen jüngeren Pariſer 
Arzt, ſo raffiniert vergiftet, daß niemand Verdacht geſchöpft hatte. Der Mann 
ſiecht langſam dem Tod entgegen, keiner ſeiner Kollegen vermag den Fall zu be- 
greifen. Hier riß das Feuilleton gewandt ab. 

3m werde den Roman leſen. 

1. Juli. Die Vorbereitung zum Examen ermüdet mich ſehr. Ich kann 
nichts Ernſtes leſen. geben Morgen kaufe ich mir den „Petit Parisien", und bevor 
ich an die Arbeit gehe, leſe ich ihn mit Intereſſe. 

Daß die Frau die Krankheit des Mannes verurſacht hat, erkennt einer der 
Mithandelnden und nimmt ihn in feinem Haufe auf. Dort treffen (id nach lang- 
jähriger Trennung zwei alte Freunde. Der eine fragt den anderen, warum er 
fih nicht verheiratet bat. Jener antwortet ihm mit dem Sonett von d' Arvère: 


Ma vie a son secret, mon âme a son mystère, 
Un amour éternel en un instant conçu. 

Le mal est sans espoir ... aussi j'ai dà le taire 
Et celle qui l'a fait, n'en a jamais rien su. 


Hélas! j'aurai passé prés d'elle inapergu 

Toujours à ses cótés et pourtant solitaire. 

Et j'aurai jusqu'au bout fait mon temps sur la terre 
N'osant rien demander et n'ayant rien recu. 


Pour elle, quoique Dieu Pait faite douce et tendre, 
Elle ira son chemin distraite et sans entendre 
Ce murmure d'amour, élevó sur ses pas. 


A l'austére devoir pieusement fidéle, 
Elle dira lisant ces vers, tout remplis d'elle: 
Quelle est dono cette femme? et ne comprendra pas. 


Die Zeitung fiel mir aus den Händen, als id) dieſe Verſe las. Das war ja 
mein Schickſal ... Nur das „elle“ hätte ein „lui“ fein müſſen. 


534 Eliſabeth Siatonoff 


„Das Übel ift hoffnungslos ... jo mußt ich's verſchweigen, 

lind der es verurſachte, hat es nie gewußt. 

Und ob Gott ihn gut und lieb geſchaffen, 

Wird er doch ſeinen Weg weitergehn, ohne der Liebe zu achten, 
Die unter ſeinen Tritten aufſeufzt.“ 


Sogar in der Zeitung, zufällig und doch fold eine Ahnlichkeit! Nun?! Ich 
kann nicht aufhören, ihn zu lieben — mag es geſchehen! 

„Mein Leben bat feine Heimlichkeit, meine Seele ein ſtilles Wiſſen. 
Ewige Liebe in einem Augenblick empfangen. 

Das Abel iſt ohne Hoffnung, ſo mußt' ich es verſchweigen 

Und der es mir zugefügt, hat es nie erfahren.“ 

Freitag, 5. Juli. Die Ausländer in unſerer Penſion fahren allmählich 
von dannen. Der Student der Univerſität Upfala ift weg, der Deutjche, der fran- 
zöſiſche Lehrer, der in einem geiſtlichen Seminar unterrichtete. Die wenigen 
Studentinnen der Sorbonner Univerſität, die ich im Laufe des Winters kennen 
gelernt habe, find bereits alle weggereiſt, fo bin ich allein in der Penſion zurück- 
geblieben. Der Deutſche beſucht mich häufig, ebenjo Berthier, der mir Programme 
und Bücher bringt. Ich arbeite unausgeſetzt. 

Montag, 8. Juli. Ich ging in die Univerſität, um Kornewskaja zu 
hören. Sie hat zwei Examina. Sie hatte die Toga, wie ſie für die Studentin 
vorgeſchrieben iſt, angelegt. Gott — wie wirkte ſie komiſch! Dieſes ſchöne antike 
Gewand paßt nur für flante Geftalten — aber ganz und gar nicht für eine kleine, 
unterſetzte Frau mit rundlichem, ſlaviſchem Geſicht. 

Niemals würde ich ſie anlegen, man erſcheint ja nur lächerlich und häßlich. 

Da Kornewskaja fid ausſchließlich mit Zivilrecht abgegeben und in anderen 
Fächern wenig gearbeitet hatte, ſo waren ihre Antworten nicht bedeutend. Mit 
welcher Teilnahme folgten ihr die Kommilitonen! Es lohnte ſich, zu ſehen, wie 
aufgeregt ſie waren, wie ſie auf dem Hofe hin und her liefen. Das Examen dauerte 
zwei und eine halbe Stunde. 

Der franzöſiſche Student iſt durchſchnittlich gerecht gegen ſeine weiblichen 
Kommilitonen. 

Mittwoch, 10. Zuli. „Das Übel ift hoffnungslos“ — nein —, dieſer 
Stimmung werde ich mich nicht überlaſſen. 

Sd muß wegreiſen! Sch werde den Eramenstermin nicht abwarten — 
es dauert zu lang. Vielleicht ermöglicht mir Berthier einen Tauſch mit einem 
anderen Examinanden. Sch will Tag und Nacht arbeiten, und dann nach England 
reiſen. In den Ferien werde ich Engliſch lernen, die Arbeit wird mir helfen, mich 
ſelbſt zu bekämpfen. 

Freitag, 12. Juli. Es ift unerträglich heiß! Ich hätte mir eine fo 
große Hitze kaum vorſtellen können —, es iſt, als ob ich im Kopf glühende Kohlen 
habe. Ich lege ein kaltes Tuch um die Stirne — entkleide mich und liege zwiſchen 
feuchten Laken — und kann doch nicht arbeiten. 

Durch die geöffneten Fenſter dringt Straßenlärm. Die nationalen Feſttage 
beginnen. 


Gilfabetb Diatonoff 555 


15. Zuli. Geſtern abend ſahen wie — Verthier, ber Deutſche unb ich — 
uns das Feuerwerk auf dem Pont-neuf unb die Tänze in den Straßen an. 

Die Franzoſen lieben und verſtehen es, Fefte zu feiern! Es ijt durchaus ein 
„Volks“ -Feſt. Die „Bürger“ haben um diefe Jahreszeit ihre Wohnungen in den 
Champs Elyſöées verlaſſen, bie Ariſtokratie ihr St. Germain. In der Reſidenz lebt 
ja nur der Arbeiter. Seine Vorfahren haben die Baſtille zerſtört; dieſen Tag 
feiert er. 

Je ſchmaler die Straße, defto belebter ijt fie. Überall hängen Girlanden 
aus Tannenzweigen, Ketten aus buntem Papier; Lampions leuchten in der Dunkel- 
heit wie glühende Augen und tanzen an unſichtbaren Drahtfäden. Uberall ſah 
man kleine Eſtraden für die Muſikanten, die mit roten Tüchern, Fahnen, Zweigen 
drapiert waren. | 

Bald ertönten auch die Klänge eines Walzers, dann einer Polka, und die 
Freude ſchäumte wie ein Springbrunnen auf. Die Jugend tanzte, das Alter 
ſaß Kaffee trinkend an kleinen Tiſchen. 

Die Atmoſphäre war erfüllt von Fröhlichkeit — ſie erfaßte auch mich. Auf 
allen Plätzen tanzte ich mit meinen Begleitern, ja, ich tanzte mit Hingebung. 
Der Oeutſche war wieder eiferſüchtig. Ach — dieſer Zunge! 

Wie gefährlich iſt es, die Erlaubnis zu geben, auf den Mond zu ſehen und 
Heine zu zitieren. 

Mittwoch, 17. Zuli. Madame Odobez klopfte an meine Tür und 
ſagte geheimnisvoll: „Fräulein, es frägt einer nach Ihnen drunten, ein Mann, 
ein Herr, er ſieht aus wie ein ruſſiſcher Nihiliſt.“ 

Da fih ihre ganze Bildung auf Lefen, Schreiben und Rechnen beſchränkt, 
lohnt es ſich kaum, ihr zu erklären, daß der Begriff Nihiliſt in Rußland ſchon längſt 
nicht mehr exiſtiert. 

8d lief die Treppe hinunter, um zu erfahren, wer da fei. 

Welche Überrafhung! Vor mir ftand ein Mitarbeiter unſerer Zeitung 
„Norden“, Swan Nikolaewitſch Korelsky. Der kleine, unſchöne, ſchüchterne Mann 
trägt meiſt eine Bluſe. Dieſes abſonderliche Außere hatte Madame Odobez wohl 
veranlaßt, ihn als Nihiliſten zu bezeichnen. 

Ich kenne ihn nur flüchtig, doch weiß ich, daß er ein vortrefflicher Menſch 
iſt. Ich ſtellte mich ihm gern zur Verfügung und mietete ihm ein Zimmer in 
unſerer Penſion. 

Vor ſeiner Abreiſe hatte er meine Brüder geſehen. Niemand aus der Familie 
hatte daran gedacht, mir einen Brief aus der Heimat zu ſchicken. Und doch war 
ich jo froh, einen Menſchen aus Jaroslaw zu ſehen. 

Es war, als hätte mich ein Wind von der Wolga geftreift, — und am Pariſer 
Horizont [ab ich die unendlichen Flächen der Heimat, ihre Felder, Wieſen, Wälder 

Er ſaß und erzählte mir, was ſie in der Heimat machten, und ich trank durſtig 
jedes Wort in mich hinein. 

Freitag, 19. Zuli. Sorel ift Korreſpondentin am „Norden“. Korelsky 
wollte fie beſuchen; fie ift jedoch ſchon aufs Land gereiſt. Es tat ihm febr leid, 
ſie nicht kennen lernen zu können. 


556 Eliſabeth Diatonoff 


Ich beſchrieb ihm mit Begeiſterung ihre Schönheit, ihr Talent, ihren Mann, 
ihr ungetrübtes Familienglück. 

Swan Nikolaewitſch hörte aufmerkſam zu und ſagte plötzlich: „Und doch ijt 
es ſchade, wenn ruſſiſche Frauen Ausländer heiraten. Wir brauchen ſie ſelbſt in 
unſerem Lande. Sehen Sie zu, daß Sie nicht hier heiraten.“ 

Gut, daß die geſchloſſenen Fenſterläden das Zimmer verdunkelten — und 
er mein Geſicht nicht ſehen konnte. Mein Herz blieb ſtehen, etwas EN Raltes 
kroch meinen Körper hinauf. Ich ſchloß die Augen. m 

Dann ging id ſchweigend zum Waſchtiſch, goß Waſſer in die Teekanne und 
ſtellte ſie auf die Spirituslampe. 

Und erft lange nachher konnte ich in ſorgloſem Tone jagen: „Ach, fold ein 
Unſinn — dieſe Gefahr liegt nicht vor. Ich liebe Rußland zu ſehr, um hier zu 
bleiben. Sehen Sie, wie ich mich freue, Sie zu ſehen — Ihnen etwas behilflich 
zu fein. Nein, nein, auch der ſchönſte Franzoſe ſoll mir kein Erſatz für Ihre Ge- 
ſellſchaft ſein.“ 

Ich ſprach raſch, außer Atem; irgend etwas drückte meine Kehle zuſammen. 
ch fürchtete, daß er mich unterbrechen würde, und ſuchte m dieſe forcierte Über- 
zeugung möglichſt wahr mitzuteilen. 

Er ſah mich aufmerkſam mit ſeinen ſchönen, melancholiſchen blauen Augen 
an, ſchüttelte den Kopf und ſagte: 

„Sie reden ja gut — aber ſehen Sie zu!“ 

ich ergriff feine Hand lebhaft und lachte auf. 

„Iwan Zwanowitſch, ſehen Sie mich doch an. Schon Ihr bloßes Hierſein 
hat mich ſo umgewandelt, daß ich mich beſſer fühle und viel ruhiger bin. Ja es 
lohnt ſich nicht, davon zu ſprechen. Wollen wir Tee trinken.“ 

Als er weggegangen war, warf ich mich aufs Bett und erſtickte unter Tränen. 
3m weinte nicht über meine unerwiderte Liebe, — ich weinte, weil ich einen Frem- 
den liebte, dem alles Unſerige, bis auf unſere Sprache, fremd war. 

Eine ſchreckliche, ungekannte Verzweiflung ergriff mich — ich wollte ſterben. 

Als ich mein ganzes Leben in Gedanken durchging, tauchte immer wieder 
eine Frage auf: Warum, warum habe ich nicht früher einen Menſchen getroffen, 
den ich lieben konnte? Wenn ich auch in der Studienzeit abgeſchloſſen und einſam 
lebte, — in Rußland bin ich viel herumgereiſt. 

Warum traf ich ihn nicht — in der Einſamkeit des ruſſiſchen Dorflebens, 
im Kaukaſus, in Finnland, auf meinen langen Reifen quer durch Rußland, in 
irgend einem Wagen der Eifenbahn... warum, ach, warum? 

Unb immer mehr leuchtete es mir ein: Ich darf ihn nicht lieben. Dieſe Liebe 
it Wahnfinn. Lieber fie aus der Seele herausreißen — lieber fie bis zur Ohn⸗ 
macht bekämpfen. 

Es gibt keinen anderen Ausweg! 

Und wenn er mich liebt?! Wird dieſer ſchöne, verwöhnte Pariſer in die 
armen ruſſiſchen Dörfer fahren, um dort Männer und Frauen zu heilen? Wird 
er den Glanz der Ziviliſation, dieſe „ville lumiére^, um unſerer ruſſiſchen Finſternis 
und Armut willen aufgeben? 


Elifabeth Olakonoff 


n 
LA 
a 


Nein, nein, nein... 

Aber die ſchonungsloſe innere Stimme fragt weiter: 

Wenn er nun zu dir fagte, dein Geliebter: „Ich liebe did, — bleibe ewig 
mit mir vereinigt!“ Antworte, antworte, wäreſt du einverſtanden? | 

Bei dieſem Gedanken allein fteigt eine Welle der Verzweiflung in mir auf. 

Nein, es iſt beſſer, daß er mich nicht liebt; dann leide ich allein. 

Sonntag, 21. Juli. Berthier kam eilig zu mir und teilte mir unter 
vielen Entſchuldigungen mit, daß es ihm jetzt erſt gelungen iſt, einen Kommilitonen 
zu finden, der ſich bereit erklärt hat, ſeine Nummer mit mir zu tauſchen. So will 
ich Freitag zum Examen gehen. — Was ſoll ich mit Lencelets Buch anfangen? 
Ich werde ihn fragen müſſen, wohin ich es ſchicken foll, 

Dienstag, 23. Juli. 8d habe eine Antwort erhalten. 

Verehrtes Fräulein! Der einzige Grund, der mich verhindert hat, Ihnen 
in der letzten Zeit zu antworten, war, daß ich keine freie Minute hatte. Ein Fa- 
milienangehöriger mußte ſich einer Operation unterziehen, und ich konnte keinen 
Augenblick für Ihren Beſuch freibekommen. Wenn Sie mir mein Buch zurück- 
geben wollen, bringen Sie es bitte einmal morgens 9 Uhr nod) Boucicaut. Mit 
den beſten Empfehlungen Ihr ergebener L. 

22. Juli 1901. 

Mittwoch, 24. Zuli. Wenn ich um neun Uhr in Boucicaut ſein ſoll, 
muß ich früh aufſtehen. Als ich aufſtand, verſuchte ich, nicht an ihn zu denken, 
als handelte es ſich um etwas rein Geſchäftliches. Der Spiegel zeigte mir mein 
erregtes Geſicht und meine biegſame, ſchlanke Geſtalt in weißem Kleide. Ich 
wollte etwas Dunkles, Altes, Häßliches anlegen, aber draußen iſt eine ſchreckliche 
Hitze, — ſie iſt nur in Weiß erträglich. 

Als ich in Boucicaut eintraf, war er noch nicht da. Ich hatte faſt eine Stunde 
zu warten. Ich las eifrig in dem mitgebrachten juriſtiſchen Lehrbuch, um keine 
Zeit zu verlieren. Und doch erblickte ich ihn ſofort, als er ſich dem Pavillon näherte. 
Er hatte dieſes Mal kein ſchwarzes Barett — ſeine ſpärlichen Haare fielen mir 
dabei auf. Ein fo junger Mann — und bereits kahlköpfig! Er hat die Jugend 
wohl heiter verbracht! 

Er erblickte mich im Korridor, blieb ſtehen und begrüßte mich. 

„Verzeihen Sie, ich habe mich verſpätet; — meine Zeit iſt ſehr knapp, ich 
bin ſehr beſchäftigt. Eine meiner Couſinen iſt erkrankt. Sie iſt operiert worden 
— und ſtirbt wohl.“ 

„Dier ijt Zhr Buch!“ ſagte ich und fab an ihm vorbei. „Ich bin Ihnen febr 
dankbar. Aber Sie hatten recht. Es war ganz nutzlos, es zu leſen; ich habe doch 
nichts verſtanden.“ 

Er nahm das Buch und ging dann einige Schritte mit mir. Ich ging ſchnell, 
hatte den Kopf geſenkt und ſuchte auf dieſe einſchmeichelnde, weiche Stimme 
nicht zu hören — dieſe Stimme, die mir bis ins Herz drang. 

„Adieu!“ ſagte ich. 

„Auf Wiederſehen! Verzeihen Sie! ich begleite Sie nicht zur Tür; ich muß 
zurück.“ 

Der Türmer XV, 4 36 


558 f Bröger: Der Rünftler 


Ich brauchte feine Begleitung nicht. Ich eilte aus dem Hoſpital. Kaum 
ſaß ich in der Elektriſchen, ſo öffnete ich das Konſtitutionsrecht. 

Das Examen nähert ſich. 

Sonnabend, 28. Juli. Ich habe das Examen beftanden. Fest will 
ich möglichſt bald wegreiſen. Ich habe ein Billett direkt bis London genommen, 
die Verbindung: Paris Rouen —Dieppe -Newhave. 

swan Nikolaewitſch bleibt noch eine Woche hier. Dann will er in der Schweiz 
Fußtouren unternehmen. Er forderte mich auf, mit ihm zu reiſen, mich zu erholen. 
Ich habe es abgeſchlagen. Die Natur iſt da zu herrlich und zu ſehr auf Träume 
angelegt. 

Nein, ich will dorthin reifen, wo alles neu für mich ift, die Sprache unbe- 
kannt, wo nichts, nichts mich an ihn erinnert. In einer gänzlich fremden Umgebung 
werde ich ihn vergeſſen — die Fülle neuer Eindrücke wird mich überwältigen. 
Sch habe mir ein ganzes Programm zuſammengeſtellt, was ich tun werde: — vor 
allem Engliſch lernen, mich mit der Frauenfrage beſchäftigen, die engliſchen Volts- 
univerſitäten beſuchen, mich mit ihrer Kindererziehung bekannt machen. 

Alles das nützt mir und kommt meiner künftigen Tätigkeit zugute. 

(Fortſetzung folgt) 


DD 


= u — 


Der Künſtler Bon Karl Bröger 


Den Sternen fo vom Anbeginn verfallen 
Und (don feit ewig her dem Licht geweiht, 
Sit all fein Tun und Sinnen nur ein Wallen 
Aus den Bezirken dieſer Endlichkeit. 


Die blauen Berge ſeiner Heimat ragen 

Hoch über jedes irdiſche Geſchrei; 

Er läßt die andern auf dem Markt ſich jagen 
Und geht nur ftill und königlich vorbei. 


Er geht vorbei, indes ein hoher Schimmer 
Der reinſten Klarheit ſeine Stirn bekränzt, 
Und mit verzückten Augen ſucht er immer 
Nach jenem Licht, das wolkenüͤber glänzt. 


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~- 33 — - 


Dezember 
Von Wathier Sparr⸗Hofſtedt 


N o ezember, Freund der Erinnerungen, gern würde ich dir etwas unend- 
Y YA H (id Schönes fagen. Ich möchte dir gern alles bas fagen, was du in 

Cp meinen Kindheitsträumen geweſen bijt. Aber bie Worte werden zu 
s verfrorenen Blumen, ohne Duft. 

Die Erinnerungen kreiſen um ein Paradies, das ich niemals wiederſehe. 
Das Leben hat ſeine Maske abgeworfen. Es iſt hervorgetreten mit hartem und 
unerbittlichem Angeſicht und hat die letzten Träume wie welke Blätter verſtreut. 
Um meine Stirne weht der Froſtwind der Wirklichkeit. 
| Es nähert fid der „Mittwinter“, und du kommſt, Dezember, umſponnen 
von Kinderſehnſucht und Kinderträumen. Biſt du wohl noch der ſelbe wie 
früher? Es iſt nur mein Auge, das getrübt, und mein Herz, das erfroren 
iſt. Aber ich will in die Einſamkeit gehen und verſuchen, mich deiner zu 
erinnern, wie ich dich einſtmals geſehen habe, als du über den ſchneeverhüllten 
Gefilden bei meines Vaters Hof heraufſtiegſt. Du warft eine Märchengeſtalt 
mit glitzernden Sternen auf deinem Gewande. Du trugſt einen ſeltſamen 
Glorienſchein um deine Stirn und verbreiteteſt endloſe Feſtzeit um dich. Die 
Luft wurde klarer, der Himmel höher. Der Wald duftete winterfriſch. Und jedes 
Glöcklein, das auf deinem Wege klingelte, läutete zum Feiertag. Das Herz ſchlug 
unruhig vor Freude und Erwartung. Die Welt war groß und ſchön, das Leben 
ein Feſt. ) 

Das war damals. Lange Jahre find vorübergezogen, und viele Winter 
haben ihren Schnee über die Gefilde imeiner Kindheit geſtreut. Ich bin mit 
allen den anderen Kindern fortgetrieben worden auf des Lebens Strom. Mein 
Schickſal wirbelt dahin unter Tauſenden. Eine neue Sehnſucht iſt in mir auf- 
geſtiegen: das Brauſen des weiten Meeres zu vernehmen, wohin die Fahrt 
gleitet — — — 

Da biſt du nun, Dezember. 8d) fehe nicht den Glanz um deine Stirn und 
die Silberſterne auf deinem Kleid. 


540 Findeiſen: Die tote Mutter 


Aber zuweilen, wenn die Glut auf dem Herde glimmt und alles um mid 
her ſchweigt, darf id) vielleicht noch einmal über bie Felder meiner Jugend wandern 
und dich fo (eben, wie du in entſchlafenen Zeiten zu mir kamſt. Noch einmal will 
ich die Lichter in der duftenden Tanne anzünden und fie in die Ferne leuchten laffen. 


Noch einmal! Bald kommt die große Dunkelheit. 
Aus dem Schwediſchen von D. Sobemann 


mem D H Y I SS A 8: ras 
CADETS 


Die tote Mutter Bon Kurt Arnold Findeiſen 


Um Mitternacht entwirrte fid) 
Zu dieſem Bild ein kalter Traum: 


$m ſtand in einem öden Raum 
And ſchrie nach dir und ſehnte mich. 


Da kam durch Wolken und Nebelmeer 
Verſtört meine tote Mutter daher. 


Ein Roſenkränzel auf ihrer Stirn 
Wifperte leiſe im Windeswirrn. — 


Sie bog mir den heißen Kopf zurück 
Und las in meinem weltſeligen Blick. — 


Die zitternden Rofen auf ihrer Stirn 
Blaßten und bleichten im Windeswirrn. — 


Sie las ein ſinnentoll Crdenglid, 
Und füfte mich nicht und ſenkte den Blick. — 


Die raſchelnden Rofen auf ihrer Stirn 


Zerflatterten müde im Windeswirrn. 


** 
. * 


Ein Rofentränzel marienrein 
Tragt jedes tote Mütterlein, 


Doch welken die Rofen auf ihrem Haupt, 
Wenn das Kind nicht mehr an die Mutter glaubt. 


Hiſtoriker und Politiker 
Von Dr. R. Boſchan 


effing verſpottete nicht ohne Grund die Stoffanhäufungen der Hifto- 

riter feiner Zeit als unnütze „Schätze des Gedächtniſſes“ und wies 
7 dem Dichter bie Aufgabe zu, daraus erſt „Nahrung des Geiftes“ 
OX» zu ſchaffen, indem er alles Geſchehene als eine Kette von Urfachen unb 
Wirkungen darſtelle. Heut überlaſſen wir dies nicht mehr dichteriſcher Divinations- 
gabe, ſondern ſehen darin gerade bie eigentliche Arbeit des Hiſtorikers. Erſt feit 
fi bie Geſchichtsforſchung auf das Prinzip der „Entwicklung“ ſtellte, bat fie ſich 
zum Rang einer Wiſſenſchaft emporgehoben. 

Indem nun die Forſcher eine Entwicklungsſchicht um die andere bis auf die 
Gegenwart aufeinanderbauten, haben ſie ſich oft verleiten laſſen, die Linien in 
die dunkle Zukunft hinein weiterzuführen. Aber alle dieſe Verſuche des „Voir 
pour prévoir“ find geſcheitert; des Lebens Fülle ijt zu groß, jid) in dogmatiſchen 
Regelzwang preſſen zu laſſen. 

Doch mag auch die Begeiſterung das Beſte ſein, das wir von der Geſchichte 
haben, das einzige iſt er nicht. 

Goethes Wort klingt wie die Refignation, aus der Geſchichte überhaupt 
etwas für das tätige Leben lernen zu können. Gewiß, ſklaviſche Kopien duldet 
der raſtloſe Fortſchritt nicht. Zum Geſpött wurde jener öſterreichiſche Truppen- 
führer, der die Schlachten Friedrichs des Großen in ähnlicher Lage Zug um Zug 
nachahmen wollte, ohne die veränderte Kriegskunſt und das veränderte Truppen- 
material zu bedenken. Auch Napoleon ſtudierte die Pläne unfres Königs und 
wußte zu ſiegen. 

Keine Epoche hat wohl ein ſo lebendiges hiſtoriſches Intereſſe und ein ſo 
gutes Gedächtnis gehabt wie unfre ſogenannte „raſchlebige“ Zeit. Man fei recht 
vorſichtig mit dieſer Bezeichnung. Ein Blick in Urkunden des Mittelalters lehrt 
uns, wie ſchnell man damals vergaß und wie eben Entſtandenes als von alters 
überkommen (antiquitus) galt. Unſichtbar ſichtbar umſchweben uns noch heute 
bie Geiſter der Weimarer Großen: unſre Vergangenheit bat dieſer Treue der Cee 
innerung ein Ähnliches nicht an die Seite zu ftellen. 

Der Schule und der Preſſe verdankt unſer Land ein allgemein verbreitetes 
hiſtoriſches Wiſſen, Kenntnis wenigſtens der großen Züge der Entwicklung. Durch 
ſeltſame Experimente ſuchte man freilich zu beweiſen, daß die große Maſſe des 


542 Köpp: Wille 


Volks nicht einmal von Bismarck, Moltke und anderen Großen ber jüngſten Ver- 
gangenheit etwas wiſſe. Aber es hat ſich gezeigt, daß die Examinatoren nur nicht 
genug Pſychologen waren, um die Frageſtellung der Art der Prüflinge anpaſſen 
zu können. Die Politik rechnet mit dem hiſtoriſchen Sinn des Volks. 

Sft die Beſtimmung der Kunſt, nach einem Wort Leſſings, uns die Fixierung 
unſrer Aufmerkſamkeit zu erleichtern, ſo zeigen ſich die politiſchen Agitatoren 
hierin oft als erleſene Virtuoſen. Die Kunſt beruht in der „Vereinfachung im Sinn 
der mächtigeren Wirkung des Entſcheidenden“ (Zak. Burckhardt), aber was ift das 
Entſcheidende? Unter allgemeiner Beibehaltung der Umriſſe kann ein unlaute- 
rer Agitator durch veränderte Gruppierung und Motivierung helles Licht oder 
tiefe Schatten auf ein Bild werfen und die Stimmung der verblüfften Menge nach 
ſeinem Belieben lenken. Keine Partei hält ſich ſtets davon fern. 

Kein Zweifel, daß man ſo Wunder wirken kann. Jeder Chauvinismus beruht 
letzten Endes auf einem verſchobenen Bild. Wir konnten in Norwegen ſehen, wie 
die Gemüter durch eine verkehrte Schilderung der Vergangenheit angefeuert wur- 
den, wie es nun als das eigentliche Kulturvolk des Nordens von jeher erſchien, das 
nur durch die Brutalität des Nachbarn und der deutſchen Seeſtädte niedergehalten 
wurde. Oft beruht ſolche ſchiefe Darſtellung auf Unkenntnis, oft auch auf ſouveräner 
Beherrſchung des Stoffs, die die einzelnen Momente paſſend heraushebt. 

Alle die Männer, die wir als die Großen unſrer Geſchichtswiſſenſchaft ver- 
ehren, waren zugleich Politiker, d. h. denkende Betrachter der Gegenwart. So 
wird der Forſcher ſtets mit dem Mann der Tat gehen. Der Politiker hat ein 
heiliges hHiftorifdhes Recht, der ſiegesfreudig einem ſchaffenskräftigen Volks- 
teil das Banner vorträgt. Denn ein andres ift geſchichtlicher Sinn und ein an- 
dres Konſervatismus. Auf lange Ahnenreihen gibt das Schickſal nichts. Jedes 
Volk und jeder einzelne hat ein Recht zu leben nur, ſolange er ſich regt. Die 
ſtetige Entwicklung, die Evolution im Gegenſatz zu Stagnation und Revolution, 
iſt der Sinn der Geſchichte. Nur das Große iſt wahr, und das künſtlich geſchürte 
Flackerfeuer ſtürzt bald in ſich zuſammen, wenn nicht die Kraft die beanſpruchte 


Geltung rechtfertigt. 
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Wille Von Fritz Kipp 


Länger mag ich nicht im Tale leben, 

Wo die Giebel fid) einander ftügen 

Und der Menſchen ganzes Sinnen, Streben 
Sich bewegen zwiſchen Qualm und Pfützen. 


| Wo die Stürme fid) einander jagen 

| Und die Wolken und die Nebel treiben, 
Will ich mir mein Haus in Felſen ſchlagen 
Und dann — bleiben! 


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Peter Kleinholz 
Erzählung von Heinrich Diefenbach 


n einem der engſten Gäßchen einer naſſauiſchen Kleinſtadt ſtand ein 

altertümliches Haus. Seine Front maß nicht mehr als ſieben Schuh 
in der Länge, und über dem verhältnismäßig niedrigen Erdgeſchoß 

— erhob fid) ein zweites Stockwerk, das über das erfte hinausragte, 
als wolle es auch einen Blick werfen in das Gäßchen und ſehen, was darin vor- 
ging, obwohl es dort wenig genug zu [eben gab. Selten nur bewegte fid) ein Fubr- 
werk über das ungleiche Wackenſteinpflaſter, dann aber mit ſo erſchrecklichem 
Holterdiepolter, daß die Fenſterſcheiben des alten Hauſes in ängſtliches Klirren 
ausbrachen und die verroftete Wetterfahne auf dem Dace, bie fid) längſt nicht 
mehr nach dem Winde drehte, ſich verwundert nach allen Seiten neigte. 

Es war ein ruhiges Gäßchen, in dem das alte Haus ſtand, und es führte den 
Namen Hühnergaſſe. Seine Bewohner waren kleine Handwerker mit ſtillen Be- 
trieben, ſowie Weinbauern, die nicht mit Roß und Wagen auszogen, ſondern nur 
dann und wann einmal mit kleinen Leiterwägelchen und einer Kuh als Vorſpann, 
wenn ſie ein paar Gebund Klee oder einen Sack Kartoffeln auf bequeme Weiſe 
von ihren Ackerchen holen wollten. Nur im Herbſt, wenn fie ihre Trauben ein- 
heimſten, raſſelten die kleinen Fuhrwerke einige Tage lang öfter über das Pflaſter, 
und ſie waren dann mit Reben geſchmückt gleich zierlichen Feſtwagen, auch dann, 
wenn der Ausfall des Herbſtes zur Feſtesfreude wenig oder gar keinen Anlaß bot. 
Doch in dieſem Fall gingen die Winzer mit geſenkten Köpfen und Peitſchen und 
ſäuerlichen Geſichtern neben ihren Wägelchen her; war es aber ein guter Herbſt, 
dann befanden ſie ſich in der beſten Stimmung. Sie blickten fröhlich nach allen 
Seiten und knallten zuweilen mit den Peitſchen über die Köpfe ihrer Kühe wie 
mutwillige junge Fuhrmänner, obgleich ſie ältliche Leute waren, die die Torheit 
der Jugend längſt abgelegt hatten und großes Geräuſch nicht leiden mochten. 

Zu andern Zeiten war Lärm in der Hühnergaffe äußerſt felten. Das ins 
Leben wachſende Geſchlecht war im Laufe der Zeit aus dieſem ſtillen Winkel, 
in dem der Geiſt vergangener Zeit mit grämlichem Geſicht umging, in die breiten 
Straßen der „Neuſtadt“ verzogen; die Zurückgebliebenen waren zumeiſt würdige 
Großväter und Großmütter, die hier ihr Leben beſchließen wollten. 


544 | Dlefendah: Peter Rlelnholz 


So ruhig die kleine Gaſſe gewöhnlich war, und ſo wenig Lärm aus den drei 
Dutzend Häuſern in die Öffentlichkeit drang — am ſtillſten war doch das altertüm- 
liche Haus mit dem neugierigen Oberſtock und der roſtigen Wetterfahne. Die 
Fenſterläden des Oberſtockes waren jahrein, jahraus bis auf einen geſchloſſen, und 
hinter den blanken Scheiben des Erdgeſchoſſes zeigte ſich regelmäßig zweimal 
täglich, um die Mittags- und Abendzeit, das Geſicht einer älteren Frau mit weißer 
Spitzenhaube und ernſten Augen. Die Frau nahm dann in einem der Lehnſtühle 
Platz, die in den Fenſterniſchen ſtanden, und blickte durch das gegenüberliegende 
kurze Pachthofgäßchen nach dem Rathaus auf dem Marktplatz. Sobald aber auf 
der oberſten Stufe der Rathaustreppe ein hochgewachſener junger Mann erſchien, 
erhob fie fih, öffnete die Stubentür und rief in die bámmrige Küche: „Mein Sohn 
kommt!“ worauf draußen bie Teller und Schüſſeln leiſe klirrten und eine alte Dienſt⸗ 
magd, die kaum die Wegſteuer hatte, das Eſſen auf den bereits mit einer weißen 
Decke behangenen Eichenholztiſch der Wohnſtube brachte. 

Mittlerweile traf auch der junge Mann ein; nachdem er die Mutter zärtlich 
auf die Stirne geküßt und ſich nach ihrem Befinden erkundigt hatte, ließen ſich die 
drei Hausgenoſſen an dem Tiſche nieder, und eine gutgenährte Katze rieb ihr ge- 
ſprenkeltes Fell bald an den Roden der Frauen, bald an den Beinen des jungen 
Mannes. Das Schnurren der Katze war faft das einzige Geräuſch bei dieſen Mahl- 
zeiten; jedes hütete ſich, mit Löffel, Gabel oder Meſſer in klingende Berührung 
mit dem Porzellan zu kommen, und der große Schöpflöffel wurde ſo behutſam 
in die mit einem blauen Kornblumenmuſter verzierte Schüſſel getaucht, als ſei 
es bei ſchwerſter Strafe verboten, an ihren Rand anzuſtoßen. Rutſchte aber beim 
Zerkleinern eines Stückchens Fleiſch oder einer Wurſtſchnitte dem Sohn oder der 
Magd das Meſſer doch einmal aus und fuhr kreiſchend über den Teller, dann ver- 
zog die alte Frau das Geſicht derart ſchmerzlich, als fühle ſie die Schneide des 
Metalls in ihrem Fleiſch. 

„Ach!“ rief ſie klagend, „wie oft habe ich euch nicht ſchon geſagt, daß ihr 
ein bißchen Obacht geben ſollt. Ihr wißt doch, wie entſetzlich ihr mich mit der- 
gleichen quält!“ 

Auch ſonſt vertrug die verwitwete Frau Bürgermeiſter Kleinholz keinen 
Lärm in ihrem Haufe, in dem die peinlichſte Ordnung und Sauberkeit herrſchte, 
die ſich bis auf den Hof und den Garten erſtreckte, der ſich hinter dem Haus bis zum 
Main hinunterzog und mit zahlreichen Obſtbäumen beſtanden war. Zweimal in 
der Woche mußte die Magd das Meſſingſchildchen putzen, das neben dem Tor 
an der Ecke des Hauſes befeſtigt war, und auf dem immer noch ſtand: „Peter 
Kleinholz, Bürgermeiſter“, obwohl der Bürgermeiſter bereits im ſiebenten Jahr 
auf dem Kirchhof unter einem Sandſtein-Obelisk ruhte, auf dem außer ſeinem 
Namen ein ſinniger Bibelſpruch ſtand nebſt einem Engel, der einen Palmenzweig 
in der Hand hielt und hoffnungsvoll gen Himmel ſah. 

Die Witwe hoffte nämlich, ihr Sohn, der den Namen ſeines Vaters führte, 
werde über kurz oder lang auch deſſen Amt antreten, ſobald der Nachfolger ihres 
Seligen, der nicht in der beſten Haut ſtak, ſich in das Privatleben zurückziehen werde. 
Einſtweilen aber verſah Peter Kleinholz jun. die Stelle eines Ratsſchreibers, wo- 


Diefenbach: Peter Kleinholz 545 


bei er ſich freilich die gründlichſte Kenntnis der Bürgermeiſtergeſchäfte unter der 
Hand aneignen konnte. 

Peter Kleinholz war gewiſſermaßen zum Bürgermeiſter erzogen worden. 
Schon damals, als er noch in der Wiege lag, wurde es ausgemacht, daß er das 
Amt ſeines Vaters antreten müſſe, das ſich durch drei Generationen immer von 
dem Vater auf den Sohn vererbt hatte. Um das Ziel ſicherer zu erreichen, geſchah 
alles, was geeignet war, aus dem Zungen einen geſetzten, ordentlichen Mann zu 
machen, der nicht wie andere junge Leute hier und da über die Stränge ſchlug, 
ſondern mit Würde und Beharrlichkeit ſeine Zeit erwartete. Peter Kleinholz jun., 
der vierte Sproß der Bürgermeiſter-Dynaſtie Kleinholz, galt denn auch im Stddt- 
chen als das Muſter eines jungen Mannes und pflichtgetreuen, ſtrebſamen Be- 
amten. Er wäre ohne weiteres zum Nachfolger ſeines Vaters gemacht worden, 
wenn et, als Peter Kleinholz sen. in ein beſſeres Fenfeits abgerufen wurde, münbig 
geweſen wäre. Statt deſſen wurde der damalige erſte Beigeordnete, ein kränklicher 
Herr, zum Bürgermeiſter gewählt, der in den Augen der Witwe gewiſſermaßen 
die Rolle eines Prinzregenten ſpielte. Herr Roßbach hatte das Vertrauen, das man 
in ihn ſetzte, nicht getäuſcht, nur der Witwe Kleinholz machte er es nicht ganz nach 
Wunſch. Er dankte auch beim Mündigwerden ihres Sohnes nicht ab und ſchien 
trotz ſeines ungeſunden Zuſtandes auch jetzt noch nicht die Abſicht zu haben, ſein 
Amt in die Hände des rechtmäßigen Erben des Bürgermeiſterſeſſels zu legen. 

Peter Kleinholz war ein hübſcher junger Menſch, der ſich in den Händen 
feiner Mutter wie Wachs hatte formen laſſen und auf der Bahn, auf die er ge- 
ſtellt worden war, fortging, ohne nach rechts oder links zu blicken. Mit Vergnügen 
und Stolz betrachtete er oft das Meſſingſchildchen an der Hausecke, deſſen kurze 
Aufſchrift die Beſtimmung ſeines Lebens klar und unzweifelhaft ausdrückte: „Peter 
Kleinholz, Bürgermeiſter“. Dabei war er weit davon entfernt, die Amtsniederlegung 
des derzeitigen Bürgermeiſters herbeizuſehnen; in dieſem Punkte und auch noch 
in manch anderer Sinfidt war zwiſchen ihm und feiner Mutter ein außerordent- 
licher Anterſchied. Von jeher daran gewöhnt, fid) den Anordnungen feiner Mutter, 
von deren Weisheit er den höchſten Begriff hatte, widerſpruchslos zu fügen, kam 
er zwar nicht dazu, ſich eine eigene Meinung zu bilden, aber er tat auch nichts mit 
beſonderer Freude, und war im Grund ſeines Herzens nichts weniger als der 
Streber, für den er ſeines geſetzten, bureaukratiſchen Weſens wegen von einigen 
gehalten wurde. Trotz ſeiner fünfundzwanzig Jahre war er ein Kind, das folgſam 
iſt, mehr aus Furcht als aus innerer Neigung zu dem, was ihm von ſeinen Erziehern 
zur Aufgabe gemacht wird. Abgeſehen von feiner Vorliebe für die Malerei ritt 
er kein Steckenpferd. Er fühlte fih leidlich wohl in feiner abſoluten Verantwor- 
tungsloſigkeit und zwiſchen den Akten ſeiner Amtsſtube, ſowie in der Stille des 
Elternhauſes. Und darin änderte fid auch nichts, als an Stelle der alten Magd 
eines Tages das jugendfriſche Ammele als dienender Geiſt in das Kleinholzſche 
Haus einzog. wii 

Das Ammele war eine entfernte Verwandte bes verftorbenen Bürgermeiſters 
unb eine Waiſe. Außer ein paar hundert Talem hatte es nichts ale fein angenehmes 
Außere, das es aber nicht zur Geltung bringen konnte, denn die Witwe geſtattete 


546 Siefenbach: Peter Kleinholz 


ihm nicht den geringſten Luxus. Sie ſorgte im Gegenteil dafür, daß die Reize der 
jungen Perſon unter geſchmackloſen Röcken und weiten Jacken verſchwanden und 
ihr keine Zeit blieb, an ſich ſelbſt zu denken. Das Ammele war eigentlich in dem 
Kleinholzſchen Haus nichts mehr und nichts weniger als ein armes Aſchenbrödel, 
das froh ſein mußte, am warmen Küchenherd eines ſo wohlverſorgten Hauſes einen 
Anterſchlupf gefunden zu haben. 

In der erſten Zeit überlegte die Witwe ernſtlich, ob es nicht beſſer ſei, das 
Mädchen von der Tiſchgemeinſchaft auszuſchließen und ihm ein Plätzchen am 
Küchentiſch anzuweiſen; ſie kam aber davon ab, als ſie erwog, daß ſie ſich dadurch 
in ein ſchiefes Licht ſetzen werde, und daß ſich das Mädchen ohnehin unter ihren 
Augen der ihm zukommenden Beſcheidenheit befleißigen müſſe. 

Das Ammele fügte ſich geduldig in die Hausordnung und war beſtrebt, 
feine Pflicht zu tun, was ihm auch fo weit gelang, daß die Witwe keine Urſache hatte, 
die Aufnahme der armen Verwandten zu bedauern und unzufrieden zu ſein. 

Das Ammele kam Werktags nur vor die Tür des alten Hauſes, wenn es auf 
den Wochenmarkt oder zum Krämer geſchickt wurde. Dann knüpfte es ſich ſtatt 
der blauen Küchenſchürze eine Trägerſchürze aus geblümtem Kattun vor, ſteckte die 
Füße in ein Paar leichte Pantöffelchen und ſtrich ſich die braunen Haare ein wenig 
glatt. Wenn es fo mit dem großen Henkelkorb über das holperige Pflafter der 
Hühnergaſſe und durch das Pachthofgäßchen nach dem Markte ging, dann blieb 
mancher junge Mann ſtehen, ſchaute ihm nach und meinte: „Alle Wetter! Ein nettes 
Waſſerſteinjüngferchen, das neue Mädchen der Frau Kleinholz! Das iſt doch mal 
was Apartes!“ Und der eine oder der andere fühlte ſich darauf veranlaßt, hin und 
wieder durch die Hühnergaſſe zu gehen und an der toten Front des alten Hauſes 
hinaufzublicken. Das war freilich vergebliche Liebesmühe, denn das Ammele hielt 
ſich ſtets in der Küche oder in ſeinem Stübchen auf, deſſen rundſcheibige Fenſter 
auf den Garten gingen und eine ſchöne Ausſicht auf den Main und ein paar Turm- 
ſpitzen gewährten, die aus den waldigen Bergen des Heſſenländchens hervorragten. 

Trotz der Mühe, die ſich die Witwe gab, die Reize ihrer Verwandten zu 
unterdrücken, war es unter der männlichen Jugend des Städtchens bald bekannt, 
daß in dem alten Haus in der Hühnergaſſe ein niedliches Käferchen eingezogen ſei. 
Nur der, der den Anblick des Mädchens jeden Tag genießen konnte, merkte lange 
Zeit nichts davon. Peter Kleinholz war infolge ſeiner ſtreng geregelten, auf den 
Ausſchluß aller zerſtreuenden Nebenelemente gerichteten Erziehung ein etwas ver- 
knöcherter Burſche geworden, dem außerdem der Maßſtab zur Wertung weiblicher 
Schönheit fehlte, denn er kam nur hier und da ſehr oberflächlich mit Frauen und 
Mädchen in Berührung. Daran änderte auch die Tatſache nichts, daß er mit Fräu- 
lein Lina Roßbach, der Tochter des Bürgermeiſters, ſo gut wie verlobt war. Er 
ſtattete regelmäßig einmal in der Woche im Haufe des Bürgermeiſters einen Beſuch 
ab, wobei es ſehr gemeſſen herging, denn Fräulein Lina war eine gut erzogene 
Dame, die ſich mit Männern nur unter den Augen der Mutter unterhielt. Seine 
Verwandte fab Peter nur in der blauen Küchenſchürze und der weiten Jacke; 
neben ſeiner ſtets feierlich ſchwarz gekleideten Mutter und der immer geputzten 
Bürgermeiſterstochter erſchien ihm das Ammele als ein junges Ding von ſehr 


Oieſenbach: Peter Kleinholz 547 


untergeordneter Bedeutung. Dann und wann tauſchte er ein paar kurze Be- 
merkungen mit dem Mädchen aus, wie das das tägliche Beiſammenſein mit ſich 
bringt, ſonſt kümmerte er ſich nicht um es. Am Tiſch wurde in der Regel wenig 
geſprochen, denn die Mutter liebte das nicht; nach Tiſch aber, wenn ſich die Witwe 
nach dieſem und jenem erkundigte und ihr Erziehungswerk, das ſie ſo lange nicht 
als vollendet betrachtete, als ihr Sohn nicht Bürgermeiſter war, durch Erteilung 
weiſer Ratſchläge und trefflicher Ermahnungen fortſetzte, ſtand das Ammele wie- 
der in der Küche am Spültiſch. 

Die Kanzleifenſter des Ratsſchreibers gingen nach dem Marktplatz, auf dem 
jeden Montag und Donnerstag ein paar Gemüſeweiber aus ben Nachbardörfern 
unter grauen Leinwandzelten ſaßen, mit Ausnahme des Winters, wo der Markt 
ausfiel, da es im Städtchen üblich war, ſich im Herbſt einen Vorrat von Obſt und 
Gemüje in den Keller zu legen, und die Hodeweiber keine Luft hatten, fic) des 
kleinen Geſchäftchens wegen die Füße zu erfrieren. 

Peter Kleinholz hatte oft ein freies Viertelſtündchen, denn die Arbeit drückte 
ihn nicht, zumal er ein flinker Kanzliſt war. Dann trat er an eins der Fenſter und 
blickte auf den Marktplatz, auf dem es, wenn es gerade Verkauftsag war, immer- 
hin manchmal etwas zu ſehen gab. 

In der Mitte des Platzes befand fid) das Denkmal eines Heiligen, den man 
für den heiligen Nepomuk hielt. Um das Poſtament Nepomuks gruppierten ſich 
die paar Schirme der Marktweiber, und jeden Donnerstag hielt hier die Frau eines 
Fiſchers in einem großen Zuber blanke lebende Weißfiſche feil, und zwar allein 
das ganze Jahr hindurch. Die Weißfiſchhändlerin erfreute ſich immer großen Zu- 
ſpruchs, ſie ſetzte jedes Fiſchſchwänzchen mit Leichtigkeit ab, und wer von den 
Katholiken des Städtchens ſeine Freitags-Faſtenſpeiſe haben wollte, der mußte 
beizeiten kommen. 

An einem ſchönen Septembervormittag ſtand Peter Kleinholz wieder ein- 
mal am Fenſter ſeiner Kanzlei und aß ein Schinkenbrötchen, das er, um ſich die 
Finger nicht fettig zu machen, mit dem Einwickelpapier in der Hand hielt. Er 
konnte von ſeinem Platz aus das Elternhaus ſehen, das in jener Vormittagsſtunde 
nichts von dem wenigen Leben zeigte, das ſich hinter ſeiner beſcheidenen Faſſade 
verbarg. Die Sonne ſchien zwiſchen den ſpitzen Giebeln der Häuſer des Pachthof- 
gäßchens durch auf das ſtille Haus, und das Meſſingſchildchen funkelte wie Gold. 
Die Sonne ſchien auch durch das offene Fenſter des Oberſtockes in die Schlafſtube 
des jungen Mannes, unb das offene Fenſter jab wie das ſtarre Auge eines kurz- 
ſichtigen Greiſes aus, der die Brille zurückgeſchoben hat. 

Aber dem Oächelchen des Hoftores, im Hintergrund des Anweſens, er- 
hoben ſich die grünen Kronen einiger Obſtbäume, und auf dem Geſtänge des 
Taubenſchlages, der ſich auf der Südſeite des Hauſes befand, ſaßen einige Tauben. 
Alles in allem bot ſich trotz oder vielleicht gerade wegen der großen Ruhe, die über 
dem Anweſen ausgegoſſen war, dem Auge des Beſchauers ein ſehr freundliches 
Bild. Peter konſtatierte diefe Tatſache mit zufriedenem Lächeln, bas feinen Ur- 
ſprung zum Teil auch in dem ſaftigen Schinken hatte, mit dem fein Friibftiids- 
brötchen reichlich belegt war. 


548 Diefenbad: Peter Rleinholz 


Peter Kleinholz war ein Liebhaber von zartgemalten Landſchafts- und 
Genrebildern; er hatte die kleine Sammlung guter Kopien von Gemälden be- 
rühmter Meiſter, die ſein Vater angelegt hatte, der auch ein Freund künſtleriſchen 
Wandſchmuckes war, bereits um einige Stücke ergänzt und ſelbſt einiges mit Kohle 
und Pinſel dazu geſchaffen, das in ſeiner dilettantiſchen Schwäche ſich neben den 
berühmten Meiſtern zwar recht dürftig ausnahm, aber immerhin ein wackeres 
Talent erkennen ließ, das der Zeichenlehrer des jungen Mannes vor zehn Jahren 
gerne für die Kunſt gerettet hätte, wenn das nicht außerhalb des Erziehungs- 
programms der Eltern ſeines Schülers gelegen hätte. 

„Gelegentlich muß ich das einmal aufs Papier bringen,“ dachte Peter, als 
er an dieſem Morgen das ruhige Gemälde ſeines Elternhauſes ſo freundlich von 
der Sonne beſchienen ſah. „Nur etwas Staffage müßte hinzugefügt werden, 
damit es nicht gar zu tot ausſieht. Vielleicht ein Hund oder ſo etwas. Man könnte 
auch den Hankel mit feiner Kuh darauf ſetzen, wie er eben mit feinem gejhmüdten 
Leiterwägelchen in den Herbſt fährt. Der alte Mann mit den weißen Bartkoteletten 
würde fid) nicht übel ausnehmen, und feine weißgeſcheckte Rub ijt ein hübſches Tier.“ 

Er legte ſich ſchon die Stelle zurecht, wo die Staffage am beſten anzubringen 
fei, als in der Toröffnung bas Ammele mit dem großen Henkelkorb am Arm er- 
ſchien. Es hatte eine friſchgebügelte Trägerſchürze an und blinzelte ein wenig 
in die Sonne, als es aus dem Schatten des Hofes in das helle Licht der Straße 
trat. Es klinkte das Tor ins Schloß und ſchaute einen Moment lang nach links 
und nach rechts, um dann bie Hühnergaſſe zu überſchreiten und durch das Pachthof- 
gäßchen mit kurzen, zierlichen Schritten in gerader Linie auf den Marktplatz und 
das Rathaus zuzugehen. 

Peter trat einen Schritt vom Fenſter weg und ſchaute verwundert auf das 
Mädchen, das da juſt wie gerufen als die niedlichſte Staffage in das Bild trat. 
Ze näher das Mädchen kam, deſto mehr ſteigerte ſich ſeine Verwunderung. 

„Ei der tauſend, iſt denn das das Ammele?“ flüſterte er. „Das hätte ich mein 
Lebtag nicht geglaubt, daß das Ding ſo hübſch ausſieht!“ 

Auf dem Marktplatz angekommen, wandte fid) das Mädchen der Fiſchhändle⸗ 
rin zu, und bier verſchwand es zwiſchen einer Anzahl Frauen und Dienſtmädchen, 
die den Zuber umſtanden. 

Peter blieb am Fenſter, bis das Ammele wieder ſichtbar wurde. Von der 
Fiſchhändlerin ging es zu einer Hökerin hinüber, deren Spezialität fauſtdicke Zwie⸗ 
beln und armlange Meerrettichſtangen waren, und als es auch hier feine Einkäufe 
beforgt hatte, bog es in das Seitengäßchen und ging im hellen Sonnenſchein der 
Hühnergaſſe und dem altertümlichen Haus entgegen. 

Es war ſchon ein paar Minuten hinter dem Tor verſchwunden, als ſich Peter 
nachdenklich auf den hohen Orehſtuhl vor fein Pult ſetzte und, den Kopf in die 
Hand geſtützt, auf einem Zeichenbogen — er hatte zum gelegentlichen Gebrauch 
immer einige zur Hand — eifrig mit dem Bleiſtift herumfuhr. Er entwarf die 
flüchtige Skizze ſeines Elternhauſes, aus dem eben ein junges Mädchen mit einem 
Henkelkorb am Arme trat und das Geſicht ein wenig nach der Seite drehte, als 
gebe es in der Hühnergaſſe Wunder was gu feben. ... 


Diefenbach: Peter Meinholz 549 


Als die Witwe Kleinholz zwei Stunden ſpäter von ihrem Fenſter aus den 
Sohn die Rathaustreppe herabſteigen und in das Pachthofgäßchen einbiegen fab, 
hob ſie den Kopf etwas höher als ſonſt, und zum erſtenmal verſäumte ſie es, in 
die Küche hineinzurufen: „Mein Sohn kommt!“ 

Was Peter zu einer raſcheren Gangart antrieb, war jedoch nichts anderes 
als das Ammele, das ſeine Phantaſie mächtig angeregt hatte. Beim Zeichnen des 
Mädchens gab er ſich die denkbarſte Mühe, ſich das Geſicht Ammeles vorzuſtellen, 
aber er kam nicht über ein verſchwommenes Bild hinaus, und je mehr er fid) an- 
ſtrengte, deſto unſicherer wurde er. Zuletzt warf er ärgerlich den Stift hin und 
ſagte: „Das ift zu dumm! Sch habe doch ſonſt einen guten Blick für das Gbaratte- 
riſtiſche eines Geſichtes, und diesmal weiß ich nicht einmal, was für Augen das 
Ammele hat, und ob ſeine Naſe klein und grad oder länglich und gebogen iſt. Wo 
habe ich nur meine Augen ſeither gehabt!“ 

Er konnte kaum die Mittagsſtunde erwarten, denn es trieb ihn, das Ammele 
einmal ordentlich in der Nähe zu betrachten. Er blieb daher beim Betreten des 
Hausflures einen Augenblick ſtehen und ſah in die durch ein kleines, nach einem 
Nachbarhof gehendes und ziemlich weit oben angebrachtes Fenſterchen notdürftig 
erleuchtete Küche. Das Ammele ſchüttete gerade die Suppe aus einer Blechkanne 
in die Schüſſel, wobei es ihm den Rücken zuwandte, ſo daß er nichts ſah als ein 
hübſch geformtes Hälschen, über dem ſich zarte Härchen kräuſelten, ſowie den 
faltigen Rock und die bauſchige Jacke. | 

„Nun?“ machte die Mutter, als er in die Stube trat unb fid) gleich an die 
obere Schmalſeite des Tiſches ſetzte, wo er ſeinen Platz hatte. Da er keine Ant- 
wort gab, ſondern unverwandt den Blick auf die Tür gerichtet hielt, wurde fie 
deutlicher, indem ſie fragte: „Nun, was hat es denn gegeben, daß du ſo haſtig 
über die Gaſſe gelaufen biſt? Wie geht es dem Bürgermeiſter?“ 

„Dem geht es gut, er iſt munter“, antwortete der Sohn. 

Die Witwe erhob ſich und ſchob den Seſſel zurück. 

„Etwas muß es doch gegeben haben! Wegen nichts und wieder nichts läuft 
man doch nicht über die Gaffe wie ein dummer Zunge!“ ſagte fie ärgerlich. 

Peter ſchlug vor ihrem forſchenden Blick die Augen nieder und wurde rot. 

„Ich weiß nicht, daß ich gelaufen bin“, entgegnete er. 

„Gerannt biſt du!“ verſetzte die Witwe. 

„Vielleicht habe ich ein bißchen mehr Hunger als gewöhnlich“, meinte der 
Sohn. 

„Und du haſt mir wirklich nichts zu ſagen?“ fragte die Mutter noch einmal. 

„Wirklich nichts. Oder doch, etwas weiß ich ſchon. Bürgermeiſters ver- 
anſtalten nächſtens einen gemütlichen Abend, wozu uns der Herr Bürgermeiſter 
heute morgen ſchon eingeladen hat. Er meinte, bei dieſer Gelegenheit ließe ſich 
wohl auch meine Verlobung mit Lina bekanntmachen. Das heißt, wenn du nichts 
dagegen haſt.“ 

„Alſo doch etwas! Sd wußte es ja!“ rief die Witwe, und ihr Geſicht hellte 
ſich etwas auf. „Du kannſt Herrn Roßbach ſagen, daß ich ganz und gar nichts 
dagegen habe.“ 


550 Siefenbach: Peter Meinholz 


Sie öffnete die Tür und rief hinaus: „Ammele!“ 

Gleich darauf erſchien das Mädchen mit der Suppe, und die Katze kam und 
ſchmiegte ſich an das Kleid der Hausfrau und die Hoſe des jungen Mannes. Das 
geräuſchloſe Mittageſſen nahm feinen Anfang. 

Das Ammele ſaß am unteren Ende des Tiſches, durch einen gehörigen 
Zwiſchenraum von Mutter und Sohn getrennt. Peter blickte nach jedem Löffel 
Suppe nach ihm hin, und als das Gemüſe kam, bei dem die Augen mehr Freiheit 
haben, verſenkte er ſich einigemal derart auffallend in das Studium des Geſichtes 
ſeiner jungen Verwandten, daß die Mutter unruhig auf ihrem Stuhle hin und 
her rückte und die Augen halb verwundert, halb zornig von einem zum andern 
wandern ließ. Einmal hob das Mädchen den Kopf, es ſenkte ihn aber gleich wieder 
und errötete, als es den Blicken des jungen Mannes begegnete, der nun feiner- 
ſeits ebenfalls unruhig wurde und ſich mit einer Verlegenheitsfrage an die Mutter 
wandte. Die Frage blieb ihm aber faſt im Halſe ſtecken, als er ihr Geſicht ſah, in 
dem deutlich zu leſen ſtand, daß ſie ſein Verhalten ernſtlich mißbilligte. Er wurde 
wie ein auf verbotenen Wegen ertappter Schuljunge rot bis über die Ohren und 
blickte nun während der ganzen Mahlzeit nicht mehr von ſeinem Teller auf. Aber 
er beſchäftigte jid) unausgeſetzt mit dem Mädchen und wußte, daß es ihm nun 
nicht mehr ſchwer fallen würde, ſich ſein Geſicht immer und überall bis auf das 
kleine Wärzchen auf der linken Wange vorzuſtellen. 

Nach dem Eſſen, als das Ammele den Tiſch abgeräumt hatte und das Geſchirr 
ſpülte, ſetzte ſich die Witwe in eine Sofaecke, während Peter nach der Zeitung griff. 

„Das Ammele ijt ein hübſches Ding“, dachte die Witwe. „Es wird hoffent- 
lich keine Dummheit geweſen ſein, daß ich es in mein Haus nahm. Es iſt nur gut, 
daß Peter ſo gut wie verlobt iſt.“ 

„Das Ammele hat braune Augen und ein niedliches Näschen, einen kleinen 
Mund und im Kinn ein Grübchen. Auf ſeiner linken Wange ſitzt ein zierliches 
Wärzchen“, ſagte ſich Peter. „Ich muß wirklich mit Blindheit geſchlagen geweſen 
ſein, daß ich das heute erſt entdeckt habe! Wenn es ſich nur ein bißchen beſſer muſtern 
wollte! Die helle Schürze heute morgen hat ihm recht ſchön geſtanden.“ 

„Das Ammele iſt jetzt ſchon ein Vierteljahr bei uns“, begann Frau Klein- 
holz nach einer Weile und fixierte ihren Sohn ſcharf. 

„So lange ſchon?“ bemerkte Peter zerſtreut. 


„Ich bin recht zufrieden mit ihm“, fuhr die Witwe fort. „Ich meine aber 


doch, daß es beſſer wäre, wenn man es in einer anderen Familie, bei fremden 
Leuten unterbringen würde.“ 

Peter legte die Zeitung hin. 

„Warum denn?“ fragte er. „Man merkt ja kaum, daß es im Hauſe iſt, ſo 
ſtill und beſcheiden verhält es ſich.“ 

„Das iſt wahr,“ gab die Mutter zu. „Aber es iſt doch ein eigen Ding, eine 
Verwandte als dienende Perſon um ſich zu haben. Man getraut ſich kaum, ihr 
einen Befehl zu geben, und es ergibt ſich daraus ein für beide Teile recht ungemiit- 
liches Verhältnis.“ 

you genierſt dich gerade nicht, dem Ammele zu befehlen“, dachte Peter. 


Hiefenbach: Peter Kleinholz 551 


„Man weiß nie, wo der Dienſtbote anfängt und die Verwandte aufhört“, 
vollendete die Mutter. „Ich vertrage das auf die Dauer nicht und meine, dem 
Ammele ſelbſt wird es nur lieb fein, wenn es in ein Haus kommt, wo es freier auf- 
atmen kann und ſich über ſeine Stellung nicht im unklaren zu ſein braucht.“ 

„Wie du meinſt“, verſetzte Peter und griff wieder nach der Zeitung. 

Seither hatte er über die Stellung, welche das Mädchen einnahm, nicht 
weiter nachgedacht, nun aber hatte er die Empfindung, daß es eigentlich in wenig 
verwandtſchaftlicher Weiſe behandelt werde, und daß es daher das Dienen weit 
ſchlimmer empfinden müſſe, als wenn es bei fremden Leuten in Dienſten ſtehe. 

„Ich werde einmal dem Ammele auf den Zahn fühlen“, begann die Witwe 
wieder. „Finde ich, daß es nicht ungern ſeine Stelle wechſelt, dann will ich ihm 
gern eine Herrſchaft ausmachen; ich habe ja bie beſten Verbindungen mit an- 
geſehenen, ordentlichen Leuten.“ 

Peter Kleinholz nahm an dieſem Tage eine ſeltſame Unruhe mit auf die 
Kanzlei. Auf dem kurzen Weg durch das Pachthofgäßchen blieb er etlichemal 
ſtehen und warf einen Blick zurück auf die lebloſe Straßenſeite ſeines Elternhauſes. 
Dann ſtand er lange inmitten ſeiner Schreibſtube und blickte von hier aus auf das 
Haus, das jetzt in tiefem Schatten lag. Bis ans Fenſter getraute er ſich nicht, 
denn es war ihm, als ſehe er durch die dunklen Scheiben das Ammele mitten in 
der Wohnſtube ſtehen, die braunen Augen auf das Rathaus gerichtet. Das Blut 
ſchoß ihm in die Wangen, er neigte den Kopf weiter vor und beſchattete die Augen 
mit der Hand. Der Schatten, den er in der Stube feines Elternhauſes fab, be- 
wegte fic, er rückte näher und er erkannte die Mutter. Peter Kleinholz fuhr zu- 
rüd, während die Mutter an das Fenſter trat und die Spitzenvorhänge zuzog. 

Die Arbeit ging dem jungen Mann in den folgenden Stunden ſchlecht von 
der Hand. Seine Gedanken gingen in den ſtillen Räumen des alten Hauſes fpa- 
zieren, fie blickten in die Küche, wo das Ammele das Geſchirr ſäuberte, fie folg- 
ten ihm darauf in ſein Stübchen, blickten ihm über die Schulter in den Spiegel, 
vor dem es fid) die Haare kämmte, und gingen dann neben ihm her in den Garten 
hinter dem Hauſe. Und von dem Ammele hinweg eilten fie in die Stube und ver- 
weilten eine Zeitlang bei der alten Mutter, die auf dem Sofa ſaß und ſchläfrig 
nickte. Aber ſeinen Gedanken wurde es unbehaglich in der Nähe der Mutter, ſie 
eilten in den Garten zurück, flatterten wieder um die friſche Geſtalt des Ammele 
und machten dann einen weiten Sprung bis in das Haus des Bürgermeiſters 
Roßbach, wo fie Fräulein Lina in der großen Wohnſtube antrafen, fie aber mert- 
würdigerweiſe nur wie einen Schatten erblickten. Unbefriedigt kehrten fie aber- 
mals in den Garten hinter der Hühnergaſſe zurück, und es koſtete den Träumer 
große Mühe, fie einzufangen und in feine Kanzlei und zu den Akten zurückzu- 
bringen. 

Herr Bürgermeiſter Roßbach kam an diefem Nachmittag nicht in das Rat- 
haus. Der Herr Bürgermeiſter fühle fid) unwohl und laffe den Herrn Ratsſchreiber 
bitten, etwaige eilige Eingänge in feine Wohnung zu ſchicken, richtete der Stadt- 
diener aus. Peter Kleinholz wartete bis nach Schluß der Bureauſtunden, dann 
packte er ein Bündelchen Akten zuſammen und begab fid) zu feinem Vorgeſetzten 


552 Ole fenbach: Peter Nleinholz 


und auserkorenen Schwiegervater. Er freute ſich, einen guten Grund zu einem 
Beſuche beim Bürgermeiſter zu haben, er hoffte dabei ſeine Braut zu ſehen, denn 
es trieb ihn, ihr unter dem friſchen Eindruck, den das Ammele auf ihn gemacht hatte, 
unter die Augen zu treten und feſtzuſtellen, warum es ſeinen Gedanken niemals 
eingefallen war, ihretwegen während der Bureauzeit ſpazieren zu gehen. 

Der Bürgermeiſter ſaß, in wollene Tücher eingeſchlagen, in einem weid- 
gepolſterten Seſſel, als Peter erſchien. Herr Roßbach hatte dünnes Blut und neigte 
ſehr zu Erkältungen, die ſich ſtets in aſthmatiſchen Anfällen äußerten, für die es 
ſeiner Anſicht nach kein beſſeres Mittel gab als ein gehöriges Schwitzbad, das er 
in der Ofenecke nahm. Die amtliche Angelegenheit war bald erledigt; da Peter 
keine Luſt hatte, länger als unbedingt nötig in der überheizten Stube zuzubringen, 
verabſchiedete er ſich bald. Auf dem Flur traf er ſeine Zukünftige. 

Nach einem kurzen, herzlich gleichgültigen Gejprad verließ er das Haus, 
und jetzt wußte er, warum ſeine Braut ſeine Gedanken nicht auf Abwege führte. 

Lina Roßbach war ein hochaufgeſchoſſenes Mädchen mit ſchmalen Schultern 
und ſchmalen Hüften; es war nichts Nundliches an ihr als die Augen, die wie zwei 
waſſerblaue Knöpfe aus dem blaſſen Geſicht blickten. Das Auge fand an ihr ſo 
wenig wie an einer Telegraphenſtange, es glitt über fie hinweg, und fie hinter- 
ließ keine angenehmen Erinnerungen. 

Als Peter Kleinholz die ſchwere Eichenholztüre mit der vernickelten Klinke 
ins Schloß gezogen hatte und die niedrige Freitreppe herabſtieg, atmete er tief 
auf. Scheu blickte er noch einmal an dem Haus des Bürgermeiſters hinauf, dann 
ging er ſchnell heim. Und feine Gedanken eilten voraus und ſuchten das Ammele. 

Aber die Gedanken bes Ammele waren ebenfalls ſpazieren gegangen. „War- 
um hat er mich fo merkwürdig angeguckt?“ fragte es ſich. Daß Peter ein hübfcher 
Burſche war, hatte es mehr als einmal feſtgeſtellt, und nicht ohne Mitleid ſah es, 
daß ihn die Mutter wie ein unmündiges Kind am Gängelband führte. Es ärgerte 
ſich darum nicht, daß er kalt und teilnahmlos an ihm vorüberging, als ob es gar 
nicht vorhanden wäre, aber es verdachte es ihm, daß er nicht einmal den turiofe- 
(ten Anſichten feiner Mutter entgegenzutreten wagte. Doch niemals hatte es fid) 
fo eingehend und lange mit ihm befchäftigt als heute. Es mochte tun, was es wollte, 
immer wieder ſah es ſeine blauen Augen freundlich auf ſich gerichtet. So ging der 
Mittag dem Mädchen unruhvoll vorüber, und als die Zeit herannahte, da Peter 
von dem Bureau heimzukommen pflegte, hielt es ſich im dunkelſten Hintergrund 
der Küche auf, denn es fürchtete, er müſſe ihm anſehen, daß ſich ſeine Gedanken 
mehr mit ihm beſchäftigt hatten, als gut war. 

Peter Kleinholz blieb im Vorbeigehen einen Augenblick in der Rüchentüre 
ſtehen. 

„Guten Abend, Ammele!“ rief er hinein. 

„Guten Abend!“ antwortete das Mädchen und bückte ſich über einen Topf. 

„Du ſiehſt ja nichts mehr, Ammele; ſteck doch Licht an!“ ſagte er. 

„O, es geht noch“, flüſterte das Mädchen. 

Peter aber batte ſchon ein Streichholz in Brand geſetzt, und das Ammele 
nahm den Zylinder von der Lampe. Seine Hand zitterte ein wenig. 


Oieſenbach: Peter Klelnholz 553 


Als das Licht brannte, begegneten fid ihre Augen. Eine Minute ſtanden fie fid) 
ſtumm gegenüber, dann wandte ſich Peter weg und ging in die Stube. Er freute 
ſich, daß die Mutter noch im Dunkeln ſaß, denn ſeine Wangen brannten wie Feuer. 

Ein paar Tage ſpäter kam Peter Kleinholz, auch gegen ſeine Gewohnheit, 
eine Stunde früher vom Bureau als ſonſt. Er fand das Hoftor verſchloſſen und 
ging daher durch ein paar Seitengaſſen um den Häuſerblock der Hühnergaſſe herum, 
um durch den Garten in das Haus zu gelangen. Die jüngſt angefertigte Skizze 
hatte er zuſammengerollt in der Hand, denn er gedachte den hellen Tag zu be- 
nutzen und das Bild fertigzuſtellen. Hinter den Gärten führte ein ſchmaler Fuß- 
pfad her, und unmittelbar daneben rauſchte hinter dichtem Weidengeſtrüpp der 
Fluß. Sommerfäden flogen durch die warme Septemberluft, und aus allen 
Gärten roch es kräftig nach reifem Obſt. Wie er vor dem Garten ſeiner Mutter 
ſtand und über das von leichten Windblumenranken und den borſtigen Stengeln 
des Kürbiſſes wildverwachſene Geländer griff, um die Türe zu öffnen, ſah er 
in der Mitte des Gartens, wo eine gußeiſerne Pumpe ſtand, das Ammele an einem 
Waſchzuber ſtehen. Da es ſchönes Wetter war und es keine Störung befürchtete, 
hatte es die Jacke ausgezogen und dafür eine Mantelſchürze angetan, die ſeine 
Formen nicht unterdrückte und die Arme bis zu den Schultern freiließ. 

Peter verhielt ſich eine Zeitlang ruhig und betrachtete mit heißen Wangen 
das liebliche Mädchen, das ihm in dieſem Augenblick und in dieſe m Garten, in 
dem nie dergleichen geſehen worden war, wie eine verzauberte Prinzeſſin er- 
ſchien. Die runden Baden des Mädchens hatten die Farben zarter Monatsröschen, 
ſeine Arme aber waren vom Ellenbogen aufwärts weiß wie die lichten Blätter 
der Narziſſen. 

Endlich ſchob der junge Mann den Riegel zurück und trat ein. 

Durch das Klirren des Riegels aufmerkſam gemacht, blickte das Ammele 
erſchrocken auf. 

„Laß dich nicht ſtören, ich bin's ja“, ſagte Peter, ſelbſt in einiger Berlegen- 
heit näher tretend. 

„Deine Mutter iſt ausgegangen, und ich dachte nicht, daß jemand durch den 
Garten käme. Das Hoftor ift verſchloſſen“, verſetzte das Mädchen. 

„Wo iſt denn die Mutter?“ fragte Peter. 

„Sie will ſehen, ob ſie eine Stelle für mich findet.“ 

„Willſt du denn fort? Davon weiß ich ja gar nichts!“ rief Peter. 

„Deine Mutter meinte, es wäre beffer, wenn ich's einmal anderswo pro- 
bierte, und da ich ſelbſt ...“ 

Das Ammele hielt inne und ſtrich ſich verlegen über die Schürze. 

„. . . auch gern dieſes unfreundliche Haus verlaſſe, fo hatte ich nichts da- 
gegen, daß ſie mich anderswo ausbietet. Nicht wahr, ſo wollteſt du ſagen?“ meinte 
Peter herb. 

Das Mädchen blickte überraſcht auf. 

„Ja!“ antwortete es feſt. 

„Nun ja, du haſt recht. Ich kann dir's nicht verdenken, wenn du hier weg- 
willſt; ich wundere mich fogar darüber, daß bu fo lange bei uns ausgehalten Haft, 

Her Türmer XV, 4 37 


554 Oiefendach: Peter Rleinholz 


wo dir bis jetzt niemand ein freundliches Wort geſagt oder dich als Verwandte 
äſtimiert hat. Wenn ich du wäre, ich wäre längſt auf und davon gegangen!“ 

Das Ammele geriet in großes Erſtaunen. 

„Das ſagſt du!“ 

Peter Kleinholz atmete tief auf. 

„Weiß Gott, es kommt mir auch ſehr merkwürdig vor, daß ich dir das ſage“, 
verſetzte er nach einigem Nachdenken. „Aber ich ſehe ein, daß dir hier unrecht ge- 
ſchehen iſt. Ammele, verzeihe mir!“ 

„Ich habe dir nichts zu verzeihen, ich habe hier nicht mehr erwartet: ein 
Dach und einen Tiſch. Freilich, ein bißchen mehr Wärme hätte mir ſchon gut ge- 
tan“, meinte das Ammele und unterdrückte mühſam die aufſteigenden Tränen. 

„Ein bißchen mehr Wärme! Zch kann mir's denken, ich kann mir's denken!“ 
rief Peter bewegt. „Auch das kommt vielleicht noch. Du biſt ja noch jung, Ammele. 
Wie alt biſt du eigentlich?“ 

„Neunzehn Jahre“, antwortete das Mädchen. 

„So alt ſchon!“ rief Peter. „Ich hätte dich für jünger gehalten. Himmel, 
dann kannſt du ja jeden Tag heiraten und biſt dein eigener Herr!“ : 

„Ich heirate nicht“, perjebte das Mädchen. 

Peter wurde es wunderlich zumute. 

„Am liebſten würde ich auch nicht heiraten“, ſagte er. 

„Du biſt doch verlobt“, flüſterte das Ammele. 

Das Geſicht Peters verfinſterte ſich. 

„Das verpflichtet mich zu nichts“, verſetzte er. 

Das Mädchen ſchwieg, und Peter ſchwieg ebenfalls. Das Wort lag ihm auf der 
Zunge: „Ja, wenn die Lina ein Mädchen wäre wie du, dann müßte das Heiraten 
eine Luſt ſein!“ Aber er ſprach es nicht aus. Nach einer kleinen Weile begann er: 
„Wir haben's beide nicht leicht, Ammele; doch es ſoll ſchon beſſer werden, verlaß 
dich drauf. Jetzt laſſe mich einmal dein Geſicht ſehen. So! Nach dem alten Apfel- 
baum mußt du gucken. Noch ein bißchen mehr rechts! Du darfſt auch ein bißchen 
lächeln, wenn du's fertigbringſt!“ 

„Weshalb denn das?“ fragte das Mädchen. 

„Ich will dich malen, wie ich dich neulich geſehen habe, als du auf den Markt 
gingſt“, antwortete Peter. „Ich habe dich von meinem Bureaufenſter aus geſehen, 
nur dein Geſicht konnte ich nicht feſthalten, ich durfte mir die größte Mühe geben. 
Sekt aber habe ich es. Danke ſchön! Auf ein andermal mehr, Ammele.“ 

Er begab ſich in ſein Zimmer, wo er das Zeichenblatt auf eine Staffelei 
ſpannte und eine Stunde lang emſig arbeitete, worauf in dem Mädchen, das vor 
dem Haufe ſtand und aufmerkſam die Hühnergaffe hinaufblickte, unſchwer das 
Ammele zu erkennen war. Befriedigt von ſeiner Leiſtung ſtellte ſich der junge 
Mann vor das Fenſter, das auf die Gaſſe ging, die jetzt, in der Nachmittagszeit, in 
tiefem Schatten lag. Von hier aus betrachtete er ſein Werk. 

„Das Ammele ſehnt ſich nach Wärme, nach Befreiung aus dieſem kalten 
Haus“, ſprach er dabei mit fid ſelbſt. „Inſofern ift mir feine Stellung, der Aus- 
druck feines Geſichtes gut gelungen. Jeder, der das Bild betrachtet, muß ſehen, 


oieſendach: Peter Kleinholz 555 


daß das Mädchen ſehnſüchtig nach etwas ausſchaut; es liegt freilich nahe, dabei 
an einen Liebhaber zu denken. Und warum nicht? Es iſt neunzehn Jahre alt und 
kann heiraten. Wer weiß, ob es nicht ſchon einen Liebhaber hat! Ich kenne mich 
bei Frauenzimmern nicht aus; was es von Nichtheiraten ſagte, kann auch eine 
Bemerkung ohne Bedeutung geweſen ſein.“ 

Peter Kleinholz legte die Stirne in Falten. 

„An das Haus ſollte ich Eiszapfen malen; man ſollte derartige Häuſer, in 
denen es nie ordentlich warm wird, eigentlich (tete in eine Winterlandfchaft ſtellen. 
Ein bißchen mehr Wärme hätte dir gut getan. Ich glaube dir's, Armele! Auch 
aus mir würde ein anderer Kerl geworden ſein, wenn man in dieſem Haus den 
Sonnenſchein geliebt hätte. Nun will ich aber ſehen, ob wir nicht doch ein bib- 
chen Wärme hereinbringen. Der Kälte wegen ſoll mir das Ammele jedenfalls 
nicht fortlaufen.“ 

In dieſes Selbſtgeſpräch hinein hallten plötzlich Fußtritte wie langſame, mit 
Beſonnenheit geführte Hammerſchläge. In der ſtillen Gaſſe ſchwoll jeder Tritt 
zu einem mächtigen Geräuſch an, das in verſchiedenen Winkeln Echos wachrief. 
Die Fußtritte kamen diesmal aus der Richtung des Marktplatzes; es war, als 
marſchierten die Füße über die Dielen der Stube, als ſchlüge jemand mit der 
flachen Hand klatſchend wider die Wände und die Decke. Und doch waren es nur 
die Füße einer Frau, die über das Pflaſter des Pachthofgäßchens dem Hauſe zu- 
ſchritten, allerdings einer Frau, die einen ſtarken Willen und ein ſtarres Herz 
hatte. Frau Kleinholz kehrte von ihrem Beſuche bei der Apothekerin zurück. 

Peter kniff die Lippen zuſammen, als er die Mutter fab, die groß und ftatt- 
lich daherkam, die ſcharfen Augen feſt auf ihn gerichtet. 

„gebt wird fie heraufkommen und wiſſen wollen, weshalb ich um diefe Zeit 
ſchon daheim bin, und mir wird nichts übrigbleiben, als eine Ausrede zu erſinnen. 
Das Bild darf ſie nicht ſehen.“ 

Er rollte die Zeichnung zuſammen und ſtellte ſie in einen Winkel, dann ſetzte 
er ſich ans Fenſter und ſtützte den Kopf in die Hände. 

Aber die Mutter kam nicht zu ihm herauf, ſie ließ ihn vielmehr durch das 
Ammele herunterrufen. Sie erkundigte ſich auch nicht nach dem Grund ſeines 
frühen Nachhauſekommens, ſondern teilte ihm mit, daß die Frau Apotheker vor- 
läufig zwar das Ammele noch nicht einſtellen könne, aber bei Gelegenheit an es 
denken wolle. 

„Das gefällt mir nicht“, fagte Peter. Es koſtete ihn Mühe, bie paar Worte 
herauszubringen, und er getraute ſich nicht, der Mutter dabei in die Augen zu ſehen. 

„Es gefällt dir nicht, daß das Ammele von uns geht? So, ſo! Warum denn 
nicht?“ | 

Frau Kleinholz legte den Rücken gegen bie Stuhllehne, was fie immer tat, 
ſobald ſie an die Verteidigung irgendeines Standpunktes ging. 

„Weil das Ammele nun einmal unſere Verwandte iſt und es den Anſchein 
erwecken könnte, als wollten wir es gern losſein“, erwiderte Peter. 

„Das laß nur meine Sorge ſein!“ verſetzte die Witwe ſtreng. „Ob das Ammele 
bei uns dient oder ſonſtwo, das iſt einerlei; dienen muß es ja doch. Das ſchadet 


556 Diefendah: Peter Kleinholz 


ihm auch nichts, da es fid) ſpäter, wenn es einen Mann finden ſollte, gewiß auch 
nicht aufs Stühlchen ſetzen kann, ſondern zugreifen muß.“ 

Hier ließ ſie eine kleine Pauſe eintreten. Da Peter jedoch nach wie vor auf 
die Tiſchplatte blickte, fuhr fie fort: „Ich glaube, Herr Roßbach bat bie Abſicht, 
bald abzudanken.“ 

„Hat er das geſagt?“ fragte der Sohn. 

„Das nicht, aber die Frau Apotheker hat eine Andeutung gemacht, die ſo 
aufgefaßt werden kann. Du weißt, daß fie eine Schweſter des Herrn Bürger- 
meiſters iſt.“ | 

Peter zudte die Schultern. 

„Das ift ein unficher Ding, und außerdem weiß man ja noch nicht, eb man 
mich wählen wird. Ich bin noch fo jung.“ 

Er ſagte das in einem Ton, als ſtelle er etwas recht Betrübliches feit. 

Die Mutter fuhr in die Höhe, denn es war bas erſtemal, daß in dieſem Haufe 
bezweifelt wurde, ob Peter Kleinholz jun. wirklich Bürgermeiſter werde, wie es 
vom Anfang ſeiner Exiſtenz an ausgerechnet worden war. 

„Ich weiß nicht, wie du mir heute vorkommſt!“ rief die Witwe. „Du wirft 
Bürgermeiſter, das ſteht feſt. Sitzt nicht unſere halbe Verwandtſchaft im Magi- 
ſtrat und in der Vertretung? Weiß es nicht die ganze Stadt, daß wir dich von 
klein auf für das Bürgermeiſteramt erzogen haben? Biſt du nicht mit allem ver- 
traut, was ein Bürgermeiſter wiſſen muß? Wie kannſt du ſo reden?“ 

Peter entgegnete zaghaft: „Wenn ich es gerade herausſagen ſoll, Mutter, 
ſo muß ich ſagen, daß ich mir nicht viel daraus mache, ob ich einmal Bürgermeiſter 
werde oder nicht.“ 

Weiter kam er nicht. Frau Kleinholz ſchlug klatſchend die Hände zuſammen 
und rief: „Peter!“ 

Der Sohn duckte ſich, als habe er eine Ohrfeige bekommen. Doch nur einen 
Augenblick, dann nahm er abermals einen Anlauf zur Selbſtbehauptung. 

„Weshalb muß ich Bürgermeiſter werden? Den Ehrgeiz habe ich nicht!“ 

Die Augen der Witwe funkelten zornig. 

„Wer biſt du denn eigentlich? Biſt du mein Sohn oder biſt du ein anderer? 
ich kenne dich gar nicht mehr!“ 

Sie ſagte das langſam. Jeder Satz war ein Fauſtſchlag, und ſie erſchlug den 
Geiſt des Widerſpruches in der Bruſt des jungen Mannes. 

Am andern Morgen merkte das Ammele bald, daß etwas zwiſchen der Mutter 
und dem Sohne vorlag. Peter verſäumte beim Fortgehen, die Mutter auf die 
Wange zu küſſen, wie er es gelehrt worden war, als er noch ein Kinderröckchen 
trug, und all die Zeit her weiter getan hatte als etwas, das zur guten Sitte und 
Hausordnung gehört. An dieſem Morgen aber brachte er es nicht fertig, dem finjte- 
ren Geſichte der Mutter nahezukommen. Er kam aus ſeinem Zimmer herab, als 
der Kaffee bereits fertig auf dem Tiſche ſtand und das Ammele ihn auf Befehl 
der Mutter zum zweitenmal zum Frühſtück gerufen hatte. Haſtig leerte er feine 
Taſſe, dann ſchob er das wie immer bereit liegende belegte Brötchen in die Taſche 
und verließ mit kurzem Gruße das Haus, die Mutter in der ſchlechteſten Stimmung 


Stefenbadh: Peter Kleinholz 557 


zurücklaſſend, die ſich noch ſteigerte, als ſie hörte, daß er im Vorbeigehen dem in 
der Küche hantierenden Ammele Guten Morgen wünſchte. 

Sie trat ans Fenſter und ſah ihm nach; es kam ihr vor, als ſei auch in ſeinem 
Gang und ſeiner Haltung über Nacht eine weſentliche Anderung eingetreten. Er 
ging raſcher, trug den Kopf höher, blickte nach allen Seiten und ſetzte den Stock 
mit dem echten ſilbernen Griff nicht mehr in fein abgemeſſenem, ſolidem Takt 
auf die Erde, ſondern hielt ihn aufrecht wie eine Waffe, jo daß die blanke Stahl- 
zwinge über ſeiner rechten Schulter blitzte. 

Der Stock war ein Erbſtück des verſtorbenen Bürgermeiſters, deffen Initia- 
len in dem Silber des Griffes eingegraben waren, nebſt dem Fahr, in dem er ge- 
kauft worden war. Das war aber, als ſich der Bürgermeiſter mit ſeiner jungen 
Frau auf der Hochzeitsreife befunden hatte und noch mit aufrichtigem Behagen 
in dem Hafen der Ehe ruhte, in dem ihn in der Zukunft nicht ſelten ein gewaltiger 
Sturm erfaßte, der ihn wünſchen ließ, nicht den Hafen aufgeſucht zu haben, fon- 
dern als freier Schiffer auf dem Meere des Junggeſellenlebens verblieben zu fein. 
Denn ſein junges Weib wurde bald zur Beherrſcherin ſeines Hauſes und entwickelte 
ſich von Jahr zu Jahr mehr zur vollendeten Autokratin, die keinen andern Willen 
neben ſich duldete und den Herrn Gemahl in jeder Beziehung knapp hielt. Sie gab 
die Geſetze, die befolgt werden mußten. Peter Kleinholz sen. ſetzte zwar im Anfang 
den Herrſcherlaunen ſeiner Frau einigen Widerſtand entgegen, denn er war von Haus 
aus ein zur Luſt und Heiterkeit angelegter Mann und gewöhnte ſich ſchlecht an die 
ſtrenge Hausordnung, die keinen Scherz und kein Lachen kannte, da er aber ein wei- 
ches Herz und nur geringen Mut hatte, fügte er ſich bald und ward der geſetzte, brave 
Mann, der ſeine Pflicht tat, und als welcher er fünfzehn Jahre lang bekannt war. 

Die unbedingte Folgſamkeit gewöhnte Witwe zürnte dem Sohn, daß er 
ein wenig an dem Joch zu rütteln verſucht hatte, das ſie ihm aufgelegt, und ſie 
bangte für ſeine Zukunft, die ſie nur dann geſichert und der Opfer wert hielt, 
die ſeine Erziehung verlangt hatte, wenn er das Ziel erreichte, das ihm geſteckt 
worden war. Und das erreichte er ihrer Anſicht nach nur dann, wenn er die feit- 
herige lobenswerte Solidität weiter bewahrte und ſich außerdem mit dem jetzigen 
Inhaber des Bürgermeifteramtes in ein verwandtſchaftliches Verhältnis zu bringen 
ſuchte, was ihr auch aus andern Gründen wünſchenswert erſchien. 

Frau Kleinholz ging in die Küche. Als ſie hier das Ammele nicht fand, ſtieg 
fie die Treppe hinauf und trat in das kleine, nach dem Garten belegene Zimmer- 
chen, das dem jeweiligen Dienſtmädchen zur Schlafſtube diente. Das Ammele 
ſtand gerade vor dem Spiegel, der auf der Nußbaumkommode feinen Platz hatte 
und zu den wenigen Dingen der Hinterlaſſenſchaft ſeiner Eltern gehörte, die nicht 
dem Hammer des Auktionators verfielen, als dieſer die Mobilien der Eheleute 
Konrad Safran öffentlich verſteigerte, ba es fih nach der Anſicht des Vormundes 
des verwaiſten Kindes nicht lohnte, das „alte Gerümpel“ bis zur Mündigkeit des 
Mädchens aufzuheben. Der Spiegel hatte einen Fuß von Bronze und ein nach 
allen Seiten drehbares Gelenk. Der Rahmen war aus Ahornholz geſchnitzt und 
endete in einen Vogel, der mit ausgebreiteten Flügeln auf einem knorrigen Aſt 
ſaß und eine weiße Perle im Schnabel hielt. 


558 Diefendbad: Peter Kleinholz 


Das Ammele erſchrak, als plötzlich neben ſeinem friſchen Geſichtlein in dem 
geſchliffenen Spiegelglas das blaſſe, finſtere Geſicht der Tante erſchien. Es drehte 
ſich raſch um, wobei es die Brennſchere fallen ließ, mit der es eben die Stirnbärchen 
ein wenig gekräuſelt hatte. 

„Was haſt du denn vor, daß du dich jetzt ſchon friſierſt?“ fragte die Witwe, 
bie mit Verwunderung bie Anſtalten bemerkte, die das Mädchen zu feiner Ver- 
ſchönerung traf. Trotz allen Argers, den ihr das Ammele bereitete, konnte ſie 
nicht umhin, die hübſche Erſcheinung freundlich zu betrachten. 

„Ich dachte, ich ſollte mich heute morgen der Frau Apotheker vorſtellen“ 
ſagte das Ammele. 

„Das eilt nicht jo“, fagte die Witwe. „Seit wann haft du denn eine Loten- 
ſchere? Die habe ich nicht bei dir vermutet.“ 

Das Ammele erwiderte, daß es das Gerät ſchon gehabt habe, als ſeine Eltern 
noch lebten; die Mutter habe ihm die Schere zu ſeinem ſechzehnten Geburtstag 
gekauft, ſamt dem Spiritusbrenner, der neben dem Spiegel ſtand und aus blankem 
Nickel war. 

„Das Lockenbrennen paßt eigentlich nicht recht für ein Mädchen, das ſein 
Brot bei fremden Leuten verdienen muß“, verſetzte Frau Kleinholz. „Du kannſt 
das aber halten, wie du willſt; ich habe dir da keine Vorſchriften zu machen. Nur 
ſolange du bei mir but, wäre es mir lieber, wenn du dir das Haar glatt zurück- 
ſtreichen würdeſt, wie das früher bei anſtändigen Mädchen allgemein Sitte war.“ 

Das Ammele errötete. 

„Ich dachte nicht, daß das etwas Unrechtes wäre“, ſagte es. 

„Unrecht ijt alles, was nicht im Einklang mit ben Verhältniſſen ſteht, in 
denen man lebt, und was bei anderen Leuten Argernis erregt“, belehrte die Tante. 
„Ich will dir gut. Gewöhne dir jetzt nicht an, wozu dir die Zeit und die Luſt und 
vielleicht auch das Geld fehlt, wenn du verheiratet biſt.“ 

„Ich heirate nicht.“ 

„Unſinn!“ ſagte die Witwe. „Wenn ein braver Burſche kommt, der zu dir 
paßt, ſo kannſt du das unbedenklich tun. Du biſt kein unrechtes Mädchen, und es 
wird fid ſchon einer finden, der dich mag. Einer geht ja in der letzten Zeit auf- 
fallend oft an unſerm Haus vorbei, den ich früher nie in der Hühnergaſſe geſehen 
habe. Du wirſt wiſſen, wen ich meine.“ 

Frau Kleinholz meinte einen jungen Schneider, den Sohn eines in guten 
Verhältniſſen lebenden Meiſters, der ſeine Kundſchaft in den Honoratiorenkreiſen 
des Städtchens hatte und ein angeſehener Mann war. Der junge Vernino gehörte 
in der Tat zu denen, die ein Auge auf das Ammele geworfen hatten, und er dachte 
allen Ernſtes daran, ein Verhältnis mit ihm anzuknüpfen. Bis jetzt hatte ſich ihm 
aber noch keine Gelegenheit geboten, drei Worte mit dem Ammele zu wechſeln. 

„Ich weiß nicht, wen Sie meinen, Tante“, ſagte das Ammele. 

„Halte nur die Augen recht offen, dann wirſt du deinen ſtillen Verehrer bald 
ſehen. Bei den Verninos wärſt du gut aufgehoben, dort reicht's auch noch für eine 
Lockenſchere und etwas mehr“, fagte Frau Kleinholz. „Jetzt mache dich fertig, du mußt 
auf den Markt; wenn du willſt, kannſt du gleichzeitig zur Frau Apotheker gehen.“ 


Diefenbach: Peter Kleinholz 559 


Peter Kleinholz blickte ſchon eine Viertelſtunde lang durch das Pachthof— 
gäßchen nach dem elterlichen Haus, als bas Ammele mit bem genkelkorb am Arm 
auf die Straße trat. Es begab ſich zuerſt zu der Zwiebelfrau, und dann miſchte 
es fid) unter die Weiber, die den Fiſchzuber umſtanden. Als es auch bier feine Ein- 
käufe erledigt hatte und quer über den Marktplatz weg nach einer zur Wohnung 
des Apothekers führenden Seitengaſſe ging, begegnete ihm der junge Vernino. 
Das Ammele ſchlug beim Anblick des jungen Mannes raſch eine andere Richtung 
ein, dabei fiel aber der Deckel des Korbes herab, und als es ſich danach bückte, 
folgte noch ein Bündelchen Schnittlauch nach. Der Schneider glühte vor Freude 
über den glücklichen Zufall, der ihm das Mädchen unter fo erfreulichen Umftan- 
den in den Weg führte. Mit ein paar Sprüngen war er an ſeiner Seite, und er 
griff in demſelben Augenblick nach dem Schnittlauch, als die arbeitsharten, aber 
dennoch ſchlanken Fingerchen des Mädchens das Grünzeug berührten. 

„Ich danke Ihnen“, ſagte das Ammele. „Ich hätte mir das Zeug auch allein 
aufheben können.“ 

„Das glaube ich gern, aber ich müßte ein ſchöner Holzebock ſein, wenn ich 
nicht zugeſprungen wäre“, verſetzte der Schneider. 

And dann ging er neben dem Mädchen her, das nun in die nächſte Straße 
einbog. 

Peter Kleinholz hatte die Begegnung auf dem Markte beobachtet. 

yum alle Welt, wie kommt denn das Ammele zu der Bekanntſchaft?“ dachte 
er, als er ſah, daß der Schneider glücklich wie ein Schneekönig an der Seite des 
Ammele davonging. 

Der Vorgang erfüllte ihn mit Beſorgnis. 

In der letzten Nacht hatte er lange über ſein bisheriges Leben nachgedacht 
unb war dabei zu der Anſicht gekommen, daß er als allzu gehorſamer Sohn feiner 
Mutter eine wenig glückliche Rolle geſpielt hatte. Er war groß und ſtark geworden, 
hatte einen Schnurrbart bekommen und bekleidete ein nicht unbedeutendes Amt, 
aber er hatte nichts zu tun, was ihm nicht von der Mutter vorgeſchrieben wurde. 
Vor einigen Jahren begleitete ihn die Mutter fogar in die Tanzſtunde, und wäh- 
rend feine Kameraden in der Folge von ihrer Tanzkunſt den ausgiebigſten Ge- 
brauch machten und ſich nicht an den drei Bällen genügen ließen, die alljährlich 
im Städtchen ſtattfanden, ſondern jede Kirchweihe und jedes Feſt der umliegen- 
den Ortſchaften beſuchten, beſchränkte er fich auf den Fahrmarktsball im Novem- 
ber und auf das Tanzkränzchen, das Bürgermeiſter Roßbach in jedem Winter gab, 
ſeit feine Tochter zur Jungfrau geworden war. Und auf dem Jahrmarktsball fo- 
wohl als auch auf dem bürgermeiſterlichen Tanzkränzchen wachte die Mutter dar- 
über, daß er ſich nichts vergab. Er nahm ſich vor, ſich von jetzt ab mehr auf die 
eigenen Füße zu ſtellen und der Mutter zu zeigen, daß der künftige Bürgermeiſter 
wohl fähig ſei, ſich ſelbſt zu regieren. Deshalb hatte er ſich an dieſem Morgen ohne 
den üblichen Kuß verabſchiedet, und das erſte, was er tat, als er an ſeinem Pult 
ſaß, war das: er ſchrieb an den Vorſtand des Dilettantenvereins „Urania“ und 
meldete ſich als Mitglied an. 

Ser Verein war eine Geſellſchaft junger Männer, die es ſich zur Aufgabe 


560 Diefenbach: Peter Kleinholz 


machten, die Langeweile des Winters durch Aufführung kleiner Theaterſtücke und 
andere geſellige SSeranftaltungen zu zerſtreuen. Im Shobe dieſes verdienſtvollen 
Vereins, deſſen Witglieder ſich übrigens lediglich aus der „jeunesse dorée“ des 
Kleinſtädtchens rekrutierten, hoffte er am eheſten den Makel des Mutterſöhnchens 
loszuwerden und in die Segel ſeines ſtillen Schiffleins etwas friſchen Wind zu 
bekommen. Er war ſich aber bewußt, daß er den unternommenen Schritt vor 
ſeiner Mutter werde verantworten müſſen, was ihm nachträglich noch einiges 
Herzklopfen verurſachte. 

Peter Kleinholz war zum erſtenmal dazu gekommen, über fich ſelbſt nach- 
zudenken, und da fand er denn, daß ſein Leben bis jetzt genau ſo kalt und troſtlos 
war wie das Ammeles. Auch ihm hatte die Wärme gefehlt, ohne die der Menſch 
auf die Dauer nicht exiſtieren kann, er müßte denn zu den ſeltſamen kaltblütigen 
Weſen gehören, in deren Geſellſchaft man einen ſeeliſchen Schnupfen bekommt. 
Dieſer Art war ſeine Mutter, er dagegen hatte ein paar Tröpfchen des warmen 
Blutes ſeines Vaters, der allerdings unter den Händen ſeiner Frau nach und nach 
ebenfalls ein armer, kalter Menſch geworden war. 

Peter blickte auf die rotliniierten Seiten des Journals und auf die Zahlen 
der Rechnungen, die er darin eintragen ſollte. Aber er war nicht bei der Sache: 
er war eiferſüchtig auf den Schneider, der öffentlich an der Seite Ammeles über 
den Markt gehen durfte als ein freier junger Menſch, der nicht nötig hat, bei jedem 
Schritt an irgendeine Vorſchrift bevormundender Weisheit zu denken. Und in 
ſeinem Herzen ſtieg ein bittrer Groll auf gegen das Schickſal, das ihn in dem alter- 
tümlichen Haus in der Hühnergaſſe auf die Welt geſetzt hatte, in dem keine Wärme 
Eingang fand, und in deſſen kühler Temperatur ein junger Mann zum Bürger- 
meiſter des Städtchens heranreifen ſollte. 

Die Temperatur in dem altertümlichen Haus ſank in den nächſten Tagen noch 
ein paar Grad tiefer. Frau Kleinholz konnte ſich der Tatſache nicht verſchließen, 
daß Peter ein anderer zu werden anfing, daß er wärmer und lebhafter wurde. 
Sie verſuchte daher täglich zweimal, nad) dem Wittageſſen und dem Abendbrot, 
die Wärme durch die Eispackungen ernſter Ermahnungen zu vertreiben, ſie kam 
aber nicht dazu, denn bei jedem Anlauf begab ſich Peter in den Garten oder in 
ſeine Stube. Einmal griff er ſogar nach dem Hut und dem Stock mit dem ſilbernen 
Griff und verließ das Haus und ließ ſich den ganzen Abend nicht mehr ſehen. Erſt 
ſpät in der Nacht kehrte er heim und ſchlich ſich in den Strümpfen die Treppe hinauf. 

Als ihn die Mutter am andern Morgen beim Kaffee fragte, wo er geweſen 
ſei, antwortete er: „In unſerm Verein.“ 

„In was für einem Verein?“ fragte ſie. 

„In der Urania“, ſagte er. 

Frau Kleinholz brauchte einige Minuten, um dieſe Mitteilung zu erfaſſen. 

„Du biſt in einem Verein, in dieſem Verein!“ rief ſie dann, und ihre Stimme 
war ſcharf wie ein Meſſer. „Und bot es nicht der Mühe wert gehalten, mich um 
Erlaubnis zu fragen? Was haſt du denn eigentlich vor? Willſt du dich mit Gewalt 
um deinen guten Ruf bringen? Du wirft heute noch deinen Austritt aus dieſem 
Verein erklären!“ 


Diefenbah: Peter Kleinholz 561 


Peter blieb ruhig. 

„ich bin alt genug, um ſelbſt darüber entſcheiden zu können, was ich in dieſer 
Beziehung zu tun und zu laſſen habe“, ſagte er. „Ich bin dem Verein beigetreten, 
weil ich nicht länger mehr ohne Kameraden und Freunde bleiben und nicht ganz 
lächerlich werden wollte.“ 

„Lächerlich werden!“ unterbrach ihn die Mutter. „Lächerlich iſt es, daß du 
dir einbildeſt, du hätteſt es notwendig, einem Luſtbarkeitsverein beizutreten, um 
nicht lächerlich zu fein.“ 

„Mit einem Wort, Mutter: Ich habe es ſatt, mich immer als die zukünftige 
Reſpektsperſon aufzuſpielen!“ rief Peter und erhob ſich. „Ich bin kein Kind mehr 
und tue, was andere jungen Leute meines Alters und Standes auch tun. Etwas 
Anrechtes iſt nicht dabei, und das Leben wird ſchöner. Guten Morgen, Mutter!“ 

Er verließ die Stube. 

Das Ammele hatte mit unbehaglichem Gefühl dieſer Unterhaltung bei- 
gewohnt. Als die Türe hinter Peter ins Schloß gefallen war, lief Frau Kleinholz 
ein paarmal in der Stube hin und her, dann blieb ſie vor dem Mädchen ſtehen und 
ſchrie: „Das habe ich dir zu verdanken, du nichtswürdige Perſon! Mit dir iſt dieſer 
Leichtſinn in mein Haus gekommen. Bilde dir ja nicht ein, daß du dich hier in ein 
weiches Neſt ſetzen kannſt! Da bin ich auch noch da!“ 

„ich verſtehe Sie nicht, Tante“, entgegnete bas Ammele. „Ich kann doch 
nichts dafür, wenn der Peter einem Verein beitritt.“ 

„Schweig!“ herrſchte es die Witwe an. „Du haſt ihm den Kopf verdreht 
mit deinem Wilchgeſicht, du ſcheinheiliges Ding!“ 

Sie eilte zu einem in der Ecke ſtehenden Schrank und brachte eine Rolle Papier 
herbei, die ſie vor den Augen des Mädchens entfaltete. Es war die Zeichnung, die 
Peter kürzlich angefertigt hatte, und auf der das Ammele ſchön und ſauber vor 
dem Tor des alten Haufes in der Sonne ſtand. Die Witwe batte das Bild am ver- 
gangenen Abend in der Stube ihres Sohnes aufgeſtöbert. 

„Da!“ fuhr ſie das Mädchen an. „Willſt du etwa leugnen, daß du vertrauter 
mit ihm biſt, als du mir weismachen willſt? Wie hätte er dich ſo ähnlich zeichnen 
können, wenn du ihm nicht geſeſſen hätteſt?“ 

Das Ammele erwiderte: „Wie er das fertigbringen konnte, weiß ich nicht, aber 
geſeſſen habe ich ihm nicht.“ 

„Da lügſt du!“ ſchrie Frau Kleinholz und fuhr mit der Fauſt in die Beich- 
nung, wo das Mädchen ſtand. Darauf zerriß ſie das Blatt in Fetzen, die ſie auf den 
Tiſch warf. 

Das Ammele war abwechſelnd rot und blaß geworden. Jetzt richtete es ſich 
auf und ſah der Zornigen furchtlos ins Geſicht. 

„Ich lüge nicht“, fagte es mit bebender Stimme. „Mit Ihrem Sohne habe 
ich nichts und will ich nichts zu tun haben. Daß Sie das unſchuldige Bild zerriſſen 
haben, war durch nichts gerechtfertigt, und wenn Sie glauben, mir damit wehe zu 
tun, fo irren Sie ſich. Wenn ich empfindlich wäre, würde ich keine drei Tage, ge- 
ſchweige denn ein Vierteljahr in dieſem Hauſe ausgehalten haben, in dem einem 
das Herz im Leibe erfrieren könnte. Heute aber noch gehe ich, jetzt auf der Stelle. 


562 Siefenbach: Peter Nleinholz 


Ihnen will ich aber noch etwas ſagen: Ihr Sohn dauert mich, daß er ſo lange in 
dieſer Luft leben mußte, und er hat recht, wenn er endlich aus ihr heraus will. 
Er hat auch recht, wenn er ſagt, daß er ſeither eine lächerliche Rolle geſpielt hat; 
ich ſelbſt habe oft heimlich über ſein ſteifes Weſen gelacht. Ich freue mich, daß er 
ein anderer werden will, und hoffe, daß es ihm gelingt!“ 

„Du freche Perſon!“ ſchrie die Witwe und ließ ſich in einen Stuhl fallen. 
Das Ammele aber war bereits zur Tür hinaus. Es eilte in ſein Stübchen und packte 
mit zitternden Händen ſeine Habſeligkeiten in ſeinen Koffer, denn es war ihm ernſt 
mit dem Fortgehen. Als es fertig war, ſetzte es ſich auf den Koffer und weinte. 

Peter Kleinholz ging mit leichterem Herzen nach feiner Kanzlei. Er be- 
dauerte nicht, fid) einmal auf die Hinterfüße geſtellt zu haben, und faßte den Vor- 
ſatz, von jetzt an die Bevormundung der Mutter überhaupt abzuſchütteln. 

„Ob ich Bürgermeiſter werde oder nicht, das iſt mir einerlei“, ſagte er ſich. 
„Ich bleibe doch, wer ich bin, und will vor allem leben, wie mir's behagt. Und 
aus der Verlobung mit der zaundürren, maulfaulen Bürgermeiſterstochter wird 
nichts. Ich pfeife darauf!“ 

Er pfiff wirklich leiſe vor ſich hin und achtete nicht darauf, daß ein paar ebr- 
ſame Bürger, die ihm begegneten, ſtehen blieben und die Köpfe ſchüttelten. 

Auf dem Marktplatz angekommen, betrat er den Laden des Herrn Bittel- 
mann, um fid feine Zigarettentaſche füllen zu laffen. Herr Zittelmann war Drucker, 
Verleger und Redakteur des Stadtanzeigers, er handelte mit Papier und Schreib- 
material und hatte außerdem ein Zigarrengeſchäft. 

„Wer hätte das gedacht, daß es ſo raſch kommen würde!“ empfing er den 
Ratsſchreiber. „Er war ja immer ein kränklicher Mann, aber derlei Leute werden 
oft am älteſten.“ 

„Ich verſtehe Sie nicht“, ſagte Peter. 

„So wiſſen Sie noch nichts?“ verwunderte ſich Herr Zittelmann. 

„Ich weiß wirklich nicht, was Sie meinen.“ 

„Der Herr Bürgermeiſter iſt vor einer Stunde geſtorben. Daß Sie das noch 
nicht wiſſen!“ rief der vielſeitige Mann und erzählte dem überraſchten Peter, was 
er über die näheren Umſtände des Todesfalles wußte. 

Die gute Laune Peters war verſchwunden; er ging nachdenklich in ſein Bureau, 
ſetzte ſich an ſein Pult und ließ ſich von dem Stadtdiener noch einmal umſtändlich 
erzählen, daß der Herr Bürgermeiſter beim Kaffeetrinken plötzlich von Ubelkeiten 
befallen worden und, kaum ins Bett gebracht, einem Herzſchlag erlegen fei. 

Dem jungen Mann ging der Tod des Bürgermeiſters recht zu Herzen, aber 
er fühlte es doch als eine Erleichterung, daß er durch dieſen Sterbefall Zeit gewann, 
das aufgedrungene Verhältnis mit der Tochter des Verſtorbenen ohne Aufſehen 
zu löſen. 

Bürgermeiſter Roßbach batte mit feiner Frau, die er fid) von auswärts ge- 
holt batte — an dieſer Tatſache wäre beinahe feine Wahl zum Bürgermeiſter ge- 
ſcheitert, denn man rechnete fie ihm als mangelnden Lokalpatriotismus an —, in 
glücklicher Ehe gelebt. Es iſt daher begreiflich, daß Frau Roßbach durch den Tod 
des braven Mannes in die größte Betrübnis verſetzt wurde. Auch der Tochter pet- 


Slefenbah: Peter Rleinholz 563 


urſachte der Tod des Vaters großen Schmerz. Als Peter Kleinholz erſchien, um 
den Hinterbliebenen ſein herzliches Beileid auszudrücken, ſaßen Mutter und Tochter 
weinend in der guten Stube, und es dauerte lange, bis ſie ſich ſo weit beruhigten, 
daß ſie eine detaillierte Schilderung von dem traurigen Ereignis geben konnten. 
Fräulein Lina faßte ſich zuerſt. Mit leiſer Stimme erzählte ſie, daß ſich der Vater 
am vorigen Abend noch ſehr auf das bevorſtehende Feſt gefreut habe, ſogar beim 
Kaffeetrinken heute morgen habe er zunächſt von nichts anderem geſprochen. 

„Und nun iſt er tot, und alles iſt aus!“ ſchloß ſie und drückte abermals das 
tränenfeuchte Taſchentuch vor das Geſicht. 

Auch in das alte Haus in der Hühnergaſſe war kurz nach bem Veggang 
Peters die Nachricht von dem Ableben bes Bürgermeiſters gedrungen. Frau Klein- 
holz faßte fie keineswegs wie eine Trauerbotſchaft auf; der freigewordene Bürger- 
meiſterſtuhl nahm ihr ganzes Intereſſe in Anſpruch, und ſie beſchloß, unverzüglich 
alles zu tun, um ihrem Sohn zu der Bürgermeiſterwürde zu verhelfen. Ihre Stim- 
mung beſſerte ſich ſofort ſo weit, daß ſie die Treppe hinaufſtieg und ſich mit dem 
immer noch mit verweintem Geſicht auf feinem Koffer ſitzenden Ammele ver- 
ſöhnte. Dann begab ſie ſich zu der Frau Apotheker, deren Mann eine wichtige 
Rolle im Stadtparlament ſpielte und in entferntem Grade mit ihr verwandt war. 

Peter kam vor der Mutter heim. Er traf das Ammele in der Wohnſtube und 
half ihm, die weiße Dede über den Tiſch zu legen. Dann ging er mit ihm in die 
Küche und trug die Teller herein, und als der Tiſch gedeckt war, zündete er jid) eine 
Zigarette an, die erſte, die in dem alten Haus geraucht wurde. Wie er ſich auf dem 
Sofa niederließ, flatterte ein Papierſtückchen auf und fiel ihm vor die Füße. Gr 
büdte ſich und hob es auf. 

„Was iſt denn das?“ rief er. 

Was er in der Hand hielt, war ein Stückchen von dem Bild, das die Mutter 
zerriſſen hatte, und es zeigte die Hälfte von Ammeles Kopf. 

Er erhob ſich erregt und warf die Zigarette auf den Boden. 

„Wer hat das Bild zerriſſen?“ fragte er. 

Das Mädchen ſchilderte den Vorfall und verſchwieg auch nicht die Vorwürfe, 

ie ihm die Witwe gemacht hatte. 

vAmmele,“ ſagte Peter, „ganz unrecht bat die Mutter nicht gehabt, als fie 
dir die Schuld an meinem veränderten Weſen in die Schuhe ſchob. Ich weiß nicht, 
wie ich dir das klarmachen foll. Ammele, weißt du, die Sache kam fo ...“ 

Er ſtockte einen Augenblick, dann ergriff er die Hände des Mädchens und rief: 

„Himmel, es muß heraus, daß ich dir gut bin, Ammele!“ 

Das Mädchen ſuchte ihm die Hände zu entziehen. 

„Das hätteſt du nicht ſagen ſollen“, flüſterte es. „Wenn ich das gewußt hätte, 
wäre ich nicht dageblieben.“ 

„Du haſt Furcht vor der Mutter?“ 

Das Ammele nickte. 

„Wenn es weiter nichts iſt!“ rief Peter und legte den Kopf des Mädchens 
an ſeine Schulter. „Siehe mich an, Ammele. Durch dich bin ich ein Mann ge- 
worden, dem du dich ruhig anvertrauen kannſt. Ich fürchte die Mutter nicht mehr, 


564 Sicfenbad: Peter Kleinholz 


und aus der Lina Roßbach mache ich mir nichts; die kann dir das Vaſſer nicht 
reichen!“ " x 
xk 

Bürgermeifter Roßbach war begraben. Er hatte einen ſtattlichen Leichenzug, 
und der Pfarrer batte (bón geſprochen, ſchöner aber noch nach der übereinftimmen- 
den Anſicht aller Leidtragenden Peter Kleinholz, der ihm im Namen des Magi- 
ſtrats und der ſtädtiſchen Verwaltung einen Nachruf widmete. Es war ihm in 
der Tat nicht ſchlecht gelungen, den Verſtorbenen nach der Wirklichkeit zu ſchildern, 
fo daß jeder, der ihn gekannt hatte, ſagen konnte: „So und nicht anders ift er ge- 
weſen, unſer Bürgermeiſter. Er war ein prächtiger Mann!“ 

Die Rede Peters erregte übrigens allgemeines Aufſehen. 

„Wer hätte das hinter dem Ratsfchreiber geſucht!“ hieß es. „Man kennt ihn 
ja gar nicht mehr!“ 

Die gute Meinung, die man von Peter hatte, verſtärkte ſich noch, als in der 
nächſten Nummer des Stadtanzeigers eine Würdigung der Verdienſte des Bürger- 
meiſters erſchien und bekannt wurde, daß der Verfaſſer kein anderer als Peter 
Kleinholz war. Sämtliche Stadtabonnenten ſchnitten den Artikel heraus; die 
einen legten ihn ins Geſangbuch, die andern ließen ihn vom Buchbinder auf weißen 
Karton kleben und unter Glas und Rahmen bringen. Das letztere tat auch Frau 
Kleinholz. Der Artikel nahm eine halbe Seite des Wochenblattes ein, war ſchwarz 
umrändert und in fetter Schrift gedruckt, wodurch jedes Wort ein beſonders 
gehaltvolles Anſehen erhielt. 


* 
* 


Von dem zerriſſenen Bild wurde im Kleinholzſchen Hauſe nicht mehr ge- 
ſprochen; Peter hatte in dem lebenden Ammele Erſatz für das mit Bleiſtift auf 
rauhes Papier gekritzelte gefunden, es trieb ihn daher nicht, das vernichtete Blatt 
durch ein anderes zu erſetzen, wenn er auch von ſeiner Kanzlei aus öfter als früher 
lange die ruhige Faſſade des alten Hauſes in der Hühnergaſſe betrachtete, die ge- 
rade die Mündung des Pachthofgäßchens ausfüllte. Das obere Fenſter des Hauſes 
aber, das früher wie das ſtarre Auge eines kurzſichtigen Greiſes ausſah, belebte 
ſich dann manchmal; es erſchien darin die rundliche Geſtalt des Ammele, das ihm 
mit dem Staubtüchelchen Grüße zuwinkte. 

Frau Kleinholz hatte von dem, was ſich hinter ihrem Rücken und über ihrem 
Kopfe zutrug, keine Ahnung, ſie hatte vollauf damit zu tun, all die Fäden für das 
Netz zu knüpfen, in welchem die Stadtväter bei der Bürgermeiſterwahl ihren Sohn 
fangen ſollten. Sie dachte an nichts anderes und war die meiſte Zeit des Tages 
außerhalb des Hauſes. Sie beſuchte ihre Verwandten bis zum ſiebenten Grad 
und ſprach ebenſo fleißig im Hauſe des verſtorbenen Bürgermeiſters vor, um dort 
ihre Sache gründlich zu bearbeiten. Sie drängte darauf, daß die Verlobung Zräu- 
lein Linas mit ihrem Sohne öffentlich bekanntgegeben werde, denn auch die Rob- 
bachs hatten eine weitverzweigte und einflußreiche Verwandtſchaft, deren Wohl- 
wollen für den Bürgermeiſterkandidaten gewonnen werden mußte. 

Peter Kleinholz ließ die Mutter gewähren, bei der erſtbeſten Gelegenheit 
aber wollte er ihr ſagen, daß er mit der Tochter des Bürgermeiſters nichts mehr 


Oiefenbach: Peter Nleinholz 565 


zu tun haben wolle, ſondern in dem Ammele diejenige gefunden habe, die er zur 
Bürgermeiſterin machen werde, wenn man ihn wähle. Und wenn man ihn nicht 
wähle, dann mache er ſich nichts draus, mit dem Ammele hoffe er auch als 
Ratsſchreiber glücklich zu werden. 

Die Gelegenheit gab ſich eines Tages, als die Mutter die Einwilligung der 
Frau Roßbach und ihrer Tochter zur öffentlichen Bekanntgabe der Verlobung mit 
heimbrachte. 

„Wir laffen Karten drucken und verſchicken fie an alle Bekannten und Ber- 
wandten“, ſagte ſie beim Abendeſſen. 

Das Ammele erblaßte; Peter warf ihm einen beruhigenden Blick zu, dann 
zündete er ſich eine Zigarette an und ſagte, er halte die Verlobung für durchaus 
verfrübt. 

„Je eher fie bekannt wird, deſto beſſer“, fagte die Mutter. 

Das Ammele begab jid) in die Küche. 

Peter koſtete es doch einige Mühe, mit ſeiner Meinung offen hervorzutreten. 
Er ging ein paarmal in der Stube auf und ab, dann ſtützte er die Hände auf den 
Tiſch und ſah die Mutter feſt an. 

„Ich werde die Bürgermeiſterstochter überhaupt nicht heiraten!“ ſagte er. 

Frau Kleinholz ſtarrte ihn entſetzt an. 

„Waas?“ machte fie. 

„Ich heirate die Bürgermeiſterstochter unter keiner Bedingung; ſie iſt mir 
widerwärtig!“ verſetzte Peter. 

Frau Kleinholz verfärbte ſich und rang nach Luft. 

„Alſo haſt du doch das nichtsnutzige Ding, das Ammele, im Kopf!“ ziſchte ſie. 

„Das Ammele iſt ſo wenig ſchuld, daß ich es liebe, wie du, daß ich dir gut 
bin“, fagte Peter. „Beleidige das Ammele nicht! Sh danke meinem Gott, daß 
er mir rechtzeitig die Augen geöffnet hat, wie ein Mädchen ſein muß, das einen 
glücklich machen kann. Das Ammele iſt mein Glück, und ich laſſe nicht mehr von 
ihm.“ Er ſagte das mit tiefer Stimme. Frau Kleinholz bedeckte die Augen mit den 
Händen. 

„Mutter,“ fuhr Peter fort und ergriff ihre Hand, „es tut mir leid, daß ich 
deinen Wunſch nicht erfüllen kann, wenn du aber mein Glück willſt, mußt du dich 
freuen, daß ich das Ammele gefunden habe.“ 

Frau Kleinholz lachte ſchrill und erhob ſich. Mit der einen Hand hielt ſie 
ſich an der Stuhllehne, mit der andern wies ſie nach dem Rathaus. 

„Dort wirſt du Schreiber bleiben dein Leben lang. Das iſt das Glück, das 
du machſt! Meinſt du, man würde dich zum Bürgermeiſter wählen, wenn du dir 
ein Dienſtmädchen zur Frau nimmſt?“ 

„Mögen ſie zum Bürgermeiſter machen, wen ſie wollen, ich danke dafür!“ 
entgegnete Peter. „Es tut mir leid, daß du dich ſo darum bemüht haſt, und wenn 
du mir einen Gefallen tun willſt, dann läßt du von heute an die Hände aus dem 
Spiel. Ich will nicht haben, daß man mit Recht fagen darf: ‚Den Peter Kleinholz 
hat ſeine Mutter zum Bürgermeiſter gemacht!“ oder: „Oer Peter Kleinholz hat 
ſich den Bürgermeiſterpoſten erheiratet!“ 


566 oleſendach: Peter Rieinholz 


Frau Kleinholz fant in einen Seſſel. 

„Ich unglückliche Frau!“ rief ſie ein über das andere Mal. „Womit habe 
ich verdient, daß ich einen ſo ungeratenen Sohn habe!“ 

Peter ſuchte ſie zu beruhigen, aber ſie jammerte und tobte ſo lange, bis ſich 
ein Häuflein Nachbarn vor dem Hauſe verſammelte. 

„Nanu, bei denen geht's ja alleweil bunt zu“, ſagten ſie. „Welche Maus hat 
denn da den Speck gefreſſen?“ 

Von dem Tage an widerhallte das alte Haus in der Hühnergaſſe oft von 
heftigem Wortwechſel. Aber Peter blieb ſtandhaft. Als ſchließlich Frau Kleinholz 
bat, er ſolle das Verhältnis mit der Bürgermeiſterstochter wenigſtens bis nach der 
Wahl beſtehen laſſen, damit er die Roßbachſche Sippe nicht gegen ſich aufbringe, 
erklärte er, es fei gut, daß ihn die Mutter darauf aufmerkſam gemacht habe, wo- 
durch er es vermeiden könne, in den Ruf eines infamen Stellenjägers zu kommen. 
Er werde nunmehr ſeine Verlobung mit dem Ammele öffentlich bekanntmachen. 

Frau Kleinholz redete von da an kein Wort mehr. 

Das Ammele hatte das alte Haus verlaſſen, Peter batte es bei einer weit- 
läufigen Verwandten feines Vaters untergebracht, der das Leben ſelbſt hart mit- 
geſpielt batte und die daher zum Mitleid mit Unglücklichen neigte. Sie war zu- 
dem der Mutter Peters wenig grün, die ſich von jeher als eine Perſon aufſpielte, 
die nach Rang und Reputation hoch über anderen ſtand, und namentlich die ärmere 
Verwandtſchaft ihres Mannes über die Schultern anguckte. Sooft Fräulein Babette 
in die Stadt ging, vermied fie es möglichſt, an dem Kleinholzſchen Haufe vorbei- 
zugehen; ließ fic) das nicht vermeiden, fo ging fie wenigſtens kurz vor dem alter- 
tümlichen Haus auf die andere Seite hinüber und betrachtete angelegentlichſt die 
Blumenſtöcke, die vor den Fenſtern der Häufer ftanden, deren grau und weiß an- 
geſtrichene Wände ihre bauſchigen Röcke ſtreiften, damit fie nicht in die Not- 
wendigkeit verſetzt wurde, der Frau Kleinholz zuzunicken, wenn ſie hinter den 
Scheiben ſaß. 

Der guten alten Jungfer tat es wohl, daß fie ber hochnäſigen Bürgermeifters- 
witwe einen kleinen Ärger bereiten konnte, indem fie dem Ammele Unterſchlupf 
gewährte. Fräulein Babette beſaß am Ende der Hühnergafje ein kleines Anweſen 
mit einem Obſtgarten, der ſich ebenfalls bis zum Main hinunterzog. Wie alle 
Gärten der Hühnergaſſe batte auch dieſer einen Ausgang nach den Wainwieſen, 
und fo konnten fich Peter und Ammele, ohne Aufſehen zu erregen, treffen. Geben 
Abend, wenn die Magd, die an Ammeles Stelle getreten war, den Tiſch abräumte 
und die Mutter fid) verdroſſen in ihre Schlafſtube zurückzog, ging er durch den Gar- 
ten nach den Wiefen, wo er bereits von dem Mädchen erwartet wurde. Arm in 
Arm gingen ſie dann den Wieſenſtreifen auf und ab, ſich im Schatten des Gebüſches 
haltend, das den Fluß einſäumte. Wenn jemand auf dem Pfade vorüberging, 
dann drückten fie fid) tiefer in das Gebüfch und hielten den Atem an, um nicht be- 
merkt zu werden. 

So vergingen einige Wochen. Zur öffentlichen Bekanntgabe feiner Ber- 
lobun g mit dem Ammele hatte ſich Peter doch nicht entſchließen können, es ſteckte 
immer noch etwas in ihm von dem alten, gutgezogenen Mutterſohn, der ſich ſcheute, 


Olefendach: Peter Nlelnholz 567 


etwas auf eigene Verantwortung zu tun. Aber er blickte ſtolzer um ſich, wenn er 
über die Straße ging, trat im amtlichen Verkehr entſchiedener auf und gewann 
ſich dadurch zu den alten Freundſchaften einige neue. Viele von jenen, denen er 
vordem zu wäſſerig war, bemerkten wohlgefällig die Veränderung, die fid) mit ihm 
vollzogen batte, und kein Menſch zweifelte daran, daß Peter Kleinholz Bürger- 
meiſter werde, als ſeine eigne Mutter, die nicht mehr vor die Türe ging, ſondern 
gebückt in ihrem Sorgenſtuhl ſaß und mit trüben Augen durch das Pachthofgäßchen 
nach dem Rathaus blickte, von dem ſie nichts mehr erwartete. Jeden Verſuch 
Peters, ſie mit dem Ammele zu verſöhnen, wies ſie hartnäckig zurück. 

„Laß mich in Ruh'! Wenn ich nicht mehr bin, kannſt du machen, was du 
willſt. Du wirſt nicht mehr lange darauf zu warten brauchen!“ ſagte ſie eines 
Abends. 

Peter, der feit feinem Verkehr mit dem Ammele die Mutter nur vorüber- 
gehend ſah und im ſiebenten Himmel ſeines Liebesglückes ſchwebte, wurde durch 
dieſe reſignierte Außerung auf die Erde zurückgeriſſen, und zum erſtenmal wurde 
er gewahr, daß die Mutter in den letzten Wochen um Jahre gealtert war. Ihr 
Geſicht war noch bleicher als ſonſt, die Naſe war ſpitzer geworden, und in den 
Wundwinkeln hatten fich jene Falten gebildet, mit denen fid Kummer und Gor- 
gen in ein Geſicht einzuzeichnen pflegen. Die alte Frau machte einen hinfälligen 
Eindruck, und als ſie jetzt aufſtand und nach ihrer Schlafſtube ging, ſah er mit 
Schrecken, daß ihr auch das Gehen ſchwer fiel. Die Tränen traten ihm bei dieſem 
Anblick in die Augen; er ſprang auf, eilte ihr nach und ſchlang die Arme um ſie. 

„Mutter, du wirſt mir doch um Gottes willen keine Geſchichten machen!“ 
rief Peter. 

Sie aber riß ſich los und eilte in ihre Schlafſtube. Peter hörte, wie ſie ſich 
ins Bett legte, leiſe ihr Abendgebet ſprach, und dann war es ihm, als höre er ſie 
ſchluchzen. Peter Kleinholz ſetzte ſich an den Tiſch und ſtützte den Kopf in die Hände. 
An dieſem Abend erwartete ihn das Ammele zum erſtenmal vergebens auf dem 
Wieſenſtreifen hinter den Gärten. 

Am nächſten Morgen ſtand Peter eine Stunde vor der Zeit auf. Die Mutter 
lag noch im Bett. Er begab ſich auf den Pfad hinaus und ging langſam bis zu dem 
Garten des Fräulein Babette. Dort blieb er am Zaun ſtehen und ſchaute eine 
Zeitlang auf das kleine Haus, dann wandte er ſich ſeufzend ab und ging heim. 

Der Kaffee ſtand (don auf dem Sijd, als er in die Wohnſtube trat. 

„Schläft meine Mutter noch?“ fragte Peter die Magd. 

„Ich habe ſie noch nicht geſehen“, ſagte das Mädchen. 

Peter Kleinholz ließ den Kopf hängen, als er, ohne die Mutter geſehen zu 
haben, durch das Pachthofgäßchen nach dem Rathaus ging. Den Spazierſtock, 
mit dem er in der letzten Zeit gerne beim Gehen ſpielte, hielt er ruhig in der Hand. 
In ſeiner Schreibſtube angekommen ſtellte er ſich ans Fenſter und ſchaute in die 
Hühnergaſſe. Es war ein trüber Tag, der Nebel ſtand in dem Pachthofgäßchen 
und verdeckte die Faſſade des alten Hauſes mit einem grauen Schleier. Die Läden 
der Schlafſtube ſeiner Mutter waren geſchloſſen, und das geöffnete Fenſter ſeines 
im Oberſtock liegenden Zimmers blickte hohl und ſchwarz durch die dünne graue 


568 Dicfendagh: Peter fleinfols 


Nebelſchicht. Wie anders war das Bild damals, als bas Ammele aus dem Tor 
auf die ſonnenhelle Straße trat! Damals ſchien es, als wolle ſich das junge Leben 
freundlich an dem alten Haus emporranken und es verſchönern, und heute ſah es 
aus, als rüſte es fid) auf ein Leichenbegängnis. 

Peter Kleinholz glaubte die Mutter durch die geſchloſſenen Fenſterläden þin- 
durch in ihrem Bett liegen zu ſehen, matt und elend. 

„Wenn ich nicht mehr bin, kannſt du machen, was du willſt. Du wirſt nicht 
mehr lange darauf zu warten brauchen.“ 

Dieſe Worte hatten ihn getroffen. Der hochfahrenden Mutter konnte er die 
Stirne bieten, dazu war er durch feine Liebe zu dem Ammele ſtark genug gewor- 
den, der kranken Mutter gegenüber war er hilflos wie früher. 

Eine halbe Stunde mochte er in trübem Nachſinnen und Vorwürfen, die 
freilich unverdient waren, am Fenſter geſtanden und auf das Haus geblickt haben, 
als deſſen Tor geöffnet wurde und die Magd auf der Gaſſe erſchien. Sie kam 
ſchnellen Schrittes auf das Rathaus zu und ſtand gleich darauf vor Peter. 

„Sie kommt der Mutter wegen!“ dachte Peter. Und es war ſo. 

Die Frau Bürgermeiſter liege immer noch im Bett, und ſie ſei ſehr ſchwach, 
berichtete die Magd. Sie blicke immer nad) der Dede und ſpreche allerlei unver- 
ſtändliches Zeug. Peter möge doch gleich einmal heimkommen. 

Peter ſchickte die Magd zum Arzt und eilte heim. Frau Kleinholz erkannte 
ihn nicht mehr, ſie öffnete die Augen, als er ſich weinend über ſie beugte, ſchloß 
ſie aber gleich wieder und flüſterte, indem ſie mit den Händen unruhig über die 
Bettdecke hin und her fuhr: „Nehmt das Schild weg, es glänzt ſo arg, die Augen 
tun mir weh. Bürgermeiſter wird er ja doch nicht.“ 

Der Arzt konnte nichts machen. „Ruhe und kalte Aufſchläge find das einzige, 
was helfen kann“, ſagte er. 

Eine Zeitlang blieb der Zuſtand der Kranken unverändert. Das Ammele 
ließ anfragen, ob es ſich nicht nützlich machen könne, Peter aber ließ antworten, 
es wäre beſſer, wenn es ſich vorderhand etwas fernhalte, die Mutter müſſe vor 
jeder Aufregung bewahrt bleiben. Fräulein Lina Roßbach, die ſich immer noch 
als ſeine Verlobte betrachtete, ging ab und zu. Sie bemühte ſich fleißig um die 
Kranke und nahm auch die Zügel des Hausweſens in die Hände. Peter ließ fie 
gewähren. 

„Sie können Gott danken, daß Ihnen Fhre Verlobte in dieſer Zeit jo treu 
zur Seite ſteht“, ſagte der Arzt zu ihm. „Fräulein Roßbach ift die geborene Kranken- 
pflegerin. Ich habe die befte Hoffnung, daß wir beide Ihre Frau Mutter durch- 
bringen.“ 

Von da an blickte Peter nicht nur auf das leidende Geſicht der Mutter, fon- 
dern auch ein wenig auf die Pflegerin. Aber er konnte es nicht verhindern, daß 
(eine Gedanken das Ammele an ihre Stelle ſetzten und trotz ber Verdienſte Fräu- 
lein Roßbachs keck behaupteten, das Ammele würde auch die Rolle einer barm- 
herzigen Schweſter beſſer ausfüllen als die Bürgermeiſterstochter. Doch war er 
freundlicher zu Fräulein Lina, die im ganzen Städtchen als das Muſter eines 
braven Mädchens geprieſen wurde. 


Oiefenbach: Peter Meinholz 569 


Nach einer Woche kehrte der Kranken das Bewußtſein zurück. Es machte ihr 
ſichtlich Freude, die Tochter des Bürgermeiſters und ihren Sohn an ihrem Lager 
zu ſehen. In der Gegenwart des Arztes und des geiſtlichen Rates, der ihr einen 
Beſuch abſtattete, legte ſie die Hände der jungen Leute ineinander und flüſterte: 
„Vielleicht kann ich doch noch auf eurer Hochzeit ſein.“ 

„Wenn Ihnen die Pflegerin treu bleibt, dann hoffe ich das Beſte“, ſagte 
der Arzt. 

„Gott wird Sie in Ihren Kindern glücklich machen“, meinte der Geiſtliche. 

Peter bückte ſich über die Mutter und küßte ſie auf die Stirn. 

Drei Tage ſpäter war Frau Kleinholz tot. 

Als ſie begraben war, kehrte Peter Kleinholz allein in das altertümliche Haus 
zurück. Der erſte Schnee fiel und legte ſich auf die hohen Dächer und die breiten 
Fenſterbänke. Im Ofen praſſelte ein Holzfeuer, und auf dem Tiſch ſtand der 
Kaffee, den die Magd beſonders ſtark gekocht hatte. 

Peter ſetzte ſich auf das Sofa und ſchaute auf die Bilder von Vater und 
Mutter, die ihm gegenüber an der Wand hingen zwiſchen dem Uhrkaſten und dem 
Bücherbrettchen. Der Vater hatte ein breites, gutmütiges Geſicht und blickte ihn 
freundlich an. Die Augen der Mutter aber ruhten ſtreng auf ihm. „Du mußt!“ 
ſagten ſie. 

„Natürlich muß ich!“ ſagte er fich ſelbſt. „Hat nicht der Pfarrer auf dem Kirch- 
hof mich mit der Liebe einer treuen Verlobten getröſtet? Habe ich nicht die ganze 
Zeit her ſtillſchweigend zugegeben, daß ich gewillt ſei, Fräulein Lina zu heiraten? 
Was bleibt mir denn da anders zu tun übrig? Ich muß!“ 

Er hatte das Ammele ſeit der Erkrankung der Mutter nicht geſehen. 

„O Gott, das Ammele!“ 

Peter Kleinholz vergaß den Kaffee und vergaß die tote Mutter ſamt ſeiner 
Verlobten. Er ließ jede Stunde, die er in der Nähe Ammeles verlebt hatte, an 
ſich vorüberziehen. Es war ein Feſtzug im Sonnenſchein, und am Wege blühten 
Blumen und Bäume. Der Kaffee wurde kalt, und die Dämmerung füllte die 
Stube mit ihren Schatten, und noch immer ſaß Peter auf dem Sofa und ſchaute 
träumend und lächelnd vor ſich hin. 

Als die Feierabendglocken läuteten, ſprang er auf, ſtrich ſich über die Stirne 
und ſchaute ſich um. 

Ach fo! Der Schnee breitete feine weiße Dede zum erſtenmal über die letzte 
Ruheſtätte der Mutter, und im Roßbachſchen Haufe wurde er zum Nachteſſen er- 
wartet. 

„Nein, ſagte er, „ich gehe nicht hin!“ 

Das Kaminfeuer zog einen breiten, fladernden Streifen Licht über den 
Fußboden und die Wand hinauf. Der helle Streifen legte ſich über das Bild des 
Bürgermeiſters Kleinholz, während das der Mutter im Schatten hing. Peter be- 
trachtete einen Augenblick das vom zitternden warmen Scheine des Ofenfeuers 
belebte Bild ſeines Vaters. Ä 

„Ich muß nicht!“ rief er dann. „Vater, dein Sohn foll glücklicher werden, 
als du es geweſen biſt!“ 

Ser Türmer XV, 4 38 


570 Gerhardt-Amyntor: Gfofjen 


Er fette den Hut auf und ging bie Hühnergaſſe hinab bis zum letzten Haus, 
wo Fräulein Babette wohnte. Eine Minute noch blieb er auf der Gaſſe ſtehen, 
dann legte er die Hand auf die Klinke der Haustüre und trat ein. 

Am nächſten Tag zog Peter Kleinholz ſeine Bewerbung um den Bürger- 
meiſterpoſten zurück. An Fräulein Roßbach ſchickte er ein herzliches Dankſchreiben 
für die ſeiner Mutter gewidmete Pflege; gleichzeitig teilte er mit, daß er aus trif- 
tigen Gründen im voraus auf das Bürgermeiſteramt verzichtet habe. Die poft- 
wendend eingegangene Antwort lautete: er werde es der Unterzeichneten nicht 
verdenken, wenn fie es unter dieſen Umftänden vorziehe, auch ihre Verlobung im 
voraus als aufgehoben zu betrachten. 

Das glänzende Meſſingſchildchen neben dem Tor an der Ecke des alten Hauſes 
in der Hühnergaſſe machte einem beſcheidenen Porzellanſchildchen Platz, darauf 
ſtand weiter nichts als: Peter Kleinholz. 


Gloſſen . Bon Dagobert von Gerhardt⸗Amyntor T 


Es ijt traurig und beſchämend, daß es noch konfeſſionelle Gegenſätze gibt. Jedes foge- 
nannte Bekenntnis beſteht aus Symbolen für das Unerkennbare und Unausſprechliche. Weder 
in den Wolken noch in den Sternen und Milchſtraßen wirft du je Gott finden; immer nur 
wirſt du ahnen, daß er in deiner eigenen Bruſt lebt. 

* 

Er ijt ein ſchlechter Menſch! Das follte man von keinem (agen, auch nicht von dem, 

den man als ſchlechten Menſchen erkannt zu haben glaubt, denn nie iſt bei ſolchem Urteil der 


Irrtum ausgeſchloſſen. 
* 


Maß halten im Eſſen und Trinken ijt eine aller Welt bekannte gute Regel. Daß man 
aber auch in Liebe und Haß, im Begehren und Fürchten Maß halten ſoll, das wiſſen die 
wenigſten, und doch iſt es weit wichtiger, als die Befolgung jener Allerweltsvorſchrift. 

* 

Sedes Sprichwort ijt nur teilweiſe richtig, jede Wahrheit birgt einen polaren Gegenſatz. 
Der Denter, der dies vergißt, wird zum Nbinogeros, das niemals feine Überzeugungen 
umdenkt. 

* 


Für eine gute Tat werden dir taufend Sünden vergeben. Su einer guten Tat gehört 
aber unerläßlich ein Stück Selbſtaufopferung. 


! " 


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Die Albaner 


Wie Albaner, bas perverſeſte und nublofefte Volk der Erde, gingen von der Hand 
7 des einen Defpoten in die eines anderen über, und fie verleugneten ihre Herren 
` AG dreimal am gleichen Sonntag“ — derart lautet das nicht febr ſchmeichelhafte Urteil 
eines der großen Geſchichtſchreiber von Byzanz. Heute ſteht dies kleine Hirten- und Räuber 
volk wiederum im Brennpunkt des europäͤiſchen Intereſſes. Es mag deshalb eine kurze Cha- 
rakteriſtik der Albaner, geſtützt auf einen Aufenthalt des Schreibers dieſer Zeilen in Albanien 
ſelber, gegeben werden, wobei beſonders derjenigen Geſchichte Albaniens gedacht werden 
ſoll, die mit der unſrigen, wenn auch loſe, verknüpft iſt. 

Daß die Albaner trotz dreiteiliger Sprach- und Glaubensſpaltung eine ethnographiſche 
Einheit darſtellen, geſtehen ihnen alle Forſcher dieſes ſeltſamen Landes zu, das kaum mehr 
gekannt iſt, als ein Gebiet des zentralen Afrika oder Auſtralien. Der Eindruck der Natur 
Albaniens felber iſt furchtbar in ihrer wilden Grauſamkeit und Ode; ſteil abfallende Felfen- 
gebirge, weite, von keinem Halm belebte „Teufelsäcker“, auf denen nichts zu wachſen ſcheint, 
als Steine; niedrige, wie tückiſche Tiere zu Boden gebudte Wohnſtätten, derart ſtellt fie fid) dar. 
Uber die Geſchichte der Albaner find wir trotz der reichen, aber meiſt von keiner Land- und 
Leutekenntnis charakteriſierten Literatur nur febr mangelhaft unterrichtet. „Die Dunkelheit, 
die die Albaner umhüllt,“ ſchreibt ein Hiſtoriker, „iſt ſo tief, daß man weder hervorragende 
Geſtalten noch Epochen unterſcheiden kann; Generation folgt auf Generation, ohne eine Spur 
ihres Schrittes zu hinterlaſſen. Sie ſcheinen in die Weltgeſchichte eingetreten zu ſein ohne 
jeden erkennbaren Zweck und ohne Ziel, die Erde als Söldner durchlaufend, und mit der gleichen 
Anbekümmertheit bald dem Kreuz, bald dem Halbmond dienend.“ Ganz fo ſchlimm ift es 
doch nicht. Die Albaner haben ihren großen Nationalhelden Scanderbeg in früherer und 
Ali Paſcha von Janina ſowie Muſtapha Paſcha Buſchatli in neuerer Zeit, wenn es dieſen 
auch weniger um ihre Heimat als darum zu tun war, ſich aus dem bunten Gewand des Kalifen 
am Goldenen Horn einen eigenen Herrſchermantel herauszuſchneiden. 

Man wirft den Albanern vor allem ihre Treuloſigkeit, Grauſamkeit, Falſchheit und 
Kulturloſigkeit vor. Dieſe Vorwürfe mögen berechtigt ſein, doch darf man fragen, von wem 
dieſes in ſeiner Heimat wie gefangen gehaltene Volk eine Kultur hätte beziehen ſollen. Die 
Römer drangen nie in das eigentliche Innere dieſer natürlichen Feſtung vor, ſondern begnügten 
ſich mit dem Schutz der Via Egnatia, die im Altertum als der Verkehrsweg zwiſchen Weft- 
und Oſtrom etwa die gleiche Rolle ſpielte, wie die heutige Orientexpreß- Linie für das Abend- 
und das Morgenland. Die Kreuzfahrer lehrten den Albanern, daß man ſeinen Mitmenſchen 
nie gerechtfertigter abſchlachtet, als ad majorem Dei gloriam. Die Nachkommen des an Ränken 


572 Die Albaner 


und Lügen überreichen Alyſſes wurden ihnen zu unübertreffliden Vorbildern im Schwindeln, 
Betrügen und in der Falſchheit. Der Türke flößte dem Albaner feinen Fanatismus und feinen 
die Kultur tötenden Fatalismus ein; und der Bulgare und Serbe gaben das Beiſpiel im 
Maſſenmord. Für die Gier nach Gold, die alles heiligt und mit ein Charakterzug der Albaner 
wurde, iſt Venedig verantwortlich zu machen, das als Republik nach dem Golde allein ſtrebte 
und am Golde ſtarb. Daß die Religion dem Albaner zum bloßen Worte wurde, mag daraus 
zu erklären ſein, daß ſeine Heimat von jeher ein Kampfplatz der verſchiedenſten Glauben und 
deren Miſſionare war. Die Griechen tauften die Albaner zu orthodoxen Chriſten. Seanderbeg 
ſelber, der Nationalheld, trat zur katholiſchen Kirche aus den gleichen Motiven über, wie Chlodo- 
wech der Frankenkönig, nämlich der Anterſtützung des Papſttums wegen; auch als Chriſt 
hauſte Scanderbeg ebenſo unmenſchlich wie Chlodwig, den ſeine Taufe nicht von allen 
Greueltaten und der meuchelmörderiſchen Ausrottung feiner Verwandten abhielt. Nach dem 
Fall von Konſtantinopel wurde der Albaner zum Muſelman und zum Apoſtel des Propheten, 
indem er die Serben um Skutari herum, der Königsſtadt Altſerbiens, mittels Feuer und Schwert 
bekehrte. Heute ſtreiten fih der öſterreichiſche Franziskaner und der italieniſche gefuit um 
das albaniſche Seelenheil, beiderſeitig unterſtützt von ihren Konſuln; ba Öfterreich aber mehr 
Geld hierzu zur Verfügung ftellt, als das antiklerikale Italien, fallen dem Franziskaner mehr 
Ruhm und mehr bekehrte Muſelmänner zu. Daß hier bie politiſchen Erwägungen ausfdlag- 
gebend find, ijt jedem klar, der ſchon mit eigenen Augen die Art und Weiſe dieſer Konkurrenz- 
miſſionstätigkeit fab; am klarſten aber iſt es dem Albaner ſelber. Ein großes Hindernis fiir 
ein Eindringen europäiſcher Kultur in dieſes Gebirgsland ift der Umſtand, daß der Albaner 
Analphabet aus dem einfachen Grunde iſt, weil es ein albaniſches Alphabet nicht gibt. Nun 
wollten ihm der Grieche von jeher fein griechiſches, der Türke fein türkifches und der Miſſionar 
fein lateiniſches Alphabet aufdrängen; der Albaner zog es bis heute vor, auf alle drei zu ver- 
zichten in der Hoffnung, es zu einer eigenen Schriftſprache zu bringen. Gänzlich uneinig iſt 
man über die bedeutende Frage, wo eigentlich Albanien beginnt und wo es aufhört; hier 
wird die europäifche Diplomatie in naher Zukunft eine harte Nuß zu knacken haben. Wenig 
bekannt wird es ſein, daß etwa 200 000 Albaner in Mittelitalien leben, wohin ſie ſich Mitte 
des fünfzehnten und achtzehnten Jahrhunderts flüchteten und wo fie ihre Eigenart zu be- 
wahren wußten. Auch gibt es in Rumänien, in Sſterreich natürlich, dieſem k. k. Penſionat 
für junge Völker, in Agypten und neuerdings in New York ziemlich viele Albaner; diefe Diaſpora 
ijt für die Heimat febr wertvoll, da fie ihr große Geldſummen zur Verfügung ſtellt, um die 
Autonomie Albaniens zu wahren — einer der ſchönen Charakterzüge des Albaners. Wenn 
heute der Serbe von ſeinem kulturellen und traditionellen Anrecht auf Albanien ſpricht, ſo 
find dies leere Worte. Wohl war Skutari die Hauptſtadt Alt- Serbiens im elften Jahrhundert 
und Janina der Sitz eines ſerbiſchen Herzogs; anſtatt aber die Albaner zu ſerbiſieren, albani- 
ſierten dieſe die Serben. Von der ganzen jetzt ſo viel beſchrieenen ſerbiſchen Kultur in Albanien 
ijt nichts zu finden, als wenige Worte, wie z. B. das „Woiwode“, bas als Wort für den alba- 
niſchen Häuptling gebraucht wird und rein flavifchen Urfprunges fein foll. Albanien mit feiner 
Bevölkerung, deren Sitten zugleich an den Korſikaner mit ſeiner Vendetta und die Clans der 
blutgetränkten Heide Schottlands erinnern, iſt hinſichtlich der Kultur faſt ein unbeſchriebenes 
Blatt geblieben, mit wenigen, faſt verwiſchten Schriftzügen, die niemand entziffern kann 
und die niemandem das leiſeſte Anrecht auf dieſes Volk geben. Entgegen der von gewiſſer 
Seite aus erhobenen Behauptung, den Albanern fehle das Nationalgefuͤhl, kann nie ſcharf 
genug betont werden, daß der Albaner fid) durchaus als folder und nur als folder fühlte 
und heute mehr denn je fühlt, daß dieſes ſtolze Gefühl fogar der erſte und der dauernde Ein- 
druck jedes Fremden ijt, der Albanien längere Zeit bereiſt hat. Man betreibt heute ja Schlag 
wort-Geſchichte, eine ziemlich fragwürdige Geſchichte; doch ijt das „der Balkan den Baltan- 
ſtaaten“ weder bei dem Serben noch dem Bulgaren oder Montenegriner ſo berechtigt, wie 


Ole Albaner 573 


bei dem Albaner, durch deffen verworrene Geſchichte fih der Kampf um die Unabhängigkeit 
nach allen Seiten hin, auch nach Stambul, wie ein roter Faden hindurchzieht; ein blutroter 
Faden übrigens. 

Die Idee einer vollkommenen Autonomie konnte dem von ſeiner Kulturloſigkeit und 
ſeinem Hochgebirge umfangenen albaniſchen Häuptling, Banditen und Bauern nie kommen; 
ſie wurde durch die im Ausland lebenden Albaner propagiert und in der Heimat ſelber als 
die Botſchaft gepredigt und raſch als Evangelium anerkannt. Doch iſt die berühmte und be- 
rüchtigte albaniſche Liga das Werk Abdul Hamids, des roten Sultans, der nach dem Frieden 
von San Stefano famtlice albaniſchen Häuptlinge zu fih nach Stambul berief, fie dort mit 
Gold und Titeln überjchüttete und ihr Anabhängigkeitsgefuͤhl gegen Montenegro und Serbien 
mobiliſierte, ihnen dabei die Autonomie als Lockmittel vorhaltend. Der Albaner iſt aber nicht 
nur, wie man einſeitig behauptet, ein Straßenräuber, ſondern auch ein Bauer und mit einem 
vollgerüttelten Maß von jener Pfiffigkeit begabt, die eine Eigenſchaft des echten Bauers iſt. 
Er ging auf die Vorſchläge Abdul Hamids ein mit dem Hintergedanken, aus der Autonomie 
die nationale Selbſtändigkeit zu ſchaffen. Die in Prizrend ſtattfindende Tagung endete, wie 
alle Tagungen, mit einer Nefolution, in der wir alle jene Züge wiederfinden, die heute das 
Programm Albaniens bilden. Kein Fußbreit albaniſchen Bodens follte dem Serben, Monte- 
negriner oder Griechen abgetreten, dagegen alles von dieſen beſetzte albaniſche Land den 
Albanern zurüderftattet werden; ein Vorſtelligwerden am Berliner Kongreß wie an allen 
Höfen Europas wurde beſchloſſen; Albanien follte feine eigene, von der Türkei losgelöſte, 
zivile und militäriſche Behörde haben, von Steuern und Dienſtpflicht befreit ſein, uſw. Dieſe 
Refolution wurde von, wie man ſagt, vier- bis fünftauſend Unterſchriften gezeichnet; ob hier 
der Halbmond oder das Kreuz dienten, weiß der Schreiber dieſer Zeilen nicht. Nachdem Abdul 
Hamid Kenntnis von dieſem politiſchen „Inſtrument“ genommen batte, gab er den beiden 
Abgeordneten Vreto und Freſchari auf ihren Weg nach dem Berliner Kongreß feinen Segen 
und folgende Weiſung wortwörtlich mit: „Verſtehet ein für allemal, daß ihr in Allahs Hand 
ſeid und der meinigen. Verſammelt alle bei euch, die nur ein Gewehr tragen können, in vollen 
Haufen und verteidigt eure Heimat. Gebt das Spiel ſelbſt dann nicht auf, wenn ich euch das 
Gegenteil befehle.“ 

Wreto und Freſchari wurden in Berlin ſowohl von Bismarck, wie Lord Beacons- 
field, dem Ritter mancher verlorenen Sachen, und pon C rif p i empfangen; fie beſchworen 
die Staatsmänner, ihre „junge und fo edle Nation“ doch nicht dem Serben, Montenegriner 
oder Griechen preiszugeben, ſondern für deren volle Unabhängigkeit einzutreten — was alſo 
den direkten Verrat an dem Sultan bedeutete. Welche Antwort Bismarck den beiden Häupt- 
lingen gab, weiß man nicht; doch wird man wohl nicht fehlgehen, falls man das bekannte 
Wort Bismarcks von den „Knochen des pommerſchen Grenadiers“ auf die Zeit dieſes Beſuches 
zuruͤckdatiert. Abdul Hamid ſteckte die beiden Herren nach ihrer Rückkehr der allzu ſtark be- 
tonten Anabhängigkeitsgelüſte wegen ins Gefängnis. Darauf ſchickte der Sultan Mehmed 
Ali nach Prizrend, um den Albanern offiziell das Sichſchicken in die Beſchlüſſe des Berliner 
Kongreſſes zu empfehlen; insgeheim forderte er fie aber zum Widerſtand bis aufs Meffer auf. 
Dem Abgeſandten Abdul Hamids bekam diefe Doppelpolitik ſchlecht, er wurde von den nur 
pfiffigen aber nicht genug ſchlauen Albanern lebendig verbrannt. Damals ſchon fühlten ſich 
dieſe völlig unabhängig und ließen ihre Wut über das, was ſie den „Verrat“ des Sultans 
nannten, an beffen Botſchafter aus. Der Krieg zwiſchen den türkiſchen Truppen und den 
rebelliſchen Untertanen zog ſich unter gegenſeitigem Ohrenabſchneiden, Verbrennen und mit 
allen fünjten der Beſtechung jahrelang hin; beſonders ſchlecht ging es zeitweiſe ben chriftlichen 
Albanern, die man als verkappte Italiener und Öfterreicher anſah und maſſakrierte. Zwifchen- 
drin gab es wiederum mit türkiſchem Gold erlangte Pauſen. Wenn der Sultan aber mit ſeinem 
Gelbe zu Ende war, brachen die Feindſeligkeiten von neuem los. Intereſſant ijt es, daß fic 


574 Die Albaner 


internationale Abenteurer, denen der Sinn nach Krone und Szepter ftanb, diefe Wirren zu- 
nutzen machen und ein albaniſches Fürftentum zu gründen ſuchten. Sowie aber deren Geld 
verſiegte, war es auch mit dieſen Hoffnungen aus; die Albaner entwickelten auch im großen 
eine hohe Technik im Beutelſchneiden, die keine Grenze mehr kannte und die Prätendenten 
ſowohl in Bukareſt wie in Rom oder Spanien zu erleichtern wußte. Daß den Albanern die 
Beſchluͤſſe des Berliner Kongreſſes Hekuba blieben, ift bekannt. Montenegro z. B. war das 
Anrecht auf Guffinyal, einem in Albanien liegenden Gebiet, zugeſtanden worden. Aber trotz 
der „Mahnungen“ Abdul Hamids und trotz des vielen Pulvers und Bleis der Söhne der 
ſchwarzen Berge vermochten diefe es nie, Guſſinval wirklich zu beſetzen, obwohl feine Grenzen 
zum großen Teil von montenegriniſchem Territorium umgeben waren. Man kann ſich hiernach 
den Eindruck eines etwaigen Druckes Europas auf Albanien vorſtellen. 

Der Freudentaumel über bie jungtürkiſche Ara dauerte nicht lange; nach und nach 
wob bie Zeit um das Haupt des gleichen Abdul Hamid, gegen den man immer gekämpft hatte, 
bie ſanfte Gloriole des „Vaters“, des Vertreters der guten alten Zeit, die nun jungtuͤrkiſchem 
und allahloſem Deſpotismus zum Opfer falle. Die Chriſten ſollten als gleichwertig anerkannt 
werden; der Serbe ſollte nicht nur zu Roß und mit der Zigarette im Mund durch ein alba- 
niſches Dorf reiten, ſondern auch ſeinen Schnurrbart herausfordernd nach oben gezwirbelt 
tragen dürfen, anſtatt ihn als Symbol der Demut und der Antertänigkeit nach unten hängen 
zu laffen; der Sungtürte trank in aller Öffentlichkeit, um feinen fortſchrittlichen Sinn zu be- 
weiſen, ſchlechte Schnäpfe und Wein und liebäugelte mit der vorhandenen Weiblichkeit; der 
Kalif ſoll, ſo murmelte man mit Entſetzen, ſogar mit einer Chriſtin ausgefahren ſein und ihr 
vor aller Augen die Hand gekuͤßt haben (der Königin von Bulgarien); und Serbe wie Monte- 
negriner behingen ſich von nun an mit ebenſoviel Schießgewehr, wie der Albaner ſelber! 
Sehr unklug von den Jungtuͤrken war es ferner, den verſchiedenen Häuptlingen ihre von Abdul 
Hamid gewährten Penſionen zu entziehen. Während ber rühmlich bekannte Zifa Bolietinatz, 
der glorreichſte Straßenräuber unſerer Zeit, vom alten Sultan zum Brigadegeneral und ſein 
Spieß und Galgengeſelle Diakowatz zum Oberſt ernannt worden waren, ſchickte das jung- 
türtiiche Regime den Albanern Leute ins Land, die für derartige durch Herkommen und Brauch 
geheiligte Verhältniſſe wenig Verſtändnis erwieſen. Auch vom Steuernbezahlen wollten die 
Albaner nichts wiſſen, und ſo zahlten ſie auch nichts. 

Zn Albanien war die dort immer kochende Volksſeele raſch zum Überſchäumen ge- 
langt, das fih anfangs nur in Einzelheiten offenbarte. Als z. B. der türkiſche Offizier in den 
Bezirken Zpet und Oiakowitza die Rekruten ausheben wollte, ſchickten ihm die Albaner insgefamt 
drei Mann für beide Bezirke; es waren drei Zigeuner. Die Sungtürten zogen raſch andere 
Saiten auf und ſchickten den rüdfichtslofen Draufgänger Djavid Paſcha mit Heeresmacht aus, 
um die Rebellen zu zuͤchtigen. Es foll hierbei nicht nur gewaltſam vorgegangen, ſondern febr 
viel vergewaltigt worden fein, fo daß fid) die Albaner mit Grauſen in ihre Felſenneſter zurück- 
zogen. Konſtantinopel machte hierauf den Fehler, Djavid Paſcha zurüdzuberufen — den 
einzigen Türken, der den Albanern imponiert hatte... Hierauf brach die Empörung von 
neuem aus, die nach einigen weiteren ungeſchickten Maßnahmen der Zungtürten raſch all- 
gemein wurde. Mahmud Schefket Paſcha, der damalige Kriegsminiſter, leitete perſönlich 
die Unterdrückung der Revolte an der Spitze von 35 000 Mann und ſtarker Artillerie. Von 
innen heraus angegriffen, wußte die jungtuͤrkiſche Regierung aber keinen einzigen Schritt zu 
vollenden; die Albaner, von hier nicht näher zu nennenden Mächten mit Geld und Waffen 
unterſtützt, gewannen mehr und mehr Mut, und es mag bezweifelt werden, ob es der Türkei 
je gelungen ware, Albanien im Sinne einer dem Geſamtorganismus des Reiches angehörenden 
Provinz umzuwandeln. 

Trotz dieſes Rampfes bes Muſelmanen gegen ben Muſelman war Albanien die maͤchtigſte 
Stüße der europäiſchen Pforte. Daß dieſes Land ſelbſt die fo fiktive Abhängigkeit von dem 


Die Nabitzwand 575 


gleihgläubigen Türken nicht ertrug, follte allen denen zu denken geben, bie es nun einem 
andersglaͤubigen Reiche einverleibt zu feben wünſchen. Ein wirkliches „Albanien den Albanern“ 
iſt nicht nur ein Schlagwort, ſondern eine Garantie für ganz Europa, das bis jetzt weniger 
vom Albaner als unter dem ſtillen und verbiſſenen Kampfe anderer Staaten um die „Durch- 
dringung“ und „Kultivierung“ dieſes Landes zu leiden hatte. Ein vollkommen ſelbſtändiges 
Albanien bedeutete einen Zankapfel weniger. Dr. M. Ritzenthaler 


2 
Die Rabitzwand 


inen prunkvollen Sheaterpalaft mit ragenden Türmen und Zinnen hatte im Jahre 
1895 der Berliner Baumeiſter Bernhard Gehring in der Kantſtraße in Char- 

WP) fottenburg in der Nähe bes Zoologiſchen Gartens und der Raifer-Wilhelms-Ge- 
dächtniskirche errichtet. Zn meterhohen ſchwarzen Lettern kündigte eine an der Hauptfront 
des Gebäudes angebrachte überaus protzige Inſchrift an, daß „Bernhardus Sehring hanc 
aedem artis colendae causa exstruxit“. Als der Bau im Jahre 1896 feiner Beſtimmung 
übergeben worden war, pries man allgemein die herrliche Theateranlage, die geräumigen 
Foyers, die breiten Treppen und Zugänge und die bei aller Aufwendung von Prunk angeblich 
gediegene Ausſtattung des Theaters. Beſonders aber wurde darauf hingewieſen, daß der ſtolze 
Theaterbau im Hinblick auf die Sicherung gegen Feuersgefahr nicht das geringſte zu wünſchen 
übrig laſſe, und daß bei dem Bau und bei der Anlage des Theaters auf das Peinlichſte alle 
Beſtimmungen erfüllt worden ſeien, die ſeitens der Polizei zum Schutze des Publikums bei 
einem etwa ausbrechenden Brande erlaſſen worden ſind. 

Am Nachmittag des letzten Auguft-Sonntags brach im Bühnenraum des Theaters bei 
herabgelaſſenem eiſernen Vorhang Feuer aus, als fih zum Glück niemand im Theater — weder 
auf der Bühne noch im Zuſchauerraum — befand. Das Feuer breitete ſich mit raſender 
Schnelligkeit im Bühnenraume aus und griff ſofort nach dem Zuſchauerraum über, weil die 
Mauer, die fih oberhalb bes eifernen Vorhanges befand, nicht aus ſolidem, feſtverankertem 
Mauerwerk beſtand. An dieſer Stelle war lediglid cine ſechs Zentimeter ſtarke 
Rabitzwand angebracht, die durch den Druck der Brandgaſe ſofort herausgeriſſen 
wurde, fo daß die Flammen oberhalb des eiſernen Vorhanges in den Zuſchauerraum dringen 
konnten. 

Selbſt der Leiter der Sheaterabteilung im Berliner Polizeipräſidium, Oberregierungsrat 
v. Glaſenapp, rügte aufs ſchärfſte dieſen bei der Brandkataſtrophe zutage getretenen 
ungeheuerlichen Mißſtand, indem er einem Zeitungskorreſpondenten gegenüber erklärte: „O a ß 
(id dort eine einfache dünne Rabitzwand befunden hat, ift un- 
verantwortlich, denn unter dieſen Amſtänden hat natürlich der 
eiſerne Vorhang gar keine Bedeutung“. 

Jähes Entſetzen erfaßte die Berliner Bevölkerung. Wie, ſagte man ſich, wenn das 
Brandunglüd (id) am Abend bei vollbeſetztem Haufe ereignet hätte! Dann wäre eine Kat a- 
trophe unvermeidlich geweſen, die zu den ſchwerſten Theaterkataſtrophen aller Zeiten 
gehört hätte. Und volle ſechzehn Jahre hindurch ſchwebten die vielen Hunderte der Theater- 
beſucher täglich in Gefahr, bei lebendigem Leibe zu verbrennen. 

Die zuſtändigen preußiſchen Behörden, das Miniſterium der öffentlichen Arbeiten und 
das Miniſterium des Innern, haben ſofort eine gründliche Anterſuchung des Falles eingeleitet, 
und das Ergebnis dieſer Unterſuchung liegt in einem Miniſterialerlaß vor, der in den Tages- 
zeitungen am 22. September d. Js. veröffentlicht worden iff. Es heißt darin: 


576 Die Rabigwand 


„Bei dem kürzlich erfolgten Brand des Bühnenhauſes des Theaters bes Weftens zu 
Charlottenburg ijt bie überraſchende Tatſache zutage getreten, daß die Bühnenöffnung 
nur zum Teil — etwa auf die unteren zwei Drittel ihrer Höhe — durch den eiſernen Vorhang, 
die obere Reſtfläche aber durch eine leichte, gardinenartig aufgehängte Rab ib- 
wand (ſogenannte Schürze) abgeſchloſſen geweſen iſt, daß dieſe Rabitzwand durch die 
Ausdehnung der Brandgaſe in das Zuſchauerhaus hineingedrückt und dort in den Ordefter- 
raum ſowie auf die erſten Reihen des Parketts geſtürzt iſt. Durch die fo über dem eiſernen 
Vorhang entſtandene große und breite Offnung find dann die Stichflammen 
aus dem Bühnenhaus in das Zuſchauerhaus hineingepreßt 
worden und haben ſich dort in wenigen Augenblicken über die 
Proſzeniumslogen und den dritten Rang verbreitet.“ 

Dieſe amtlichen Feſtſtellungen ergeben mit geradezu erſchreckender Deutlichkeit, daß das 
Entſetzen des Publikums wohlberechtigt gewefen ijt. Vor den plötzlich mit ele- 
mentarer Kraft hervorbrechenden Stichflammen hätte ſich nicht 
ein einziger Beſucher der Proſzeniumslogen und des dritten 
Ranges retten können! 

Der Baumeiſter Sehring hatte bald nach dem Brande den Verſuch unternommen, 
fih durch die ſtaatliche Baupolizei zu decken, indem er erklärte, daß diefe an der 
Rabitzwand niemals einen Anſtoß genommen habe, namentlich aber 
nicht der zuſtändige Beamte, der inzwiſchen verſtorbene Baurat Beckmann vom Polizei- 
präſidium Charlottenburg. Und es klang wie blutiger Hohn, wenn Herr Gehring des weiteren 
behauptete, das Theater des Weſtens ſcheine ihm auch jetzt noch das 
feuerſicherſte Theater Berlins zu ſein. Demgegenüber weiſt der amtliche 
Miniſterialerlaß auf bie Wiederſinnigkeit des Gedankens hin, die Bühnenöffnung 
zu einem Teile durch einen hohen Druckſpannungen widerſtehenden eiſernen Vorhang, zum 
anderen Teile durch eine ſchon geringfügigem Drucke nachgebende, ſchwache Rabitzwand gegen 
den Übertritt von Oruckſpannungen aus dem Bühnenhaus in das Zuſchauerhaus decken zu 
wollen. Des weiteren wird dann ausgeführt, daß eine ſolche Anordnung auch nach den ſchon 
bei dem Bau des Theaters vorhanden geweſenen polizeilichen Beſtimmungen (d led ter- 
dings ausgeſchloſſen geweſen ſei. Der amtliche Erlaß teilt ferner mit, daß „dem 
Vernehmen nach ähnliche verordnungswidrige Anordnungen (Schürzen) wie im Theater des 
WVeſtens auch bei anderen Theatern in Preußen vorkommen“ follen; er verfügt daher die Nid t- 
zulaſſung von Vorſtellungen in diefen Theatern bis zur Abſtellung des ver- 
ordnungswidrigen höchſt gefährlichen Zuſtandes. 

Die gemeinſame Verfügung des Miniſters der öffentlichen Arbeiten und des Miniſters 
des Innern deckt Mißſtände auf, die man in Preußen nicht für möglich gehalten hätte. Man 
frägt ſich erſtaunt, wie die Polizeibehörden in Groß-Berlin und anderswo es haben zulaſſen 
können, daß der eiſerne Vorhang feinen Abſchluß nach oben hin durch eine ſchwache Rabitzwand 
erhalten konnte. In Preußen exiſtiert ja der eigenartige Zuſtand, daß die mittleren und kleineren 
Kommunen in der Lage ſind, die Baupolizei und damit die Theaterpolizei ſelbſt auszuüben, 
während ſie den Großſtädten abgenommen worden iſt und durch Organe der ſtaatlichen Polizei 
ausgeübt wird. Dabei ſind die großen Kommunen weit eher imſtande, auch die Baupolizei 
wahrzunehmen, weil fie über die beiten Kräfte auf baulichem und (omit auch auf baupolizei- 
lichem Gebiete verfügen. Hätte ſich ein derartiger unerhörter Mißſtand in dem Theater einer 
mittleren oder kleinen Stadt Preußens herausgeſtellt, ſo würde man auf die Unzulänglichkeit 
der Mittel und der fachmänniſchen Kräfte hinweiſen; in dieſem Falle aber tinnen die großen 
Kommunen mit Recht der ſtaatlichen Baupolizei den Vorwurf machen, daß fie fic ihrer Auf- 
gabe durchaus nicht gewachſen gezeigt hat. Herr Sehring und die übrigen Theaterbaumeiſter, 
die derartige „Schürzen“ über dem eiſernen Vorhang angebracht haben, ſind gewiß nicht von 


Die Radigwand 577 


der Schuld freizuſprechen, einen unerhörten Mißſtand herbeigeführt zu haben, der täglich das 
Leben vieler Menſchen auf das äußerſte gefährdet hat; die Hauptſchuld tragen aber die in Frage 
kommenden Organe der ſtaatlichen Baupolizeiverwaltung, die, wie durch den amtlichen Erlaß 
ausdrücklich feſtgeſtellt worden ijt, jid) einer gribliden und direkten Zuwiderhandlung gegen die 
von ihnen zu beachtenden baupolizeilichen Vorſchriften ſchuldig gemacht haben. 

Wenn die Sache nicht einen ſo ernſten Hintergrund hätte, müßte man herzlich über 
die Komik lachen, die uns dieſes Ergebnis der Anterſuchung offenbart. Volle ſechzehn Jahre 
hindurch werden Reviſionen über Reviſionen veranſtaltet, durch die feſtgeſtellt werden foll, ob 
der eiſerne Vorhang auch richtig funktioniert. Beim allererſten Male aber, wo dieſer 
eiſerne Vorhang ſeine Kunſt zeigen ſoll, erweiſt er ſich als vollkommen zwecklos, weil ſich über 
ihm eine nur durch eine Rabitzwand verdeckte Offnung befindet, durch die die Flammen 
mühelos aus dem Bühnenhauſe in den Zuſchauerraum gelangen können. Was würde man 
von einem Strombaumeiſter ſagen, wenn dieſer an einer beſonders gefährdeten Stelle des 
Stromufers dem ſtarken feſten Deich eine Fortſetzung durch eine einfache Bretter- 
wand geben wollte? 

Der Berliner Maurermeiſter Rabitz, der zuerſt ein Drahtgeflecht mit flüſſigem Gips 
aufgefüllt und nach dem Trocknen der Maſſe die nach ihm benannte Rabitzwand er- 
halten hatte, hat damit der Welt ein ſehr zweifelhaftes Geſchenk gemacht. Die Tauſende und 
Abertauſende, die gezwungen find, als „möblierte Herren“ zu wohnen, wiſſen von ben „Seg- 
nungen“ der Rabigwand ein Lied zu ſingen. Dieſe Wand hat ſicher für gewiſſe Zwecke, fir 
Geſchäftsbauten uſw. ihre Vorteile; in Wohnräumen aber erweiſt ſie ſich oft vom Abel, auch 
wenn nur die einzelnen Räume voneinander durch ſie getrennt werden. Werden aber einzelne 
Zimmer ſolcher Wohnungen abvermietet, ſo kann der Aftermieter einen Raum nicht als ruhige 
Wohnung empfinden, in dem jedes Geräuſch zu vernehmen iſt, das im Nebenzimmer entſteht. 

Noch ärger aber ijt es, wenn in Groß Berlin in vielen Fällen Rabitz wände dazu 
verwandt werden, um einzelne Wohnungen voneinander zu trennen. 
Baupolizeilich iſt dies nicht geſtattet, es geſchieht aber doch. Vor einigen Jahren iſt in einem 
Berliner Vororte der Fall vorgekommen, daß ein Mann, der in der Silveſternacht betrunken 
nach Hauſe kam, gegen eine Rabitzwand fiel, die ſeine Wohnung gegen die Nachbarwohnung 
„abſchloß“, und daß er durch die Wand hindurch in das Zimmer einer neben ihm wohnenden 
alleinſtehenden älteren Frau geriet, die darob in tödlichen Schrecken verſetzt wurde. Es gehört 
wahrlich nicht zu den Annehmlichkeiten des Lebens, eine ſolche Wohnung zu beſitzen. Man kann 
ſich gegen einen derartigen Mißſtand nur dadurch ſchützen, daß man vor dem Mieten eines 
neuen Heims die Wand, die die Wohnung von der Nachbarwohnung trennt, auf das forg- 
fältigſte abklopft, um feſtzuſtellen, ob diefe Wand eine Rabitzwand ift oder nicht. Sehen dann 
die Hauswirte, daß ſie ſolche Wohnungen nur ſchwer oder gar nicht vermieten können, ſo werden 
ſie von ſelbſt darauf dringen, daß die einzelnen Wohnungen durch feſte Steinwände voneinander 
abgeſchloſſen werden. Darum alfo Vorſicht vor der Rabitzwand! 

Vorſicht aber vor allem vor Nabitzwänden, die man bei uns als den zweckmäßigſten 
Abſchluß von ſoliden, feuerſicheren eiſernen Vorhängen anzubringen liebt! Man ſitzt im Theater, 
ſieht mit einem Gefühle der Befriedigung und Sicherheit, wie ſich im Zwiſchenakt der eiſerne 
Vorhang langſam und feierlich herabſenkt, und ahnt nicht, daß ſich über dieſem Vorhange nicht 
ſolides Mauerwerk, ſondern nur eine dünne Nabitzwand befindet, die an den Seiten nur durch 
Drähte feſtgehalten wird. Die preußiſche Regierung rückt jetzt der eigenartigen Kombination: 
„Eiſerner Vorhang -Nabitzwand“ energiſch auf den Leib; das deutſche Volk 
ſollte aber noch weiter gehen und ſich fragen, ob nicht auch anderswo in unſerem öffentlichen 
Leben dieſe ſeltſame Verbindung anzutreffen iſt. Zum Schutze gegen einen Kriegsbrand haben 
wir uns einen mächtigen eiſernen Vorhang, ein ſtarkes Heer, geſchaffen. Man unterſuche aber 
einmal genau, ob wir nicht auch in Verbindung damit auf eine recht ſchwache Rabitzwand eine 


578 Geburtenrückgang unb „agrariſche Heimatspolitie“ 


machtſcheue und (id) treiben laſſende auswärtige Politik, unzureichende finanzielle Kriegs- 
bereitſchaft, Unzufriedenheit des Volkes uſw. — ſtoßen. Und haben wir auch hier, ſowie nod 
auf anderen Gebieten unſeres öffentlichen Lebens ſolche „Schürzen“ entdeckt, dann iſt es 
dringend an der Zeit, ſie durch feſtes Mauerwerk zu erſetzen. Dr. J. Stanjek 


4n?» 
Geburtenrückgang und „agrariſche Heimats⸗ 
politik“ 


waſſerköpfige Entwickelung der Rieſenſtädte nicht noch krankhafter werde. Wir werden die 
Volkskraft nicht wahren, nicht mehren, nicht heben, nicht ſtärken, wenn wir nicht agrariſche 
Heimatspolitik treiben.“ Welcher gute Deutſche möchte dieſen Worten nicht von Herzen bei- 
pflichten, könnte man ſich nur mit der „Oeutſchen Tageszeitung“ und den Kreiſen, deren Organ 
ſie iſt, darüber verſtändigen, was unter „agrariſcher Heimatspolitik“ zu verſtehen ſei. Leider 
öffnen jene Herren die Schleuſen ihrer Beredſamkeit immer nur, wenn von der „waſſer⸗ 
köpfigen Entwickelung der Rieſenſtädte“ geſprochen wird, während fie merkwürdig wortkarg, 
ja taub und ſtumm werden, ſobald man die Möglichkeiten gründlicher innerer Koloniſation mit 
ihnen erörtern will. Wer mit agrariſcher „Heimatspolitik“ die Volkskraft wahren, mehren, 
heben und ſtärken will, wird doch wohl zunächſt unterſuchen miffen, wo die Verödung des 
Landes ſchwach, wo ſtark, ſtärker, am ſtärkſten wirkſam iſt. Darüber aber kann die ſtatiſtiſche 
Wiſſenſchaft längſt genaue Auskunft geben. Aus ihren Zahlen läßt ſich das folgende unerbitt- 
liche Geſetz ableiten: Ze mehr von der landwirtſchaftlichen Fläche eines Reiches, eines Landes, 
einer Provinz, eines Kreiſes durch großes Grundeigentum belegt ijt, um fo ſtärker ift die Land- 
flucht ſeiner Bevölkerung, und zwar wächſt ſie nicht im einfachen, ſondern in einem viel 
ſtärkeren Verhältnis. Die ſehr dicht beſiedelten kleinbäuerlichen und mittelbäuerlichen Bezirke 
des Südens und Weſtens in Oeutſchland nehmen regelmäßig und zum Teil bedeutend an 
Bevölkerung zu, wähtend die viel ſchwächer beſiedelten großbäuerlichen Bezirke bes Nord- 
weſtens in febr beträchtlichem und die duferjt dünn beſiedelten Großgutsbezirke des deutſchen 
Oſtens in einem ganz ungeheuerlichen Maße ihren Nachwuchs abſtoßen. Zwiſchen den Jahren 
1885 und 1890 bat z. B. der Süden und Weiten Deutſchlands 1395, der Nordweſten 30%, 
der Oſten 75% ſeines Geburtenüberſchuſſes in die Induſtriebezirke abgegeben. Wenn man 
nun noch erfährt, daß neun Zehntel aller landwirtſchaftlichen Hauptbetriebe in Deutſchland 
nur etwas über vier Zehntel bet landwirtſchaftlichen Fläche innehaben, das übrige eine Zehntel 
den ganzen Reft, faſt ſechs Zehntel; daß faſt die Hälfte aller Oeutfden, die von der Land- 
wirtſchaft ihren Haupterwerb haben, durchſchnittlich je weniger als 2½ ha bewirtſchaften, 
während, wenn jeder landwirtſchaftlichen Familie durchſchnittlich je 5 ha zugeteilt würden, 
noch 15 Millionen Hektar (von 34 Millionen) landwirtſchaftlicher Fläche übrig blieben; was 
iſt dann klarer, als daß der Landflucht am beſten entgegengearbeitet wird, wenn man dem 
großen Grundeigentum entgegenarbeitet, daß man die Volkskraft wahrt, mehrt, hebt, ſtärkt, 
indem man die kleineren und mittleren landwirtſchaftlichen Betriebe wahrt, mehrt, hebt, ſtärkt. 
Zumal auf ſolche Weiſe auch dem Fleiſchmangel am beſten durch heimiſche Produktion abge- 
holfen werden könnte, da der Kleinbauer in Deutſchland durchſchnittlich auf einer Fläche von 
beſtimmter Größe ungefähr ein Drittel mehr Rinder hält, als der Großbauer, und dreimal 


Das magnetiſche Geſetz 579 


fo viel als der Großbeſitzer. Dazu züchtet der Kleinbauer durchſchnittlich auf der gleichen land- 
wirtſchaftlich benutzten Fläche fünfmal ſo viel Schweine als der Großgrundbeſitzer. 

Die Leute, deren öffentliches Sprachorgan die „Deutſche Tageszeitung“ bedeutet, 
wollen aber von einer „inneren Koloniſation“, die irgendwie dem großen Grundeigentum 
nachteilig wäre, nichts wiſſen. Und weil der politiſche und außerpolitiſche Einfluß der Groß- 
agrarier in Preußen-Deutſchland vorläufig ſtärker ift, als das Produkt aus dem Machtwillen 
der Regierung und ihren Machtmitteln, ſo hat es mit einer echten inneren Koloniſation, alſo 
einer wirklich nützlichen agrariſchen „Heimatspolitik“ noch gute Weile. 

Otto Corbach 


A 
Das magnetiſche Geſetz 


ln einer geiſtvollen kleinen Schrift (Leipzig, Otto Wigand) bezeichnet Marie 
3 Dolle bas „magnetiſche Geſetz“ als „Offenbarung bes 
Vase: Lebens in jeder Form“. Der ganze Weltraum, fast fie, regelt fid) 
nach den Gefeben bet magnetiſchen Anziehung, Abſtoßung und Ausgleichung. Magnetiſcher 
Art ſind die Ausſtrahlungen unſeres Körpers; Sympathie und Antipathie erklären ſich aus 
ſolchen feinen Strahlungen; die geſchlechtlichen Anziehungen in der Tier- und Menfchen- 
welt hängen mit dieſem Geſetz zuſammen; überhaupt die Wirkungen der Menſchen auf- 
einander ſind eine Art Magnetismus. 

And nach dieſen febr richtigen Bemerkungen aus dem Grenzgebiet fährt die Ver- 
faſſerin fort: 

„Wie der Körper, ſo hat auch der Geiſt ſeine eigenen Geſetze und entwickelt ſich 
nach denſelben. Magnetiſcher Art iſt auch ſeine Natur; auch er unterliegt dieſem 
Geſetz und wirkt, wie der Körper, nach der Art ſeiner Ausſtrahlung, entweder harmoniſch an- 
ziehend oder abſtoßend. Auch er hat das Verlangen, ſeine Kräfte zu neutraliſieren; hier wie 
dort wirken diefe poſitiv und negativ. Anſer Get, welcher durch feine Tätigkeit Kräfte mag- 
netiſcher Art ausſendet, wirkt um fo ſtärker auf feine Umgebung, je poſitiver und willens- 
ſtärker er iſt. Durch Übung kann man den Geiſt wie den Körper ſtählen, ihn pofitiver, willens- 
kräftiger geſtalten. Wie alle anderen, ſo werden auch dieſe Kenntniſſe der Geſetze der Seele 
empiriſch gewonnen. Kein Menſch auf Erden gewinnt Erkenntnis ohne Kampf. Schmerz 
brachte ihm die Überwindung, durch welche id SE Kraft den andern Organen EN 
mußte, um fie für feine Seele zu erhalten... 

Dies alles und manche wertvolle dere Bemerkung iſt von großer Feinheit; das 
kleine Buch iſt leſenswert. Aber die Verfaſſerin hat ſich zu einem Gedankenſprung verleiten 
lajjen: fie nimmt das Wort „magnetiſch“ plötzlich in übertragenem Sinne — ſpringt 
aus dem materiellen Gebiet in dasſpirituelle hinüber, ohne zu betonen, daß uns über 
das Weſen des Geiſtes nichts begrifflich bewußt ijt, daß wir vielmehr nur feine W ir- 
kungen erleben und mit materiellen Vorgängen vergleichen können. 

Hier müſſen wir uns vor einem naheliegenden Pantheismus hüten, der zwar poetiſch 
ſehr verwendbar iſt, aber keine begriffliche Berechtigung hat. Es gilt, Geiſt und Materie 
nicht freilich als Gegenſätze zu empfinden, aber in reinlicher Denkweiſe aus 
einander zuhalten, was dem modernen, einſeitig der Sinnenwelt zugewandten 
Geſchlecht ganz beſonders ſchwer fällt. Geiſt und Körper wirken miteinander, ineinander 
und oft auch widereinander; es iſt ein reizvolles Wechſelſpiel der Kräfte, über das Goethe 
ſehr tiefſinnige Bemerkungen gemacht hat. Er betonte jedoch, daß man den Geiſt nur im 
„Symbol“ erfaſſen könne; Swedenborg bildete ſein berühmtes Wort von den „Entſprechungen“: 


580 Ole wildgewordenen Sparer 


es feien in der geiſtigen und himmliſchen Welt Entſprechungen zu Geſtalt und Weſensart der 
irdiſchen Gebilde und Vorgänge. Dieſes ſcheint mir ſchärfer geſchaut. Denn fo bleibt zwar 
ein inniges Band zwiſchen Geiſt und Leib beſtehen, aber wir find bewahrt vor dem vermengen- 
den Naturalismus, der mit Worten der Sinnenwelt — wie Magnetismus — auch 
das Geiſtige ergreifen will, ohne ſich bewußt zu werden, daß er nun aus dem Wirklichen in ein 
Vergleichendes hinüberſpringt. 

Abgeſehen von dieſer Vermengung des Materiellen und Spirituellen enthält das Buch 
von Marie Dolle manchen anmutigen Vergleich. 

„Jedes Verſprechen ijt ein geiſtiger Strom,“ heißt es da einmal, „den man ausſendet 
und womit man eine Verbindung mit einem anderen Menſchen herſtellt. Wie fühlbar wird 
uns oft dieſe Verbindung, wenn wir einem Verſprechen nicht nachkommen können! Und 
doch find es geiſtige Fäden, mit denen man jid) feſtbindet ... Gedanken find geiſtige, für 
unfer Auge unſichtbare Ströme. Der Elektrizität gleich [? hier müßte es heißen: vergleich 
bar l], ſchwingen fie wellenförmig durch den Raum [2] ins Unterbewußtſein der anderen 
Menſchen“ . 

Das ift febr anſchaulich, aber immer doch hart an der Grenze der ſinnlichen Bor- 
ſtellungsweiſe. Der Geiſt iſt noch viel feiner als die feinſte Elektrizität und iſt im Zuſtande der 
Freiheit weder an Raum noch an Zeit gebunden. L. 


Ka 
Die wildgewordenen Sparer 


A znwürdig unb unklug“ nannte der Magdeburger Oberbürgermeiſter Reimarus das 
2 Gebaren jener Sparer, die aus Furcht vor den Gefahren eines Krieges ihre Gelder 
?wſelbſt auf den Sparkaſſen nicht mehr ſicher wähnen und fie von diefen in wildem An- 
ſturm zuruͤckbegehren. Leo Jolles im „Tag“ heißt es „gelinde geſagt eine Dummheit, fi ein- 
zubilden, daß die Erſparniſſe, im Kamin oder im Garten verſteckt, ſicherer find als in der Ver- 
wahrung öffentlicher Sparkaſſen. Die Furcht vor dem Kriege nimmt manchen Menſchen 
ſofort den Kulturfirnis und läßt fie in der grotesken Nacktheit ungezügelter Naturtriebe er- 
ſcheinen. Oder iſt die Angſt nicht vielmehr ein Erzeugnis der Kultur? Die Phantaſie malt ſich 
Schreckensſzenen aus, wie der Staat, nach dem erſten Schuß aus Feindesland, ſich auf die 
16 Milliarden Erſparniſſe des deutſchen Volkes ſtüͤrzt, um feine Kriegskaſſen aufzufüllen. Watr- 
um nicht auch auf die Depofitengelder, die bei den Banken zu haben find! Die Sparkaſſe braucht 
doch in dieſer Beziehung keinen Vorzug zu genießen. Die Wirkung folder Phantaſiegemälde 
beſteht darin, daß man in wilder Haſt zur Sparkaſſe ſtürzt, um ſein bißchen Geld zu holen. Daß 
ohne Zögern Millionen ausbezahlt werden, ohne daß die Kaſſen von der ihnen zuſtehenden 
Forderung einer Kündigungsfriſt Gebrauch machen (von der Sparkaſſe der Stadt Magde- 
burg wurden in den letzten vier Wochen gegen drei Millionen Mark abgehoben), wird gewiß 
mit Genugtuung empfunden, hindert aber die Entwicklung neuer Paroxysmen in keiner Weiſe. 
Die unbedingte Garantie, die das Publikum für ſich fordert, verſagt es ohne weiteres der ande- 
ren Partei; denn die Sparkaſſen dürfen verlangen, daß dem Verſprechen der Sicherheit ohne 
Rückhalt geglaubt wird. 

Woher diefe Würdeloſigkeit, die Allgemeingut der ‚gebildeten‘ Menſchheit zu fein ſcheint? 
In Öfterreih und Frankreich haben jid) die Beſitzer von erſpartem Geld nicht anders verbal- 
ten als ein Teil der deutſchen Sparkaſſenklientel. 8n der Gefahr büßen viele Menſchen die 
Haltung ein. Man denke an die Szenen bei einer großen Feuersbrunſt oder einer Schiffs- 
kataſtrophe auf dem Meer. Das Gebet ijt, wie Nietzſche einmal fagt, die Stüße für die Men- 


Die wildgeworbenen Sparer 581 


ſchenwürde. Im Augenblick der höchſten Not betet man und wahrt fid) fein Menſchentum. 
Aber die wirkliche Gefahr ift etwas anderes als künſtlich hergeſtellte Schreckbilder. Und die 
Angſt vor ſolchen Produkten der Schwäche wirkt doppelt häßlich, wenn es ſich nicht ums nackte 
Leben, ſondern ums bare Geld handelt. Mit Recht wird der Sparſinn eines Volkes gerühmt 
und das Ergebnis als wichtiger Beitrag zum Nationalwohlſtand geprieſen; aber die Kehrſeite 
dieſes Vorzuges iſt die Abhängigkeit von der materiellen Leiſtung. Man lernt das Geld lieben 
und es als höchſtes Gut ſchätzen, ſtatt fid) zu fagen: ‚Da es das Produkt der Arbeit oder des 
Gefchäftsgeiftes iſt, hat es die Eigenſchaft, fortzeugend neues Geld zu gebären und immer 
wieder erſetzt zu werden.“ Der Verluſt des Geldes iſt alſo kein abſoluter Schaden, ſondern eine 
reparable Einbuße. Die Eindringlichkeit der Spartätigkeit darf ſolche Erwägungen nicht ver- 
wiſchen und ſoll die Erkenntnis wirtſchaftlicher Zuſammenhänge nicht beeinträchtigen. 

Man denke an den Kontraſt zwiſchen dem Erwerbsſinn des franzöſiſchen Volkes und 
feiner raſchen Begeiſterung für phantaſtiſche Ideen, die ihm von irgendeinem finanziellen 
Hodftapler aufgetiſcht werden. Vor einiger Zeit verſprach in Paris ein ſolches Finanzgenie 
dem Publikum für 100 Frank Einlage eine Verzinſung von täglich einem Frank, alfo 365 Pror 
zent Zinſen im Jahr. Auf welche Weife diefe Rente gewonnen werden follte, wurde natür- 
lich nicht verraten. In den Anzeigen, die der Herr „Bankier“ veröffentlichte, ſtand nur, daß 
er bereit ſei, für 100 Frank die erwähnte Verzinſung zu garantieren. Nach wenigen Wochen 
konnte fid) der erfolgreiche Pſychologe mit einem Raub von mehr als einer Million aus dem 
Staube machen. Eine derartige Vergeudung von Volksvermögen läßt erkennen, wie gefähr- 
lich der wirtſchaftlichen Leiſtung die ſogenannten Maſſeninſtinkte werden können. 

Das Werk der Aufklärung iſt im Handumdrehen zerſtört. Die Achtung vor den glaub⸗ 
haften Schöpfungen geſchäftlicher Überlegenheit verſchwindet, und der Begriff ſicheren Schutzes 
im Beſitz baren Geldes ſtellt die einzige gangbare Weltanſchauung dar. Es verſteht ſich von 
ſelbſt, daß ein wirklicher Notſtand oder ernſthafte Vorſorge fir ſchlimme Möglichkeiten nicht in 
das Kapitel tadelnswerter Schwäche gehört. Wer ſein ſicher untergebrachtes Geld abhebt, 
um ſich rechtzeitig mit Barmitteln zu verſehen, handelt korrekt. Die Verurteilung trifft nur die 
Perſonen, die keinen zwingenden Grund haben, ihr Geld an einem ,fideren Ort“ zu vergraben. 
Dieſes Verhalten nimmt ſich, im Vergleich mit den Werken der deutſchen Wirtſchaft, wie ein 
Stück älteſter Räuberromantik aus. Daß es auch anders geht, zeigen die letzt⸗ 
bin veröffentlichten Zwiſchenbilanzen der Banken. Die Vermögensausweiſe find am 31. Okto- 
ber abgeſchloſſen, enthalten alſo das Ergebnis des erſten Kriegsmonats. Die Summe der den 
Finanzinſtituten entzogenen Oepoſitengelder ift verhältnismäßig unbedeutend und bleibt 
hinter den Befürchtungen weit zurück. Die acht Berliner Großbanken, von denen Zweimonat- 
bilanzen vorliegen, hatten Ende Auguſt einen Depoſitenbeſtand von 2421 Millionen, der ſich 
um rund 30 Millionen verringert hat. Bei den ſämtlichen (93) Banken, die ihre Ziffern ver- 
öffentlicht haben, beträgt die Abnahme der Einlagen nur 4 Millionen bei einer Geſamtſumme 
von 3496 Millionen. Und dabei ſind Kreditbanken keine Sparkaſſen! 

Es fragt ſich, ob eine Möglichkeit der Selbſthilfe gegen die törichte Zerſtörung wirtfchaft- 
lichen Kapitals beſteht. Man kann darauf nur mit einem runden Nein antworten. Die Banken 
miifjen, im Gegenteil, bereit fein, alle Wünſche ihrer Kundſchaft zu erfüllen, und fie werden 
— wie fie ſchon erklärt haben — fih nicht einmal bei befriſteten Oepoſitengeldern ſtreng an die 
vereinbarten Ründigungstermine halten. Der einzige Schutz, auf den fie rechnen dürfen, kann 
ihnen vom Publikum gewährt werden: ſoweit dieſes Vertrauen genug beſitzt, um die Würdi- 
gung der geſchäftlichen Lebensbedingungen jeder ängſtlichen Sorge voranzuſtellen. Mancher 
glaubt vielleicht, daß ſein Geld in den Banken neutraler Staaten beſſer aufgehoben ſei als im 
Bereich kriegeriſcher Möglichkeiten. Aber er vergißt, daß auch diefe Finanzinſtitute keine Spar- 
kaſſen find, die begrenzte Vorſchriften für die Anlage ihrer Vermögen haben. Sie ſuchen ihren 
Oepoſitengeldern die Stellen, die ihnen die beſten Zinſen bieten, und kommen dabei häufig ge- 


582 Die Hagla Sophia 


nug gerade in die Länder, die ihnen die Gelder geſchickt haben. So kehren dieſe, auf einem 
Umweg, wieder in die Heimat zuruck, und der Zweck der Reife in die Fremde ijt vereitelt. Die 
Volkswirtſchaft hat mit einer grandioſen Freigebigkeit alle Zugänge zum Reichtum geöffnet. 
án den meiſten Staaten haben fid) der nationale Beſitz und das Geſamteinkommen erhöht, 
fo daß der Begriff des Vermögens nicht mehr einen bevorrechteten Qualitätsunterſchied dar- 
ſtellt. Aber mit dem Kapital iſt auch die Freude an der Nähe dieſer angenehmen Stütze groß 
geworden; und die Furcht, den Rückhalt zu verlieren, bat fid) einen breiten Raum in der Ge- 
dankenwelt erobert. So ijt die wirtſchaftliche Stärke eines Volkes zugleich feine Schwäche. 
Der beatus possidens ift nur glücklich fo lange, wie ihm die Ruhe garantiert ift. Andert fi 
dieſer Zuſtand, ſo wird er nervös; und der weitere Verlauf dieſer Verzagtheit bringt Szenen 
hervor, die nicht gerade von dem Bewußtſein der Macht erfüllt find. Man ſagt, daß die wirt- 
ſchaftlichen Güter, die von den Völkern aufgehäuft wurden, den ſicherſten Wall gegen den 
Krieg bilden. Die Virkſamkeit dieſer Schutzwehren hört jedoch auf, wenn ſie von allen guten 
Geiſtern verlaſſen find. Vielleicht fehlt als Ausgleich nur die richtige Orientierung in der Be- 
handlung des Vermögens. Die Maffe drängt ſtets nach den Punkten, wo fie draſtiſche Dar- 
ſtellungen ſieht. Das erklärt den Erfolg der Animierfirmen, die mehr Geld an ſich gezogen und 
durchgebracht haben, als im Fall eines Krieges verloren werden kann. Wie läßt fid) der Wider- 
ſpruch zwiſchen der Gefolgſchaft bei den Schwindelbankiers und der Angſt um die Sicherheit 
der Sparkaſſen löſen? Durch die Erkenntnis, daß bie Maffe mehr durch Reize als durch Er- 
wägungen der Vernunft geleitet wird. Und die fo laut beklagte Materialiſierung der Lebens- 
anſchauungen ijt uns ihre befte Wirkung ſchuldig geblieben. Der Krieg“, ſchließt Zolles, „hat 
bei manchen Leuten ſogar Furcht um ihre bei Großbanken befindlichen Effektendepots erweckt. 
Ein ſolches Maß von ſchlechter Diſtanzſchätzung läßt tief blicken.“ 


2 
Die Hagia Sophia 


m Weihnachtsfeſt des Sabres 537 wurde bie nach der „Heiligen Weisheit“ (Hagia 
Sophia) hochbenamte Kirche eingeweiht, und wohl kein ſchöneres Weihnachtsfeſt 
B bat man in Byzanz je wieder erlebt, fo gehoben fühlte ſich die ganze Chriſtenheit. 
„Die Sophienkirche,“ ſchreibt J. Crome im „Alten Glauben“, „urſprünglich von Ron- 
ſtantin erbaut, wurde, nachdem ſie ſchon bald ein Raub der Flammen geworden war, von 
Zuftinian bedeutend größer und prächtiger wieder aufgebaut, ein Prachtbau der Welt wie des 
byzantiniſchen Stils. Einer ber kunſtſinnigſten Baumeiſter — Anthenios — ließ das Koſtbarſte 
an Steinen und Metallen auf aſiatiſchem und afrikaniſchem Boden herbeiſchaffen und ſchuf den 
gewaltigen, von wunderbaren Moſaiken funkelnden Bau, einen Märchentempel, deſſen Altar 
von Gold und Diamanten ſtrahlte. Alles ſtrebte in der Sophia wie der Ausdruck eines einzigen 
Gedankens empor, einem zu Stein gewordenen Lobgeſange der Chriſtenheit vergleichbar 

Welch eine Demütigung aber harrte der Aja Sophia wie der ganzen Chriſtenheit des 
Abendlandes Jahrhunderte ſpäter beim Zuſammenbruche des oſtrömiſchen Reiches! Da zog 
nach vorangegangenen blutigen Eroberungskämpfen der aſiatiſchen Türken Mohammed II. 
als Sieger in der Schlacht bei Konſtantinopel in die Tore der Stadt und geradewegs — es 
war mittags 12 Ahr — in die Aja Sophia, wo er vom Altar herab die ſchöne chriſtliche Kirche 
dem Zflam weihte. Donnernd erklang es jetzt hier fortan: Groß tjt Allah! Groß ijt Mohammed, 
ſein Prophet! 

_ Da war die Perle eines Gotteshaufes der Chriſten eine Moſchee geworden und wurde 
demgemäß umgeftaltet, d. h. verunſtaltet, um dem mohammedaniſchen Gottesdienſte zu ent- 
ſprechen. Hinfort war nicht mehr der Altar der Mittelpunkt, ſondern der Michräb, eine Niſche, 


Wie alt ijt der Menſch? , 583 


welche die Richtung der heiligen Stadt Mekka zeigte. Die ſtumpfen und fpigen Winkel ber 
Teppiche an den Wänden brachten eine das Auge verletzende Wirkung hervor. An den Wän- 
den glänzten in der Folgezeit wohl noch kleine Reſte des einſt feenhaften Moſaikſchmuckes, 
aber die hauptſächlichſten Bilder, beſonders bie, welche Menſchenfiguren darſtellten — vom 
mohammedaniſchen Kultus als Zier verboten — waren unbarmherzig übertüncht. Statt 
der chriſtlichen Bilder ſieht man große Schilder an den Wänden mit Rieſenbuchſtaben, die 
den Namen Allah oder den mohammedaniſcher Größen darſtellen. Was noch entſtellender 
wirkte, war die Ummalung der einſt fo ſchönen Engelsgeſtalten in der Hauptkuppel in die 
häßlichſten Ungetüme, die man ſich denken kann. Der Altarraum wurde ausgefüllt mit der 
Kanzel, dem Mimbar, der in eine kirchturmartige Spitze endet, ber Müäftaba, einer Tribüne, 
von der herab die 12 Muéſins in den höchſten Tönen ihre Loblieder ſchmettern, und endlich 
von der goldvergitterten Loge des Sultans. 

Denken wir uns nun zur Gebetszeit die Reihen der türkiſchen Männer — Frauen ſind 
dort nicht zum Beten verpflichtet und im Hauptfchiffe nicht zugelaſſen — ihre vorgeſchriebenen 
Beugungen machen, das Geſicht bem Michrab zugewandt, hören wir bie Musſins ohne Seele 
ſingen und predigen, da dünkt's uns öde und einſam in dem großen, weiten Gotteshaufe. 
Einen weit freundlicheren Ton und lieblichere Augenweide bieten uns die Scharen girrender 
Tauben, die über unſere Häupter hin und her ſchwirren und ihr Heim hier haben. Sind ſie 
doch ein Stück belebender Natur, hervorgegangen aus der gütigen Schöpferhand Gottes! 

Eins iſt aber noch da in der alten Aja Sophia, was das Herz eines Chriſten auch hier 
höher und hoffnungsvoll ſchlagen läßt. An der Wölbung ber Apfis über dem ehemaligen Hoch- 
altar ſchimmert durch alle Erneuerungen der Kalktünche immer wieder 
ein großer Chriſtus hindurch, die Arme ſegnend ausbreitend ..“ 


Dy 
Wie alt ift der Menſch? 


ie Anſichten der Gelehrten über das Alter der Menſchheit gehen ſehr weit auseinander. 

Sie ſchwanken zwiſchen einem Zeitraum von 400 000 bis 6 000 000 Fahren und 
— darüber. Schon bei der Feſtſtellung der „Rohform“, von der aus man von der 
Entwickelung des menſchlichen Weſens ſprechen könnte, ſetzt die Meinungsverſchiedenheit 
ein. Die Funde menſchlicher Überrefte aus grauer Urzeit geben kaum einen ſchwachen An- 
haltspunkt für den Aufbau einer auch nur einigermaßen zuverläſſigen Hypotheſe. Die Aus⸗ 
grabungen, die man auf ägyptiihem Boden gemacht hat, laffen darauf ſchließen, daß der 
Körperbau der Bewohner Agyptens vor 6000 Fahren von dem der heute dort Lebenden nicht 
weſentlich abweichend ijt. Anterſtellt man diefe immerhin oberflächlich verbürgte Annahme 
als wahr, dann erſcheint eine Entwicklungsſpanne von 400 000 Sabren, wie fie von Prof. 
Sollas vertreten wird, als viel zu niedrig bemeſſen. Daher ijt der belgiſche Gelehrte Rutot 
dazu übergegangen, nach Spuren zu forſchen, die der vorzeitliche Menſch an den Steinen, 
zwiſchen denen er wahrſcheinlich gelebt, hinterlaſſen hat. Auf dieſe Weife rechnet er für die 
Menſchheit ein Alter von etwa 3 Millionen Jahren heraus. 

Natürlich ijt auch diefe, die ſogenannte Eolithen- Theorie, nicht unangefochten ge- 
blieben. Vor allem die Geologen ſind mit Einwänden gekommen, die viel Berechtigung 
haben. Über die zeitliche Umgrengung der einzelnen geologiſchen Perioden beſteht ja fo wie fo 
unter den Forſchern keine Übereinftimmung. Selbſt bie unferer Alluvialzeit vorausgehende 
Diluvialperiode wird von den einen auf knapp 140 000, von den andern um mehr als die 
doppelte Zahl von Jahren eingeſchätzt. So entſtehen natürlich die größten Differenzen. 

Der engliſche Gelehrte Prof. Arthur Keith hat auf der letzten Naturforſcherverſamm⸗ 


Cts 


34 Eheophraft von Hohenheim, genannt Paracelſus 


lung neuerdings zu dem Problem Stellung genommen. Er hat nach einem Bericht der Frankf. 
Ztg. ausgeführt, daß man, um die Entſtehung und Verteilung der heutigen Raſſen zu er- 
klären, annehmen müſſe, das Menſchengeſchlecht habe zu Beginn der Diluvialzeit ſchon eine 
phyſiſche Beſchaffenheit von der Art erreicht, wie ſie heutzutage die Eingeborenen Auſtraliens 
aufweiſen. Auf Grund unſerer Kenntnis der foſſilen Affenformen, die freilich noch febr un- 
vollkommen ift, möchte Keith annehmen, daß der Stamm des Menfchen fic aus niederen 
Formen etwa um dieſelbe Zeit heranbildete, wie der Stamm der großen, menſchenähnlichen 
Affen. So könnte man das Daſein des Menſchen über das Diluvium hinausführen und das 
Alter bes Menſchen auf etwa anderthalb Millionen Fabre ſchätzen. Es hat ferner nach Keith 
zu gleicher Zeit verſchiedene Menſchenformen gegeben, da es z. B. unmöglich erſcheint, daß fich 
der Neandertalmenſch, der erſt im ſpäteren Diluvium auftritt, bis zum Schluſſe dieſer Periode 
in den modernen Menſchen umgewandelt haben ſollte, von dem er faſt ſo verſchieden iſt wie 
der Gorilla vom Schimpanſen. Alle bieje älteren Menſchenformen würden im Laufe ber Zeit 
erloſchen ſein, außer demjenigen Zweig, aus dem der moderne Menſch entſtanden iſt. 


c» 
Theophraſt bon Hohenheim, genannt Paracelſus 


"Er d möchte den Get des Paracelſus beſchwören. Und wenn er vor dem Lefer er- 
ſcheint, mag er fid) ſelbſt wehren mit eigenen Worten, deren er fo viel kraftvolle 
2 gehabt hat. Und viel ſchöne. Wehren gegen Verkennung aus Untenntnis, gegen 
falſches Urteil, das von alten böswilligen Gegnern her ſich weiter durch die Zeiten vererbt 
und ſelbſt Männer, die es gut meinen mit Wahrheit und Gerechtigkeit, irreführt und ſo auch 
einen Heer in feiner Monographie „Schweiz“ zu dem böſen Urteil über einen feiner größten 
Landsleute verleitet, der große Sohn von Einſiedeln ſei ein Aufſchneider geweſen. 

So ergreife ich gerne die mir gebotene Gelegenheit, in dieſen Blättern einem Biel- 
verkannten zu feinem Rechte zu verhelfen. Ich tue das nur mit urkundlich geſichertem Material 
und nur auf dem Boden der von der wiſſenſchaftlichen Kritik für unzweifelhaft echt erklärten 
gohenheimſchen Schriften. An die kritiſche Durchforſchung feiner Schriften bat ein Gelehrter 
wie Karl Sudhoff die Arbeit eines Lebens gerückt (Verſuch einer Kritik der Echtheit der Para- 
celſiſchen Schriften. I. Teil: Bibliographia Paracelsica. Berlin, G. Reimer, 1894. IL Teil: 
Paracelſus-Handſchriften. Berlin 1899. Vgl. auch R. J. Hartmann, Theophraſt von Hohen- 
heim. 3. G. Cotta Nachf., Stuttgart 1904). 

Wohl haben nach Hohenheims Tod viel ernſte Männer ihn als ihren Meiſter verehrt. 
Wohl bat Ott-Heinrich, der hochgeſinnte Fürſt, die Blätter, bie feine Hand beſchrieben, für 
einen fo koſtbaren Schatz gehalten, daß er einen vertrauten Diener zu ihrem beſonderen Hüter 
beſtellte. Wohl haben Männer wie Giordano Bruno und Baco von Verulam, der große Natur- 
philoſoph und der große Naturforſcher, beides gewiß urteilsfähige Köpfe erſten Rangs, ihrem 
Vorgänger das höchſte Lob gezollt. Dann haben freilich unklare Köpfe mit des Meiſters Namen 
ihre verworrenen Gedankenkreiſe zu decken verſucht und ihn, indem fie ihn allzuſehr vergötter- 
ten, in unverdienten Mißkredit gebracht. Schlimmer aber war der Haß zünftiger Heilkünſtler 
und mediziniſcher Schulgelehrter. Um der neuen Wiſſenſchaft und Kunſt die Bahn zu ver- 
ſperren, haben fie die Perſon ihres Urhebers verläſtert. So gründlich, daß das Bild dieſes 
Mannes auf Jahrhunderte hinaus unkenntlich gemacht worden iſt. Daß die Wertſchätzung 
gohenheims trotz allen Verleumdungen nie ganz verloren ging, ijt aus Prozeßakten der Vogtei 
Cannſtatt aus dem Jahre 1744 zu erſehen. Ein Abenteurer, de [a Rivière, hatte dem bamali- 
gen Beſitzer des Schloſſes Hohenheim, einem Hauptmann von Oehl, verſprochen, „den Schatz 
des Paracelſus“ zu heben. Vor Gericht redete (id) de la Rivière mit Erfolg damit hinaus: 


Theophraſt von Hohenheim, genannt Paracelfus 585 


Was Dehl von ihm begehrt, den Schatz des Theophraſtus Baracelfus zu erlangen, fei véritable- 
ment von ihm geleiftet worden. Denn Dieter Schatz babe hauptſächlich darin beſtanden, daß 
Paracelſus den Armen Gutes getan, Geduld, Frömmigkeit, Buße, Beten uſw. gelehrt. Alles 
das babe er dem Herrn Hauptmann beigebracht, nicht zehn Zejuiten hätten fo viel bei dem- 
ſelben zu ſeiner Bekehrung wirken können. 

Hat Theophraſt von Hohenheim als Menſch ein fo gutes Andenken ſich geſichert, “fo 
faßt Sudhoff feine wiſſenſchaftliche Bedeutung in das Wort zuſammen: in der Medizin führen 
alle Wege auf Hohenheim zurück. Wie er der große Arzt und Naturforſcher geworden ijt, wie 
er im Kampf des Lebens als ein Charakter ſich bewährt hat, das ſei hier kurz geſchildert. 

8n einem Bauernhaus an der Teufelsbrücke bei Einſiedeln hatte der Arzt Wilhelm 
Bombaſt von Hohenheim anfangs der neunziger Jahre des 15. Jahrhunderts feine 
Wohnung. Er entſtammte dem edlen Geſchlecht der Bombaſte (Baumbaſt) von Hohenheim bei 
Stuttgart. Noch trägt ein Schloß dort den alten Namen. Nach ſeinen Studien in Tübingen 
war Wilhelm von Hohenheim in die Fremde gezogen. Im Schwyzer Land fand der ſchwäbiſche 
Arzt ſeine Lebensgefährtin, die Tochter einer dem Kloſter Einſiedeln hörigen Familie, im Hauſe 
ihres Vaters feinen Wohnſitz. Und hier im Bauernhaus an ber Teufelsbrücke wurde Theophraſt 
von Hohenheim, feiner Eltern einziges Kind, am 10. November 1493 geboren. 

Der Vater, ein Verehrer des griechiſchen Naturforſchers Theophraſtos von Ereſos, 
nannte den Sohn dieſem nach. Als der Sohn ſelbſt ein Naturforſcher geworden war, hatte 
er Selbftgefühl genug, von fid) zu fagen, er heiße Theophraſtus „Art und Tauffs halber“. 
Später legte man ihm eine lange Namenreihe bei: „Philippus Aureolus Theophraſtus Bom- 
baſtus Paracelſus von Hohenheim.“ Er ſelbſt unterſchrieb ſich meiſt nur: Theophraſtus 
von Hohenheim, ſeltener mit feinem ganzen Familiennamen: Theophraſtus Bo m- 
baft von Hohenheim. Nie aber Bombaſt us. Sogar wo er lateiniſch ſchreibt, behält er für 
feinen Geſchlechtsnamen die deutſche Form Bombaſt. Und dieſer gut ſchwäbiſche Name Bom- 
baft hat mit jenem andern Wort bombaſtiſch = ſchwülſtig gar nichts zu tun. Wir wiſſen fogar, 
wo zum erſtenmal in böswilliger Abſicht ein Wortſpiel damit getrieben wurde. Der engliſche 
Galeniker Walter Harris braucht in ſeiner Pharmacologia Anti-Empirica: or a Rational Dis- 
course of Remedies both Chymical and Galenical (London 1683) den Ausdruck: ,, Bombastical 
Paracelsus“ und fchreibt: „The Bombastick Names shall perish and be despised.“ Den Vor- 
namen A u r e o Iu finden wir zweimal in Unterfchriften neben dem Rufnamen Theophraſtus 
(in der Widmung der „Großen Wundarzney“ an König Ferdinand vom 4. Juni 1537 und in 
der Widmung der Defenſionen an die Stände von Kärnten vom 24. Auguſt 1558). In einer 
alten Schrift iſt der alte Ereſier aureolus Theophrastus genannt, der ruhmreiche, herrliche. 
Mag ſein, daß der Vater, Doktor Wilhelmus, dieſe Beifügung für einen Eigennamen hielt 
und ihn auch ſeinem Sohne beilegte. Philippus heißt Hohenheim zum erſtenmal auf der 
Inſchrift des Grabdentmals, das ihm in Salzburg von Freunden geſetzt worden iſt, danach 
auch auf der Aufſchrift etlicher Bücher, die nach feinem Tod herausgekommen find. Theophraſt 
ſelbſt hat dieſen Namen nie geführt, viel weniger als einen in einer langen Reihe. Par a- 
celſus nannte er ſich, nach der Sitte der Gelehrten der damaligen Zeit, die ihre Namen 
ins Griechiſche oder Lateiniſche überſetzten. Selbſtverſtändlich nannte er ſich entweder von 
Hohenheim oder, nach Gelehrtenſitte, Paracelſus, nie aber ſetzte er beides nebeneinander 
höchſtens fo, daß er zu feinem gut deutſchen Namen beifügte: genannt Paracelſus. 

So fällt die angedichtete lange Namensreihe, bie „den Mann bezeichnen“ foll, auseinander. 

Der Vater hat dem Hohenheimſchen Namen alle Ehre gemacht. Noch im Tode bezeugt 
ihm das eine Urkunde der Stadt Villach, wohin er 1502 als Stadtarzt und Lehrer der Scheide 
kunſt an der Fuggerſchen Bergſchule berufen worden war. Wieviel ihm der Sohn verdankt, 
werden wir ſofort ſehen. Zunächſt ein ſchönes Wort, mit dem dieſer ſeiner Mutter gedenkt. 
Als er einmal von dem Aberglauben redet, als ob der Stand der Geſtirne Einfluß Ce auf 

Der TArmer XV, 4 


586 : Pheophraft von Hohenheim, genannt Paracelſus 


Charakter und Schickſal eines Menſchenkindes, hat er bas ſchöne Wort: „Das Kind bedarf 
keines Geſtirns und keines Planeten; (eine Mutter ift fein Planet und fein Stern.“ Cindruds- 
voll war für den jungen Theophraſt die Natur; die großartige Alpenwelt der Schweiz und die 
an Naturfchägen reiche Bergwelt in feinem „zweiten Vaterland“ Kärnten. Unter Führung 
ſeines Vaters wurde frühe die Natur ſeine Vertraute. „Es hängt einem all ſein Lebtag an, 
was man in ber Zugend empfangen hat.“ In den Bergwerken um Villach fab er, was die 
Erde in ſich barg, im Laboratorium des Vaters, bald als deſſen Handlanger und Lehrling, 
wie der Chemiker die metalliſchen Stoffe in ihrer Reinheit darzuſtellen, in neue Verbindungen 
überzuführen vermag. Als er einmal „die guten Unterrichter“ aufzählt, die ihn „in dieſe Künſte 
eingeführt haben, nennt er „erſtlich Wilhelmus von Hohenheim“ — „mein lieber Vater, der 
mich nie verlaſſen“, und in ſpäten Jahren noch gedenkt er feiner: „Ich bedank mich der Schul, 
in die ich kommen bin, und berühm mich keines andern, als deſſen, der mich gezeugt und von 
Sugend auf unterwieſen hat.“ 

Seine Jugend hinterließ ihm freilich auch die Erinnerung an Einfachheit und Armut 
im Elternhaus. Er fei nicht in reichen Kleidern aufgewachſen, ſondern in derbem Zwillich, 
nicht mit Weizenbrot und Honig, ſondern mit Käſe und Haberbrot. Die Armut aber weckte 
frühe Tatkraft. „Eben der Arme ſoll's fid) merken, daß das Glad nicht komme wie ein Bott, 
auf den man warten dürfe, fondern mit Fleiß und Sorg zu ſeinem Ding komme einer vor- 
warts. So können auch arme Leut zum Höchſten aufſteigen.“ 

Alſo treues, ſinniges Gedenken an die Mutter, unauslöſchlicher Dank für die Schule 
des gelehrten, guten Vaters, früher Lebensernſt, tapfere Freudigkeit, die ſich emporringt, 
Aufgeſchloſſenheit für die Natur in früh geübter Beobachtung, das find die hervortretenden 
Züge im Bilde feiner Jugendzeit. 

Dann kam die Zeit, da der junge Hohenheim der Schule des Vaters entwachſen war. 
Er ging auf die Hohe Schule. Welche es war, ift nicht mehr feſtzuſtellen. Der wiffenfdaft- 
liche Betrieb war auf allen Hochſchulen derſelbe: die unfruchtbarſte, ödeſte Scholaſtik. Man 
lehrte und lernte aus Büchern. In der Wortauslegung alter Schriften erſchöpfte fid) die geiftes- 
arme Wiſſenſchaft der akademiſchen Lehrer. In der Medizin waren es die Schriften des Gale- 
nus aus dem zweiten Jahrhundert des römiſchen Kaiſerreichs, bie ein fo unantaſtbares Anſehen 
genoſſen, wie die Dogmen der Kirche. Sie wurden, wie Hohenheim einmal fagt, für das Evan- 
geli gehalten, die doch nie als ein Evangelium gegeben worden ſeien. Daneben galt der Kanon 
der Medizin des arabiſchen Galeniters Avicenna (gbn-Oina) feit Jahrhunderten als das un- 
feblbare Lehrbuch. Von eigenen Unterſuchungen und Forſchungen, von einem Fortſchritt der 
Wiſſenſchaft keine Spur. 

So eifrig ſich der junge Hohenheim auf die Wiſſenſchaft warf, daß er „der Hohen Schul 
nicht eine kleine Zierd geweſen“, fo gewiſſenhaft er fid) die galeniſchen Gage einprägte, daß 
er fie in ſpäten Jahren noch aus dem Gedächtnis zitieren konnte, fo unbefriedigt war er von 
dem Betrieb und dem Ergebnis ſeiner Studien. Er war gewohnt, aus Beobachtungen zu 
einer „Erfahrenheit“ zu kommen, und ſollte auf guten Glauben hinnehmen, was die Alten 
„in ihren erphantaſierten Geſetzen“ gelehrt haben. Es war ihm zumute, als ob er „in einem 
Garten hergezogen werde, da man die Bäume abſtümmelt“, und er ſehnte fih, „in einen andern 
Garten transplantiert zu werden und in der Erfahrenheit zu wandeln“. 

Was er ſpãter fagte, galt ihm auch von dieſer Zeit: „Die Natur ift die Liberey der Wedi- 
zin.“ „Die Elemente in ihrem Weſen fein deine Bücher.“ „Die Augen, bie in der Erfahren- 
heit ihren Luft haben, ſei'n deine Profeſſores!“ 

Er wurde ein Laborant. Die Verbindungen des Vaters mit hochangeſehenen 
Alchimiſten öffneten ihm die Laboratorien bedeutender Männer auf dieſem Gebiet, ſo des 
reichen Siegmund Füger in Schwaz in Tirol. Die Figer, nicht zu verwechſeln mit ben Augs- 
burger Fugger, hatten reiche Silberbergwerke in Tirol. Der gründlichen Ausbeutung der 


Eheophraft von Hohenheim, genannt Paracelſus 587 


Silbererze galten zunächſt die Arbeiten im Fuͤgerſchen Laboratorium. Dort wurde u. a. das 
als Höllenftein nachmals viel angewendete ſalpeterſaure Silberoxyd hergeſtellt. Man ſuchte 
wohl auch „das große Elixier“ oder „große Magiſterium“, mit dem man unedle Metalle in 
Gold verwandeln zu können hoffte. Dieſe irregehenden Forſchungen hatten inſofern etwas 
Gutes, als dabei vieles gefunden wurde, was nachmals als Arzneimittel Anwendung fand. 
Es bahnte ſich die neue Arzneimittellehre an, eine neue Heilkunſt, welche die alten galeniſchen 
Mittel, Kräuterabkochungen z. T. der abenteuerlichſten Art, verdrängte. Hohenheim wandte 
ſich dieſem neuen Gebiet der Chemie zu. Zatrochemie hieß man ſie damals. Zene Künſte, 
unedle Metalle in Gold und Silber zu verwandeln, ſeien in mancherlei Weg auch an ihn ge- 
langt, aber er habe dem nachgetrachtet, was zur Geſundheit dient. „Der Arzt ſoll die Natur 
und Kraft aller Dinge erkennen, und alfo ſollſt du die Kunſt der Arzney erfinden aus den Kräf⸗ 
ten, fo die Natur erzeigt.“ Damals, als Laborant, rüſtete er (id) zu feinem Lebenswerk: der 
Begründung der pharmazeutiſchen Chemie. 

Aber ſchließlich wurde ihm auch das Laboratorium zu enge. „Zum Experiment die 
Experienz zu fügen“, zu chemiſchen Unterſuchungen die Erfahrung, ſo dachte er ſich weiter 
den Studiengang des künftigen Arztes. Er wollte nun lernen „im Kodex der Natur, des Blätter 
man durch Wandern umkehret, als oft ein Land, ale oft ein Blatt“. Er wurde ein Lan d- 
fahrer. Da und dort in der Welt wollte er die einzelnen Krankheitserſcheinungen kennen 
lernen, die bedingenden Urſachen, die begleitenden Umjtände erforſchen, die klimatiſchen Gin» 
flüſſe, wollte erfahren, warum da Krankheiten vorkommen oder nicht vorkommen. Er ging hin, 
wo Krankheiten einheimiſch waren, wo fie als verheerende Seuche auftraten. „Denn die Krank- 
heiten wandern hin und her, ſo weit die Welt iſt, und bleiben nicht an einem Ort. Kommt dann 
ein ſolcher fremder Gaſt ins Land, ſo kennt man ihn. Wo er ihn nicht kennen würde, wär's 
dem Arzt zur großen Schand, denn er könnte ſeinem Nächſten nicht halten, deſſen er ſich be- 
rühmte.“ Zn den Bergwerken Galiziens und Skandinaviens unterſuchte er den Einfluß des 
Betriebs auf Bergleute und Hüttenarbeiter, wollte aus den Schadenwirkungen lernen, wie 
einzelne metalliſche Stoffe als Heilmittel verwendet werden können. Er analyjierte die mine- 
raliſchen Quellen und unterſuchte ihre Wirkung, fo die von Göppingen, Liebenzell, Baden- 
Baden, Wildbad, Pfäfers, St. Moriz, Teplitz. Er beobachtete den Keſſelmacher, der mit Kupfer- 
ſchlag das Blut ſtillte, den Schmied, der mit verbranntem Eiſen, den Hafner, der mit Gold- 
und Silberglätt Wunden behandelte. Er ſagt ſelbſt, daß er gelernt habe von alten Weibern, 
von Bauern, von Badern, von Zigeunern, von Henkern, wie von erfahrenen Alchimiſten und 
gelehrten Ärzten, von Edlen und Unedlen, von Geſcheiten und Einfältigen. Und allem dachte 
er nach und ging er nach; wollte zu ſolchem Zweck „die Erde durchwandern, vielerlei erfahren, 
und was gut iſt, das ſollen wir behalten“. 

Und fo durchwanderte er Deutſchland, Frankreich, Italien, Spanien, fab Granada und 
Liſſabon, ging von da zu Schiff nach England, dann nach den Niederlanden, nach Danemark, 
nach Skandinavien, durch Preußen, Litauen, Polen, die Walachei, Siebenbürgen, Dalmatien, 
Kroatien, tam bis Moskau, vielleicht bis Konſtantinopel, ſicher nach der gnjel Rhodus. „Daß 
ich Afrikam und Afiam erfahren habe“ — auch das traute man ihm zu — „und dieſelbigen 
Blatter umgekehrt, ijt nit. Jedoch aber, wer mag alle Winkel durchſtreichen!“ Es waren Wander- 
jahre voll Entbehrung und Beſchwerden; er hatte oft nicht ſo viel, den Zwillich zu bezahlen 
zum Wanderkleid, nichts Warmes zu eſſen, „keinen Schatten, wenn der Baum nicht geweſen 
wäre“. Man legte ihm nachmals „ſein Landfahren übel aus“. „Aber“, ſo fragt er die, die es 
ihm übel auslegten, „gibt Wandern nicht mehr Verſtand, denn Hinterm-Ofen-jigen? Ze mehr 
du erfährſt, je größer dein Verſtand in deinem Vaterland.“ 

Was er erforſcht und erfahren, geſehen und gelernt, begann er in Ausübung des 
ärztlichen Berufs zuerproben. „Die Kranken follen des Arztes Bücher fein.“ Das 
ijt fein Neues gegenüber ber Bücherweisheit der mediziniſchen Scholaſtik. Die Kriegshändel 


588 Eheophraft von Hohenheim, genannt Paracelſus 


ſeiner Zeit geben ihm Gelegenheit, ſich in der Wundarznei die Meiſterſchaft zu erwerben, die 
ſein unbeſtrittener Ruhm geworden iſt. Er ließ ſich als Feldſcher im niederländiſchen Heere 
anwerben, nahm 1518 Oienſte beim Oänenkönig Chriſtian, als dieſer (id) die ſchwediſche Königs 
krone erkämpfte. Später zogen ihn „die venediſchen Kriege“ an. Auf einer Galeere der Re- 
publik Venedig fuhr er vor die Inſel Rhodus, als die Venezianer dem Johanniterorden ſein 
letztes Bollwerk gegen Soleiman den Prächtigen verteidigen halfen. Dann wird er Feldarzt 
in Karls V. neapolitaniſchem Feldzug. Nicht nur Verwundungen, auch Krankheiten und Seuchen 
füllten die Kriegsſpitäler. Da wurde der Landfahrer der erfahrene Arzt. „Leſen hat nie 
einen Arzt gemacht, ſondern die Praktik.“ „Aus Übung und Er- 
fahrung wird der Arzt geboren.“ 

Wahrhaftig ein Werdegang in echter Wiſſenſchaft zu wahrer Meiſterſchaft. 

Im Frühjahr 1526 kam er nach Deutſchland zuruck, mit der Würde eines „Doctors beider 
Arzney“, gefolgt von einer Schar von Schülern, von denen ihm wenige Freude machten, denn 
bie meiſten „wollten zu früh perfekt fein“ und haben durch unverſtändige Kuren mit metalli- 
ſchen Mitteln ihren Meiſter in Mißkredit gebracht. In Schwaben, der Heimat ſeines Geſchlechts, 
finden wir feine Spuren. In Tübingen und bald darauf in Freiburg bewarb er fih um ata- 
demiſche Wirkſamkeit. Doch den Univerfitdten habe er nicht gefallen. „Aber ich danke Gott, 
den Kranken gefiel ich, fo ich meine Regel brauchte.“ Überall trat ihm die Gegnerſchaft der 
zünftigen galeniſchen Arzte in den Weg. In Disputationen fiel gewandten ſcholaſtiſchen Klopf⸗ 
fechtern unter ihnen da und dort ein Scheinſieg zu über den Vielerfahrenen, aber nicht fonder- 
lich Redegewandten, dem, wie er zugeſteht, „eine ſtammlete Zunge erſchwerte, der zufliegen- 
den Reden raſch zu entgegnen“. 

3m Herbſt 1526 ließ fid) Hohenheim in Straßburg nieder, bald weithin vekannt durch 
glückliche Kuren. So kam an ibn die Berufung an das Krankenlager des gelehrten Humaniſten 
und Buchdruckers Johannes Froben in Baſel. Die Arzte hatten geglaubt, fein Leben nur 
durch die Amputation eines Beins retten zu können. Hohenheim ſtellte ihn in kurzer Zeit 
wieder her, fo daß Froben im folgenden Frühjahr zur Meſſe nach Frankfurt reiten konnte. Rajd 
hatte man in Baſel die geiſtige Bedeutung des Mannes erkannt, hoffte auch, in dem Kampf 
um Geiſtesfreiheit, die eben in Baſel mit dem Einzug der Reformation anhub, einen Mit- 
ſtreiter an dem Arzte zu gewinnen, der auf feinem Gebiet zum Reformator fic berufen fühlte. 
Kaum nach Straßburg zurückgekehrt erhielt er die Berufung als Stadtarzt und Profeſſor an 
der Hohen Schule zu Baſel. Es war im November 1526. Und er nahm den Ruf an. 

Nun konnte er bie neue Wiſſenſchaft im akademiſchen Lehramt vertreten. 
Doch ſofort traten ihm die Gegner, die Galeniſten, in den Weg. Mit der alten Ordnung, daß 
in Baſel keiner ohne Baſler Approbation ärztliche Praxis üben oder lehren dürfe, wollten fie 
ſeine Tätigkeit unmöglich machen. Hohenheim wandte ſich energiſch an den Rat, der ihn von 
reicher ärztlicher Wirkſamkeit weg hierherberufen habe. Und der Rat gewährte den geforder- 
ten Schutz. Am 5. Juni 1527 ſtand am ſchwarzen Brett die Ankündigung der Wiedereröffnung 
der unterbrochenen Vorleſungen, ein denkwürdiges Programm ſeiner neuen Heilwiſſenſchaft. 
Nicht die Lehre der Alten wolle er wiedergeben, ſondern was er ſelbſt durch Erfahrung der 
Natur, die größte Lehrmeiſterin, gefunden und in langer Übung und Grfab- 
rung bewährt habe; nicht wolle er, wie bisher im Brauch geweſen, Hippokrates und Galenus 
oder irgendwelchen alten Autorom erklären, ſondern eigene Schriften feinen Vorleſungen zu- 
grunde legen. Wolle einer irgend etwas nachprüfen, ſo werden Vernunft und Erfahrung für 
ihn ſprechen. Wer von ihm dieſe neuen Bahnen ſich führen laſſen wolle, der komme nach Baſel. 
„Urteilen mag nur, wer Theophraſtum gehört hat. Gott befohlen! und laßt euch dieſen unſern 
Verſuch, die Heilkunſt wieder aufzubringen, wohl angelegen fein.“ Damit war der Krieg erklärt. 

Hohenheim las vor gefülltem Hörſaal. Und er las in deutſcher Sprache. Auch das 
ein bewußter Bruch mit altgeheiligter Ordnung. Auch darum ein Sturm ber Entruͤſtung. Er 


Theophraſt von Hohenheim, genannt Paracelfus 589 


wußte, warum er deutſch las und ſchrieb. „Ihr verachtet mich, darum daß ich neu bin, daß 
id) deutſch bin. Mein Fuͤrnehmen ijt hie zu erklären, was ein Arzt foll, und das auf deutſch, 
damit es in die Gemeine komme.“ So wurde er der erſte deutſche Hochſchul- 
lehrer, der in deutſcher Sprache las. Er war auch im Herzen immer gut deutſch 
geblieben, trotz ſeiner Weltfahrten. „Ich danke Gott, daß ich ein geborener deutſcher Mann 
bin.“ Er hat auch die deutſche Sprache, die mancher Gelehrte deutſcher Geburt damals kaum 
ordentlich ſchreiben konnte, kraftvoll, kernig geſchrieben und geſprochen, iſt tiefen Sinnes, hohen 
Schwunges, mit poetiſcher Feinheit, und wo es nötig war, ſaftig grob. Seine Zeit war darin 
nicht ſo zimperlich. Nicht immer gelang es ihm, die deutſche Sprache ſo zu meiſtern, daß ſie 
zu einem klaren Ausdruck der in ihm gärenden und ans Licht ringenden Gedanken geworden 
wäre. Eine eigenartige neue Terminologie erſchwert oft das Verſtändnis. Aber „ſo ein neu 
Ding entſpringt, ſoll es nit auch einen neuen Namen haben?“ 

Kurz nach Wiederaufnahme feiner Vorleſungen war St. Fohannistag. Vor der Aula 
brannte ein Holzſtoß: Johannisfeuer nach altem Brauch. Da kam Hohenheim mit feinen 
Studenten und warf Avicennas Lehrbuch, Canon medicinae, in die Flammen. „In St. Zohan 
nisfeuer, auf daß alles Unglüd mit dem Rauch in die Luft gehe! Was ich von euch habe, hat 
das Feuer hinweg und iſt dahin. Was ich lehre, das wird kein Feuer freſſen!“ So ſchreibt er 
{pater einmal in Erinnerung an diefe Runde. Es war offenbar nur ein augenblicklicher Einfall, 
keine Kopie der Tat Luthers vor dem Elſtertor. Man nannte ihn „Lutherus medicorum“. Ein 
Wort ſeiner Gegner. Er hörte den Spott daraus: „Ihr nennt mich Lutherus medicorum mit 
der Auslegung, ich ſei Haeresiarcha, ein Erzketzer! Wie ihr's mit ihm meinet, meint ihr's mit 
mir auch: dem Feuer zu! Du brauchſt auf die Laugen nicht zu warten.“ 

An Verläſterungen fehlte es ihm nicht. Er wurde als roh, als ein Säufer verſchrien. 
Es wird unbedingt zugegeben werden müjfen, daß er von feinen Wanderfahrten und Feld- 
zügen her verwilderte Manieren hatte. Der Wein ſchmeckte ihm auch, und daß er mit Studenten 
zuſammenſaß und pokulierte, macht ihn, der ſo ernſte Worte von der Nüchternheit des Arztes 
ſchrieb, noch nicht zum Trunkenbold. „Kommt's auf die Kunſt an, ſo darf ich meinen Wein 
mit Freuden trinken.“ Lächerlich ift der Vorwurf, er komme daher wie ein Fuhrmann. Er 
trug freilich nicht den roten Talar und das rote Barett des zünftigen Arztes, ſondern einen 
ſchlichten Rock, meiſt ein ledernes Wams. So auch auf all den Abbildungen des zeitgenöffi- 
ſchen Künſtlers Auguſtin Hirſchvogel. Er jagt auch, warum er ein ledernes Wams trug. Der 
Arzt, wie er ihn ſich denkt, muß ſeiner Arbeit im Feuer warten, Tag und Nacht in Geduld. 
Da braucht er lederne Kleider und Schurzfell, daran ſich die Hände zu wiſchen; denn er muß 
die Finger in die Kohle unb Aſche ſtoßen wie ein Schmied oder Köhler. Wer nur mit Phanta- 
fieren umgeht, macht fid) keine Blattern an den Händen. Den Spott gab er ihnen heim. Ihnen 
würde man freilich den Arzt nicht anmerken, fo fie nicht das rote Gewand trugen und daber- 
kãmen wie ein Buki in der Faſtnacht. Nicht das Kleid macht den Arzt, ſondern die Runft, nicht 
doktoriſch Gewand, ſondern doktoriſch Werk, nicht Meiſtertitel, ſondern Meiſterſchaft. 

Unter ſeinen Gegnern waren auch die Apotheker, die er als Stadtarzt zu viſitieren hatte. 
Er warf viel verdorbenes Zeug hinaus und rügte ihre Mberforderungen und Pakt und Geding 
mit den Arzten zu ungunſten der Kranken. Seine metalliſchen Mittel und Extrakte machte er 
fid) ſelbſt und ſpottete der langen Rezepte. „Je länger das Rezept, defto kürzer der Verſtand.“ 

Ein ſchlimmer Streich der Gegner ſollte ihn zu Fall bringen. Ein ſchandbares Schmäh- 
gedicht war eines Sonntagmorgens angeſchlagen. In überſchäumendem Zorn ſchrieb er eine 
ſcharfe Beſchwerde an den Rat. Gleich darauf wandte fid Hohenheim an den Rat um Rechts- 
hilfe gegen einen Domherrn, der ihm das Honorar verweigerte, das er ſelbſt dem Arzt ver- 
ſprochen hatte, der ihn geſund machen würde. Der Rat ſetzte in einem Vergleich das Honorar 
ftatt herunter. In einem Flugblatt wird Hohenheim anzuͤglich gegen den Rat, der ärztliche 
Kunſt einſchätze, als wäre es Schuhmachen. Er hört, daß man im Rat ihn zur Verantwortung 


590 Theophraſt von Hohenheim, genannt Paracelfus 


ziehen wollte, hört gar von einem Haftbefehl wegen Beleidigung der Majeſtät des Rats. Da 
verläßt er bei Nacht die Mauern von Baſel. 

So bat bie verheißungsvoll begonnene, von hidfter Begeiſterung getragene akademiſche 
Tätigkeit ein jähes Ende gefunden. Hohenheim war wieder heimatlos und blieb es bis an das 
Ende ſeines Lebens. 

Es liegt etwas Tragiſches in dem Lebensgang dieſes Mannes, Ober den ein ſchweres 
Geſchick hereinbricht, nicht ganz ohne eigenes Verſchulden, aber doch fo, daß es als ein un- 
verdient ſchweres Geſchick erſcheint, dem er unterliegen mußte. Und es bricht herein, als er 
auf der Höhe ſeines Lebens ſtand, auf dem Poſten, von dem aus er fein Lebenswerk, die Er- 
neuerung der Heilwiſſenſchaft, in der dafür natürlichiten und wirkſamſten Weiſe, als atabemi- 
fher Lehrer und kliniſcher Meiſter, hätte hinausführen können. Seine Schuld lag nicht nur 
in der Unbeſonnenheit, mit der er in einer ſchwachen Stunde feinem Zorn, fo berechtigt er 
war, allzu freien Lauf ließ. „Da möcht ein Turteltaub zornig werden“, ſagte er damals, und 
fo zahm war er nicht geartet. Die Schuld lag allermeiſt in einem hochgeſteigerten Selbſtgefühl. 
Aber, und das iſt wieder das Tragiſche an ſeiner Schuld und in ſeinem Geſchick, er mußte ſo 
ſein. Wer Bahnbrecher werden will, darf nicht beſcheiden ſein, kann nicht beſcheiden ſein. 
Wer ein Lehrgebäude ftürzen will, das durch Jahrhunderte alte Tradition geheiligt erſcheint, 
der muß ein Rufer im Streit fein, in feinem Stürmen getragen von der Kraft höchſten Selbſt⸗ 
bewußtſeins. Was ihm ſeine unverſöhnlichen Gegner ſchuf, was ihm ſein Schickſal bereitete, 
das mußte er ſein. Das nenne ich das Tragiſche in ſeinem Geſchick. 

Und Theophraſt von Hohenheim hatte dies hohe Selbſtbewußtſein, wie irgendeiner. 
Er war überzeugt von der Notwendigkeit, die alte ſcholaſtiſche Medizin über den Haufen zu 
werfen, und durchdrungen von der Richtigkeit ſeiner naturwiſſenſchaftlichen Methode, in die 
ſich freilich noch immer, auch bei ihm, problematiſche philoſophiſche, dem Neuplatonismus 
entſtammende Vorausſetzungen miſchen, die ihm aber genug mit den Augen Geſchautes, aus 
der Erfahrung Erhobenes ſichergeſtellt hatte. Da konnte er fein Denken nicht zurüdfchrauben, 
konnte die mit den Augen geſchauten Ergebniſſe ſeiner Forſchungen nicht verleugnen. Die 
machten ihn ſo ſicher, daß er den Gegnern zuruft: „Mir nach, mir nach, und ich nit euch nach. 
Ich bin Monarcha, nicht Galenus, nicht Avicenna, mein wird die Monarchey fein.“ So ſicher 
war er ſeines Sieges, weil die Wahrheit ſiegen müſſe, daß er ſagte: „Und wenn ihr jetzt meinen 
Leib freſſet, der Theophraſtus wird mit euch kämpfen ohne feinen Leib. Es grünet, was þer- 
fuͤrkommt, mit der Zeit.“ 

Und nun einige der wiſſenſchaftlichen Wahrheiten, die Hohenheim in Wort und Schrift 
ſo leidenſchaftlich vertrat. 

„Es ſoll ein Arzt nichts ſchreiben, allein es ſei im Licht der Natur, wie er ſchreibt. Das 
ijt die rechtſchaffene Theorica, die aus dem Licht der Natur geht und nicht aus erdichtenden 
Köpfen.“ Durch die Erforſchung der Natur wollte Hohenheim zur Erkenntnis des Menſchen, 
zum Verſtändnis feiner Lebensbedingungen, zur Ergründung der Krankheitsurſachen und 
Krankheitsheilung durchdringen. Er ſah einen Zuſammenhang der großen Natur und der Natur 
bes Menſchen, des Makrokosmus und Mikrokosmus. Dies Wechſelverhältnis zu erforſchen, be- 
trachtete er als die Aufgabe der Philoſophie. Und darum ſeine erſte Forderung: „Oer Arzt 
muß ein Philosophus fein.“ i 

Mit feiner zweiten Forderung: „Der Arzt muß ein Astronomus fein“ dürfen 
wir nicht den Gedanken verbinden, Hohenheim habe den Einfluß der Geftirne auf Krankheit 
und Heilung anerkennen wollen. Das war zu jener Zeit der Standpunkt der Aſtrologie, und 
dieſe war ihm „eine abergläubiſch falſche Kunſt, eine Mutter aller Superſtition“. „Die Ge- 
ſtirne gewaltigen gar nichts; fie find frei für fid) ſelbſt, und wir find frei für uns ſelbſt.“ Aftro- 
nomie ijt ihm „Kenntnis des oberen Firmaments“, nach unſerem Sprachgebrauch der atmo- 
ſphäriſchen, klimatiſchen Einflüffe auf die Lebensbedingungen des Menſchen. Zugegeben, daß 


Theophraſt von Hohenheim, genannt Paracelfus 591 


ſich auf dieſem von Hohenheim mehr geahnten, noch nicht exakt erforſchten Gebiet manche Un- 
klarheiten und phantaſtiſche Vorſtellungen mit klaren, guten Gedanken miſchten. 

Aber ganz klar und ſcharf iſt ſeine Stellung zur Alchimie. Hier ſtand er ganz auf 
dem Boden exakter Naturforſchung und erhob aus dem Experiment ſeine Ergebniſſe, die er 
für die Heilwiffenfchaft fruchtbar zu machen ſuchte. Sie war ihm „billig eine Kunſt, die alle 
Arzte wiſſen follen“. Ihre Aufgabe war ihm nicht nur, die Stoffe, Kräfte und Vorgänge der 
Natur zu erfaſſen, „die Elemente in ihrem Weſen zu erkennen“, wie er einmal poetiſch fein 
ſagt: „Herz und Gemüt der Mineralien zu erfahren und ihre Kraft in feine Hand zu faſſen“. 
Die chemiſchen Vorgänge in der Natur gaben ihm ein Verſtändnis für chemiſche Vorgänge im 
Körper der geſunden und kranken Menſchen. So ſtellte er auf wiſſenſchaftlicher Grundlage 
ſpezifiſche Heilmethoden auf, die ihm bisher unerhörte Erfolge brachten. Der Schöpfer der 
pharmazeutiſchen Chemie iſt der Begründer der phyſiologiſchen und pathologiſchen Chemie ge- 
worden. Mit mangelhaften, einfachen Geräten, die er in einer Kiſte auf ſeinen Wanderfahrten 
mit fid führte, arbeitete er unermüdlich. Wenn er kurze Zeit fid) irgendwo aufhielt, brachte er 
ſeine Laborieröfen in Gang. Die Mangelhaftigkeit ſeiner Apparate war es, die ſo frühe ſeine 
Geſundheit untergrub. 

Was fih experimenteller Erfaſſung entzog, ſchaute er mit intuitivem Blick. 
Die Krankheit ift ihm ein halb geiſtiges, halb körperliches Lebeweſen mit eigenen Lebens 
erſcheinungen und Lebensbedingungen innerhalb des menſchlichen Organismus. Mit dem 
Mikroſkop bat die moderne Wiſſenſchaft die ihm noch unfaßbaren, darum als halb geiſtig an- 
geſehenen Lebeweſen erforſcht. Die Heilung einer Krankheit, fo folgerte er aus feiner Voraus- 
ſetzung, vollzieht fid), wenn es der Natur und der Arzneikunſt gelingt, eine fo kraftvolle Lebens- 
tätigkeit zu entwickeln, daß der Schmarotzer erſtickt und zugrunde geht. Der Arzt hat alſo nur 
bie Naturheilkraft anzuregen unb zu ſtärken. „Die Natur ift der Arzt.“ Wo die Natur 
verſagt, iſt der Arzt machtlos und ſoll nichts weiter verſuchen. „Unterſtand dich nit weiter, 
denn ſoweit die Natur ihr Ziel ſteckt.“ 

Die heilende Kraft der Natur war ihm beſonders wichtig in der Chirurgie, eine 
zu ſeiner Zeit vom Arzt verachtete Kunſt, von Hohenheim als „das Gewiſſeſte der Heilkunſt“ 
hochgehalten. Hier hat der Arzt nur die Heilbeſtrebungen der Natur zu unterſtützen, „dem 
verletzten Schaden Schirm und Schützung zu geben vor widerwärtigen Feinden und die 
Wunde vor Fdulung zu bewahren“. „Das Heilſame, das im Menſchen iſt, heilt allein die Wunde; 
halt ſie ſauber und beſchirm's vor den äußern Feinden, alſo werden alle Wunden geheilet.“ 

Wenn Hohenheim Heilwirkungen nicht ablehnt, die magnetiſcher oder ſuggeſtiver Cin- 
wirkung ähnlich ſehen, ſo tut er's, weil er ſagen muß: „Meine Experienz bringt mich dazu.“ 
Er lehnt aber jede Einwirkung dämoniſcher Kräfte ab, es find ihm noch unbekannte, aber natür- 
liche Wirkungen. Und fo wird „noch vieles, was unmöglich geſchätzt wird, unglaublich, un- 
verhoffentlich, einſt wunderbarlich wahr werden“. 

Es ſind das alles ſeine eigenſten Gedanken. Es war ſein Stolz, ſelbſtändig zu ſein in 
feinem Denken, feinem Forſchen, feiner Runft. Sein Wahlſpruch, den Auguſtin Hirſchvogel 
wiederholt über das Bildnis Hohenheims geſchrieben hat, ſagt uns das auch: 

Eines andern Knecht foll niemand ſein,] 
Der für ſich bleiben kann allein. 

Daß der große Gelehrte im Gedächtnis vieler als ein frommer, edler und guter Menſch 
fortlebte, hat jene kleine Geſchichte vom Schatz des Paracelſus ſchon angedeutet. Seine eige- 
nen Worte mögen uns über feine Veltanſchauung im allgemeinen und über die 9[uffafjung 
und Führung des ärztlichen Berufs noch einiges ſagen. Es mag dies zugleich die falſche Rede 
von einem Materialismus des Paracelſus berichtigen, den ein Michelangelo beantwortet habe 
mit dem Worte: 


Nennt's wie ihr wollt, nennt es Natur 
Doch laßt mich glauben an die Gottesfpur. 


592 Theophraſt von Hohenheim, genannt Poracelfus 


An fie glaubte, fie erſchaute Hohenheim in allem, was Naturergründung ihm offenbarte. Ihm 
genügte es nicht, „in bet elementiſchen Schule allein feine Luft zu ſuchen“. Bleibt einer darin 
gefangen, fo fiebt er allein bas Sterbliche, nicht das Ewige. „Dieweil wir allein ſehen in das 
Tödliche, ſo ſind wir blind; dieweil wir liegen in dem, dieweil ſind wir dem Ewigen nichts 
verwandt. So aber unſere Augen weiter ſehen, alsdann fo werden die Wunder- 
werke Gottes geoffenbaret (Philos. sagax, Opera Hufer II, S. 403). So find ihm denn auch 
alle in den Elementen liegenden Kräfte, die der Arzt als Chemiker herausholt, „Magnalia 
Gottes“ (Labyrinthus medicorum I, S. 272). „Gott iſt wunderbarlich in ſeinen Werken und 
Geſchriften, der ohne End wunderbarlich dem Menſchen, als der edelſten Creaturen, ſelbſt 
alles zu philoſophieren befohlen hat und zu erforſchen die Natur, damit ſie die Wunderwerk 
Gottes herfiirzeig. Denn was haben wir auf Erden, als allein in göttlichen Werken zu wandeln 
und ſie zu erkennen“ (de meteorum II, 78). 

Und fo fordert er denn auch vom Beruf des Arztes „eine fromme redliche Kunſt“, „ein 
Amt des Herzens“. Wo er von des Arztes Tugend ſchreibt, hat Hohenheim die ſchönen Worte 
gefunden, die an Tiefe des religiöſen Empfindens und an Kraft des Ausdrucks eines Luthers 
würdig ſind: „Du mußt in Gott eines ehrlichen, redlichen, ſtarken, wahrhaftigen Glaubens 
ſein, mit allem deinem Gemüt, Herzen, Sinn und Gedanken, in aller Liebe und Vertrauung. 
Alsdann auf ſolchen Glauben und Liebe wird Gott ſeine Wahrheit nit von dir ziehen und wird 
dir feine Werke offenbar machen, glaublich, ſichtlich, tröſtlich“ (Paragranum I, 227). So wird 
der Arzt walten, „ein Knecht der Natur, Gott aber iſt der Herr der Natur“. Walten ſoll er im 
Sinne deffen, der da ſagt: „Ich bin mild und eines demütigen Herzens“, als ein rechter Gama- 
titan. „Das göchſte, was wir Arzte an uns haben, ijt die Kunſt, darnach, was dem gleich ijt, 
die Liebe.- Und da iſt ihm „Liebe und Treue ein Ding“, und Treue iſt ihm, den Kranken ge- 
wiſſenhaft beobachten, ihn ſich immer „inbilden“, jeden in ſeiner Eigenart erfaſſen und „nicht 
alle Röſſer mit einem Sattel reiten“, in Nüchternheit und Keuſchheit und mit ſorgſamer Pflege 
ſich des Kranken annehmen und „unbezahlt alle Künſte nach der Wahrheit an den Tag geben, 
und es ſoll ihn doch nicht reuen“. Und ſeine Gegner haben das „zu einem Stichblatt wider ihn 
gemacht“, daß er arm geblieben ijt. Eine Fülle von Ausſprüchen, die von feiner ernſten Auf- 
faſſung des ärztlichen Berufes zeugen, könnten hier angefügt werden; eines noch ſtehe hier, 
ein Zeugnis davon, wie er, Weisheit und Milde verbindend, der Allerärmſten feiner Zeit, 
der Geiſteskranken (id) angenommen. Hier müffe man allermeiſt fid) des Gebotes erinnern: 
Liebe deinen Nächſten als dich ſelbſt, und ergreifend iſt ſein tiefempfundenes Vort an ſolchen 
Kranken: „In deinem Elend, da du drin biſt, in ſelbigem Elend wollen wir dich und uns be- 
hüten und bewahren, dein God) und deine Bürde auf unſern Rüden nehmen und Gott, unſern 
Erlöſer, bitten, dich zu entbinden.“ 

Was er vom Arzte forderte, ſuchte er im Gefühl heiliger Verantwortlichkeit in die Tat 
umzuſetzen. „Lehren und nicht tun, das iſt klein. Lehren und tun, das iſt groß und ganz.“ 
In einer großen Anzahl von Schriften hat er, nimmermüde, ſeine Lehren niedergelegt. Es 
iſt erſtaunlich, wie er das alles leiſten konnte. Schon in Baſel arbeitete er Nächte hindurch, 
gönnte ſich oft nur drei Stunden Schlaf, legte ſich geſtiefelt und geſpornt aufs Bett, ſtand mitten 
in der Nacht auf, wenn ſeine Gedanken ihn drängten. Dann floß es von ſeinen Lippen, daß 
der Ammanuenſis, den er weckte, kaum nachſchreiben konnte. Er machte auf dieſen geradezu 
den Eindruck eines Beſeſſenen, vollends wenn er in überſchäumendem Temperament während 
des Diktierens mit ſeinem Degen herumfuchtelte, den er ſeit ſeinen Kriegsfahrten ſtets trug. 
And fo arbeitete er auch auf feinen Wanderfahrten, die ihn nach der Bafler Zeit durch Oeutſch⸗ 
land, die Schweiz und Ofterreich führten, bald unter Entbehrungen, bald im Genuß reicher 
Mittel, die er nicht zuſammenhalten konnte. Er teilte fie mit Pürftigen, „vertummelte fie 
auch zuzeiten“, das geſteht er ſelbſt, „mit guten Geſellen“. Auch da wieder wollte er „den Wein 
mit Freuden trinken“. 


Eheophraft von Hohenheim, genannt Paracelſus 503 


Eine Berufung zur ärztlichen Behandlung des Bürgermeiſters Studer von St. Gallen 
führte ihn wieder in die Schweiz. Hier in St. Gallen war es, wo er tiefer als bisher von der 
reformatoriſchen Bewegung ergriffen wurde. Längſt hatte er die Heiligen Schriften geleſen 
und Anmerkungen dazu geſchrieben. Nun begann er, in den dreißiger Jahren, eine reiche fchrift- 
ſtelleriſche Ttigkeit auf religidfem unb theologiſchem Gebiet, auch hier wieder ganz ſelbſtändig, — 
eines andern Knecht foll niemand fein, der für fid) bleiben kann allein. Zunächſt ſcharf gegen 
das Papſttum, bald abgeſtoßen durch den Streit unter den Evangeliſchen und tiefverletzt durch 
die grauſamen Maßregeln gegen die mit den Spättäufern zuſammengeworfenen „Brüder“, die 
nach den peinlichen Belegen Thudichums (in ſeinem zweiten Band der Deutſchen Reformation) 
beſonders von Zwingli beſtätigt worden ſind, ſcharf auch gegen Luther und Zwingli. Der Papſt, 
Luther und Zwingli ſind ihm „drei Paar Hoſen von einem Tuch“. Ganz im Sinn der „Brüder“ 
iſt er gegen jede neue dogmatiſche Feſtlegung der chriſtlichen Wahrheiten. Sein Ideal iſt „die 
mauerloſe Kirche“, die Geiſtesgemeinſchaft ohne kirchliche Gebräuche, ein Chriſtentum des 
dankbaren Gottvertrauens und der herzlichen Liebe zum Nächſten. Er wurde von dieſen Ge- 
danken fo ſehr überwältigt, daß er den ärztlichen Beruf aufgibt und als evangeliſcher Bruder 
in die Gebirgstäler des Appenzeller Landes geht, um den dortigen Brüdern als Seelſorger 
und Freund zu dienen. Für fie verfaßte er religiöſe Schriften, ſchreibt ihnen wahrhaft apofto- 
liſche Briefe. Bis gänzliche Mittelloſigkeit, wohl auch die Zerſtreuung der grauſam Berfolg- 
ten ihn nötigte, wieder den ärztlichen Beruf aufzunehmen. 

Bald darauf reift er wieder, wie früher, meiſtens zu Pferd, auf Kreuz- und Querfahrten, 
denen Berufungen zu Konſultationen oder Verſuche, ſeine Schriften zum Druck zu bringen, 
Ziel und Richtung gaben. Die Gegner haben meiſt den Druck hintertrieben. Es wäre ein be- 
ſonderes Kapitel — die Geſchichte ſeiner Schriften. 

1542 kam Hohenheim nach Salzburg. Vielleicht mit der Abſicht, fid) dauernd nieder- 
zulaſſen. Aber ſeine Zeit war um. Nach einem Leben voll Unruhe und Kampf, voll Mühe 
und Arbeit. „Beſſer ift Ruhe denn Unruhe, aber niger (H Unruhe 
denn Ruhe.“ Es kam, wie er einmal ſagte, „die Abendſtund, der keiner entrinnen mag“. 
Sie kam plötzlich. Längſt war feine Geſundheit durch Strapazen der Reifen und Schädigungen 
des Laboratoriums untergraben. Er erkannte die Nähe des Todes. Er wußte, es hilft kein 
Heilmittel. „Alſo will Gott handeln nach ſeinem Willen und will der Natur ihre Kraft nicht 
nehmen, ſondern ſtill laffen ſtehn, wie er der Sonnen ihren Schein nicht nimmt, fo [on Finſter⸗ 
nis kommt. Dieweil Gott der Arznei ſolchen Untergang bereitet, ſo ſchleicht dieweil der Tod 
herein und nimmt das Leben.“ So ſchrieb er einmal. Und ſo kam's. Er ſah dem Tod gelaſſen 
entgegen. Er war ihm nicht nur „der Scherge, der fürbeut zum Gericht Gottes“, er war ihm 
„der Durchgang zur Verklärung“, „das Ende aller Unruh“. „Wir freuen uns des Tags des 
Ends unfrer Arbeit und der Ruhe.“ Mit der Klarheit des Arztes, mit der Ruhe des Philo- 
ſophen, mit der Gottergebenbeit bes Chriſten ordnete er das Zeitliche. In feinem Teſtament, 
einem ſchönen Zeugnis ſeines Glaubens, ſeines frommen Sinnes, ſeiner Liebe zu den Armen, 
vermachte er dieſen ſeine geringe Habe. Für ſich will er ein Begräbnis auf dem Armenfriedhof 
der Bruderhäusler von St. Sebaſtian. 

Am 24. September 1542 ift er geſtorben. In der Kirche von St. Sebaſtian zu Salz- 
burg ruhen noch heute ſeine Gebeine. 

„Was iſt es, das den Medicum reut?“ fo fragte Hohenheim einmal. „Nichts, denn er 
hat ſein Tag vollbracht mit den Arcanis und hat in Gott und in der Natur gelebt 
als ein großer Meiſter des irdiſchen Lichts.“ 

Das war er. Ein Bahnbrecher einer neuen Zeit, ein guter Menſch, ſittenrein in einer 
maßlos verderbten Zeit, das mußten ihm die Gegner laffen, in manchen Fehlern und Irr- 
tümern ein Kind feiner Zeit, ein ſelbſtändiger, tiefer Denker, ein unbeugſamer Charakter. 


Aller Ehre wert. Dr. R. 3. Hartmann 


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— Die hier veröffentlichten, dem freien Meinungsaustauſch dienenden — 
Einſendungen find unabhängig vom Standpunkte des Herausgebers 


Ein Weg zum kirchlichen Frieden 


an hört häufig den Vorwurf, bie evangeliſche Kirche fei in zu hohem Maße Be- 
kenntniskirche. Dies tadelnde Urteil beſteht vom Standpunkt des modernen 
oe > Pfarrers aus zweifellos zu Recht. Ohne eine gewiſſe Dialektik, ohne ein weit- 
gebenbes Anempfinden an veraltete Ausdrucksformen, ohne Anlegung ſtark ſubjektiver Maß- 
ſtäbe bei Ausſcheidung des „Unweſentlichen“ in den Bekenntniſſen, wird er kaum imſtande 
fein, mit der Bekenntnis verpflichtung ein klarbewußtes Einſtehen für Anſichten zu verneinen. 
Andererſeits kann man die Frage aufwerfen, ob vom Standpunkt des Laien aus betrachtet 
die proteſtantiſche Kirche nicht zu wenig Bekenntniskirche ijt. Was kümmert fic der durd- 
ſchnittliche kirchlich geſinnte Laienchriſt um die geltenden Bekenntniſſe? Von der Auguſtana 
oder gar der Konkordienformel und dem Athanaſianum weiß er wenig oder nichts; das wobl- 
bekannte „Apoſtolikum“ aber iſt ihm zur Formel verſteinert, die er vom Altare, fei es mit ge- 
wohnter Reſpektempfindung, ſei es mit einem Gefühl des Mißbehagens oder der Verwunderung, 
in jedem Falle aber ziemlich gleichgültig auffagen hört. Wohl erinnert er ſich, daß früher in 
Schule und Konfirmandenunterricht Lehrer und Prediger den Verſuch machten, ihm hinter 
den harten Schalen dieſes Symbols den lebenswarmen Inhalt des chriſtlichen Glaubens auf- 
zuzeigen, wie er ihn — wenn auch vielleicht ſtark modifiziert — noch jetzt in Ehren hält. Aber 
er kann dieſes Kunſtſtück in Gedanken nicht wiederholen. Manche jener lapidaren Sätzchen 
find ihm inzwiſchen wohl gar anſtößig geworden, und er begreift nun, warum der Unterricht 
ſeinerzeit ſo ſchnell darüber hinwegglitt. Wenn man ihn nach ſeinem Glauben fragte, der ſich 
im eigenen Nachdenken geklärt, im eigenen Lebenskampf bewährt bat, fo würde es ihm nicht 
einfallen, mit den drei Artikeln zu antworten. Die Vorte ſind ihm nicht mehr mundgerecht, 
ſein Bekenntnis ſind ſie nicht. Für ihn iſt das Apoſtolikum eine alte und piel eicht heilige Formel. 
Ein Bekenntnis, das den Schatz feines religiöſen Erlebens in Sobre ausprägte, befibt 
et nicht. j 
So i[t es nicht zu beſtreiten, daß bie regelmäßige Rezitation dee Apoſtolitums dazu bei- 
trägt, den evangeliſchen Gottesdienſt, der ohnehin durch die formuliert n Gebete und Wechſel⸗ 
gefänge etwas Steifes und Schablonenhaftes hat, noch hölzerne und froftiger zu machen. 
Der katholiſche Gottesdienſt, von deſſen Vorbild ſich der evangeli ey noch längft nicht genug 
freigemacht hat, ift freilich noch weit mehr von der Formel uͤberwuchert, doch bringen fatra- 
mentale Weihen, bämmernde Farben und Weihrauchdüfte myſtiſche Stimmungen und Schauer 
hervor, welche über die Leere und Ode der Formel hinwegtragen können. 

Sit es nicht möglich, das überlebte Apoſtolikum im Gottesdienſte durch ein von Theologie 
und Archaismen freies Bekenntnis zu erſetzen, das der proteſtantiſchen Laienreligion einen 

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Ein Weg zum kirchlichen Frieden 595 


ſchlichten, frommen und weitherzigen Ausdruck gibt, ein Bekenntnis, das nicht dem Pa- 
ſtoren zum Aufſagen, ſondern der Gemeinde zum Singen in den Mund zu legen wäre? Könnte 
dort, wo in der Regel der Tiefpunkt der Teilnahmloſigkeit im Gottesdienſte erreicht iſt, ein 
Höhepunkt fröhlicher Anteilnahme erreicht werden? 

Doch wer wird neuen Verſuchen, ein derartiges Bekenntnis zu formulieren, nicht mit 
Stepſis gegenübertreten und erwarten, daß ſchließlich eine vielleicht hochtönende, aber bürftige 
und glatte Formel auf den Tiſch gelegt wird? Wer kann denn heute in unſerer empfindſamen, 
ſubjektiviſtiſchen Zeit ein religiöſes Volkslied dichten, wie man es im Reformationsjahrhundert 
kannte? Da wird zur guten Stunde von dem Paſtor Oberdieck und nach dieſem von Profeſſor 
Dr. Otto-Göttingen auf ein in der Reformationszeit entſtandenes, an Verſe Luthers ſich an- 
lehnendes Glaubenslied hingewieſen, das, in der kernigen, kraftvollen Art des deutſchen Re- 
formators einhergehend, dem gekennzeichneten Bedürfnis nach einem einfachen und freien 
Laienbekenntnis entſpricht. Es lautet: 


Wir glauben all an einen Gott,} Uns zur Seligkeit bewahren 
Schöpfer Himmels und der Erden, Ourch den heiligen Geiſt im Glauben. 
Oer ſich durch Zeſum, ſeinen Sohn, Kein Leid ſoll uns widerfahren, 

Uns zum Vater hat gegeben. Nach dieſem Elend iſt bereit 

Er will uns allezeit ernähren, Uns ein Leben in Ewigkeit. Amen. 


In unübertrefflicher Schärfe, dabei die verſchiedenſten Nuancen des Glaubensftand- 
punktes frei laſſend, wird hier das ſpezifiſch chriſtliche Glaubensmoment hervorgehoben. Wunder- 
voll, ja ergreifend ift ſodann der Ausdruck des Vorſehungsglaubens. Wie kindlich klingt: „Er 
wird uns allezeit ernähren“, wie glaubenstrotzig: „Kein Leid wird uns widerfahren“! Wie 
poetiſch fein und zugleich zu frommem Sinnen anregend iſt der paradoxe Anſchluß der letzten 
Verſe an dieſen zuverſichtlichen Glaubensruf! Auch der Ausblick aufs Senjeits dürfte bei einem 
chriſtlichen, um nicht zu fagen religiöſen, Bekenntnis nicht fehlen. Es kommt noch hinzu, daß 
zu dieſem Texte eine bewegt und feierlich volltönende Melodie gefunden ift, die bei Banden- 
hoeck & Ruprecht in Göttingen gedruckt wurde. (Muſikbeigabe Nr. 122 zur Monatſchrift f. 
Gottesdienſt u. kirchl. Kunſt XVI, 10. Einzelpreis 12 ar Partiepreis von 15 Exemplare an 
je 8 a, Melodie und Text des Glaubensliedes zum Einlegen in das Geſangbuch: 10 Exemplare 
20 A; von 50 Exemplaren an je 1 4.) 

Dod ſtellen wir den Geſichtspunkt der lebendigeren Geſtaltung des proteſtantiſchen 
Gottesdienſtes beiſeite. Noch aus einem anderen Grunde könnte die Einführung des Glaubens- 
liedes für die Kirche von Bedeutung werden. Wie iſt jetzt die Lage? Das Bekenntnis als 
Waffe ſchwingend, ſuchen die Orthodoxen die freigeſinnten Chriſten aus der Kirche zu ver⸗ 
treiben; dieſe ihrerſeits, im Kampfeseifer vielfach zu immer größerem Radikalismus fort- 
geriſſen, bemühen ſich, das Bekenntnis aus der Kirche hinauszuwerfen und huldigen in manchen 
Vertretern einem Subjektivismus, der, zum Siege gelangt, mit dem Bekenntnis auch die 
Kirche auflöſen muß. Würde man fih hüben und drüben nicht beffer verſtehen lernen, wenn 
jenes ſchlichte und froy Bekenntnislied unter uns, unſere Gottesdienſte belebend, lebendig 
würde? Könnte es nicht den Blick für das Gemeinſame, das trotz allen Feldgeſchreis, trotz 
aller herüber und hinüber pgewechſelten Schüſſe noch geblieben ift, wieder öffnen? Könnte 
es nicht eine Brücke werden, die über die bald unerträglich weit ſich dehnende Kluft zwiſchen 
rechts und links ſich hinüber wingt? Könnte es nicht ein Weg, ein Schritt wenigſtens, ſein 
zum kirchlichen Frieden?? Wilhelm Thimme 


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Byzanz Eine chriſtliche Abrechnung Der Türke 
l Ehrfurcht 
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Woch einmal wird das Kreuz vor ben Pforten der Hagia Sophia um- 

8 ) d kehren. Dann kommt es wieder und nimmt feinen Thron wieder 
S ^| ein auf dem Altar, von dem es vor mehr als viereinhalb Jahrhun- 
IN. derten geſtürzt wurde. Die viereinhalb Jahrhunderte werden jid) 
vielleicht auf fünf runden. Ein halb Jahrtauſend —: das Kreuz kann warten... 

„Es find genau vierzehn Jahrhunderte,“ erzählt K. A. Junge in der „Frankf. 
Ztg.“ aus den märchenhaften Schickſalen der auch „Ewigen“ Stadt, — „da erbaute 
der byzantiniſche Kaiſer Anaſtaſios I. nur wenige Stadien weſtlich von der heutigen 
Tſchataldſchalinie quer durch Thrazien von Meer zu Meer ein Bollwerk, durch das 
er das Herz des oſtrömiſchen Reiches gegen den Anſturm der Bulgaren zu ſchützen 
ſuchte. Dieſe Mauer des Anaſtaſios erfüllte wirklich ihren Zweck. Die Bulgaren 
kamen damals nicht nach Konſtantinopel, und auch ſpäter hat trotz wiederholter 
Anläufe keines der ſiegreichen Bulgaren Fuß Konſtantinopel betreten. 

Heute iſt es derſelbe Name, der die Bewohner der Stadt am Boſporus 
erzittern macht. Aber was fid) an den Tſchataldſchalinien abſpielt oder vorbereitet, 
iſt doch keine witzloſe Wiederholung, vielmehr eine bittere Umkehrung deſſen, 
was einſt war, und ein neues Exempel für das Wanderbuch Chidhers des Ewig- 
jungen. Zar Ferdinand iſt mit ſeinen Bulgaren ausgezogen, wenn man ihm 
glauben muß, um das Kreuz gegen den Halbmond, europäiſches Recht und drift- 
liche Kultur gegen aſiatiſche Willkür und Barbarei zu ſchützen, die in Stambul 
ihren Sitz hätten. Aber die Bulgarenhäuptlinge des fünften, ſechſten und neunten 
Jahrhunderts waren wilde Aſiaten, Führer eines türkiſchen Volkes, 
nahe Stamm verwandte der Hunnen und Chaſaren. Byzanz 
hingegen, die goldfunkelnde Hauptſtadt des Romäerreiches, war der Sitz des in 
die Staatskirche gepreßten Chriſtentums und das Magazin des zwar immer weniger 
verſtandenen, aber doch noch unendlich reichen Erbes antiker Kulturgüter. Auch 
bann, als das bulgariſche Herrenvolk in ber Maffe der un- 
terworfenen Slawen aufging, ihr Fürſt Chriſt wurde, änderte ſich 


y 


Zürmers FCagebuch 597 


an bet barbariſchen Wildheit jener Widerſacher Konſtantinopels nicht viel, und 
völlig ungefährlich wurden ſie für dieſes erſt, als die Osmanen Bulgaren und 
Griechen gleichzeitig niederwarfen. 

Eine unendliche Fülle von Bildern, von blendender Schönheit und wider⸗ 
wärtigſter Entartung, von hochaufragender Macht und tiefſter Erniedrigung, von 
Glück und Glanz und jauchzender Feſtfreude, aber auch von beiſpielloſen, blutigſten 
Greueln, die uns heute noch beim Leſen das Herz in der Bruſt erſchauern machen, 
zieht an unſerem inneren Geſicht vorüber, wenn wir die Geſchichte der gewaltigen 
Stadt durchblättern, deren Namen heute wieder ein neues Kapitel der Menfch- 
heitsgeſchichte bezeichnen zu ſollen ſcheint, und die mit dem ſelben Recht wie ihre 
große Rivalin am Tiber den Ruhm der ‚Ewigen“ für ſich in Anſpruch nehmen 
darf. Hier wie dort verlieren ſich die Anfänge in ſagenhaftes Dunkel, hier wie 
dort ſichert die Fülle menſchlicher Erinnerungen an das, was einſt war, dem was 
noch iſt, für menſchliches Maß ewige Dauer. 

Griechen aus Megara, die ſich eine neue Heimat ſuchten, warfen an der Spitze 
des Dreiecks zwiſchen Propontis und Goldenem Horn die Anker, und machten 
aus der wahrſcheinlich längſt beſtehenden phöniziſchen oder thraziſchen Anſiedlung 
die Griechenſtadt Byzanz. Wechſelvoll und reich an Stürmen waren ſchon die 
eriten tauſend Jahre ihrer Geſchichte. Hellenen, Mazedonier, Römer beſaßen nady- 
einander die Stadt und beſtimmten ihre Schickſale. An die Lehre von der Wieder- 
kehr des Gleichen erinnert es uns, wenn wir den Halbmond der Osmanen bereits 
an der auf der Hafenmole aufgeſtellten Statue der Zo und auf den Münzen der 
Stadt ſehen. Im Römerreich war Byzanz [don ein ſtolzes Gemeinweſen und 
Riegel an der Grenzmark gegen die Feinde des Reiches im Often. In den Impe⸗ 
ratorenkämpfen wurde die Stadt, die ſich einem vom Glück nicht begünftigten 
Prätendenten angeſchloſſen hatte, von Septimius Severus vollſtändig 
zerſtört. Der Kaiſer baute ſie zwar nachher in beſcheidenerem Maße wieder auf, 
abet es wäre ihr ergangen, wie etwa Korinth, wenn nicht die cäſariſtiſche Politik 
des erſten Konſtantin dieſen bedeutenden Platz für eine neue Reichshauptſtadt 
gewählt hätte, um dem für ihn noch immer zu republikaniſchen genius loci der 
alten ſich zu entziehen. Der Kaiſer hatte ſoeben ſeinen Gegner Licinius, der ſich 
in Byzanz gegen ihn verſchanzt hatte, bezwungen. Die neu aufgerichtete Stadt, 
der et den Namen Neu- Rom gab und die er nun zur Hauptitadt des ganzen 
Reiches beſtimmte, betrachtete er als ein Denkmal ſeiner Siege. Die Nachwelt 
hat das Teſtament des Deſpoten umgeſtoßen und der Stadt den Namen gegeben, 
den fie heute noch trägt: Ron ſtantinsſtadt. 

Der Kaiſer tat alles, um den Glanz der neuen Stadt dem der alten nicht 
nachſtehen zu laffen: Auf fein Gebot erwuchs eine große Zahl ſchimmernder Prunk 
bauten. Aber was am Tiber im Laufe von feds Jahrhunderten organiſch ent- 
ſtanden war, das ſollte hier das Machtwort des Herrſchers aus dem Boden zaubern. 
Es iſt begreiflich, daß die neue Stadt, die in vielem eine Kopie der alten wurde, 
etwas Geküuͤnſteltes batte und, wenigſtens für die erſte Zeit, des Adels harmoniſcher 
Verhältniſſe entbebrte. Die neue Stadt wurde, wie die alte, auf ſie ben 9 ü- 
geln erbaut, ſie wurde in 14 Regionen, wie ihr Vorbild, eingeteilt, ſie bekam 


598 Zürmers Tagebuch 


ein Kapitol, glänzende Säulenhallen, mehrere Prunkforen, Paläſte, Kirchen, und 
der von Septimius Severus begonnene Hippodrom, in dem ſich oft ſo furchtbare 
und für die Geſchichte der Stadt und des Reiches fo entſcheidende Szenen ab- 
ſpielen ſollten, wurde von ihm fertig gebaut. Die Stadtmauer, die bis dahin nur 
die Stadtteile im Oſten des heutigen Stambul umfaßte, rückte er um 15 Stadien, 
alſo etwa 3 Kilometer nach Weſten. So ziemlich das einzige, was aus der Ronftan- 
tiniſchen Stadt noch übrig, iſt die vielfach geborſtene und nur in Trümmern noch 
vorhandene Porphyrſäule, die auf dem Platze des ehemaligen Konſtantinsforums 
ſteht. Unter der Säule ließ er das Palladium, das Bild der Stadtſchützerin Pallas, 
das angeblich aus dem verbrannten Zlion nach Rom gekommen war, verſenken. 
Mit der Legende von der Wunderkraft dieſes Bildes mag es wohl zufammen- 
hängen, daß vor der Eroberung der Stadt durch die Türken bei den Griechen 
die Mär geglaubt wurde, der Feind werde nicht weiter als bis zur Säule Konſtantins 
in die Stadt dringen. Alsdann werde ein Engel vom Himmel herabſteigen, einem 
armen Manne ein Schwert geben und zu ihm fagen: ‚Räche das Volk Gottes!“ 
Aber weder Pallas noch ein Engel haben die Stadt gerettet. Das Palladium 
mag alſo doch wohl nicht das echte geweſen ſein. 

Die Konſtantiniſche Stadt mußte im folgenden Jahrhundert erweitert 
werden, als die aus arianiſchen Goten beſtehende Garde, die den Schutz der Stadt 
übernommen hatte, außerhalb der Stadtmauer angeſiedelt und für die dort neu 
entſtandenen Quartiere ein weiterer Schutz gegen die Einfälle hunniſcher Völker 
notwendig wurde. Damals, im fünften Jahrhundert, entſtand etwa anderthalb 
Kilometer weſtlich von der Mauer Konſtantinopels, jene unter dem Namen der 
Theodoſianiſchen Mauer bekannte gewaltige Befeſtigung, die, wenn auch nur in 
rieſigen Trümmern, im ganzen noch heute vorhanden iſt. In einer Länge von 
mehr als ſechs Kilometern zieht ſie ſich als gewaltige Doppelmauer mit einem 
breiten Graben und mehr als hundert Türmen vom Marmarameer zum Goldenen 
Horn. Nur die innere Mauer iſt von Theodoſius II. errichtet, an dem weiteren 
Teile der Befeſtigung haben eine ganze Anzahl von Kaiſern gebaut. 

Aus ber langen Reihe von Raifern, die von dem erſten bis zum elften Kon- 
ſtantin, dem Paläologen, in Konſtantinopel das Szepter geführt haben, leuchtet 
uns mit beſonderem Glanze der Name Zuftinian entgegen. Man hat ihn 
den zweiten Gründer der Stadt genannt. Ihm verdankt das Wahrzeichen Kon- 
ſtantinopels, der Tempel der Hagia Sophia, nicht ſeine Entſtehung, aber 
die Geſtalt, in der er den Ruhm eines Weltwunders erlangt hat. Die von Konſtantin 
der heiligen Weisheit erbaute Baſilika, die faſt ganz aus Holz erbaut war, brannte 
in dem furchtbaren Nikaaufſtand des Jahres 552 ab, innerhalb weniger Jahre 
wurde ſie wieder in Stein aufgebaut, und die Tempel in Epheſos, Delos, Palmyra, 
Rom wurden ihrer ſchönſten Säulen beraubt, damit der neue Wundertempel 
ſelbſt Salomos Bau an Pracht übertreffe. 

Zuftinian, der die Vandalen und Goten ausrotten ließ, der 
das Reich von Armenien bis Spanien ausdehnte, der das große Geſetzbuch zu- 
ſammenſtellen ließ, das ſeinen Namen trägt, verlieh der Stadt den Glanz, der 
ihr, wenigſtens bis zur Eroberung durch die lateiniſchen Kreuzfahrer, geblieben 


Fiirmers Tagebuch 599 


if. Er war es, ber bie lekten"Refte bes alten Götterkults mit blutiger Schärfe 
ausrottete, der ſeine Tempel für das Chriſtentum in Anſpruch nahm und aus 
den weiten Grenzen des Reiches ungeheure Mengen an Kunſtwerken, u. a. den 
Phidiasſchen Zeus von Olympia, nach Konſtantinopel ſchleppen ließ, um dort 
die Plätze, die Hallen, den Hippodrom damit zu ſchmücken. 

Aber ſchon zu ſeiner Zeit beginnt die Zerſtörung. Der Hippodrom wird 
der Schauplatz einer Revolte, vor der der kampferprobte Beliſar zittert. Die 
Rennparteien der Grünen und der Blauen treiben ihre Eiferſucht zum blutigen 
Kampf. Oer Hof hat ſich auf Veranlaſſung der Kaiſerin Theodora den Blauen 
angeſchloſſen. Die Grünen erheben Beſchwerde beim Kaiſer. Da ſie kein Ohr 
finden, verlaſſen ſie den Zirkus und erheben ſich gegen die Parteilichkeit des Hofes. 
Eine Woche lang tobt der Aufruhr mit Mord und Brand durch die Straßen. Ganze 
Stadtviertel fallen in Aſche. Der Kaiſer iſt ratlos. Nur Theodora, die er von 
einer Meretrix zur Kaiſerin erhoben hat, verliert keinen Augenblick die Rube. 
Sie hält den Kaiſer von der Flucht ab, und nun gelingt es auch Beliſar, mit ſeinen 
germaniſchen Garden des Aufruhrs Herr zu werden. Der Hippodrom 
wird der Schauplatz eines entſetzlichen Gemetzels. Nicht weniger als 30 000 
brüllende, raſende Menſchen werden zuſammengehauen, und während das Blut 
in Strömen durch die Arena fließt, gibt der Kaiſer das Zeichen zum Wagenrennen. 
Die Niedermetzelung der 25 000 Zanitſcharen unter Mahmud II. hat mit dieſer 
Schlächterei eine entſetzliche Ahnlichkeit. 
| Es ift für bie Zuſammenhänge nicht nebenſächlich, daß Zuftinian, bet 

vorher Upraw da hieß, wie fein Vorgänger Zuftin romaniſierte Slawen 
waren, bie aus Biehzüchtern zu Palaſtbeamten und bann zu Raifern wurden. 
Schon beginnen dieſe Völker ihren Platz in der Geſchichte zu fordern, und es iſt 
auch kein Zufall, daß dieſe beiden Kaiſer gerade in Oſtrom regieren, das für ſo viele 
ſlawiſche Völker, für Serben, Bulgaren und Ruſſen, die Quelle ihrer Kultur ge- 
worden ijt. Was Wunder, wenn alle diefe Völker heute wieder nach Byzanz zurück- 
ſtreben, nicht, um ihm zurückzuzahlen, was ſie empfingen, ſondern um an ſich 
zu nehmen, was die Türken noch übrig gelaſſen haben. Es verdient auch ver- 
merkt zu werden, daß flawiſche Hilfsvölker in den ſpäteren Jahrhunderten eine 
ähnliche Rolle geſpielt haben, wie in den früheren die Goten. Sie mußten den 
Schutz der Stadt übernehmen, zu dem die verweichlichten Griechen untauglich 
geworden waren. 

Bulgaren, Ruffen und moflemifhe Araber haben mehrmals vergeblich 
verſucht, die Stadt zu erobern. Die für mittelalterliche Verhältniſſe febr ſtarke 
Befeſtigung und furchtbare Wirkung des Seefeuers gaben den Einwohnern ge- 
nügende Sicherheit. Wohl aber ſteht die eine vergebliche Belagerung der Stadt 
durch die Araber in einem gewiſſen inneren Zuſammenhang mit der wirklichen 
Eroberung durch ihre türkiſchen Nachfolger im Kalifat. Bei jenen erſten Belagerern 
im Sabre 672 befand jid) auch Gjub, der noch unter dem Propheten ſelbſt die 
Fahne getragen hatte. Er fiel vor den Mauern, und ſein Grab kannte niemand. 
Aber bei der Belagerung durch die Türken wußte es ein beſonders frommer Molla 
zu finden, und nun belebte ſich der durch die lange Belagerung etwas geſunkene 


600 Zürmers Tagebuch 


Mut ber Belagerer wieder. Über dem angeblichen Grabe erhebt fid) jetzt eine 
Moſchee, die als ganz beſonders heilig gilt. 

Die blendende Herrlichkeit der Kaiſerſtadt, in der Reichtum und Appigkeit 
anſchwollen, während die Provinzen ausgeſogen wurden, vermochte aber nicht 
hinwegzutäuſchen über das verbrecheriſche Walten eines nur nach den Maßſtäben 
der Macht meſſenden Oeſpotentums, über bie ſittliche Berderbtheit der Männer 
und Frauen des Hofes, über die rohe Willkür und grenzenloſe Treuloſigkeit eines 
ehrloſen, aber den Gewalthabern unentbehrlichen Beamtentums, über die wider- 
wärtige Erſcheinung eines einflußreichen Eunuchentums, über die haßerfüllte 
Verfolgungsſucht einer in den ſtaatskirchlichen Formeln erſtarrten Orthodoxie und, 
was faſt das Schlimmſte war, über die Verweichlichung und Wehrloſigkeit eines 
wetterwendiſchen Bürgertums, deffen ideelle Intereſſen über Zirkusſpiele, Triumph- 
züge und anderes Schaugepränge nicht hinausgingen. Es gab einige kraftvolle 
und kluge, auch einige ſittlich hochſtehende Kaiſer. Aber in der großen Zahl der 
„Autokratoren“ gibt es wenige, deren Namen fleckenlos find. Welche furchtbaren 
Greuel bei ſo vielen Thronwechſeln! Erdroſſeln, Blenden, Verſtümmeln, das 
ſind die Mittel, mit denen man ſich unbequemer Mitbewerber um den Thron 
entledigt. Die Blutsverwandtſchaft bildet dabei kein Hindernis. Wenn ſchon 
Konſtantin ſeinen eigenen Sohn Criſpus töten ließ, weil er ihn im Verdacht hatte, 
daß er nach der Herrſchaft trachte, jo wird ſpäter der Mord beinahe die regelmäßige 
Form der Thronerledigung. Der Vater gegen den Sohn, der Bruder gegen den 
Bruder, der Sohn gegen den Vater und gegen die Mutter, es gibt keinen Frevel, 
den die kaiſerlichen Paläſte nicht geſehen hätten. 

Das bermak von Greueln brachte den Verfall des Reiches, und wenn 
Friedrich Barbaroſſa trotz der griechiſchen Ranke und Feindſeligkeiten 
die Hauptſtadt verfdonte, fo wußte Enrico Dando lo den vierten Kreuz- 
zug, der vorwiegend aus franzöſiſchen, lombardiſchen, aber auch rheinländiſchen 
Rittern und venezianiſchen Söldnern beſtand, ſcheinbar für die Rechte des Thron 
prätendenten Alexios gegen Konſtantinopel zu richten. Es brauchte keiner 
großen Anſtrengung, um das griechiſche Reich zu ſtürzen. Die Einſetzung des 
jungen Alexios als Kaiſer verſchob nur die Kataſtrophe. Von den Griechen, deren 
Haß gegen die Abendländer wild aufloderte, als ſie die Stadt von Franken regiert 
ſahen, wurde der Kaiſer abgeſetzt, die Franken aus der Stadt vertrieben, die Tore 
geſchloſſen. Und nun begann nach mehrmonatiger Belagerung im April 1204 
jener furchtbare Sturm der Kreuzfahrer gegen die Stadt, ber zuerſt abge- 
ſchlagen, nach einigen Tagen wiederholt wurde, und die Millionenftadt in die Hände 
der Ritter und Kriegsknechte des Weſtens brachte. Nachdem ſchon vorher zwei 
rieſige Feuersbrünſte, die durch das fremde Kriegsvolk angelegt waren, faft ein 
Drittel der Stadt verzehrt hatten, wurden nun auch die noch unverſehrten Teile 
der Stadt von den das Zeichen des Kreuzes tragenden Mordbrennern lateiniſcher 
und deutſcher Nation in Brand geſteckt. Ein Flammenmeer wälzte ſich über die 
ſieben Hügel, und in den Straßen und Gaſſen und in den Häuſern wüteten die 
ausgehungerten, von den wildeſten Begierden und der Sucht nach Beute ge- 
triebenen Scharen nicht nur gegen die Männer, ſondern noch furchtbarer gegen 


Zürmers Tagebuch 601 


Frauen, Zungfrauen und Kinder. Dabei verfuhren fie mit einer fo ſchändlichen 
Zerſtörungswut gegen die Kunſtſchätze der Stadt und mit einer ſo widerwärtigen 
Sucht, die Heiligtümer der Griechen zu ſchänden und zu beſudeln, daß ſelbſt die 
Eroberung durch die Osmanen ſchwerlich ſchlimmere Greuel geboren hat, als ſie 
die unglückliche Stadt von den vertierten, keinem Befehle mehr gehorchenden 
„Streitern des Herrn“ geſehen hat. Die Kaiſergräber in der Krypta der Apoftel- 
kirche wurden herausgeriſſen und die Marmor- und Porphyrſarkophage als Krippen 
für die Pferde benutzt, die man in die Kirchen einſtellte. In der Kirche der Hagia 
Sophia aber, die ihres ganzen Schmuckes beraubt wurde, führten raſende Soldaten 
mit ihren Dirnen ekelhafte Orgien auf. Erſt nach drei Tagen, als eine Sonnen- 
finſternis das abergläubiſche Kreuzheer erſchreckte, vermochten die Führer die 
zügelloſe Notte zur Ordnung zurückzubringen. Die Stadt war eine Ruine. Die 
Kunſtwerke aus dem Hippodrom, den Foren, den Kirchen, von den Säulen waren 
zum größten Teil barbariſch zerſchlagen, aus den Erzſtatuen und Bronzetafeln 
Kupfermünzen gegoſſen worden. Dandolo gelang es mit Mühe, die vier ehernen 
Roffe des Lyſipp und die goldenen Gefäße der Sophia für die Markuskirche zu retten. 

Die Lateiner führten nun 57 Fahre lang ein jämmerliches Regiment in 
der verſtümmelten Stadt, und als der Paldologe Michael das lateiniſche Kaiſertum 
nach leichtem Kampf zu Boden warf, machte er zwar Konſtantinopel wieder zur 
Hauptſtadt, aber wie das Reich nur noch als ein Krüppel weiterlebte, jo vermochte 
auch die Stadt ſich nie mehr wieder ganz von dem furchtbaren Schlage, den ihr 
Venedig und ſeine Kreuzfahrer beigebracht hatten, zu erholen. 

Dennoch hatte gerade der Untergang dieſes zu einigen kläglichen Fetzen 
Landes zuſammengeſchrumpften Reiches, das faſt mit den Stadtmauern zufammen- 
fiel, ſo viel heroiſche Größe, daß man faſt meinen könnte, es ſei wenigſtens ein 
Teil der Frevel, die auf dieſem Boden begangen worden waren, geſühnt worden. 
Das Reich der Osmanen, deſſen Hauptſtadt damals Adrianopel war, hatte ſich 
auf beiden Ufern der Meerengen, bis dicht vor die Mauern der Stadt, ausgebreitet. 
Konſtantin XI., der letzte Paläologe, der wohl das Ende kommen ſah, hatte ver- 
ſucht, im Weſten, bei Venetianern, Genueſen und dem Papſte Hilfe gegen den 
drohenden Sturm zu finden. Er hatte zu dieſem Zwecke die kirchlichen Cinigungs- 
beſtrebungen, die auf dem Konzil von Florenz (1439) zu einem formellen Cinigungs- 
vertrag zwiſchen beiden Kirchen, dem Henotikon, geführt hatten, fortgeſetzt, trat 
ſelbſt zur lateiniſchen Kirche über und verpflichtete ſich in aller Form, die griechiſche 
Kirche dem Papfte zu unterſtellen. Seine Hoffnung, damit die Hilfe des Abend- 
landes zu gewinnen, erwies (id) trotz der Mahnungen des Papſtes als vergeblich. 
Dagegen brach der kirchliche Haß der Griechen gegen die Latiner aufs neue mit 
furchtbarer Heftigkeit los, und der Admiral Lukas Notaras verſtieg ſich zu dem 
unbedachten und nachher bereuten Worte: Lieber den türkiſchen Turban als die 
lateiniſche Mitra. 

Durch eine politiſche Unklugheit batte Konſtantin den erft 24jährigen Sultan 
Mohammed II., der ohnehin nach einem Anlaß fuchte, bie Hauptſtadt bes Romäer- 
reiches zu nehmen und zum Wittelpunkt der osmaniſchen Macht zu machen, ge- 
reizt. Als er den Fehler erkannte, war es zu ſpät. Keinen Augenblick mehr ließ 

Der Türmer XV, A 40 


602 Zürmers Tagebuch 


Mohammed von feinem Vorhaben ab. Zunächſt baute er an ber europäiſchen 
Seite des Boſporus, an deſſen engſter Stelle, das Trutzſchloß Rumili Hiſſar, durch 
das er der Stadt die Zufuhr vom Schwarzen Meere her abſperrte. Als die Proteſte 
Konſtantins vergeblich waren, ließ dieſer ihm erklären, er werde von nun an die 
Stadttore ſchließen und die Stadt mit allen ihm zu Gebote ſtehenden Mitteln 
verteidigen. Die Antwort des Sultans auf dieſe Kriegserklärung war die Ent- 
hauptung der beiden Geſandten des Kaiſers. 

| Über ben Vorbereitungen zum lebten Kampf verging ber Winter. Am 
6. April 1453 rückte Mohammed mit etwa 200 000 Mann von Adrianopel gegen 
bie Mauern der Stadt heran. Außer einer ungeheuren Kanone, bie von 50 Paar 
Ochſen gezogen werden mußte und Steinkugeln von angeblich 1200 Pfund Gewicht 
ſchleuderte, und zwei etwas kleineren Geſchützen ſtellte Mohammed noch vierzehn 
Batterien in der ganzen Länge der Landmauer auf. Gleichzeitig mußte eine 
Flotte, deren Stärke auf 145 bis zu 300 Segel angegeben wird, die Stadt von 
der Seeſeite her einſchließen. 

Konſtantin hatte zur Abwehr kaum 7000 Mann, davon etwa 2000 Genueſen, 
Venetianer, Spanier und andere Fremde, daneben eine Anzahl mäßig großer 
Geſchütze. Die Stärke der Stadt bildete ihr Mauergürtel, der im letzten Winter 
ausgebeſſert worden war. An die Spitze der Beſatzung ſtellte der Kaiſer den 
Genueſen Giuſtiniani, der mit großer Umſicht und Tapferkeit die Verteidigung 
leitete. Die zähe Beharrlichkeit Mohammeds hielt trotz der anfänglich geringen 
Erfolge die Belagerung aufrecht. Seine ſchweren Geſchüͤtze ſchoſſen nach und nach 
an drei Stellen Breſchen in die Mauer, die aber von der Beſatzung immer wieder 
in aller Eile ausgebeſſert wurden. Die Flotte des Sultans hatte wenig Glück, 
ſie vermochte in das durch eine gewaltige Sperrkette geſchloſſene Goldene Horn 
nicht einzudringen, und als ſie vier Schiffe, die Getreide für die belagerte Stadt 
brachten, aufhalten wollte, erlitt fie trotz ihrer Überzahl eine völlige Niederlage. 
Um nun die Stadt auch vom Goldenen Horn aus angreifen zu können, ließ der 
Sultan von Top Hane aus, den heutigen Artilleriewerkſtätten, eine mehrere Kilo- 
meter [ange Bretterbahn zwiſchen den Hügeln hindurch herſtellen, diefe mit Rinds- 
fett einſchmieren, und nun wurden mit Hilfe eines koloſſalen Aufgebots an Soldaten 
in einer Nacht zahlreiche Schiffe auf Rollen in das Goldene Horn hinübergeſchoben. 
So mußte ſich die Stadt auch nach dem Hafen hin wehren. Obwohl nun auch 
der Hunger in der großen Stadt anfing, ſich bemerkbar zu machen, hielt ſich die 
Mannſchaft doch äußerſt tapfer, und alle Aufforderungen Mohammeds, die Stadt 
gegen die Zuſicherung freien Abzugs zu übergeben, lehnte Konſtantin mutig ab. 
Der unerſchrockene Kampf der kleinen Schar gegen die ungeheure Übermacht ijt 
der größten Zeiten griechiſchen Heldentums würdig, und Konſtantins Name darf 
kühnlich neben Leonidas geſetzt werden, wie das Romanostor, bei dem er fiel, 
neben die Termopylen. 

Den 29. Mai beſtimmte Mohammed zu einem letzten entſcheidenden Sturm. 
In der Stadt entnahm man aus den Vorbereitungen im Lager, was kommen 
werde. Der Kaiſer bereitete fid) auf das Außerſte vor. Er nahm mit den Groß- 
würdenträgern in der Sophienkirche das Abendmahl und bat im Palaſt alle, die 


Zürmers Tagebuch = ^ 603 
er jemals beleidigt babe, um Verzeihung. Dann nahmen alle ihre Plätze auf ber 
Mauer ein. Um 2 Uhr in der Nacht begann der Sturm, der zuerſt wenig erfolg- 
reich war. Stundenlang hatten die Türken vergeblich verſucht, durch den Graben 
und die großen Breſchen in die Stadt einzudringen. Mohammed ließ nun ſeine 
Janitſcharen vorgehen. Auch diefe wurden zuerſt blutig zurückgewieſen. Tauſende 
füllten bereits den Graben und der Kaiſer glaubte ſchon den Sturm endgültig ab- 
geſchlagen. Da wurde Giuſtiniani, der zwiſchen Romanos- und Chariſiastor (am 
heutigen Ranonentor) neben dem Kaiſer den Kampf leitete, von einem Pfeilſchuß 
verwundet. In dem erſten heftigen Schmerz eilt er trotz der Mahnung des Kaiſers, 
feinen Poſten zu behalten, auf fein Schiff, um fid) verbinden zu laffen. In der 
inzwiſchen entſtandenen Kopfloſigkeit der Verteidiger gelingt es erſt wenigen, 
dann immer mehr Feinden, die Mauer zu erſteigen, und als nun auch noch eine 
Anzahl Janitſcharen an einer entlegenen Stelle durch ein offen gebliebenes Tor 
auf die innere Mauer gelangen und den im Zwinger kämpfenden Verteidigern 
in den Rücken fallen, ift das Schickſal der unglücklichen Stadt entſchieden. Ron- 
ſtantin wird im Gedränge unerkannt von einem türkiſchen Soldaten erſchlagen. 
Gegen 8 Uhr morgens dringen die Türken in großen Scharen in die Stadt, und 
ein furchtbares Blutbad unter den Verteidigern hebt an. Als man aber deren ge- 
ringe Zahl erkennt, läßt man von ihnen ab und alles zerſtreut ſich in die Stadt, 
um Beute zu machen. Die grauenhaften Vorgänge aus der Eroberung der Stadt 
durch die Lateiner kehren wieder, nur hat die Zerſtörungswut der Türken kein 
ſo reiches Feld der Betätigung mehr. Überdies hatte der Sultan ſeinen Scharen 
befohlen, Kirchen, Paläſte und Staatsgebäude, die er ſich vorbehalte, zu ſchonen. 

Das Furchtbarſte, was geſchah, war der Hagia Sophia vorbehalten. 
Dort hatten jid) vom frühen Morgen an, ale bie erſten Unglücksnachrichten in die 
innere Stadt drangen, Zehntauſende, beſonders von Frauen, Mädchen und Kindern, 
verſammelt. Man hatte die Tore geſchloſſen und glaubte noch immer, daß der 
Feind nicht bis über die Säule Konſtantins vordringen werde. Aber die wilden 
Eroberer zerbrechen die Tore der Kirche, dringen in dieſe ein, beſudeln die Altäre 
und die heiligen Geräte, erſchlagen Tauſende von Männern, ſchänden Mädchen 
und Knaben auf den Altären und zertrümmern, was an bildneriſchem Schmuck 
ihnen erreichbar iſt. Als ſpäter der Sultan ſelbſt triumphierend in der Kirche 
erſcheint, ſchlägt er einen Soldaten, der ſinnlos den Marmorfußboden zerhackt, 
mit dem Schwert nieder und läßt den Leichnam hinauswerfen. Dann ſteigt er 
auf den Hochaltar und ruft, oder läßt durch einen Prieſter ausrufen: ‚Allah iſt 
das Licht der Welt und Mohammed iſt fein Prophet!“ Damit iſt das taufend- 
jährige Heiligtum der anatoliſchen Kirche ein Tempel des ſiegreichen Iſlam 
geworden. 

Mohammed zeigte am Tage der Eroberung eine nicht unwürdige Haltung. 
Zwar ließ er dem Leichnam des Kaiſers nach aſiatiſcher Barbarenſitte den Kopf 
abſchneiden und dieſen einen Tag lang an dem Standbilde Zuſtinians auf dem 
Forum Augusteum aufhängen, damit jedermann ſehe, daß das Romäerreich 
zu bejteben aufgehört habe. Aber den Körper ließ er in Ehren beſtatten. Von den 
kaiſerlichen Beamten ließ er eine ganze Anzahl loskaufen, und als er den kaiſerlichen 


604 Farmers Tagebuch 


Palaſt betrat, zitierte er nicht höhnend, fondern in ernſtem Nachdenken den Vers 
des perſiſchen Dichters: 

Die Spinne ift Türhüter in des Kaiſers Hallen, 

Und die Eule erhebt das Feldgeſchrei im Palaſt. 


Aber ſchon am folgenden Tage, als er, vom Wein und Siegergefühl trunken, 
die Söhne des am Tage vorher freigekauften Admirals Lukas Notaras als Opfer 
für ſeine Begierde verlangte, der Vater ſie ihm aber nicht ausliefern wollte, ließ 
er zuerſt die Söhne vor den Augen des Vaters, dann dieſen ſelbſt enthaupten. 
Dasſelbe Schickſal erlitten alle Großwürdenträger, die er am Tage vorher frei- 
gekauft hatte; ihre Mädchen und Knaben wurden in ſeinen Harem geſchleppt. 

Es war von vornherein Mohammeds Abſicht, die Stadt wieder aufzubauen 
und zu bevölkern. Er begann ſofort damit, und es dauerte nicht lange, ſo war ſie 
wieder ſo volkreich wie vorher. Aber es war keine Griechenſtadt mehr. Zwar 
ſchonte der Sultan die Griechen, die nach der Plünderung noch am Leben waren. 
Er ſicherte ihnen zu, daß ſie nach ihrer Religion und ihren Gebräuchen frei leben 
dürften, er ſuchte auch durch einen klugen Vertrag mit dem Patriarchat dieſes 
für fid) zu gewinnen. Aber aus Konſtantinopel wurde Stambul, der Gig 
des Kalifats, eine Säule des Fſlam. Nicht weniger als acht ihrer ſchönſten Kirchen 
mußten die Griechen hergeben, damit fie in Moſcheen verwandelt würden. Dar- 
unter war außer der ehrwürdigen Hagia Sophia auch die ſehr alte Apoſtelkirche 
mit den Kaiſergräbern, an deren Stelle er die große nach ſeinem Namen benannte 
Moſchee erbauen ließ. Auch die folgenden Sultane haben durch den Bau zahl- 
reicher Moſcheen viel dazu beigetragen, das iflamitifche Gepräge der Stadt immer 
dauernder und augenfälliger zu machen.“ 


* * 
x 


Nun vollzieht fid) das Geſchick, vollendet fih der Kreislauf. Wie einſt die 
mohammedaniſchen Türken als Eroberer mit Schwert und Feuer, ein blutigroter 
Komet am politiſchen Himmel, in die Erſcheinung traten, fo, und gewiß nicht we- 
niger „aſiatiſch“, jetzt die Balkanvölker. Die Serben laſſen gegen die Albanier 
ohne Unterſchied des Alters und Geſchlechts, gegen Greiſe, Frauen und Kinder, 
wenn ſie ſie beiſammen haben, die Maſchinengewehre arbeiten, ſie wollen ſie 
eben vom Erdboden vertilgen. Zum Preiſe ber Komitadſchis, dieſer Galgenvögel, 
aber wertgeſchätzten Brüder und Hilfstruppen der Bulgaren, braucht nichts mehr 
geſungen zu werden, und wie die tapferen Griechen an wehrloſen Türken jeden 
Geſchlechts und Alters ihr Mütchen kühlen, wird auch von den Heldentaten ihrer 
Bundesbrüder keineswegs verdunkelt. „Es ſteckt ein entſetzlicher Rern unmenſch— 
licher Barbarei in dieſen Völkerſchaften,“ ſchreibt Prof. Schiemann in der „Kreuz- 
zeitung“, „und die Verwilderung, die der Krieg mit ſich bringt, hat allen böſen 
Inſtinkten freien Spielraum gegeben. Wenn die jetzt mundtoten Zeugen dieſer 
Untaten einſt heimgekehrt fein werden, dürfte jede Spur von Gympa- 
thie ſchwinden, die das Abendland dieſen Halborientalen noch zuwendet.“ 

„Sind wir denn überhaupt noch in Europa?“ fragt die „Voſſiſche Zeitung“: 
„Iſt es möglich, daß vor den Augen Europas, in Ländern, die geographiſch zu 


Zürmers Tagebuch | 605 


unjerm Weltteil zählen, tagaus, tagein Schand- und Greueltaten haarſträubendſter 
Art begangen werden, ohne daß auch nur eine Hand ſich rührt, ihnen ein Ende 
zu machen? Wo bleiben die flammenden Reden, die man ehemals im engliſchen 
Parlament gegen die bulgarian atrocities vernommen hat? Wo bleiben die vom 
franzöſiſchen Volke einſt verkündeten Menſchenrechte? Wo bleibt die hochgeprieſene 
deutſche Freundſchaft für die Türkei? In dem Bemühen, den Balkankrieg zu 
verhindern, waren die Mächte einig. Allerdings iſt es ihnen nicht gelungen, ihrem 
Willen Geltung zu verſchaffen. Die Staatsmänner und Diplomaten behaupten, 
daß auch heute noch volle Einmütigkeit in allen wichtigen politiſchen Fragen unter 
ihnen beſteht. Man wird zugeben, daß es weit ſchwieriger iſt, ſich über gemeinſame 
Richtlinien der Politik zu verſtändigen, als über allgemeine Fragen der Menſch⸗ 
lichkeit und Wohlfahrt. Kein Hindernis ift vorhanden, eine ſchleunige Verein- 
barung zu treffen, um auf die balkaniſchen Kreuzzugs-Staaten in der denkbar 
ſchärfſten Form einen Druck zur Einftellung hottentottiſcher Menſchenjagden aus- 
zuüben. Die europäiſchen Regierungen, an denen ſo viel herumgemäkelt wird, 
können ſicher ſein, die Völker in ihrer Geſamtheit hinter ſich zu haben, wenn ſie ſich 
zu dem Entſchluſſe aufraffen, die in der entſetzlichſten Weiſe gepeinigten und ge- 
marterten Opfer des Krieges zu ſchützen, die zu Tauſenden und aber Tauſenden 
heimatlos, krank und hungernd umherirren. Keine hilfreiche Hand bietet ſich ihnen 
dar. Vielleicht kam ihnen irgendmal was zu Gehör von europäiſcher Geſittung, 
von europdifden Idealen, von Humanität und Brüderlichkeit. Es muß wohl fo 
ſein, daß ſie eine dunkle Ahnung davon haben, denn an Europa wandten ſich doch 
immer die ihnen feindlich geſinnten Nachbarn, wenn fie Beſchwerde erhoben über 
türkiſche Mißwirtſchaft und über das unleidliche Daſein unter türkiſchem Joch. 
Im Berliner Vertrag von 1878 find Beſtimmungen enthalten über die Willens- 
meinung Europas hinſichtlich der Behandlung der nichtmohammedaniſchen Be- 
völkerung der Türkei. Und Europa ſchweigt, wenn die mohammedaniſche Be- 
völkerung von der nichtmohammedaniſchen maſſakriert wird?“ 

„Haarſträubend“, berichtet der Korreſpondent des „Tag“ aus Saloniki, „find 
die Erzählungen der Augenzeugen, man glaubt ſich in die Zeit des Dreißig 
jährigen Krieges zurückverſetzt, man hält die Barbarei, bie bier und ander- 
wärts begangen wurde, nicht für möglich ... Es läßt jid) nicht mehr 
leugnen, daß ſchwer gefrevelt worden iſt, und daß dieſer Krieg ſchon längſt ſeinen 
politiſchen Charakter abgeſtreift hat und nur noch die Begriffe ,Chrift und Mo- 
hammedaner, Kreuz und Halbmond“ gelten. 

Die Jungtürken der radikalſten Richtung haben ſich einmal dahin geäußert, 
daß im Fall einer Zertrümmerung der Türkei kein Stein auf dem andern bleiben 
dürfe, daß der einziehenden Sieger nur noch rauchende Trümmer und Leichen- 
felder harren würden. Die Türken, welche jetzt noch gegen die Griechen kämpfen, 
ſcheinen dieſem Grundſatz in der Tat zu huldigen. Es kann ſich nur noch um eine 
kurze Spanne Zeit handeln, dann wird das ziviliſierte Europa erfahren, was ſich 
im zwanzigſten Jahrhundert vor feinen Toren ereignen durfte. Die bei Sorowitſch, 
Oſtrowo, Ekſchiſu und Banitza geſchlagenen Türken haben ſich, ſoweit ſie nicht 
als Gefangene in die Hände der Sieger gefallen find, in die Berge zurückgezogen. 


606 Zürmers Tagebuch 


An bie zehntauſend Mann follen gegen Kaſtoria und gegen Goria vorrüden. 
Tauſende wurden zerſprengt und treiben ſich ziel- und planlos umher, und um 
fid) zu nähren, begehen fie Untaten auf Untaten. Während die Chriften die Türken 
als vogelfrei betrachten, morden dieſe, was ihnen an Chriſten in den Weg kommt. 
Ver aſſene Orte, Trümmerſtätten, Leichen, oft gräßlich verſtümmelt, bezeichnen 
den Weg der Heere. Wann wird ſich hier wieder Leben regen? Am Bahndamm 
bei Ekſchiſu, wo die Griechen an die vierhundert Mann an Toten verloren haben 
ſollen, liegen die Patronenhülſen in einer dichten Schicht. Der Boden iſt ferner 
mit Teilen von Geſchützprojektilen beſät, die Leichen der gefallenen Soldaten 
liegen noch unbeerdigt, ihre Geſichter ſind bereits ſchwarz; man fand ferner 52 
Leichen von Frauen, Mädchen, Kindern und Greifen, welche teilweiſe in beſtialiſcher 
Weiſe ums Leben gebracht worden ſind. Die abziehenden Türken vernichteten 
in den auf ihrem Wege liegenden Dörfern das geſamte Vieh, man fand an die 
3000 Stück erſchoſſene Schweine; wo die Häuſer nicht in Flammen aufgegangen 
waren, hatte man geplündert und die ärmlichen Einrichtungen zertrümmert. 
Dies haben übrigens auch die Griechen recht gut verſtanden, die Bulgaren nicht 
minder, nicht einmal die Wohnſtätten ihrer chriſtlichen Mitmenſchen haben die 
Sieger geſchont. Die bei den Konſuln in Saloniki bisher vorliegenden Anzeigen 
über Untaten der Sieger könnten ſchon ganze Bände füllen; jetzt, wo man be- 
ginnt, den Verkehr nad) dem Inlande wieder zu eröffnen, wird man erft klar [eben 
und den Umfang der Verwüſtung feſtſtellen können. Nun wird es ſich auch zeigen, 
bis zu welchem Grade jene Nachrichten auf Wahrheit beruhen, welche da hinaus- 
geben, daß es die mazedoniſchen Chriften darauf abgeſehen hätten, eine f y ft e- 
matiſche Vernichtung des mohammedaniſchen Elements 
durchzuführen, woraus ſich auch die entſchiedene Abneigung der hier anweſenden 
mohammedaniſchen Flüchtlinge erklärt, wieder nach ihren vielleicht längſt zer- 
ſtörten Heimſtätten zurückzukehren. Die Abrechnung, welche die mazedoniſchen 
Chriften mit ben Mohammedanern vorzunehmen gedenken oder ſchon vornehmen, 
ijt der Sitten dieſes Jahrhunderts nicht mehr würdig — doch entſpricht 
ſie leider der Balkanziviliſation.“ 

Kein Wunder, daß ſo viele menſchliche Sympathien auf ſeiten der Türken 
find. Profeſſor Dr. E. v. Düring, der vierzehn Fabre unter ihnen gelebt, vier 
Sabre im Innern Kleinaſiens, im täglichen, ausſchließlichen und nahen Verkehr 
mit ihnen, — dieſer genaue Kenner des Volkes alſo, tritt mit warmen Worten für 
ſie ein: 

„Was das Volk in ben letzten Jahrzehnten ertragen hat, ertragen von den 
eigenen Regierungen und durch die Politik der Großmächte, iſt unerhört. Wer 
Geſchichte verſtehen lernen will, was der Geiſt in einem Heere und die Ideale in 
einem Volke bedeuten, der lerne die Geſchichte der Türkei der letzten Jahrzehnte. 
Und die ganz Klugen möchte ich daran erinnern: Führer und Heere ſetzten ſich 
1806 und 1815 in Preußen weſentlich aus denſelben Menſchen zuſammen! 

Die Korruption unter Abdul Hamid ſpottete jeder Beſchreibung, die Einzel- 
heiten ſind für einen Europäer ſo unfaßlich, daß die Erzählung eigener Erlebniſſe 
ſtets in den Geruch einer Münchhauſen- Übertreibung zu bringen droht. Der größte 


Zürmers Tagebuch 607 


Lump konnte unter Abdul Hamid durch Denunziation zu den höchſten Stellungen 
kommen, und Anſtand und Talent waren die gefährlichſten Eigenſchaften. Goltz' 
größtes Verdienſt um die Türkei war es, daß er trotzdem wenigſtens einigen Elite- 
menſchen in der Armee den Begriff der Pflicht durch dick und dünn, der Liebe 
zum Vaterlande und der Treue gegen den Herrſcher beizubringen vermochte. 
Sd) weiß, daß Abdul Hamid fein Leben weſentlich dieſem Einfluß ber Goltzſchen 
Erziehung der Offiziere verdankt; daß ſie Goltz ſchrieben: unſere Hände ſind nicht 
mit dem Blute unſeres Herrſchers befleckt. Das bekamen Leute fertig, die nie- 
mals zur Zeit ihr Gehalt bekamen und ſtets nur fünf bis ſechs Monate im Jahre. 
Offiziere, die unter ihren Kameraden dreißigjährige Marſchälle und ſiebzigjährige 
Leutnants ſahen; Kameraden, die durch Verrat als Analphabeten zu den höchſten 
Stellen aufſtiegen, und ſolche, die trotz jahrelanger Dienſte unter der heißen Sonne 
Mefopotamiens, Syriens und Arabiens auch nicht eine Beförderung erlebt hatten. 
Briefe, die ich während meiner Tätigkeit in Kleinaſien an Goltz ſchrieb, können es 
bezeugen, wie mir dieſe Leute, in Zivil und Militär, Achtung abnötigten, die trotz 
aller Korruption um ſich herum, trotz aller Zurückſetzung und Ungerechtigkeit be- 
wußt ihre Pflicht taten, weil es ihre Pflicht fei Gott und ihrem Lande gegen- 
über; ihre Pflicht taten unter Verhältniſſen, unter den es keinem von denen, die 
heute in der Preſſe zu ſchmähen wagen, je eingefallen wäre, ihre Pflicht zu tun; 
ich ſelbſt, ich geſtehe es ehrlich, würde verzichtet haben! Wie oft habe ich mit den 
Aiteſten in den Dörfern zuſammengeſeſſen — 80 v. H., nicht der Zehnte, wurden 
ihnen durch die Steuern abgenommen; ſie ſeufzten über die Verwaltung: der 
Padiſchah weiß es nicht —, und ſobald man ſie rief, waren ſie da zum Dienſte des 
Vaterlandes, als gläubige Muſelmanen. Und man rief fie oft! Dauernde Auf- 
ſtände in Arabien; 40 v. H. der dorthin geſchickten Mannſchaften kamen in guten 
Jahren zurück; in ſchlechten waren es nur 15 bis 20 v. H. All dieſer Gut- und Blut- 
ſteuer ſtand an Leiſtung des Staates nichts, aber auch nichts gegenüber. Als der 
Griechiſch Türkiſche Krieg zu Ende war, hatten die Türken alles in allem 3000 
Mann verloren; als der Friede geſchloſſen war, hatten diefe Berhandlungsmonate 
Jie 50- bis 60 000 Mann an Krankheiten gekoſtet! „Braucht man uns denn nicht 
mehr, daß man uns verkommen läßt?“ fragten ſie einen meiner Arzte. „Wir Arzte 
hatten nur morgens die Leichen auszuleſen, ſonſt konnten wir nichts tun, denn es 
fehlte an allem!“ ſagte mir derſelbe Arzt! — 

Es kam die Revolution. Die zweite Revolution, die zur Abſetzung Abdul 
Hamids führte, dieſer Verſuch einer Gegenrevolution war nur möglich aus folgen- 
dem Grunde: Die Zungtürken ließen es an Achtung vor der Religion fehlen. 
Sie hielten die Waſchungen und Gebete nicht, ſie wollten, daß die Frauen à la 
France, d. h. unverſchleiert gingen. Das erſchien dem Mann aus dem Volke, dem 
Soldaten ſchlimmer als alle Schäden einer korrupten Verwaltung. Die Jung- 
türken ſiegten — hatten aber nichts gelernt. In dieſem Blatte habe ich ſofort nach 
der Revolution gejagt, daß die Idee der Schaffung ottomaniſcher Staatsbürger, 
die Einreihung der Chriſten ins Heer, der Gedanke, chriſtliche Offiziere über mufel- 
maniſche Truppen zu ſetzen, eine Utopie, in ihren Folgen unheilvoll ſei. Jeder 
Grieche, der das als möglich von ſich ſelbſt ſagte, log bewußt. In dem allem ſah 


608 Türmers Tagebuch 


der Soldat, das Volk nur eine weitere Beſtätigung ſeines Argwohns: das ſind 
keine echten Bekenner des Iſlams mehr, die Männer, bie fo etwas wollen. Nichts 
aber hielt b's dahin das Heer und damit die alte Türkei zuſammen als der Glaube, 
die Idee, die Begeiſterung für den Slam! Dieſer verhängnisvollen Schwächung 
des Heeres durch die Zweifel im Gemüt des Soldaten ſtand die Uneinigkeit und 
die Politik im Offizierkorps gegenüber. Man hat heute leicht, hämiſche, kritiſche 
Bemerkungen über ‚Renner der Türkei“ und Diplomatie zu machen; man ſollte 
lieber lernen, was es heißt, einem Volke die Grundlagen ſeiner Stärke zu nehmen 
und das Offizierkorps mit Politik zu infizieren. Daß das gefährlich iſt, wußte 
jeder; daß die türkiſche Armee darunter gelitten hatte, war kein Geheimnis; aber 
daß dieſe Anderung des Geiſtes einer Armee ſo raſch ſo furchtbare Folgen zeitigen 
konnte — das kann man auch heute, trotz dem, was man geſehen hat, kaum faſſen! 
Aber laut muß man, müſſen wir, die wir dieſes treue, ehrliche, gute, brave, tapfere 
Volk in der Nähe kennen gelernt haben, dafür eintreten, daß der Türke auch heute 
noch alle dieſe Eigenſchaften hat. Und beſonders: er iſt nicht feig! Aber was iſt 
zu all dem aufgezählten Elend und den Urſachen der Lockerung der alten Diſziplin 
in den letzten Jahren hinzugekommen! Eine chroniſche Wobiliſierung, die Auf- 
ſtände im Yemen, die Kämpfe in Albanien, dann der Stalieniſche Krieg! In 
Albanien hatten Gläubige auf Gläubige ſchießen müſſen; im vorigen Jahre lag 
Tal das ganze Jahr eine rieſige mobilifierte Armee tatenlos bei Smyrna. Was 
mag da politifiert worden fein! Von dieſen Truppen ging die Weigerung aus, 
gegen ihre Glaubensgenoſſen in Albanien zu kämpfen. Kaum waren ſie entlaſſen, 
kam die Mobiliſierung gegen die Balkanſtaaten. Jahre hindurch waren dieſe Leute 
ihrem Hauſe, ihrer Familie, ihrem Acker entzogen; ihre Angehörigen litten Not; 
ſie ſelbſt hatten nur ungünſtige Eindrücke, Mißtrauen gegen die politiſierenden 
Offiziere, eine elende Verwaltung bei vollſtändiger eigener Tatenloſigkeit geſehen! 

Die Regierung, wenn man dieſe abſolute Negation alles deſſen, was Regie- 
rung ift, noch fo nennen darf, bat fi zweifellos auf die abfolute Gider- 
heit der Großmächte in der Erhaltung des Statusquo in 
ihrer Untätigkeit geſtützt und beruhigt. Sie iſt deshalb, genau 
wie alle Welt, mit ganz wenigen Ausnahmen, die nicht gehört worden ſind, durch 
den Ausbruch des Krieges überraſcht. Die türkiſchen Armeen find deshalb über- 
rannt, ehe ſie zur Beſinnung kamen. In früheren Kriegen konnte das Genie der 
Türkei im Improviſieren ſich betätigen: die Betätigung dieſes Genies erfordert 
vor allen Dingen Zeit. Die hat ihnen diesmal gefehlt. So konnte dieſes namen- 
loſe Elend, dieſe dem apokalyptiſchen Todesengel vergleichbare Not über das Volk 
kommen. Wer wagt es, über Leute zu höhnen und dieſe Leute feig zu ſchelten, 
die ſeit Jahren fortwährend unter die Waffen gerufen, ohne etwas zu tun, in ihren 
einfachen, aber ſtarken Gefühlen erſchüttert, ohne jede Vorbereitung und von 
Hunger gequält nun nicht die Tapferkeit gezeigt haben, die ſie ſo unendlich oft in 
der Geſchichte bewieſen haben! Heute ſind die Bulgaren erſchöpft. Skutari und 
Adrianopel ſind auf dem Wege, die Tüchtigkeit der Türken zu zeigen. Wenn nicht 
die Cholera dieſem ſcheußlichen Würgen Einhalt gebietet — es wäre nicht un- 
möglich, daß nun die Zeit zur Beſinnung und ‚zur Improviſation“ genügt hätte. 


Zürmers Tagebud 609 


Wer im Orient gelebt hat, wird keinen Augenblid darüber im Zweifel fein, 
wem höhere Innenwerte zuzuſprechen find, mit wem er lieber in dauernder Ge- 
meinſchaft leben möchte — mit Türken oder mit Griechen. Serben und Bulgaren 
kenne ich zu wenig, um ein Urteil ausſprechen zu können. Aber der kraſſe äußerliche 
Kult der orthodoxen Kirche macht dieſen Menſchen Entwicklung innerer Werte 
febr ſchwer. Von den Türken aber wiſſen wir: der europäiſchen Kultur find fie 
nicht gewachſen, ſie gehen neben ihr und an ihr zugrunde. Hoffen wir, daß es ihnen 
in Kleinaſien vergönnt fei, eine Wiedergeburt zu feiern, zu der im Volke alle Mög- 
lichkeiten und Gaben liegen. Denn der Türke iſt fromm, treu, ehrlich, einfach und 
tapfer!“ 

Nicht minder warm nimmt ſich H. Erdmann im „Allgemeinen Beobachter“ 
des Türken an: 

„Der kranke Mann am Bosporus, den alle ſchätzten wegen feiner 9Injtánbig- 
keit und vornehmen Lethargie, liegt plötzlich im Sterben, und der alte Glanz des 
Osmanenreiches verbleicht angeſichts der blutigroten Farben, hinter denen das 
Kreuz Chriſti ſiegreich hervorleuchtet. Ein trauriges Schauſpiel, dieſe Kataſtrophe 
eines Volkes .., doppelt traurig, weil durch einen Gegner geſtürzt, bem wir die 
Lorbeeren nicht gönnen. Und doch, während wir jetzt noch voller Sympathie auf 
ſeiten des langſam verblaſſenden Halbmondes ſtehen und in Angſten leben, daß 
uns ein altes Märchenland ,Laufendundeine Nacht“ verloren gehen könnte, in 
dem wir als Kinder träumten, wird die Zeit kommen, wo der heilige Refpett vor 
dieſem verſchwindet und wir als Jünger einer anderen Kultur doch den Stab 
über die Türkei brechen, weil ſie nicht imſtande war, genügenden Selbſtſchutz zu 
leiſten, und ihr Leben halb erloſch. Denn noch heute erringt ſich eine Nation ihre 
Stellung nur durch das Blut, und die Wertſchätzung ſeitens der anderen Staaten 
wird nur auf den Schlachtfeldern errungen. Der Krieg iſt die Prüfung, und wer 
fie beſteht, tritt feine Großmachtkarriere an, wird plötzlich gefeiert, auch wenn er 
ſeinen Sieg in beſtialiſchem Ringen erworben und die niedrigſten Leidenſchaften 
gegen eine Welt der vornehmen Beſchaulichkeit losgelaſſen hat. So die Baltan- 
völker; und König Peter von Serbien wird nach kurzer Zeit als Sieger in dieſem 
Kampfe in die Reihe der kulturfördernden Monarchen eingereiht werden. Eine 
ſeltſame Figur, nach der Anſicht aller kampffrohen Menſchen; aber wertvoller als 
der vornehmſte Türke, weil dieſer zu ſpät aus ariſtokratiſcher Gelaſſenheit heraus 
es nicht für nötig fand, gegen dieſen chriſtlichen Barbaren das Schwert zu lockern. 
Gewiß ein Fehler, für den der Türke ſchwer beſtraft wurde, aber verzeihlich für 
einen, der nur mit ſeinesgleichen kämpfen mag, und den es nicht reizt, mit einem 
Serbenkönig um den Lorbeer des Krieges zu ringen. 

Was iſt nun erreicht, wo die jüngſte Kriegsgeſchichte zu Ungunſten der Türkei 
geſprochen hat? Zit wirklich neue Kultur gewonnen worden? Werden bie Baltan- 
Völker wirklich ein wertvoller Erſatz für den erbleichenden Halbmond ſein? Oder 
ift das nur eine Zllujion der Kriegspolitiker, welche in jedem unterlegenen Volk 
niedergehendes Leben erb iden und mit Freuden dieſem gänzlichen Zuſammen- 
bruch entgegenſehen? Nietzſche war einſt fo kühn, angeſichts des deutſch-franzöſiſchen 
Krieges, die romaniſche Kultur dem Anſturm der deutſchen Barbarei gegenüber 


610 Zürmers Tagebuch 


zu verteidigen. Ein grotesker Gedanke für einen Philoſophen, der fid) ſpäter auf 
die Seite des Lebens ſtellte und dennoch in einem Augenblick gänzlicher Ver- 
kennung ſeines deutſchen Gewiſſens ſeine Seele den Franzoſen überlieferte. Manche 
haben ihm dieſes nie verziehen und konnten dem einſamen Philoſophen von 
Weimar mit Recht entgegengehalten, daß Deutſchland in Goethe den modernſten 
aller modernen Menſchen hervorgebracht habe mit einer Univerſalität des Wiffens, 
das ſeinesgleichen ſucht. Ein ſolches Land der Barbarei zu zeihen, war gewiß 
eine Anmaßung, welche den Widerſpruch hervorrufen mußte. Aber jetzt? — 
ſcheint es nicht ſchwer zu ſein, wem man die Palme der Kultur zu überreichen 
hat, auch wenn ſie uns weſensfremd iſt und bleiben wird. Doch der Erfolg hat 
anders entſchieden, und fchon merkt man, wie in dem deutſchen Blätterwalde 
ſich allmählich die Stimmen mehren, welche dem Balkanbund ihren Segen erteilen 
und der ſiebenten Großmacht, wie ein ſerbiſcher Minifterpräfident ſchon anmaßend 
ben Balkanbund getauft hat, ihre Referenz bezeugen. Welch ein Wechſel! So 
ſchnell ſollte man aber einem alten Freunde nicht die Sympathie entziehen, fonft, 
m man fid zum ek ee jener ek ei Rulturträger.“ 

.. . . Namenloſes, unſägliches Elend, beſtialiſche, nichtauszuſprechende 

Schändlichkeiten, ein Meer von Blut und Tränen, und dennoch — „Ehrfurcht 
vor dem Kriege“? Gewiß, bekennt Profeſſor Rade in der „Chriſtlichen Welt“, 
aber vor dem Kriege als Kataſtrophe, vor dem Kriege als Gerichtsvollſtrecker, 
als Liquidator. „Man fhilt zuweilen über unſere herkömmlichen ‚Weltgeſchichten“, 
und ſofern fie nur Kriegsgeſchichten find, mit Recht. Aber große Epochen: Blitze, 
die dunkles, dumpfes, ſchwer zu entwirrendes Ringen der Völker in Friedens- 
formen grell beleuchten, Donner, unter denen morſches Weſen zuſammenbricht, 
um neuem an die Oberfläche drängendem Leben Platz zu machen, das bleiben 
die Kriege doch. Nicht alle. Aber die großen Kriege der Vergangenheit, die von 
den Völkern ausgekämpft wurden, und nicht von den Kabinetten. 
i Auch der Balkankrieg hat uns raſch zur Ehrfurcht gezwungen. Durch bie 
klare, deutliche Sprache, die er zu uns redete. Man hatte gerade uns Deutſchen 
jo ganz anderes gejagt. Mit einem Mal Dieter tiefe Fall der Türkei: da half kein 
Deuteln. Und dies ſtarke Emporſchnellen der Balkanvölker, insbeſondere der 
Bulgaren. Gar ſo tief iſt uns ja wohl das Zutrauen zu den Türken, zu dem uns 
unſere Türkenfreunde erziehen wollten, noch nicht gegangen. Aber um ſo tiefer 
ging nur zu vielen Deutſchen in Offerreid) und im Reich die unfägliche Slawen / 
verachtung. Da werden wir gründlich umlernen müſſen; es iſt hohe Zeit. 

Aber Ehrfurcht! ſagte ich. Nicht Neugier aus ſicherem Winkel heraus. Oder 
gar Luſt an der unüberbietbaren Senſation. Nein, Ehrfurcht vor der Kataſtrophe, 
wie man Ehrfurcht hat vor dem Erdbeben von Liſſabon oder von Meſſina. Der 
Glaube vernimmt auch heute noch aus dem Donner der Geſchuͤtze Gottes Stimme, 
und was fid) ihm dabei als furchtbares Rätſel auf die Seele legt, verlangt keine 
andere Theodicee, als die Naturkataſtrophen auch. 

Dennoch, find nicht bier die Menſchen dazwiſchen? Verantwortliche Men- 
ſchen, wenn der Krieg ausbricht. Mordende Menſchen, wenn er geführt wird. 


Zürmers Tagebuch 611 


Verzweifelnde Menſchen in unfaßbarem Sammer aller Art, wenn und wo immer 
die Zeche bezahlt werden muß. Diesmal hat das halbbarbariſche Gelände. in 
dem der Kampf tobt, und der Wille der Verantwortlichen ſich wie eine Mauer 
aufgerichtet zwiſchen uns und zwiſchen dem, was dort vorgeht. Die Zeitungen, die 
ſonſt alles wiſſen, verſagten. Man ahnt nur furchtbare Greuel hinter der Mauer, 
und ſchon dringt eine Gewißheit durch die Ritzen, daß die Wirklichkeit noch viel 
entſetzlicher iſt. Ein Menſchenmorden, deſſen Folgen zu lindern Arzt und Schweſter 
viel zu ſchwach ſind; Hunger und Peſt gierig mit dem Tode im Bunde. Die 
apokalyptiſchen Reiter. Und während wir eben mit unferer erbarmenden Phantaſie 
noch bei den Soldaten verweilen, hören wir ſchon den Schrei auch der Kinder 
und Frauen und Schwachen und Greiſe, die in paniſchem Schrecken ihre Heimat 
geflohen haben und, zum guten Teil, auf dieſer Erde keine neue finden werden. 

Wie mitleidig find wir, wie erſchüttert, wenn der Atna Hütten und Paläſte 
umſtürzt, ihre Bewohner unter den Trümmern begräbt. Wie gleichgültig, wenn 
in unvergleichlich größerem Maßſtabe ein ſolcher Krieg Ungezählte qualvoll zu 
Tode martert, wochenlang, monatelang! 

Ehrfurcht vor dem Kriege! Gewiß, wie vor allem, was man nicht ändern 
kann. Wo man ſeiner Ohnmacht ſich bewußt und ganz klein wird. 

Aber Ehrfurcht doch erft recht vor dem Ideal, vor dem Pflichtgebot: daß 
fold ein Kriegführen nicht fein ſoll. Manche wollen im Kriege nur das Gottes- 
urteil ſehn, wollen nur für die entfaltete Kraft und Zukunft der Sieger ein Auge 
haben: ja dürfen wir denn die entſetzliche Barbarei die 
fes Zuſammenſtoßes auch nur einen Augenblick über 
(eben oder vergeffen! Das Kaliber der Kanonen prägt doch ſolchem 
Kriege noch keinen modernen Charakter auf: es ift nicht u n f r e Waffe, mit der die 
Völker dort ſich meſſen. Dieſer Krieg findet nur augenſcheinlich im Jahr 1912 
ſtatt, in Wirklichkeit auf dem Boden viel früherer Zeiten, jagen wir: unſers Oreifig- 
jährigen Krieges. 

Und fo foll man uns wenigſtens mit dem Vorbildlichen dieſer Völkerzwie⸗ 
ſprache verſchonen. Mochten Bulgaren und Türken nicht anders können: uns 
Völkern einer höheren Kultur gebührt eine andre Weiſe, uns auseinanderzuſetzen 
und zu finden. Zu dieſer Erkenntnis wird helfen, wenn wir nicht mit leichtfertigem 
Erſtaunen das unerwartete Ereignis an uns vorübergleiten laffen, ſondern ent- 
ſchloſſen in fein furchtbares Geheimnis eindringen, ſoweit es ſich uns noch auf- 
tun wird.“ 


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Kährend es bie längfte Zeit für eine Selbſtverſtändlichkeit gegolten 
. batte, daß der Dichter großen Stils feine Stoffe mit Vorliebe 
der Geſchichte entnahm, trat in den letzten achtziger Fahren etwa 
des vorigen Jahrhunderts ein völliger Umſchwung dieſer An- 
ſchauung ein. Was die Freytag, Scheffel und C. F. Meyer auf hiſtoriſchem Felde 
eben noch Bedeutendes geleiſtet hatten, ſchien der Kritik nicht ſo ſehr vor Augen 
zu ſtehen, als die recht anders gearteten Schöpfungen der Wolff, Dahn und Ebers. 
Eine ungünſtige Meinung von der hiſtoriſchen Dichtung überhaupt nahm in ſolchem 
Maße überhand, daß man ſchließlich im vornherein das dichteriſche Können eines 
Menſchen anzweifelte, der ſich dramatiſch oder epiſch mit geſchichtlichen Stoffen 
befaßte. Eine Zeitlang betrachtete man es als einzige Aufgabe des Oichters, 
daß er ſeine unmittelbare Gegenwart behandelte. Später wurde auch das freie 
Spiel der Phantaſie wieder erlaubt, aber ſich mit Hiſtoriſchem abzugeben, mit 
„toter Vergangenheit“, war verpönt. Und dieſer Bann währte fo lange, daß 
mancher wohl auch heute noch der Meinung iſt, die geſchichtliche Dichtung ſei 
verſiegt. 

Und doch kann von einem ſolchen Verſiegen im gegenwärtigen Augenblick 
keine Rede ſein. Ja das gerade Gegenteil, ein immer kräftigeres Strömen des 
hiſtoriſchen Quells, macht ſich bemerkbar. Man denke nur an die oft hiſtoriſch 
gefärbte Balladik Münchhauſens und Liliencrons, an die geſchichtlichen Romane 
Enrica von Handel-Mazzettis und das Garibaldi-Epos Ricarda Huds, an Schön- 
herrs „Glaube und Heimat“ und an Schnitzlers „Zungen Medardus“. 

Fragt man ſich nun nach dem Grunde dieſes neuen Emporquellens der 
hiſtoriſchen Dichtung, fo wird die erſte Frage ſogleich von zwei anderen über- 
ſtürzt. Was konnte die geſchichtliche Dichtung, die doch jahrtauſendelang ſtrömte 
(denn fdon Homer war ein hiſtoriſcher Dichter), um die achtziger Jahre des 
vorigen Jahrhunderts etwa in Verruf bringen? Sodann: Was war die Urſache 
dieſer von jeher vorhandenen Liebe des Dichters zum hiſtoriſchen Stoff? 


Alemperer: Das Wiedererwachen der hiſtoriſchen Sichtung 613 


Arſprünglich ift die Geſchichte offenbar keine für fih beſtehende Schatz 
kammer der Dichtung, ſondern zuengſt mit ihr verſchmolzen und allein in ihr 
enthalten, natürlich inſofern man als Geſchichte nicht die Bewegung der Menfd- 
heit an fid, ſondern die Überlieferung davon fekt, Der erſte Dichter, ber die 
Abſtammung ſeines Königs von den Göttern, die Kriegstaten ſeiner Vorfahren 
beim Feſtmahl ſingt, iſt der erſte Hiſtoriker. Im weiteren Verlauf der kulturellen 
Entwicklung erfolgt dann eine Trennung von Geſchichte und Dichtung, aber nie- 
mals eine vollſtändige, ja der Zuſammenhang der beiden ijt fogar in der Gegen- 
wart ſtärker als ſeit Jahrhunderten. Ich meine ſo. Während es der Sänger, der, 
wie gejagt, Dichter und Hiſtoriker in einem war, mit der geſchichtlichen Darſtellung 
der Tatſachen nicht allzu genau nahm und die Exaktheit der Darſtellung in jedem 
Augenblick ihrer ſtarken Beſeelung opfern durfte und opfern mußte — denn ſeine 
Aufgabe war ja nicht das Belehren, vielmehr das Unterhalten und Begeiſtern —, 
war der Hiſtoriker, ſobald er fid) einzig als folder fühlte, auf ſtrenge Sachlichkeit, 
auf die alleinige Überlieferung des wirklich Geſchehenen, des Wahren, angewieſen. 
Faßte er ſeine Aufgabe im engeren Sinn, ſo hatte er von all jenen Perſonen 
und Ereigniſſen zu berichten, die die großen und gewiſſermaßen ruckweiſen Ver- 
änderungen im Leben eines Volkes hervorbringen. Faßte er ſie weiter, ſo oblag 
ihm auch die Schilderung der Volkszuſtände, des Kulturhiſtoriſchen alſo, wie es 
ſich in ſteter Wechſelwirkung teils aus dem Hiſtoriſchen ergibt, teils ſelber dies 
Hiſtoriſche beſtimmt und hervorruft. In all dieſem kam nun aber der Hiſtoriker, 
von ſeinem rein wiſſenſchaftlichen Standpunkt aus, ſehr wenig weit. Was er 
vorfand und ſachlich einzig überliefern konnte, war eine Anhäufung von Tat- 
ſachen. Wollte er dieſe nicht als totes Material weitergeben, ſo mußte er aus 
Eigenem Leben hineinbringen, mußte den toten Helden und Volksmaſſen die 
Gründe ihres Tuns und Leidens finden, mußte ſie beſeelen. Und dies heißt doch 
nichts anderes, als daß er eben wieder zum Dichter werden mußte. Wiederum 
hatte er fid) vor nichts mehr zu fürchten, als gerade vor dieſem Zum Dichter 
werden, denn es trug ihm ja unweigerlich den Vorwurf der Unwiſſenſchaftlichkeit 
ein. Ein ſolches Dilemma mußte in demſelben Maße wachſen, in dem bei fort- 
ſchreitender Kultur einerſeits das wiſſenſchaftliche Verlangen und andererſeits 
der Wunſch, nichts Unbeſeeltes um ſich zu dulden, in einem Volke wuchſen. Aus 
der Erkenntnis dieſer Schwierigkeit mag die ſtolze Bemerkung gefloſſen ſein, die 
Grillparzer in ſeiner Selbſtbiographie an die Betrachtung des „Ottokar“ knüpft: 
„Vas ijt denn Geſchichte? Uber welchen Charakter irgend einer hiſtoriſchen Perſon 
iſt man denn einig? Der Geſchichtſchreiber weiß wenig, der Dichter aber muß 
alles wiſſen.“ 

In ſolcher bevorzugten Stellung des Dichters liegt nun ein ungeheurer 
Anreiz. Er muß nicht nur, er darf alles wiſſen, wo der Hiſtoriker nur einiges 
wiſſen kann, er darf erleuchten, wo dem Hiſtoriker die Wahl bleibt, in der Dämme- 
rung zu tappen oder die Fackel des Dichters auszuborgen. Aber den großen Vorteil 
erkauft der Dichter nun auch mit einer gewaltigen Schwierigkeit, die man ſich 
freilich ſogleich in einen neuen Anreiz, ja in eine Reihe entſcheidender Antriebe 
zum hiſtoriſchen Dichten umwandeln ſehen wird. Der Hiſtoriker, bem die Be- 


614 Aemperer: Das Wiedererwachen der hiſtoriſchen Dichtung 


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ſeelung einer fernen Epoche vielleicht nicht ganz gelingt, weil er eben von der 
ſicheren Wiſſenſchaftlichkeit nicht zu weit abgehen will, hat einen ſtichhaltigen 
Troſt: er braucht weder ein Unterhalten noch ein Begeiſtern als ſeine Aufgabe 
zu nehmen, ſondern nur ein Belehren, und es ift das traurige Vorrecht der Lehr- 
ſtunde, bisweilen auch einmal zu langweilen. Dagegen ijt es die unbedingte Auf- 
gabe des Dichters, zu reizen, zu feſſeln, auf das Gemüt und die Phantaſie feines 
Hörers oder Leſers ſtark und unmittelbar zu wirken. Man ſage nicht, dies ſei 
eine ſehr oberflächliche Meinung von der Aufgabe des Dichters, ein ſolcher habe 
ohne Rüdficht auf das Publikum zu geftalten, was ihn bewege; zu fagen, was er 
leidet, iſt manchem ganz undichteriſchen Menſchen gegeben, als Dichter erweiſt 
er ſich erſt, wenn er es fo ſagt, fo geſtaltet, daß er die anderen zum Mitleiden 
und Mitfreuen zwingt. Und nun läuft gerade der hiſtoriſche Dichter die ſtändige 
Gefahr, einfach geſagt: zu langweilen. Was nutzt ihm alle Beſeelung ferner 
Vergangenheit, wenn ſeinem Publikum der nicht übermäßig verbreitete hiſtoriſche 
Sinn fehlt? Der natürliche Menſch wird nur da zum Mitempfinden gezwungen 
werden, wo er den ihn unmittelbar angehenden Dingen gegenüberſteht, den 
Dingen ſeines Hier und Heute, oder den Märchenträumen, die dieſes Hier und 
Heute verklären. Der Wiener jubelte deshalb feinem Raimund zu, weil er in 
Raimunds Fabelldndern immer wieder fein eigenes und gegenwärtiges Wien 
fand. Sagt man nun, das Sntereffe für jede geſchichtliche Dichtung fei ohne 
weiteres gegeben, ſobald ſie nur als echte Dichtung echte Menſchen ins Spiel 
bringe, weil ja doch der Menſch in ſeinen Grundeigenſchaften auf jeder Stufe 
geſchichtlicher Entwicklung jid gleiche, jo ijt dies eine höchſt bedenkliche Argu- 
mentation für die hiſtoriſche Dichtung: denn entweder die Menſchen gleichen 
fid) wirklich, dann wäre das Geſchichtliche in der Dichtung nur überflüſſige und 
befremdende Außerlichkeit, oder aber die Menſchen gleichen jid) nicht auf den 
verſchiedenen hiſtoriſchen Stufen, und dann muß allerdings das Jntereffe des 
Publikums für die ihm fremden Geſtalten erlahmen. Es ijt nun gerade der Gegen- 
wart vollkommen klar geworden, daß eine Gleichheit der Menſchen über räumliche 
und zeitliche Entfernungen hin nicht oder doch nur ſehr eingeſchränkt beſteht, daß 
ſich der Summe konſtanter menſchlicher Eigenſchaften in ſtändigem Wechſel ſolche 
geſellen, die ſich aus der jeweiligen Umgebung und Atmoſphäre ergeben. Der 
Römer war ein anderer Menſch und ein anderer der Grieche, ein anderer der 
Franzoſe zur Zeit des dreizehnten Ludwig und zur Zeit der Zulirevolution. Will 
alſo der Dichter mit einem hiſtoriſchen Stoffe leidenſchaftliche Anteilnahme er- 
wecken, ſo muß er mehr tun, als nur beleben. 

Dieſes Mehr, in ſo verſchiedenartigen Formen es auftritt, wird ſich im 
Grunde immer als ein Gleiches ergeben. Der hiſtoriſche Dichter wird das Ber- 
gangene nicht um ſeiner ſelbſt willen darſtellen, ſondern er wird an dem anders 
gearteten Fernen, oder durch es hindurch, das Bild ſeiner Gegenwart, wie ſie 
iſt, oder wie ſie ſein ſollte, zur Anſchauung bringen. 

Der Wege hierzu find, wie geſagt, mannigfaltige; keiner entbehrt der be- 
ſonderen Schwierigkeit, keiner des beſonderen Reizes. Der nächſtliegende und 
wohl zumeiſt begangene, von dem Dramatiker, den im allgemeinen der große 


füemperer: Das Wiedererwadhen der hiſtoriſchen Sichtung 615 


Held und das gewaltige Tun anziehen werden, von bem Epiker, der eine reichere 
Ernte auf dem kulturhiſtoriſchen Gebiet finden mag, gleichviel begangene, iſt 
der der vaterländiſchen Stoffwahl. Hier ijt der Dichter des Intereſſes feines 
Publikums gewiß, ſpricht er doch von Menſchen verwandten Blutes, von Toten, 
denen der Lebende viel verdankt, denen er gewiſſermaßen Rechenſchaft abzulegen 
hat über die hinzuerworbenen und die verlorenen Güter. Vaterländiſche Dichtung 
wird in Tagen nationalen Stolzes reichlich ſtrömen, reichlicher noch in Tagen 
nationaler Trauer und Selbſteinkehr, und ſo iſt das Größte vielleicht, was der 
Deutfche auf dieſem Gebiet beſitzt, die „Hermannsſchlacht“ und der „Prinz von 
Homburg“. Aber nur die zweite dieſer Dichtungen iſt eine rein vollkommene 
zu nennen, vollkommen, weil ſie beiden ihr Recht läßt: der kurfürſtlichen Zeit, 
in der ſie ſpielt, und der napoleoniſchen, die ihr den Lebensatem eingeblaſen hat. 
Dagegen weiſt die „Hermannsſchlacht“ trotz der grandioſen Gewalt, die das Drama 
wohl immer lebendig erhalten wird, den typiſchen Mangel der hiſtoriſchen und 
gerade der vaterländiſchen Poeſie auf. Hier lebt nichts, als Preußen und Frank- 
reich zwiſchen Zena und Leipzig, und Germanen- und Römertum ift nur nach- 
läſſige Koſtümierung. Die „Hermannsſchlacht“ ijt ein verhülltes Gegenwarts- 
ítüd, kein hiſtoriſches Drama, und fo begibt fie fic des größten Vorzugs hiſtoriſcher 
Dichtung, der eben darin beſteht, daß ſich an vergangenen, abgeſchloſſenen und 
erſtarrten Fernen Maßſtäbe finden laſſen für die quirlende Gegenwart. Ein 
ſolcher Verluſt des eigentlich Hiſtoriſchen aber muß gerade beim vaterländiſchen 
Stoff beſonders leicht eintreten. weil ſich beſonders hier der Dichter von Tendenzen 
zu febr beeinfluſſen laffen tants M 

Dieſe Gefahr verringert jid — ganz fällt fie nie fort, ba die Tendenz die 
perſönliche Verkettung des Dichters mit feinem Stoffe, und alſo tendenzloſe 
Dichtung ein Unding lf. — fie verringert fid) beim Fortlaſſen des ſpezifiſch vater- 
ländiſchen Momentes, womit dann aber auch naturgemäß die Schwierigkeit ſteigt, 
das Intereſſe zu erwecken. Den hiſtoriſchen Dramen Schillers fehlt das Bater- 
ländiſche im eigentlichen Sinne gänzlich, weil der Dichter ſelber im Elend der 
Kleinſtaaterei eines würdigen Vaterlandes ermangelte. Aber ſtarke Beziehungen 
zu den Zuſtänden und Zdeen ſeiner Gegenwart ſind überall vorhanden, beſtimmt 
und nicht nur vielleicht, wie Scherer allzu vorſichtig meinte. Im Wallenſteinprolog 
findet ſich geradezu ein direkter Hinweis auf ſolche Beziehungen, und es bedurfte 
wahrlich dieſer Ankündigung nicht, um herausfühlen zu laſſen, wie ſich das Gewirr 
des Dreißigjährigen Krieges mit dem Chaos der franzöſiſchen Revolution berührt, 
wie über den neunziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts bereits ein Ahnen 
kommenden Cdfarentums ſpürbar wird, für deffen Möglichkeit das Leben eines 
Wallenſtein Anhaltspunkte bietet. Anhaltspunkte und Maßſtäbe — darin liegt 
es; nicht um die äußerlichen Berührungspunkte zwiſchen Vergangenheit und 
Gegenwart geht es dem Dichter, ſondern er ſtellt feine geläuterten, aus der beiten 
Bildung ſeiner Zeit gewonnenen Ideen über Freiheit, Sittlichkeit und Humanität 
an dem fernen hiſtoriſchen Stoffe mit größerer Klarheit und Eindringlichkeit 
heraus, als er es an einem Gegenwartsſtoffe zu tun vermochte. 

Dieſelbe Zeit der Religionskriege iſt, als der dichteriſchen Betrachtung in 


616 Klemperer: Das Wiedererwachen ber hiſtoriſchen Sichtung 


mannigfacher Hinſicht ergiebig, von der neueren deutſchen Dichtung mehrfach 
behandelt worden, und ſkizziere ich nun, wie fid einige Dichter verſchiedener 
Epochen und Eigenart zu dem gleichen Stoffe verhalten, ſo zeige ich am eheſten, 
auf wie vielen Wegen der hiſtoriſche Dichter ſeinen Stoff zu erobern vermag, 
und wie die unendlich vielen Bahnen im letzten Grunde doch immer wieder ein 
und dieſelbe Straße bedeuten. St 

Unter dem Eindruck der franzöſiſchen Revolution ſchrieb Schiller den „Wallen- 
ſtein“, von der achtundvierziger Umwälzung zutiefſt bewegt, dichtete Grillparzer 
den „Bruderzwiſt in Habsburg“. Wieder handelt es ſich nicht bloß um äußere 
Berührungspunkte, auch das bei Grillparzer immer ſtark mitſprechende vater- 
ländiſche Moment ijt hier nicht das Wichtigſte, ſelbſt die am fernen Stoffe in zwang- 
loſer Klarheit entwickelten politiſchen Gedanken zur Gegenwart wirken nicht ſo 
ungemein belebend und naherückend als ein anderes. Entſcheidend iſt die Cha- 
rakteriſtik des Helden. Mit jener Pflicht und jenem Recht, „alles zu wiſſen“, 
macht Grillparzer aus Kaiſer Rudolf II., ohne ihm die Zeitzüge des ſiebzehnten 
Jahrhunderts darüber zu entwenden, geradezu vorahnend den Typus der kommen- 
den dramatiſchen Helden, deren Eigenart darin beſteht, gar keine Dramenhelden 
zu ſein, weil ſie durchaus leidender Natur ſind, weil ihre Tragik in einer lähmenden 
Objektivität des Betrachtens und Empfindens, in einer aus Feinfühligkeit ge- 
borenen Willensſchwäche liegt. Ein Drama im alten Begriff, der wollende Men- 
ſchen, handelnde Helden vorausſetzt, iſt der „Bruderzwiſt“ ſchon nicht mehr, ſondern 
ein erſtes der zwiſchen den einſtigen Gattungen Epos und Drama ſtehenden 
pſychologiſchen Bühnengemälde. Und in der fernen wilden Umgebung tritt das 
Bild des entſchlußunfähigen, verfeinerten modernen Menſchen mit um fo erfchreden- 
derer und rührenderer Deutlichkeit hervor. 

Ein ſtärkeres dramatiſches Leben als in dieſem Drama brandet gegen die 
Marmorwandung gemeißelter Form in C. F. Meyers Roman „Zürg Zenatſch“. 
Denn hier tritt an Stelle der Schwäche des modernen Menſchen die Sehnſucht 
des Modernen nach Stärke, ſtarkem Wollen und ſtarkem Tun. Das leidenfchaftliche 
und ſkrupelloſe Handeln des furchtbaren Mannes ſteht im Dienfte feines in der 
harten Zeit bedrängten Bündnerlandes. Zieht man aber Meyers weitere Pro- 
duktion in Betracht, fo wird man zweifeln dürfen, ob es gerade oder doch aus- 
ſchließlich das Patriotiſche war, was ihn zu ſeinem Helden drängte. Man wird 
eher annehmen können, daß das gewaltige, bie Üblichkeit des Guten wie des Böfen 
überſchreitende Streben an ſich für den Dichter etwas Berauſchendes hatte, daß 
ber Renaiſſancekult, wie er in Meyers ſpäteren eigentlichen Renaiſſancenovellen 
zutage tritt, wie er für die Epoche der Nietzſche und Burckhardt unendlich maß- 
gebend wurde und fo noch das Heute ſtark beeinflußt, hier ſchon den Ausſchlag dibt. 

Neben der ſtählernen Härte dieſes Werkes ſtellen trotz ihres durchdringenden 
Blutgeruches die Romane der Baronin Handel-Mazzetti etwas unendlich Weiches 
dar. Die Oichterin, deren Farbenpracht und Vortkunſt an Meyer gemahnt, 
während ihre ciceroniſche Fülle ſeiner tacitäiſchen Knappheit gegenſätzlich iſt, 
ſucht als leidenſchaftliche Katholikin das Zeitalter der Religionskriege auf, weil 
dort der Kampf um die ihr teuerſten Ideen, der heute vor manchem andern Ringen 


Klemperer: Das Wledererwachen der hiſtoriſchen Dichtung 617 


zurücktritt, das oberſte Weltintereſſe bedeutet. Aber wenn Enrika Handel Mazzetti 
in ihrer katholiſchen Eingeſponnenheit ſozuſagen ein zeitloſes Geſchöpf bedeutet, 
das eben ſo gut im zwölften Jahrhundert wie in der Gegenwart leben könnte, 
ſo trägt ſie doch auch wieder, vielleicht ſich ſelber unbewußt, ſtärkſte Spuren ihrer 
Gegenwart, und gerade das Abſpiegeln dieſes modernen Momentes in den Ge- 
mälden aus der Vergangenheit wird zum Feſſelnden in ihren Romanen, zum 
Feſſelnden auch für ein ſolches Publikum, in dem das Religiöſe und nun gar das 
einſeitig Katholiſche nicht mitſchwingt. Enrika Handel hängt mit beſonderer Innig⸗ 
keit am Marienkult, ſieht in der Jungfrau vor allem die Mutter und verknüpft 
nun fortwährend, wie geſagt: wahrſcheinlich unbewußt, das alte Religiöſe mit 
der ſehr modernen und durchaus irdiſchen Vorſtellung von der Heiligkeit der Mutter 
und des Kindes. So weht ein Atemzug aus dem „Jahrhundert des Kindes“ und 
des Kampfes um das Recht der Frau in die Handelſchen Hiſtorien hinüber. 

Wieder in die gleiche Zeit, ſo ſehr in die gleiche wie die große und einſeitige 
katholiſche Dichterin, daß ihn deren Freunde des Plagiats beſchuldigten, griff 
Schönherr mit feinem Alpenbauernſtück „Glaube und Heimat“. Die Zurück- 
weiſung dieſes törichten Plagiatvorwurfs iſt einfach genug; man braucht nur 
auf die völlige Verſchiedenheit der Themen hinzuweiſen. Dort der katholiſche 
Standpunkt, hier der proteſtantiſche, dort der Kampf zwiſchen den Konfeſſionen 
als Parteien, hier die qualvollere Parteiung in der Bruſt des einzelnen zwiſchen 
Glaubenstreue und Heimatliebe. Aber vielleicht liegt noch viel tiefer, was Schön- 
herr von Enrika Handel Mazzetti ſcheidet. Vielleicht bedeuten diefe Glaubens- 
und Heimatgefühle ſeiner Bauern für ihn nicht mehr, als für C. F. Meyer der 
Patriotismus feines Jenatſch zu bedeuten ſcheint. Vielleicht zog es auch Schönherr 
zu einem ſtarken Empfinden und Streben an fid, gab auch er ein Sehnſuchts- 
bild der Stärke. Nur einer anderen und doch wohl geſünderen Stärke, als Meyer 
tat. Dieſer malte die übergewaltige Perſönlichkeit, jener zeichnet den ſchlicht 
und ungebrochen empfindenden Menſchen, der aus der Ungebrochenheit feines 
Empfindens heraus zum einfachen, gar nicht dämoniſchen Helden wird. Auch 
hierin liegt eine Sehnſucht des Heute, und vielleicht ihre befte... 

Nun aber iſt meine Darſtellung ganz offenbar zu weit vorgedrungen. Es 
war zu zeigen, was die uralte Vorliebe des Dichters für den hiſtoriſchen Stoff 
verurſache. Da ergab ſich, daß im Anfang der Dichter zugleich der Hiſtoriker war, 
und daß er nach Abtrennung der hiſtoriſchen Wiſſenſchaft von der Poeſie dennoch 
im letzten Grunde immer der eigentliche oder doch der beſſere Hiſtoriker blieb, 
weil er eben im Gegenſatz zum eingeengten Diener der Wiſſenſchaft „alles“ wiſſen 
mußte oder durfte. Und weiter fand ſich, daß jenem Anreiz des Beſſerkönnens 
die Schwierigkeit der Intereſſeerweckung die Wage zu halten ſchien. Aber eben 
nur ſchien. Denn ſogleich verwandelte ſich die Schwierigkeit in unendliche neue 
Anreizungen zum hiſtoriſchen Schaffen. Der eine erweckte das Fntereffe durch 
Betonung des vaterländiſchen Momentes, der andere maß pſychologiſche, ein 
dritter politiſche, ein vierter ſoziale Zeitideen im fernen Bilde ab, dieſer ver 
deutlichte einen typiſchen Charakter ſeiner Gegenwart, jener einen von ſeinem 
Heute erſehnten Willens- oder Seelenzuſtand. Und diefe vielen REN, 

Der Türmer XV, 4 


618 Klemperer: Das Wledererwachen ber hiſtoriſchen Dichtung 


das Intereſſe für das Ferne und Andersgeartete zu erwecken, ergaben jid im 
Grunde als ein und dieſelbe: als die Wertung des fließenden und unfertigen 
Heute am abgeſchloſſenen Geſtern. Einer Dichtung, der ſolches Schaffen verwehrt 
wurde, geſchah Ubleres, als nur die Verrammlung einer Schatzkammer: ihr wurde 
ein Arm gelähmt, und vielleicht nicht der linke. Eine ſolche Lähmung konnte 
nicht andauern, und indem ich nun, Beiſpiele für jene Möglichkeiten des hiſtoriſchen 
Dichters ſuchend, bis auf Enrika Handel und Karl Schönherr vordrang, zeigte 
ich ſchon, wie die Lähmung bereits gewichen iſt. Womit aber übergangen wurde, 
was dieſe Lähmung überhaupt herbeiführen konnte, und was ſie gerade jetzt 
vertreiben mußte. 

Man kann bei jungen Leuten oft einen wenig literariſchen, aber febr zu- 
treffenden Ausdruck hören. Sie ſagen wohl, ſie könnten keinen Klaſſiker leſen, 
er ſei ihnen in der Schule „verekelt“ worden. Das heißt, ſie wenden ſich von 
ſolcher Lektüre nicht deshalb ab, weil ſie von dem geringen Wert der Werke 
überzeugt ſind, ſondern weil ihnen eine pedantiſche oder flache Auslegung den 
Geſchmack daran verdorben hat. Sollten in den letzten ſiebziger und in den 
achtziger Jahren die Ebers und Dahn mit ihren ſeichten Koſtümgeſchichten, die 
der geſchichtlichen wie der Dichtung überhaupt ziemlich gleichfern ſtehen, nicht 
ein ähnliches „Verekeln“ bewerkſtelligt haben? So daß die hiſtoriſche Dichtung 
ihre Freunde einbüßen mußte, weil ſie in die Hände einiger ungeeigneter Männer 
geraten war? Aber die Stimmung der literariſchen Jugend jener Tage wandte 
fih nicht etwa bloß gegen bie poetiſchen Sünder auf dem Sondergebiet der bijto- 
riſchen Dichtung. Auf jedem Kunſtfelde wurde der Kampf eröffnet gegen Schablone, 
Seichtigkeit und Verlogenheit, es ging um ſchärfere und tiefere Erfaſſung des 
äußeren und des ſeeliſchen Lebens, und Wahrheit hieß die Parole der „Neuen“. 
Wahrheit aber ließ ſich nur von dem verkünden, was man mit eigenen Augen 
fab, mit eigenen Händen berührte, und fo mußte der Naturalismus über die bloßen 
Antipathien gegen etliche ſeichte Hiſtoriendichter hinaus zur prinzipiellen Ab- 
lehnung der hiſtoriſchen, zur ausſchließlichen Anerkennung der Gegenwartsdichtung 
gelangen. 

Aber freilich, ſofern er nur in ſeinem Wahrheitsſtreben, beſonders in dem 
nach innen gerichteten, nicht erlahmte, mußte er ſich auch zwei alte Wahrheiten 
erobern, die ihn ſelber überwanden und zerſtörten. Die eine war die Erkenntnis, 
daß ein bloß exaktes Wiederholen des Gegebenen noch keine Kunſtleiſtung ſei, 
daß zwiſchen der Wahrheit bes Realen und des Oichteriſchen ein Unterſchied be- 
ſtehe, die andere, ihm noch verderblichere, die Einſicht, daß es um die mathematiſch 
ſichere Erkenntnis der Außenwelt und des Ichs überhaupt höchſt fraglich beſtellt 
ſei, daß ſchließlich alles auf ein taſtendes Vielleicht und auf die Intuition der 
Phantaſie hinauslaufe. War es aber mit der Genauigkeit des Erkennens überhaupt 
nichts, fo lag auf die Dauer kein Grund vor, auf den hiſtoriſchen Stoff zu ver- 
zichten, und Gerhardt Hauptmann dichtete fein Drama „Florian Geyer“ und 
M. E. delle Grazie ihr Epos „Robespierre“, und die vom Naturalismus geftellte 
Forderung der Exaktheit konnte dieſen Werken nur zugute kommen. 

Damit hätte nun die hiſtoriſche Dichtung wieder in Gnaden aufgenommen 


Klemperer: Das Wiedererwachen der hiſtoriſchen Dichtung 619 


ſein müſſen. Doch ein anderes tat ihr entſchiedeneren Abbruch. Der Naturalismus 
batte die Wahrheit in ziemlich robuſter Weiſe in der Darſtellung der Außenwelt 
zu bieten verſucht, und es iſt ſehr wohl möglich, daß ſeine ſozialen und ſozialiſtiſchen 
Neigungen eben ſo ſehr als aus gutem Herzen aus äſthetiſcher Oppoſitionsluſt 
gegen die bisher übliche, den vierten Stand ausſchließende, „Salonmalerei“ und 
„Gartenlaubenpoeſie“ hervorgingen. Nun trat jener Zweifel an der Möglichkeit 
der wirklichen Wahrheitserkenntnis ein, und wenn er auch gerade, wie gezeigt 
worden, der hiſtoriſchen Spiegelung oder Meſſung des Gegenwärtigen für einen 
Augenblick neuen Naum ſchuf, ſo zwang er doch ſchon im nächſten Moment die 
Dichtung in die Tiefe und — Enge rein individuellen Betrachtens. Piychologie, 
die bald eine unheimliche Verwandtſchaft mit Pſychiatrie aufwies, wurde Allein- 
herrſcherin. Das qualvolle Bewußtſein von der Unficherheit des Ichs in feiner 
Abhängigkeit vom Ererbten, von Stimmungen, in ſeiner Unbeſtändigkeit, ſeiner 
Blindheit fid) ſelber gegenüber beſeitigte jedes andere Intereſſe, machte alles 
ſchlichte und große Fühlen unmöglich. Nur das Verlangen blieb, dieſes von innen 
heraus bedrohte perſönliche Leben dennoch und trotzdem völlig zu genießen, un- 
bekümmert um die übrige Menſchheit, unbekümmert um das Geſtern und Morgen. 
Das Bemitleidenswerte in dieſem überreizten Lebensverlangen lag in der von 
vornherein gegebenen Unmöglichkeit ſeiner Erfüllung. Zum ſtarken Lebensgenuß 
gehört als erſtes und Hauptſächliches ein ſtarkes Wollen-können, und mit Selbft- 
beſpiegelung, ſeeliſcher Zerriſſenheit und wollüſtiger Hingabe an wechſelnde 
Stimmung läßt ſich keine Willenskraft vereinigen. Der bedeutendſte und ehrlichſte 
Dichter dieſer Unſicherheit und dieſes Lebensverlangens ſcheint mir Arthur Schnitzler 
gu fein. Als die Dichtung vom Naturalismus zur Pſychologie, vom Sozialen 
zum Sndividuellen überging, vereinigte er in einem ungemein lebensvollen hifto- 
riſchen Einakter („Der grüne Kakadu“), der am Abend des Baſtilleſturms ſpielt, 
aufs merkwürdigſte dieſe beiden Tendenzen. Danach ſich immer mehr in das 
einzig Individuelle einwühlend, verließ er den nur eben betretenen hiſtoriſchen 
Boden und ſtellte neben Gegenwartsdichtungen Spiele aus einer völlig märchen 
haften Renaiſſance, in denen er Menſchen des vollen Lebensgenuſſes zu malen 
ſuchte, und doch nur die Lebensſehnſüchtigen wirklich malen konnte, weil er ja 
vom einheitlichen Wollen nichts mehr wußte. 

Und nun hat eben dieſer Dichter in feinem „Zungen Medardus“ den Anſchluß 
an bie vaterländiſche Geſchichte geſucht, bat, mit teilweiſem Gelingen zum min- 
deſten, die verſchiedenen Empfindungen der Wiener im Jahre 1809 gezeichnet, 
hat einen Helden dargeſtellt, der, aus welchen Gründen auch immer, den Willen 
zu einer Tat und am Ende eines von Stimmung zu Stimmung ſchwankenden 
Lebens Beharrlichkeit findet. Es iſt, als kehre Arthur Schnitzler zur Geſchichte 
wie zu einer Heilquelle zurück, an der er Heilung finden könnte von der allzu großen 
Enge, in die das Nichts-als-Individualiſtiſche hineinführte, von der Haltloſigkeit, 
die es mit ſich brachte. Und wie einen Heiltrunk hat das geſamte deutſche Publikum 
die ſchlichte hiſtoriſche Dichtung Karl Schönherrs aufgenommen, um der Geſtalten 
willen, denen die von manchem, und nicht von den Schlechteſten, erſehnte Kraft 
und Einheitlichkeit und dabei doch auch Demut des Empfindens und Wollens 


620 Die Haupt-Stabt 


innewohnt, und um der Klarheit willen, die gerade das Bild einer vergangenen 
Epoche über das Weſen der Gegenwart verbreitet. 

Und fo erklärt es ſich denn auch, warum eben jetzt die hiſtoriſche Dichtung 
neu zu ſtrömen beginnt. Man iſt ſich in der Literatur einer Schlaffheit, einer 
Verengung und Verwirrung bewußt geworden. Belebung der Vergangenheit, 
hiſtoriſche Dichtung alſo, könnte dem Übel vielleicht ſteuern. Und wer ſich krank 
fühlt und weiß, wie die Krankheit zu beheben wäre, pflegt das Mittel nicht un- 
verſucht zu laſſen. 


Die Haupt⸗Stadt 


(Berliner Theater-Rundſchau) 


es nod? 


Die Hegemonie war vom Gottſchedſchen Leipzig auf das Schröderſche Hamburg und von 
der Hanfeftadt, die raſch in ihre kaufmänniſche Nüchternheit zurüdverfiel, auf das Ifflandſche 
Berlin übergegangen. Überall und immer waren es nur einzelne Perſonen, nicht Kultur- 
bebür[nijfe geweſen, die kurze Epochen ſchufen. Nicht von unten und noch viel weniger von 
oben kam der Segen. An die reichen Mittel der Hoftheater blieb, von einzelnen kurzfriſtigen 
Verſuchen (Zmmermann in Süjjelbor[!) abgeſehen, die dramatiſche Kunſt im allgemeinen 
angewieſen. Aber einen ſehr fragwürdigen Gebrauch machten die Höfe von ihren Mitteln. 
Ihre Kunſtbeamten bekümmerten fic um die freie Kunſt hauptſächlich inſofern, als fie ihr die 
Freiheit zu unterbinden trachteten. In Wien war der „Vallenſtein“ durch Jahrzehnte ver- 
boten, weil Schiller über die öſterreichiſche Politit während des Dreißigjährigen Krieges manches 
aufrichtige Wort fallen ließ; in Berlin widerſetzte man ſich anfänglich der Aufführung von 
„Wallenſteins Lager“, weil die Reden der friedländiſchen Soldaten mit der preußiſchen Armee 
diſziplin nicht recht übereinftimmten. Nach Ifflands Tod (1814) übernahm das Schreyvogelſche 
Wiener Burgtheater die Führung des deutſchen Theaterſtaates, unb die „erfte deutſche Schau- 
ſpielbühne“ behauptete fie in den mageren Zeiten der Holbein, Halm und Oeinhardſtein und 
in den fetten der Schreyvogel, Laube und Dingeljtedt bis in die achtziger Jahre des vorigen 
Jahrhunderts. In Wien übte das Theatervolk, die theaterbegeiſterte Bevölkerung, immerhin 
einen gewiſſen Gegendruck aus gegen die Hofkanzlei. In Berlin hingegen wurde das Hof- 
inſtitut immer mehr das Vorbild — nicht für das deutſche Nationaltheater, aber für die höfiſch⸗ 
bureaukratiſchen Runftverwaltungen. Konſervative Abwehr des ſprießenden und treibenden 
neuen Geiſtes und preußiſche Sparſamkeit bewährten fid) als Leitgrundſätze der Königlichen 
Intendantur bis zum heutigen Tage. Unter der Pflege des deutſchen Geiſtes verſtand man 
die Bevorzugung patriotiſcher Tendenzſchauſpiele: einſt der Raupachſchen Hohenſtaufen- 
Dramen, fpäter der Wildenbruchſchen Hohenzollernſtücke und der Lauffſchen Hurra⸗-Feſtſpiele. 
Mit ſeinem Hoftheater verödete die Theaterſtadt Berlin durch Jahrzehnte ungeſtört; denn 
außer dem Wallnertheater, das der Lokalpoſſe gewidmet war, und ſpäter einigen Operetten- 
unb Ausſtattungstheatern gab es hier keinen Wettbewerb. Von einer Theatervorherrſchaft 
Berlins konnte bis gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts nicht mehr die Rede fein — 
trotz einzelner leuchtender Haͤupter der Schauſpielkunſt, die ihren Glanz über die Berliner 
Hofbühne verbreiteten. 


Die Haupt-Stadt 621 


Die Hegemonie Wiens in ber deutſchen Theaterwelt erhielt die erſten Erſchütterungen 
durch das Auftauchen des (nach einem reichlichen Jahrzehnt wieder verlöſchten) Meteors ber 
Meininger, die mit ihrer hiſtoriſchen Treue und ihren (noch groben) Maſſenwirkungen dem 
Bühnennaturalismus in dunkler Ahnung vorausgingen; und durch die Gründung des Berliner 
,Seutjden Theaters“. Hier zum erſtenmal wurde den alten, ſtreng bebüteten Stilgeſetzen 
des Burgtheaters eine Verjüngung der Klaſſiker, aus dem Zeitgefühle heraus, entgegengeſetzt. 
Aber die unbeſtrittene Herrſchaft im Oeutſchland der Bühne fiel der jungen Reichshauptſtadt 
zu, nachdem fie ſelbſt vor einigen zwanzig Jahren vom Geiſte Ibſens und von den deutſchen 
Naturaliſten erobert worden war. Die erſte Aufführung des literariſchen Vereins „Freie 
Bühne“ im Herbſte 1889 bezeichnet den Beginn einer neuen theatergeſchichtlichen Epoche, 
die den Namen „Berliner Stil“ trägt. 

Dieſe zweite Blütezeit des künſtleriſchen Berliner Theaters währt nun über zwei Sabr- 
zehnte. In ihr vollzog fid) eine Art von Zentraliſation der deutſchen dramatiſchen Runft. 
Berlin, die rieſige Markthalle für alle materiellen und geiſtigen Güter, wurde auch das Eichamt 
der Literatur und des Theaters. Nur was die Berliner Punze trug, hatte allgemeine Geltung. 
Es kann nicht geleugnet werden, daß in der großen Koloniſtenſtadt, die an bodenſtändigen 
Talenten nicht gerade fruchtbar ijt, die Ströme aus allen deutſchen Landen zuſammenfließen. 
Was das Berliner Theater, voran die Brahmſche Fbfen- und Hauptmannbühne, für die Ent- 
wicklung der dramatiſchen Kunſt leiſtete, wird der Hiſtoriker hoch einſchätzen. Die Theater- 
ſtadt Berlin hielt die Zügel auch dann noch feſt, als ihr eigenes Kind: der Berliner Naturalis- 
mus, die Parteifahne einrollte und neue Bewegungen zu neuen Zielen drängten. Auch die 
modernen Romantiker, Symboliſten, Klaſſiziſten, ſchlugen auf Berliner Bühnen ihre Haupt- 
quartiere auf. 

Der Triumph aus eigener Kraft iſt nicht zu entwerten. Bedenken jedoch erregt es, wenn 
ein Recht, das täglich neu erobert werden ſollte, von der Gewohnheit, von der Trägheit ſtumpf 
geduldet wird. Am wenigſten in der Kunſt darf es Monopole geben. Berlin, das muß geſagt 
werden, hat nun durch eine Reihe von Jahren eine Art von Theatermonopol beſeſſen. Die 
Wirkungen dieſes Zuſtandes waren nicht durchaus günftig. Auch mit der Fille ihrer Kräfte 
(64 Theaterdirektionen ſind heute im Berliner Polizeiprotokoll eingetragen, ungefähr 20 von 
ihnen erheben Anſpruch auf künftlerifhe Bedeutung) — auch bei guter Teilung der Arbeit 
kann eine einzige Theaterſtadt die Produktion eines ganzen Volkes nicht bewältigen. Die 
Gefahr beſteht, daß allzu oft die Schöpfungen [older Dichter, die Gelegenheit haben, fid 
auf dem Markte der „einzigen“ Stadt vorzudrängen, entdeckt und gewürdigt werden. Schon 
in der bei aller Vielſeitigkeit am Ende doch beſchränkten Geſchmackseigentümlichkeit eines 
örtlich begrenzten Publikums ſteckt eine Gefahr für die Literatur und ihre Zukunft. Und es 
war bis vor kurzem ſo: die großen und größten Theater Deutſchlands, Wien miteinbezogen, 
warteten mit der Aufführung eines neuen Dramas, bis es hieß: „Roma locuta est“. Die 
berühmten Dichter hielten ihre neuen Werke für bie Uraufführung in Berlin zuruck; und 
wenn man überhaupt irgendwoanders ſich an das Stück eines Unberühmten wagte, fo hatte 
ſelbſt ein ſtarker Erfolg nur recht mäßige Bedeutung, bevor er in Berlin beſtätigt wurde. 

In jüngiter Zeit ijt hierin ein erfreulicher Wandel eingetreten. An vielen Orten Oeutſch⸗ 
lands beginnt man die unbedingte Abhängigkeit von Berlin abzuſchuͤtteln und die eigenen 
Kräfte friſch zu regen. Die Theaterkunſt Berlins erleidet durch einen ernſten, energiſchen 
Wettbewerb keinen Schaden. Sm Gegenteile! Sie kann angeſpornt und den Gefahren des 
Verharrens und der Einſeitigkeit entriſſen werden. Wenn bei den ſelbſtändigen Bemühungen 
im Lande hier und dort der kriegeriſche Ruf „Los von Berlin!“ aufſteigt, ſo hat das nicht viel 
zu bedeuten. Denn nicht die Strategie, nur bie künſtleriſche Leiſtung fiegt in dieſem Kampfe. 
Alles Wertvolle, das Berlin künftig hervorbringt, wird nach wie vor fuͤr ganz Oeutſchland 
bedeutſam ſein. Welch ein Gewinn aber für die deutſche Kunſt, wenn die Freiheit, die der 


622 Die Haupt Stadt 


vor fünfzig Jahren geſtorbene Upland dem ganzen deutſchen Oichterwald verkündete, 
Wahrheit wird in ſolcher weiſen Beſchränkung, daß nicht mehr die echten Talente der „Provinz“ 
vergeſſen und verſchollen bleiben, während minderwertige Günftlinge der Berliner Mode 
von der Zentrale aus ein gehorſames Deutſchland erobern! 

Berlin ſelbſt wird Nutzen haben von einer in den Grenzen parteiloſer Bedürfniſſe durch; 
geführten Oezentraliſation. Man wird fih dann in der Theaterhauptſtadt der „Provinz“ 
ehrlicher erinnern, um nicht von ihr in Schatten gedrängt zu werden. Es war, zumal fir den 
Senſationsehrgeiz der Berliner, recht empfindlich, daß Richard Strauß feine jüngeren mujit- 
dramatiſchen Werke „auswärts“ feuertaufen ließ. Es verringert Berlins Anſpruch auf Maß 
geblichkeit, daß dramatiſche Talente von Gewicht, wie Wilhelm von Scholz, Fritz Lienhard, 
Franz Kranewitter, dem Theaterpublikum der deutſchen Weltſtadt faſt unbekannt geblieben 
ſind. Es mußte ſchließlich die ſtolzeſten Berliner ſtutzig machen, daß Berliner Preisrichter 
dem Schauſpiel „Belinde“ von Herbert Eulenburg den Volks⸗Schillerpreis zuerkannten, einer 
Dichtung, die man in mancher anderen Stadt, aber nicht in Spree-Athen aufzuführen gewagt 
hat. Das verjüngte Hoftheater in Stuttgart, das Dresdner Königliche Schauſpielhaus, das 
Düffeldorfer Schauſpielhaus und andere künſtleriſche Theater find rührig am Werte, fidh 
ſelbſtändig ihren Platz an der Sonne zu verſchaffen. Was Bismarck zum Preiſe der deutſchen 
Reichsverfaſſung ſagte: daß (ie den Stammeswerten zugunſten der Einheit Rechnung trage, 
das trifft in gewiſſem Sinne auch für bie deutſche dramatiſche Kunſt zu. Wir wollen ein National- 
theater, — aber nicht ein Oach ſoll und kann es decken. Vielgeſtaltig wie der deutſche Geiſt 
möge es ſich erheben: überall, wo in Oeutſchland die freundlichen Muſen weilen! 


* * 
* 


Sanz Sheater-Oeutfdland, ein Land von viel weiteren Grenzen, als dem Deutſchen 
Reich gezogen find, hat am 15. November Gerhart Hauptmanns 50. Geburtstag 
gefeiert. Und nicht bloß die Theater: die Univerſität Leipzig machte Hauptmann zu ihrem 
Ehrendoktor, der öſterreichiſche Unterrichtsminiſter und die Wiener Akademie ber Wiffen- 
ſchaften präſidierten einem Feſtmahl, bei dem die Begeiſterungsfähigkeit der Oeutſchöſterreicher 
hohe Wellen ſchlug, die Deutſchen von Cincinnati kabelten, und aus Schweden wurde Deutfch- 
lands Dichter der Nobelpreis verliehen. Man mag im allgemeinen das Produzieren höher 
ſchätzen als das Zubilieren, und auch Bedenken hegen wider die Verjüngung ſolcher feſtlicher 
Anläſſe, die ehedem an das bibliſche Alter gebunden waren: und man darf ſich trotzdem darüber 
freuen, daß einmal die götzenfromme Welt einem Oichterherzen huldigt. „Dieſer Moderne 
ijt eben zur Mode gekommen“, fagen bie Mißgünſtigen. Zur Mode gekommen? Das beſtreite 
ich. Hauptmann iſt der Mode niemals nachgegangen. Wollte ſich die Mode ausnahmsweiſe 
mit einem Künſtler vertragen, mit einem Künſtler, der ſie nicht kennt, ſo träfe ein gerechter 
Vorwurf nicht einmal die Mode, — geſchweige denn den Künſtler. 

Berlin hatte das Recht, bei der nun einmal ins Rollen gekommenen Hauptmann ⸗Feier 
voranzugehen. Denn mit der Berliner Aufführung von Hauptmanns erſtem Bühnenwerk 
(„Vor Sonnenaufgang“) begann die Revolution von Literatur und Theater, wurde der, Berliner 
Stil“ in den Sattel geſetzt. Und ſeither in Jahrzehnten wurden die vielfältigen Außerungen 
der Hauptmannſchen Künſtlerſchaft Phaſen in der Entwicklung der Berliner Bühnenkunſt. 
Sedes Drama Gerhart Hauptmanns erlebte — feit 23 Fahren — die Erjtaufführung im 
Theater des verſtorbenen Brahm. Auf dem feſtlichen Bankette, das die Künſtler und Schriftſteller 
dem gottlob bedenklich jungen Zubilar gaben, hat ſich Berlin eine Selbſtehrung bereitet. Man 
konnte es vermeiden, fid) als Hauptſtadt zu brüften, da man fidh die Hauptmann Stadt nennen 
durfte. Die geiſti ge Stadt eines geiſtigen Reiches! Die weltlichen Wirdentrager 
von Reich, Staat und Stadt waren nicht unter den Feſtrednern. Sehr im Gegenſatz zu den 
Kundgebungen des ſtaatlichen Auslands übte man „offizielle“ Zurückhaltung. 


Die Haupt-Stadt 623 


Immerhin hat fogar das Königliche Schaufpielhaus die Geburt des „Weber“ Dichters, 
dem der Kaiſer einſt den Schillerpreis aber kannte, mit einem Aufdruck auf dem Theater- 
zettel begrüßt, und man gab dort am 15. November eines von den zwei Stücken Hauptmanns, 
bie in einer Diftang von faſt zwanzig Jahren ins Repertoire der Hofbühne eingedrungen waren. 
Feſtvorſtellungen veranſtalteten ferner das Kleine, das Schiller und das Neue Volkstheater 
(die Volksbühne mit einem Vortrag von Julius Bab). Das Leſſingtheater ließ ſieben Dramen 
Hauptmanns an ſieben Tagen vorberziehen. Man hatte auf ben Neugewinn frühzeitig ver- 
ſunkener Werke gehofft. Der beſchränkte fid) indeſſen auf die Wiedererweckung des Schau- 
ſpiels „Michael Kramer“, dieſer ſymphoniſchen Nänie, die im ſchlichten bürgerlichen 
Gewande an die Pforte der letzten Dinge pocht. Als Theaterſtück wird „Michael Kramer“ 
niemals geachtet ſein, aber wer weiheempfänglich iſt, empfängt hier Weihe. Im Kleinen 
Theater geſtaltete Stein rück (der Huge Künſtler, den Berlin an München verloren Hat), 
beſonders in den Außenzügen ſehr charakteriſtiſch den Alten, deſſen Schöpferherz viel tiefer 
und größer ift, als fein ehrfürchtiges Vollbringen. Im Theater der Neuen freien Volksbühne 
trug Lich o den Schmerz des Vaters an der Leiche des Sohnes auf Wellen echten Gefühls 


zur Erhabenheit empor. 


* * 
* 


Eine Aufführung von Hebbels „Maria Magdalena“ in ben Kammerſpielen 
war ein Triumph der Schauſpielkunſt. Die wollüſtige Grauſamkeit des Grüblers wuchert 
in dieſem Trauerſpiel. Die Vorausſetzungen, aus denen ſich Klaras jammervolles Geſchick 
entwickelt, verſtoßen gegen Wahrheit und Wahrſcheinlichkeit. Aber man vergißt der ärgerlichen 
Vordichtung, wenn uns — im vorgeſchrittenen Stadium der Begebenheiten — die ehernen 
Ketten der Konſequenz an die mit unerhörter Wahrhaftigkeit geſchaffenen Charaktere binden. 
Man vergaß die Frage nach den Möglichkeiten vollends unter dem überwältigenden Eindruck 
der Wirklichkeit von Baſſer manns Meifter Anton, der ein Menſch war aus Quarzgeſtein 
unb wüfter, blinder Liebe. Lucie Höflichs „Heirate mich, ich werde nicht lange leben“, 
ſo ſtill aus tiefſtem Gram gefleht, hatte die unendliche Melodie des Erdenleids. 


** * 
* 


Das junge Deutſche Schauſpielhaus ſucht bei der Teilung der Welt Auguft Strind- 
berg als fein Gigenlanb zu erraffen. Es ift nun bei der bitteren Komödie „Na meraden“ 
angelangt. Der Sehnſucht von Mann und Weib, im anderen Geſchlecht die Ergänzung, den 
treuen Kameraden zu finden, ſtreckt Strindberg, der allzeit von Sehnſucht zu Enttäuſchung, 
von Enttäuſchung zu neuer Sehnſucht jagte, die kalte Teufelsfauſt entgegen. Der Mann des 
tragiſchen Luſtſpiels, der Maler, hat in der Malerin die unlautere Konkurrentin ſtatt der Ge- 
fährtin geheiratet. An dem Maler-Mann, der fih am Ende aus drohendem Ruin mit brutaler 
körperlicher Kraft rettet, erhärtet Strindberg, dieſer dem Weibe immer wieder unterlegene 
Antifeminiſt, ſeinen Glaubensſatz, daß zwiſchen den Geſchlechtern nur Krieg ſein könne, offener 
oder heimlicher Krieg. Beſſer, das Veibchen unterliege dem roheſten Maskulinum, als es 
(iege im tuͤckiſchen Liebesſpiel; beffer für beide... Wäre nicht der Wille zur Derallgemeinerung 
ſo ungerecht und herausfordernd, man müßte wieder vor der Kunſt Strindbergs ſich beugen, 
die mit hartem, raſchem Griff die Menſchen packt und ſie ſo feſt hinſtellt, daß kein Widerſpruch 
ihr Oaſein erſchüttern kann. — Die Aufführung war von gutem Stilgefühl geleitet. 


* * 
* 


Einer Novität bes Refidenztheaters tu’ ich nur deshalb Erwähnung, weil unter dem 
Titel des Stücks der Name eines wirklichen Dichters ftand: des Maurice Donn ap, 
des Verfaſſers der „Amants“, des feinnervigſten Poeten unter den modernen Franzoſen, 
bes Virtuoſen auf dem znſtrument pſychiſcher Halb- und Vierteltöne .. Und jetzt diefe 


624 Der Träger des „Kleiſt“ Preiſes 


grauenvolle Poſſe „Prinzenerzie hung“! Oieſe geift- und witzloſe Satire! (Die 
Etikette ſtammt vom Verfaſſer.) Dieſe Bote ohne Parfum, diefe Gemeinheit ohne Troſt! 
Das ift tein literariſches — das ift ein perſönliches, ein pathologiſches Rätſel. 

* N * 


„Rismet Ausſtattungsſtück in acht Bildern mit Mufil... Seit 
der Verband der Deutſchen Bühnenſchriftſteller mit dem Kinematographen Frieden geſchloſſen 
hat und die „beſtrenommierten“ Oramatiker ſich anſchicken, für den Film zu dichten, darf man 
ſich nicht darüber wundern, daß die mit Mühe verjagten Spektakel und Ausſtattungsſtücke 
vom Brettl (Varieté) auf die Bretter des Theaters zurückkehren. Ein wenig verändert hat 
ſich ja der alte Kuliſſenzauber. Er bat vom Kientopp profitiert und von den Pantomimen 
und Myſterien der Stilbühne. Die Handlung, der Text, ſind freilich ſo kitſchig geblieben, als 
ſie je waren. Vorläufig urteile ich nur nach der erſten Koſtprobe, nach dieſem „Kismet“, das 
Herr Knoblauch, angeblich ein Sohn Albions, gewürzt hat! Wer auf die Worte, die ge- 
ſprochen wurden, nicht hörte; wer in den Szenen nicht Sinn und Zuſammenhang ſuchte, 
der mochte immerhin zu einer gereinigten Freude gelangen an der Pracht des Orients in 
Farben und Tönen. (Die Bühnenbilder entwarf Ernſt Stern, die narkotiſche Muſik ſchuf 
3. GS. Mraczek.) Koſtüme, Aufzüge, Tänze ergötzen und letzen. Sa, Tänze! Der grazlöfe 
Fanatismus der Schlangentänzerin Tortola Valencia läßt begreifen, daß der ſterbende Moſlem 
den Houris im Paradieſe zulächelt. Und überhaupt: Wenn die Stadt am Boſporus nur halb 
fo ſchön ift, wie dieſes Bagdad des Kalifen: die Europäiſierung Konſtantinopels wäre bar- 
bariſch ... Hat auch mich das dumme Ausſtattungsſtück gefangen? Nun, ich meine: am rechten 
Orte läßt ſich die Ausſchaltung des Verſtandes zugunſten der Sinne gewiß vertreten. Aber 
für das Theater iſt's ein Skandal! Ein Skandal, an dem man nicht ſchweigend vorübergehen 
darf. Schon möchte ich Berlin, der deutſchen Theaterhauptſtadt, die härteſte Wahrheit ſagen, 
— da entdecke ich auf dem Zettel, daß es bas Münchner Künſtler- Theater ift, 
das „Kismet“ nach Berlin brachte. Hermann Kienzl 


Der Träger des „Kleiſt“⸗Preiſes 


(Hermann Burte: Wiltfeber, der ewige Deutſche. Die Geſchichte eines 
geimatſuchers. Leipzig, Gideon Carl Saraſin. Geb. K 4.—, geb. A 5.—) 


ES s nimmt febr für die Art ein, wie bie neue Kleiſtſtiftung ihre Preisverteilung ein- 
9 O y. gerichtet hat, daß der Verfaſſer dieſes Buches einen der beiden Preiſe unb auber- 
— dem das von einer unſerer Schiffsgeſellſchaften geſtiftete Reiſeſtipendium erhalten 
hat. Denn in der letzteren Tatſache möchte ich auch eine kleine Kritik ſehen, als follte dem 
jungen Dichter geſagt werden: „Geh mal hinaus in die Welt, ſieh dir die Dinge auch von der 
anderen Seite an, ſchleife dich etwas ab. Es wird dann nicht mehr alles, und vor allem du 
ſelbſt wirſt dir nicht mehr ſo ungeheuer wichtig vorkommen wie jetzt.“ — Auf Seite 6 des 
Buches ſteht es: „Wo find die Zünglingsaugen hin? Sie adelten alles, was fie liebten. Aber 
die Augen des Mannes zerlegen und entſchleiern, was fie lieben. Jugend ift Rauſch. Reife 
iſt Erwachen. O, möchte mir nie der Ekel kommen!“ 

Wenn der Mann fid) richtig aus dem Züngling entwickelt, wenn ber Rauſch durch edlen 
Wein herbeigeführt war, fo kann das Erwachen nicht zum Ekel führen. Und fo ijt mir eigent- 
lich um Hermann Burte nach der Richtung hin nicht bange. Eher macht mir der Erfolg ſeines 
Buches Sorge. gd fürchte, der Verleger ift — ſicher aus ben beiten Gründen — da zu ſtark 
ins Zeug gegangen. Indes, warum ſoll man ſchwarz ſehen. Wir wollen abwarten. Es iſt 
ein Buch von fo echter Jugendlichkeit, wie wir fie in einer Zeit, die jugendlich durchaus mit 


Autorenhonorare im Altertum 625 


unreif verwechſelt, kaum mehr kennen; ein Buch, bas an das befte bes alten Sturms und 
Drangs, an die Klinger und Lenz mahnt, leider nicht an Goethe und auch kaum an den jungen 
Schiller. An den letzteren gelegentlich im Aberſchwang der Sprache, im Streben, alles und 
jedes monumental in einer an der Bibel (aber noch mehr an Nietzſche) geſchulten Sprache 
auszudrücken. — Es ſteht Wunderſchönes in dem Buch, prachtvoll geprägte Worte über alle 
möglichen Erſcheinungen unſeres Lebens, unſerer Kultur. Aber ſehr viel davon iſt nur Wort, 
nur Rhetorik, vom Oichter nicht tief erlebt, ſondern in jugendlichem Drang geſprochen. Da- 
her auch die Ungeheuerlichkeit, daß dieſes ganze Buch von dreieinhalb hundert Seiten inner- 
halb vierundzwanzig Stunden von dieſem Wiltfeber erlebt und zumeiſt auch geſprochen wird. 
Denn er redet unglaublich viel, hält fertige Reden auch in ſeinen eigenen Gedanken, ſelbſt 
dann, wenn er ſich nur mit ſich ſelbſt unterhält. Das äußere Geſchehen vollends ſtreift hart 
an bie füdenromantit, 

Aber id) fage das nur, um ein Gegengewicht zu geben gegen die vielen überſchweng⸗ 
lichen Beſprechungen, die beim unbefangenen Leſer ganz falſche Vorſtellungen erwecken und 
infolgedeſſen Enttäuſchungen herbeiführen müffen, für die man nachher den Oichter ent- 
gelten ließe, der es wirklich nicht verdient. Wir haben in den letzten Fahren manche Erftlings- 
bücher bekommen, die von hoher Eleganz zeugten. Meiſtens lag das zu Bewundernde in der 
außerordentlich großen Sicherheit, der Überlegenheit, mit der fie geſchrieben waren. Das 
find Altersvorzüge, zu denen das Leben den entwicklungsfähigen Menſchen von ſelber führt. 
Hier ift ein Buch, deffen wunderbarer Vorzug in der Jugend liegt. Nun gebe Gott dieſem Mann 
eine geſegnete Entfaltung. Und der gute Schutzgeiſt deutſchen Weſens, von dem in dem Buche 
ſo viel Schönes geſagt wird, bewahre ihn vor allem Literatentum unſerer Tage! 


ZEN 


Lele 


Autorenhonorare im Altertum 


Die Annahme, lieſt man in der „Staatsbürgerzeitung“, daß in früheren Jahrhunderten 
die Honorare der Dichter und Sänger weit hinter den Summen zurüdblieben, die heute unſeren 
Roman- und Theaterdichtern gezahlt werden, iſt irrig. Auch in früheren Jahrhunderten, in 
denen außerdem das Geld noch eine bei weitem geringere Rolle ſpielte als heutzutage, war 
das Singen und Dichten alles andere als eine brotloſe Kunſt. So erhielt Herodot nach einer 
Vorleſung aus feinen Erzählungen bei den olympiſchen Spielen einen Preis von 10 Talenten. 
Das find etwa 40 000 Mark. Cheriles erhielt, weil er den Sieg der Griechen über Kerres 
feierte, für jeden Vers eines Gedichts, von dem Bruchſtücke auf die Nachwelt überkommen 
ſind, ein Stück Goldes. Ein Epigramm von Archimedes brachte ſeinem Verfaſſer 1000 Medinen 
Weizen ein, die Medine zu 52 Liter gerechnet. Virgil erhielt von der Mutter des Marcellus 
zehn große Seſterzen, etwa 1600 Mark, für jeden Vers — es waren im ganzen 52 —, den 
er zu Ehren ihres Sohnes in die Aneis hineinflocht. Atticus gab 250 000 Orachmen, etwa 
150 000 Mark, dem Palemon für das Vergnügen, das ihm dieſer mit drei Reden bereitete. 
Septimus Severus bot Oppian eine Statere Gold (ca. 14 Mark) für jeden Vers ſeiner Ge- 
dichte über die Jagd und den Fiſchfang. Nach Guidas enthielt das Gedicht 20 000 Berfe. Der 
„Eunuche“, eine Tragödie, die zweimal an einem Tage geſpielt wurde, brachte ihrem Verfaſſer 
8000 kleine Seſterzen, etwa 1500 Mark, ein Preis, der bis dahin niemals gezahlt worden war. 
Unter dieſen Umſtänden wird (id) mancher Oichter von heute in das Altertum zurüdverjegt 
wünſchen, ein Wunſch, der zuweilen fogar die Unterſtützung des Publikums finden dürfte. 


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Hodler und ſeine Helden en 
Von Dr. Theodor Alt 


er Genfer Maler Ferdinand Hodler wurde geboren 1853 zu 
Gurzelen, einem Landorte des Kantons Bern. Auf deutſchen Aus- 
ſtellungen bemerkten ihn aufmerkſame Beobachter gegen Ende der 
neunziger Jahre beim Erſcheinen von Gemälden, wie z. B. ber 
„Nacht“, die durch zeichneriſche Manier und Kraft des Ausdrucks einen entſchieden 
monumentalen Charakter hatte. Das Bild zeigte eine Reihe von zum Seil fried- 
lich ſchlummernden, zum Teil durch Träume gequdlten Menſchen in ſchwieriger 
Verkürzung und grauer, auf ſinnlichen Reiz verzichtender Färbung. Wer dieſe 
Schöpfung des Künſtlers geſehen hatte, mochte fih für berechtigt halten, Be- 
deutendes oder ſogar Großes von ihm zu erwarten. 

In weiteren Kreiſen wurde Hodler bekannt ſeit 1904 durch die Ausſtellung 
des Kartons zu ſeinem Freskogemälde „Heimkehr der Schweizer Landsknechte 
aus der Schlacht bei Marignano“ in der Berliner Sezeſſion und anderwärts. 
Die Wucht dieſer um 1898 entſtandenen Kompoſition iſt unbeſtreitbar; eine gewiſſe 
Unbeholfenheit in der Bewegung der langſam ſchreitenden Geſtalten konnte als 
abſichtlich erzielter Vorzug gelten, die friesartig-flächenhafte Darſtellung als an- 
gemeſſene Form der monumentalen Wandmalerei. Jedoch aus dem Gefichts- 
punkt einer treffenden und meiſterhaften Wiedergabe des Natürlichen verdient 
das Gemälde kein eben ſo hohes Lob. Die Geſtalten kommen nicht vorwärts, 
fie ſcheinen an der Stelle zu kleben. Zwei Landsknechte tragen einen Schwer- 
verwundeten. Jedermann weiß, was ein toter Körper für eine Laſt iſt; hier 
findet dieſe Laſt nicht den ihr zukommenden Ausdruck in der Haltung der Träger. 
Man wird nicht behaupten können, daß die Monumentalmalerei ſolchen Mangel 
an Ausdruck verlange. Er beweiſt alſo eine Schwäche des Bildes oder des Künſtlers. 
Ein Landsknecht in Blau und Gelb poſiert mit linkiſcher und zugleich affektierter 
Bewegung. Beide Merkmale kehren in Hodlers Werken oft genug wieder, um 
darzutun, daß ſie im urſprünglichſten Gefühlsleben des Künſtlers ihre Wurzel 
haben. Doch läßt an dem Wandgemälde der große Zug des Ganzen, der kraft 
volle Ernſt der Darſtellung, über diefe Schwächen hinwegſehen. Ahnlich beurteilen 


Alt: Hodler und ſeine geltgenoſſen 627 


wit das andere det peiden Fresken Hodlers im Züricher Landesmuseum. Und 
icherlich wäre es falſch, uns den Genuß bedeutender Kunstwerke durch neinliche 


n taljen. 

ernten ferner von Hodler auf der Hüſſeldorfſer Ausſtellung 1904 den 
„Frühling tennen, eine Darſtellung des Geſchlechtserwachedt, im jugendlichſten 
Alter. Die Geſtalten eines Knaben und eines Mädchens (eben ſich, ahnend und 
ſehnſüchtig, in einem ekſtatiſchen Zuſtand gegenüber. Hatz dieſe Schilderung 
durch große Tiefe der Empfindung ausgezeichnet iſt, kann nicht in Abrede geſtellt 


werden. Allein di Manieriertheit r Bewe n üb gt fo Í yr, daß ma 
das P plitum die Bezeichnung „La et“ aufbrach für den „w dieſes 
und zwei albe Hodler ausgeſtellt waren ernſten Betrachter 
erſchien die Bedei NG unpaſſ d; a wa ch 2 achen vera a 
und begtel lich. die mitive Art bet Zeichnun u ärbung wirkte ab- 
ſtoßend. bertragu auf Taf ema m 
onu ta n stil ie! nere Begrt bun Ve nonis des 
Publikums für e ſo befremdlich Ausd udsweiſe war alſo nich u verlangen 
Viel mehr bel an in De {gland pon de Künſtlers wd 
rend längerer t dann nicht zu ſehen. m Sommer 1911 en in ; 
in Frankfu in u ſchließlich Ausſtellungen 
von € Werken Hodlers veranstaltet, die eine berblic über ſeine 
wicklung gewährt n. Man ſah bier, bof er is 3 der achtziger Jahre eine 
naturaliſtiſche L hatte ntemaletet geüb hatte, wo cht ohne e 
etui uns ch alteren Zmpreſſioniſter uch (bunn) in den Uffizien 
u Florend d n als ausgezeichneten aturaliſten rf er jedo 
das erwor muraliſtiſche Könne Taf ötzlich tb, nun an 
einem M umentalſtil à huldigen, er M riertheit, Lintiide Po und harte, 
allzu bunte Färbungen Ven Ausdruck {et e Wee tennen GA 
uf Schönheit, ntli des weiblichen örpers, vets ch Geſchah dies 
abſichtlich, od beſtätigte ſich darin, wie a rerſeits brutalen Kraft ſeiner 
andsknechts ſtalten, feine ländliche erkunft und et n Ku e 
wirtte beide 4 gran fab ba riſch· roh oder yyſteriſch en u 
Jungfrauen, lotterichte un verzeichnete Geſtalten, pehängt mi Gewändern 
aus eine pftratten Stoffe. Sie offenbart n ein mb nde Aa 
a hm niere hirlande! norells 
Botticell u ähnlich jener d 15. h derts, 
edoch o eren Streben na Körperlichkeit, aumtiefe, atürlichteit und 
önheit d ärbun uf d eſe B tanbteile raliſtiſchen Könnens 
verzichteten jene Meiſter aber teinesweg abſichtli Sie erreichte ur ni 
in dem Maße, de chfolgen en Geſch echte beſch wa Einheit 
lichkeit ihres nA Stils, ver mit doch ſchon | yr hoher Meiſterſchaft, 
erhob jedo i rte 3 Uendeten Leiſtunge Ausdrudswel 
wurzelte fern r im g achſene od Ideenwelt u 50 mgefühls ihrer 
Zeit und ihrer N it bei Hodler durchau d (: fein, Form 


gefühl iſt nicht modern, ſondern entweder nachempfunden quattrozentiſtiſch oder 


628 Alt: Hodler unb feine Zeitgenoſſen 


rein eigenwillig, unb feine Zdeen find nicht Ideen unjrer Zeit. Die Vorzüge der 
monumentalen Form aber, bie wir feinen großen Wandgemälden nachrühmen 
durften, kommen für Tafelgemälde nicht in Betracht. Der primitiven Form ent- 
ſpricht hier oftmals Armut des geiſtigen Gehalts. Dieſe Blöße vermögen dann 
hochtönende allegoriſtiſche Titulaturen nicht zu verdecken. Wohl gab es auf jenen 
Ausſtellungen auch Durchblicke auf eine urſprünglich große Veranlagung, auf ein 
tüchtiges Können, wie z. B. der zuſammengeſunken daſitzende alte Mann („Er- 
ſchöpft“, von 1887). Allein ſie datieren aus der Zeit der naturaliſtiſchen Malweiſe 
Hodlers, vor 1890. Auch damals war an feinen Leiſtungen nicht alles lobenswert 
und trat bisweilen ſein habitueller Mangel an Gefühl für die freie und natürliche 
Bewegung des Körpers ſtörend in die Erſcheinung, z. B. bei dem faſt ſchülerhaft 
unbeholfenen Theater-Quintett „Diſputation“. 

Die charakteriſtiſche Epoche Hodlers iſt erſt die ſeines Stilis mus: eines 
abſichtlichen, keineswegs naiven Stiliſierens. Was ihn zu dieſer 
Wegänderung veranlaßte, werden wir vielleicht niemals mit Sicherheit erfahren. 
Tatſache ijt jedenfalls, daß er dem in Frankreich damals fid) vollziehenden Um- 
ſchwung vom objektiven Impreſſionismus zum ftilifierend-fubjettiven „Neo- 
Impreſſionismus“ auf feine Weiſe nachfolgte. Von den Verherrlichern 
des franzöſiſchen Niederländers van Gogh iſt wiederholt behauptet worden, Hodler 
ſei von dieſem inſpiriert worden. Dafür fehlt jeder Beweis und, was den Stil 
betrifft, alle Wahrſcheinlichkeit. Eingeleitet wurde ſein Stilwechſel vielmehr durch 
Nachahmungen von Puvis de Chavannes, wie z. B. die nicht unſchöne nackte 
Zünglingsgeftalt im Grünen: „Zwieſprache mit der Natur“, beweiſt. Immerhin 
mögen ihm Arbeiten Gauguins oder van Goghs nicht unbekannt geblieben ſein. 
Im Jahre 1911 erſchien er mit einigen großen Landſchaften von primitiniftifd- 
monumentaler Form auf dem Plan. Ihr unleugbar hoher Wert beruht auf der 
Verbindung des monumentalen Stils mit der Größe der ſchweizeriſchen Landſchaft. 
Kleinere primitiviſtiſche Landſchaften Hodlers beweiſen jedoch, daß auch hier der 
monumentale Stil mit dem großen Format des Wandgemäldes feine Berech- 
tigung verliert. Sie machen durch die Leere ihrer Form oft einen faft dilettan- 
tiſchen Eindruck: „Grüne Wattepolſter bedeuten Wieſen und weiße Watteknäuel 
Wolken.“ 

In der Zeitſchrift „Die Kunſt“ (Dezemberheft 1911) bezeichnet Hugo Habe r- 
feld Hodler als einen Maler, der (nach den mißlungenen Verſuchen eines Cor- 
nelius, Rethel oder gar der Piloty Schule) „als erſter eine zwar individuell be- 
ſchränkte, aber in der Sache reſtloſe Löſung des Problems der Monumentalmalerei“ 
gebracht babe. Iſt diefe Behauptung zutreffend? Haberfeld feiert Hodler als 
„Linienmaler“ und als „Ideenmaler“. Beides war ſchon Cornelius, jenes nach 
unſrer Meinung in befferer Form, dieſes ſicher mit mehr Gehalt. Aber find Hodlers 
Linien denn überhaupt gut? Kann man dafür die Umriſſe jener knochigen, ſchlecht⸗ 
gebauten, teilweiſe verzeichneten Frauen, Jünglinge und Kinder anführen? Sind 
ſeine Ideen tief und gehaltreich? Die „Unendlichkeit“ (1903): ein gedankenlos 
daſtehender Jüngling auf einer Felſenſpitze über Wolken; „Heilige Stunde“ (1908): 
vier unterhaltſam nebeneinander ſitzende, altjüngferliche und teilweiſe verzeichnete 


Alt: Hodler unb feine Zeitgenoſſen 629 


Frauen; der ,9erbjt^ (1894): ein alter Mann auf ödem Felde; diefer wirklich 
eine edle Geftalt, von monumentaler Linienführung des Gewandes, aber Diirers 
Apoſtel Paulus nachempfunden. Wir entnehmen den begeifterten Ausführungen 
Haberfelds nod folgenden Satz: „Hodler bedarf der Erſcheinungen 
nur als Mittel, um ſeinen Willen ſichtbar auszudrücken. 
Wie dieſe eigenen Geſetzen folgende Linienkunſt von der Wirklichkeit 
und ihren Bedingungen unabhängig iſt, erſieht man am beſten 
daraus, daß die Hodlerſchen Figuren vom Standpunkte des Naturſtudiums aus 
‚manche Abweichungen‘ zeigen, einen häufig zu kleinen Kopf, beliebig verlängerte 
Arme und Beine, bald zu derbe, bald zu ſchlanke Gelenke, die trotzdem je- 
doch nicht un wahr wirken, weil der Geiſt ihres Schöpfers, 
indemerſie ſelbſtherrlich veränderte, ihnen damit einen 
überzeugenderen Ausdruckihres neuen Weſens verlieh.“ 
Das ift die Rede- und Schreibweiſe jenes das Künſtlertum ſchlechthin als ſolches 
verherrlichenden Feuilletonis mus, der als bezeichnender Ausdruck der 
Oberflächlichkeit des gefühlsduſeligen und charakterſchwachen Geiſteslebens der 
neueſten Zeit an die Stelle des ernſteren Strebens der vorausgegangenen nach 
einer ſachlich und objektiv begründeten Wertbeurteilung getreten iſt. 

$m Muſeum zu Baſel befindet fid) ein naturaliſtiſches Ölgemälde Hodlers 
von beſcheidenen Abmeſſungen, mit vielen Figuren, das eine mittelalterliche 
Schlacht darſtellt. Vorne kämpfen zwei Geharniſchte zu Fuß, dem Beſchauer den 
Rücken zukehrend. Sie ſchwingen Morgenſtern und Streitaxt bis hinter den Rücken, 
um, tief ausholend, den Gegner zu treffen. Aber wir haben das beſtimmte Ge- 
fühl, daß dieſe Waffen niemals ihr Ziel erreichen, daß die beiden Kämpen in ihrer 
Stellung verharren werden bis zum jüngſten Tage. Im Saale nebenan befindet 
(i die Tuſchzeichnung einer Schlacht von Hans Holbein d. J. Dort ſtockt uns 
fajt der Atem, weil wir ſofort überzeugt find von dem unmittelbaren Bevorſtehen 
einer furchtbaren Wirkung der Waffen. Natürliches, lebendiges Bewegungsgefühl 
beſitzt Hodler einfach nicht in dem zu meiſterhafter Darſtellung bes Figürlichen 
erforderlichen Maße. Gerade daraus erklärt es ſich vielleicht, daß ihn bisher nicht 
gelöſte Probleme der Bewegung immer wieder reizten. Zeugnis davon gibt der 
in den letzten Jahren entſtandene, ſeitdem vielfach von ihm wiederholte „H o l3- 
fäller“. Die Verehrer des Künſtlers bewundern dieſe Leiſtung höchlich; un- 
befangene Kenner ſehen ihre Mängel; natürlich empfindende Menſchen per- 
werfen ſie als übertrieben und manieriert. Man wird zugeben müſſen, daß das 
Ausholen mit der Axt zum Schlage hier, ganz anders als auf jenem Schlachten 
bilde, mit großer, ja mit höchſter realiſtiſcher Kraft zum Ausdruck gebracht iſt. 
Allein dieſer Holzfäller poſiert; er poſiert tänzerhaft, mit einem lächerlich ſchmalen 
Fuße; und mindeſtens auf den erſten Exemplaren erſchien die Beinſtellung faſt 
unmöglich momentan, die Stellung des Kopfes zu den Armen fragwürdig. Wir 
erkennen dabei Einflüffe der japaniſchen Kunſt auf Hodler; eine 
Nachwirkung der paroxiſtiſchen Bewegungen japaniſcher Fechter auf Gemälden 
bet Samuraizeit, die uns als Karikaturen erſcheinen durch die Ubertriebenbeit 
ihres Realismus. Hinter dünnen, wie Telegraphenſtangen hingeſtellten Tannen 


630 Alt: Hodler unb feine geltgenoffen 


ſtämmen hängt ein blauer, kreisrunder Fleck, der ausfieht wie ein vom geſtrigen 
Waldfeſt einſam hängengebliebener Lampion. Dieſer Fleck foll das an einer Stelle 
durchblickende Blau des ſonſt gleichmäßig weiß bedeckten Himmels vorſtellen: — 
„Stil“. Auch bie ſonderbare Flachheit des Hintergrunds deutet auf die japaniſche 
Malerei. Aber find denn unſere Tafelgemälde japaniſche Kakemonos, nur zeit- 
weiſe aufgehängte, ſonſt in Käſten aufbewahrte Rollbilder? Hat es unſere Malerei 
wirklich ſo nötig, bei der nicht überall zu freier Meiſterſchaft gediehenen japaniſchen 
in die Schule zu gehen und deren nationale Eigenheiten, ſo berechtigt ſie an ſich 
fein mögen, als muſtergültig zu betrachten? Es ſcheint faſt fo. Ein ähnlich tänzer 
haft fid gebärdender Paroxismus ift es ferner, in welchem Hodler den ange- 
meſſenen Ausdruck für die Begeiſterung der 1813 ins Feld ziehenden Zenenfer 
Studenten finden zu ſollen geglaubt hat. Dieſer Ausdruck macht, ganz abgeſehen 
von allen andern Skurrilitäten bes Wandgemäldes zu Sena, deffen Bezeichnung 
als eine künſtleriſche Großtat natürlich empfindenden Menſchen unbegreiflich. 
Gewiſſe Feuilletoniſten finden heutzutage zur Verherrlichung von Rünftler- 
perſönlichkeiten die unglaublichſten Kriterien. Über eine Landſchaft mit Tele- 
graphenſtangen aus Hodlers Jugendzeit äußerte z. B. ein Kunſtſchriftſteller aus 
dem Kreiſe Meier-Graefes, Dr. H. Uhde-Bernays, fie weiſe „durch die Rau m- 
einteilung nach äußerlichen Oominanten auf Lehren, bie von 
Piſſarro empfangen wurden“. Daß jedoch Telegraphenſtangen ſenkrecht ſtehen, 
der Erdboden aber wagrecht, und daß ein Bilderrahmen ſich aus zwei ſenkrechten 
und zwei wagrechten Leiſten zuſammenſetzt, das ſind weder neue, noch äſthetiſch 
belangreiche Tatſachen. Ob ihr Erſcheinen im vorliegenden Fall auf Lehren Piſſarros 
zurückzuführen ſei, kann dahingeſtellt bleiben. Nach einigen ähnlichen Außerungen 
zum Entwidlungsgange Hodlers fährt Dr. H. Uhde - Bernays fort: „Blumen- 
ſtücke voll fatter Farbigkeit (?) und eine Reihe von farbigen Zeichnungen, die 
ſchmetterlinghaft ‚bewegt‘ an den Wänden ‚haften‘, geben Kunde, daß auch im 
kleinſten den Meiſter des, Tell“ und der ‚Heiligen Stunde“ bie ſtilbildenden Elemente 
feiner Kunſt ‚in bewußter Freiheit“ zum Perſönlichen ‚drängen‘... Hodlers 
Kunſt ift die große Kunſt, Kunſt der Perſönlichkeit.“ Hier tritt die 
Wurzel aller folder Erörterungen greifbar zutage. Es ijt der Grundſatz: „L'art 
pour l’art“, und folgeweiſe die Verherrlichung jeder Künſtlerperſönlichkeit, die 
ein neues, eigenartiges Kunſtſpiel aufführt, gleichviel, ob es ein gutes und wert- 
volles oder ein ſchlechtes, dilettantiſches, ja ſchließlich perverſes oder verrücktes 
ijt. Es kommt nur an auf feine „Geſte“; das Wort ift charakteriſtiſch für den Feuille- 
tonismus und wird von ihm bis zum Überdruß wiederholt. Nach dem Vorgange 
Meier-Graefes haben faſt alle Kunſtſchriftſteller, die der ſelben Kunſtauffaſſung 
huldigen, deffen Ausdrucksweiſe angenommen. Dr. H. Uhde Bernays 
fährt fort: „Hodler wird immer Gegner finden, die ſeinem Parallelismus das 
Weſentliche, die rhythmiſche Stilbildung, abzuſehen nicht in der Lage ſind und 
denen daher diefe Prinzipien als grobe Verzeichnungen () erſcheinen mögen. 
Je weiter wir fortſchreiten in der künſtleriſchen Ausbildung unferer Sinne, um 
jo ftärter macht fih das Gefühl für Harmonie geltend, und gerade diefe Empfin- 
dung, deren Lauterkeit auf eine beſondere Begabung allein fid) geltend macht (1), 


Alt: Hodler unb feine geltgenoffen 631 


verlangt von der Muſik übertragen zu werden auf die Malerei. Eine Zeit ſcheint 
anzubrechen, in der die Bedeutung der größten Künſtler vom Ende des vergangenen 
Jahrhunderts, eines Marées ebenſo wie eines Gauguin (), auf Grund dieſes 
ethiſch ſublimen Genießens (D ein höchſtes und reinſtes Verſtändnis erſchließen 
wird. Wir erziehen uns zu einer puritaniſchen Kunſtlehre, ſehen ein, daß durch 
die Gegenſtandsmalerei das Auge verbildet wird, hoffen darauf, daß uns die 
Naivität des Schauens, die das Kind voraus bat vor uns Erwachſenen (), wieder- 
gewonnen werde. Aber das geſchieht niemals mit Worten und Büchern, es ge- 
ſchieht durch das Sehen allein: Der Menſchen allerbeſter Sinn iſt Sehen, ſagt 
Albrecht Dürer.“ 

Man muß verſuchen, ſich den Inhalt dieſer Sätze ganz klarzumachen, um 
zu erkennen, welch ein Bombaſt hier zum Preiſe Hodlers aufgehäuft wurde, von 
den „Prinzipien, die als grobe Verzeichnungen erſcheinen“, bis zum „ethiſch 
ſublimen Genießen“ einer muſikaliſch wirkenden Malerei, deren Harmonie „höchſtes 
und reinſtes Verſtändnis erſchließt“. Hier ift bemerkenswert, daß die Entwicklungs- 
geſchichte der Muſik durch Wagner und Liſzt auf den gerade entgegengeſetzten Weg 
geleitet wurde, vom Formalen zum Gegenſtändlichen. Inwiefern dies für die 
Muſik zuläſſig, wünſchenswert oder notwendig war, haben wir hier nicht zu unter- 
ſuchen. Wohin aber auf jenem Wege die Malerei gelangen muß, das lehrt uns 
bet „Expreſſionis mus“, deffen Theorie kürzlich von Kandinsky 
bekannt gemacht wurde in einer Schrift: „Über bas Geiſtige in der Runft“ (München 
1912, bei R. Piper & Cie.). Er findet dieſes „Geiſtige“ in freien Farbenphantaſien 
unter Ausſchluß alles Gegenſtändlichen von der Bildfläche, in Symphonien 
von verſchiedenfarbigen und verſchieden geformten Flecken, deren Wirkung ähnlich 
iſt derjenigen eines aus bunten Flicken zuſammengenähten Teppichs. So lächerlich 
dies klingt, es iſt zuzugeben, daß eine ſolche Farbenkompoſition ſowohl harmoniſch 
als rhythmiſch gut wirken könne. Allein wir finden die Behauptung, daß die hohe 
Kunſt der Malerei zu einer ſolchen Verwendung beſtimmt ſei, ja daß ſie damit 
erſt ihr eigentliches und höchſtes Ziel erreiche, nicht lächerlich, ſondern vielmehr 
traurig, als Beweis ihres offenbaren Zuſammenbruchs und als ein geradezu 
erfchredendes Symptom von Erkrankung des Geiſteslebens unſrer Zeit. Und 
wo in aller Welt gibt es ein Kind, gibt es einen naiven Menſchen, dem nicht zu- 
nächſt das Gegenſtändliche, und nichts als das Gegenſtändliche eines Gemäldes, 
verſtändlich wäre, lange ehe ihm bewußt wird, daß dieſes Gegenſtändliche zugleich 
der Träger einer ſchönen farbigen oder linearen Form ſein könne? Wenn man 
eingeſehen hat, wie wenig gerade die Behauptung dieſer Tatſache mit dem wahren 
Sachverhalt übereinſtimmt, dann läßt ſich erſt ganz ermeſſen, welch ein Mut dazu 
gehörte, für eine ſolche oder eine auf dem Wege dahin befindliche Kunſtauffaſſung 
die Autorität Albrecht Dürers anzurufen. Wahrlich, der Schriftſteller, der dieſen 
Frevel am Andenken Dürers begangen bat, muß keine Ahnung haben vom wahren 
Weſen dieſes Großen, von ſeiner tiefen Ehrfurcht vor der Natur; kann nie ernſtlich 
nachgedacht haben über den Sinn ſeiner Worte: „Wahrhaftig ſteckt die Kunſt 
in der Natur“! Kein Menſch, fährt Dürer fort, kann aus eigenen Sinnen ein 
ſchönes Bild machen, ſondern nur wer durch vieles und eifriges Nachbilden 


632 Alt: Hodler unb feine Zeitgenoſſen 


der Natur fein Gemüt voll gefaßt bat. Deshalb alfo bat Dürer das 
„Geſicht“ den „alleredelften Sinn des Menſchen“ genannt, weil es uns die Herr- 
lichkeit der gotterſchaffenen Natur erſchließt, wie Goethe es fpäter durch den 
Mund Lynkeus des Türmers verkündete. Daß es aber jemals eine Malerei geben 
könne, die nicht auf Nachahmung der Natur beruht, ſondern rein aus eigenen 
Sinnen Oinge erfindet, daran hat Dürer ſicherlich nicht gedacht. Wenn jedoch 
ſchon einmal Dürer für Hodler in Anſpruch genommen wurde, dann wollen auch 
wir Dürer zitieren. Dürer fagt, wo er von der Schattierung farbiger Gegen- 
ſtände ſpricht, folgendes: „Hab Acht, daß du ein jedliche Farb ſchättigſt mit einer 
Farb, die ſich dorzu vergleich. Soll Gelb in ſeiner Art bleiben, ſo mußt du es mit 
einer gelben Farb ſchättigen, die dunkler als die Hauptfarb iſt. Wenn du ſie mit 
Grün oder Blau abſetzſt, fo wird eine ſchillrete Farb draus, als man feiden Ge- 
wand findt, bie von zweien Farben gewirkt find („changeant“). Aber es geh, 
wie es woll, ſo muß kein Farb im Tuſchieren aus ihrer Art kommen.“ Wir müſſen 
es nach dieſer Äußerung Oürers dringend bezweifeln, daß bie Farbenkunſt Hodlers 
vor feinen Augen Gnade gefunden hätte, ſoweit wenigſtens die bekannten Far- 
bungen Hodlers bei nackten und Gewandfiguren in Frage kommen. Denn hier 
iſt allzu oft nicht einmal „ſchillrete Farb“, ſondern das Naturwidrige. Grüne 
Schatten um orangefarbenes Fleiſch, blaue in oxydroten Gewändern uſw. Bei- 
läufig: daß ſolche Färbungen überhaupt möglich find, erklärt fid aus der Ver- 
ſchiedenheit der Lichtſtärke der gewählten Farben, durch welche ſich wenigſtens 
die Zeichnung und Schattierung als ſolche aufrecht erhält. Das rechtfertigt jedoch 
nicht eine Malerei, die ſich ſolcher nie geſehenen Färbungen bedient. Es iſt nicht 
wahr, daß dieſe „Syntheſen“ eine objektive Unterlage hätten, ſondern ſie bilden 
lediglich ein Dokument der Unnatur und einer Perverſion der natürlichen Gefühle 
in unſrer Zeit. 

Man hat Hodler als ein Glied der Entwicklungskette in Anſpruch genommen, 
die von Monet her über Gauguin, Cézanne und van Gogh läuft, von da zum 
„Expreſſionismus“ und „Kubismus“ führt und jetzt im „Futurismus“ verendet. 
Dieſer Zuſammenbruch liefert den Beweis, daß die Keime dazu ſchon urſprünglich 
der ganzen ſogenannten modernen Kunſt anhafteten, und daß diejenigen recht 
behalten haben, welche die Experimente dieſer Kunſtrichtungen ſeit Manet und 
Monet als eben fo viele Axthiebe auf die Wurzeln aller gefunden Kunſt bezeich- 
neten. Der Baum liegt; das iſt der heroſtratiſche Ruhm, der dieſen Richtungen 
bleiben wird. Kein Zweifel, daß auch Hodler in dieſe Kreiſe gezogen worden iſt 
und daß wir dadurch das Beſſere verloren haben, was wir vielleicht von ihm hätten 
haben können. Allein gegen die Einreihung in jene Entwicklungskette müſſen wir 
ihn in Schutz nehmen. Dazu iſt er denn doch zu ſelbſtändig, und wir anerkennen 
hier wiederholt ſein teilweiſe erfolgreiches Ringen nach einem monumentalen 
Stil. Die Frage bleibt, wohin er damit ſchließlich gelangt ift, unb welche Urſachen 
auf ſeine perſönliche Entwicklung eingewirkt haben, die wir in ihrem Ganzen als 
eine dekadente bezeichnen müſſen. 

Daß Hodlers (neuere) Walerei eine innerlich neuzeitliche, alſo wahrhaft 
moderne, nicht iſt, haben wir oben ſchon dargetan. Auch als eine nationale, 


Alt: Hodler unb feine Zeitgenoſſen 633 


bodenſtändige ijt fie in der Heimat des Künſtlers keineswegs anerkannt worden. 
Für uns könnte es nur ihr linkiſches und bäuriſch unkultiviertes Weſen einerſeits, 
ihr Zug zur Großräumigkeit andererjeits fein — ihre Schwäche und ihre Stärke! —, 
die dieſes Zugeſtändnis begründen müßten. Es gibt ein tüchtiges, wenn auch 
ftar? manieriertes Gemälde von Hodler, das dahin führen könnte: der „Schwinger- 
umzug“. Allein hier ſpricht offenbar der ſchweizeriſch nationale Stoff das ent- 
ſcheidende Wort. Alle jene hyſteriſchen Weiber und unnatürlich übertriebenen 
Bewegungen ſind eben ſo wenig ſchweizeriſch wie geſund. Den „Holzfäller“ nannten 
die Schweizer bei ſeinem erſten Auftreten, nach dem Zeugnis des eidgenöſſiſchen 
Bundesrichters Dr. Joh. Winkler, den „Stelzfüßigen“. Sieten Schrift: „Miß 
ſtände in der ſchweizeriſchen Kunſtpflege“, im Verlage von E. Haag in Luzern, 
ſeit 1911 in 4. Auflage erſchienen, gibt merkwürdige Aufſchlüſſe. In Urteilen der 
Schweizer heißt es: „Die Kunſt des Ferdinand Hodler iſt koloriſtiſch entartet. 
Sie ſpekuliert nach feiner eigenen Ausſage auf abſtoßende Wirkung: ‚Die Kunſt 
muß zuerſt abſtoßend wirken“ .“ Dr. 3. Winkler meint hiezu: „Wenn ſolche An- 
ſichten Boden gewinnen, ſo bedeutet das ein Nationalunglück. Der Ruhm von 
Hodlers Kunſt wird ſich nicht dauernd auf ſeiner forcierten Höhe halten können. 
Was an feiner Kunſt unverſtändigerweiſe ſchweizeriſch! genannt wird, find Wieder- 
ausgrabungen von primitiven Kunſtwerten, welche da waren, bevor die Schweiz 
kunſt- und kulturgeſchichtlich eine Rolle ſpielte.“ — „Mit Hodler iſt ein ſtarkes 
Talent auf den Abweg geraten, möglichſt nur Auffälliges zu produzieren, von 
dem man oft den Eindruck bekommt, es ſei darauf abgeſehen, zu 
Reklamezwecken die Oppoſition geradezu herauszufor⸗— 
dern. Und was die Sodlerſchen Kunſtjünger namentlich an Farbenvergewalti- 
gung leiſten, dagegen erheben ſich nun doch immer mehr zornige wie ſpöttiſche 
Proteſte.“ 

Ein Feuilleton im „Luzerner Tagblatt“ vom 11. Mai 1911 teilt mit, daß 
nach dem Zeugnis ausgeſprochener Hodler-Lobredner das Publikum faſt ratlos 
vor Hodlers „Holzfäller“ ſtehe. Hodler müſſe eben „durch das Unverſtändliche 
hindurch ſiegen“. 

Dr. Winkler möchte „alle jene Krankheitserſcheinungen im Schweizer Runft- 
leben“ unter dem Ausdruck des „Hodlertumes“ zuſammenfaſſen. Zedoch 
hat dieſe Kunſt „weitherum eine gewiſſe ſuggeſtive Schwärmerei ausgelöſt und 
ift zu einer Modeſache geworden. Unter Malern, Händlern, Jour- 
naliſten, Agenten uſw. ſcheint fid eine Art von ruft 
gebildet zu haben. Glänzende finanzielle Erfolge wurden erzielt. Und 
trotzdem iſt es dieſer Malerei in der langen Zeit, in der ſie ſich nun hat betätigen 
können, nicht gelungen, dem feinern Schönheitsſinne 
eines Großteils des Volkes, namentlich der Gebildeten, 
ſympathiſch zu werden.“ 

Aber vielleicht iſt Dr. Winklers und des von ihm zitierten Beſchwerdeführers 
Kunſtanſchauung eine veraltete und vertritt er nur die „rückſtändigen“ Kreiſe. 
Der Kunſtreferent der „Neuen Züricher Zeitung“ z. B. ſteht ganz auf der Seite 
Hodlers unb des „Hodlertums“. Daß Dr. Winkler jedoch die W Mehr- 

Ser Zürmer XV, 4 


634 Alt: Hodler unb feine Zeitgenoſſen 


beit der Gebildeten in der Schweiz, der „Intellektuellen“, auf feiner Seite hat, 
kann nicht wohl bezweifelt werden: „Daß Hodler ein populärer Maler nicht iſt, 
das hat fein Verherrlicher in der „N. Zür. Ztg.“ ſelber anerkannt“. Weiter: „Dieſe 
Kunſt hat im Volke keine Wurzel. In ihren Werken iſt meiſtens kein Strich mehr 
richtig, weder in Form noch in Farbe. Es ſind Geſtalten, ungeheilt aus einer 
orthopädiſchen Klinik entlaſſen, wie der Züricher Studentenwitz treffend ſagte.“ 
Weiter: „Der Gelderwerb ſpielt eine große Rolle, auch bei den unſelbſtändigen 
Nachahmern. Sie hoffen, als getreue Gefolgsmannen einer Führerſchaft, die 
trotz oft geradezu fabrikmäßigem Betrieb mächtig und reich geworden ift, zu Aus- 
ſtellungen und Verkäufen zugelaſſen zu werden.“ Die „Aargauer Nachrichten“ 
aber ſchrieben im Auguſt 1911: „Wie viel geſunde Individualität, die wir gerade 
bei vielen unſrer Schweizermaler finden, geht ob der unter dem Drucke der Runft- 
kritik entſtandenen Suggeſtion eines angeblich Großen verloren! Bewahre uns 
der Himmel vor jenem ſtiliſtiſch-dekorativen Kunſtgewerbe der Zukunft, das uns 
die von der Architektur geſchaffenen Flächen verhodlern und dieſe Fähigkeit zum 
Kriterium der wahren Rünftlerfchaft machen will.“ Schließlich berichtet Dr. Winkler 
von einem Mißerfolg der Schweizer Kunſtausſtellung in Rom 1911, infolge des Vor- 
wiegens der Hodlerſchen Richtung, von einem abfälligen Urteil bedeutender ita- 
lieniſcher Zeitungen, und fährt fort: „Nach den Beſuchen, die ich der Ausſtellung 
gemacht, habe ich wahrlich niemandem geſagt, daß ich ein Schweizer ſei. Das 
Gleiche bemerkten mir mehrere Landsleute. In anderen Abteilungen, z. B. der 
deutſchen, war die ‚moderne‘ Richtung ebenfalls vertreten, aber nicht über- 
wiegend oder gar ausſchließlich. Nur die Schweiz hat keine Toleranz geübt. Der 
beſchämende Mißerfolg, den fie damit im Angeſichte der Vertreter faſt aller Kultur- 
völker erlitten hat, wird die Landesbehörde zum Aufſehen mahnen müffen. Aus 
dem Kreiſe jener Kunſtmatadoren ſcheint in Rom auch die Außerung 
gefallen zu fein, daß Raffael und Michelangelo nicht 
richtig zu malen verſtanden haben.“ Das war jedoch, wie wir finden, 
nur folgerichtig. Denn nur entweder das eine oder das andere iſt in Wahrheit 
möglich. 

Wir Oeutſche würden Hodler verdientes Lob gewiß nicht deshalb verfagen, 
weil er ein Schweizer iſt; fo wenig wie den wirklich großen oder bedeutenden fran- 
zöſiſchen Malern. Beweis dafür unſere Begeiſterung für Arnold Böcklin. 
Freilich, dieſen durften wir, ſeinem Werdegang wie ſeiner Kunſt nach, als Fleiſch 
von unſerm Fleiſch und Blut von unſerm Blut, kurz als einen deutſchen 
Künſtler anſehen. Dies trifft bei Hodler nicht zu. Dennoch 
würden wir auch ihm ganz ſicher die höchſte Anerkennung zollen, wenn er uns 
wirklich, wie behauptet wird, den einzig wahren und wahrhaft modernen Monu- 
mentalſtil der Malerei geſchenkt hätte. Aber das iſt nicht der Fall. 

Die zünftige Kunſtkritik Oeutſchlands zollt indeſſen, wie wir geſehen haben, 
Hodler vielfach hohes, bisweilen überſchwengliches Lob. Gelegentlich der im No- 
vember 1911 von Paul Caſſirer in Berlin veranſtalteten Ausſtellung er- 
klärte fogar in der „Oeutſchen Zeitung“ deren Berichterſtatter, Hans Kaiſer, 
in Sperrdruck, Jodler fei „heute der einzige anerkannte monumentale Wandmaler 


Alt: Hodler und feine geitgenoſſen 635 


von europdijder Bedeutung“. In München, wo der Kunſthändler H. T h a n n- 
hauſer in feiner „Modernen Galerie“ im Arco-Palais die Ausſtellung ver- 
anſtaltete, wurde Hodler jedoch von der überwiegenden Mehrheit der Künſtler 
und Kunſtfreunde entſchieden abgelehnt. Dr. Martin Wackernagel aus Halle 
bemühte ſich vergeblich, die Münchner von der Echtheit feines Kunſtgenies zu über- 
zeugen. In der Münchner Kunſtzeitſchrift „Janus“ aber (Oezemberheft 1911) 
zeigte Dr. Hans Friedrich alle Mängel ſeiner Kunſt mitleidslos auf. Daß 
Dr. Friedrich infolgedeſſen eine Flut von Schmähungen und beleidigenden Auße⸗ 
rungen des Herausgebers des Futuriſtenblattes „Der Sturm“, H. Walden, über 
fih ergehen laffen mußte, ijt bezeichnend für die Hodlerſche Kunſt und für unfere 
Zeit. Im Fabre 1912 wurden Werke von Hodler auf der bekannten , Gonderbunds“- 
Ausſtellung zu Köln gezeigt. Gehalt und Tendenz dieſer Ausſtellung iſt ſeitens 
vieler führender, der Allgemeinſuggeſtion noch nicht anheimgefallener Blätter, 
von der „Kölniſchen Zeitung“ bis zur ſozialdemokratiſchen „Münchener Poſt“, 
einer vernichtenden Kritik unterzogen worden. Hier alſo erſchien Hodler neben 
Kubiſten, Expreſſioniſten und Futuriſten, ohne allzuſehr aus dem Rahmen zu 
fallen. Dies aber hätte man von einer wahrhaft innerlich gefunden Kunſt un- 
bedingt erwarten müſſen. Ausgeſtellt waren der „Tell“ von 1897, der an der 
Schwelle der ſtiliſtiſchen Kunſt des eigentlichen Hodler ſteht und die Epoche feiner 
Wegänderung bezeichnet; dann das „entzückte Weib“ und ein „ſchreitendes Weib“. 
Eine gewiſſe Größe des Wurfs iſt dem „Tell“ vom Geſichtspunkt einer primiti- 
viſtiſch ſtiliſierenden Flächenkunſt aus nicht abzuſprechen. Allein der Weg hätte 
von da aus anderswohin führen müſſen als zu den ſchreitenden und verzüdten 
Weibern. Bezeichnend an jenem Überfall Dr. Friedrichs durch H. Walden war 
ferner der inzwiſchen faſt typiſch gewordene Umſtand, daß die Verteidiger der 
modernen und modernſten Kunſt auf jede fachliche Kritik ſtatt mit ſachlichen Wider- 
legungen mit zum Teil wüſten Schimpfereien, mit dem Verſuch des Nieder- 
ſchreiens, Mundtotmachens oder des Diskreditierens der Urteilsfähigkeit Anders- 
denkender antworten. Deren ſachliche Widerlegung ſcheint alſo nicht eben ſo leicht 
zu ſein. 

Die Schrift des ſchweizeriſchen Bundesrichters Dr. Winkler bekämpft 
„das auch in der Schweiz nachgerade unleidlich gewordene, die gerechte Würdigung 
aller künſtleriſchen Leiſtungen beeinträchtigende oder verhindernde Cliquen-Un- 
weſen“. Dadurch „werden überdies junge Künſtler gezwungen, ſich in dieſes 
Syſtem hineinzuſchleichen und die von ihm einzig tolerierte Kunſt nachzuahmen, 
wenn ſie leben wollen“. Aus einer Beſchwerdeſchrift unabhängiger Künſtler an 
den Bundesrat um Abhilfe gegen „jenes Parteiſyſtem“ erfahren wir, daß es in 
der Schweiz auch die Staatsmittel für Kunſt an ſich zu reißen verſtanden habe. 
Bei uns iſt dies der „modernen“ Kunſt bis jetzt glücklicherweiſe noch nicht gelungen, 
ſo rührig ihre kunſtpolitiſchen Vertreter auch dafür tätig ſind mit allen Mitteln der 
Allgemeinſuggeſtion und des Terrorismus gegen Andersdenkende, unter größt- 
möglicher Ausnützung der öffentlichen Macht der Preſſe und der geheimen Wege, 
die zur ſtaatlichen Anerkennung führen können. Gegen die von ihr angeſtrebte 
Alleinherrſchaft und Knechtung der Kunſtanſchauung haben wir bisher mit Er- 


636 Alt: Hobler unb feine Zeitgenoſſen 


folg angekämpft; fie felbft kam uns zu Hilfe durch den offenbaren Zuſammenbruch 
ihres äſthetiſchen Gebäudes im Kubismus und Futurismus. Es ijt kein Zufall, 
daß die Strategen dieſer kunſtpolitiſchen Partei auch Hodler ſofort nach ſeinem 
Auftreten unter ihre Fittiche genommen haben, und ſtaatliche Organe, in Fena 
und anderwärts, ſind ihrem damaligen Einfluß denn auch unterlegen. 

Aus der Schrift Dr. Winklers erfahren wir ferner, daß ſich eine Art Truſt ge- 
bildet zu haben ſcheine, der den Ruhm Hodlers geſchäftlich ausbeute. Waren die 
Ausſtellungen des Jahres 1911 vielleicht eine ähnliche, von langer Hand vorbereitete 
Aktion zur Realiſierung angehäufter Spekulationswerte, wie ſolche bei Manets, 
Cézannes, Gauguins, van Goghs Hinterlaſſenſchaft, zum Teil wiederholt, ge- 
tätigt worden iſt? Wie dem auch ſei, es darf uns in der ſachlichen Beurteilung der 
Hodlerſchen Kunſt nicht beirren. Doch wir glauben, dieſes Gebot nicht verletzt zu 
haben. Von grundlegender Bedeutung für unſer Urteil iſt die Frage nach der 
allgemeinen Berechtigung der Stiliſierung, nach ihrer beſonderen bei Hodler und 
nach deren Modernität. Über ihre allgemeine Berechtigung an monumentalen 
Wandflächen kann kein Zweifel beſtehen; beim Tafelgemälde aber beſtreiten wir 
dieſe ganz und gar, und daß der Stil Hodlers bem Gefüblsbebürfnis wirklich modern 
empfindender Menſchen durchaus zuwider ijt, würde eine Abſtimmung unter Ge- 
bildeten oder ungebildeten zum ſicheren Ergebnis haben. Die Formgebung Hod- 
lers ijt zum eil antiquariſch, nämlich quattrocentiſtiſch, zum Teil exotiſch, wo fie 
japaniſiert. Die Frage iſt endlich nach dem bleibenden Werte der ſo ſtiliſierten 
Werke von Hodler. Zn dieſer Beziehung bat ſelbſt der Runftreferent der „Frank- 
furter Zeitung“, der gewiß nicht geneigt iſt, moderne Künſtlerperſönlichkeiten zu 
unterſchätzen, Dr. C. Gerhardt, zugegeben, daß „der Eindruck verſagen muß, 
wo durch die Lücken der Geſtaltung bloß der Wille des Künſtlers hervorſchaut“. 
Er nannte die neuere Richtung Hodlers „eine konſtruie- 
rende, erperimentierende und völlig unnaive Kunſt“. 
Dagegen erwartet er angeſichts der Landſchaften des Künſtlers aus den Jahren 
1904—10, daß bie Kunſtgeſchichte der Zukunft „den Landſchafter Hodler“ viel- 
leicht einmal höher ſtellen werde als „den Meiſter des monumentalen Stils“. 

Die äußere Erſcheinung Hodlers denkt ſich mancher vielleicht, durch ſeine 
Kunſttendenzen und durch Bildniſſe verführt, als die eines ungeſchlachten Rieſen. 
Sie weicht jedoch von dieſer Vorſtellung erheblich ab, ohne ndeſſen irgend etwas 
von den Charakterzügen vermiſſen zu laſſen, die nach umfaſſender Schilderung 
feiner ganzen Perſönlichkeit zu vermuten erlaubt ijt. Ein Bewunderer bes fünjt- 
lers und Berichterſtatter einer Berliner Zeitung erzählte von ſeinem Beſuch bei 
Hodler im September 1911 folgendes: 

„Jodler iſt kaum mittelgroß, eher ſchmal als breit von Bruſtumfang; der einſt 
ſchwarze, wenig gepflegte Bart leicht graumeliert; der Kopf etwas vorgeneigt und 
durch diefe Neigung den „Stiernacken“ des Selbſtporträts gar beſcheiden mar- 
kierend. Aber je lebhafter er ſpricht, um über die an den Wänden durcheinander 
ſtehenden Entwürfe, Studien und Skizzen bereitwillig Auskunft zu geben und 
ſeine Anſchauungen zu diskutieren, um ſo deutlicher nimmt man an Körper und 
Weſen Zeichen der Zähigkeit wahr, die dazu gehört, um fünfundzwanzig Fabre 


Unfere Bilder 637 


[ang bei ‚gejhwöllten Herdöpfeln“ an bem ‚einmal als richtig Erkannten“ feitzu- 
halten, ber dickſchädligen Berner Zähigkeit; und aus den guten, braunen Augen 
ſchaut nicht nur ein lächelnder Schalk hervor, ſondern auch der Blick des Geſchäfts⸗ 
mannes, der die Konjunktur fo trefflich auszunutzen wußte, daß in wenigen Jah- 
ren aus einem armen Hungerleider ein Millionär ward. Hodler ſelbſt foll vor 
einiger Zeit ſchon ſchmunzelnd dieſe Summe genannt haben. Je näher man ihm 
tritt, um fo mehr wächſt die Bewunderung für dieſen fo gar nicht hünenhaften, 
ſchlichten, lieben Menſchen; für dieſen Millionär, der das kahle Atelier mit dem Blick 
auf die Rhone in der Tiefe und den Montblanc in der Ferne nicht verlaſſen wollte, 
obwohl es zu eng iſt, um die Fertigſtellung großer Bilder anders als in Teilen zu 
geſtatten; der, um von der raſtloſen Arbeit auszuruhen, ſich am wohlſten fühlt, 
wenn er nach dem Eſſen im benachbarten Café beim ‚Schwarzen‘ und abends beim 
Bier im „Krokodil“ mit ein paar unſcheinbaren Kunſtgenoſſen den geliebten „Jaß“, 
den ſchweizeriſchen Skat, dreſchen kann, — dort in der Ecke am großen Kamin, 
in deſſen Höhlung ein lebendes Krokodil, die in langen Zwiſchenräumen ihm ge- 
reichte Nahrung verdauend, unbeweglich ſchläft ...“ 

Hodler foll feinen „Holzfäller“ über dreißigmal verkauft und feinen Freun 
ben nach Erwerb der zweiten Million Franken ein Feſt gegeben haben. Ich habe 
fünf verſchiedene Exemplare des Holzfällers geſehen. Nähme man eins als Vor- 
lage, ſo könnte jeder halbwegs tüchtige Malermeiſter in wenigen Stunden ihn 
täuſchend kopieren. Beim Anblick ſolcher Gemälde Hodlers konnte ich mich bis- 
weilen des Gedankens nicht erwehren, daß er ſich über ſein Publikum innerlich 
luſtig mache; daß er das moderne Publikum bei ſeiner Wegänderung Ende der 
neunziger Jahre entſprechend beurteilt und daß ihn zu ſeinem Schritte weit mehr 
die Abſicht veranlaßt habe, ſich vermittelſt einer höchſt auffallenden Formgebung 
hervorzuheben und Vermögen zu erwerben, als die gefaßte und mit unterlaufene 
künſtleriſche Idee. Daher der geſchäftlich geniale Einfall, Monumentalmalerei in 
Duodezformat auf den Markt zu bringen, zum Aufhängen in den Boudoirs und 
Salons reicher Leute; raſch hergeſtellte und mühelos oft wiederholte Gemälde. 
Mit köſtlicher Naivität beſtätigt dies unſer Berichterſtatter. Es gibt alſo wirklich 
Kunſtfreunde, die gar nichts Unkünſtleriſches, nichts Unpaſſendes dabei finden. 
Aber nur aus der völlig idealen, rein künſtleriſchen Abſicht erwächſt große Kunſt, 
niemals aus der auf Erwerb gerichteten, und ſchon eine ökonomiſche Nebenabſicht 
iſt geeignet, ſelbſt eine groß angelegte Kraft zu zerſtören. 


* 
Ainjere Bilder 
Ma 


Ge Meas Winterbild von Guſtav Schönleber ijt ein Nachtrag zu der großen Bilderreihe 
J 2 a des verehrten Meifters, bie wir im Oktoberheft gebracht haben, und ſteht ziem- 
CE lich vereinzelt in Schönlebers Schaffen, deffen warmes Naturempfinden, deſſen 
Lieve zur Fülle von bet Winterlandſchaft weniger angezogen werden kann. Dafür ſteht bieles 
Bild aber auch vollwertig in der erſten Reihe der Werke des Meiſters, gleich ſtark im Sehen 


eines Naturausſchnittes wie im Erfühlen feiner Stimmung. 


Ws 


638 Unfere Blider 


! Als auf der letzten großen Berliner Runftausftellung Ernſt Koerner die Reihe feiner 
charakteriſtiſchen Orientbilder durch ein großes Gemälde „Konſtantinopel“ vermehrte, dachte 
niemand, mit welch gemiſchten Empfindungen die Gedanken dieſes Winters am Goldenen 
Horn hängen würden. Die düfteren Farben von Krieg und Tod, Blut und Feuersbrunſt, 
doppelt grell auf dem finſteren Hintergrunde dräuender Seuchen, die dumpfe Verzweiflung 
eines geſchlagenen Volkes, ſie paſſen ſo gar nicht zu dem Märchenbilde, als das in unſerem Geiſte 
Konſtantinopel lebt. Tauſendmal ſind ſeine Schönheiten geſchildert worden; der einzigartige 
Glanz, den das Licht in Verbindung mit den Dünſten des Meeres um die alte Stätte breitet, 
bat immer aufs neue das Entzücken der Reiſenden hervorgerufen. Koerner gibt in feinem Bilde 
dieſen eigenartigen Zauber einer farbigen Luft, die wie flimmerndes Gold an dieſer ſchickſals⸗ 
reichen feüfte hängt. Er hat für mein Gefühl überzeugend auch jene Märchenſtimmung des 
Orients getroffen, aus der die unendliche Zahl von Geſchichten aller Art in die Weltliteratur 
gefloſſen ift. Unfer Blatt gibt eine Nachbildung nach dem großen Fakſimiledruck, der im Ber- 
liner Runftverlag Paul Sonntag von dem Blatte erſchienen iſt. Dieſer Fakſimiledruck erreicht 
alle Feinheiten des Originals und bildet in feiner raumbeherrſchenden Bildgröße von 90 x 60 cm 
einen prachtvollen Wandſchmuck (60 A das Blatt). 

Die drei Blätter des jungen Radierers Kurt Kluge ſcheinen mir trotz der Titel in ein 
Neujahrsheft zu paſſen. Dieſes „Abendlied“ wirkt ſchier wie ein Symbol des im Volkslied ſo 
oft beſungenen Verdrängtwerdens des Alters durch die Jugend. „Dem ewig Zungen weicht 
in Wonne ſelbſt ein Gott“, fingt Wagners Wotan vor dem anftürmenden Siegfried. Giele 
weiſe verzichtenden Alten find im Leben ebenfo felten wie die jungen Siegfried. Aber glüd- 
licherweiſe iſt doch jenes Alter nicht ſelten, dem das Lied der Jugend ein fanftes Abendlied 
wird. Je froher der Sang, je friſcher der Mut; je zuverſichtlicher der Klang, je hoffnungsreicher 
das Wort, um fo mehr wird das dem lauſchenden Alten Erinnerung, Spiegel der Sergangen- 
heit, und er fühlt, wie ſich Kreiſe ſchließen. Der Kreis aber iſt eine unendliche Linie. Muß 
das Ende ein Ende fein? Zils nicht auch ein Anfang? 

Der Kreis des Lebens, der Kreis des Tages. Der kräftige Schnitter ſchreitet in gelaſſen 
mübem Gange der Ruhe zu. Am Morgen ging er denfelben Weg in entgegengeſetzter Richtung. 
Morgen früh wird er ihn wieder ſchreiten, neu geſtärkt zum Werke, und morgen abend wird er 
wieder müde nach Haufe ziehen der Ruhe zu. Schaffen, ruhen, fäen, die Ernte bergen, ich 
müben, müde werden — das iſt der Kreislauf der Tage. Manche finden ihn troſtlos. Ich emp- 
finde ihn als groß. So als Teil des Ewigen, des immer Geltenden, mittun am notwendigen 
Gang der Welt und ſicher zu fein, nach dem Werke der Ruhe zugehen zu können — mir ſcheint's 
ein troſtvoller Gedanke. Und dann, leuchtet nicht die Abendſonne auf den gebeugten Nacken? 
Glitzern nicht ſchon freundliche Sterne am nächtlichen Himmel? 

Der Ruhe zu, der großen Ruhe! Da keuchen fie zu Berge, alle die Kreuzträger des 
Lebens, mühen fih, kämpfen und ſchleppen die Laft unb gewahren nicht bie lauſchige Erholungs- 
balle, die am Wege ſteht. Und müjfen doch alle einmal bin. Ruhig wartet der Herr dieſes 
Haufes ab. Zögernd rutſcht der zuſammengebrochene Erdenpilger näher heran. Es lockt ihn, 
ben ſchmalen Sriidenpfad hinüber ins jenfeitige Land. Noch ſcheint ihm der Brückenzoll zu 
hoch, man zahlt mit bem Leben. Und er wird doch binübergeben, es lockt von drüben die große 
dunkle Ruhe. 


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Muſikerelend 
Von Dr. Karl Storck 


nnerhalb der letzten Jahre hat bei allen ernſt geſinnten Muſikern 
eine große Unzufriedenheit Platz gegriffen. Die Verbitterung iſt ſo 
ſtark, daß fid) eine gewiſſe Beſorgnis für die Zukunft des Mufiter- 
Oſtandes nicht unterdrücken läßt. Man ift über das geſchäftliche Ge- 
baren in der Kunſt, wie es uns vom Ausland zugekommen iſt, auf das tiefſte 
empört. Die ſittliche Verwahrloſung, ja die Verrohung, welche die Geldherrſchaft 
im Gefolge hat, wird auf das ſchmerzlichſte empfunden. Leider fehlt es ſcheinbar 
den Muſikern an Energie, ſich zur Abwehr böſer Elemente zuſammenzuſchließen. 
Schilderungen betrübender Vorkommniſſe, Berichte kraſſer Einzelheiten gehen 
von Mund zu Mund; aber niemand unternimmt es, weite Kreiſe aufzuklären. 
So wächſt die Fäulnis an, die Zerſetzung ſchreitet fort, ohne daß auch nur von 
einer Seite Gegenmittel zur Anwendung gelangen. — Nur durch häufige, öffent- 
liche Ausſprache, durch Aufklärung der Zugend wird man auf Heilung der Schäden 
hoffen können.“ | | 
Mit dieſen Sätzen eröffnet ber treffliche Klavier- und Theorielehrer vom 
Leipziger Konſervatorium und geſchätzte Komponiſt Stephan Krehl die 
„Betrachtungen über troſtloſe und unwürdige Zuſtände im Muſikerberuf“, die 
et unter dem Titel „Muſikerelend“ vereinigt. (Leipzig, C. F. W. Siegels 
Muſikalienhandlung.) Ich möchte gleich bei dieſem Vorwort etwas verweilen. 
Wenn Krehl es beklagt, daß es den Muſikern an Energie fehlt, ſich zur 
Abwehr böſer Elemente zuſammenzuſchließen, und gleich danach fortfährt, daß 
niemand es unternimmt, weitere Kreiſe über die Mißſtände aufzuklären, ſo macht 
er ſich ſelber in gewiſſem Maße des zunächſt erhobenen Vorwurfs ſchuldig. Neben 
anderen Männern — ich nenne nur Kretzſchmar, Bekker, Marſop — bemühe ich 
mich feit Jahr und Tag für die Aufklärung der Öffentlichkeit über die Übelftände 
im Muſikerberuf. Mein aus ſolchen Aufſätzen herausgewachſenes Buch „Muſik⸗ 


640 Stord: Muſikerelend 


Politik“ ijt deffen Zeuge. Es liegt mir nun durchaus fern, mich darüber zu be- 
klagen, wenn Krehl von dieſer Arbeit, die vielfach in derſelben Linie geht, wie ſein 
Buch, keine Notiz nimmt. Ich ärgere mich nur über die kunſtpolitiſche Unklugheit, 
die in einem ſolchen Verſchweigen liegt, zumal ſich der gleichen Art ſo manche 
andern Unternehmungen zur Abſtellung der Übelftände in unſerem Muſikleben 
ſchuldig machen. Auch in der ſchriftſtelleriſchen Gegenarbeit muß gemeinſam 
gearbeitet werden, auch da gilt es, die Öffentlichkeit bei jeder einzelnen Aufklärung 
darauf hinzuweiſen, daß auch andere dieſe Schäden erkannt und bekämpft haben. 
Dadurch wird die eigene Arbeit ſtärker, nachdrücklicher. 

Im übrigen hat Krehl ja ſo recht. Für einen, der wie ich eigentlich mehr 
als Außenſeiter zu dieſer Arbeit kommt, der unter den ſozialen Mißſtänden des 
Berufes nicht zu leiden hat, gehört wirklich ein ganz erkleckliches Maß von Sbealie- 
mus und vor allen Dingen auch von Geduld dazu, für die Hebung des Mufiter- 
ſtandes tätig zu ſein. Denn jene, denen die Not auf den Fingern brennt, ſtehen 
gleichgültig abwartend oder ſtumpf zur Seite. Dazu kommt, daß jeder natürlich 
ſeine beſonderen Wünſche hat. Es iſt durch ſämtliche Tagesblätter die Nachricht 
gegangen, daß Ende September in Berlin die Abgeordneten von zwölf Muſiker- 
verbänden zuſammengekommen waren, um über Reformen zu beraten. Man 
iſt natürlich nicht über die erſten Beratungen hinausgekommen, und da über dieſe 
ausdrücklich Schweigen geboten worden iſt, ſoll hier auch nichts verraten werden. 
Aber es zeigt ſich doch ſchon jetzt, daß man nicht einſieht, daß jeder Kulturkampf 
damit zu beginnen hat, daß einmal die Grenzen nach unten gezogen werden. 
Daß auch jene Verbände, die weit Höheres erſtreben, bereits außerordentlich viel 
gewonnen haben, wenn die Allgemeinheit gezwungen wird, einmal ein Minimum 
geiſtiger, ethiſcher, ſozialer und ökonomiſcher Forderungen anzuerkennen, gehört 
doch zum Abe jeder Reformtätigkeit. Hier aber wird fie nicht eingeſehen. 

Von beſonderem Übel ijt, daß das ſoziale Empfinden gerade in Mufiter- 
und Künſtlerkreiſen überhaupt ſehr ſchwach ausgebildet iſt. Man darf mich nicht 
mißverſtehen. Die Künſtler haben im allgemeinen ein gutes Herz und ſehr viel 
Mitgefühl für leidende Menſchen. Sie laſſen ſich in einer oft ſchamloſen Weiſe 
mißbrauchen für Bazare, Wohltätigkeitsveranſtaltungen und alles mögliche. Sie 
geben Bilder hin, Bücher ab, halten unentgeltlich ſchwere Vorträge, wirken un- 
entgeltlich in Konzerten mit — alles letzterdings zum Amüſement oder Vorteil 
jener „vornehmen“ und wohlhabenden oder auch bürgerlich ſelbſtgerechten Schichten, 
die ſich dann noch einbilden, daß ſi e im Grunde Wohltätigkeit üben, weil ſie das 
Eintrittsgeld für die betreffenden Veranſtaltungen aufbringen. Alſo da ſind nach 
meinem Gefühl die Künſtler eher viel zu gutmütig, vor allen Dingen deshalb, 
weil fie fid) die Mühe nicht geben, zu prüfen und zu wählen. Dagegen fehlt ihnen 
durchweg das richtige Standesempfinden und ein Verantwortlichkeitsgefühl fir 
den ganzen Stand. Jeder andere Beruf hat das. Die Künſtler haben es nicht. 
Daher kommt es, daß mit ganz verſchwindenden Ausnahmen alle jene, denen 
es erträglich gut geht, fih nun nicht mehr um ihre leidenden und ringenden Fady- 
genoſſen kümmern, während nach meinem Gefühl doch gerade die Tatſache, daß 
es einem gut geht, zur ſozialen Arbeit verpflichtet. Denn die armen Teufel, die 


` Storg: Muſiterelend 641 


im Elend find, die können fid) nicht helfen. Aber ba genügt nun der geringſte 
Umſtand eines äußerlichen Mißbehagens, und (don hält man fid) von der Ber- 
pflichtung zur Mitarbeit entbunden. 

Nur ein Beiſpiel. Gd) habe hier im Oktoberheft von der Gründung eines 
Vereines der konzertierenden Künſtler Deutſchlands geſprochen, eines Vereines, 
der den von jedem anſtändigen Muſiker als notwendig erkannten Kampf gegen 
die Konzertdirektoren aufnehmen will. Ich mußte damals an dieſer Stelle einige 
Bedenken äußern und geſtehe ohne weiteres, daß ich noch heute eine Fülle von 
Bedenken habe. Dieſer Verein hat mich neben einem Viertelhundert anderer 
Männer und Frauen zu einem Ehrenausſchuß gewählt. Nun ift es ganz felbit- 
verſtändlich, daß einem ſolchen Verein zunächſt vor allen Dingen Künſtler bei- 
treten, die noch ſchwer unter dem Betrieb der Konzertdirektoren zu leiden haben, 
aljo Anfänger und Ringende. Um fo erfreulicher war es mir, unter den Ehren- 
mitgliedern eine ganze Reihe hervorragender Dirigenten und bedeutender Muſiker 
zu finden. Dieſer Verein hielt Anfang November in Berlin eine außerordentliche 
Generalverſammlung ab. Die im Grunde doch fehbre wohlwollende Allgemeine 
Muſikzeitung konnte mit einem gewiſſen überlegenen Lächeln darauf hinweiſen, 
daß von all den Ehrenmitgliedern mit „Hangvollem Namen“ einzig ich diefer 
Verſammlung beigewohnt habe. 

Es ift vielleicht eine Rückſtändigkeit, aber ich empfinde eine Ehrenmitglied 
ſchaft als eine viel ſtärkere Verpflichtung, denn als eine einfache Mitgliedſchaft. 
Deshalb habe ich das für mich ſchwere Zeitopfer gebracht. Die genannte Zeitung 
folgerte aus dieſer Tatſache, daß auch dieſer neue Verein natürlich ſeinen Zweck 
nicht werde erreichen können und an der Gleichgültigkeit der maßgebenden Per- 
ſönlichkeiten zugrunde gehen würde. 

Sa, nun ijt es aber doch eine unbedingte Tatſache, daß, wenn die hervor- 
ragenden Dirigenten und Konzertvorſtände, die ſich zu Ehrenmitgliedern dieſes 
Vereins haben machen laffen, gleichzeitig es fih zur Pflicht machen würden, 
in Zukunft keine Soliſten mehr von den rein geſchäftsmäßigen Konzertagenturen 
anzunehmen, fofort eine große Zahl der hervorragendſten Soliſten einer Gegen- 
organiſation beitreten und fo dieſe ſtärken würden. Es mag ja fein; es ſteht mir 
da kein Urteil zu, daß auch dieſe neue Organiſation im Grunde nur ein Geſchäfts⸗ 
unternehmen mehr ijt. Aber es würde ja gar nichts ſchaden, wenn auch die Rünftler- 
organiſationen ein Geſchäftsunternehmen wären, wenn nur der Gewinn dieſes 
Geſchäftsunternehmens wieder der Künſtlerſchaft zugute käme, während ſich 
jetzt einige Privatunternehmungen in unglaublicher Weiſe an dieſen Opfern der 
Künſtlerſchaft bereichern. Es wäre aber durchaus nicht ſchwer, über eine neue 
Gründung wie die genannte, eine nach der Richtung hin gehende Kontrolle aus- 
zuüben. Freilich muß man wirklich wollen und nicht bloß ſchöne Reden halten 
oder, was noch viel häufiger geſchieht, maßlos ſchimpfen. 

Eine große Schwierigkeit für alle Reformtätigkeit iſt allerdings unverkennbar, 
wird aber ſeltſamerweiſe nie genannt. Das iſt die Lage unſerer muſikaliſchen 
Fachpreſſe. Ich erkläre hiermit ausdrücklich, daß ich keinem unſerer Muſikblätter 
zu nahe treten will. Sd kenne ben einen oder anderen Herausgeber dieſer Beit- 


642 Stord: Muſiterelend 


ſchriften und achte diefe Männer, ſowohl um ihrer Kenntniſſe wie um ihrer Ge- 
ſinnung willen, febr hoch. Was ich meine, find feit langem eingeführte Verhält- 
niſſe. Dadurch werden dieſe aber nicht gerechtfertigt. 

Die muſikaliſchen Fachzeitſchriften arbeiten naturgemäß mit einem verhältnis- 
mäßig kleinen Abonnentenſtand. Nun find fie aber doch ſelbſtverſtändlich ge- 
ſchäftliche Unternehmungen. Die Blätter ſollen ſich rentieren, ſollen möglichſt 
viel Gewinn abwerfen. Das Mittel dazu iſt die Annonce. Gewiß iſt heute die 
Tagespreſſe durchweg und auch die Zeitſchriftenpreſſe in ſtarkem Maße auf die 
Erträgniſſe ihres Anzeigenteils angewieſen. Es iſt ſtatiſtiſch ſo und ſo oft gezeigt, 
daß im allgemeinen der Abonnementsbetrag kaum für die nackten Heritellungs- 
koſten aufkommt, nur ſelten eine Verzinſung des angelegten Kapitals bringt, 
geſchweige denn eine gebührliche Entſchädigung für die aufgewendete Arbeit. 

Aber der Zuſtand des Annoncenteils der muſikaliſchen Fachblätter iſt doch 
ein ganz anderer, als der der übrigen Preſſe. Daß der Inſtrumentenhandel und 
der Muſikverlag ihre Erzeugniſſe ankündigen, ijt ſelbſtverſtändlich. Daß Konzerte 
angekündigt werden müſſen, wenn ihr Vorkommen bekannt werden ſoll, iſt ohne 
weiteres klar. Die charakteriſtiſchen Anzeigen unſerer Muſikblätter find aber per- 
ſönliche Anzeigen der Künſtler. Da ſind zunächſt die ſogenannten Adreſſentafeln, 
die oft viele Seiten füllen und natürlich von den Künſtlern, die fid) da auf- 
zählen laſſen, bezahlt werden müſſen. Es liegt da ſchon ein Bedenkliches, denn 
die Auswahl der ſo für die verſchiedenen Lehrfächer angekündigten Künſtler, die 
äußere Bedeutung, in der dieſe Ankündigung erfolgt, richtet ſich alſo lediglich 
nach der Summe, die die Betreffenden für ſich aufwenden wollen, während in 
der Art der Erſcheinung dieſer Adreſſentafeln eine gewiſſe Sachlichkeit erheu- 
chelt wird. 

Viel ſchlimmer aber nun iſt die Gewohnheit, daß die einzelnen Künſtler ſich 
perſönlich in großen Reklamen anbieten, den Konzertvorſtänden in Erinnerung 
bringen uſw. Ich könnte es aus Dutzenden von Fällen meiner kritiſchen Tätigkeit 
belegen, wie ohnmächtig man gegen eine unlautere Zurechtſtutzung und Aus- 
nutzung einer abgegebenen Kritik durch den die Reklame treibenden Künſtler iſt. 
Da kommt oft gerade das Gegenteil von dem heraus, was man hat ſagen wollen 
und auch deutlich genug geſagt hat. Dieſe meiſtens ſeitengroßen Anzeigen ſind 
mit dem Bildnis des Künſtlers geſchmückt, und es gehört der ganze abgeſchmackte 
Größenwahn und die ja allerdings durch das Verhalten des Publikums er- 
klärliche Abgebrühtheit gegen Schmeichelei und Lobhudelei des Virtuoſentums 
dazu, um derartige Anzeigen von ſich veröffentlichen zu können. Ein Arzt, 
ein Rechtsanwalt, der auch nur den hundertſten Teil einer derartigen Reklame 
wagen würde, wäre im ſelben Augenblick nicht nur durch ſeine Standesorganiſation, 
ſondern auch beim Publikum gerichtet. 

Nehmen wir nun an, ein Blatt laffe fid in keiner Weiſe durch der- 
artige teuer bezahlte Annoncen in ſeinem eigenen Arteil beeinfluſſen, ſo iſt es 
doch ganz klar, daß eine vielleicht im vorderen redaktionellen Teil abgegebene, 
einige Zeilen umfaſſende Kritik, ſelbſt wenn fie ſehr ungünſtig iſt, vollftändig ver- 
ſchwindet gegen dieſe auf der Annoncenſeite mit einer Fülle anderer kritiſcher 


Stord: Mufiterelend 643 


Stimmen belegten Ruhmrednerei. Afo ein derartig organifiertes Blatt unter- 
gräbt ſelbſt die Wirkung der von ihm abgegebenen Kritik, wenn nicht der Zufall 
eintritt, daß feine eigene Meinung mit der in den Annoncen verkündigten über- 
einſtimmt. 8d fage, der Zufall. Man darf fic nicht darüber wundern, wenn 
in den Kreiſen der Annoncierenden durchweg die Überzeugung herrſcht, daß das 
kein Zufall ſei. Ich wiederhole nochmals, ich weiß es beſtimmt von einzelnen 
Blättern und bei den anderen ſetze ich es, ſolange das Gegenteil nicht erwieſen 
ift, als ſelbſtverſtändliche Anſtändigkeit voraus, daß die kritiſche Beurteilung durch 
Annoncen nicht gekauft werden kann. Ebenſo unbedingt ſicher iſt es aber, daß die 
Künſtler durchweg die Überzeugung haben, durch ſolche Anzeigen das Urteil der 
Blätter über ſie beeinfluſſen zu können. Noch mehr, es äußert ſich in geradezu 
brutaler Naivität immer und immer wieder die Meinung, auch oft genug im Ber- 
kehr mit den Redaktionen der betreffenden Zeitungen, daß dieſe Anzeigen eine 
günſtige Beurteilung gewährleiſten müſſen. Ich glaube übrigens, fo weit ift man 
wirklich gegangen, daß eine aufgegebene Anzeige im allgemeinen wenigſtens die 
Abgabe einer Kritik gewährleiſtet. 

Die Kritik kann auch ungünttig fein, aber des ſtärkſten und wirkſamſten Mittels 
gegen die Unfähigkeit unb Anmaßung beim öffentlichen Auftreten, des Tot- 
ſchweigens, begibt ſich auf dieſe Weiſe die Fachpreſſe (und wohl auch ein großer 
Teil der Tagespreſſe). Jedenfalls trägt diefe Einrichtung des ganzen Annoncen- 
weſens in unſerer Muſikpreſſe in hohem Maße dazu bei, unſer ganzes Muſikleben 
in einer Weiſe den geſchäftlichen, induſtriellen Gewohnheiten zu unterwerfen, 
die Gott ſei Dank auf allen anderen Kunſtgebieten noch ganz unbekannt ſind. 
Sch weiß, es ijt in Amerika viel ſchlimmer. Aber das ijt doch ſchließlich kein Grund, 
daß es bei uns in Deutſchland ſchon fo ſchlimm fein muß, wie es der Fall iſt. Übrigens 
wird es bei uns mit jedem Jahre zuſehends ſo viel ſchlechter, daß wir Amerika bald 
eingeholt haben werden. Jedenfalls ijt es wohl klar, daß, wenn z. B. die Konzert- 
direktionen in ſo hohem Maße zu den Brotgebern der Fachpreſſe gehören, wie 
das heute durch das üble Annoncenweſen der Fall iſt, dieſe Fachpreſſe kaum zu 
einem Kampf gegen die Konzertdirektionen zu haben iſt. Bei den geleſenſten 
Tageszeitungen iſt das Verhältnis genau dasſelbe. Ja, wer ſoll denn nun den 
Kampf gegen dieſes Krebsübel führen? Wo ſoll er durchgefochten werden? Da 
können dieſe muſikaliſchen Sklavenhändler natürlich mit grinſendem Behagen in 
ihrer wohlgeborgenen fetten Sicherheit bem Anſturm gegen ihre Übermacht zuſehen. 

Mit dieſer Induſtrialiſierung des Muſikbetriebes beſchäftigt ſich auch das 
erſte, „Täuſchungen und Enttäuſchungen“ überſchriebene Kapitel in Krehls Buch. 
Krehl kommt von einer ganz anderen Seite in die Verhältniſſe als ich. Er iſt 
Lehrer. Und es iſt der Ingrimm des Erziehers, der ſich durch dieſen ganzen 
Betrieb um das Beſte ſeines Schaffens betrogen ſieht, der ihm die Feder in die 
Hand gedrückt hat. 

„Wer ſchildert uns die ſchweren Stunden, die trüben Tage, die ein armer 
Muſikant in Angſten zu durchleben hat? Wer vermag ein Bild von all dem Zammer, 
all dem Elend zu geben, aus dem fo mancher Virtuoſe, fo mancher Komponiſt fid 
nicht zu befreien weiß? Es werden nur wenige Auserwählte — und vielleicht 


644 Storck: Muſikerelend 


nicht einmal die geiſtig am höchſten ſtehenden — ſein, die ſich Kinder des Glückes 
nennen dürfen, deren Daſein in ſonnigen, heiteren Tagen verläuft. Die große 
Menge bekennt bald in ſtiller Verzweiflung, bald in lautem Jammer, daß fie um 
alle Hoffnungen betrogen ijt, daß fie mutlos in dem Kampf um die Herrſchaft die 
Waffen ſtreckt und nicht mehr hofft, zu lichteren, reineren Höhen emporzuſteigen. 
Freimütige geſtehen ſogar ganz offen, daß ſie ſich nimmer wieder, wenn ihnen die 
Wahl des Berufes noch einmal freiſtünde, ber Muſik zuwenden würden. — — — 
Wie kommt es, daß ſtatt Befriedigung Unfrieden erweckt wird, daß die treue Hin- 
gabe an die Kunſt den verdienten Lohn ſcheinbar nicht findet? Verantwortlich da- 
für ſind die falſchen Prieſter zu machen, die in dem Tempel der Kunſt ihr Unweſen 
treiben.“ 

Aus einer Lebenserfahrung heraus ſtellt dann der Verfaſſer dar, wie die 
Erziehung des jungen Muſikers dazu angetan ijt, in ihm Größenwahn und über- 
triebene Hoffnungen zu erwecken, und er weiſt nach, wie außerordentlich gefähr- 
lich es iſt, daß dieſe falſchen Vorſtellungen eigentlich gefliſſentlich genährt werden 
auch von jenen Erziehern, die dazu berufen wären, frühzeitig aufzuklären und 
vor den unausbleiblichen, oft ſo verhängnisvollen Enttäuſchungen zu bewahren. 

„Der Hochmut, die läſterliche Einbildung, fie verblenden den Kunſteleven der- 
art, daß er ſich durch unſaubere Geldmanöver der jetzigen Zeit vom rechten Weg 
abbringen läßt. Er gerät in feinem FIrrwahn in Geſtrüpp, aus dem er fih nicht 
wieder herausfindet. Er verkommt und verflucht nur zu fpdt die Idee feiner an- 
fänglichen Gottähnlichkeit. 

Könnte man doch einmal das Getriebe in der Kunſt durchleuchten. Was für 
ein ügengewebe würde fid) zeigen! Wie wenig Offenheit, wie wenig Ehrlichkeit, 
wie viel Beſtechlichkeit, wie große Unſittlichkeit würde hervortreten! Aber in der 
Muſik hütet fic ein jeder, irgendeinen Mißſtand, den er feſtſtellen kann, aufzu- 
decken. Man hat immer Angſt, angefeindet zu werden und dadurch Schaden zu 
erleiden. Außerdem beſteht eine große Furcht vor der Preſſe, deren Stimmung 
fib nicht vorausſagen läßt. 

Der Muſikausübende findet ja auch nirgends Schutz. Ihm kann in feinem Be- 
ruf geſchehen, was will, niemand kümmert ſich darum; er iſt ſo gut wie vogelfrei. 
Wo man hinſieht in Handel und Gewerbe, allüberall wacht eine ſtaatliche, eine 
ſtädtiſche Behörde, damit nichts Unrechtes geſchieht. Mit Strenge werden aller- 
orten die Kurpfuſcher verfolgt. Nur in der Muſik läßt man alle Pfuſcher, alle 
Scharlatane ſich ungeſtört betätigen. Für die Muſik wirft der Staat im wefent- 
lichen keine Mittel aus. Für die bildenden Künſte wird viel getan. Nicht nur 
Schulen werden in großer Zahl unterhalten oder unterſtützt; jährlich werden gabl- 
reiche Werke der Malerei, der Plaſtik aus Staatsmitteln angekauft. Den Muſikern 
nimmt niemand etwas ab, die mögen allein ſehen, wie fie fertig werden. 

Wie viele Unwürdige find unter der Unmenge von Leuten, bie fid) öffentlich 
oder im geheimen als Erzieher zur Muſik anbieten. Gleichgültig, ob es ſich um das 
erſte Stadium oder höhere Stufen der Ausbildung handelt, überall verſuchen 
Aventuriers von den herrſchenden Zuſtänden zu profitieren. Unangenehm ſind 
die ſtillen Schleicher, welche in den Familien herumziehen, in den Penſionaten 


Storck: Mufiterelend 645 


fpionieren, an Privatmittagstiſchen fißen, immer in dem Beſtreben, (id) durch 
Mittel jeder Art Schüler zu kapern. Widerwärtig ſind aber auch die Prahler, 
welche durch verblüffende Annoncen, Reklamemittel zweifelhafter Sorte jid) 
Opfer fangen. Das Publikum fällt auf die leiſen Lockungen der einen, wie auf 
die lauten Anpreiſungen der anderen ebenſo herein. Den Schaden haben die 
Schüler und die anſtändigen Lehrer. Es iſt jetzt wirklich ſo, daß ein rechtlich denken⸗ 
der, gebildeter Muſiker, welcher einfach ſagt, er erteile Muſikunterricht, die Stunde 
zu A M, warten und warten kann, ehe fic) jemand bei ihm meldet, während ein 
Schwindler, welcher verſpricht, für 20 A pro Stunde die geheimnisvolle Kraft der 
Fakire zur kürzeſten Beherrſchung der ſchönen Künſte zu enthüllen, ungeahnten 
Zulauf bat. Verſteht der letztere feiner Schwindelmethode noch einen religiös- 
philoſophiſch- äſthetiſch-ſexuellen Beigeſchmack zu geben, fo ift er für einige Zeit 
ein gemachter Mann. Der Inſzenierung einer privaten Tätigkeit wird ja nirgends 
auch nur die geringſte Schwierigkeit bereitet.“ 

Köſtlich iſt es, wie Krehl die Art der üblichen Reklamemacherei für unſere 
Virtuoſen barlegt. Er übertreibt wirklich nicht. Wer die Tagesgeitungen einiger- 
maßen aufmerkſam verfolgt, wird viel üblere Karikaturen dieſes Geſchäftsbetriebes 
zuſammenſtellen können, als ſie hier im folgenden gegeben ſind. Alles hängt ja 
davon ab, daß man ſich einen großen Namen gemacht hat. „Den erwirbt man 
ſich aber nicht nur dank einer beſonderen Begabung, dank einem immenſen Können, 
den erkauft man ſich einfach. Mit Geld macht man Neklame und mit Reklame macht 
man Geld. Leute, welche die Mittel dafür verausgaben wollen, unterhalten, wie 
man es nennt, ein Preßbureau. Durch dieſes nützliche Inſtitut werden die zur 
Berühmtheit notwendigen Mitteilungen an das Publikum vermittelt. Von ihm 
werden die Bilder an die illuſtrierten Blätter verſendet: ‚Herr X. X. am Arbeits- 
Did, „Herr X. X. in feiner Sommervilla“, „Herr X. X. auf dem Wege zum Kon- 
zert“ ujw. Wenn eine gewiſſe Berühmtheit ſchon erlangt ijt, dann genügen zur 
Orientierung einfache Zeitungsnotizen. Nur muß Sorge getragen werden, daß 
ohne Unterbrechung das Intereſſe wach erhalten wird. 

In einer Zeitung iſt zu leſen: 

„Wie wir hören, befindet fid) der Pianiſt X. X. auf einer Tournee in Nor- 
wegen. Er ſoll dort durch ſein Chopinſpiel berechtigtes Aufſehen erregen.“ 

Fünf Tage ſpäter: 

„Aus Ungarn kommt die Nachricht, daß der bedeutende Pianiſt X. X. ein 
ſchweres Unglück gehabt hat. Bei der Fahrt zu einem Konzert ſtieß das Auto- 
mobil ſo heftig gegen einen Prellſtein, daß der Künſtler herausgeſchleudert wurde 
und eine leichte Gehirnerſchütterung erlitt.‘ 

Zwei Tage ſpäter: 

„Das Unglück des unvergleichlichen Pianiſten €. X. erweiſt fid) zur allgemei- 
nen Freude als nicht ſo ſchlimm, wie geſchildert. Der große Künſtler hat nur einige 
Hautabſchürfungen davongetragen. Von einer Gehirnerſchütterung kann keine 
Rede fein.‘ 

Fünf Tage fpdter: 

„Der Impreſario des Klaviertitanen X. X. teilt uns mit, daß bei der Nach- 


646 Storck: Muſikerelend 


richt von dem Automobilunglück, welches der gottbegnadete Künſtler gehabt haben 
ſollte, wohl eine Verwechſelung vorliegen müſſe. Schon vor etwa zwölf Tagen 
konnten wir unſeren Leſern die erfreuliche Mitteilung machen, daß Herr X. X. 
Triumphe in Norwegen feiert. Er befindet fic) zurzeit noch in der Hauptſtadt 
Norwegens, in Stockholm, und gedenkt auch erſt Ende des Monats von dort zu- 
rückzukehren. Die Unglücksbotſchaft aus Ungarn muß alfo wohl auf einem Irr- 
tum beruhen.“ 

Am nächſten Tage: 

‚Selbftverftändlich muß es in unſerem geſtrigen Bericht über den Klavier- 
könig €. X. Chriſtiania ſtatt Stockholm heißen.“ 

Drei Tage ſpäter: 

„Um mehreren an uns gerichteten Anfragen zu genügen, möchten wir mit- 
teilen, daß jetzt offiziell Kriſtiania und nicht Chriſtiania geſchrieben wird. Der 
erſte Pianiſt der Jetztzeit X. X. begeiſtert, wie verlautet, andauernd das dortige 
Publikum durch ſein eminentes Spiel.“ 

Acht Tage ſpäter: 

‚Anfere Lefer werden fid) entſinnen, daß vor einiger Zeit von dem Unfall 
des Klavierpoeten X. X. berichtet wurde. Der Unfall wurde dann in [einer Be- 
deutung abgeſchwächt und ſchließlich ganz widerrufen. Uns ſah, offen geſagt, von 
Anfang an die Sache etwas nach Reklame aus und war uns daher auch unſym- 
pathiſch. Jetzt ſchreibt uns ein intimer Freund des Virtuoſen, daß letzterer über 
die Zeitungsnotizen ſehr aufgebracht ſei, da er alle Reklame haſſe und dieſe un- 
künſtleriſchen Beeinfluſſungen des Publikums für eine Roheit erkläre.“ 

Riihrende ſentimentale Geſchichten werden erlogen — das Publikum fällt 
unbedingt darauf herein. 

„Ver fih der Kunſt zuwendet, ſollte eigentlich einen Rurfus im Geſchäfts- 
betrieb durchmachen. Da wäre zu zeigen, wie man vorwärts kommt, ohne begabt 
zu ſein, wie man ſich einen Namen verſchafft, auch wenn man nur Alltägliches 
leiſtet. Belehrungen müſſen freilich auch über den Umfang der Reklame, die 
Häufigkeit bes Annoncierens, die Menge der aufzuwendenden Mittel ujw. ge- 
geben werden. 

In der Kunſt iſt wie in der Geſchäftswelt eine einmalige Reklame vollſtändig 
zwecklos. Jammerſchade iſt es für das Geld, welches eventuell ſchweren Herzens 
dabei geopfert wird. Immer und immer wieder ſetzen Leute ihre ganze Hoffnung 
auf ein einmaliges öffentliches Auftreten. Für dieſes Vergnügen opfern ſie 400 
oder 500 A. Es wird geſpart und gefpart, um die Möglichkeit eines Debuts zu 
ſchaffen. Und was iſt das Refultat? Die Kritik iſt mißvergnügt und ſchimpft, 
Einnahmen werden nicht gemacht, da niemand für einen unbekannten Muſikanten 
etwas zahlen will. Der Konzertunternehmer verdient allein, er muß bezahlt 
werden 

Der Anfang der Berühmtheit iſt ſchmerzlich teuer. Die Fortſetzung nicht 
minder. Eine Reklame nützt nichts, einmal ift keinmal. Gar häufig wird die Ent- 
gegnung laut, es fei doch nicht denkbar, daß eine Abbildung in einer Zeitung fo 
viel Geld koſte, denn der und der bekannte Künſtler fei kürzlich auch darin ab- 


Stord: Mufiterelend 647 


gebildet geweſen. Gewiß: unmittelbar bat ein bekannter Virtuos feine Porträ- 
tierung zur Reklame nicht nötig. Er muß aber doch riskieren, daß, wenn er fidh 
auf der erſten Seite nicht ankauft, auf einer anderen Seite Sachen ſtehen, die ihm 
nicht förderlich ſind. Die Reklame wird ein Spieler, welcher in einer großen Stadt 
auftritt, doch wohl ſicher bezahlen können. Die Mitwirkung in jedem Orcheſter- 
konzert muß ja viel einbringen. Aber es iſt nicht zu glauben: Gar häufig wird 
in den Orcheſterkonzerten von den Virtuoſen noch zugezahlt, anſtatt verdient. In 
manchen Konzertvereinigungen, da zahlen nicht nur die Virtuoſen, damit fie fpie- 
len dürfen, da zahlen auch die Komponiſten, damit ihre Werke zur Aufführung ge- 
langen. Es gehört nur der Mut dazu, Geld anzubieten, um vorwärts zu kommen. 
Eine Kunſt ijt es, das Geld zart und mit Eleganz anzubieten; bei dem Geſchäft 
darf man nicht knauſerig ſein. Dann wird ſich ſchon zeigen, was alles mit Geld 
zu erreichen iſt. 

Wie in vielen Orcheſterkonzerten, ſo liegen die Verhältniſſe auch in den 
Kammermuſikveranſtaltungen traurig. Bei dem Verſuch, in die Aufführungen 
alteingeſeſſener Vereinigungen mit Geld einzudringen, wird man eventuell ſchroff 
abgewieſen. Honorar wird aber ſelbſt da in manchen Fällen nicht gezahlt. Auf 
eine zarte Anfrage wird nur die tröſtliche Antwort erteilt: „Wir werden es uns 
zur Freude anrechnen, Sie bei uns ſpielen zu laſſen. Leider ſind wir aber nicht 
in der Lage, Ihnen die Reife- und Hoteluntoften zu erſetzen.“ Zunge Unterneh- 
mungen ſuchen aber direkt ihr Defizit zu decken, indem fie mitwirkende Soliſten 
zahlen laſſen. Es ift ja nicht zu glauben, wieviel mit Geld verſucht, wieviel mit 
Geld erreicht wird. Nicht nur kleine arme Schluder laffen fid) zahlen, auch hoch- 
ſtehende große Leute, welche durch ſonderbare Gelüſte trotz immenſer Einnahmen 
ſtets in Geldnot ſind, ſtopfen die Löcher ihrer Kaſſe gern einmal vorübergehend 
mit Papiergeld zu. Ein Impreſario kann ruhig zu einem Muſiker, der nur einiger- 
maßen Virtuoſität auf einem Inſtrument beſitzt, jagen: , Geben Sie mir 30 000 f, 
und ich mache Sie zu einem berühmten Künſtler.“ 

3m weiß von einem großen Privatorcheſter einer großen Muſikſtadt, deffen 
Dirigent und Beſitzer faſt immer zwei Soliſten auftreten läßt, einen ſehr befann- 
ten und einen Anfänger. Der Anfänger muß natürlich das Honorar für den be- 
kannten Soliſten bezahlen, der ſeinerſeits dem Unternehmer den Saal füllt. Die 
Kritik rühmt aber regelmäßig den Dirigenten dafür, daß er in [einen Konzerten 
auch den Anfängern Gelegenheit gebe, fid) vor einer erleſenen Zuhörerſchaft hören 
zu laſſen! Konzertiert der Dirigent mit feinem Orcheſter außerhalb, jo ift es 
ganz ſelbſtverſtändlich, daß der junge Soliſt, den er mitnimmt, die Reiſekoſten für 
die ganze Geſellſchaft bezahlt. 

Auch die Komponiſten müffen ſich allmählich mit dem Gedanken vertraut 
machen, für die Aufführung ihrer Werke zu bezahlen. Krehl führt folgendes an: 

„Ein Uneingeweihter muß fic [tar verwundern, wenn er hört, daß zwei nam- 
hafte Künſtler darauf gedrungen haben, in einem Konzertinſtitut ein und dasſelbe 
Konzert eines jüngeren, noch ziemlich unbekannten Muſikers während einer Gai- 
ſon zu ſpielen. Was kann an dem Werke ſo feſſelnd ſein, daß die beiden Virtuoſen 
gerade darauf verfallen ſind? Der Kenner lacht, denn er weiß über das Feſſelnde 


648 Das deutſche Opernhaus 


Beſcheid. Es beſteht in der Zahlung von 1000 / für jede Darbietung an den Aus- 
führenden. Das iſt natürlich kein ſchlechtes Geſchäft! Was Wunder, wenn viele 
davon profitieren wollen. Bedauerlich ift es, daß auch bedeutende Künſtler nicht 
davor zurückſchrecken, auf dieſe Manier ihre Einnahmen zu vermehren.“ 

Ein mir bekannter jüngerer Komponiſt, der unlängſt einem tüchtigen Sänger 
einige ſeiner prächtigen Lieder anbot, erhielt, als er auf die Ablehnung hin darauf 
verwies, daß der Sänger doch ſo oft nicht gerade ſehr wertvolle Lieder eines 
Herrn X. auf feinem Programm habe, zur Antwort: „Ja, der bezahlt mir auch 
für jedes Lied bei der Aufführung 100 M!“ 

Doch es fei für heute wieder einmal genug. Krehl behandelt in den folgen- 
den Teilen ſeines Buches auch die ſchwerwiegenden Folgen, die dieſe Zuſtände 
für das Innenleben des Muſikers und die Entwicklung der Muſik haben. Auch was 
et über unwiſſende Muſikſchüler und über Übelftände in der Kritik ſagt, ijt febr be- 
herzigenswert, ſelbſt wenn man hinter manches ein Fragezeichen macht. Zeden- 
falls wäre es dringend notwendig, daß nach Möglichkeit auf diefe Arbeit des ver- 
dienten und, wie man auf jeder Seite ſpürt, wirklich ideal und gut geſinnten Mannes 
nach Kräften hingewieſen würde, und zwar keineswegs bloß in Muſikerkreiſen. 
Dieſe Verhältniſſe gehen die Allgemeinheit an; unter ihnen leidet ſchließlich der 
Muſiker am allerwenigſten. Den größten Schaden davon hat die Muſik und damit 
das Beſte und Stärkſte und Eigenartigſte unſerer deutſchen Kultur: alſo unſer Volk. 


sr NN 


Das deutſche Opernhaus 


ie Eröffnung des Deutſchen Opernhauſes in Charlottenburg, alfo im Bereiche Groß- 

Berlins, hat nicht nur örtliche Bedeutung. Zwar ift die Gelegenheit verſäumt wor- 

Soden, das Entſtehen dieſes Baues zu einem Ereignis für unfer Kunſtleben zu ge- 
ſtalten, wozu die äußeren Möglichkeiten gut gegeben waren: Eine reiche Stadt als Bauherr, 
ein ausgedehnter Bauplatz auf der einen Seite, auf der andern die Erſtellung des größten 
Theaterraumes, ben wir auf deutſchem Gebiete bisher haben. Dabei keinerlei Rüdfihten auf 
irgendwelche höfiſche Neigung. Dieſe bedeuten beim Theater ſchon deshalb fo viel, weil da- 
mit der letzte Grund für das Rang- und Logentheater wegfällt. 

Leider hat man auf ein öffentliches Preisausſchreiben verzichtet. Der Bau wurde 
dem Charlottenburger ſtädtiſchen Baumeiſter Seeling übertragen, der ſich als trefflicher 
Sheatertechniter bereits zu mehreren Malen erwieſen bat, aber ebenfo deutlich in allen dieſen 
Fällen den Mangel einer ſtarken künſtleriſchen Perſönlichkeit offenkundig werden ließ. Es 
wäre alfo der gebotene Weg geweſen, daß man einen künſtleriſchen Entwurf durch ein Preis- 
ausſchreiben zu erlangen verſucht hätte. Falls dem Preisträger die zureichende Theater 
praxis gefehlt hätte, konnte man ihm ja im Stadtbaurat fir diefen Teil ſeiner Aufgabe den 
gewiegten Fachmann beiordnen. 

gest ift das Ergebnis in künftlerifcher Hinſicht durchaus nicht erfreulich, trotzdem gegen 
die vielleicht etwas heftig angreifende Kritik eine öffentliche Kundgebung zuſtande gebracht 
wurde, an der fid auch namhafte KNünſtler beteiligt haben. Der Bau wirkt in feinen äußeren 
Formen durchaus herkömmlich, im Innern läßt er nirgendwo die bedeutſame Entwicklung 


Das deutſche Opernhaus 649 


ahnen, bie unſere Innenarchitektur im letzten Jahrhundert durchgemacht hat. Beſonders 
bedauerlich empfinde ich den Verzicht auf das Amphitheater nach Bayreuther Stil, zumal 
man doch mit dem in der gleichen Stadt Charlottenburg liegenden Schiller ⸗Theater die beiten 
Erfahrungen gemacht hat. Vielleicht liegt an dem jetzigen Hochtreiben des Innenraumes 
die Jo ungleichmäßige Akuſtik, über die viele Klagen laut werden. Ich ſelbſt habe allerdings 
keine fo betrüblichen Erfahrungen geſammelt, wenn ich auch einen wirklichen Glanz und feine 
Schönheit des Tones bis jetzt nicht vernommen habe. Möglich iſt es, daß dieſer akuſtiſche Mangel 
auf der Art des Bühnenrahmens beruht, der ungewöhnlich tief iſt. Ich werde das Gefühl nicht 
los, daß ſich hinter dieſem Bühnenrahmen der Schall fängt. Dem wäre ja dann wohl noch ab- 
zuhelfen. Abzuhelfen auch der Feſtloſigkeit des Zuſchauerraumes, der jetzt in recht trübem 
Anſtrich gehalten iſt und jeder Freudigkeit entbehrt. 

Um ſo zuverſichtlicher ſtimmt die ganze Art der muſikaliſchen Arbeit, die in der neuen 
Volksoper geleiſtet wird. Ihrem Direktor Georg Hartmann ging von feinem früheren Wir- 
kungskreiſe Elberfeld her der Ruf eines tüchtigen Muſikers unb geſchmackvollen Negiffeurs 
voraus. Man bat ihm Zeit zur Vorbereitung gelaffen, und fo bekam man denn gleich mit Be- 
ginn nicht lauter Anfänge, ſondern achtenswerte Leiſtungen zu ſehen. Es ift natürlich un- 
gemein ſchwierig, ein ganz neues und den Anforderungen täglicher Aufführungen in einem 
rieſigen Hauſe entſprechend großes Enſemble zuſammenzuſtellen. Soweit man bis jetzt ſehen 
kann, iſt dieſe ſchwere Aufgabe gelungen. Überragende Perſönlichkeiten ſcheinen zwar unter 
den Künſtlern nicht zu fein, mit alleiniger Ausnahme des Baßbaritons Karl Braun, der als 
Pizarro, Figaro und als Lord Syndhan (Lortzings Vaffenſchmied) ein fo charakteriſtiſches 
Spiel mit charakteriſtiſchem Singen verband, daß ich auf dieſen offenbar noch jungen Künſtler 
die höchſten Erwartungen ſetzte. Im übrigen hörte man durchweg geſunde, friſche Stimmen, 
und man merkte allen Mitwirkenden die Freude und den Eifer der Arbeit an. Der Chor iſt 
ſtark beſetzt und wenn auch noch etwas roh, ſo doch muſikaliſch gut geſchult. 

Die Inszenierung hatte dort, wo fie bei dieſen alterprobten Werken neue Wege zu gehen 
ſuchte, nicht gerade Glück. In „Fidelio“ war manches anders, aber nicht beffer gemacht, als 
man es ſonſt gewohnt iſt. Gegen Einzelheiten ließen ſich ſogar ſchwere Bedenken erheben. 
Ebenſo war im „Figaro“, der einiges recht gut brachte, manches wieder etwas gedankenlos. 
Die Beleuchtung verwendet ganz neue Anlagen, bei denen das ſcharfe Rampenlicht vermieden 
wird, doch bleiben dadurch meiſtens die Füße und etwa dreißig bis vierzig Zentimeter hoch 
vom Boden ab die Körper im Schatten. Dadurch werden natürlich die Körper verkürzt und 
wirken kleiner, was auf der Bühne ſelbſt für die größten Leute von Schaden iſt. 

Sehr erfreulich ijt das Orcheſter. Die Inſtrumente find durchweg gut beſetzt, das Zu- 
ſammenſpiel ift über alles Erwarten vorgeſchritten. Die beiden Dirigenten, Ignaz Waghalter 
und Rudolf Kraſſelt, find tüchtige Muſiker. Der letztere hat im „Figaro“ manches außer- 
ordentlich fein herausgebracht, und auch Lortzings „Vaffenſchmied“ ſehr friſch und lebendig, 
dabei mit ſorgſamer Wahrung der recht zahlreichen Schönheiten im einzelnen herausgebracht. 
Vor allem ijt nichts, was kitſchig und ſchwindelhaft wirkt. Das iſt ein hocherfreulicher Unter- 
ſchied von allen bisherigen Privatunternehmungen, die wir in Berlin auf dem Gebiete der 
Oper gehabt haben. Wenn in dieſer Weiſe weitergearbeitet, wenn immer fo ſorgfältig vor- 
bereitete Aufführungen herausgebracht werden, fo wird dem Unternehmen der Erfolg un- 
bedingt treu bleiben. Es kommt gar nicht auf überwältigende Einzelerſcheinungen an. Die 
Zauptſache ift biefes gute, echt künſtleriſche Zuſammenſpiel. 

Man ſollte es nicht für möglich halten, aber man merkte, daß es fid) bei ben Auffüh- 
rungen der genannten drei Opern für Hunderte und aber Hunderte der doch zum großen Teil 
den Mittelklaſſen angehörenden Zuhörer um Neuheiten handelte. Hier liegt die eine Seite 
der großen fozial-ethifhen Bedeutung dieſes Unternehmens. Weite Kreiſe, und zwar aus- 
gerechnet jene, die immer in Deutſchland für das dauernde Gedeihen der KNunſt ausfdlag- 

der $ürmer XV, 4 45 


650 /— Dos beuifde Opernhaus 


gebend gewefen find, werden erſt von jetzt ab des Genuſſes der Oper teilhaftig werden können. 
Daß ein dringendes Bedürfnis dafür vorhanden iſt, iſt ganz ſelbſtverſtändlich und wird durch 
das überaus große Abonnement, das das neue Unternehmen von vornherein hat, ſchlagend 
bewieſen. Dieſe große Abonnentenzahl hat die glückliche Folge, daß man im Oeutfden Opern- 
haus gezwungen ſein wird, auf ein wechſelndes Repertoire hinzuarbeiten, daß man nicht dieſe 
unglaublich ſchädliche Art der heute üblichen Ausnutzung eines Erfolges betreiben darf, bie für 
alle Teile ein Ruin iſt, für den Komponiſten des Werkes, für das Haus, in dem es gegeben 
wird, für das Publikum. 

Um nur ein Beiſpiel anzuführen, ſpielt bie Kurfürſten- Oper, deren Leben allerdings 
nur nod nach Wochen zählt, feit Beginn dieſer Spielzeit faſt ausſchließlich Kienzls „Kuh- 
reigen“. Während ſich desſelben Komponiſten „Evangelimann“ hier in Berlin nun ſchon 
über ſiebzehn Jahre dauernd auf dem Spielplan behauptet, wird dieſes neue Werk einfach 
zu Tode gehetzt. Es iſt auch ganz ſelbſtverſtändlich, daß die Aufführungen manchmal unter 
aller Kritik ſind. Und wie ſoll ſich ein Publikum in ein Haus eingewöhnen, in dem immer nur 
ein einziges Werk aufgeführt wird? 

Wenn man an den veredelnden Einfluß guter Kunſt glauben darf, fo muß fid) die Ein- 
wirkung dieſer volkstümlichen Darbietung gut dramatiſcher Muſik unbedingt fühlbar machen. 
Es iſt nicht möglich, daß dieſelben Leute, die in einer gewiſſen Regelmäßigkeit zu dieſer Kunſt 
gelangen können, in Zukunft ein dankbares Publikum für die elendeſte Operettenware ab- 
geben kann. Danach aber erhoffen wir auch für das neuzeitliche deutſche Opernſchaffen von 
dieſer neuen Bühne wertvolle Förderung. Es bleibt nun einmal Tatſache, daß, von einigen 
Ausnahmefällen (z. B. Richard Strauß) abgeſehen, nur der Berliner Erfolg imſtande iſt, auf 
die Bühnen des Reiches maßgebend zu wirken. Da die königlichen Opern feit Jahren ihre 
Verpflichtungen in bezug auf das nationale zeitgenöſſiſche Schaffen aufs ſchmählichſte ver- 
nachläſſigen, brauchen wir dieſe Konkurrenz, die bereits eine höchſt dankenswerte Wirkung 
erzielt haben wird, wenn durch ſie die königliche Oper zu einer ihrer Stellung und ihren 
Mitteln entſprechenden Arbeit gezwungen werden wird. Mit dem Augenblick, wo das Wagner- 
monopol für die königlichen Bühnen erliſcht, wird fie von den Verhältniſſen zu dieſer Mehr- 
arbeit gezwungen werden. Alſo Glück zu dem jungen Unternehmen! Karl Storck 


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Klelndeutſch for ever 


o um bie Novembermitte ift in den Blät- 

tern verſchiedentlich berichtet worden: 
Graf Berchtold hätte in einer Beſprechung 
mit den Polen erklärt, er werde ſich bei der 
preußiſchen Regierung für einen milderen 
Standpunkt in der Polenſrage einſetzen. Dar- 
über gerieten unſere Nichts -als - nationalen, die 
in Wahrheit engherzige Kleindeutſche ſind, 
in einen ganz fürchterlichen Zorn und de- 
klamierten dräuend die Floskel von der „Nicht- 
einmiſchung in die inneren Angelegenheiten 
eines fremden Staats“. Mir ſcheint dieſe 
Floskel allmählich ebenſo antiquiert wie jene 
Entrüftung Warum foll ein öſterreichiſcher 
Miniſter nicht in aller Freundſchaft zu dem 
reichsdeutſchen Kollegen und Bundesbruder 
ſprechen: „Wenn's irgend zu machen iſt, geh, 
ſchon mir die Polen! Zhre Landsleute in 
Galizien gehören mit zu den weſentlichſten 
Stutzen meiner und unferer gemeinfamen 
Politik“? Oagegen iſt doch eigentlich nicht 
das geringſte zu ſagen. Nur ſollten ſich unſere 
Staatsmänner dann vorkommenden Falls er- 
innern, daß auch ihnen Stammesgenoſſen in 
der Habsburger Monarchie leben, die ge- 
legentlicher Fürſprache bedürften. Anſere 
deutſchen Brüder in Böhmen und Nieder- 
öſterreich, in Kärnten, Krain und Steiermark 
würden uns des Dank wiſſen, und ich möchte 
faft annehmen: felbft manchem öſterreichiſchen 
Minifter wäre im Kampf mit Tſchechen und 
Winden ſolche Rückendeckung nicht ganz un- 
lieb. Daß bas deutſch- öſterreichiſche Bündnis 
auf die Art gefährdet werden könnte, iſt 
vollends nicht anzunehmen. Die Sprache, die 


Eb — bs ae 
Auf T Harfe 


in den letzten Wochen bisweilen von unſeren 
Offiziöſen geführt wurde, diefe ironiſchen An- 
merkungen über die habituelle Aufgeregtheit 
der Wiener Preſſe und die hochmütig kühlen 
Hinweiſe auf die klerikale und kriegeriſche 
Hofpartei, haben dem ſicher weit mehr ge- 
ſchadet R. B 


* 


Auch ein Raſſentheoretiker 


n der „Berliner Morgenpoſt“ ſchrieb Herr 

Konrad Alberti-Sittenfeld (der eigent- 
lich Sittenfeld heißt, aber den Vatersnamen 
fo lange ſchamhaft verſchwieg, bis ein wirt- 
licher Konrad Alberti aufſtand und ſich das 
verbat): wir ſollten's uns überlegen, ehe wir 
die Sſterreicher unterſtützten. Am; Ende 
ſeien's doch nur entfernte, ſogar ſehr ent- 
fernte Verwandte ... Es ſpricht fiir die bis 
an die Grenzen der Verweichlichung reichende 
Höflichkeit unſerer Sitten, daß' ſich daraufhin 
kein Mann fand, der dieſen Herrn Alberti- 
Sittenfeld an beiden Schultern nahm und 
ihn kräftig ſchüttelnd ſprach: Wenn die Baju- 
varen in den öſterreichiſchen Alpenländern uns 
nur entfernte Verwandte ſind, was, lieber 
Freund, biſt eigentlich denn du? N. B. 


* 


Kleine Sorgen in großer Seit 


us meiner Zeitungsmappe nehme ich 
folgenden Ausſchnitt: „Die Mann- 
ſchaften der kaiſerlichen Jacht „Hohenzollern“ 
bilden fid) mehr und mehr zu einem Marine- 
Elitekorps aus, indem der Beſatzung fortgeſetzt 
neue Uniformſtücke und Uniformabzeichen ver- 
liehen werden. So tragen im Inlande an Bord 


652 


auf befondere Anordnung nur die Mannfdaf- 
ten bet kaiſerlichen Hofjacht Strohhüte, wie dies 
zum Beiſpiel in der engliſchen Flotte Brauch 
iſt. Ihnen wurde auf dem Überzieher zum 
Unterfdiede von allen anderen Marinemann- 
ſchaften und Schiffsbeſatzungen der weiße 
Spiegel verliehen, obgleich die, Hohenzollern“ 
Beſatzung ja ſchon durch die Aufſchrift im 
Mützenband ‚Hohenzollern‘ unterſchiedlich ijt. 
gebt verfügt eine neue Kabinettsorder, daß 
das Signalperſonal der Jacht ein beſonderes 
Abzeichen anzulegen hat, das die Raifer- 
ſtandarte auf kreisrunder Unterlage zeigt und 
oberhalb der übrigen Abzeichen zu tragen iſt 
und nur ſo lange im Beſitz der Empfänger zu 
verbleiben hat, als dieſe zum Signalperſonal 
der kaiſerlichen Jacht gehören. Die Abzeichen 
in der Marine als Dienftgrad- und Dienft- 
funktionsabzeichen belaufen ſich bereits auf 
viele Dutzende; ihr Beherrſchen ijt ein Stu- 
dium, und es gibt viele Angehörige der Flotte 
— ſelbſt Vorgeſetzte —, die ſämtliche Ab- 
zeichen niemals zu erklären gewußt haben. 
Sekt wieder das beſondere Abzeichen für das 
Signalperſonal nur eines Kriegsſchiffes, 
wenn es aiich die kaiſerliche Hofjadt ijt, deren 
Beſatzung [id in der UWniformierung mehr 
und mehr zur Elite- und Gardemarinetruppe 
geftaltet.“ 

Das war gegen Ausgang November in 
den Blättern zu leſen. Um die Zeit etwa, da 
der öſterreichiſch-ſerbiſche Gegenſatz, der ja 
in Wirklichkeit ein deutſch-flawiſcher war, ſich 
aufs duferíte zuzuſpitzen ſchien. Woraus 
wieder einmal zu erſehen iſt, daß wir vor 
anderen Völkern glücklich zu preiſen find. 
Über uns waltet ein Regiment, das die Kraft 
und die Fähigkeit hat, ſelbſt in den ernſteſten 
Zeitläuften noch liebevoll das Kleine und 
Kleinſte zu bedenken. Denn daß es das Große 
darüber nicht vergaß, verſteht ſich doch wohl 
am Rande? ... R. B. 


Noch mehr „Freiheit“? 


farrer Satbo hat in einer Berliner 
Verſammlung fein Glaubensbetennt- 

nis unter jubelndem Beifall alfo abgelegt: 
„Feſus nicht Gottesfohn, nid t unfer 


Auf ber Warte 


Herr, nicht der Chriſt, nid t der Sünd- 
lofe, nich t der Erlöſer.“ 

Ohne jeden Spott: gehören ſolche Be- 
fenner nicht viel eher in eine Synagoge als 
in eine — es iſt doch nun einmal ſo — 
chriſtlich e Kirche? Gr. 

* 


Ein kleines Argernis 


$ ie „Münchener Neueſten Nachrichten“, 
die's [don zweimal fänftiglid getan 
haben, erinnern nun zum drittenmal: 

„Am 7. Dezember 1845 hat Fürſt Wrede 
in der Kammer der Reichsräte den Antrag 
eingebracht, der ſich gegen die beabſichtigte 
Zurüdberufung der Zeſuiten nach Bayern 
ausſprach. 

And bie Reidsratstammer? 

Sie nahm den Antrag mit 30 gegen 6 
Stimmen an, und unter dieſer Majorität be- 
fanden ſich nicht nur vier tinig- 
liche Prinzen, von denen einer heute 
noch lebt, ſondern auch der Erzbiſchof 
Urban von Bamberg und der Biſchof 
Richarz von Augsburg. 

So haben wir zweimal mitgeteilt! 

Warum blieb man fo ſtill und fo ftumm? 

Wegen ber Erzbifhöfe? Nein! 

‚Der königliche Prinz, der heute 
noch lebt — iſt Prinz Luitpold von 


Bayern“ 
* 


Das ſouveräne Interview 


S Berlin, wo die Zeitungskorreſpondenzen 
aus dem für Gründungen aller Art emp- 
fänglichen Boden emporſchießen wie die Pilze 
nach warmem Sommerregen, ift kurzlich eine 
Korreſpondenz gegründet worden mit dem 
anheimelnden und vielverheißenden Titel: 
„Das Interview“. Sie hat die Beſtimmung, 
den Blättern Anterredungen „mit bervor- 
ragenden und ſachkundigen Perſönlichkeiten“ 
zu liefern. Selbſtverſtändlich gegen Honorar. 
Da ſie ſelber aber den Auszufragenden und 
Ausgefragten natürlich keines zahlt, läuft das 
Ganze, ſoweit feine wirtſchaftliche Baſis in 
Betracht kommt, auf ein fortgeſetztes ſchofles 
Schnorrertum hinaus. Dennoch iſt es leicht 


Wuf ber Warte 


möglich, daß ber Rundige, ber aus bem Inter- 
view ein Syſtem zu machen unternahm, dabei 
reüffiert und gedeiht. Sintemalen an dieſer 
Erfindung die nächſt Hunger und Liebe ftart- 
ſten Mächte beteiligt ſind: die menſchliche 
Trägheit und die menſchliche Eitelkeit. Wer 
zu irgendeinem Staats- oder Volksmann geht, 
um deſſen ſogenannte Anſicht über irgendeine 
Frage zu erkunden, erſpart ſich die Mühe, eine 
eigene Meinung zu fagen; in 98 von 100 Fäl- 
len wohl überhaupt, ſie erſt zu haben. Der 
Schriftſteller wird zum Reporter, der in de- 
mütiger Haltung, das Notizbuch auf den 
Knien, Diktat ſchreibt. Nebenbei: der Mehr- 
zahl unſerer Mitbürger iſt der Ausfrager nicht 
einmal unwillkommen. Nur die ganz Großen 
(auch die ſeeliſch Großen) find mitunter ſchwie⸗ 
rig. Die anderen laffen fid) zumeiſt gern aus- 
fragen. Am fo freudiger, je ſeltener ihnen das 
widerfährt. Am freudigſten, wenn es ihnen 
zum erſten Male paſſiert und ſie ſo zu ihrem 
eigenen gerechten Erſtaunen erfahren, daß 
ſie auch etwas zu ſagen hätten. Nicht ſelten 
ſind die Ausgefragten freilich die einzigen, die 
das finden. Im großen ganzen ſind nämlich 
alle Interviews von einer ſtupenden Inhalt 
loſigkeit. Der von dem Mann mit dem ge- 
züdten Bleiſtift Aberraſchte ſtößt zwiſchen drei 
Empfängen und zehn Telephongeſprächen ein 
paar fluͤchtige Randbemerkungen aus: all- 
gemeine Sentiments, die wir uns alle längſt 
an den Schuhſohlen abliefen. Oder aber — und 
das iſt die Regel bei den Seelenerforſchungen 
von Staatsmännern und Diplomaten — der 
Ausgefragte hält mit Bewußtſein mit ſeiner 
wahren Meinung zuruck. Dann hat er zwar 
etwas zu fagen, aber er ſagt es nicht. Rönnte 
es wohl überhaupt nicht ausſprechen, ohne die 
amtlichen Intereſſen, zu deren Förderung er 
verpflichtet iſt, zu ſchädigen. Wer Sinn für 
ſtille Humore hat, genießt in ſolchen Fällen 
den Anblick eines klugen und fröhlichen Man- 
nes, der ſich über tölpelhafte Neugier luſtig 
macht. Nicht felten aber — und diefe Inter- 
views find die ernſteſten, weil fie die gefähr- 
lichſten fein können — werden fie fiir den 
Ausgefragten zu einem Mittel der Diploma- 
tie. Der „hochgewachſene Staatsmann mit 
den eleganten Manleren empfängt“, wie es 


653 


in dem Zargon dieſer Reporter heißt, mit 
„vollendeter weltmänniſcher Gewandtheit“ 
und äußert ſich „mit ungezwungener, liebens- 
würdiger Offenheit“. Um die biedere Seele 
hinterher um ſo kräftiger anzulügen und durch 
ihre gedankenloſe Vermittlung die öffentliche 
Meinung abſichtlich irrezuführen. War er 
dann aber fo freundlich, den durch gute Be- 
handlung nicht gerade Verwöhnten — denn 
Publiziſten von Rang pflegen fid) zu dem 
Geſchäft nicht eben herzugeben — einen Sitz 
im Klubſeſſel und eine Zigarette anzubieten, 
ſo ſchwelgt das nur ſo in Superlativen, und 
der Mann, der nie unſer Freund war und in 
ein paar Woden vielleicht unſer erklärter 
Landesfeind iſt, wird verherrlicht, als ob es 
ſich um einen Heros und Wohltäter deutſcher 
Nation handelte. Aber Geſchäft iſt Geſchäft. 
And in den heutigen Amerikanismus der 
deutſchen Preſſe fügt es ſich am Ende nicht 
ſo übel. R. B. 


* 


Die Frau Geheimrat 


Err 22jähriges Kuůͤchenmädchen Erna Wege- 
ner beſchwindelt jüngft eine größere An; 
zahl Berliner Ladenkaufleute, indem es ſich 
ihnen als „Frau Geheimrat Bentzky“ — es 
klingt allerdings nach Benzin, Automobil — 
präſentiert. Bündiger kann es wohl nicht ge- 
kennzeichnet werden, wie es um die gefirnißte 
Vornehmheit der Geſellſchaft ſteht, wenn ſo 
einfach ein gelogener Titel und ein nicht be- 
zahltes Kleid nach der Mode — egaliſiert. 

m Gb. 9. 


Wenn nicht Nathan Rothſchild - 


n dem in Hamburg erſcheinenden „Züdi- 
ſchen Familienblatt“ iſt zu leſen: 

„Preußen ſtemmte fid) gegen die Hber- 
macht Napoleons. Wer kann ermeſſen, ob 
die prächtige Begeiſterung des Jahres 1815 
in ihrem jubelnden Durchbruche nicht einer 
unüberwindlichen Schranke begegnet ware, 
wenn nicht Nathan Rothſchild 
mit ſeinem Einfluſſe und ſeiner Vereitwillig- 
keit der engliſchen Regierung den Vorſchuß 
von 200000 Pfund Sterling (über 4000000 A) 
an Preußen ermöglicht hätte.“ Weiter heißt 


654 


es von Nathan Rothſchild: „Er wurde ein 
Spuverän der Börſe und ein Souverän 
der Regierungen.“ 

Preußen, Deutſchland von Nathan Roth- 
ſchilds Gnaden. Der „ein Souverän“ der 
Souveräne war. * Gr. 


Wozu rüſten wir? 
S ber Preſſe wird (wennſchon mitunter 
etwas geſchäftig und mit nicht gerade 
gefälligem Pathos) ein Luftflottengeſetz ver- 
langt. Aber kann ſein, daß wir wirklich eins 
brauchen. Alſo rüſten wir; rüſten, rüſten! 
Nur ſoll man uns endlich ſagen, wozu wir 
eigentlich rüften. Bisher, wenn die Welt wie- 
der einmal verteilt ward oder die fanatiſchen 
Haſſer alles Deutſchen ſich erhoben, hörten 
wir immer: das ginge uns nichts an. Vir 
ſollten nur hübſch ruhig bleiben. Wozu, ſo 
alles uns wohl will und wir felber nichts ande- 
res wilnfden als ungeſtörten, ungekürzten 
Zinſen- und Dividendenbezug, wozu rüften 
wir? R. B. 


* 


Grit bie Hottentotten... 


n der „Kreuzztg.“ wird feftgejtel(t, dak 
in unſeren Muſeumsverwaltungen die 
germaniſche Altertumskunde und 9ft- 
chäologie, wenn überhaupt, dann nur ſehr 
ſtiefmuͤtterlich gewürdigt werden. Von der 
Berliner Akademie der Wiſſen— 
ſchaften iſt dieſes, uns doch nicht ſo gar 
fernliegende Forſchungsgebiet noch immer 
ausgeſchloſſen, und die Generalver- 
waltung der Kgl. preußiſchen Mu- 
feen ſtellt in der Rangordnung ihrer Ab- 
teilungen die Sammlung für deutſche 
Volkskunde ganz hinten an: ihr 
geben voraus die Kulturen ber H o t- 
tentotten, Feuerländer und Pa- 
pu as. 

Auch der ſozialdemokratiſche Abgeordnete 
Ledebour wußte kürzlich in feiner Reichstags; 
rede zur Balkanfrage nur von unterdrückten 
Finnen, Eſten uſw. in Rußland zu berichten, 
nicht aber von den um ihr Volkstum ver- 
zweifelt ringenben Deutſchen in Ruß 
land. * Gr. 


Auf der Warte 


Krieg und Chriſtentum 


Deer Frage widmet Walter 9ti tb a d- 
Stahn, Pfarrer an der Raifer-Wil- 
helm-Gedächtniskirche zu Berlin, im „All- 
gemeinen Beobachter“ eine Unterſuchung, aus 
bet hier einige grundſätzliche Darlegungen 
mitgeteilt ſeien. Sind ſie doch geeignet, einige 
Mißverſtändniſſe zu klären, die einer fach- 
lichen und gerechten Würdigung auch der 
„pazifiſtiſchen“ Beſtrebungen im Wege ſtehen: 

„Das Problem Chriſtentum und Krieg 
ift als ſolches jahrtauſendelang kaum emp- 
funden worden, wie ſo viele Weltfragen, die 
unter dem geiſtigen Horizont der Menfch- 
heit liegen, bis ſie einem Entwicklungsgeſetze 
gemäß emporſteigen, zuerſt belächelt, dann 
bekämpft, endlich alsfelbftverftdndlid 
beantwortet werden. So ähnlich langſam reif- 
ten die Probleme: Chriſtentum und Sklaverei, 
Chriſtentum und Perſönlichkeitsrecht der Frau. 

Denn das hat nie ein denkender Chriſt zu 
leugnen gewagt, daß das Aufhören des Rrie- 
ges zu den logiſchen Folgerungen der Religion 
gehört, bie einen Gott aller Nationen be- 
kennt, dieſen Gott in allen Sprachen als 
‚unfer Vater“ anredet und als vornehmſtes 
Gebot die ſchlechthin ausnahmsloſe Menfden- 
liebe verkündet. Trotz alledem ſchien es, als 
wäre der Vöͤlkerkrieg eine harte, unausweid- 
liche Realität, ein Beſtandteil der Weltord- 
nung, wie alles Seiende von Gott gewollt 
oder mindeſtens ‚zugelaffen‘, der Krieg eine 
periodiſche Völkerkataſtrophe, die man hin- 
nehmen muß wie Erdbeben und Peſtilenz; 
eine Gottesgeißel fir entartete Völker, eine 
Zuchtrute in der Hand des Erziehers der 
Menſchheit, ein notwendiges Übel, ein An- 
laß, Tugenden der Selbſtaufopferung zu be- 
währen, die auch dem Evangelium nicht 
fremd find ...“ 

Demgegenüber gelte es im Gegenteil, „zu 
dem Glauben zu bekehren, daß der Krieg 
— gleichviel, welche Rolle er in einem weifen 
Weltenplane ſpielt — doch kein Schickſal 
oder Naturereignis, überhaupt nichts Un- 
entrinnbares fei, fondern eine Tat verant- 
wortlicher Staaten, für die jeder Staatsbürger 
ſittlich haftbar ij. Sodann den übetnationa- 


Auf dee Warte 


len Charatter einer Weltreligion darzulegen, 
die zwar die Völkerindividuen nicht aus 
löſchen, aber fie zu einer höheren Ord- 
nung vereinen will. Zum dritten dar- 
auf hinzuweiſen, daß wir modernen Staats- 
burger gar nicht nur gehorſame ‚Untertanen‘ 
ſind, ſondern kraft unſeres Stimmrechtes 
verpflichtet zur Mitregierung 
unferes Staatsweſens, auch in den Be- 
ziehungen zu den fremden Staaten. End- 
lich iſt zuzugeben, daß der Völkerfrie de 
wohl ein Problem iſt, das ſeine 
praktiſche Löſung noch längſt 
nicht gefunden hat; daß aber in der 
Geſchichte, zumal der neueſten Zeit, ſich 
biologiſche und hiſtoriſche Geſetze immer deut- 
licher verwirklichen, die zu einer Organiſation 
der Kulturvölker drängen. Vornehmlich gilt 
es, . bas hydraartige Miß 
verſtändnis zu beſeitigen, als ſei die 
Formel des Pazifismus: partielle oder all- 
gemeine Waffenniederlegung der 
Völker unter den gegenwärtigen Um- 
ſtänden. Vielmehr handle es jid um die 
Herſtellung einer Nechtsordnung 
zwiſchen den Staaten.“ 

Nach dieſem, beſonders aber nach der 
letzten Feſtſtellung, erſcheinen die „Pazifiſten“ 
denn doch nicht als ganz ſo „törichte Knaben“. 
Sie ſollten aber zuallererſt dafür Sorge 
tragen, daß fo entſcheidende Mißpver- 
ſtändniſſe, wie jenes „hydraartige“, den näch- 


ſten Tag nicht überleben. Gr. 
* 
Aufheben! 
nt „Vorwärts“ las man zum letzten 
Semeſterbeginn: 


„Die Studenten ... ihr neues Semeſter 
beginnt jetzt, und wer gerade einmal vorüber- 
kommt, ſehe ſich die neuen Zugenderzieher 
an. Hier in Berlin z. B. eine Majoritat von 
akademiſchem Proletariat (Philologen, Theo- 
logen), das zu einem Preis Privat- 
ſtunden verzapft, dene in Maurer ſeinem 
Bauherrn vor die Füße werfen 
würde.“ 

Spotten ihrer ſelbſt und wiſſen nicht wie! 

" Gr. 


655 


Im Jahrhundert des Kindes 


E Anzeige, die in der „Sulinger Kreis- 
zeitung“ zu finden war: 


2 hieſige kleine Mädchen 
im Alter von 2 und 4 Jahren fol- 
len am 

Sonntag, den 18. d. M., 

morgens 9 Ahr, 
im Nienaderſchen Gaſthauſe in gute 
Pflege mindeſtfordernd unter- 
gebracht werden. 
O cerei , Waifenrat, 


Hier hilft keine Beſchönigung, keine Be- 
ſchwichtigung, hier haben wir es mit einer 
ganz „vorſchriftsmäßigen“ Auktion (wenn 
man will: Submiſſion) von Kindern zu 
tun. Und man findet offenbar „höheren 
Orts“ nichts darin. Gegen den Kinderhandel 
etwas zu tun, erklärte ſich die Berliner Polizei 
außer ſtande, da fie — „kein Reſſort“ da- 
für habe. 

Es wird einmal eine Abrechnung geben, 
in der man dann auch nichts wird finden 
dürfen. Und gegen die es auch „kein Reſſort“ 
geben wird. Gr. 


Ein zerſtörtes Idyll 


orglos und von einem gewiſſen Hauch 

der Poeſie umgeben konnten lange 
Zeit hindurch die Maler Preußens in ihren 
Ateliers hoch oben unterm Dachgeſchoß 
baufen, bis vor nunmehr feds Jahren einer 
erleuchteten Behörde Bedenken kamen, ob 
eine ſolche Art des Wohnens im gnterejje 
der öffentlichen Sicherheit ſtatthaft ſei. 

Das Produkt fünfjährigen Grübelns kam 
vor Jahresfriſt zutage, und zwar in Geſtalt 
eines Erlaſſes, der da anordnete: daß in 
dieſen Räumen die Tapeten von den Wan- 
den geriffen, bie „beſſeren“ Türen durch ein- 
fache erſetzt, der Heizungskörper beſeitigt und 
der gehobelte und geſtrichene Fußboden durch 
einen rauhen und ungeſtrichenen erſetzt wer- 
den ſollte. 


656 


Der Swed dieſer Maßnahmen, bie fo 
manches harmloſe Idyll jab zerſtört und bem 
Künſtler ebenſo wie dem Hauswirt nicht 
gutzumachenden Schaden verurſacht haben, 
war offenbar der, die Feuerficherheit zu er- 
höhen. Nur eines haben die Herren am 
grünen Tiſch dabei überſehen, nämlich daß 
ein ungehobelter Fußboden mit klaffenden 
Fugen das denkbar vorzüͤglichſte Brenn- 
material bietet, namentlich in Häufern, wo 
die Zentralheizung das Holz ausdörrt und 
das „Auseinanderklaffen“ in jeder Hinſicht 
begünſtigt. 

Den Herren Brandſtiftern, die ja leider 
ſehr ſelten erwiſcht werden, wird durch dieſe 
Anordnungen das Geſchäft beträchtlich er- 
leichtert, und fie werden es einer wohlweiſen 
Behörde Dank wiſſen, daß ſie ſich jetzt nicht 
mehr wie ehedem mit der Petroleumkanne 
und womöglich noch mit Hobelfpänen be- 
laftet nach dem Boden zu bemühen brauchen. 
Es iſt ja „allens“ da! Ein Zündhölzchen, eine 
verſtohlen glimmende Zigarette genügen voll- 
kommen, um, auf die der höheren Anweiſung 
gemäß ſorgſam präparierte Diele geworfen, 
einen Dachſtuhlbrand ſchönſter Art hervor- 
zurufen — — — 

Was ſoll man aber auch viel von einer Se- 
hörde erwarten, deren Obergeſchoß ſelbſt mit 
dem eigentümlichſten Sprachbarock möbliert 
iſt, ſo daß ſie, um beiſpielsweiſe den Begriff 
„dauernder Aufenthalt“ zu definieren, ſich 
folgender Garnitur bedient: 

„Wenn ein Raum in einer Weife benutzt 
werden ſoll, die den Aufenthalt der darin 
verkehrenden Perſonen als einen nicht vor- 
übergehenden erſcheinen läßt, und wenn die 
Benutzung nicht nur vereinzelt in gt 
beren Zwiſchenräumen, fondern im wefent- 
lichen fortgeſetzt und ſtetig, je nach Bedürf- 
nis bald längere, bald kürzere Zeit, zum 
mindeſten in einer durch die Verhältniſſe 
bedingten regelmäßigen Wiederholung er- 
folgt, ſo iſt dieſer Raum ſtets als zum 
dauernden Aufenthalt von Menſchen be- 
ſtimmt zu erachten.“ y. 


Auf ber Warie 


Wie Theater gegründet werden 


n Berlin Weiten bat jid) kürzlich ein Thea- 
ter „Groß- Berlin“ aufgetan, das dem 
bekannten Metropoltheater Wettbewerb ma- 
chen ſoll. Wie die Gründung zuſtande ge- 
kommen iſt, darüber gibt uns Dr. Max Ep- 
ſtein in der „Schaubühne“ einige lehrreiche 
Aufſchlüſſe. Das Gründungstapital beträgt 
700.000 A, und dieſe 700 000 A find zu 
einem großen Teil gezeichnet worden von — 
Brauereien. So zeichnete die Schloß 
brauerei Schöneberg 60 000 M, das Spaten- 
brdu in München 40000 „ und die Aktien- 
geſellſchaft für Biervertrieb ebenfalls 40 000. . 
Ihnen gefellt ſich der Beſitzer des W aren- 
baufes Tietz zu, der fi mit 75 000 dé 
beteiligt und dafür das Privileg erhielt, in 
feinem Warenhauſe einen Billettverkauf für 
dieſes Theater zu errichten. Die bekannte 
Schokoladenfirma, bie Aktiengeſell- 
ſchaft Sarotti, zeichnete 10000 A. Ins- 
geſamt ein Drittel des Aktienkapitals wurde 
alſo von Lieferanten aufgebracht. 
Die Kunſt geht nach Bier und Schoko- 
lade. Gr. 


Titel 


ch habe Siegfried Wagner einmal längere 
Zeit gegrollt, daß er von dem Ruhme 
ſeines Vaters ſo viel auf ſich ſtrahlen läßt. 
gebt tue ich es nicht mehr. Denn mir ift 
neulich ein Brief in die Hände gefallen, ein 
Brief 
Da ſtand nämlich dick und fett als Kopf 
gedruckt: 


Franz Fernand Geis-Stengel, 
Schriftſteller 
Enkel des Kgl. Preuß., Kgl. Württemberg. u. 
Herzogl. Sachſen-Coburg-Gothaiſchen 3 Jof- 
künſtlers Prof. Carl Stengel. 


Lieblich umgeben von den Wappen der ge- 
nannten Staaten. Es ſah faſt aus wie der 
Briefbogen eines Hoflieferanten. H. H. B. 


Verantwortlicher und Chefredakteur: Jeannot Emil Frhr. v. Grotthuß + Bildende Runft unb Muſik: Dr. Gart Storck. 
Sämtliche Zuſchriften, Einſendungen uſw. nur an die Redaktion des Türmers, Berlin Schöneberg, Bozener Str. 8. 
Oruck und Verlag: Greiner & Pfeiffer, Stuttgart. 


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Ta JI pa le EE abſeits legen Gel EE 8 vul „Sc; 5.887 der 


G. e en ant Sula’ gebracht werden follen. 


Sedo wir einmal com dem wirtſchaftlichen Vert oder Unwert Rout Mo: 
(C rann, COfehavmt Gen Kolonie n, gana ab und fragen ung ar pai 
uode jista Oste wir une überhaupt Kolonien beigelegt "ob, 

Zort" Cutmetf darauf iſt: Wir wollen in ihnen neue Afar 18 
Metern Aenne und Mardel ſchaffen; wir wollen in ihren riu 
inder ius Wefrietlszungg cet ſteigenden beimatlichen Bedürſanſe Iv 
nicht minder wie zur Tate tung sen Rohmaterialien för die secdeinedsn 
Zweige Sur . UM ol. Sathe unter gleichzeitiger No tbng sme 
von anderer; Sender, d. ol. wh ce zu digjen Aufgabe Ltr svete ar een 
Dandestinder nich! „u ize eniere ist Kunlurrent:n bxc chi ova fat wee: 

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XV. Jahrg. "Rebruer 1913 Beft 5 


Gin offenes Wort zu unjerer folonialen 
Arbeit Von F. Hutter 


urch das Warokko-Kongo-Abkommen haben wir ein beträchtliches 
Stück afrikaniſchen Landes unſerer Kolonie Kamerun als neue yon 
werbung angegliedert. 

Man hat feitbem febr viel darüber gelejen, daß nunmehr durch 
„intenfive Inangriffnahme“ feitens Deutſchlands auch in dieſe von Frankreich 
zum großen Teil etwas abſeits liegen gelaſſenen Gebiete die „Segnungen der 
Ziviliſation und Kultur“ gebracht werden ſollen. 


Sehen wir einmal von dem wirtſchaftlichen Wert oder Unwert diefer Neu- 
erwerbung, überhaupt unſerer Kolonien, ganz ab und fragen uns einmal ehr- 
lich und offen, warum wir uns überhaupt Kolonien beigelegt haben. 

Die offene Antwort darauf ijt: Wir wollen in ihnen neue Abſatz ; unb 
Umſatzgebiete für Induſtrie und Handel ſchaffen; wir wollen in ihnen. Produkten 
länder zur Befriedigung der ſteigenden heimatlichen Bedürfniſſe des Lebens 
nicht minder wie zur Beſchaffung von Rohmaterialien für die verſchiedenſten 
Zweige der Induſtrie unb der Gewerbe unter gleichzeitiger Anabhängigmachung 
von d anderen Ländern gewinnen und die zu dieſen Aufgaben hinausgegangenen 
Landestinder nicht zu fremd gewordenen Konkurrenten der eigenen Heimat wer- 

Der Türmer XV, 5 44 


658 Hutter: Ein offenes Wort zu unferer kolonialen Arbeit 


den laffen; wir wollen endlich einem Bevölkerungsüberſchuß, einer Übervölke- 
rung, die nur dann als nationale Kräftigung bezeichnet werden darf, wenn ihr 
geſunde Entwicklungsmöglichkeit geboten werden kann, eben dieſe in der Heimat 
febr erſchwerte Entwicklungs möglichkeit in Neuland geben, ohne daß dieſer Menſchen- 
abfluß aufhört, dem Vaterlande zu gehören. 

Wirtſchaftliche und ſoziale Beweggründe ſind es demnach, die uns unſere 
Flagge über überſeeiſchen Gebieten entfalten ließen. Alſo Vorteile, die wir 
für uns zu gewinnen hofften. 

Nichts anderes! 

Seien wir doch ehrlich gegen uns ſelbſt und laſſen die ſchöne Lüge fallen, 
wir gingen nach Afrika, um den Neger zu beglücken. „Ziviliſatoriſche Miſſion“, 
„kulturelle Miſſion“, und wie die Phraſenſchlagworte alle heißen — ſie ſind nichts 
als ein Mäntelchen, um die einfache brutale Anwendung des brutalen Natur- 
geſetzes vom Rechte des Stärkeren, in Verbindung mit der des weitern ehernen 
Naturgeſetzes vom geſunden volklichen Selbſterhaltungstrieb. „Der eine hat's, 
der andre braucht's; um deſſentwillen führt man Krieg.“ Um deſſentwillen ver- 
ſchafft man ſich auch Kolonien. Was wir „kulturelle Aufgabe“ nennen, hat einſt 
der Indianer Nordamerikas in eine andere Formel gekleidet: „Der Rauch vom 
Herdfeuer der Blaßgeſichter tötet den roten Mann.“ Und in der Tat ift die Be- 
rührung eines auf niedrigerer Kulturſtufe ſtehenden Volkes mit einem auf höherer 
Stufe ſich befindenden geſunden Völkerzweige für das erſte nichts anderes als ſein 
Untergang; nicht ſelten geradezu ein phyſiſcher, immer aber ein ethniſcher Untergang, 
b. h. eine Umwandlung all feiner bisherigen Lebensbedingungen und -verhältniffe. 
r' Auch unſere Bemühungen um die „kulturelle Hebung der Eingebornen“ find 
lediglich Mittel zum Zweck; ihr höherer Kulturſtand kommt auch uns wieder zugute. 

Die tatſächlich rein ideal gedachten Beſtrebungen der Miſſionen ſind von 
dieſer Demaskierung nicht betroffen. Allerdings iſt es ganz unvermeidlich, daß 
auch fie, fobald ihr Wirkungsreich in einem europäiſchen Schutzgebiet liegt, zu einem 
kolonialen Faktor werden. 

Wir brauchen uns dieſer nackten Tatſachen nicht zu ſchämen; wir treiben 
einfach Realpolitik. Aber wir ſollen wahr und ehrlich Farbe bekennen und ſollen 
und dürfen nie vergeſſen, daß wir von Anfang an vom idealen Rechtsſtandpunkte 
aus nichts anderes find als ihren Vorteil ſuchende Ein- 
dringlinge. | 

Damit erhalten auch — das fei vorweggenommen — die fogenannten „Auf- 
ſtände der Rebellen“ eine weſentlich andere Beleuchtung. Was wir draußen 
ſo nennen, hat man, bei uns und von uns angewendet, einmal Befreiungskriege 
geheißen. (Wir tun überhaupt gut, in recht vielen Punkten immer bei uns zu- 
erft Amſchau zu halten, bevor wir uns über die „Wilden“ allzuſehr ſittlich ent- 
rüften!) Daß wir diefe Unabhängigkeitsbeſtrebungen — das ift wohl die richtigere 
und gerechtere Bezeichnung — nicht dulden dürfen, iſt klar, iſt die notwendige 
Folgerung einer rückſichtsloſen, aber notwendigen und geſunden Kolonialpolitik. 
Aber eben hinſichtlich der Entſtehung dieſer Unruhen und auch bei deren Unter- 
drückung dürfen wir ihre gerechte Urſache nicht vergeſſen und verkennen. 


Hutter: Ein offenes Wort zu unferer kolonialen Arbeit 650 


Bor allem aber dürfen wir das in jeder Rolonifierung liegende innere Un- 
recht nie vergeffen bei der Behandlung der Menfchen, denen wir mit ber Gnbe[ib- 
nahme ihres Landes ihre Herrenrechte nehmen. 

Auch das kommt nur wieder uns ſelbſt zugute. Die ganze wirtſchaftliche 
Ausnutzung einer Kolonie ſteht und fällt mit dem Eingebornen, mit dem Men- 
ſchen. Ohne d efen nützt alles Land, alle Bodenſchätze, aller Reichtum der Kolonie 
nichts. Nun kann man aber keinen Menſchen, weder ſchwarz noch weiß, für ſich 
gewinnen, ihn gebrauchen und ausnützen, wenn man ihn nicht richtig zu behan- 
deln verſteht. Und fo iſt die richtige Behandlung des Eingebornen, des Negers 
— ich habe in dieſen meinen Betrachtungen in erſter Linie unſere afrikaniſchen 
Beſitzungen im Auge —, die Eingebornenpol tik, wie man das nennt, der wichtigſte 
Faktor im ganzen kolonialen Betriebe. 


Auf ſubjektiver und objektiver Menſchenkenntnis beruht die Möglichkeit, die 
Fähigkeit richtiger Menſchenbehandlung. 

Die ſubjektive Menſchenkenntnis iſt die Selbſterkenntnis im weiteſten Sinne. 
Ich werde darauf noch zu ſprechen kommen. 

Die objektive Menſchenkenntnis ift die Kenntnis des zu behandelnden Men- 
ſchen in ethniſcher und ethiſcher Hinſicht. Im gegebenen Falle alſo Kenntnis des 
Charakters, der Eigenart des Negers, Kenntnis ſeines Kultur- und Sittenlebens 
(dieſes Moment, nebenbei bemerkt, iſt die ſo ſehr wichtige praktiſche Seite der 
Wiſſenſchaft der Völkerkunde); kurz: afrikaniſche Menſchen- und Völkerkenntnis, 
oder wie die allerkürzeſte und treffendſte Formel lautet: „to think black“. 

Grundfalſch wird aber der Neger zumeiſt bei uns zu Hauſe beurteilt und 
infolgedeſſen naturgemäß auch, zum mindeſten zu Anfang, von den in die Rolo- 
nien Hinausgehenden. Sowohl was ſeinen Körper anlangt als auch die kulturelle, 
ethiſche und intellektuelle Stufe, die er einnimmt. 

Nicht wahr, der Neger iſt recht häßlich? Dieſe Frage wird wohl an jeden 
Afrikareiſenden ziemlich oft geſtellt. Und ich erwiderte und erwidere darauf ſtets: 
Nicht mehr wie wir. Es gibt unter den afrikaniſchen Negern und Negerſtämmen 
febr viele häßliche Zndividuen, eine Reihe von der Natur körperlich febr jtiermütter- 
lich ausgeftatteter Völkerſchaften. Es gibt aber auch eine Reihe prächtiger Ge- 
ſtalten, tadellos gebauter Stämme. Wie bei uns zu Hauſe eben auch. 
Nur bewahrt zu Hauſe nicht ſelten die verhüllende, nachhelfende Kleidung vor 
übertajd)enben Enttäuſchungen. 

Gleiche Fehler wie bei der körperlichen Beurteilung des Negers werden be- 
gangen bei der ſeiner geiſtigen Eigenſchaften und Fähigkeiten. Wir vergeſſen zu 
gern und zu oft, daß alle unſere kulturellen und ziviliſatoriſchen Errungenjchaften 
das Verdienſt einzelner über die große Maffe emporragender Geiſter 
waren und find. Auch bei der ſchwarzen Raſſe ragten und ragen potenzierte Per- 
ſönlichkeiten hoch über die Menge hinaus. Wir vergeffen unſern jabrtaujenbe- 
langen kulturellen Werdegang; wir vergeſſen, daß ein gütiges Geſchick uns ver- 
hältnismäßig ruhig uns entwickeln ließ, während das Negervolk feit Jahrhunderten, 
ja feit Sabrtaufenben das gejagte, gehetzte Wild des dunklen Kontinents ijt, ge- 


660 Hutter: Ein offenes Wort zu unferer kolonialen Arbeit 


jagt und gehetzt von den Pharaonen an bis zum heutigen ſklavenerbeutenden 
Araber und Inder. 

Von einem moraliſchen Oefekt allerdings ift der Neger tatſächlich 
nicht freizuſprechen: von mangelnder Charakterfeſtigkeit, ja fogar, ſchroff aus- 
gedrückt: von Charakterloſigkeit bis zu einem gewiſſen Grade. Die reiche Tropen- 
natur war und iſt das Verderben der Afrikaner. Der Sudan namentlich ſpielt 
in der Geſchichte Afrikas die gleiche Rolle wie Italien in der europäiſchen. Wie 
dieſes Sonnenland im Süden Europas magiſch Goten und Germanen, Nordland- 
ſtamm auf Nordlandſtamm über die Alpen zog, ſo lockte der reiche Sudan Stamm 
auf Stamm der Wüſtenvölker in ſeine üppigen Gefilde. Und da wie dort zum 
Verderben. Da wie dort erlagen die nordiſchen Völker dem Klima, indem es ihnen 
Spannkraft und Energie nahm, ſie verweichlichte und damit moraliſch degenerierte. 
Doch auch in dieſer Hinſicht vergeſſen wir nur zu gern und zu oft des Bibelwortes 
vom Splitter und Balken. 


Die ſo vielfach mangelnde objektive Menſchenkenntnis bei Beurteilung (und 
damit Behandlung) des Negers in ethiſcher Hinſicht hat ihren innerſten Grund in 
der mangelnden ſubjektiven Menſchenkenntnis; oder wie ich ſie oben definiert 
habe: Selbſterkenntnis. 

„Durch die ganze Völkerbeurteilung“, ſagt Rakel in feiner Anthropogeogra- 
phie, „geht bie Grundtatſache des Gefühls individueller Überſchätzung, zieht fich 
wie ein roter Faden die Übertreibung des Wertes ber jog. Raſſenunterſchiede. 
And doch trägt alles, was von allen Völkern aller Zeiten und allerorten gedacht, 
gefühlt, getan worden iſt und wird, nur einen abgeſtuften Charakter. Nicht Klüfte, 
nur Gradunterſchiede trennen die Teile der Menſchheit.“ Und dieſe Gradunter- 
ſchiede finden wir genau in derſelben Höhe innerhalb der volklichen und individu- 
ellen Glieder ein und derſelben Raffe wie zwiſchen zwei verſchiedenen Raſſen; 
ja die Kulturunterſchiede in ein und derſelben Raſſe find oft noch tiefer als die 
zwiſchen verſchiedenen. Steht ein Buddha, ein Konfuzius, ein hochgebildeter 
Japaner nicht einer kaukaſiſchen Geiſtesgröße weit näher als ein dummer, ſtupider 
Bauer, der ber Abſtammung nach „zum ariſchen Völkeradel“ gehört? Sit etwa 
ein Goethe, ein Kant, ein Bismarck „repräſentativ“ für das deutſche Volk? In 
febr vielen Fällen, wo man von „Raſſen“unterſchied ſpricht, follte man richtiger 
„Klaſſen“unterſchied fagen. Blättern wir doch in n f erer Geſchichte, in un fe- 
rer Kultur- und Sittengeſchichte — freilich nicht in einer ad usum delphini 
zurechtfriſierten — gar nicht jo ſehr weit zurück: wir ſtoßen auf einen grauen- 
erregenden Tiefſtand. Wir lachen über den Aberglauben der Schwarzen, über 
ihre Fetiſche; wir brauchen gar nicht bis nach Afrika zu gehen und können das alles 
auch bei uns in der ſchönſten Blüte finden. 


Dieſe vorurteilsloſe Erkenntnis tut ſich aber nur dem auf, der frei von 
weißem Raſſenhochmut ſich in die ſchwarze Volksſeele vertieft, der einſam auf ſich 
und ſeine Gedanken angewieſen draußen in der Einſamkeit lebt. „Viel Zeit be- 
darf es dazu und viel Geduld und viel Abſtreifens vieles kritiklos mit einem groß- 


Hutter: Ein offenes Wort zu unſerer kolonialen Arbeit 661 


gewordenen kaukaſiſchen Ballaſtes. In der Wildnis lernt man mit andern Zeit-, 
mit andern Raummaßen, mit andern menſchlichen Bewertungsmaßſtäben redy- 
nen. Geiſt und Herz und Körper lenken in andere Bahnen ein“ — ſo habe ich 1892 
nach faſt zweijährigem einſamen Stationsleben im Innern Nordkameruns in 
mein Tagebuch geſchrieben. 

Darum darf man über den Neger nicht den eben friſch nach Afrika importier- 
ten Offizier oder Beamten befragen. Auch nicht den Führer an der Spitze einer 
marſchierenden militäriſchen Expedition. Das iſt kein Vorwurf; 
das kann nicht anders ſein; ihm wird ſich nie das Innen leben des Negers 
offenbaren. Noch weniger den Vergnügungs- und Sportreiſenden oder den Gee- 
mann, die vielfach nur eben den Saum des dunkeln Erdteils ſtreifen, und, wenn 
auch ins Innere gelangend, nur flüchtig mit dem Eingebornen, und da überdies 
meiſt nur mit dem durch langen Verkehr mit dem Weißen verdorbenen Geſindel, 
in flüchtigſte Berührung kommen. Und am allerwenigſten den Kaufmann und 
Händler, für den der Schwarze fo oft nur ein in der ſchamloſeſten Weiſe aus- 
gepreßtes Ausbeutungsobjekt iſt. Das Urteil eines Barth, Nachtigal, Living- 
ſtone, eines Emin, Wißmann, Zintgraff, Leutwein, P. Schynſe u. a. lautet anders! 


Die naheliegende Folge ſolcher Überſchätzung des eigenen Volkes, folder 
Unterſchätzung der ſchwarzen Raſſe iſt ein hochmütiges Nichteingehen, insbeſondere 
ſeitens des ſtarren Nordgermanen, auf die Eigenart des Negers, ein gänzliches 
Nichtverſtehen des ſchwarzen Menſchen. Mit Notwendigkeit ergibt ſich daraus die 
Unfähigkeit richtiger Behandlung. (Wir brauchen übrigens auch in dieſer Hin- 
ſicht nicht bis nach Afrika unſere Blicke zu richten — ſchauen wir nur hinüber an 
unſere heimatliche Weft- und Oſtgrenze, nach den Reidslanden und in die polni- 
ſchen Landſtriche! 

Und gerade der Neger, Zflambefenner und Heide, ift mit nur etwas Menſchen⸗ 
und Völkerkenntnis, mit Vermeidung eines ſtarren Schemas leicht zu behandeln — 
und damit zu beherrſchen. 

„Sitten, Gebräuche und ſoziale Einrichtungen müſſen aufs ſtrengſte re- 
ſpektiert werden“: das bat Iden ein Wißmann immer wieder feinen Untergebenen 
eingeſchärft. Der letzte äußere Anſtoß zu der furchtbaren indiſchen Revolution 1857 
war — die mit Schweineſchmalz gefettete Patrone. 

In dieſes Kapitel gehört der Grundſatz, daß man den Eingebornen nur durch 
ben Eingebornen beherrſchen kann; daß wir nicht nach heimatlichem Muſter zu 
viel regieren dürfen; die inneren Angelegenheiten eines Stammes gehen uns gar 
nichts an. Die aus der Geſchichte des Volkes herausgewachſenen politiſchen Ber- 
hältniſſe, Erfolge einſtiger Kriege und diplomatiſcher Klugheit der Herrſcher — alſo 
Machterbe, wie etwa analog bei uns die Reichslande, Schleſien, Polen u. a. — 
müſſen unangetaſtet bleiben. 

In dieſes Kapitel gehört, daß man vorerſt und wohl noch geraume Zeit 
noch nicht unſere modern europäifchen Rechtsanſchauungen und Staatsgejekbuch- 
beſtimmungen anwenden darf, ſondern auch in dieſer Hinſicht mit landesüblichen 
Begriffen und Mitteln arbeiten muß. 


662 Hutter: Ein offenes Wort zu unferer kolonialen Arbeit 


In bieles Kapitel gehört auch, daß wir vorerſt an der Inſtitution ber Stlave- 
rei nicht rütteln follen. Wohlverſtanden: der Hausſklaverei; denn diefe ift vielfach 
milder und patriarchaliſcher als unter Dienſtboten- 
und Arbeiter verhältnis. Man macht ſich von der Sklaverei in Afrika 
zumeiſt eine ganz falf de, viel zu harte Vorſtellung. 

Bei dieſer Gelegenheit möchte ich mich kurz über die ſo häufig dem Neger 
zur Laſt gelegte „Faulheit“ auslaffen. 8m pofitiven Sinn ift der Vorwurf 
nicht gerechtfertigt. Nur hat der Neger, unter weit günſtigeren geographiſchen 
und klimatiſchen Bedingungen lebend, noch nicht — bis jetzt wenigſtens gottlob 
noch nicht — die Ungenügſamkeit und die zahlloſen Bedürfniſſe von uns Hyper- 
kulturmenſchen; und damit auch nicht den Begriff von dem heute ſo unnatürlich 
in die Höhe geſchraubten Werte der Zeit, wie ihn unſere haſtende, jagende Gegen- 
wart geſchaffen hat. Dazu kommen noch zwei weitere Moment: ein ſoziales und 
ein geographiſches. Das ſoziale: der Zuſtand einer gewiſſen Rechtloſigkeit, in dem 
der Neger zurzeit noch lebt. Das näher zu erläutern, würde mich zu weit führen; 
ich erinnere nur an ein Analogon bei uns, das gar nicht ſo ſehr weit zurückliegt. 
Ungeheure Flächen Odland gab es in Oeutſchland im 18. und noch Anfang des 
19. Jahrhunderts in der Zeit des abſolutiſtiſchen Regimes. Der Bauer hungeret 
lieber und pflanzte nicht mehr, als er unbedingt zum Friſten ſeines Lebens brauchte; 
das Mehr fraß ihm ja doch und zerſtörte das Wild oder holte der Grundherr als 
Steuer und Pacht. Das geographiſche Moment: die Schwierigkeit, ja Unmög- 
lichkeit der Aufbewahrung und Konſervierung größerer Vorräte an Lebens- 
mitteln uſw. in den Tropen infolge der klimatiſchen und tieriſchen zerſtörenden 
Einwirkungen (Feuchtigkeit, Termiten, Ameiſen uſw.). Alſo von dem, was wir 
heutzutage Arbeit nennen, hat der Neger allerdings keine Vorſtellung. Aber 
arbeiten muß auch er, muß ſich im Schweiße ſeines Angeſichts ſein Brot verdienen, 
ſoweit er nicht zu ben ſchwarzen „obern Zehntauſend“ gehört. Poſitiv faul wird keiner 
ihn nennen, der den Waldlandneger einmal im Urwald in angeſtrengter Tätigkeit 
die Bauplätze ſeiner Dörfer, feine ausgedehnten Farmen hat roden ſehen, der den 
Savannenbewohner bei feiner emſigen Bauern- unb Gewerbetãätigkeit beobachtet bat. 

Weiter. In das Kapitel richtiger Behandlung gehört endlich noch etwas 
herein, das immer noch viel zu wenig gewürdigt wird: die Macht der Per- 
ſönlichkeit in Afrika. Und aufs engſte hängt damit zuſammen die Not- 
wendigkeit der Stetigkeit in der Beſetzung der verſchiedenen Stellen, vom 
Gouverneur bis herunter zum Anteroffizierspoſten. In unſeren nivellierenden 
Verhältniſſen zu Haufe ſchadet Wechſel, ſchadet auch ein gelegentlicher Mißgriff 
in der Wahl der Perſonen nicht ſo ſehr viel — anders in Afrika. Wer es nicht ſelbſt 
geſehen und erfahren hat, kann ſchlechterdings ſich keinen Begriff machen von der 
Macht der Perſönlichkeit draußen. Da fällt der Name eines Mannes, der von 
Mund zu Mund der Eingebornen geht und mit Furcht und Zutrauen zugleich aus- 
geſprochen wird, tauſendmal ſchwerer in die Wagſchale als Titel und Nang, wiegt 
Geld und Bajonette auf. 

Andrerſeits kann eine ungeeignete Perſönlichkeit die unheilvollſten Dinge 
mit ungleich größerer Tragweite als zu Hauſe anſtellen. 


Hutter: Ein offenes Wort zu unferer kolonialen Arbeit 663 


Wie nicht leicht anderswo gilt in Afrika bei der Auswahl des weißen Menfchen- 
materials der Grundſatz: Das Beſte iſt gerade gut genug. Wenigſtens 
ſollte er gelten. Aber wir ſind leider noch weit davon entfernt. 


Der ideal ja ungerechte, aber real geſunde urſprüngliche volkliche Selbſt⸗ 
erhaltungsgedanke — wie eingangs entwickelt, eine der Haupttriebfedern bei der 
Erwerbung von Kolonien — hat fid) mit der fih immer ſteigernden Jagd nach 
Erwerb zu nackter Gewinnſucht ausgebaut. Die gleichfalls bereits erörterte Über- 
hebung, mit der wir meinen, der Neger müſſe es ſchon als ganz beſonderes Glück 
anſehen, mit einem Vertreter der weißen Raſſe in Berührung zu kommen, mit 
all ihren Folgeerſcheinungen, die ſchroffe, barſche Art des Auftretens, insbeſondere 
dem nordiſchen Herrenmenſchen eigen, die dem Negercharakter, wie ja auch dem 
des Orientalen ſtracks zuwiderläuft: all das kommt noch hinzu. 

Für die überwiegende Maffe der merkantilen und wiirtſchafttreibenden 
Elemente draußen iſt eine Kolonie, ſind die Eingebornen beinahe nur Aus- 
beutungsobjekte. Und wie nicht wenige dieſer „Kultur“ träger und „Kultur“ 
bringer „arbeiten“, muß man geſehen haben! Von der ſchamloſeſten 
Abervorteilung des an geworbenen Arbeiters bis zur 
rüdeſten Übertölpelung feitens des Händlers und zur 
Preſſung von Trägern mit den verwerflichſten Mitteln. 
Greift dann einmal ein aufs äußerſte gereizter Stamm zur Selbſthilfe und ſchlägt 
fo einen „Kulturbringer“ tot, bann bleibt der Regierung im Sntereffe des Gebotes 
der weißen Solidarität leider nichts übrig als eine Beſtrafung der Täter — der 
Schuldige aber iſt das weiße Element. Der „ſanfte Zwang zur Arbeit“, der auf 
den Neger ausgeübt werden ſoll als Entgelt für all das Schöne und Herrliche 
der Ziviliſation, mit der wir ihn ſo großmütig bedenken — man ſehe nur einmal zu, 
wie das in praxi ſich geſtaltet. Der Wiſſende iſt ſich längſt klar darüber, wo der 
letzte Anſtoß zu dem Südweſtafrikaniſchen Kriege, zu gar mancher von „Unruhen“ 
in unſern Schutzgebieten zu ſuchen iſt. 


Ich bin weit davon entfernt, einer Verbrüderung, einer Gleichſtellung des 
Negers mit dem Weißen das Wort zu reden. Ich anerkenne vollkommen die Tat- 
fache, daß wir durch glückliche Umftände, unſere geographiſche Lage und jahrtaufende- 
lange Entwicklung in ihr kulturell derzeit höher ſtehen als der Neger. Ich bin u. a. 
durchaus der Anſchauung, daß ein gelegentlicher Peitſchenhieb in Afrika nicht ſo 
viel Staub in unſerem humanitätsduſeligen Europa aufzuwirbeln braucht, als es 
leider gewöhnlich der Fall iſt. 

Aber nachdem uns einmal der weltgeſchichtliche Entwicklungsgang ſowohl 
als der volkliche Kampf ums Dafein zu dem idealen Unrecht geführt haben, ſtörend 
in die Bahnen ferner Völkerſchaften einzugreifen, können wir vor dem Richter- 
ſtuhl der Weltgeſchichte nur dann beſtehen, wenn wir den Konflikt, den wir damit 
in jene Völker hineingetragen, nicht unnötig verſchärfen; im Gegenteil die Härten 
des Vollzuges dieſer ehernen Entwicklungsgeſetze nach Kräften mildern. 


2 


664 


Reimer: Am Rreugwege 


Am Kreuzwege 
Von Thomas Wilhelm Reimer 


Wohin, ach, wohin 

Soll ich wenden 
Den fluchtwunden Fuß? 
Wonach ſoll ſtehen 
‚ Mein Sinn? 

Mein Lauf, 

Wo wird er enden? 


Ach, nur ein Gott 

Wüßte hier Rat und des Weges Ausgang, 

Den in unſerer Hand das Licht 

Nur eine Spanne weit 

Mühfam erleuchtet. 
Hier oder dort! 

Du mußt entſcheiden! 

Vorwärts oder zurück. 

Eines von beiden. 

Führt es zu Leiden! 

Oder zu Glück? 


Aber der Leiden haſt du 
Ach, ſchon ſo viele erprobt, 
Mein Herz. Wer zählt ihre Kette, 


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Wer ſchöpft fie mit ruhloſen Eimern aus, 
Welch Senkblei mißt ihre Tiefe? 


Ich habe genoſſen 
And verſchuldet, 
Tränen vergoſſen 
Und geduldet. 
Geſchworen 

Und vergeſſen, 
Beſeſſen 

Und wieder verloren. 
Weder Fall noch Tod 
Sit uns erfpart, 

Vor Luft und Not 
Hat keiner ſich bewahrt. 


Es locken Roſen 
Abern ſchwankenden Steg, 
Aber zum Bodenloſen 
Führt der Weg. 
Wir taſten zagend durch Finſterniſſe 
Ans Tageshelle, 
Aber Strom und Welle 
Ins Ungewiſſe. 


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Eliſabeth Diakonoff 


Das Tagebuch einer ruſſiſchen Studentin 


Gortſezumg) London, 1. Auguſt. 
ie mächtige, unheimliche Stadt vernichtet mich. Unendliche Straßen! 
Eintönige Häuſer — ſo eintönig, daß man klingeln, eintreten kann, 
obne zu bemerken, daß man in einem fremden Hauſe iſt. 
E | Auf der Straße ift der Verkehr noch lebhafter, als in Paris; 
überall = man Männer, Frauen, Rinder auf Rädern. 

Die Sprache ijt teblig, ziſchend; ich verſtehe fie nicht. Alles ift neu und fremd. 

3m lebe in einem Vorort, in einem der unzähligen kleinen, roten, gemüt- 
lichen Häuſer. Mein Bekannter aus dem ruſſiſchen Leſeſaal hat mich an ſeinen 
Freund, einen Sortierer aus einer Typographie, gewieſen. Dieſer dienſtbereite 
und freundliche Jüngling half mir, mich einzurichten, und will mir London zeigen. 

Sonnabend, 3 Auguſt. Nach den franzöſiſchen Familien, in denen 
höchſtens zwei, drei Kinder ſind, wirkt der Kinderreichtum der engliſchen doppelt 
auffallend. Beſonders bemerkenswert iſt die Überzahl der Frauen. Überall trifft 
man fünf, feds Töchter, ein, zwei Söhne — oder gar keinen. Und da alle eng- 
liſchen Frauen Rad fahren, ſieht man mehr Radlerinnen als Radler. 

Anglückliche Miß! Sie haben zu wenig Männer, und es entſteht gewaltſam 
das dritte Geſchlecht.— — — 

Montag, 5. Auguſt. 3d ſehe mir London an. Ich war in Weſtminſter, 
in der Nationalgalerie. 

Die großen Entfernungen und die Schwierigkeit der Orientierung machen 
mich ſehr müde. Man muß, um hier verſtanden zu werden, nicht nur die Sprache 
völlig beherrſchen, ſondern auch die ſpezifiſche Londoner Ausſprache. 

Ein Erraten — das der Ruſſe dem Ausländer gegenüber anwendet — gibt 
es hier nicht. Sie find hier febr ſchwerfällig. 

Das bringt mich zur Verzweiflung; man ſucht, ſucht ein Wort, und niemand 
kommt einem zu Hilfe. 

In dieſen Tagen hatte ich auf der Poſt zu tun. Ich bat den Beamten, die 
Poſtanweiſung ſelbſt auszufüllen, um keinen Fehler zu machen. Obgleich er mich 
verſtand, wollte er mir in keiner Weiſe entgegenkommen, ſondern e bart- 
nädig ben Kopf unb ſagte: „No—o“, 


666 Zlfadeth Diakonoff 


Das brachte mich aus der Faſſung; ich fuhr ihn energisch an. 

Ein Ruſſe, Franzoſe hätte in derſelben Weiſe reagiert, dieſer zuckte nicht 
mit der Wimper. Ich wurde bdje, beſtand darauf; ſchließlich fügte er fic. 

Meine Mißverſtändniſſe wären unzählig, wenn es in London nicht Schutz- 
leute gäbe. 

Dieſe ſind vorzüglich. In beſcheidener blauer Uniform mit blauer Mütze 
findet man ſie überall; und überall erfüllen ſie ihren Poſten. Sie helfen den 
Alten, Schwachen, zeigen ihnen den Weg, begleiten ſie bis zum Omnibus und 
ſetzen fie hinein. Wit Bewohner des Kontinents find daran gewöhnt, daß Schutz- 
leute dazu da ſind, um einen nicht durchzulaſſen oder ſonſtwie zu behindern. Die 
engliſchen Schutzleute muten uns wie Weſen höherer Ordnung an. 

Sd traute meinen Augen kaum, als ich mich bei einem dieſer hochgewachſenen 
ſympathiſchen Gentlemans erkundigte und er alle meine Fragen ſofort ſchriftlich 
beantwortete. Er betrug ſich dabei, wie ein Herr aus der guten Geſellſchaft. 

8d fange an zu glauben, daß ſich der Charakter einer Nation vor allem 
in den Hütern der öffentlichen Ordnung äußert. 

In Berlin, wo alles an den Erinnerungen von 1870 zehrt, wo das „Kriege 
riſche“ an der Tagesordnung iſt, wo das Denkmal Wilhelms I. mit den reißenden 
Löwen ſo ſtolz emporragt, machen die Schutzleute in ihren Kriegshelmen einen 
durchaus kriegeriſchen Eindruck. Der franzöſiſche Schutzmann iſt einfach und 
ſchön gekleidet; um die Schulter hängt ihm ein Mantel; er macht den Eindruck eines 
eleganten, leichtbeſchwingten Schmetterlings, der jeden Augenblick bereit wäre, 
mit einer Dame ins nächſte Café zu eilen. 

Vom ruſſiſchen Schutzmann läßt ſich kaum reden; er iſt ungewandt, dumm 
und grob. 

And jeden Tag, ermüdet von den vielen Gängen durch die Stadt, ſchlafe 
ich ein im Gedanken an die Dienſtbefliſſenheit dieſer Gentlemans. Befriedigt 
dachte ich, daß es deren in London ganze 15 000 gibt. Unter ſolch einem Schutz 
läßt es ſich ruhig und furchtlos ſchlafen. 

Donnerstag, 8. Auguft. Wenn man eine engliſche Zeitung lieſt, 
fühlt man den Pulsſchlag eines mächtigen Lebens, des Lebens der Welt! Von 
ihrer kleinen Inſel aus beobachten die Engländer alles, was in der Welt vor ſich 
geht. Aus allen Enden der Welt bekommen ſie Nachrichten. Die Namen der 
Länder, die wir vor Jahren in unſeren Schulbüchern geleſen haben, werden hier 
lebendig; fie alle müſſen über jid) nach England berichten. Darum find die eng- 
liſchen Zeitungen ausgezeichnet. Die franzöſiſchen kommen ihnen nicht nahe. 
Wie bin ich ihrer überdrüſſig geworden! Die Franzoſen benutzen ihre Zeitung 
ausſchließlich als Parteiwaffe. Mit Ausnahme der erſten Seite iſt die ganze übrige 
Zeitung voller unbedeutender Nachrichten, Anekdoten, Selbſtmorde, Unglücksfälle; 
dann folgt der unvermeidliche Feuilletonroman, ſchließlich der letzte Teil bringt 
nur Annoncen. Das iſt alles. Eine Provinzialkorreſpondenz exiſtiert nicht — 
ebenfalls keine ausländiſche, keine koloniale. 

Um ſo mehr breiten ſich die Parteien in ihrem Gezänke aus. Man muß in 
der Parteipolitik gut bewandert ſein, um ſich durch dieſes Gewirr von Anſichten 


Eliſadeth Ptatonoff 667 


hindurchzufinden. Herr Soundſo ſchlägt fid) mit einem andern Herrn. Wer von 
ihnen hat recht? Die am beſten unterrichteten Zeitungen „Temps“ und „Journal 
bes Débats“ find konſervativ und teuer. Sie koſten fünfzehn Centimes, während 
in England eine jede Zeitung für zwei Kopeken käuflich iſt, wobei alle gleich gut 
unterrichtet ſind. 

Die ununterbrochenen Streitigkeiten müſſen auf den Leſer demoraliſierend 
wirken: er wird ſyſtematiſch dazu erzogen, ſeine Aufmerkſamkeit kleinlichen Plante- 
leien zu ſchenken. Damit wird ihm ein größerer Horizont völlig genommen. Aus 
dem Grunde ſind die Franzoſen wohl auch ſo ausſchließlich mit ſich beſchäftigt, 
unterſtützen ſie doch die Zeitungen darin nach Kräften. 

12. Auguft. Wir fahren inzwiſchen in der Beſichtigung Londons fort. 
Heute iſt Sonnabend. Um zwölf Uhr iſt die Arbeit beendet. Das Geſchäftsleben 
ſteht ſtill. Morgen gehen die Engländer alle zur Kirche; am Nachmittag werden 
Spazierfahrten unternommen. Zch habe mir ein gebrauchtes Rad gekauft, dei 
den großen Entfernungen iſt es nicht anders möglich, auszukommen. 

Die Engländerinnen fahren in Röcken, während die Franzöſinnen meiſt 
Pumphoſen tragen. Ich habe mir die hieſige Art zu fahren raſch angewöhnt, 
vor allem die gerade Haltung. 

Ich finde in meinem Charakter Züge, die denjenigen der Engländerinnen 
gleichkommen. Auch mein Außeres, obgleich ich Ruſſin bin, hat nichts Slawiſches. 
Die für die Slawinnen charakteriſtiſche hohe Bruſt und die gewölbten Hüften 
fehlen mir — ich bin ſehr normal gebaut. 

Die Einrichtung der engliſchen Häuſer findet mein großes Gefallen, ihr 
Komfort, die Fähigkeit, ſich gemütlich einzurichten. In ihren Zimmern findet 
man nicht die franzöſiſche Buntheit, ſie ſind nicht voll von Möbeln, wie in Paris, 
wo man ſich nicht umdrehen kann, ohne daß irgend ein Bibelot herunterfällt. Sie 
ſind hell, groß, mit einer vornehmen Eleganz der Einrichtung. Die Kamine ſind 
größer und gemütlicher als in Frankreich. Um dieſe Jahreszeit werden ſie nicht 
geheizt, aber ſchon nach ihrem Außeren zu urteilen kann man ſich vorſtellen, wie 
angenehm ſie an kalten Winterabenden ſein müſſen, wenn ſich die Familie am 
Feuer einfindet. 

Der engliſche Kamin erfüllt dieſelbe poetiſche Aufgabe, wie bei uns zu Haufe 
der Samowar. Nicht umſonſt iſt er von den Dichtern viel beſungen worden. 

Es wird vielfach behauptet, der Engländer fei für Poeſie, Kunſt völlig ungu- 
gänglich. Welch ein Vorurteil! Sie ver ügen über eine eigentümliche Kunſtauffaſſung; 
ſie ſpricht ſich in der ausgeſucht ſchönen Wohnungsausſtattung deutlich aus. 

Ihr praktiſcher Sinn hat diefe Kunſt der Lebenshaltung volkstümlich gemacht, 

ſie aufs Volk übertragen. Es iſt charakteriſtiſch, daß die großen Schönheitsapoſtel 
William Morris und Zohn Ruskin, die die Kunſt dem Volke zugänglich machen 
wollten, Engländer waren. 
Die eleganten franzöſiſchen ſtilvollen Salons ſchätze ich nicht hoch ein —- fie 
ſind dem Volke unzugänglich. Hier lebt der Arbeiter in einem reinen Hauſe, das 
ſo zweckmäßig und gut gebaut iſt, daß ſelbſt ein ruſſiſcher intelligenter Mann beim 
Anblick desfelben neidiſch werden könnte, 


668 Elifabeth Diatono Ff 


Wie ſchön find die engliſchen Gärten! Sie find das Schönſte von London. 
Bei uns in Rußland wirkt die Natur in den Städten wie eine zerlegte Torte; ſie 
iſt zerſchnitten, gleichmäßig, ordentlich — und in einzelne Stücke geteilt. Es iſt 
daher verſtändlich, daß man überall die Aufſchrift trifft: Das Beſchreiten des 
Graſes, Verlegen der Bäume, Pflücken von Blumen ijt ſtrengſtens unterfagt. 
Hunde ſind an der Leine zu führen. 

Hier gehen alle umher, als wären ſie zu Hauſe. Sie lagern ſich überall, 
leſen, ſchlafen. Anfangs glaubte ich immer, daß die bekannte Figur des Schutz- 
manns auftauchen würde, um eindringlich zu befehlen: Das Betreten des . 
ijf verboten. — — 

Montag, 12. Aug uſt. Ich bin unſäglich müde. Wie viele Tage ſind 
vergangen, ſeitdem ich hier bin? Wenn ich doch einen Brief von ihm hätte! — 

Aber was ſoll ich ihm ſchreiben? Natürlich als Patientin dem Arzte, — 
obgleich ich mich geſund fühle... es geht nicht anders; fo ſchreibe ich ihm denn: 

„Herr Doktor! Ich bin am Ende meiner Kraft — ich kann nicht mehr 
Ich weiß, daß ich mich nicht an Sie wenden ſollte — aber mein Leid beherrſcht 
mich völlig; Stolz, Ehrgeiz ſind mir fremde Begriffe — ich kenne nichts anderes 
als allein den entſetzlichen Zuſtand ſchwerſten Leidens — die einzige Erlöſung 
würde mir der Tod gewähren. Fürchte ich mich vor ihm, vor jenem ungekannten 
Senfeits? Wie iſt die Kraft zum Leben zu finden, wie der Todestag zu ertragen? 
Niemand hat dieſe Frage Nietzſches beantworten können ..., wer ſollte mir eine 
Antwort geben?“ 

15. Auguft Donnerstag. 8d bedauere es nicht, ihm geſchrieben 
zu haben! Ich führe jetzt ein tätiges Leben. Meine Fortſchritte im Engliſchen 
ſind freilich nur klein. Mit meinem Bekannten ſpreche ich ruſſiſch; die übrige Zeit 
ſehe ich mir London an; ſo fehlt es mir an Übung im Engliſchen. 

16. Auguſt, Freitag. Heute morgen erblickte ich auf dem Kaffeetiſch 
ein Kuvert mit der ſchönen Handſchrift. Was für ein . es in Händen zu halten 
— welch ein Leiden, den Brief zu leſen! 

„Verehrtes Fräulein,“ las ich, „Sie ſind ſeeliſch viel z zu 1 kompliziert, Sie find 
viel zu ſehr Verſtandesmenſch, Sie grübeln zu viel unb laffen fid) von Ihren Ideen 
zu febr beſtimmen! Denten Sie an die Worte der Schrift: ‚Selig find, die da geift- 
lich arm find, denn das Himmelreich ijt ihr ... Sie können ja eine Ihnen ent- 
ſprechende Anwendung machen — eine, die Ihnen als die richtige erſcheint. Ich 
meinerſeits will Ihnen meine Auslegung mitteilen: Der da ſucht, der findet nicht, 
der da denkt, denkt ſich in einen Abgrund hinein, der da wiſſen will, wird nichts 
wiſſen; der Menſch iſt beſtimmt durch die Begrenztheit ſeines Gehirnes, er ſucht 
ſich zu ſteigern, groß zu werden, mit Hilfe der Wiſſenſchaft das Unendliche zu er- 
reichen — und was gelingt ihm ...? Nur noch härter fühlt er die Grenze, die 
ſeiner Sehnſucht geſetzt iſt: je mehr er weiß — deſto mehr erkennt er, daß er nichts 
weiß . . . und er leidet; je mehr er leidet — deſto mehr verachtet er das Leben, 
das er leben muß; je mehr er verachtet — deſto mehr wächſt die Sehnſucht nach 
dem Tode. Das iſt, mein Fräulein, Ihr Leiden! Sie werden aus dem Kreislauf 
von Leben und Tod nie herauskommen. Begnügen Sie ſich mit der Vorſtellung: 


Elifabeth Olakonoff 669 


ich bin nichts, ſelbſt wenn die Vorſtellung in mir lebt, id) [ei etwas. Denn — Sie 
können nicht weniger ſein, als Sie ſind — aber auch nicht mehr. 

Sie find eine Form, eine Geſtaltung unter ben zahlloſen Formen im Welt- 
all. Das, was alle Atome gemein haben, was ſie verbindet — das iſt das Leben. 
Der Menſch ſelbſt als einzelner iſt ein Zufall. Begnügen Sie ſich damit, „Zufall“ 
zu fein; Ihre Leiden, Ihre düſtere Weltanſchauung werden damit hinfällig. 

a. Sch eile zum Schluß. Nur noch ein Gedanke: Verantwortlich find Sie für 
nichts, weder für die Gedanken, die Sie quälen, noch für Ihren Wunſch des Gelbjt- 
mordes — denn Sie handeln nach einem Muß Zhrer Perſon in jedem Fall, ob 
Sie dieſen Wunſch in Tat umſetzen oder nicht. Wenn Sie ſich opfern müſſen 
ſo werden Sie ſich opfern. Sie werden es tun, wenn Sie es müſſen; wenn Sie 
leben müſſen — werden Sie leben. Das einzige Mittel, das ich 3bnen anempfehlen 
könnte, um Ihre Energie und Aktivität zu ſtählen — wäre zu arbeiten ohne Fragen 
in bezug auf Ihr Schickſal. Als Sie nach Frankreich kamen, waren Sie ſich über 
Ihre Zukunft ganz ebenſo unklar wie jetzt: daher tun Sie das, was die Gegenwart 
von Ihnen will, ſtellen Sie keine überflüſſigen Fragen, nur bann beherrſcht man 
lid. wahrhaft, wenn man mit bem Verantwortlichkeitsgefühl aufräumt. E 

zn der Hoffnung, mein Fräulein, daß Sie meinen aufrichtigen Wunſch, 
Sie möchten Ihr Gleichgewicht wieder erlangen, nicht als eine höfliche Schluß 
formel dieſes Briefes empfinden, grüßt Sie Ihr ſehr ergebener 

Zencelet.“ 

Was für ein kalter, vernünftiger Grief! Und wie gut gefchrieben. Über 
ſolch eine Sprache verfügt in Frankreich jeder gebildete Menſch — bei uns ſchreiben 
einen ähnlichen Stil nur bie talentvollſten Schriftſteller. 

Obgleich dieſer ganze Brief eine trockene, gefühlloſe, abſtrakte Abhandlung 
iſt. iſt mir jedes Wort teurer als alle Reichtümer der Welt. 

— Wenn doch nur weniger Reflexionen wären, etwas mehr inſtinktive Re- 
gung der Seele. Ich wäre ja ſchon glücklich, wenn er nur Sympathie für mich 
empfinden würde ... aber auch diefe fehlt. Warum hat er „Ihr febr ergebener“ 
darunter geſetzt? 

Ach, wenn er es wirklich wäre! 

Sonntag, 18. Auguft. Warum babe id) ihm geſchrieben? Zebt find 
alle Mauern, bie ich vor der Wirklichkeit aufbaute, zerſtört. Alle die neuen Çin- 
drücke, die neuen Orte ziehen meine Gedanken von ihm nicht ab. Die Einſamkeit 
hier im Lande, deſſen Sprache ich nicht einmal beherrſche — iſt ſchrecklich. Immer 
häufiger beginne ich an Frankreich zu denken. Was ſoll ich tun, was ſoll ich tun?! 

Montag, 19. Auguft. Der „Oeutſche“ bat eine große Dummheit be- 
gangen. Er iſt mir nach London nachgereiſt und verfolgt mich mit Eiferſucht. Ich 
wurde böje unb bat ibn, fid) zu entfernen. Nein, nein — ich muß von biet wegreiſen. 

„ Das ijt nun der Dank dafür, daß man nur für feine Bücher Augen gehabt 
hat und an den Männern vorbeigegangen iſt. Während der Vorbereitung zum 
Examen beachtete ich ſeine Schwärmerei nicht — ich hielt ſie nicht für ernſt. Nun 
ift es fo weit gekommen, daß er (id) wie ein Verrückter gebärdet! Ich werde durch 
ihn viel Unannehmlichkeiten haben. 


670 Glifabetb Diafono ft 


Sa, ich bin bieles Londons müde, müde aller biejer Torheiten. Ich werde 
in die Provinz reifen — ans Meer. Oort werde ich ausruhen! Dort bin ich Frank- 
reich naher! 

In der Nähe der Inſel Wight liegt der Kurort Bournemouth — er foll ſchön 
ſein. Dicht daneben befindet ſich das Städtchen Southbourne on Sea, dort läßt 
es ſich billig leben. Dahin will ich reiſen. 

Southbourne on Sea, 23. Auguft. Vor ben Fenſtern meines 
kleinen Holz-Cottage liegt eine ſtille engliſche Landſchaft. Auf der kleinen Wieſe 
ſtehen vereinzelte Bäume; die Landſtraße zieht fid) wie ein weißes Band, umjdumt 
von Brombeerſträuchern weit ins Land hinein; ringsherum ſieht man huͤbſche 
Häufer in gepflegten Garten. Das Meer iſt eine Viertelſtunde entfernt. Überall 
iſt Ruhe — aber nicht jene tiefe Ruhe unſerer ruſſiſchen Provinz, es iſt eher ein 
Ausruhen. Die Straße iſt ſehr belebt, man ſieht beſtändig Automobile, Omnibuſſe, 
Radler 

Sch lebe hier ruhig und eintönig, lerne Engliſch, bade im Meer, helfe meiner 
Wirtin Miffis Johnſon bei ihrer Arbeit im Gemüſegarten. 

Sd habe erfahren, daß in unſerer Nachbarſchaft ein Freund des „großen 
Schriftſtellers“ (gemeint ijt Tolſtoi. D. Überf.) lebt. Gewiß ijt es ein bedeutender 
Menſch. Im Verkehr mit ihm läßt ſich wohl Vieles vergeſſen und viel lernen. 

26. Auguft. Unfere ruſſiſche Tracht liebe id) über alles. Im Sommer 
gibt es bei der Arbeit nichts Bequemeres als den Garafan. Zur Freude der Eng- 
länder zog ich ihn an. Seitdem verfolgt mich der Ruf: very, very nice. 

Wenn ich ſpät abends nach Hauſe gehe, wird mir häufig „good night“ zu- 
gerufen. 

Einen Augenblick machen dieſe Kehllaute die Stille laut und verklingen 
dann harmoniſch. Eine dunkle Geſtalt geht vorbei — es ſteigt ein ſo warmes 
Gefühl bei dieſem Gruß in einem auf. Auf einen Augenblick verbindet man ſich 
mit dieſem Bruder und antwortet mit ganzer Seele: good night. 

Mittwoch, 28. Auguſt. Heute lernte ich meine Petersburger Lands- 
leute kennen. ö 

Daß er ein Freund des großen Schriftſtellers iſt, ſchon das allein gibt ſeiner 
Perſon Weihe. 

Wenn die Sonne aufs Waffer ſcheint, fo blendet einen die Vaſſerfläche fo 
ſtark, daß einem die Augen ſchmerzen. 

Ich war voll geſpannter Erwartung! 

Er kam mir einfach und freundlich entgegen. 

„Es freut mich, Sie kennen zu lernen. Wo ſtudieren Sie?“ 

„In Paris. 83d bin Zuriſtin.“ 

„Warum haben Sie gerade dieſes Fach erwählt?“ 

„Ich will Advokatin werden.“ 

„So. Dann werden Sie wohl den Männern ſchaden?“ 

Ich war erſtaunt und verletzt. 

„Nun, hör auf, ſiehſt du, du haſt das Fräulein traurig gemacht“, ſagte die 
Frau verſöhnend. Sie war nicht mehr jung, aber von auffallender Schönheit. 


Clifadeth Olatonoff 671 


Ich ſuchte ihm zu beweifen, daß es gar nicht in ber Abſicht der Juriſtinnen 
liegt, den Männern zu ſchaden; im Gegenteil, wir ſuchen ihnen entgegenzukommen. 
Wir wollen dem Volke in Rechtsſtreitigkeiten beiſtehen — und dann wollen wir 
für das Recht der Frau eintreten, die Selbſtändigkeit ihrer Exiſtenz ſoll gewahrt 
werden. Sie ſoll dieſelben Bürgerrechte haben wie der Mann. 

„Warum Rechte?“ 

„Wenn man das Recht überhaupt ablehnt, dann allerdings braucht ſie es 
nicht. Doch wir leben nicht in einer Traumwelt; die Frau hat es bei ihrer juri- 
diſchen Nichtgleichberechtigung mit dem Mann überaus ſchwer. Wir werden unter 
denſelben Bedingungen geboren wie die Männer; wir wollen leben; welches ſind 
unfere Waffen im Kampf für die Exiſtenz? Ich habe in Petersburg die Frauen- 
furfe abfolviert — welche Rechte habe ich dadurch gewonnen — gar keine. Fh 
darf nicht einmal ein weibliches Gymnaſium ſelbſtändig leiten, — es muß ein 
Direktor an der Spitze ſtehen, obgleich unſere Bildung die gleiche iſt.“ 

Er hörte ſchweigend zu — als wären meine Worte Luft fiir ihn, völlig finn- 
los. Daher nahm das Geſpräch eine andere Richtung — es betraf Paris, die 
Univerfitat, die Studenten. 

Vielleicht entdec ich bei näherer Bekanntſchaft jenes „Eigentümliche“, das 
Tolſtois Seele zu ihm hinzieht. 

31. Auguft. Allmählich bin ich im Kreiſe meiner Landsleute bekannt 
geworden. 

Sie leben hier alle zuſammen wie eine Familie, in einem großen Haufe am 
Ufer des Meeres. Der Garten, der Gemüſegarten, die herrliche Ausſicht machen 
das alles ſehr verlockend. Durchreiſende werden überaus gajtfrei aufgenommen. 
Man trifft hier die allerverſchiedenſten Menſchen. Es reifen auch Schriftſteller, 
Gelehrte durch. Meiſtens bleiben ſie dann lange. 

Der Bruder der Hausfrau iſt verabſchiedeter Offizier, ein ſehr ſympathiſcher 
junger Mann. Er arbeitet fleißig im Garten und hat dabei eine Hilfe am Sohne 
eines febr reichen Moskauer Kaufmannes. Er gibt jid) als Tolſtoianer aus. Sch 
ſchloß mich ihnen an und begann eifrig mitzuarbeiten. Phyſiſche Arbeit in friſcher 
Luft bekommt mir ausgezeichnet. Sie entwickelt die Kraft, erweckt Energie und 
läßt eine gleichmäßig ruhige Stimmung in einem anhalten. 

Des Morgens lerne ich Engliſch, dann gehe ich arbeiten und kehre abends 
müde heim, um einen traumloſen Schlaf zu ſchlafen. 

Montag, 2. September. Den geſtrigen Tag werde ich nie vergeſſen. 
Wir fuhren auf eine Verſammlung in Bournemouth. Er bot mir einen Platz im 
Wagen an und kutſchierte ſelbſt. Unterwegs begann er ein Geſpräch über das Ziel 
des Lebens und fragte, ob ich ihn anhören wolle. 

Obgleich ich niemandes Erfahrungen für meinen perſönlichen Lebens vlan 
brauche — fo wollte id) feine Gedanken doch hören. 

„Das Ziel des Lebens iſt — dem Guten zu dienen. Ihre Aufgabe beſteht 
in der größtmöglichen Erfüllung des Guten.“ 

Sekt endlich beginnt ein intereſſantes Geſpräch, dachte ich und fragte er- 
ſtaunt über diefe kühne Theſe: 


672 Eiifadeth Diatonoff 


„Was ſoll id) tun?“ 

„Das Gute.“ 

Das war ſehr unbeſtimmt. 

„Aber worin foll es beſtehen, können Sie es mir fagen? Sie können viel- 
leicht leben, ohne ſich den Kopf über ihre Exiſtenzmittel zerbrechen zu müſſen. Ich 
dagegen kann diefe Frage in der Zukunft nicht umgehen. Nun babe id) Ihnen wohl 
ſchon gejagt: die pädagogiſche Tätigkeit zieht mich nicht an; es wäre daher un- 
ehrlich, mich dieſem Berufe zu widmen. Auch die Medizin liegt mir fern. Wenn 
Sie mir daher einen Rat geben wollen, mir perſönlich, fo müſſen Sie in Betracht 
ziehen, daß ich früh oder fpät werde fragen müſſen: wovon foll ich leben?“ 

„Leben Sie und verbreiten Sie möglichſt viel Gutes um ſich.“ 

„Ja, beantworten Sie erſt meine Frage!“ ſagte ich unwillig. 

Er zuckte die Schultern. 

„Werden Sie Gouvernante!“ 

„Ach, lieber verlöre ich meine Zunge!“ fiel mir der verzweifelte Ruf des 
Helden im Gogolſchen „Porträt“ ein. Und ich ſagte es laut. 

Mit einem Male war alle Weihe von dieſem Menſchen geſchwunden. Er 
erſchien mir, wie er wirklich war — ein reicher Ariſtokrat, den die Frauenfrage 
nie gekümmert hatte. 

Das Blut ſtieg mir in die Wangen, ich fühlte mich verletzt. Nicht der törichte 
Rat kränkte mich, nein, ſondern der Gedanke bedruckte mich, daß meine Erwartungen 
ſo vollkommen getäuſcht waren. 

Es war dunkel; er konnte nicht ſehen, was für ein bitteres Lächeln mein 
Geſicht entftellte. 

Wie oft habe ich ſolche Reden von Männern gehört! Aber dieſe überbot 
alle an Selbſtbewußtſein, Selbſtzufriedenheit — Oberflächlichkeit. 

3m entgegnete ihm nichts. Er jedoch ſchien febr befriedigt zu fein, daß er 
mir dieſe „Wahrheit“ geſagt hatte. 

Mittwoch, 4. September. Als ich heute in den Gemüſegarten trat, 
war mein „Arbeitgeber“ verſchwunden. Als ich ihn ſchließlich auf dem Hinterhof 
traf, fand ich ihn damit beſchäftigt, Miſt auf eine Karre zu legen. 

wait heute Feiertag für mich?“ fragte ich erſtaunt. 

„Nein, ſehen Sie, ich muß die Beete für den Kohl graben. Da muß Miſt 
hineingelegt werden. Das mache ich am beſten ſelbſt.“ 

„Ja, laſſen Sie mich doch den Mift hineinſchaufeln!“ 

Bis jetzt hatte ich alle Arbeiten verrichtet, aber daß eine Studentin der 
Pariſer Univerfitdt Mift ſchaufelte, ſchien ihm doch zu unpaſſend. 

Er ſtand unentſchloſſen da. 

Ich lachte auf. 

„Was iſt denn dabei? Glauben Sie, daß ich es nicht leiſten kann?“ 

Und als Beweis dafür nahm ich die Miſtgabel in die Hand, füllte den Karren, 
(dob ihn in den Gemüſegarten und kehrte dann zurück. 

Ohne etwas zu ſagen, hatte er unterdeſſen den zweiten Karren gefüllt. 

Seine Schüchternheit ſchwand allmählich; in kurzer Zeit war die Arbeit im Gang. 


Qlifadeth Diatonoff 673 


Zum Schluß ſchüttelte er mir warm die Hand, unb ich fab, daß er im Grunde 
der Seele erſtaunt war, daß ich dieſe Arbeit nicht verſchmäht hatte. 

Ich würde ja felb(t nach Sibirien gehen, mit den Verbrechern arbeiten, 
um mir ſelbſt zu entfliehen. Wie ſollte mich dieſe Arbeit abſchrecken? 

Donnerstag 5. September. Trotz dieſer täglichen Arbeiten gehe 
ich in Mondnächten hinaus ans Meer — um zu träumen. Fern, fern ſieht man 
die Umriſſe der Inſel Wight — und dann dahinter die franzöſiſche Küſte ... Paris! 
In dieſer mächtigen Stadt exiſtiert nur eine Straße für mid) — Rue Brézin, 5, 
wo er lebt. 

Und meine Gedanken fliegen weit, weit weg! Sch ſchließe die Augen, und 
wieder erſteht vor mir die einſame Straße in ber ſtillen Funinacht ... Ich gehe 
fie entlang, an feinem Haufe vorbei, ich beſchleunige die Schritte, in der Angſt, 
daß ich ihn treffen könnte. 

Unter dem Einfluß dieſer Mondnacht hebt meine Phantaſie ihre Schwingen. 
Wenn er mich liebte, könnte keine Frau auf Erden glücklicher ſein als ich. Dann 
würde ich zu ihm ſagen: „Liebe meine Heimat, komm, laß uns zuſammen für 
ſie arbeiten gehen.“ — Wir würden nach Rußland reiſen, ich würde ihn Ruſſiſch 
lehren, — und dann ziehen wir zuſammen in ein kleines Dorf im Koſtromaſchen 
Gouvernement. Er würde die Bauern heilen, ich würde ihnen in Rechtsfragen 
beiſtehen. Und in der freien Zeit müßte er alles das über unſere ruſſiſchen Ber- 
hältniſſe hören, was die Zeitungsſpalten füllt. 

Wir hätten keine Kinder — nicht weil ich ſie nicht liebe, ſondern weil ich 
ſie zu ſehr liebe, weil es roh wäre, ihnen ein ſo unerträgliches Leben, wie es das 
jetzige iſt, zu ſchenken. 

Wir würden ein langes Leben führen und hinausgehen aus dieſer Welt 
im Gedanken, eine große Pflicht erfüllt zu haben, wie müde Arbeiter, die die 
Ruhe verdient haben. 

Und dann gewährte uns das Glück vielleicht einen gemeinſamen Tod... 

Das Volk wird ihn in treuer Erinnerung behalten, weil er als Aus- 
länder das arme ruſſiſche Volk fo liebte, daß er darüber fein herrliches Frank- 
reich vergeſſen konnte, daß er in die Kälte, in die Einſamkeit zog, um Arme zu 
tröſten. 

So träumte ich, und mein $e ſtand ftill im Gedanken an fold ein Glück. 

Sonnabend, 7. September. Dieſer Tage ſind hier zwei junge 
Ruſſen angelangt. Der eine war Hauslehrer in einer ruſſiſchen Familie in Cam- 
bridge und reiſt mit ſeiner Mutter nach Petersburg. Der andere iſt Gelehrter und 
ſtudiert engliſche Sekten. Der Arzt hat ihm den Aufenthalt in London für längere 
Zeit unterſagt und ihn aufs Land geſchickt. Er ſoll möglichſt viel in friſcher Luft 
ſein. Er kam nicht allein, ſondern mit einer Arztin, die nach Petersburg reiſt, 
um ſich dort ihrer Schlußprüfung zu unterziehen. Was ſind das für ſympathiſche 
junge Menſchen! Der Tolſtoianer hat für mich wenig übrig. Er iſt ſehr einſeitig 
und ſcheint in mir nichts gutzuheißen, weder meine Ideen in bezug auf die Gleich- 
berechtigung der Frau, noch mein Studium in Paris; ſogar meine körperlichen 
Anſtrengungen mißfallen ihm. Bei jeder Gelegenheit hält er ſeine ne ESEN: 

Der Türmer XV, 5 


674 Glifabetb Siakonoff 


Und jedesmal möchte ich ihm ſagen, daß ich in feinen Beziehungen zu mir feines- 
wegs brüberlide Nachſicht und „Güte“ finde. 

Den Lehrer ſehe ich wenig. Er reift heute weg. Er ijt ein guter Durchſchnitts- 
menſch und recht muſikaliſch. 

Von dem jungen Gelehrten erwarte ich viel mehr und hoffe, mit ihm einmal 
im Garten zuſammenzutreffen. Er arbeitet hier zwei bis drei Stunden täglich. 

Wir arbeiteten nebeneinander. Ich begann ein Geſpräch. Die Antworten 
lauteten „ja“ und „nein“, durchaus in höflichem Tone, aber dabei doch ſehr un- 
befriedigend. 

Sobald ſeine Bekannte auftritt, läßt er die ganze Arbeit und eilt ihr nach. 

„Ihre Beziehungen ſind nicht recht klar, immer wandern ſie zuſammen“, 
ſagte der Herr des Hauſes. 

Sch habe fie fo gut begriffen. Nur verſtehe ich nicht, warum er, wenn er in 
die Frau verliebt iſt, ſo rückſichtslos, ſo kalt, ſo zurückhaltend gegen eine andere 
Frau iſt, die zufällig neben ihm ſteht. 

Ich kokettiere ja nicht mit ihm; ift er denn nicht imſtande, den übrigen Frauen 
gegenüber ein juste-milieu aufrecht zu erhalten und ganz kameradſchaftlich mit 
ihnen zu verkehren? 

Vorſichtig fragte ich ihn nach Wiſſenſchaft, Literatur. Dann ging ich auf die 
Wirklichkeit über und fragte, ob ihn phyſiſche Arbeit befriedige. 

„Ich haſſe ſie und tue ſie nur auf Vorſchrift des Arztes“, ſagte er. 

„Was gefällt Ihnen denn?“ 

„Geiſtige Arbeit.“ 

„Warum verhalten Sie fich fo mißbilligend zur phyſiſchen Arbeit? Fm Grunde 
brauchen wir fie febr. Und haben Sie nicht das Bedürfnis, Ihre Muskeln zu betäti- 
gen — nicht Gymnaſtik zu machen, fondern eine zweckmäßige Arbeit zu verrichten?“ 

„Es iſt mir unangenehm, zu arbeiten. Nun ſehen Sie, ich grab, grab — 
wenn ich fertig bin, gehe ich ſchreiben.“ 

Ich wollte ihn fragen, ob feine literariſche Tätigkeit auch wirklich fo talent- 
voll, fo nützlich wäre... Vielleicht ijt fie viel weniger nützlich, als dieſe friſch 
aufgeworfenen Beete. Er habe kein moraliſches Recht, die Arbeit, wie ſie von 
Millionen von Menſchen verrichtet wird, gering einzuſchätzen. 

Er hörte mich nachſichtig an und ſagte dann hartnäckig: 

„Und doch liebe ich dieſe Arbeit nicht; der Schreibtiſch zieht mich mehr an.“ 

ich blickte auf feinen Kopf; er war groß, wohlgeformt mit einer gut ent- 
wickelten Stirn — und doch fehlte ihm jener „Entdeckerausdruck“, der große, welt- 
umwälzende Ideen verkündet. 

Und ich dachte mir: Lohnt es ſich, Bücher zu ſchreiben, die in das große Meer 
der Vergeſſenheit geraten, an denen die Menſchheit achtlos vorübergeht — ? 

Sch ſchwieg. Er ſprach auch nichts mehr. Kaum zeigte ſich in der Ferne die 
Geſtalt der Arztin, ſo warf er die Schaufel weg und eilte ihr nach. 

Mein „Arbeitgeber“ im Gemüſegarten iſt der ſympathiſchſte von allen. In 
ihm findet ſich jene unmittelbare Güte, die man ſo ſelten unter den Menſchen trifft. 

Als verabſchiedeter Offizier verfügt er natürlich nicht über viel Bildung, 


Ellſabeth Oiakono ff 675 


aber er hat einen guten Verſtand und ift äußerft taktvoll. Dabei ſprechen wir häufig 
über die verſchiedenſten Fragen; mir gefällt jene Einfachheit, mit der er die Arbeit 
verrichtet. Sein ganzes Weſen drückt den Gedanken aus: „So jemand unter euch 
der Erſte ſein will, der diene den anderen.“ 

In dieſen Tagen radelten wir in großer Geſellſchaft. Ich fuhr neben ihm. 
Wir ſprachen über das Leben, die Ehe, die Liebe. 

„Haben Sie jemals geliebt?“ fragte er plötzlich. 

Wie ſollte ich ihm in einem oberflächlichen Geſpräch das mitteilen, was ich 
ſelbſt abwies? 

„Niemals“, ſagte ich daher kühn. 

„Wie alt ſind Sie?“ 

„In dieſen Tagen werde ich ſechsundzwanzig ...“ 

„Unmöglich!“ rief er erſtaunt aus. 

Ich beſchleunigte die Fahrt. Wir fuhren aus dem Walde heraus. Es ging 
bergab. Das Rad ſchoß pfeilſchnell herab; als er mich einholte, ſaß ich ſchon unten 
auf ber Wieſe im Kreiſe der übrigen Teilnehmer, und das Geſpräch nahm eine 
andere Richtung an. 

9. September. Montag. Fc verſuche immer mehr auf diefe Men- 
ſchen einzugehen. Ich erwarte von ihnen etwas ... Ich warte darauf, daß fie 
mir nähertreten, daß ſie es verſtehen, wie abhängig ich von ihnen bin, wie ſehr ich 
ihrer Teilnahme bedarf. 

Doch nein, jeder ift mit feinen Dingen zu febr beſchäftigt. Alle mit Aus- 
nahme des Offiziers, der ganz harmlos mit mir verkehrt, im Grunde aber un- 
perſönlich. Ich fühle, wie fid) zwiſchen mir und dieſen Menſchen eine unüberfteig- 
bare Mauer aufrichtet. Keine Predigt der Liebe vermag die Menſchen zu ändern. 
Nur der als gütig geborene Menſch verbreitet allein Güte um ſich, ganz unbewußt, 
ganz unabhängig von irgendeiner Weltanſchauung. Wenn dieſe Gabe von Natur 
fehlt — ijt alles umſonſt. Man kann Tolſtoianer fein, reformatoriſche Ideen ver- 
künden — man bleibt ein Menſch von ganz mittelmäßiger Herzlichkeit. 

Ebenſo wie es große, mittlere und kleine Geiſter gibt — ſo ſind auch die 
Seelen von ganz verſchiedener Wertanlage. 

Die Menſchheit braucht dieſe und jene. 

Es iſt charakteriſtiſch, daß der nächſte Freund des großen Schriftſtellers nicht 
mehr Güte beſitzt als jeder Durchſchnittsmenſch. 

Es ijt ſofort zu bemerken, daß feine Überzeugungen zuerſt im Kopfe ent- 
ſtanden ſind und er ſich zu dem gemacht hat, was er ſein wollte. 

Mit ſeiner eintönigen, erlernt- ruhigen Stimme ſpricht er zu allen Menſchen 
gleich; in ſeinen Gewohnheiten iſt er derſelbe geblieben, der er früher war — der 
Herr, der Ariſtokrat. 

Er ſchreibt Bücher in engliſcher, ruſſiſcher Sprache — er empfängt viel Be- 
ſuch, er hat ſein Leben bis zum äußerſten vereinfacht. Als Schreibtiſch dient ihm 
ein gewöhnlicher ungehobelter Tiſch — dabei wird die ganze umfangreiche Arbeit 
im Haufe von einem armen Meferteur, dem Soldaten Mitjta, geleiſtet. 

„Was würden wir ohne ihn anfangen!“ ruft er häufig aus. 


676 Elifabeth Piatonoff 


Da ziehe ich Miſſis Sobnjon vor, deren Gaſtzimmer elegant eingerichtet ift, 
die den Fußboden wäſcht, die Wäſche beſorgt, und das ohne viel Worte — weil 
ſie es von Kindheit auf gewohnt iſt. 

Wie oft wollte ich ihm den Rat geben: „Sagen Sie fih doch von den Dienft- 
boten los, deren Fleiß es Ihnen ermöglicht, Ihren Liebhabereien nachzugehen. 
Zwiſchen Wort und Tat liegt bei Ihnen ein Abgrund, ja ein ſolcher Widerſpruch, 
daß ſich in meiner Seele ein dumpfer Widerwille geltend macht.“ 

Das Wort fällt mir ein: „Leichter kommt ein Kamel durchs Nadelöhr, als 
ein Reicher ins Himmelreich!“ — 

Es iſt nutzlos zu reden. 

Geſtern wurde vor den Fenſtern ſeines Arbeitszimmers Kohl geſchnitten. 
Er ſteckte ſeinen Kopf zum Fenſter heraus und fragte: 

„Was bedeutet das?“ 

„Wir hacken Kohl“, antwortete das Stubenmädchen. 

„Ach ſo!“ ſagte er erſtaunt. 

Und dieſer Menſch, der fo viele Sabre im Dorfe gelebt batte, der jo häufig 
Sasnaja Poljana beſucht batte — ein Demokrat — hatte das noch nie geſehen. 

Der „große Schriftſteller“ näht fih ſelbſt feine Stiefel und baut Ofen 

Darin liegt der Unterſchied zwiſchen dem genialen Menſchen und dem ge- 
wöhnlichen, daß jener, wenn er zu einer beſtimmten Erkenntnis gekommen iſt, 
ſie eindeutig im Leben durchzuführen ſucht; er verſteht alle Seiten des Lebens 
mit dieſer einen Idee zu durchdringen. 

Meine Enttäuſchung iſt tief, ſchmerzlich ... beleidigend. 

11. September, Mittwoch. In Bournemouth lebt die Familie des 
Petersburger Journaliſten Derwald, des Berliner Korreſpondenten der Zeitung 
„Das Wort“. Obgleich er einen deutſchen Namen trägt, ift er echter Ruffe. Er hat 
ein auffallend intelligentes Geſicht — das von viel Verſtand zeugt. Zuweilen 
gleitet ein ironiſches Lächeln über ſeine Züge. Seine Familie lebt ſtändig in die⸗ 
ſem Kurort, da er es für zu umſtändlich hält, ſie überallhin mitzunehmen, wohin 
ihn die Redaktion ſchickt. 

Von Zeit zu Zeit iſt er hier. Dann werden endloſe Debatten geführt, wie 
ſie bei uns in Rußland ſo beliebt ſind — über die Zeit, den Marxismus, das Volk, 
die Fabriken uſw. 

Ich höre mit Zntereſſe zu. 

Die Männer behaupten es gern, daß Frauen geſchwätzig ſind. Das iſt nicht 
der Fall. Sie lieben es ſelbſt, zu ſprechen und ſich zu hören. 

Der Frau ijt es ſchwer, ja faſt unmöglich, fid an den Geſprächen zu beteiligen. 

Alle ſchreien durcheinander. 

Ich bin nicht dümmer als fie, auch ſtehe ich ihnen an Bildung nicht nach. Und 
doch, als Derwald uns geſtern abend beſuchte und ich ins allgemeine Geſpräch 
eine Bemerkung einzuſchieben wagte, wurde ich mit großem Erſtaunen betrachtet, 
als hätte ich nicht das Recht mitzufprehen. — — — — 

13. September, Freitag. Wie ich geſtern in die Küche komme, 
ſitzt Nikolai Nikolaewitſch und trinkt Tee mit Milch. Er goß fid) ein Glas voll und 


Elifadeth Olatonoff : 677 


ſtellte dabei folgende Betrachtungen an: „Sehen Sie, wie ſchlecht ich handle. 
Ich trinke Milch. Ich habe das Geld dazu. Es gibt viele, die kein Geld haben. 
Somit nehme ich den Armeren die Milch weg. Dieſe Milch“ (dabei nahm er die 
Kanne und ſchenkte ſich noch ein Glas ein) „hätte einer armen Frau gegeben 
werden müſſen — die nicht das Geld hat — um ſich beſſer zu ernähren und ihr 
Kind zu ſtillen.“ 

So redete er eine Viertelſtunde, indem er ſich immer wieder einſchenkte und 
ein Glas nach dem andern trank. 

8d ſaß ſchweigend und hatte den Kopf geſenkt. Quälende Scham ſtieg in 
mir auf. — Warum dieſe Phraſen? Warum dieſes zu nichts führende Geſchwätz? 

Er fab mich an. „Sch habe Ihnen den Tee wohl verleidet? Nun, es ſchadet 
nichts, es iſt immerhin heilſam — ſolch — eine Betrachtung!“ 

Aus Zartgefühl ſchwieg ich. 

8d) babe feine moraliſche Minderwertigkeit erkannt. 

In meinem Leben ſind weniger Kompromiſſe als in ſeinem, ſchon deswegen, 
weil ich nicht reich bin, weil ich nie viel verdienen werde, weil ich von ber früheſten 
Kindheit an kämpfen mußte für meine Überzeugungen — ja ſchließlich weil ich 
nie moraliſierte. 

14. September, Sonnabend. Wie langweilig iſt es hier! Wo 
man hinblickt, überall diefe regelmäßigen Wege, die fih gleich Bändern in den ver- 
ſchiedenſten Richtungen durch die grüne Landſchaft ziehen — man kann ſie nicht 
vermeiden — auch nicht überqueren, da ſie von dichtem Brombeergeſtrüpp auf 
beiden Seiten umſäumt ſind. Dahinter liegen unzählige Häuſer, dicht beieinander, 
alle gleich gut gebaut — das eine wie das andere. Es fehlt mir die Weite grenzen- 
loſer grüner Wieſen, das Dickicht der Wälder — dieſe ziviliſierte Enge erſchreckt 
mich, und in meinem Herzen nagt die Sehnſucht nach der Heimat! 

Täglich fahren vor meinen Fenſtern Touriſten in eleganten Equipagen vor- 
bei — wenn ich ihre feinen Sommertoiletten ſehe, fallen mir unſere einfachen 
Picknicks ein — auf dem Karren mit dem Samowar — Teetrinken im Walde. — 
Wieviel Poeſie liegt darin! 

Und dann unſere großen Wege mit Bäumen zu beiden Seiten! Wieviel 
Melancholie liegt in dieſen kleinen holperigen Wegen, die zwiſchen den Bäumen 
durchkriechen! 

Liebe, geliebte Heimat! 

„Deiner Höfe weiße Mauern, 
Deiner Steppen öde Weiden, 
Heimatland des ruſſ'ſchen Bauern, 
Heimatland der großen Leiden! 
Fremdem Blick wird ſtets entgehen, 
Kalter Prüfung nie erſcheinen 
Deiner Schwermut Abendwehen, 
Deiner Armut leiſes Weinen.“ 


15. September. „Was ſind Sie für ein begabter Menſch!“ ſagte mir 
mein „Arbeitgeber“ heute. 


678 Eliſadeth Diatono ff 


„Warum glauben Sie das?“ 

„Ja, ſehen Sie, alles, was Sie anfaſſen, gelingt Ihnen fo gut, ob Sie im 
Garten, Küchengarten arbeiten, und das, trotzdem Sie als Fräulein erzogen wor- 
den ſind. — Und wie raſch haben Sie Engliſch gelernt!“ 

Ach, wozu nützt das alles — wenn er mich nicht liebt! 

16. September. Zch kann nicht mehr. Alles iſt mir zuwider. 

Alles, alles — diefe Häuſer, diefe Eintönigkeit! Das Rauſchen des Meeres 
erinnert mich daran, daß ſeine Waſſer es ſind, die mich von ihm trennen. Nur 
das Meer! Wie beneide ich die Vögel! Leicht und frei ſpielen ſie mit den Ent- 
fernungen, dem Raum 

Sd) habe Strachows: „Die Erde als Ganzes“ geleſen. Der gelehrte Autor 
widmet ein ganzes Werk dem Gedanken, der Menfd fei die Vollendung der 
Schöpfung. 

Und ich würde ſo viel darum geben, wenn ich ein Vogel ſein könnte, zu ihm 
hinfliegen könnte nach Paris, an ſein Fenſter. 

17. September, Dienstag. Alle find erſtaunt, daß ich verreiſen 
will. Wie lange habe ich es hier ausgehalten. 

Sekt gehe ich am Tage ans Meer, fege mich an den Strand und kann meine 
Augen nicht trennen von den blaſſen Wellen, die mutwillig wie Kinder ſich ans 
Ufer ſtürzen — und dann langſam mit böſem Gemurmel zurüdgleiten. 

Ich liebe das Meer nicht. Seine Wildheit ſchreckt mich; fie läßt uns fo un- 
ſagbar klein erſcheinen. Wir Menſchen der Ebene find an eine zärtliche Natur ge- 
wöhnt, haben wir Ruſſen nicht auch aus dem Grunde einen weichen Charakter — 
wir kennen den Kampf gegen die Natur nicht. 

Sd) war ſchon erwachſen, als ich zum erſtenmal das Meer und die Berge fab. 

Da begann ich die Berge zu lieben! Wenn man viel auf ihre Gipfel ſieht, 
ſchwingt ſich die Seele über die Nichtigkeit des Lebens hinweg. 

18 September. Jd lege meine Sachen zuſammen und packe fie ein. 

Derwald beſuchte mich. 

„Warum reifen Sie weg? Was find das für Einfälle! Die Vorleſungen be- 
ginnen ja erſt im November. Benützen Sie doch die Gelegenheit, daß Sie in Eng- 
land ſind — ein zweites Mal kommen Sie vielleicht nicht hin. Lernen Sie vor 
allem Engliſch.“ 

„Ich weiß es ſelbſt, daß es unpraktiſch iſt, doch kann ich nicht hier bleiben.“ 

Ich erkläre allen, daß ich mir hier in England ein beſtimmtes Programm ge- 
ſetzt habe. Sobald ich die Sprache einigermaßen beherrſche, will ich noch andere 
Punkte erfüllen. 8d) möchte verſchiedene Fraueninſtitutionen, Vereine, die Er- 
ziehung, engliſche Theater, Muſeen uſw. kennen lernen. 

$m Grunde werde ich in England nur fo lange bleiben, als meine Einkäufe 
dort Zeit erfordern, dann ſehe ich mir einen Frauenklub an, Zeitungen, die die 
Frauenfrage behandeln — und eile nach Frankreich. 

London, 20. September. Geſtern abend verließ ich dieſen kleinen 
Ort. Es regnete ſtark und war windig. 

Lebt wohl — das Meer, die Wege, ihr kleinen roten Häuſer! Ob ich euch 


Eliſabeth Oiakonoff 679 


wiederſehe?! Sd) verlaffe euch ohne Bedauern in der Seele. Mein Herz ſtirbt 
ab im Gedanken, daß bis Paris vierundzwanzig Stunden Fahrt ſind. 

London, 23. September. Um dem Zentrum näher zu ſein, bin 
ich in einer Penſion, in der Nähe des Britiſchen Muſeums abgeſtiegen. Geben 
Morgen ſtelle ich ein Tagesprogramm auf und merke mir alle Verbindungen, 
um alle Aufträge und Einkäufe möglichſt raſch zu erledigen. — — — 

27. September. Im Frauenklub machte man mich mit Miß Ellen 
Blackbury, Redakteur der Zeitung „English Women’s Review“, bekannt. Sie war 
groß von Wuchs, ſehr häßlich, hinkte ſtark und ging auf Krücken. Obgleich ihr 
Außeres ſo abſtoßend war, zog ſie mit ihrem klugen und freundlichen Geſicht 
ſehr an. Sie ſpricht ein ausgezeichnetes Franzöſiſch. 

Da bis zu meiner Abfahrt ſehr wenig Zeit übrigbleibt, ſo lud mich Miß Ellen 
Blackbury zu heute abend ein, um die mich intereſſierenden Zeitſchriften anzu- 
ſehen. Ich bedankte mich und war gleich nach acht Uhr bei ihr. 

Sie erwartete mich in einem gemütlichen Salon, der elektriſch beleuchtet 
war. Auf einem beſonderen Tiſche lagen Zeitſchriften aus allen Gegenden der 
Welt: öſterreichiſche, amerikanische, italieniſche, franzöſiſche, deutſche, däniſche, 
ſchwediſche, finniſche, griechiſche. 

Bei dieſem Anblick klopfte mir mein Herz. 

Alle diefe unbekannten Schweſtern waren erfüllt von einer Fdee. Ich nahm 
„The Australian Women's Sphere“. Auf der erſten Seite war das Bild eines 
jungen Mädchens mit einer Toga und einem Studentenmützchen — ſie war um- 
ringt von heruntergekommenen, betrunkenen Männern. Darunter ſtand: Sie 
haben das Wahlrecht — ich habe keins. — — 

28. September, Sonnabend. Mit einem Gmpfeblungsbrief 
machte ich mich heute zu Miſter Richard, dem Vikar von St. Juda, auf. Er war 
ſehr liebenswürdig und ſchien ein guter Hirt ſeiner Gemeinde zu ſein. 

Er ſpricht ſogar ein wenig Deutſch. Nach der unvermeidlichen Taſſe Tee 
gingen wir nach der Vorſtadt Whitechapel. 

Ich kenne in Rußland den Chitrowſchen Markt und die Wjaſemskaja Lawra 
— das Leben des ſtädtiſchen Proletariats ijt überall dasſelbe. Der Eindruck hier 
war viel gewaltiger. In London nimmt alles rieſige Dimenſionen an, ſchon allein 
die Ausdehnung, dann die Gegenſätze von arm und reich. Mein Herz zuckte zu- 
ſammen, als wir durch eine der Straßen gingen. Es war anſcheinend Markt. 
Das Volk drängte ſich. 

Bei dem matten, grauen Licht des Septembertages, bei dem feinen, nicht 
aufhörenden Regen ſchien uns die Armut entgegenzukommen. Sie fab mit hun- 
dert Augen aus hungrigen, erſchöpften Geſichtern von Männern, Frauen, Kindern 
in elender, zerlumpter Kleidung. Inmitten dieſer großen, klobigen, dicht bei- 
einander ſtehenden Steinhäuſer, inmitten dieſer ſchweren, verbrauchten Luft 
ſuchte das Auge einen Ruhepuntt und fand ihn nicht. Alles war freudlos, kahl, 
grau. Überall ſchaute das menſchliche Elend durch — und ringsherum nur Steine, 
Steine, — kein Baum, kein Strauch, nichts Grünes, als wäre die Natur erſchrocken 
geflohen aus dieſer vorzeitigen Hölle. Als wir eine Straße entlang gingen, zeigte 


680 Eliſadeth S'iatonoff 


der Vikar auf einen Baum; er war gelb, verkrüppelt, fait ohne Blätter, er wuchs 
aus dem Aſphalt heraus und ſchmiegte ſich an die Hauswand. 

„Das iſt der einzige Baum im ganzen Whitechapel“, ſagte der Vikar. Ich 
(ab mit Teilnahme auf dieſen elenden letzten Reſt der Natur — der bier verküm- 
mern mußte. 

Wir beſuchten die verſchiedenſten Quartiere, die vom Vikar verſorgt werden. 
Beim Anblick des Schmutzes, der Armut, der Lumpen, der Krankheit begriff ich, 
daß die Ziviliſation ihre beſonderen Wilden hervorbringt. 

Bis jetzt meinten wir als Wilde diejenigen zu bezeichnen, die allein die Natur 
kennen. Jetzt wiffen wir, daß es auch ſolche gibt, die die Natur nicht kennen; die 
groß geworden ſind in der Nacht des Lebens. 

Was haben dieſe Unglücklichen vom Tage ihrer Geburt an geſehen? Nur 
Steine — und von demſelben Material ſind die Herzen der Menſchen. — Sie 
haben keine Kindheit, keine Jugend, kein Stück Brot für den kommenden Tag. 

Sie können rauben, töten ... was verlieren fie? 

29. September, Sonntag. Heute ordnete ich meine Sachen und 
fragte Miß Rathie, wann ich fie zu Haufe treffen kann. Ich erhielt den Beſcheid: 
Um fünf Uhr. Bei meiner Unkenntnis der Fahrverbindungen fuhr ich zwei Stun- 
den früher aus. 

Miß Rathie wohnt febr weit; am anderen Ende der Stadt. Es war ein ele- 
gantes ſteinernes Privathaus mit dem üblichen Garten davor. Ich nahm eine 
Photographie von mir in ruſſiſchem Koſtüm mit, um ſie ihr als kleinen Beweis 
meiner Dankbarkeit zu ſchenken. 

Die ganze Familie war im Salon. Miß Kathie ſtellte mich ihrer Mutter, 
ihrem Neffen, Konſervator am Britiſchen Muſeum, vor. Dieſer junge Mann 
ſprach Engliſch, Franzöſiſch, Deutſch gleich gut. Sein Vater, Miß Cathes Bruder, 
it Künſtler; er bat im Gefolge des Herzogs von Edinburg Rußland bereiſt 

Es entſtand ein allgemeines Geſpräch; ich wurde gefragt, womit ich mich 
beſchäftige, ob mir die juridiſchen Fächer ſchwer fallen. Es fiel mir ein, daß einer 
meiner Landsleute, der an einem Mordanſchlag in England teilgenommen hatte, 
zu anderthalbjähriger Zwangsarbeit verurteilt worden war, um dann nach Ab- 
lauf der Friſt mit galoppierender Schwindſucht nach Rußland zurückzukehren. 
In einer Einzelzelle hatte er ein mächtiges Rad in Bewegung zu ſetzen, wobei er 
ſtändig von Stufe zu Stufe ſpringen mußte. Der Mechanismus des Drehens 
war ſo eingerichtet, daß er, falls er ſtillſtehen wollte, ſeine Beine unfehlbar brechen 
mußte. 

Ich benutzte die Gelegenheit, um dieſen Menſchen, die viel ziviliſierter waren 
als wir, meinen ganzen Unwillen über eine ſo grauſame Strafe zu äußern. 

„Ach nein, das Drehen des Rades iſt nicht ſinnlos“, entgegnete lebhaft einer 
bet Gäſte. „Soweit mir bekannt ift, ijt es ein Mühlrad; die Gefangenen mahlen 
auf dieſe Weiſe ihr Brot.“ 

„Ja, ſehen Sie denn nicht ein, daß es eine grauſame Strafe ijt; fie ſteht ja 
zum Vergehen in gar keinem Verhältnis“, ſagte ich. „Man muß doch Erbarmen 
haben.“ 


Elifabeth Diatonoff 681 


„Erbarmen?“ ſagte der Engländer mit faltem Erſtaunen. 

„Nun ja,“ ſagte ich, „Erbarmen mit dem Verbrecher.“ 

„Das gibt es nicht. Er hat die Geſetze der Geſellſchaft übertreten und muß 
dafür büßen“, ſagte einer der Gäſte, der mit einer Dame gekommen war. 

„Aber biefer Menſch hat ja gar nicht getötet!“ 

„Hätte er das getan, ſo müßte er unbedingt ſein Leben geben für dasjenige, 
das er dem anderen genommen hat. Er muß gehängt werden.“ 

„Er muß gehängt werden!“ ſagten die anderen im Echo. 

Meine Zunge klebte mir am Gaumen, als id) fab, wie fremd dieſen Men- 
ſchen jenes Gefühl war, das bei uns einen faft religidfen Anſtrich hat — die Liebe 
zu den „Unglücklichen“. Es ift dasſelbe Gefühl, das den Bauern, fid) bekreuzigend, 
dem Gefangenen eine Kopeke geben, den Reichen große Gaben ſchicken läßt. 

Es ging über meine Kraft. Ich vergaß, daß ich mich in einem feinen engli- 
ſchen Salon befinde, und ſprang von meinem Platze auf. 

„Dabei gehen Sie in die Kirche, leſen die Bibel; wie können Sie ſich für Chriſten 
halten, wenn Ihr Geſetzbuch auf dem altteſtamentlichen Standpunkte ſteht: „Aug 
für Auge, Zahn um Zahn!“ ſchrie ich mit Unwillen, indem ich in der Erregung 
alle Sprachen, Deutſch, Franzöſiſch, Engliſch, durcheinander mengte. „Die Hin- 
richtung iſt ſinnlos ſchon allein deswegen, weil ſie ihren Zweck nicht erreicht. Wen 
entſchädigt das Sterben des Mörders? Die Eltern des Getöteten? — Ja, 
die Hinrichtung kann ia den toten Sohn nicht beleben. Wenn ſich die Geſellſchaft 
anmaßt, den Verbrecher verurteilen zu dürfen, mag ſie es erſt beweiſen, daß ihr 
das Recht zukommt, daß ſie moraliſch höher ſteht. Suchen Sie ihn zu beſſern — 
aber Sie führen ihn zum Galgen. — Was macht Sie denn beſſer, wertvoller?!“ 

Tränen traten mir in die Augen, ich konnte nicht ſprechen. 

„Und dabei beſteht bei Ihnen in Rußland die Todesſtrafe.“ 

„Dem Zivilprozeß, der öffentlichen Meinung iſt fie fremd,“ ſagte ich, in- 
dem ich ſchwer atmete. 

Und hier verſtand ich, was für ein Glück es ift, daß unſerem Volke jene kalten, 
grauſamen Beziehungen zu den Verbrechern fremd find, die fic) biet fo unver- 
hohlen äußerten. | 

Gegen bie Grauſamkeit eines ungivilifierten Volkes läßt fid ankämpfen in 
der Hoffnung, daß die Verfeinerung der Sitten eine Milderung des Gemütes 
hervorrufen wird. Wie anders iſt die Grauſamkeit des ziviliſierten Volkes — immer 
verſteht es fih zu flüchten hinter die öffentliche Meinung, bie Wiſſenſchaft. — 

Niemand lachte, alle verſtanden, was ich meinte — mein Geſicht, meine 
Augen, meine Bewegungen waren beredter als alle Worte. Alle ſchwiegen. — 
Auch Miß Cathe ſchwieg. Sie beteiligte ſich nicht am Geſpräch. Der junge Mann 
ſtand auf und trat zu mir. 

„Ja, Sie haben recht. Wir handeln nach dem Alten Teſtament, obgleich im 
Neuen Teſtament ſteht: Liebe deinen Nächſten! Sie haben ſchön geſprochen. Ich 
danke Ihnen!“ 

Sch war gerührt, daß ich wenigſtens einen überzeugt batte, und drückte ihm, 
deffen Name mir unbekannt blieb, unter Tränen die Hand. — — 


682 Greſſel: Horoftop 


Miz Cathe trat an mich heran und zeigte mir einen Bienenſtock unter Glas. 
Dabei erzählte fie, daß fie ihn heute abend in ber Volksuniverſität bemonjtrie- 
ten wolle. 

Als ich ihr nicht mehr junges Geſicht anblidte, mußte ich daran denken, wie- 
viel Frauen in England zur Eheloſigkeit verurteilt find. Es wurde mir kalt im Ge- 
danken an eine Zugend ohne Liebe — an Ginjamteit ſpäter. Dieſe durch Bienen- 
zucht zu vertreiben — — ein ſchrecklicher Gedanke! 

Raſch nach Paris! Wie Habe ich es bier fo lange ohne ihn aushalten kön- 
nen? Wenn ich hier noch eine Woche länger bleiben müßte — ich würde ſterben! 

Der Zeiger näherte ſich pee Die Gájte begannen fortgugeben. Man 
forderte mich auf, zum Eſſen au bleiben. Bald ift es zehn — ich nehme den Weg 
über Dover — Calais. 

Fortſetzung folgt) 


Horoſkop Von V. v. Greſſel 


Ziehe jetzt nicht aus und wandre nicht, 
Sonne, Mond und alle Sterne tragen 
Deines Schickſals zwiefaches Geficht. 
Warte, bis die Stunde ausgeſchlagen. 


An den Wegen kauern gräßlich breit 
Tauſendfältiger Dämonen Mafjen, 
Und die Erde hat ihr buntes Kleid 
Abgeſtreift, iſt jenen überlaſſen. 


Tauſend Stimmen rufen überlaut 

Dir dein Erbe zu mit Hohngelächter: 
Blut und Sünde! Die dich auferbaut, 
Zeugten dich als kämpfende Geſchlechter. 


Kannſt du all dies Schwere von dir tun? 
Menſch ſein einer neuen, keuſchen Erde? 
Wohl, fo mag der gage Warner ruhn. 
Ziehe aus, fei ſchöpferſtark und werde! 


Den Geſchmack verderben... 
Von Fritz Baecker (Gürich) 


Sail, der Jägerſtraße jteht ein großes, graues Haus. Die grünen Läden 


dort ſind immer zu. Wohnt niemand drin? Doch — dort iſt ein 

), Kommen und ein Geben, wenn die Nacht hereinbricht, ein Flüftern 
: O unb ein £ufdeln an ben viertelsoffenen Türen — ja, es ift ein „chlech- 
tes Haus“. So fagen die Leute. 

Abends, wenn ich von der Arbeit komme, muß ich daran vorüber. Neulich 
ſtand ein junger Menſch davor. So jung noch, daß ich ihm als Lehrer noch das 
Du gegeben hätte. 

Der Hut war tief hereingedrückt. Er zögerte — er zitterte ein wenig, als 
er die Hand zum blanken Klingelknopfe hob. Soll er, oder ſoll er nicht? Za oder 
nein — 

Nicht wahr, da hätte ich als Lehrer und als Menſch ihm die Hand auf die 
Schulter legen ſollen: | 

„Junger Mann, Sie ftehen am Abgrund, laffen Sie jid) warnen.“ 

Und ſo weiter, und ſo weiter. Das Muſter iſt bekannt. Als ob mit Predigen 
in dieſen Dingen einer ſchon gerettet worden wäre. Netten? Wo einer (don die 
Hand zur Klingel hebt, iſt ſeine „Rettung“ längſt verpaßt. 

Da ſah ich einen faulen, angebißnen Apfel in der Goſſe liegen. Ich hob 
ihn auf und offerierte ihn mit höflicher Gebärde jenem jungen Mann. 

„Da, nimm!“ 

Er ſchlug voll Ekel meinen Apfel aus, auf dem noch die Spuren der Zähne 
des letzten enttäuſchten Beſitzers ſichtbar waren. 

Sd tat erſtaunt und fragte: 

„Ja, wollten Sie nicht eben klingeln?“ 

Da ſah ich, wie der Ekel ihn noch einmal ſchüttelte. Nur ſaß der diesmal 
nicht im Magen, ſondern ein wenig höher und ein wenig weiter links. 

Dann ging er fort. Er dahin und ich dorthin. 

Predigen und retten? Nein. Doch den Geſchmack verderben, recht offen 
und recht gründlich — ja. Denn das iſt alles, was wir können. 


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ERE 
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Das artige Kind 


Von Friedrich Nonnemann 


u den verkehrten Erziehungsidealen der vergehenden Zeit gehört 
auch dasjenige, das durch den Ausdruck „das artige Kind“ gekenn- 
zeichnet iſt. Gewiß, man kann mit dieſen Worten einen guten Sinn 

, verbinden. Allein, was ift alles unter biejem Titel gegen das Rind 

geſündigt worden! 

Und zwar oft von denen, die zu allermeiſt heilige Pflichten gegen das Rind 
haben: von den Eltern; aber auch von den anderen Naheſtehenden und ſchließlich 
überhaupt von denen, die ſich gelegentlich berufen fühlen, in die Erziehung der 
Kinder einzugreifen und über die Wohl- oder Unerzogenheit der Kleinen zu urteilen 
und zu wachen. 

Wenn man die Hülle wegreißt, mit der fih jene ſcheinbar unverfängliche 
und angeblich ſittlich berechtigte, auf das „artige Kind“ abzielende Erziehungs- 
methode verhüllt, dann tut ſich ein Abgrund von Mißhandlungen der Kindesſeele auf. 

„Es iſt nicht ſo ſchlimm; das Geſagte iſt mindeſtens Übertreibung“, hält 
man entgegen. Aber das kann nur jemand ſagen, der noch nicht begriffen hat, 
was das Kind iſt, und welche gewaltige, ernſte Aufgabe wir ihm gegenüber haben, 
und wie verhängnisvoll es ift, wenn wir uns zu feiner Entwicklung unnatürlich 
und falſch verhalten. 

Senn in jedem Kinde iſt eine werdende Perſönlichkeit gegeben, d. h. ein 
Weſen von ſchlechterdings unendlichem Werte, und es gibt kaum eine größere 
Schuld, als wenn dieſer Wert durch unſer Verhalten verkümmert oder zugrunde 
gerichtet wird. Und jedes Kind iſt eine Knoſpe der werdenden Menſchheit, ein 
Stück Zukunft der Menſchheit. 

Ein Söttlicher bat einmal gejagt: „Wer einem von dieſen Kleinen ein An- 
ſtoß zum Verderben wird, dem wäre es viel beſſer, wenn ihm ein Mühlſtein um 
den Hals gelegt und er in das Meer geworfen würde!“ 

Und nun dagegen: „Es iſt nicht ſo ſchlimm!“ Mit dieſen ärmlichen Worten 
verſchließt man die Augen vor der Wirklichkeit und ihrem Ernſt. Mit dieſem Tone 
lullt man fein Gewiſſen in Schlaf und betäubt man fein Verantwortlichkeitsgefühl. 
BE Worin befteht denn nun das Ideal des „artigen Kindes“, wie es vielen bewußt 
oder halbbewußt vorſchwebt? (Ich rede nicht von euch Erziehern, die ihr das 


Nonnemann: Das artige Rind 685 


Rind und feine Entwidlung auf eurem Herzen fragt und im heißen Bemühen 
den rechten Weg der Erziehung ſucht.) 

Das „artige“ Kind iſt vor allen Dingen unbedingt gehorſam, und ginge es 
auch auf Koſten der Innerlichkeit und Wahrhaftigkeit. Jeder Ungehorfam und 
Widerſpruch, und wenn er auch nicht durch die Widerſpenſtigkeit der Kindesſeele, 
ſondern durch die Ungeſchicklichkeit und den Unverſtand des Befehlenden bewirkt 
wird, wenn er auch nur die Rückwirkung geſunder und notwendiger Celbftbebaup- 
tung iſt, iſt unvereinbar mit dem Begriffe des artigen Kindes. Dies zeigt ferner 
feine Artigkeit dadurch, daß es möglichſt viel ſchweigt, daß es vor allem in Gegen- 
wart und bei der Unterhaltung der Erwachſenen, oder gar bei Tiſche ſeinen Mund 
nicht ungefragt auftut. Überhaupt iſt es nur wenig zu hören. Sein Sprechen iſt 
faſt ein leiſes Liſpeln, ſein Spielen ein geräuſchloſes Tun, ſein Springen und 
Laufen ſachte und mit Maß. Außerungen einer überſprudelnden Natur, kecken 
Übermutes und eines Seelenlebens, bas fein Kinderglück rückſichtslos hinaus- 
jauchzen möchte, kommen nicht vor. Denn ſie ſind ſtreng verpönt. 

Und Fragen? 8a — fragen darf das artige Kind eigentlich nicht, oder doch 
nur febr beſcheiden, febr wenig und febr vernünftig. Sonſt muß es hören: „Dummer 
Zunge, frage nicht ſo töricht!“ oder „das verſtehſt du doch nicht!“ oder „das iſt 
nichts für Kinder“. 

Oder die Kinder werden gar mit dem, was für fie das ſchlimmſte Geelen- 
gift iſt, mit Hohn, zurückgewieſen, und ſtatt daß man ihrer ehrlichen Frage eine 
ehrliche Antwort gibt, fühlt man ſich in der Größe ſeines Erwachſenenwiſſens 
und -Urteils und verſpottet den kleinen Frager. Es ijt ja nicht leicht, auf Rinder- 
fragen zu antworten. Sie ſind manchmal recht unbequem, und es dämmert einem 
bisweilen durch ſie auf, daß man ſelbſt recht wenig weiß und recht wenig geeignet 
iſt, den Kleinen ein geiſtiger Führer zu ſein. Darum iſt es unartig, ſo viel zu fragen. 
Ein artiges Kind fragt eben nicht oder nur dann, wenn es die ausdrückliche Er- 
laubnis zum Fragen bekommen hat. 

Dies genüge für eine kurze Kennzeichnung des Artigenkind-Ideals jener 
Erziehungsphiliſter und Banauſen — denn das find fie, weil fie kein Verſtändnis 
haben für das Urſprüngliche, Naturhafte, kraftvoll Werdende in der Kindesſeele, 
weil ihnen der Sinn abgeht für das Köſtliche, Edle, das fid) im Überſchäumen 
und Überſtrömen kindlichen Lebens offenbart. Es ſind jene äußerlichen Menſchen, 
die genug getan zu haben glauben, wenn ſie den bequemen und ſchnellen Weg 
gehen, äußeren Gehorſam zu erzwingen, während doch nur der Gehorſam ein 
ſittlicher iſt, der aus tiefinnerſtem Ja heraus quillt und der freilich viel ſchwerer 
durch Erziehung zu erzielen iſt. 

Kinder ſind keine Rekruten, und doch bringen es gewiſſe Menſchen ihr Leben 
lang zu keiner höheren Auffaſſung, und meinen mit der Herftellung eines Kadaver 
gehorſams das wahre Ziel der Erziehung erreicht zu haben. Das „Böſe“ im Kinde 
muß unter allen Umftänden niedergehalten und womöglich mit Gewalt ausgerottet 
werden, ijt ihr Grundſatz; in allem, was fie als Unart anjeben, in all jenem Über- 
ſtrömen, jener Eigenart, die ſich nicht knechten laſſen will, jener Hartnäckigkeit 
des Fragens, die ſie als Naſeweisheit deuten, erkennen ſie das angeborene Böſe, 


686 Nonnemann: Oas artige Rind 
bie Erbſünde, und dagegen kann man, meinen fie, nicht früh unb (darf genug 
vorgehen. Alles, was ihrer Theorie vom artigen Kinde widerſpricht, wird als 
Auswirkung dieſer Erbſünde angeſehen. 

Gewiß ſind die Kinder nicht etwa als fleckenloſe, von allem Böſen reine 
Weſen anzuſehen. Auch ſie tragen mit an dem Fluche der Menſchheit, dem Hang 
zum Schlechten, der ſich von Geſchlecht zu Geſchlecht vererbt, und gerade ſie haben 
oft unter dieſer Erbſchaft am meiſten zu leiden. Aber wie die Schuld an ihrem 
Böſen zunächſt bei denen liegt, denen fie ihr Daſein verdanken, bei Eltern, Groß- 
eltern, Ahnen, ſo liegt auch die Schuld daran, daß in ihnen dies Böſe ſich mehr, 
als bae Gute entwickelt, zumeiſt an ihren unverſtändigen berufenen und unbe- 
rufenen Erziehern. 

Wie oft wird, weil man Kind und Kindesſeele nicht verſteht und jede Aube- 
rung eigenartiger Kraft mit Sünde verwechſelt, mit roher Hand hineingegriffen 
und mit dem Unkraut auch der Weizen ausgeriſſen. Um das Kind artig zu machen, 
wird alles nach Anſicht der Erzieher damit Unvereinbare niedergehalten, und 
wenn der kindliche Geijt aus dem znſtinkt der Selbſterhaltung fid) dagegen auf- 
bäumt, nun, dann zerbricht man eben den angeblichen Eigenſinn. 

Es iſt eine wohlfeile, aber unedle, geiſtloſe und niedrige Pädagogik, das 
Urſprüngliche, Innerliche, Eigenartige, kurz den Lebenskeim im Kinde zu ver- 
nichten, um es zu einem äußerlich korrekten Pflänzchen zu erziehen. Und es iſt 
eine bequeme, aber oberflächliche und unweiſe Methode, ihm von außen Wiſſen 
und dergleichen einzupfropfen. 

Als ob es überhaupt ein Wiſſen von Wert gäbe, das nicht aus eigenem, 
innerſtem Fragen heraus geboren wäre! Und als ob es darauf ankäme, nicht 
Menſchen im Vollſinne des Wortes, nicht Perſönlichkeiten von eigener Bedeutung 
durch die Erziehung zu erzielen, ſondern mechanisch dreſſierte Drahtpuppen, kon- 
ventionelle und automatenhafte Geſellſchaftsmenſchen ohne wahres, ſtarkes Eigen- 
leben — mit Abſicht brauche ich hier gehäuft die Fremdwörter, denn unſere deutſche 
Sprache iſt zu gut für dieſe Erziehungskarikaturen. 

Hinzu kommt noch, daß jene Seelenverſtümmler zumeiſt vergeſſen, daß 
die Hauptwirkung des Erziehens durch die Vorbildlichkeit des Erziehers bedingt 
iſt. Es fällt vielen von ihnen ja gar nicht ein, ſich in Gegenwart der Kinder in 
Weſen und Wort zu beherrſchen. Die Kinder müſſen die Ausbrüche ihres Zornes, 
ihres Argers, die Launen ihrer Nervoſität mitanſehen, müſſen ihr Schelten und 
Schimpfen und die ſonſtigen Enthüllungen ihres chaotiſchen Innern mit anhören 
— und dann wundern ſich dieſe ſelben Erzieher, woher denn dieſes oder jenes 
„artige Kind“ plötzlich dieſes oder jenes ſchlechte Wort habe, warum es plötzlich 
jähzornig, verlogen und roh werde. Ihr ſeht, ihr Herren und Damen, daß zum 
Erziehen noch etwas anderes gehört, als die Verwirklichung des Ideals der 
„Artigkeit“. 

Aber bie meiſten Früchte euerer Erziehungsmethode reifen erft ſpäter in 
erſchreckender Weiſe. Seht euch einmal die Kinder mit ſolchen Augen an, wie 
jener Mann ſie hatte, der da ſagte: Laſſet die Kinder zu mir kommen. Doch was 
ſage ich! Wie könnt ihr das, wenn ihr überhaupt keine Augen dafür habt, wenn 


E 
Ronnemann: Das artige Rind 687 


euch bie innere Weſensverwandtſchaft mit dem Rindlichen fehlt, wenn ihr in den 
Kindern, die urſprünglich ſind, nur böſe Buben und eigenſinnige, ungezogene 
Mädchen Seht. Wie könnt ihr, die ihr ohne Empfänglichkeit feid für die unergründ⸗ 
liche Köſtlichkeit, die im Kinde lebt, wie könnt ihr das Kind mit Fefusaugen 
anſehen! 

Aber das könnt ihr doch ſehen, was eure Erziehungskunſt, ihr Seelen- 
verſtümmler, aus dieſen wundervollen Weſen macht. 

Da ſeht ihr ſie, die Streber, die für Geld und Amt ihre Seelen verkaufen, 
die rückgratloſen Windfahnennaturen, die ihre Geſinnung nach ihrem Fortkommen 
richten, die frommen Heuchler, die ohne einen Funken nationalen und religiöſen 
Feuers für Thron und Altar kämpfen, die hohlen, blaſierten Affen männlichen 
und weiblichen Geſchlechts, die alles kritiſieren und nichts verſtehen, die alles 
kennen und an nichts Freude haben. 

Da ſeht ihr fie, deren Inneres zerbrochen ift, bie, beſtimmt zu einer herr- 
lichen Lebensentwicklung, durch euch die Kraft dazu verloren haben. Und oftmals 
auch die Verdüſterten, deren Leben nicht durch den Goldglanz der Kindheit erleuchtet 
wird, weil die Erinnerung an dieſe Zeit für ſie peinlich iſt, weil ihre Erzieher in 
Erziehungseifer und Erziehungsroheit ihnen die Freude der Lebensfrühlingstage 
erſtickt haben. 

Laßt euch das ins Gewiſſen gehen, ihr Artigkeitsfanatiker, und lernt daran, 
daß man, ehe man erziehen will, das zu erziehende Weſen verſtehen und lieben 
muß, und daß man vor allem dafür Sorge zu tragen hat, daß das Urſprüngliche, 
die eigenartige Natur, die im Kinde gegeben iſt, zur Entwicklung komme. Das 
heißt: man muß nicht von außen nach Theorien erziehen, ſondern von innen, 
indem man dem verborgenen Herzensſchlage des kindlichen Weſens lauſcht. Celb(t- 
verſtändlich hat man auch das Böſe dabei zu bekämpfen; aber als der Verſtän⸗ 
dige und Feinfühlige, der da weiß, daß man durch blinde und rückſichtsloſe An- 
wendung von Gewalt und Autorität gar zu leicht das zerbricht, was das Beſte im 
Kinde iſt. 

Laßt ſie überſchäumen, die kindliche Lebenskraft und Lebensluſt, und laßt 
fie, deren Geiftestore fo weit offen ſtehen, um all das reiche, große Leben und 
Weben im Natur- und Menſchenleben aufzunehmen, laßt ſie fragen, fragen eine 
Unendlichkeit. Ich wollte lieber naſeweiſe Fragerinnen zu Töchtern haben, die 
mich nach allem fragen, was fie auf dem Herzen haben, als Muſter von Beſcheiden- 
heit, Stille und Demut, die ſich die Antworten auf ihre Lebensfragen heimlich 
an anderer Stelle holen, und lieber Rangen zu Söhnen, als wohlerzogene ſittſame 
Knaben, die innerlich zerbrochen ſind. 

Mir ſind Dummejungenſtreiche in Verbindung mit rückhaltloſem Vertrauen 
zu den Eltern lieber, als tadelloſes Betragen, das auf Angſt und Unterbindung 
urwüchſigen Lebens beruht. 

Wenn ihr aber, ihr Väter, Mütter, Tanten, und ihr Gelegenheitserzieher, 
auf den Begriff der Artigkeit durchaus nicht verzichten könnt, dann verbindet 
wenigſtens einen unanfechtbaren, den Kindern zum Heile gereichenden Sinn 
damit. 


688 Stemmann: Unfer 


Dann bedeute fie nichts anderes, als lebendige, kraftvolle Entwidlung der 
Eigenart dieſes Weſens, das fo, wie es ijt, nur einmal in der Welt vorhanden ift. 
Und — wir leben ja im deutſchen Lande — laßt es eine Entwicklung aus echtem 
deutſchen Gemüt zu urſprünglicher, freier, volkstreuer Art ſein. 

Erziehen heißt nichts anderes, als das volkstümlich begründete Werden der 
Kindesſeele zu einer Edelperſönlichkeit unterſtützen und ſchützen. 


--, 


Y NEN EVA Ns 


Alnjer Von Ernſt Stemmann 


Du fragteſt: „Soll id) unfer Fenſter ſchließen?“ 
3a, unſer Fenſter ſchließe, liebes Weibchen du. 
Dann komm zurück in unſre große Stube 

And fege dich an unſern breiten Lifd. 

Wie wundervoll dies Wörtchen „unſer“ klingt! 
Ein warmes, wohlig lauſchiges Wörtchen: Unſer! 


Sonſt war dies alles „mein“ und „dein“. Wie kalt, 
Wie fremd ſind dieſe Wörter „mein“ und „dein“! 
Mein Leben, angft- und qualenübervoll, 

Mein Streben, wirr und haſtig, ohne Sinn. 

Dein Leben, alltagsgrau, wohin, wozu? 

Einſam und oftgequält. 

Meine Behauſung, wie ſie leer und kalt war! 

Wie ſteinern! Ohne Atem! Ohne Herz! 


Nun aber iſt das unſer Leben worden, 

Und über unſerm ging die Sonne auf. 

Nun iſt dies unſer Heim. Und was drin wohnt, 
Sit unfer Glück. Und einmal werden 

Auch unſre Kinder (denn ſo hoffen wir, 

Und das iſt unfre Hoffnung) um uns ſpielen. 
dite nicht fo, Liebchen? Komm und küffe mich! 


Wy fy 171 0 j m. 


WEHR 

pr 5 | 
Gedankenleſen? 

Bon A. M. Frey 


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Zn einem dämmernden Frühlingsabend betrat der Kunſthiſtoriker 
Dr. Aleſſandro Bonini das Wohnzimmer feines Freundes, des 
A Aſſeſſors Paul Bermann. 
Dieſer erhob ſich vom Diwan und begrüßte den Beſuch. „Ich 
danke Ihnen, daß Sie auf meine ſchriftliche Bitte hin gekommen ſind. Haben Sie 
den heutigen Abend frei? Dann möchte ich Sie für eine mir äußerſt wichtige 
Sache in Anſpruch nehmen.“ 

Er machte Licht und wies auf einen Seſſel. 

Dr. Bonini ſetzte fid) zögernd. „Ich ſtehe zu Ihrer Verfügung. Aber Ihre 
kurzen Zeilen haben mir gar nicht verraten, um was es ſich eigentlich handelt.“ 

„Um Etelka.“ 

„Wiſſen Sie etwas Neues?“ fragte der Doktor. 

„Nichts. Aber vielleicht könnten wir etwas erfahren — heute abend.“ 

„Erfahren? — So.“ 

„Ja. Hören Sie! Aber lachen Sie nicht, ſondern bedenken Sie, daß ich mich 
an das Geringſte klammere — klammern muß, das mir einen Schimmer von 
Klarheit in das Dunkel diefer unſeligen Geſchichte bringen könnte. Ich habe Ihnen 
früher ſchon erzählt, daß ich mit ſpiritiſtiſchen Kreiſen Fühlung habe — nicht aus 
Überzeugung, ſondern um der Wiſſenſchaft willen. In ſolchem geſchloſſenen Kreiſe 
findet heute eine Sitzung ſtatt mit einem — wie der Fachausdruck lautet — pſycho- 
metriſch veranlagten Weſen, ſagen wir meinetwegen: Medium, das die Fähigkeit 
zu haben behauptet, durch körperliche Berührung irgendwelcher Gegenſtände aus- 
ſagen zu können über Perſonen — lebende oder tote —, in deren unmittelbarer 
Nähe dieſe Gegenſtände längere Zeit verweilt haben. Dieſe lebloſen Dinge ſollen 
ſich gleichſam geſättigt haben mit dem Weſen und den Schickſalen jener Perſonen, 
und der Pſychometer will nun imſtande fein, dies fremde Weſen und fremde Schid- 
ſal aus ihnen in ſich überſtrömen zu laſſen und darüber dann zu berichten.“ 

„Ich weiß“, ſagte der Italiener lächelnd. „Ich habe ſelbſt in Rom ſolchen und 
anderen Zirkeln beigewohnt. Ich kenne gute Tricks, die ich Ihnen gern einmal 


zeige. Aber was hat das mit Etelka — mit Ihrer verſtorbenen Braut zu tun?“ 
Der Türmer XV, 5 46 


690 Frey: Gebantentefen ? 


Der Aſſeſſor (ab ein wenig verlegen aus. „Wie gefagt, lachen Sie, bitte, 
nicht über das, was ich Ihnen jetzt ſage. Alſo: ich bin bekannt mit dem Vorſtand 
der Geſellſchaft für pſychiſche Forſchung, habe Zutritt zu der Sitzung heute abend, 
darf Sie, Sandro, mitbringen und habe auch die Erlaubnis, ein Experiment vor- 
zunehmen.“ 

Dr. Bonini bemühte fid) höflich, feine Lippen nicht zu verziehen. „Ich glaube 
zu begreifen“, ſagte er. „Sie wollen alſo hingehen und dieſem — dieſem Menſchen 
irgendein Ding, das Ihre Braut an (id) trug, einen Ring oder —“ 

„Ich werde ihm die Uhr geben, die man bei ihr fand, als man ſie aus dem 
Waſſer zog.“ 

„Gut, die wollen Sie alſo geben und hoffen, dann etwas über dieſen rätfel- 
haften Tod zu erfahren? — Nein. Verzeihen Sie, wenn ich dennoch lächle.“ 

„Sie haben ja recht“, nickte Bermann; „ich verſpreche mir ſelbſt wenig genug, 
aber ich darf nichts unverſucht laſſen. Vielleicht gewinnen wir ſo dennoch den einen 
oder anderen Anhalt, und man ſtarrt und greift nicht immer in weſenloſe Finſter- 
nis. Ich finde bald nicht mehr zurück aus ihr; ſeit über drei Wochen taſte ich und 
taſte ... Wie viele Male habe ich die Sache nicht [don mit Ihnen durchgeſprochen!“ 

Er ſeufzte tief. 

Der Staliener machte eine leicht abwehrende Bewegung. „Ofter, als Ihnen 
gut iſt!“ ſagte er beſchwichtigend. 

Das Geſpräch ſtockte. Es wurde ſehr ſtill im Zimmer für eine ganze Weile. 
Endlich ging draußen die Glocke. 

„Das wird er ſein!“ rief der Aſſeſſor aufſtehend. 

„Wer?“ fragte Bonini. 

„Ach — ich hab' Ihnen noch nicht ...“, wollte Bermann erklären, da trat 
ſchon ein älterer Herr ins Zimmer. 

Der Aſſeſſor ſtellte ihn vor. Er entpuppte ſich als entfernter Verwandter 
Bermanns, Mediziner von Beruf, der als Nebenbeſchäftigung eifrig Pſychologie 
betrieb und für dieſen Tag von Augsburg, wo er lebte, herübergekommen war, 
um der bevorſtehenden Sitzung beizuwohnen. 

Er begann ſogleich ein Verhör. „Durch deine Briefe, Paul,“ wandte er ſich 
an Bermann, „bin ich ja in großen Zügen orientiert. Du haſt mir ſeinerzeit das 
myſteriöſe Erreignis ziemlich ausführlich berichtet. Aber in einigen Punkten ſehe 
ich noch nicht klar.“ 

„Wir auch nicht, werter Herr“, lächelte der Staliener. 

„Ich meine“, verbeſſerte der andere, „es läßt fih brieflich nicht alles fo be- 
leuchten, wie dies wohl mündlich geſchehen kann. Deshalb möchte ich mir gleich 
einige Fragen erlauben, bie übrigens nicht nur für mid, fondern unter Umſtänden 
für die ganze Angelegenheit von Nutzen fein können. Manchmal — durch eine un- 
ſcheinbare Wendung, ein einziges Wort, das der Ausſprechende ſelbſt gering achtet — 
hellt ſich plötzlich etwas auf.“ 

Dr. Bonini ſagte nichts. Er ſtützte den Kopf mit den blauſchwarzen Haaren 
in die lange gelbliche Hand und bekämpfte einen leiſen Unwillen. 

Sich ſammelnd legte der Medizinalrat die Hand an die Stirn und fuhr fort: 


Frey: Gebanteniefen? 691 


„Ufo nicht wahr, Sie, Herr Dr. Bonini, find es, der mit ben beiden Damen — Pauls 
Braut und deren Mutter — zufällig in Mailand zufammentraf. Sie wohnten im 
gleichen Hotel. Sie waren allein, nicht wahr? 8d) meine, bie beiden Damen waren 
ganz allein?“ 

Der Italiener nickte. 

„Sie haben ſie niemals in auch nur flüchtiger Geſellſchaft irgendwelcher 
Menſchen geſehen?“ 

„Niemals.“ 

„In Wailand nicht und auch ſpäter nicht, als Sie dann zu dritt die Neife 
fortſetzten?“ 

„Nein.“ 

„Du haſt recht,“ fiel Bermann ein, „daß du hiernach ſo genau forſcheſt. 36 
ſelbſt glaubte neulich in dieſer Richtung einer Klärung auf der Spur zu fein. Ach, 
bald verwiſchte ſich alles wieder! Mitten in der Nacht fiel mir's ein, oder ich hatte 
es geträumt: irgendein Menſch, der eine unbegreifliche Macht über ſie bekommen, 
könnte dort unten den Weg Etelkas gekreuzt haben. Aber das iſt ja ausgeſchloſſen, 
zumal Sandro mir nachdrücklich verſichert, daß die Damen keinen Menſchen auf 
der Reife kennen gelernt haben. So zerfällt auch diefe an fid abenteuerliche Ber- 
mutung. Beinahe bin ich verſucht zu ſagen: leider, denn was iſt ſchlimmer für 
mich: eine ſolche Erklärung oder überhaupt keine?“ 

Der Staliener hatte unmerklich vor jid) hin gelächelt. Nun fab er auf und 
ſagte langjam und kalt: „Wiſſen Sie denn, ob nicht vor der Begegnung mit 
mir.“ 

„Wäre das denkbar?!“ rief der Aſſeſſor. „Nein! Es ift unmöglich. Die bei- 
den Frauen fuhren in einem Zuge von München bis Vailand. Zch brachte 
ſie an die Bahn, und den übernächſten Tag erhielt ich ſchon eine luſtige Karte 
von euch mit der Nachricht eueres Zuſammentreffens.“ 

Der Btaliener zuckte die Achſeln. „Ja, ja — es ijt unmöglich!“ murmelte 
er dann höflich. 1 

„Ufo weiter!“ drängte der Medizinalrat. „Wenn ich mich recht entfinne, 
fuhren ſie von Mailand nach Parma. Erzähle doch, bitte, Paul!“ 

„Ganz richtig,“ fagte dieſer, , von Mailand nach Parma. Dort feid ihr zwei 
Tage geweſen, nicht wahr, Sandro? Sie hatten die Freundlichkeit, Ihren Auf- 
enthalt der Damen wegen, die weiter wollten, abzukürzen. Denn urſprünglich 
wollten Sie doch, wie Sie mir vor Ihrer Abreiſe erzählten, gerade in Parma 
eingehende Studien treiben. Was war es doch — Correggio, nicht wahr?“ 

Dr. Bonini jab zur Decke. „Correggio enttäuſchte mich. 8d willigte gern in 
eine frühere Abreiſe.“ 

Der Aſſeſſor fuhr fort aufzuzählen: „Dann kamen Modena und Bologna — 
mit den üblichen Aufenthaltstagen.“ Er wandte ſich an den Staliener: „Daß Sie 
ubrigens auch in dieſen Städten Ihre Studien, wie ich wohl weiß, abkürzten, um 
die Damen weiterbegleiten zu können, danke ich Ihnen noch heute. Ich wäre 
ſonſt noch haltloſer, als ich ſchon bin. Nun alſo, während diefer ganzen Zeit be- 
kam ich kurze Karten, flüchtige Grüße, ſtets von den dreien unterzeichnet. Etelka 


692 Frey: Gebantenlefen? 


hat mir niemals allein geſchrieben, und ich wunderte mich nicht, denn ich ſelbſt 
ſchreibe auf ſolchen Fahrten auch keine langen Epiſteln. So weiß ich nicht, was 
dem Mädchen bis Bologna innerlich zugeſtoßen ſein könnte. Aber wenn Sie, 
Sandro, als guter Beobachter mir verſichern, daß man gar keine Veränderungen 
an ihr wahrnahm —?“ 

„Nein“, ſagte der Staliener. 

Der Medizinalrat nickte ungeduldig. 

Bermann ſenkte die Stimme: „Dann kam Florenz. Und mit Florenz der 
einzige Brief, den fie auf der ganzen Reife an mich geſchrieben hat. Und mit dem 
Brief der einzige Anhalt dafür, daß ſie ein verwirrendes Erlebnis gehabt haben 
muß. Anſcheinend in Florenz. Leider kennſt du die Zeilen nicht, dieſe unverftänd- 
lichen, atemlos hingehetzten, diefe verworrenen Selbſtanklagen, aus denen hervor- 
zugehen ſchien, daß ſie mich nicht mehr lieben könne oder dürfe. — Hätten wir 
den Brief nur noch zur Hand! Es ift mir unbegreiflich, daß er ſpurlos verſchwun⸗ 
den iſt. Jetzt, wo ich ruhiger bin, könnten wir vielleicht etwas herausleſen — etwas, 
über das mein aufgewühltes Hirn damals faſſungsunfähig hinweggeglitten iſt. 
Der Brief wäre vielleicht auch beſſer als die Uhr für die heutige Sitzung.“ 

Der Italiener ſtand auf. „Wollen Sie wirklich dieſem Schwindel (id) unter- 
ziehen?“ 

„Ich muß!“ rief der Aſſeſſor. „Verſäumte ich es, ich würde mir ſpäter gewiß 
die bitterſten Vorwürfe machen, einen wenn auch noch ſo zweifelhaften Auf- 
klärungsverſuch unterlaſſen zu haben.“ 

„Vie Sie wollen“, ſagte Dr. Bonini höflich. Er ſah nach der Zeit. „Dann 
werden wir aber gehen müſſen.“ 

Die drei machten ſich auf den Weg. * Aſſeſſor ſetzte ſeinen Bericht fort: 
„Von Florenz aus ging es nach Livorno. 

„Richtig! Livorno!“ unterbrach der Medizinalrat. „Hier nimmt die Reiſe 
eine Wendung, deren Grund ich nie recht begriffen habe. Warum mußten die Herr- 
ſchaften nach dieſem gottverlaſſenen Livorno? Und warum von dort bei Nacht 
zu Schiff nach Genua? Giele unglückliche nächtliche Seereiſe — wenn die nicht 
geweſen wäre, vielleicht..“ 

Dr. Bonini wurde plötzlich beredt: „Hier haben mißliche Zufälle gewaltet! 
Dieſe nächtliche Reife zu Schiff war ja urſprünglich gar nicht geplant. Wir konnten 
ſie aber ſchließlich nicht mehr umgehen. Nicht wahr, wir wollten doch nach Livorno?“ 

„Warum wollten Sie das? Eigentlich ſucht doch kein Menſch, der Ober- 
italien flüchtig bereiſt, dieſe ſchmutzige Hafenſtadt auf.“ 

„Aber Fräulein Etelka war ganz verſeſſen auf eine kleine Seereiſe. Und 
außerdem zog mich etwas dorthin. Livorno ijt zwar ein großer Oredhaufen, aber 
das Meer ift einzig dort, und dann 

„Und dann —?“ 

Der Staliener grinſte: „Bermann, jetzt muß ich Ihnen ein Geſtändnis machen. 
Ich bin dort einmal Oberkellner geweſen, im Palace-Hotel. Es drängte mich, 
meinen Nachfolger kennen zu lernen. Er ferviert nicht übel. Wir haben nämlich 
im Palace-Hotel gegeſſen, bevor wir aufs Schiff gingen.“ 


Frey: Gebantenlefen? 693 


Der Aſſeſſor war vor Erſtaunen einen Schritt beijeite getreten. Der Medi- 
zinalrat fab den Staliener prüfend an. 

„alt es Ihnen peinlich, an der Seite eines geweſenen Oberkellners über 
die Straße zu gehen?“ fragte Dr. Bonini hämiſch. 

„Nein, nein“, murmelte der Aſſeſſor. 

Der Staliener erklärte: „Damals — das kam nämlich fo mit mir. Ich war 
Mitglied einer kleinen Schauſpieltruppe, die nach Livorno kam, dort Vorſtellungen 
zu geben. Aber wir hatten keinen Zulauf, alles ging zum Teufel — der Direktor 
mit der mageren Kaſſe und meine Frau mit dem dicken Komiker.“ 

Bermann blieb ſtehen. 

„Ihre Frau —? Sie waren verheiratet?“ ſtaunte er. 

„Ich bin es noch.“ 

„Sie find es noch —? Und wo — wo lebt Ihre Frau?“ 

Dr. Bonini hob die Schultern. „Was weiß ich. Vielleicht wieder in Livorno.“ 
Sein Mund wurde ſchmal, er ſagte mehr zu ſich ſelbſt: „Mir ſcheint, ich habe ſie 
dort geſehen. — Doch das ſind Nebenſachen. Alſo ich ſaß arm und nackt dort auf 
dem ſtaubigen Pflaſter. Was tun? Hafenarbeiter werden? Sch hatte nichts als 
mein unbrauchbares Rollenſtudium, meine febr brauchbaren Sprachkenntniſſe und 
gerade ſo viel Geld, mir einen anſtändigen Frack zu kaufen. Das tat ich auch und 
hatte das Glück, im Palace-Hotel anzukommen.“ 

Der Medizinalrat wurde ungeduldig. „Das iſt alles ganz intereſſant“, ſagte 
er. „Aber wir verlieren unſeren Faden. Erklären Sie mir das Eine: Warum reiſten 
Sie nachts zu Schiff nach Genug — gerade nachts?“ 

Der Ftaliener eiferte im Ton der Selbſtanklage: „Meine Schuld! Wir 
wollten natürlich das Tagſchiff nehmen! Aber es ging keines. Das nächſte erſt in 
achtundvierzig Stunden. Ich hatte mich im Fahrplan verſehen.“ 

„Warum nahmen Sie dann nicht die Bahn?“ 

„Schlechte Verbindungen. Wir kamen ſo immer noch bequemer nach Genua, 
nachdem die Damen, nun wir doch ſchon einmal in Livorno waren, Stadt und 
Hafen zu ſehen wünſchten.“ 

Der Aſſeſſor fuhr in der Erinnerung fort: „So kam alſo jene ſchreckliche, 
rätſelvolle Nacht, über die ich Sie ſchon hundertmal ausgefragt habe, und die 
Ihnen und mir dunkel iſt und bleibt.“ 

Der Staliener wurde wieder einſilbig. „— iſt und bleibt“, wiederholte 
er nur. 

„Schließlich kommt man fo weit, an Wahnſinn zu denken“, flüſterte Ber- 
mann. „Und dabei ſcheint mir dieſe Erklärung ſelbſt ein Wahnſinn. Wie war es 
nur möglich! Sie ſpeiſten noch vergnügt zuſammen im Hotel —“ 

„Sehr vergnügt. Auf dem Weg zum Hafen hörten wir bas unvermeidlide 
Santa Lucia aus der ſeltſam junggebliebenen Kehle einer alten Vettel, einer 
Straßenſängerin, und Etelka war entzückt. Sie gab zu unſerem Entſetzen ihre 
ganze Börſe hin.“ 

„Dann gingen Sie an Bord,“ ſtellte der Aſſeſſor weiter feſt, „gegen neun 
Ahr, nicht wahr — genoſſen die Ausfahrt aus dem Hafen und legten (id) zur Ruhe. 


694 Frey: Gedankenleſen ? 


Von jenem Augenblick ab liegt völlige Dunkelheit über den Vorgängen, bis zu 
der Morgenſtunde, da Sie in Genua an Land gehen wollen und Etelka vermiſſen, 
und weiter bis zu jener ſchrecklichen Stunde, da Sie erfahren, daß Fiſcher ihre 
Leiche bei Nervi treibend geborgen haben.“ 

„Stimmt“, beſtätigte Dr. Bonini. 

„Sie, Sandro, wiſſen nichts,“ fuhr der Aſſeſſor fort, „die italieniſchen Be- 
hörden, die ſich mit der Sache befaßt haben, wiſſen nichts, die Leute auf dem 
Schiff wiſſen nichts. Nur der Mann am Steuer will gegen fünf Uhr morgens 
auf der Höhe von Nervi einen erſtickten Schrei vom Heck des Schiffes her gehört 
haben. Was nützt mir dieſer Schrei! — Und der letzte Menſch, der vielleicht etwas 
zu ſagen wüßte, Etelkas Mutter, gerät über das Verſchwinden des Mädchens in 
unzurechnungsfähige Zuſtände und geht am Schlag zugrunde, als ſie den Tod 
der Tochter erfährt. — Daß Sie übrigens in Genua der armen Frau in ihren 
letzten Tagen ſo aufopfernd beigeſtanden haben, werde ich Ihnen nie vergeſſen. 
Als ich kam, war ia alles Iden vorüber. Aber Sie —“ 

„Bitte, bitte!“ lehnte der Ztaliener ab. 

Die drei Männer waren unterdeſſen an ihrem Ziel, dem „Bayeriſchen Hof“, 

angekommen, in welchem die Pſpchologiſche Geſellſchaft einen kleinen Raum für 
ihre Sitzung gemietet hatte. Ein Hotelangeftellter führte fie durch viele Gänge 
in einen kleinen, eleganten Saal, in dem einige dreißig Perſonen in gedämpfter 
Unterhaltung beieinander ſaßen. 
, Der Aſſeſſor machte feine Begleiter mit dem Vorſtand der Geſellſchaft be- 
kannt, trat dann an den Tiſch heran, der in geringer Entfernung von der erſten 
Stuhlreihe ſtand, und ſchob eine kleine goldene Uhr zu den Sachen, die auf der 
Platte lagen. Darauf nahmen alle drei ihre Plätze ein, und Bermann ſagte: 
„Ich bin äußerſt geſpannt auf das Ergebnis der nächſten Stunde, obwohl ich der 
Pſychometrie — und gerade der des heutigen Abends — febr fkeptiſch gegenüber- 
ſtehe. Ich bin nämlich verſucht, mir mit meinem Laienverſtand das, was hier als 
Pſychometrie bezeichnet wird, zu deuten als einen beſonders feinen Fall von 
Gedankenübertragung.“ 

„Glauben Sie denn an die Möglichkeit einer Gedankenübertragung?“ fragte 
der Staliener ſpöttiſch. 

„Aber ohne jeden Zweifel!“ meinte der Aſſeſſor eifrig. „Und ich möchte mir 
die Sache dann folgendermaßen erklären: von all dem, was er ausſagt, erfährt 
ber ſogenannte Pſychometer gar nichts unmittelbar durch den Gegenſtand, den er 
in Händen hält, ſondern er ſetzt ſich durch ihn nur in Verbindung mit jener Per- 
ſon aus der Schar der Anweſenden, die den Gegenſtand gegeben hat und ſeinen 
früheren Beſitzer kennt, im Augenblick natürlich lebhaft an dieſen denkt, ſich ihn 
geiſtig vorſtellt. Und nun ſagt er, der Pſychometer, aus, was dieſer Anweſende 
ſoeben denkt, ſchildert Die Perſon, die dieſer Anweſende ſich gerade jetzt — ob er 
will oder nicht — ſehr eindringlich vorſtellt. Alſo: Gedankenübertragung.“ 

„Wenn dem ſo iſt,“ warf der Medizinalrat ein, „dann erfahren wir heute 
abend ſchwerlich etwas — ausgenommen das, was wir ſchon wiſſen — alſo eigent- 
lich nichts oder doch nichts Neues.“ 


Frey: Gedantenlefen? 695 


„Deshalb wäre es jetzt noch gut, wenn wir uns unnötige Aufregung er- 
ſparten und gingen“, riet leiſe Dr. Bonini. 

„Nein, wir bleiben. Ich wenigſtens“, ſagte der Aſſeſſor beſtimmt. 

„Ich auch“, erklärte kurz der Medizinalrat. 

Der Ftaliener fügte fid) ſchnell. „Iſt mir auch recht“, räumte er ein und be- 
kam dabei einen hochmütigen Zug in die Mundwinkel. 

Bermann wollte noch etwas fagen, aber da bat der Vorſitzende um Ruhe — 
eine Tür ging im Hintergrund auf, und ein Mann und ein junges Mädchen traten 
ein. Das Alter des Mannes zu beſtimmen, war ſchwer. Er hatte ſpärliches Haar, 
war bartlos, trug eine Brille, hinter der ſeine Augen manchmal ſehr groß ausſahen 
und manchmal wieder ſich zuſammenzogen wie Katzenaugen. Sein Geſicht wechſelte 
häufig den Ausdruck, war blaß, faſt durchſcheinend, einmal zerknittert und dann 
wieder glatt, geſchlechtslos. Er machte lange Schritte. Sein hagerer Körper be- 
wegte ſich baftig in Gummigelenken. Er ſtrich ſich ein paarmal mit einer febr 
ſchönen Hand über halblange Nackenhaare. 

Der Vorſitzende ſtellte ihn vor. Er machte eine gleichgültige Verbeugung 
gegen die Stuhlreihen. Sein Name war William Paterſon. Er war Engländer 
und die ihn begleitende junge Dame ſeine Dolmetſcherin. 

Nachdem der Vorſitzende ein paar einleitende Worte über das Phänomen 
der Pſychometrie geſprochen batte, begann William Paterſon ſogleich feine Ber- 
ſuche. 

Er ſetzte ſich an den Tiſch und fuhr haſtig mit ſpielenden, taſtenden Fingern 
über die niedergelegten Gegenſtände. Dann griff er einen heraus, wog ihn in 
der Hand, ließ ihn wieder entgleiten, ſtand auf und nahm ihn abermals. Es war 
ein Schlüſſel. „Lebt die Perſon, die den Schlüſſel bisher beſeſſen hat, oder iſt ſie 
tot?“ frug er auf engliſch in das Publikum hinein. Die Dolmetſcherin überſetzte 
eintönig die Frage. 

demand — nämlich der, der den Schlüſſel mitgebracht — antwortete, die 
Perſon lebe. 

Paterſon ging vor dem Tiſch auf und nieder, blieb ſtehen, legte die linke 
Hand mit dem Schlüſſel auf den Rücken und die rechte über Stirn und Augen. 
Er beugte ſich ein wenig vor und wiegte den Oberkörper von einem Fuß auf den 
andern. „Ich ſehe — einen Mann“, begann er abgehackt. „Er ijt groß — und 
breit — hat einen weißen Vollbart —“ 

Eine Stimme aus dem Publikum unterbrach ihn: „Vollbart iſt falſch.“ 

Paterſon ließ die Hand von der Stirne fallen, warf den Schlüſſel auf den 
Tiſch und ging mit der Miene eines aus dem Schlaf gereizten Kindes auf den Bor- 
ſitzenden los, in den er halblaut und heftig hineinredete. Der erhob fid) und ver- 
kündete: „Herr Paterſon läßt die Herrſchaften dringend bitten, ihn während feiner 
Ausführungen nicht zu unterbrechen. Seine Experimente, die ohnehin anſtrengend 
genug find, werden ihm ſonſt bis zur Unmöglichkeit erſchwert. Nach Abſchluß bes 
einzelnen Experimentes ſteht es jedem der Anweſenden frei, Einwände vorzu- 
bringen. Ich bitte nochmals um die äußerſte Ruhe.“ 

Der Sprecher ſetzte ſich. Es herrſchte eine geſpannte Stille. Niemand wagte 


696 Frey: Gebantenlefen ? 


die Hand zu rühren. Nur bie Dolmetſcherin neben dem Tiſche fuhr jid mit dem 
Taſchentuch nervös über den Mund. 

And mitten durch diefe krampfhaft verhaltene Erregung ging mit bageren 
Beinen und weichlichen Bewegungen in den Gelenken William Paterſon, die 
letzten Schatten einer kindiſchen Gereiztheit in den geſchlechtsloſen Zügen. 

Er trat an den Tiſch und griff einen neuen Gegenſtand heraus. 

Den Schlüſſel beachtete er nicht mehr. 

Und nun ließ er, an Hand der verſchiedenſten Sachen, eine Reihe von Ver- 
ſuchen folgen, die, mit wechſelndem Glück, bald gelangen, bald, nach Ausſage der 
zur Prüfung Befähigten, fehlgingen. 

Zum Teil bot er Staunenswertes. Der Medizinalrat murmelte einmal 
Beifall. Dr. Boninis gepreßter Mund verhielt ſich ſtumm. 

Der Aſſeſſor ſaß wenig aufmerkſam, aber doch mehr und mehr benommen 
und beunruhigt von den Vorgängen, auf ſeinem Platz, in Gedanken ſtets zu ſeiner 
Ahr zurückkehrend. Wird ſie der Engländer überhaupt noch wählen? — Gerade 
ſtand dieſer wieder vor dem Tiſch und ließ die Hand unſchlüſſig hin und her gleiten. 
Endlich entſchied er fid. Er nahm die kleine goldene Uhr. Kaum hielt er fie zwi- 
ſchen den Fingern, — da entledigte er ſich ihrer ſo ſchnell wieder, daß es ausſah, 
als habe er ſich geſtochen oder verbrannt. Er rieb die Handflächen ein paarmal 
gegeneinander und ſagte mit Nachdruck: „Dieſer Gegenſtand flößt mir ein großes 
Unbehagen ein. Ich fühle mich krank und elend. Es werden mir unerfreuliche 
Dinge mitgeteilt.“ Er nahm die Uhr wieder auf und fragte geſchäftsmäßig: „Lebt 
die Perſon, welche die Uhr bisher getragen hat, oder iſt ſie tot?“ 

„Tot!“ rief, noch ehe der Aſſeſſor zu Worte kam, Dr. Bonini, und es klang 
wie eine verkappte Genugtuung. Darauf machte er einen Augenblick ein Geſicht, 
als habe er etwas Voreiliges begangen. Gleich aber lächelte er und gewann wieder 
in den Mundwinkeln ſeinen hochmütigen Zug. 

William Paterſon ſtreifte den Staliener mit aufmerkſamen Augen, dann 
begann er, von einem Bein auf das andere pendelnd, zu berichten — abgehackte 
Worte — die Linke mit der Uhr auf dem Rüden — die Rechte vor den Augen: 
„Ich ſehe eine Frau — ſchwere ſchwarze Haare — ſehr weiße Haut, dunkle Augen 
— ſie iſt lebhaft, beinahe wild — und auch unberechenbar und dann ſchrankenlos 
in Leidenſchaft —“ 

„Das ſtimmt doch alles nicht!“ raunte der Aſſeſſor. Dr. Bonini fag mit ge- 
ſchloſſenen Lippen. 

„— manchmal verträumt und weich — und hingebend. Sie liebt Muſik; 
wenn fie ihr lauſcht, verſchränkt fie die Hände im Nacken und öffnet den Mund ein 
wenig . .. Er machte die Geſte, und obgleich er häßlich war und eine Brille trug, 
hatte er den ſehnſüchtigen Ausdruck einer Frau in den Zügen. 

„Richtig! Wie merkwürdig!“ flüſterte Bermann diesmal. 

„Sie hatte ein heiteres Gemüt,“ fuhr Paterſon fort, „aber fie war unglüd- 
lich in der letzten Zeit — das Opfer einer dunklen Gewalt —“ 

Hier machte Paterſon eine Pauſe. Er legte die Uhr beifeite, ballte die Hände 
und ging unruhig hin und her. „Sie ijt noch nicht lange tot — ich ſehe eine füb- 


Leonhard: Entſchlummern 697 


liche Landſchaft — fie ijt ſchnell geſtorben —“ Er warf den Kopf in die Höhe und 
ſchloß die Augen. „Wir iſt ſehr unbehaglich,“ ſtöhnte er, „mir iſt ſchlecht! Ich ſehe 
viel Waſſer — lauter Waſſer um mich!“ 

Die Dolmetſcherin übertrug eintönig: Ich ſehe viel Waſſer, lauter Waſſer 
um mich. 

Plötzlich blieb Paterſon ſtehen: „Das Waſſer!“ rief er angſtgepeitſcht. „Soll 
ich da hinunter?“ Und mit einer Bewegung, durch die er ſich gleichſam befreite 
von ſeinem eigenen Menſchen, ſprang er einen Schritt zurück, fuhr ſich mit beiden 
Händen an die Kehle, brach in die Knie und ſchrie halberſtickt: „Laß mich los! 
Biſt du wahnſinnig, Sandro! Zu Hilfe!“ 

Biſt du wahnſinnig, Sandro. Zu Hilfe, fagte die Dolmetſcherin eintönig. 

Paterſon lag vornüber auf dem Teppich, die Hände aufgeſtützt. Er ſagte 
nichts mehr. Er atmete keuchend. Ein paar Herren, darunter auch der Medizinal- 
rat, ſprangen auf und eilten zu ihm. 

Der Aſſeſſor hatte ſich mühſam erhoben. „Was war das?“ fragte er heiſer. 

Dr. Bonini ſchien um einen Stich gelblicher zu fein als gewöhnlich. Er ver- 
zog ſein Geſicht zu einer Fratze, die einem Lächeln gleichen ſollte, und ſagte: „Lauter 
Schwindel. Die Viſion eines Narren. Was denn weiter?“ 

Mittlerweile hatte William Paterſon ſich erhoben und einigermaßen beruhigt. 
Er trat an den Tiſch, nahm die Uhr und wünſchte ſie dem Beſitzer zurückzugeben. 
Bermann wollte fie nehmen. Aber die erregten Hände der beiden Männer ver- 
fehlten ſich, und die Uhr glitt mit leiſem Klirren auf den Teppich. 

Der Aſſeſſor bückte ſich, ſie aufzuheben. Der rückſeitige Deckel war durch 
den Fall aufgeſprungen. Etwas flatterte heraus. Er griff danach. 

Es war ein kleines Bild. Der Ausſchnitt eines Kopfes aus einer Photo- 
graphie. 

Sie trug die Züge des Dr. Aleſſandro Bonini. 


LY 


Entſchlummern Von Rudolf Leonhard 


Selig iſt das: 

Wenn ſich die Augen leiſe ſchließen 
And im ertrinkenden Blick 

Zwiſchen den Dingen der Welt 

Neue Dinge aufgehn, 

Wunderreicher, bildſamer; 

Und wir wie Kinder mit zagem Schritt 
Ans ſcheu und furchtſam in die neuen 
Welten verlieren. 

Und doch voll Neugier; 

Und alle Dinge ſich in neue Schleier — à — 
— Selig ijt bas. 


BY 


Die Schwierigfeit mg T Theologie ins 


der Gegenwart - Sedanten im Sinne eines Laien, 
Von W. Nithack⸗Stahn 


ie noch immer andauernde Ebbe in der Ziffer der Theologieſtudieren- 

den mag zu jenen natürlichen Bewegungen gerechnet werden, von 
denen die Statiſtik auf allen Geiſtesgebieten zeugt. Man mag auch 

auf die wirtſchaftliche Lage der evangeliſchen Geiſtlichen verweiſen, 
bie erft neuerdings gehoben worden. Man redet fogar von einem Mangel an Zdea- 
lismus, an Sinn für die Religion, der ſich hier offenbare — obwohl das eine grobe 
Verkennung der Gegenwart ift und die Hochfluten im theologiſchen Studium 
keineswegs immer mit idealiſtiſchen Zeitſtrömungen zuſammenfielen. Daß jene 
dußerlichen Gründe die Tatſache nicht voll erklären, darauf deutet ſchon der Am- 
ſtand hin, daß ſo viele Theologen von heute ins Schulfach übergehen, anſcheinend, 
um dem Pfarramt auszuweichen. 

In der Tat, wer die Theologie und die Kirche der Gegenwart kennt, kann 
kaum zweifeln, daß zwiſchen dieſen beiden Faktoren innere Schwierig- 
keiten liegen, die vielen unüberwindlich ſind. Schon der Gymnaſiaſt, der ſich 
für ein Studium zu entſcheiden hat, empfindet — unter dem Eindruck von Reli- 
gions- und Konfirmandenunterricht — die Mängel unferes Kirchentumes. Wenn 
nicht die häusliche Erziehung oder beſondere Anlage ihn vor Kirchenfremdheit 
ſchützten, ſo teilt er als Sohn ſeiner Zeit die allgemeinen Empfindungen. Er hört 
von Konflikten moderner Prediger mit ihrer Behörde, und fein Herz ſchlägt für 
die Vertreter der Gedankenfreiheit. Und iſt er kein mutiger, kampfbereiter Cha- 
rakter, ſo ſchreckt er vor einer Laufbahn zurück, die ihm dergleichen in Ausſicht ſtellt. 
Mehr aber noch als (olde Möglichkeiten — wir nehmen es zur Ehre unſerer Zu- 
gend an — ijt es die Scheu vor inneren Anſicherheiten, die ihn von 
der Theologie zurückhält. Er foll in ſpäteſtens fünf Jahren, von der 8mmatritu- 
lation an gerechnet, öffentlich eine Religion vertreten, deren unbedingte Wahr- 
heit ihm vorläufig nicht feſtſteht. 

Dieſe Schwierigkeit ijt zwar nicht von geſtern und ehegeſtern. Ihre Ur- 
ſprünge reichen bis auf die Anfänge der Neuzeit, auf Humanismus und Refor- 
mation zuruck. Sie liegt im Weſen des Proteſtantismus, ſowie in dem gegen- 
wärtigen Stande der Theologie. 


Nithad-Stahn: Die Schwierigkeit der Theologie in der Gegenwart 699 


Die proteſtantiſche Theologie hat fid) in Einzeldiſziplinen aufgelöſt, bie mit 
denen anderer Fakultäten: der Geſchichte, der Philoſophie, der Sprachwiſſenſchaft, 
der Quellenforſchung, der Literarkritik zuſammenfallen und ſich nur durch ihren 
Gegenſtand, nicht aber durch ihre Methode von ihnen unterſcheiden. Kurz geſagt: 
wir haben keine Scholaſtik mehr. Kaum noch in der katholiſchen Kirche; in der 
evangeliſchen grundſätzlich nicht, trotz mancher unklaren Verſuche, einen Erſatz 


dafür zu ſchaffen. Denn das Ergebnis theologiſcher Arbeit iſt uns nicht im voraus 


da und als ſolches anerkannt. Nicht, daß es eine „vorausſetzungsloſe Wiſſenſchaft“ 
irgendwo gäbe, auch der Naturforſcher bringt eine Weltanſchauung im voraus 
mit. Aber doch iſt jede Wiſſenſchaft von heute, auch die Theologie, im Grunde 
beſtrebt, nichts von vornherein gelten zu laſſen, alles in Frage zu ziehen oder doch 
zu dulden, daß es geſchieht, und immer wieder die letzten Gründe zu prüfen — 
mit einem Wirklichkeitsſinn, der der Neuzeit eigen iſt. So iſt der Theologie der 
Gegenwart das Chriſtentum nicht die gegebene Wahrheit, ſondern zunächſt eine 
geſchichtliche Größe, die unterſucht werden will, ohne daß das Ziel, zu dem man 
gelangt, ſchon erkennbar wäre. Freilich wird auch der freieſtdenkende Theologe 
für die Religion, die ſeines Lebens Inhalt ausmacht, ein natürliches Wohlwollen 
haben; nicht wie ein buddhiſtiſcher Denker ſteht er dem Chriſtentum fremd und 
kalt gegenüber, iſt er doch bewußt oder unbewußt durchtränkt von chriſtlichem 
Weſen. Dennoch, ſe gewiſſenhafter er ſeine Arbeit nimmt, deſto peinlicher wird 
er Voreingenommenheiten abwehren, wird er von ſeinem Gegenſtand den inneren 
Abſtand nehmen, der ihm das rechte Augenmaß gibt und Störungen von der Ge- 
fühlsſeite aus verhindert. Kurzum: er wird vorſätzlich objektiv urteilen, überzeugt, 
daß nur dies ein wiſſenſchaftliches Verfahren ſei. 

Nun treten naturgemäß bei ſolchem Betriebe der Theologie jene Berfdie- 
denheiten, ja Gegenſätzlichkeiten auf, die auf anderen Wiſſensgebieten förderlich, 
hier doch zugleich dem Lernenden eine Gefahr bedeuten. Denn auch die evange- 
liſche Theologie will nicht eine Privatgelehrſamkeit fein, ſondern zum Kirchen- 
amte ſchulen; und doch erkennt ſie keine Kirche an, die ihr ſelbſt eine Lehrautorität 
wäre. Eine ſolche wäre aber eigentlich da vonnöten, wo im letzten Grunde nicht 
Forſchungsergebniſſe, ſondern Weltanſchauungen ſich gegenüberſtehen und eine 
Entſcheidung gefällt werden muß, von der der Eintritt in den Beruf abhängt. 
Sind doch auch die theologiſchen Prüfungen nicht nur wiſſenſchaftliche Befähi⸗ 
gungsnachweiſe, ſondern Proben darauf, ob der Kandidat im Glauben der Kirche 
ſteht. So liegt für den Theologieſtudierenden eine doppelte Schwierigkeit vor: 
daß er während des Studiums nicht weiß, ob er zu dem geforderten Glauben 
gelangen werde; und daß ihm am Ende niemand maßgeblich ſagen kann, welches 
dieſer geforderte Glaube fei. Denn weder die vielberufenen, aber bod) unmaf- 
geblichen „Bekenntniſſe“ bilden eine Glaubensinſtanz, noch eine jeweilig „herr⸗ 
ſchende Theologie“, die ſich bei höchſten Anſprüchen doch nie für die allein mögliche 
erklären darf. So entſcheidet dem proteſtantiſchen Theologen zum Schluſſe doch 
das oft verketzerte, aber nicht zu entbehrende „innere Licht“. 

Man hat geſagt, die Studierenden anderer Wiſſenſchaften wären in gleicher 
Lage. Auch der Juriſt, der es ernſt mit ſeinem Berufe nähme werde in ſchwere 


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700 Nithad-Stabn: Die Schwierigkeit der Theologie in der Gegenwart 


Probleme des ſittlichen Denkens hineingeſtoßen; auch der Mediziner habe mit 
philoſophiſchen Fragen zu ringen, deren Beantwortung — man denke an den 
Nervenarzt — auf ſeine Berufsarbeit abfärbe; auch der Eleve des Poſtfachs werde 
vor die Gewiſſensfrage geſtellt, ob er innerlich fähig ſei, dem Staate zu dienen, 
der ihn beauftragt. Kurzum, jeder Stand erfordere das Eingehen des Individuums 
auf ein Gemeinbewußtſein, das von gewiſſen religidfen und ſittlichen Überzeu- 
gungen nicht zu trennen fei. Das ift wahr. Und doch verlangt kein Beruf fo febr 
den Einſatz perſönlicher Geſinnung wie der des Theologen, der Religion, und zwar 
eine beſtimmte Religion, von Amts wegen zu vertreten hat. 

Dies aber kann nur geſchehen, wenn die Religion mehr ijt als eine Ausſtrah- 
lung jenes inneren Lichtes im einzelnen. Wenn ſie von Menſch zu Menſch mit- 
teilbar ijt und dazu eine Form annimmt, die allen verſtändlich und dem Denten- 
den überzeugend iſt. Es iſt das unbeſtreitbare Recht des katholiſchen Chriſtentums, 
daß es den Gläubigen eine allgemein gültige Wahrheit in lehrhafter Geſtalt bieten 
will, daß es dem religidfen Subjektivismus damit begegnet. Nur das verwerfen 
wir, daß es dafür eine Glaubensbehörde errichtet und ſich in die Sackgaſſe der Über- 
lieferung verlaufen hat. Jedoch, wer will leugnen, daß eine Kirche begrifflich 
geformte Symbole braucht? Und fie zu ſchaffen, ift Theologie berufen. Theo- 
logie aber iſt Wiſſen von Gott. Und dies nun iſt die tiefſtliegende Schwierigkeit 
des Proteſtantismus von heute, daß die Möglichkeit einer Gnoſis, einer Wiffen- 
ſchaft vom Überfinnlihen weithin geleugnet wird. Man ift nur allzu bereit, zu- 
zugeſtehen, daß uns „die Ausſicht nach drüben verrannt“ fei. Und doch müffen 
wir, um Religion zu haben, über die ſinnlich gegebene Welt hinaus, hinüber ins 
Jenſeits. Wie kommen wir dahin? Durch die Annahme geſchichtlicher Tatſachen? 
Und feien fie noch fo außergewöhnlich und geiſtig groß, fie können wohl Eindruck 
auf unſer Gemüt machen, die Phantaſie beſchäftigen, den Willen ſpornen — es 
bleibt doch bei Leſſings Wort, daß ſie unmittelbaren Wahrheitsbeweis nicht geben 
können. Das kann auch keine Perſönlichkeit der Geſchichte, und reiße ſie uns 
gewaltig hin, entzünde an ihrem Glaubensfeuer das unſere und rege alle guten 
Geifter in uns auf. Was fie uns zu fagen hat, muß doch erft durch unfer vernünf- 
tiges Denken hindurch, um uns zu überzeugen. Sonſt entſtünde nur Suggeſtion, 
nicht Glauben. Und vor allem könnte fo keine Religion entſtehen, die eine Men- 
ſchenwelt gewinnt. — Noch weniger ſicher und geraten ſind die Wege, die mancher 
Chrift heute einſchlägt, um in das Überfinnliche zu gelangen: die einer perſönlichen 
Offenbarung, wie Theoſophie, Spiritismus und Okkultismus ſie verheißen. Mögen 
diefe Verſuche noch fo viele Anzeichen einer anderen Welt bringen, fie fordern einen 
ekſtatiſchen Rauſch, der erft die Probe der Vernunft beſtehen müßte, um als Be- 
weis zu gelten. Nein, ſoll ein Menſch an Gott glauben, das heißt, bewußt für ihn 
leben, ſo muß er ihn mit allen geiſtigen Organen faſſen, ſo muß er ihn auch mit der 
Vernunft erkennen. Darum brauchen wir eine Metaphyſik, eine Wiſſenſchaft von 
Gott. Daß ſo viele unſeres Geſchlechtes, auch Theologen, ohne ſie auszukommen 
meinen, liegt wohl daran, daß ſie im ſtillen von einer alten Metaphyſik zehren. 

So wäre dies vielleicht die Löſung der Schwierigkeiten der Theologie von 
heute, daß man einfach zurückkehrte zu jener anfänglichen Theologie, die ſo kühn 


Müller: Entfagung 701 


und fider Gottes Weſen umſchrieb; bie die alten Symbole ſchuf? Warum nicht 
— wenn es nicht im Sinne einer bloßen Unterwerfung unter die Tradition ge- 
ſchähe? Wenn man es nicht nur um der Pietät willen täte oder aus Mangel an 
eigenem Denken? Aber die alten Gottesbeweiſe hat Kant zerſchlagen, in dieſer 
Geſtalt ſtehen fie nicht wieder auf. Und zu dem alten Dogma gehört ein Welt- 
bild, das wir nicht mehr haben noch erneuern können. — Oder ſoll die Religions- 
geſchichte der Pfadfinder ſein, der uns auf neuem Wege zu Gott führt? Aber 
ſie kann nur darſtellen und vergleichen, muß immer beim relativen Urteil bleiben. 
All die ungeheure kritiſche Arbeit der proteſtantiſchen Theologie ſeit Leſſing wollte 
und konnte doch nicht zu dem einfachen Sätzlein führen: Das iſt gewißlich wahr. 

Noch einmal: was führt uns dahin? Die Geſchichte lehrt, daß alle großen, 
geiſtigen Gewißheiten der Menſchheit aufgegangen ſind, nachdem ſie zuvor an 
allem gezweifelt hatte. So muß der geſamte Inhalt unſeres Bewußtſeins wieder 
einmal unterſucht, und das Unmittelbarſte, was wir zu wiſſen glauben, auf ſeinen 
Widerſtand gegen den Zweifel geprüft werden. Und hier — nicht in der Ge- 
ſchichte zuerſt, noch in der Außenwelt — müſſen wir Gott finden, wenn anders 
er iſt. Und wir müſſen von dieſem Gotte in uns aus den Mut faſſen, über den 
zuſammengebrochenen Materialismus hinweg und über deffen verſchämten Halb- 
bruder, den Monismus hinweg jenen philoſophiſchen Zdealis mus wieder- 
gewinnen, in dem allein es eine Theologie gegeben hat und geben wird. 

Nicht der Glaube des einzelnen Frommen hängt an dieſer Erkenntnis Gottes 
— auch auf kümmerlichem Geiſtesboden gedeiht er — aber die Zukunft der Theo- 
logie und der Kirche wird daran hängen. Denn was dem modernen Menſchen 
fehlt, (inb religiöfe Sicherheiten. Darum macht ihm der Ratholizis- 
mus Eindruck, auch wenn er nicht katholiſch glauben kann. Darum flüchtet er ſich 
ins Myfteridfe, wo man ihm das Uberſinnliche handgreiflich zu machen verſpricht. 
Und vergebens rühmt man ihm den Tatbeweis des praktiſchen Chriſtentumes. 
Denn dem Zweifler von heute genügen nicht die „guten Werke“, um „den Vater 
im Himmel zu preiſen“, den er ſich nicht mehr denken kann. Und ſo iſt die 
Schwierigkeit, die den heutigen Theologen drückt, keine andere als die für den 
Laien und muß für alle behoben werden: dadurch, daß der chriſtliche Gottes- 
begriff, den wir aus der Geſchichte lernen, nicht nur als vereinbar mit dem Welt- 
bilde der Gegenwart, ſondern als denknotwendig erwieſen werde. 


S 


Entſagung Von Ernſt Theodor Müller 
Ein weißes Wölkchen ſteht im Mondenlicht, 
Das noch im Schlaf von einem Wunſche ſpricht. 


In ſeinen Traum hat lange mitgeſchaut 
Ein dunkles Auge, tränenübertaut. 


Nun hebt ſich langſam eine Stirn ins Licht 
Und nimmt den Kranz, den ihr Entſagen flicht. 


* 


Da müßte ich ja Tinte geſoffen haben 


(Auch eine Sprachſtudie) 
Von Fritz Müller (Zürich) 


inmal habe ich einen alten Freund gefragt, warum er gar nicht 
heirate. 

„Da müßte ich ja Tinte geſoffen haben“, ſagte er. 
* „Tinte?“ , 

„Jawoll, Tinte. Natürlich, Tinte. Was denn ſonſt als Tinte? He?“ Mein 
Freund iſt nämlich ein wenig rechthaberiſch. 

„Na, vielleicht eine Flaſche Champagner.“ 

„Champagner? Blech! Champagner? Ha! Tinte, Freund, Tinte! Bere 
ſtehſt du? Du weißt doch, was Tinte iſt, he?“ 

„Gewiß, Gerbſäure plus Eiſenſalze.“ 

„Na, ſiehſt du!“ 

„Aber ich fehe nicht ein, warum gerade das Tintetrinken zum Heiraten .. .“ 

„So! jot! Na, heirate nur mal, dann wirft du's ſchon lernen, das Tinte- 
trinken.“ 

„Erlaube mal, dreh's doch nicht um. Wie aus dem Tintetrinken die Heirat 
entſteht, davon war die Rede.“ 

„Ach was, Tinte iſt Tinte, vor der Heirat oder nachher.“ 

„Wir wollen nicht ſtreiten. Ich ſchlage dir vor: Wenn du mir einen bringſt, 
der vor ſeiner Heirat Tinte geſoffen hat, dann ſollſt du recht haben, und ich zahle 
eine Flaſche Champagner, ja?“ 

„Jawoll, abgemacht, jawoll!“ 

Dann fab ich meinen Freund eine ganze Weile nicht. Aber im General- 
anzeiger fand ich mehrere Tage lang ein Inſerat: 


ii Tintenſäufer ft! 
Leute, bie ſchon einmal nachweislich Tinte 


geſoffen haben — Quantum ohne Belang — 
oder die andere Tintenſäufer namhaft machen 
können, wollen fid) melden. Gute Belohnung. 


Müller: Da müßte ich ja Tinte gefoffen haben | 703 


Am Samstag fdleppte er mir einen langen, dürren Mann herein. Der 
batte einen Kurvenrücken und einen grünen Augenſchirm. 

„Da!“ ſagte mein Freund. Er bemühte ſich, ſiegesgewiß auszuſehen, aber 
er war es nicht. 

„Was ſind Sie?“ fragte ich den grünen Augenſchirm. 

„Schreiber beim Kataſteramt.“ 

„Verheiratet?“ 

„Ja.“ 

„Und Sie haben alſo ſchon Tinte 

„Gewiß, gewiß; ich habe nämlich feit meiner Jugend leider die Gewohn- 
bet, Tintenkleckſe abzulegen.“ 

„Lecken?“ ſagte ich und ſah meinen Freund vernichtend an. „Lecken iſt 
nicht ſaufen. Der nächſte, bitte.“ 

Am Montag ſchon präſentierte er ihn, den nächſten. Es war einer, der er- 
zählte, einmal habe er im Finſtern Durſt gehabt und die Tintenflaſche er- 
vijdt ... 

„Tintenſäufer aus Verſehen“, ſagte id) kühl. „Nein, lieber Freund, un- 
taugliches Mittel am untauglichen Objekt —“ 

„Sagen Sie mal,“ wandte ich mich an das Objekt, „würden Sie ſich dazu 
verſtehen, Tinte ganz aus freiem Willen ...“ 

„Was fällt Ihnen denn ein; da- müßte ich ja Tinte geſoffen haben.“ 

„Haben Sie ja!“ 

Wir ſahen zu dritt einander an. Etwas ungewiß, etwas komiſch, etwas be- 
ſtürzt. Das war klar: ein Ausdruck, der ſo zu tiefſt in der Sprache wurzelt, wie 
das Tinteſaufen, der mußte eine geheimnisvolle Geſchichte haben. 

Da gingen wir, mein Freund und ich, in die ſpaniſche Bodega, um dahinter 
zu kommen. Bei einem Glaſe Wein kommt man hinter allerlei Abgründlichkeiten, 
wenn man's recht beginnt. 

Wir begannen mit einem tiefroten Xeres. Die Juanita kredenzte ihn. Die 
Zuanita war eine Spanierin. Das ſah man ihr an. Ihrem Deutſch auch. 

„Wie ſmeckt Ihnen Vino Tinto?“ ſagte ſie. 

Wir ſpitzten die Ohren wie die Schießhunde. Tinto hatte ſie geſagt, Tinto? 

„Wie können Sie dieſen braven Wein eine Tinte heißen, Juanita?“ 

„Oh, das nicht wiſſen Sie? Oh — oh — Vino Tinto fein dunkler Wein, 
ſwarzer Wein.“ 

Auch der Zuanita Augen funkelten wie „ſwarzer Wein“, wie Vino Tinto. 

„Proſt!“ ſagte ich. „Die Tinte laſſen wir uns ſchon gefallen, nicht, alter 
Freund?“ ; 

Aber bet hatte feine Nafe ſchon tief in den Tinto verfentt, unb feine Augen 
blingelten von unten herauf ſeelenvergnügt in den andern Tinto von Zuanitas 
Augen — — — 

Ei, es war eine lange Sitzung jenen Abend. 


+ * 
* 


704 Zeh: Zum Abend 


Und am andern Morgen war das Unglück da: mein Freund war an der 
Zuanita Augen unlöslich hängen geblieben, hatte ihr die Ehe verſprochen, fagte, 
er hätte es jetzt nachgerade fatt, fo mutterſeelenallein, und jo weiter ... 

Es war nichts zu machen, auch bei der Zuanita nicht. Und ſie heirateten 
glatt und in den vorgeſchriebenen bürgerlichen Bahnen. 

Den Hochzeitschampagner bezahlte ich. Denn da war nun wirklich einer, 
der zur Heirat durch das Tintoſaufen kam. 

Das heißt — ganz klar war ja die Tinte immer noch nicht. Die ſichtbare 
Wurzel des merkwürdigen Tinteſaufens lag noch nicht bloß. 

Aber bei der Hochzeitsfeier ſaß der Philologe Spürſchürfer neben mir. Den 
fragte ich. Er blätterte in ſeinem Philologengehirn nach. 

„Tinte ſaufen — Tinto ſaufen? Warten Sie, warten Sie — richtig, ja... 
Da waren deutſche Landsknechte in Spanien damals, verſtehen Sie, deutſche 
Landsknechte. Die tranken den dunkeln Vino Tinto am Abend oft wie Waſſer, 
verſtehen Sie, wie Waſſer. Machten dann natürlich dumme Streiche, und des 
Morgens beim Appell bekamen ſie ihre Naſe vom Hauptmann, Naſe, verſtehen 
Sie. Dann bekannten fie entſchuldigend: „Wahrhaftig, da muß ich wieder ein- 
mal Tinto gefoffen haben!“ verſtehen Sie, Tinto geſoffen haben.“ 


- 


GAL Ven OG = 
(ESSA ARE TAY 


Qum Abend Bon Paul Bed 


Nahe (don bes Abends dunkler Schwelle, 
Fühl' ich, wie mein Herz fid) ſüß erregt, 
Ruhendes wird wieder ganz bewegt 

Und zu neuen Fahrten Wind und Welle. 


Laute, die noch nie im Dunkel ſangen, 

Füllen wie Geläut mein Traumgemach,. 

Und das Bildnis, das ſich tags in fremden Spiegeln brach, 
Halt’ ich wie ein Kleinod feſt umfangen. 


Wie von Ewigem bin ich umwaltet; 
Immer fremder fühl' ich mich geſtaltet, 
Bis mein Staunen blind ins Grenzenloſe geht. 


Und noch ehe ich es klar begreife, 


Welt und Wanderſchuhe von mir ſtreife, 
Zwingt's mich auf die Knie und wird Gebet. 


2 — 77 Y 
Su = 


2 | 
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mann als eine ſpießbürgerliche Krämerſeele, die nicht viel weiter als an ihren Pro- 
fit denkt und, ſoweit dieſer Ehrgeiz befriedigt wird, eine gehorſame Dienerin des 
Geſetzes von der Ruhe als der oberſten Bürgerpflicht oder, nad) Kungfutſiſcher Sbealifierung, 
von der harmoniſchen Mitte ift, die ein friedlich-ſchiedliches Gleichmaß alles menſchlichen Seins 
berftellen foll. Der Europäer, der chineſiſchen Boden betritt, bekehrt fidh febr bald zu anderen 
Auffaſſungen. Er ſieht, wie ſelbſt in den Rüftenftädten, wo europäiſche Ordnung feſten Fuß ge- 
faßt hat, die Pfandhäuſer, die die Stelle von Banken vertreten, wie Feſtungen ummauert und 
verſchanzt ſind als Wahrzeichen der Tatſache, daß die Geſchichte des chineſiſchen Reichs von 
der älteften Zeit bis auf den heutigen Tag an blutigen Bürgerkämpfen, an brutalen Kriegen 
gegen innere und äußere Feinde faſt reicher ift als die irgendeines abendländiſchen Staats- 
weſens. Er kommt nach Peking, dieſem aus vielen Städten zuſammengeſetzten Völkerlager, 
und meint angeſichts der ſtarrenden Mauern, die die einzelnen Quartiere abſperren, der un- 
zähligen Trupps von Soldaten und Soldatesken, von denen die Straßen durchſchwärmt wer⸗ 
den, fih inmitten eines rieſigen Kriegsarſenals zu befinden. Er gerät zufällig in einen Provinz- 
ort und nimmt an dem Schauſpiel teil, wie vor dem Haus des Taotai eine laut ſchreiende und 
offenbar zu jeder Gewalttätigkeit bereite Menſchenmenge ſich angeſammelt hat, die dem hohen 
Herrn handgreiflich klarmacht, was ihm droht, wenn er feine Steuererpreſſungen fortſetzt. 
Derlei Neigung zum Putſchen und Revolutionieren ift freilich mehr Süd- als Nordchineſenart. 
Der „Mantſe“ rechts der Jangtſegrenze, ber Mainlinie des Reichs der Mitte, ijt der Südromane 
Europas, der durch kleinſte Reizungen leicht zu gefährlichen Ausſchreitungen ſich hinreißen 
läßt. Vom Nordchineſen hingegen findet fih (bon in einem Atlas aus der Zeit Karls V. — 
Chamberlain gedenkt deffen in feinen „Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts“ — der 
links des Gelben Meers eingezeichnete Vermerk: „Dies Land wird von Leuten bewohnt, die 
den Oeutſchen febr ähnlich find.“ Dem auf den erſten Blick hidft ſonderbar und faſt abgeſchmackt 
erſcheinenden Vergleich des mittelalterlichen Geographen wohnt eine febr viel tiefere Wahr- 
heitsbedeutung inne, als man denkt. Dem Nordchineſentum, alfo dem raſſenreinen Stamm- 
volk, eignen tatſächlich auffallende Charakterähnlichkeiten mit dem alten Deutſchtum ſchon in 
dem kriegeriſchen und ritterlichen Geiſt, der es ehedem beſeelte. Der beredte Zeuge deſſen iſt 
die poetiſche Literatur, der klarſte Herzensſpiegel jedes Volks. Seine klaſſiſche Dichtung iſt 
voll von Verherrlichungen glänzender Kriegstaten, voll von ſprühender Freude an Waffen- 
klang und Waffenruhm, voll von Begeiſterung für tapfere Mannbarkeit und für alle Sitten 
und Bräuche, die ſolchen Heldenlebens Begleiterinnen ſind. i 
Der Zürmer XV, 5 47 


106 Das itterlich-ariftotratifche China 


Die Blütezeit der älteſten Epoche chineſiſcher Dichtung fällt gufammen mit der Herr- 
ſchaft der Tſchudynaſtie (1122—255 v. Chr.); ihren Mittelpunkt bildet die Sammlung Tſutſe, 
die den Liſaozyklus und die ſogenannten Neun Geſänge umfaßt. Der erſtere epiſche Kreis 
behandelt den jahrzehntelangen und überaus blutigen Kampf zwiſchen dem Staat der Tſin, 
des „Volks von Wölfen und Tigern“, und dem mit dem König von Ffu verbündeten Staat 
der Tſi (dem heutigen Schantung), und zeigt die Vorzüge, die den meiſten folder urfprüng- 
lichen, von keiner Oreſſur überfeinerter Geſittung beeinflußten Kunſtſchöpfungsſtufen eignet: 
ein natürliches, echt dichteriſches Empfinden, Schärfe und Männlichkeit der Sprache, ver- 
bunden mit überraſchender Prägnanz der Bilder, Größe und natürliche, plaſtiſche Behand- 
lung des Stoffes, ein ſtahlharter Stil als Ausdruck heldenhaften Sinns, der die ganze Schöp- 
fung durchgeiſtigt. Als Probe der packenden ſinnfälligen Form, in der hier des Kampfes Hoheit, 
Harſt und Not und Tragik beſungen wird, fei bier nur ein Stück des die Entſcheidungsſchlacht 
am Tantſche ſchildernden „Todes der Krieger“ wiedergegeben. 


Oie mächtigen Hellebarden faſſen ſie, Zur Linken Oreigeſpanne ſtürzen, 

Bedecken ſich mit Nashornpanzern. Zur Rechten Wunden ſchlägt das Schwert. 

Die Naben 1) mengen ſich, Der Staubſand zwiefach rollt. 

Die Feinde kommen wie die Wolken, Aufſpringen Vlergeſpanne, 

Die Pfeile kreuzend fallen nieder, Oer Perlſtab ſchlägt 

Die kurzen Waffen ſich begegnen, Die eherntönige Trommel, 

Oie Krieger eifernd drängen vor. Oer Himmel wird ſchwarz vom Haß 
Der richtenden Sötter, 

Sie ſchrecken unſere Reih'n. Hingemetzelt werden alle, 

Sie überſpringen unſern Weg, Geworfen auf den Grund der Wildnis.) 


Der zweite chineſiſche Sidterfrübling, der mit dem Jahr 180 v. Chr. anhebt unb bis 
600 n. Chr. dauert, zeichnet ſich dadurch aus, daß er die zarteſten und feinſinnigſten Blüten 
der Lyrik der „Blume der Mitte“ zur Entfaltung bringt. Aber bei dieſer Entwicklung zum 
Gefühlsinnigen hin geht die Luſt an der kraftvoll-derben kriegeriſchen Heldenweiſe keineswegs 
unter. Im Gegenteil! Der Dichter Kunſt blieb ſtets in engſter Fühlung mit dem kriegeriſchen 
Geiſt, der von den kaiſerlichen Hoflagern, von gewaltigen Herrſchern wie Wuti, dem Größten 
unter den Großen der Handynaftie, ausſtrahlte, und wurde ein ununterbrochen forttönendes 
Echo der Kriegstaten, durch die in jener glanzvollen Zeit die Nation ihre Macht und ihr Welt- 
anſehen immer mehr erhöhte. Vor allem find es jetzt die Feldzüge zur Sicherung der inner- 
aſiatiſchen Grenzen gegen die wilden Völker der indoſkytiſchen Jütſchi, der Hiungnu (Hunnen), 
der Tunguſen, mit ihren ungemeinen Beſchwerden und ihren Bewegungen in einem fagen- 
umſponnenen Land, in dem über Steppen und Wüſten die Firnen rieſenhafter Gebirgshäupter 
erglänzen, welche der Dichtung den großen geſchichtlichen und romantiſchen Stoff leihen, 
das heldiſche Temperament beim Weben ihres bunten Teppichs wecken. Und mitten in dieſe 
ernſten Kriegestubarufe hinein klingt wieder das helle, luſtige Gaiten- und Glockenſpiel von 
bes Rittersmanns und des Nittergefellen freiem fahrenden Leben, genau wie in unſerer 
mittelalterlichen Feudalzeit. So beiſpielsweiſe in des Oichterfürſten Litaipo lebensfriſcher 


„Einkehr ins Wirtshaus“: 
Am Goldmartt im Often 
Man Nnaben erblickt 
Auf Schimmeln. Die Sättel 
Sind ſilberbeſtickt. 
Im Lenzwind ſie reiten 
Ourch fallende Blüten. 
Wo kehret die luſt'ge 
Geſellſchaft wohl ein? 
Zur Kellnerin geht es 
Ins Wirtshaus hinein. 
1) O. h. ble Schlachtwagen. 
2) O. h. ihre Körper werden ſchmachvollerweiſe undegraben auf dem Schlachtfeld zurüdgelaffen. 


Das ritterlich· ariſtokratiſche China 707 


Oder es werden die Herrlichkeiten der Jagd geprieſen oder das Lob ritterlicher Ramerad- 
ſchaft geſungen oder endlich, und nicht zum wenigſten, die Trinkfeſtigkeit ftreitbarer Mannen 
gefeiert. Wenn es alte deutſche Vorſtellung iſt, daß zum waffenkundigen Mann auch eine 
trinktundige Kehle gehört, fo läßt die klaſſiſche Poeſie Chinas keinen Zweifel darüber, daß 
man dortzuland damals nicht anders gedacht hat, und offenbart uns ſo die Schwingungen eines 
wahlverwandten Seeleninſtruments, das der biedere Deutſche im allgemeinen wohl am wenig- 
ſten im „bezopften Reich der Mitte“ vermutet. 


- 


Weife aus bem Altertum Gíao!) war ein Fürſt gar groß, 
Heute fein fie talt und ftumm, Hielt Gelag im Pingloſchloß, 
Nur wer tüchtig trinken kunnt, Wo man taufend Nübel Wein 
sit noch itzt in aller Mund. Jagte in den Schlund hinein. 


Wiſſet, jeder brave Mann 
Halt niemals im Trinken an. 
Sich bezechen ift ihm Pflicht, 
Nüchternheit iſt nobel nicht. 


Sind derlei vom Pegaſus der Trinkſeligkeit herabtönende Ergüffe nicht durchaus auf 


bie Atmoſphäre unſerer Kommerslieder geſtimmt? 


* * 
* 


Kungfutſe war nichts weniger als ein feuerköpfiger Neuerer. Sein ganzes Sinnen 
und Wollen war auf die Wiederbelebung der Daſeinsformen und des Glücks einer fagen- 
umwobenen Zeit gerichtet, jener Epoche der Tſchudynaſtie, zu der er als einer Art Vormillennium 
herrlichſter Entwicklung nationaler Kultur und Macht zurüdblidte, und mit deren Geiſt er ſich 
in gewiſſem magnetiſchen Rapport nach jener eigentümlich orientaliſchen Vorſtellung einer 
Weltſeele, die als Zuſammenſetzung unendlicher pſychiſcher Elemente ein inniges Band zwi- 
ſchen Lebenden und Toten knüpft, verbunden fühlte. Das war die Epoche hoher Ahnen, die 
als Zeichen für „Ich“ in feiner Urform eine den Speer haltende Hand wählte und jhon damit 
deutlich von ihrer ariſtokratiſch-individualiſtiſchen Weltanſchauung ihrem Sinn für mannhafte 
Selbſtbehauptung des einzelnen und ihrer Verehrung perſönlicher Heldengröße laut Kunde 
gab. Zugleich aber ſah der „Weiſe von Lu“ mit Schrecken die verheerenden Folgen, die in 
einer fpäteren zügellos gewordenen Zeit das trotzige rückſichtsloſe Pochen auf diefe Rechte 
des Ich hatte. Die Macht des Kaiſertums war geſunken, wie fpäter in Japan die des Temmo 
unter der Schogunatsregierung verblapte. Die wirklichen Herren des Landes waren die immer 
mächtiger gewordenen Lehnsfürſten des alten Neunfelder Staatsweſens, die wieder unter (id) 
in ſtändiger blutiger Fehde lagen, ſo daß das Reich ein Spielball der widerſtreitenden feudalen 
Intereſſen wurde und politiſch wie wirtſchaftlich in immer größere Ohnmacht fant. Wie Meiſter 
Kung dieſen heilloſen Zuſtänden ein Ende zu machen ſuchte, iſt wenigſtens nach der einen Seite 
der ſozialen Reformpolitik weltbekannt. Fußend auf gewiſſen blutsverwandtſchaftlichen Ge- 
ſellungsformen uralter Zeit entwickelte er das patriarchaliſche Syſtem, das alle Mitglieder der 
chineſiſchen Volksgemeinſchaft im wechſelſeitigen Verantwortlichkeitsgefühl und in der Be- 
wußtwerdung der Zugehörigkeit zu einem großen, die perſönlichen Wünſche und Begierden 
bindenden und unterordnenden ſittlichen Organismus zu einer uns kaum verſtändlichen Snnig- 
keit aneinanderknüpfte. Der andere Teil ſeines reorganiſatoriſchen Werkes aber wird, obwohl 
ohne ihn das Ganze ein ungeſtalter Torſo wäre, im Abendland ſehr wenig gewürdigt: der- 
jenige nämlich, der durch Betonung und Entwicklung der überlieferten individualiſtiſch-ariſto⸗ 
kratiſchen und monarchiſchen Ideen dem Sozialismus feiner reformatoriſchen Schöpfung ein 
Gegengewicht gab. Deffen doppelte Achſe kann in zwei Worten gekennzeichnet werden: Ming 
und Li. Das Wing iſt der Wille des Himmels, die höhere Ordnung, deren gebietende Stimme 
jedes unverderbte Herz deutlich in ſich vernimmt und die ihm anzeigt, „was zu ergreifen ift 


3) Oer Bruder des erſten Wei-Ralſere. 


708 Das ritterlich· ariſtokratiſche China 


unb was zu fliehen“. Träger und Beſchützer des Ming auf Erden aber kann nur ein edler 
Fürſt ſein, der durch Bewährung ritterlicher Tugenden, ſittlicher und geiſtiger Größe das 
Gottesgnadentum an (id) bindet, das freilich nicht nach europäiſch-royaliſtiſchen Anſchauungen 
in ſtreng dynaſtiſcher Folge an fein Haus gebunden ift. „Es hängt locker am Himmel“ und tann 
und foll, wenn der für[tlide Erbe verſagt, an einen Vornehmen übergehen, der fih der Weihen 
des Ming würdiger erweiſt. Die Idee bat ſomit gewiſſe Ahnlichkeit mit dem deutſch-mittel- 
alterlichen Wahlkaiſertum. Das Li aber ift das Geſetz der Unantaſtbarkeit der Perſon, der un- 
verãußerlichen Rechte jedes Menſchen und der Ehrfurcht vor feiner Perſon eben als einem 
„Gefäß des Ming“: alfo eine Art Magna Charta des chineſiſchen Bürgers, bie (id) kosmopoli- 
tiſch zur Forderung des Maßhaltens, der Verträglichkeit und Freundſchaftlichkeit im Verkehr 
mit allen Nationen ausweitete. ö 

Zugleich aber nahm Kungfutſe das ariſtokratiſche Prinzip noch von einer anderen Seite 
auf. Den Gedanken, in dem ſich letzten Endes die Philoſophie aller weltbewegenden Geiſter 
beſchließt, Die Hinaufentwicklung der Menſchheit zu immer höheren Stufen gottähnlicher Ver- 
vollkommnung, ſucht er der Verwirklichung entgegenzuführen, indem er ſtatt der feudalen 
eine geijtige Ariſtokratie als entſcheidende Inſtanz und als hidftes Tribunal aller Fragen 
der nationalen Kultur und Wohlfahrt einſetzte. Dieſen Adel bilden die „Güntſe“, das Gelcbrten- 
tum, das den zuverläſſigen Hort vornehmer Geſittung, unabläſſigen und eifrigen intellektuellen 
Vorwärtsſtrebens und harmoniſcher Ordnung des bürgerlichen Lebens bilden und unter deffen 
Hirtenſchaft die Maſſen im paffiven Mitgenuß ber fo ſtändig fid) mehrenden Gefittungsgüter 
und werte eines Willen, beſchaulichen Glücks fid) erfreuen ſollten. Die tatſächliche Entwicklung 
der Oinge iſt freilich hier wie nach ſo vielen anderen Richtungen hin gänzlich anders geweſen, 
als ſie Meiſter Kung ſich dachte und forderte: ſtatt freie Wiſſenſchaft zu pflegen und Dienerin 
des Staatswohls zu fein, verfiel die Güntſe⸗Ariſtokratie alsbald ödeſtem, reaktionärem Scholafti- 
zismus und trägt die Hauptſchuld daran, daß China allen entſcheidenden Problemen moderner 
Ziviliſation gegenüber in mittelalterlicher Verſteinerung und Verfinſterung des geiſtigen Hori- 
zonts befangen blieb. 

k e & 

Sedem, ber mit dem Chineſentum aus perſönlicher Kenntnis Oftafiens oder aud nur 
durch eingehendes literariſches Studium vertraut geworden iſt, war bei der Nachricht vom 
Übergang des Reichs der Mitte zur republikaniſchen Regierungsform fo viel von vornherein 
klar, daß dieſer umſchwung noch keineswegs einen entſcheidenden Sieg des radikalen, von 
den triumphierenden Roming vertretenen Demokratismus bedeutete, daß der neue „Tatſung- 
hoamingko“, die Republik der Mitte der Geſittung, ſicherlich nicht nach dem Schema anderer 
revolutionierter orientaliſcher Staatsweſen ſich entwickeln und plötzlich im prunkenden, aber 
ſchlecht ſitzenden Gewand moderner parlamentariſcher Regierungsformen erſcheinen werde. 
Dieſe Vorausſetzung hat ſich bekanntlich ſehr bald als richtig erwieſen. Die Mandſchudynaſtie 
wurde nicht eigentlich geſtuͤrzt, ſondern blieb, als Mittlerin zwiſchen Himmel und Volk im Sinn 
des Ming, gleichſam als theokratiſche Spitze einer halbrepublikaniſchen Verfaſſung beſtehen. 
Sobald die Regierung von Nanking nach dem alten geſchichtlichen Reichszentrum Peking 
zurüdverlegt war, trat der Einfluß der Gefolgſchaft Sunjatſens, der „echten Republikaner“, 
in das Zeichen abnehmenden Lichts, um heute fogar von den eigenen ehemaligen Parteifreun- 
den, wie beiſpielsweiſe dem Revolutionsgeneral Wuſungling, bekämpft zu werden, der dicht 
vor den Toren Rantons, des Hauptlagers der Komingtang, eine neue Partei „Heer zur Rettung 
der Welt“, das heißt zur Rettung Chinas vor dem Fluch der Herrſchaft ber Umſtuͤrzler, ge- 
gründet hat und mit dieſer Organiſation, die offen auf eine Gegenrevolution hinarbeitet, 
täglich wachſenden Zulauf findet. Dr. Morriſon, der britiſche Ratgeber und Vertrauensmann 
Zuͤanſchikais, liebt es zwar, die Dinge fo darzuſtellen, als ob China unter dem neuen Regiment 
fi eines Zuſtands ſegensreichſter Entwicklung und glidlidfter Ruhe erfreue, findet aber mit 


Das ritterlich · ariſtokratiſche China 709 


dieſem Optimismus Anklang nicht einmal in London, und wie ganz anders die Verhältniſſe 
tatſächlich liegen, dafür hat Schreiber dieſer Zeilen einen handgreiflichen und kaum zu wider- 
legenden Beweis in einer Sammlung von Flugſchriften, die in China an Stelle unſeres Zeitungs- 
weſens die öffentliche Meinung vertreten, ihr beſtimmte politiſche Ideen ſuggerieren und 
namentlich in aufgeregten Zeiten wie den gegenwärtigen maſſenhaft im ganzen Land ver- 
breitet werden. Wer in dieſen Pamphleten, Libellen, Lampoons nach Verherrlichung der 
Republik ſucht, wird nur eine höchſt ſpärliche Ernte halten. Um ſo zahlreicher ſind die Schriften 
und Karikaturen, in denen bas neue Regierungsſyſtem mit allen Laugen des ätzenden und 
biſſigen chineſiſchen Witzes und derber Fronie übergoſſen, ihm vorgeworfen wird, daß es weit 
ſchlimmere Zuſtände geſchaffen, als fie jemals unter den Mandſchus geherrſcht hätten, daß es 
überdies infolge der Schwäche der inneren Parteizerriſſenheit das Vaterland der Beutegier 
böswilliger Nachbarn preisgebe. | 
In folden Hinweiſen auf wenig gewürdigte Charaktergrundlagen der Bürger des 

Himmliſchen Reichs iſt der pſychologiſche Schlüffel zu dem ſchnellen politiſchen Wetterumſchlag 
gegeben. Der temperamentvolle, leicht erregbare und „ſtets nach neuen Dingen begierige“ 
Süddhinefe mochte fid) leicht für die von Studenten und Literaten aus Japan und Amerika 
bezogenen Cinfubrgiiter radikal⸗demokratiſcher Ideen begeiſtern. Der nachdenklichere, ruhigere, 
ethiſch tiefer verankerte Nordchineſe weiß damit nichts Rechtes anzufangen. Seine in jabt- 
taujenbalter Überlieferung und geſchichtlicher Entwicklung wurzelnde ariſtokratiſch· monarchiſche 
Weltanſchauung widerſpricht ſolchen Vorſtellungen diametral; er prüft fie auf ihren Rarat- 
gehalt, ihre Wirkungen und Erfolge und findet nichts, was ihn von feinen altgefefteten Tiber- 
zeugungen abdrängen könnte. „Wu fang, wu fa“ — kein Fürft, kein Recht! — mit dieſem ur- 
alten chineſiſchen Sprichwort leitete tränenden Auges ein greiſer, hochangeſehener Staatsmann 
im Pekinger Beratenden Ausſchuß ſeine Rede ein, in der er die heilloſe Verwirrung des ganzen 
ſtaatlichen Mechanismus unter den republikaniſchen Auſpizien klagend darlegte, und feine Aus- 
führungen, die auf eine verdeckte Befürwortung ber Wiederherſtellung der Monarchie hinaus- 
liefen, fanden keinerlei grundfäglichen Widerſpruch. Hand in Hand aber mit der Ernüchterung 
über die Segnungen der Revolution, die von den Radikalen in ſo glänzender Weiſe hingeſtellt 
wurden, geht ein Erwachen des früheren ritterlich-militäriſchen Geiſtes. Wenn das neue China 
vielleicht auch nicht bei der neuen Regierungsform beharren wird, fo ift doch [o viel (don heute 
ſicher, daß in ihm, getragen von der Beſorgnis um die Gefahren, die dem innerlich geſchwäch⸗ 
ten Reich von außen drohen, die breite Woge eines neuen Patriotismus ſich emporgehoben hat 
und von Tag zu Tag mächtiger anſchwillt. Das Beiſpiel Japans wirkt. Der Ritterſinn und 
Militarismus, der dort aus den Ideen des Lehnſtaates, aus dem Pflichtenkodex des Jamato 
Damaſchi und Buſchido entſtanden, foll im Reich der Mitte als allgemeines Volksgut aus den 
Zdealen eines geſteigerten vaterländiſchen Gefühls, das in der Erinnerung an eine ruhmreiche 
Vergangenheit großer Ahnen ſeine Nahrung findet, entwickelt werden. Heute gibt es bereits 
kaum eine größere chineſiſche Stadt, in der nicht Bürgervereine auf eigene Fauſt militäriſche 
Übungen veranſtalten, und in bem neuen Programm Tſaijüanpeis zur Reform des Schul- 
weſens nimmt die Forderung ſoldatiſchen Orills der Jugend von den unterſten Lehrſtufen an 
eine erſte Stelle ein. In einer der Flugſchriften ſingt ein patriotiſcher Barde: 

Auf, o Jünglinge! 

Eilt zu den Fahnen alle! 

Dak China ftar? werde, 

Gilt es, Bürger ſtark zu machen. 


Wo alle Waffen tragen, tragen müffen, 
Iſt des Landes Hoheit geſchaffen! 


Die Verſe find hölzern, triefen von unpoetiſcher Lehrhaftigkeit; aber der Appell an die 
Opferfreudigkeit aller für die Macht und Wohlfahrt des Staats, die Forderung allgemeiner 


710 $jeudter unter den Tieren 


Wehrpflicht iſt doch eine ganz neue Note erſtarkten nationalen Bewußtſeins, deren Klang in 
der Seele des Durchſchnittschineſen noch vor zehn Jahren kaum das Schwingen einer gleich- 
geſtimmten Saite ausgelöſt hätte — — 

Die chineſiſche Revolution, die nicht etwa ihr Ende erreicht hat, ſondern auf den erſten 
Stufen des dramatiſchen Prozeſſes ſteht, befindet (id) gegenwärtig in dem Entwicklungsſtadium, 
wo die tieferen ſeeliſchen Kräfte ſich ans Licht drängen, gegeneinanderſtoßen, die Katharſis 
vorbereiten, und diefe Wendung läßt — das ijt der Lichtblick im Dunkel der Umſturzbewegung — 
den Auftrieb von mancherlei wirklich lebensſtarken, feſt im Boden chineſiſcher Eigenart wur- 
zelnden Energien erkennen, deren Neubefruchtung und Triumph China vor dem Schickſal der 
Türkei retten könnte, daß dem Aufgang des abendländiſch-demokratiſchen Morgenſonnenlichts 
alsbald das Abendrot des Verfalls folgte. Dr. Frhr. von Mackay 


e 
Heuchler unter den Sieren 


mnis homo mendax! Alle Menſchen find Lügner! Alſo heißt es bereits kurz und 
bündig im Pſalm 116, 11. Die Verſtellungskunſt auf Roften von Treu und Glauben 
Sy iſt demnach eine altehrwürdige, unb die Tatſache, daß unfre Ahnen alſo auch nicht 
beſſer geweſen, als wir es ſind, dürfte gewiß bei manchem ein Gefühl relativer Befriedigung 
hervorrufen. 

Indes — es kommt noch beſſer. Der Menſch lügt und heuchelt nicht allein; auch das 
Tier tut's. In ſeiner „Sprache“ ſowohl wie in ſeinen Handlungen offenbart ſich in mannig- 
facher Weiſe ſeine Fähigkeit zur „Vorſpiegelung falſcher Tatſachen“, allwie man ſich juridiſch 
auszudrücken beliebt. 

Der Täuſchungswille und das Täuſchungsvermögen bilden einen ganz befonderen Zweig 
der Intelligenz, und ihr Vorhandenſein ſetzt immer eine höhere geiſtige Begabung voraus. 

Das Tier heuchelt und lügt nach genau denſelben Prinzipien wie der Menſch; einmal 
ſucht es jid) Vorteile zu erringen, zum andern ſtrebt es, fid) Nachteile zu erſparen, im Be- 
wußtſein, daß ihm beides auf „geradem Wege“ ſchwer oder gar nicht möglich ſein würde. 

Die augenfälligſten Wahrnehmungen dieſer Art machen wir natürlich an unſren Haus- 
tieren. Das Tier, das dem f'ommanbo des Menſchen unterſteht, wird mehr oder minder 
gezwungen, ſeine eigenen Neigungen dem Willen ſeines Herrn unterzuordnen; je nach Art 
und Temperament des Tieres bringt dies erfahrungsgemäß Differenzen mit ſich, die oft die 
Geduld des Oreſſeurs, oder richtiger, des Erziehers, bis aufs äußerſte erſchöpfen. Auch das 
Tier beſitzt Individualität, auch das Tier beſitzt einen Willen, und der vernünftige Menſch 
wird dieſer Naturgabe Rechnung zu tragen haben, will er ſich anders im Tier e einen treuen 
Diener, nicht aber einen heuchleriſchen Sklaven heranbilden. 

Oft genug tritt aber ſelbſt beim beſtgezogenen Tiere der Fall ein, daß es einmal Nei- 
gungen verſpürt, von denen es recht wohl weiß, daß ſie ſein Herr nicht billigt, denen es aber 
trotzdem nicht entſagen mag. Hier ift nun der Moment gekommen, wo die „Lift“, das Täuſchungs- 
vermögen, in Aktion tritt. 

Vor Jahren beſaß ich einen kleinen Hund von etwas ſchwer definierbarer Raſſe, deffen 
Dichten und Trachten, gleich dem des menſchlichen Herzens, böſe von Jugend auf war. Dazu 
beſaß er einen nie erlahmenden Tatendrang, dem beſonders während meiner Abweſenheit 
die verſchiedenſten Gegenſtände zum Opfer fielen. Selbſtverſtändlich erteilte ich meinem „Jack“ 
daraufhin etliche Lektionen über Hundeanſtand, und ich hatte auch die Freude, meine päda- 
gogiſchen Auseinanderſetzungen begriffen zu ſehen. Allein ich ſollte bald genug die Entdeckung 


Heuchler unter den Tieren 711 


machen, daß „Jack“ jid) durchaus nicht in ein Gunde-Zdeal verwandelt hatte — er befriedigte 
vielmehr ſeinen Tatendurſt nun im Verborgenen, ſo daß oft erſt nach Tagen die Spuren ſeines 
Wirkens aufgefunden wurden. 

Die kritiſche Beobachtung meines Hundes lehrte mich nach einiger Zeit phyſiognomiſche 
Refultate finden — bekanntlich ijt für den ſcharfen Beobachter auch ein HOundegefidt febr 
ausdrucksfähig! 

Für gewöhnlich trug Sad eine äußerft frech- vergnügte Miene zur Schau, und meine 
Heimkehr pflegte er ſtets mit einer faſt beleidigenden „Wurſchtigkeit“ aufzunehmen. Anders 
war's, wenn er ein böſes Gewiſſen hatte. Da konnte er ſich anſcheinend vor Wiederjehens- 
freude gar nicht beruhigen, und feine ſchmeichelnde Liebenswürdigkeit kannte keine Grenzen. 
Die erſten Male gelang es Jack ja auch, mich zu „belämmern“, dann aber wußte ich, daß dies 
heuchleriſche Gebaren mich nur von der Durchſuchung der Wohnung abhalten ſollte. Inter- 
eſſant war dann die Wandlung in Jacks Benehmen, ſobald er ſah, daß ſeine Schmeicheleien 
nicht verfingen. Dann legte er ſich gewöhnlich in ſeinen Korb, um zu ſchlafen. Natürlich ſchlief 
er den bekannten Schlaf des Gerechten nur zum Schein, und hinter den Vorderpfötchen hervor 
verfolgten ſeine argwöhniſchen Augen jede meiner Bewegungen. Sobald er aber merkte, 
daß ich mich der Stätte ſeiner Miſſetat näherte, ſprang er plötzlich auf und ſuchte nun ſchmeichelnd 
und unter Zeichen tiefſter Reue das dräuende Strafgericht abzuwenden oder doch wenigſtens 
zu mildern. 

Zack verfügte indeſſen noch über einen zweiten Trick. Er war ein Bummelgenie, und 
das hatte wenigſtens inſofern ein Gutes, als er ſich dadurch ſchließlich an Stubenreinheit 
gewohnte. Sehr bald aber benützte der Schlauhuber feine Bedürfniſſe als Mittel zum Zweck; 
er heuchelte dieſe in ſo kurzen Friſten, daß man endlich ſtutzig wurde und Jacks Ausgänge fortan 
von „höherem“ Ermeſſen abhängig machte. 

Ser Pinſcher eines Freundes wandte übrigens einen ähnlichen Kniff an, um ſich „Urlaub“ 
zu verſchaffen. Er pflegte plötzlich die Ohren zu ſpitzen, unter wütendem Gebell nach der 
Vorſaaltüre zu ſpringen, um dadurch die Meinung zu erregen, daß fid) draußen „was Verdäch⸗ 
tiges“ herumtreibe. Wurde dann die Türe geöffnet, um die Urſache zu ergründen, ſo hatte 
der geriſſene Pintſcher ſeinen Zweck erreicht. Mit freudigem Kläffen entſchlüpfte er durch den 
Türſpalt, und bis er wieder kam, hatte es gute Weile. Von einem Verdachtserreger vor der 
Tür war natürlich niemals eine Spur! 

Auch der Spitz meines Vaters, Fips, war ein Heuchler, und darunter hatte ich in meiner 
Kinderzeit manches zu leiden. Fips hielt ſehr darauf, an unſeren Ausflügen teilzunehmen, 
neigte aber zur Korpulenz und infolgedeſſen zur Bequemlichkeit. Darum empfand er ben 
Heimweg ftets als etwas ſehr Unangenehmes, dem er fid) jedoch auf eine höchſt raffinierte 
Weiſe zu entziehen verſtand. Er begann zu hinken. Wurde er dann teilnehmend gefragt: „Du 
haſt wohl ein böſes Pfötchen?“ dann zog er ein klägliches Geſicht, begann ſteinerweichend 
zu winſeln, und das Ende vom Liede war, daß ich Unglückswurm alsdann Fips nach Hauſe 
tragen mußte. Einſt aber brachte der Zufall Fipſens böſes Trugſpiel ans Licht. Als wir eben 
die heimiſchen Penaten erreicht, ſetzte ich erſchöpft den zehnpfündigen Patienten auf die Erde; 
da kam gerade Nachbars Männe daher, und mit einem Male hatte Fips ſein „krankes Pfötchen“ 
vergeſſen und tollte ſogleich wie närriſch mit ſeinem Kumpan umher. — Seit jenem Tage 
ward Fipſens Hinken nicht mehr beachtet, und als er dies merkte, gab er's auch bald auf, den 
Kranken zu ſpielen. 

Einen geradezu ans Menſchliche ſtreifenden Charakterzug aber beſaß der Jagdhund 
Sylva eines befreundeten Herrn. Dieſer war in Geſellſchaft ein höchſt liebenswürdiger, im 
Familienkreiſe aber ein ſehr rauhbeiniger Herr. Sylva hatte nun herausgefunden, daß ſeine 
Zuneigungskundgebungen gegenüber der Familie ſeinem Herrn mißfielen. Er begann darum 
mit einemmal gegen fie Gleichgültigkeit, ja zuweilen fogar offene Antipathie zu zeigen, und 


712 Heuchler unter den Tieren 


die Folge davon waren Belobigungen und Leckerbiſſen. Sobald ſein Herr aber nicht zugegen 
war, benahm fid Sylva wie umgewandelt; ba war er der liebenswuͤrdigſte Hund der Welt, 
und dies in fo freudig- aufrichtiger Weiſe, daß unſchwer zu erkennen war, daß er jetzt feiner 
Empfindung folgte, während er vorher aus VBerſtandes gründen feinem Herrn zu lieb 
Abneigung geheuchelt hatte. — Wer wollte hier wohl nur von „Inſtinkt“ ſprechen? 

Ein wahres Lumpengenie aber war der Dackel eines Förſters. Feldmann war von 
Natur ſehr offenfin veranlagt; die Hochſchule der Oreſſur hatte daran vieles geändert, aber 
nicht alles. 4 

Viel Mühe hatte es beſonders gekoſtet, ihn zu Schnurri, der Hauskatze, in ein leidlich 
gutes Verhältnis zu bringen. In Gegenwart feines Herrn zeigte er fid) denn auch febr ver- 
träglich, ſobald er fid) aber unbeobachtet glaubte, ließ er keine Gelegenheit vorübergehen, 
Schnurri eins auszuwiſchen. 

Auch zur Familie Gockel ſchien Männe in gutem Einvernehmen zu ſtehen, und als 
von den zwölf Küchlein eines Tages drei fehlten, fiel der Verdacht auf Schnurri, in deren Korb 
man etliche Flaumfederchen entdeckte, — Beweis genug, um Schnurri daraufhin gehörig 
das Fell zu gerben. 

Etliche Wochen waren vergangen, da war in einem unbewachten Augenblicke aus der 
Küche ein Schweinskotelett verſchwunden, und feltfamerweife fand man beim Nachſuchen nach 
„Spuren“ den abgenagten Knochen wiederum auf Schnurris Lagerplatz. 

Des Förſters Alteſte behauptete indeſſen, Schnurri ſei den ganzen Vormittag mit ihr 
im Garten geweſen, es miiffe alfo „irgend jemand“ der armen Schnurri einen böſen Streich 
geſpielt haben. So wandte ſie für diesmal das Strafgericht von ihrem Lieblinge ab, aber der 
Förſter erklärte, das naſchhafte Vieh müſſe aus dem Haufe. 

Der Beſuch eines Onkels, der Schnurri entführen follte, ſtand bevor, und bas Förſters- 
töchterlein hatte daraufhin ihr Kätzchen verſchwinden laffen; d. h. fie hielt es wohlverwahrt 
in ihrem Stübchen. — Schnurri war weg! 

Und trotzdem! Eines Abends war außer Schnurri noch etwas anderes „weg“, nämlich 
der ſehr anſehnliche Reſt einer Rehkeule. 

Wiederum wurde kriminaliſtiſche Hausſuchung gehalten, und dieſe zeitigte ein über- 
raſchendes Reſultat: der abgenagte Knochen fand (id) wiederum in Schnurris Korbe vor, der 
doch (eit Tagen unbenü&t ftand! 

Seht war ber große Moment getommen, wo fid) bewahrheiten follte, was der Dichter jagt 

„Die Tugend fiegt 
Das Böfe muß verderben.“ 

Triumphierend erbrachte das Förſterstöchterlein Schnurris Alibi, und logiſcherweiſe 
kam man alsbald auf die Vermutung, am Ende könne Feldmann der Miſſetaͤter geweſen fein. 

Der Herr Förſter machte kurzen Prozeß. Er rief Feldmann zu ſich her und führte ihn 
an Schnurris Lager, wo noch immer der Knochen lag. Da begann Feldmann plötzlich kläglich 
zu winſeln, und, den Schwanz einziehend, ſuchte er mit einem raſchen Seitenſprunge zu ent- 
weichen; — dies Benehmen war ſo gut wie ein offenes Geſtändnis! Aber des Förſters nervige 
Fauſt war raſcher als der Dackel, und nun ereilte ihn fein gerechtes Schickſal. Schnurri aber 
war gerächt und ihre Ehre wiederhergeſtellt! 

Bei dieſer Gelegenheit ſei auch einmal der leider ſo verbreiteten und gedankenloſen 
Redensart vom „falſchen“ Katzengeſchlecht entgegengetreten. 

Die Katze, ſofern ſie von klein auf vernünftig behandelt wird, iſt ihrem Herrn genau 
ſo treu wie ein Hund. Ihre „Falſchheit“ wird zumeiſt mit dem oft unvermuteten Gebrauch 
ihrer Krallen begründet; man bedenke aber, daß bei dieſem fo vielfach verhetzten und mik- 
handelten Tiere oft eine jähe, unbewußte Bewegung hinreicht, in ihm die Vorſtellung zu 
erwecken, bedroht zu fein! Andererſeits aber bringt auch harmloſes Spiel die Natzenkrallen 


geuchler unter den Tieren 713 


in Tätigkeit, unb es kann geſchehen, daß fie wider Willen kleine Wunden hinterlaſſen. Zwiſchen 
Menſch und Rabe waltet eben noch immer ein bedauernswertes Mißverſtehen ob. 4 

Keineswegs aber ijt die Katze frei von Heuchelei; aud fie fucht ihre begangenen Unarten 
zu verbergen, auch fie ſtrebt danach, verbotene Sonderintereſſen möglichft ungeſehen verfolgen 
zu können. Rechtsbegriffe und „Schuldbewußtſein“ hat ſie genau wie der Hund. 

Mein Vater beſaß z. B. (wie er erzählte) als nabe eine „vogelrein“ gezogene Rabe; 
diefe lebte mit etlichen frei im Zimmer umherfliegenden Singvögeln im tiefſten Frieden, und 
ſelbſt die gelegentlichen Neckereien eines übermütigen Stares vermochten Mieze niemals, ihre 
gute Erziehung vergeſſen zu laſſen. Anders jedoch verhielt ſie ſich im Garten. Sobald ſie ſich 
unbeobachtet glaubte, genierte fie ſich durchaus nicht, ihrem Jagdtriebe die Bagel ſchießen zu 
laſſen, doch brauchte ſie ſtets die Vorſicht, etwaige Federreſte ſorglich zu verſcharren. Einmal 
aber erwiſchte ſie mein Vater dabei, wie ſie gerade eine junge, tieffliegende Schwalbe mit 
der Pranke niederſchlug. Bei dem nun ertönenden ſcharfen Zuruf ſchrak Mieze ſichtlich au- 
ſammen, gleich darauf aber trollte ſie gemächlich, mit unſchuldsvoller Miene dem Hauſe zu, 
in der offenſichtlichen Abſicht, den Anſchein zu erwecken, als ſtehe ſie zu der am Boden liegenden 
Schwalbe nicht im mindeſten in einem Zuſammenhange. Die Schwalbe erwies ſich übrigens als 
unverletzt und nur vom Schreck momentan betäubt; ſie flog nach kurzem vergnügt von dannen. 

Eben fo ſchlau benahm fid) auch eine zweite, halbwilde Katze, der man auf dem väter- 
lichen Gutshöfe Heimatsrechte gewährt hatte. Als man bemerkte, daß fie Familienmutter 
geworden, ſuchte man den Aufenthaltsort ihrer Kleinen zu erforſchen. Umfonft! Die Schlau- 
bergerin führte beharrlich alle Sucher irre und verlockte ſie zu oft halsbrecheriſchen Partien 
über Planken, Gerüfte und Holzſtapelplätze hinweg, ohne daß aber je ein Erfolg erzielt ward. 
Erſt gelegentlich eines ſtarken Gewitters ſiegte die Mutterliebe über die Vorſicht, und die Rake 
brachte ihre Zungen in die Küche geſchleppt, wo ihnen auch gern Obdach gewährt ward. Nach 
überjtandener Gefahr trug die Rage ihre Kleinen jedoch gleich wieder fort, und dabei entdeckte 
man, daß fid) die „Wiege“ der kleinen Kätzchen dicht am Haufe, hinter einem Holzſtoß, befand. 
— Selbſtverſtändlich tat man der beſorgten Mutter den Gefallen und ignorierte diefe Entdeckung. 

Nun aber zu dem edelſten unſrer Haustiere — zum Pferd! 

Am meiſten kommt hier der Trick in Frage, Erſchöpfung oder Krankheit zu heucheln. 
Ein Beiſpiel hierfür bietet der Braune „Fritz“ eines Gutsbeſitzers. 

Fritz hatte dreimal pro Woche landwirtſchaftliche Produkte nach der etwa drei Stunden 
entfernt liegenden Stadt zu befördern. Der Hinweg ging auch ſtets flott von ſtatten, auf dem 
Heimwege aber begann Fritz ſtets an einer beſtimmten Stelle zu lahmen, und jene Stelle 
befand ſich etwa fünf Minuten vor der — „roten Schenke“, die etwa den Mittelpunkt des 
Weges bildete. Wohl oder übel mußte fih der gefühlvolle Noffelenter dazu herbeilaſſen, zum 
Wohle ſeines „Fritz“ in der Schenke eine längere Raft zu halten. 

Als jedoch einſt ausnahmsweiſe der Sohn des Bauern die Fahrt beſorgte, kam Fritzens 
Heuchelei ans Licht. Der junge Mann beachtete nämlich das Lahmen des Pferdes nicht und 
fuhr an der „roten Schenke“ vorbei. Und o Wunder! Etliche Minuten ſpäter gab Fritz fein 
Hinken auf! 

Oer kleine Vorfall wurde damals viel belacht, und Fritz hieß ſeitdem nie anders, als 
„der Komplize“ ſeines Herrn. 

Ein anderes heuchleriſches Pferdeſubjekt war „Fatma“, die zierliche Rappſtute eines 
Reitlehrinſtitutes. In Gegenwart des Lehrmeiſters benahm fid Fatma ftets untadelhaft 
fanftmütig und gehorſam; wehe aber dem argloſen Reitſtudenten, der (id) verlocken ließ, auf 
Fatma einen Renommierſpazierritt zu wagen. Eine Viertelſtunde nach dem Abreiten hatte 
er ſich mit apodiktiſcher Gewißheit von ſeinem Gaule getrennt! Wie das zugegangen, wußte 
er ſpäter natürlich nicht zu (agen, denn die tüdifche Fatma pflegte mit Blitzesſchnelle zu ar- 
beiten“. Nicht zufrieden mit der Niederlage ihres Reiters, ließ ſich Fatma, die fonft während 


714 Heuchler unter den Tieren 


des Sattelns und Aufſitzens doch ſtets ſo muſterhaft „fromm“ war, aber um keinen Preis ein 
erneutes Aufſitzen gefallen, unb (o blieb dem unglücklichen Reiter denn nichts anderes übrig, 
als fein triumphierendes Roß per pedes apostolorum nad) Haufe zu führen, wo er zum Schaden 
auch noch den Spott der Stallbedienſteten einſtecken mußte. Erſt nach Jahren ward Fatmas 
Heuchelei und Tücke entdeckt, und dann ermangelte man natürlich nicht, energiſch ihre Tücke 
und Heuchelei zu bekämpfen. 

Wenn hier aber nun einmal von Lug und Trug der Tierwelt die Rede iſt, ſoll nicht 
vergeſſen ſein, auch den Altmeiſter animaler Liſt, Meiſter Reinecke, zu erwähnen. 

Man könnte ſchier ein Büchlein über feine unendlich vielſeitigen trügeriſchen Manöver 
ſchreiben, doch iſt es ja bereits ſattſam bekannt, daß Reineckes Intelligenz immer neue Tricks 
auf dem Repertoire hat, wenn es gilt, ſich ſcheinbar harmlos an ſeine Beute heranzupürſchen, 
oder den verfolgenden Weidmann oft noch im letzten Augenblick um den Sieg zu prellen. Hier 
nur zwei kurze Berichte: 

Ein junger, friſch eingefangener Fuchs war interimiſtiſch in einer alten Taubenvoliere 
einquartiert worden. Reinecke ging ſogleich an eine genaue Snipizierung feines Quartiers 
und machte plötzlich an einer Stelle halt, die einen ausgebeſſerten Defekt aufwies. Dann aber 
trabte er ſcheinbar gleichgültig weiter und legte ſich nach kurzem auf das Heulager zum Schlafen 
nieder. Ein ſchlafender Fuchs wirkt naturlich auf die Länge der Zeit febr langweilig, und 
darum entfernten fid) auch ſchließlich feine Beobachter. 

Als fie nach einer Stunde zurückkehrten, war Meiſter Reinecke verduftet! Bei näherem 
Hinſehen aber ergab ſich, daß er an eben jener flüchtig ausgebeſſerten Stelle ausgebrochen 
war und daß man ſich von ſeiner ſcheinbaren Schickſalsergebenheit hatte übertölpeln laſſen. 

Ein weiteres Fuchsſtuͤcklein erzählte ein Herr aus dem Zſchopautale wie folgt: 

Sch mußte die unangenehme Erfahrung machen, daß meinem Hihnerbeftande auch 
ein Fuchs ſein geneigtes Intereſſe zugewandt hatte; trotz der beſten Fallen und der verlockendſten 
„Witterung“ fiel es dem Burſchen aber gar nicht ein, ſich fangen zu laſſen. Schließlich ſetzte ich 
mich mit dem Sagbinbaber ins Einvernehmen, lieh mir ben Hund eines befreundeten Nimrods 
und zog auf die Fuchspürſch. 

Direkt hinter meinem freigelegenen Grundſtück dehnte fid) ein anſehnlicher Streifen 
Wieſenland, der bis zum nahen Walde führte, über dieſes Gebiet hinweg führte mich der Hund 
zuverſichtlich bis zu einer ſteinigen, hügeligen Waldblöße, an deren weſtlicher Seite ein ſeichtes 
Wäſſerlein talwärts rann. Der Marſch hatte ungefähr eine knappe Stunde gedauert, nun 
blieb der Hund plötzlich ſtehen und ſtieß ein ärgerliches Winſeln aus. Es war offenſichtlich, 
daß hier feine Kunſt zu Ende war. 8d ſuchte eingehend das ganze Terrain ab, aber der Hund 
hatte für meine Bemühungen nur einen mitleidigen Blick; er wußte, daß hier kein Reſultat 
zu finden war. 

Zufällig begegnete mir auf dem Nüdwege der alte Königliche Oberförſter, dem ich 
mein Leid klagte und der ſchließlich den Vorſchlag machte, nach dem ſteinigen Hügel zurüd- 
zukehren. Dort angekommen, blieb ſein Blick ſogleich auf dem ſeichten Wäſſerlein haften, und 
lachend rief er: 

„Na, der Halunke iſt eben im Waſſer gelaufen, um ſeine Fährte zu verdecken! Wir 
werden oberhalb des Hügels das Waſſer abdämmen, und dann wett’ ich hundert gegen eins, 
daß wir alsdann ‚errötend feinen Spuren‘ folgen können.“ 

Der alte Weidmann hatte recht. Zwei Tage fpdter waren wir fo glücklich, dem Erz- 
ſchelm Reinecke einen unerwünſchten Beſuch abzuſtatten, bei dem nicht bloß er, ſondern zwei 
hoffnungsvolle Fuchsſprößlinge das Leben laſſen mußten. Wo aber lag die Villa Reineckes? 
Kaum zehn Minuten von meinem Grundſtücke entfernt! So batte alfo der vierfüßige Rante- 
ſchmied einen täufchenden Umweg von zirka einer Stunde nicht geſcheut, um nur ja vor den 
„dummen Menſchen“ recht ſicher ſein zu können. — 


Heudles unter den Tieren 715 


Das Beſtreben, ihre Wohnftätten geheim zu halten, ijt übrigens den Tieren faft allgemein 
eigen, und ſelbſt der ſehr wenig intelligente Hafe verſucht durch irreführende Seitenſprünge 
den Feind über den Ort ſeines Neſtes bzw. Lagers im unklaren zu laſſen. | 

In ähnlicher Weiſe wie die Säugetiere wiſſen auch die Vögel ihre Horſte unb Neſter 
zu verbergen; auch ſie beſchreiben oft weite Umwege, ehe ſie den Flug ins Heim wagen, und 
demſelben Vorſichtsprinzip entſpringt auch die Gepflogenheit vieler, die Exkremente ihrer 
Sprößlinge nach einer entfernten Stelle zu tragen. 8d) habe ſelbſt ein Droſſelweibchen be- 
obachtet, wie es den Moment der „Erleichterung“ ſeitens ſeiner Zungen derart geſchickt ab- 
paßte, daß es die Loſung ſtets mit dem Schnabel auffing, um ſie alsdann ſofort wegzutragen. 
Wenn man bedenkt, wie peinlich ſauber die Vögel ſtets ihre Schnäbel halten, ſo muß man 
ihnen diefe ſicherlich etwas undelikate Art des Düngerexportes um fo höher anrechnen. 

Auch führende Wildhennen ſind um ein Täuſchungsmittel nicht verlegen, ſobald es 
gilt, ihre noch unbeholfenen Kleinen vor Gefahr zu retten. Sie ſtellen ſich verwundet, zeigen 
(id) mit ſchleppendem Flügel und ſuchen unter jämmerlichem Geſchrei anſcheinend ſchwerfällig 
zu entkommen. Dem unerfahrenen Menſchen dünkt es ein leichtes, fid des kranken Huhnes 
zu bemächtigen, er läßt ſich zur Verfolgung verleiten, immer weiter und weiter, bis plötzlich 
das „kranke“ Tier mit einem hellen Triumphgeſchrei die Flügel ſpannt und heil und geſund 
bavonfliegt. — Die Wildhenne hat ihn überliſtet und ihn durch dieſes Manöver von dem Orte 
entfernt, wo ihre Kleinen ſaßen! 

Einen weiteren Beitrag zu meinem Thema lieferte mir vor Jahren eine Amſel, welche 
fid) in einem engmaſchigen Wein-Schugnege gefangen batte und nun ihrer Angſt durch helles 
Zetergeſchrei Luft machte. Als ich mich jedoch näherte, die traubenlüſterne Gefangene zu 
befreien, verſtummte nicht nur plötzlich ihr Geſchrei, ſondern ſie hing auch mit einemmal matt, 
anſcheinend ſterbend, im Maſchenwerke. 

Nachdem ich fie vorſichtig daraus gelöft, legte ich fie auf die flache Hand, um nach e 
Verletzungen zu ſuchen, — brer — da war im nächſten Augenblick meine „Scheintote“ unter 
lautem Gezwitſcher ins Reich der Lüfte entſchwunden! Sie hatte mich alfo durch ihre Ber- 
ſtellung offenbar nur zu größerer Sorgloſigkeit verleiten wollen, um dadurch um ſo leichter 
entweichen zu können. 

Wer übrigens zahme Waldvögel im Zimmer hält, wird tagtäglich Gelegenheit haben, 
die Schlauheit feiner kleinen Lieblinge zu beobachten; Zeiſig. Rotkehlchen und Star, vor allem 
aber das frech drollige Geſchlecht der „Jakobe“ verſtehen gar meiſterlich, ihren Herrn hinters 
Licht zu führen, wenn es gilt, (id) einen unerlaubten Genuß zu verſchaffen. Hierüber Einzel- 
heiten anzuführen, würde jedoch ſchier ins Aferloſe führen, und es kann darum dem tiertreund- 
lichen Lefer nur empfohlen werden, durch eigenes Beobachten auf dieſem dankbaren Felde Er- 
fahrungen einzuſammeln. Das Stündlein Zeit, das er dazu opfert, wird ihn ficher nicht gereuen! 

Selbſt in der nieder organiſierten Inſektenwelt wird die Täuſchungsfähigkeit ange- 
troffen, und hier zwar ausſchließlich als Hilfsmittel zur Selbſterhaltung. Die kleinen Sechs- 
füßler pflegen ſich, ſobald ſie keinen anderen Rettungsweg mehr ſehen, einfach tot zu ſtellen, 
wohl wiſſend, daß ihre nimmerſatten Gegner, die Vögel, ihre „Braten“ nur bei lebendigem 
Leibe zu verzehren pflegen. Was nicht krabbelt, wird von ihnen verſchmäht. — Einer der hart- 
nädigften „Scheintoten“ aber ift der kleine, ſchwarze Rafer, welcher unter dem Namen „Did- 
kopf“ im Volke bekannt iſt. Dieſer kleine Wicht kann ſtundenlang den Toten ſpielen, und 
wiſſenſchaftliche Verſuche haben ergeben, daß er fid) fogar Fuͤhler und Beine amputieren läßt, 
ohne irgendwelches Zeichen von Leben dabei zu verraten. 

Wo immer wir alſo auch mit dem Studium des animalen Geiſteslebens beginnen, 
es iſt ein Gebiet, auf dem es wohl einen Anfang, aber ſo bald nicht ein Ende gibt. 


Fr. Hornig 
wer 


716 Zl eine Lex Parfifal — migig? 


Iſt eine Lex Parſifal — möglich? 


d H Zan follte meinen, daß der Frage, ob eine Verlängerung des Parſifalſchutzes ftatt- 
finden foll, doch die andere vorangehen müßte: ob fie überhaupt ſtattfinden 
| kann. Kann — ohne daß ein ganz unmöglicher Rechtszuſtand geſchaffen würde. 
Es iſt das Derdienſt des Reichstagsabgeordneten Zuſtizrats Dr. Zunck, nach allen Seiten hin 
die beſtehenden Rechtsgrundlagen feſtgeſtellt zu haben, auf denen ſich doch eine „Lex Parſifal“ 
ebenſogut wie jede andere „Lex“ aufbauen müßte. Wie iſt nun dieſe bisher ſo ſtiefmütterlich 
überſehene Rechtslage? Im „Tag“ führt Juſtizrat Dr. Junck darüber aus: 

Aber die Dauer des Urheberrechtes beſtimmt das geltende Reichsgeſetz, betreffend das 
Urheberrecht an Werken der Literatur und Tonkunſt, von 1901 in § 29: 

„Der Schuß des Urheberrechts endigt, wenn feit dem Tode des Urhebers dreißig Sabre 
und außerdem ſeit der erſten Veröffentlichung des Werkes zehn Jahre abgelaufen ſind.“ 

Fir den „Parſifal“ kommen nur die dreißig Sabre nad) dem Tode Richard Wagners 
in Betracht, da dieſes Werk noch zu ſeinen Lebzeiten und unter ſeinem Namen veröffentlicht 
worden iſt. Und zwar erſchienen und aufgeführt, ſo daß die wohl aufgeworfene Frage, ob zur 
„Veröffentlichung“ die bloße Aufführung genügt, hier ganz dahingeſtellt bleiben kann. Da 
Richard Wagner am 13. Februar 1883 geftorben iſt, wird der „Parſifal“ nebſt den anderen 
Wagnerſchen Werken mit dem Ablaufe des Jahres 1913 frei, d. h. ſeine Werke können dann 
überall und von jedem ohne Erlaubnis feiner Erben tantiemefrei gedruckt und aufgeführt werden. 

Die dreißigjährige Schutzfriſt (dreißig Fabre vom Tode ab, das Todesjahr nicht mit- 
gerechnet; vgl. § 34 des Reichsgeſetzes von 1901) ift bekanntlich bei den Beratungen des Ge- 
ſetzes lebhaft umſtritten worden. Schon damals wurde angeregt, daß die Friſt fünfzig Jahre 
dauern folle (jog. Lex Coſima). Der Reichstag hat jid) für die kürzere Friſt von dreißig Jahren 
entſchieden und auch den § 35 des Regierungsentwurfes abgelehnt, wonach wenigſtens die aus- 
ſchließliche Aufführungsbefugnis fünfzig Jahre betragen ſollte. Die Schutzfriſt ift alfo einheit! 
lich für Vervielfältigung, Verbreitung und Aufführung, und zwar iſt dieſe Einheitlichkeit vom 
Geſetzgeber unter Ablehnung jeder Unterſchiedlichkeit ausdrücklich gewollt. Das muß beſonders 
betont werden, weil die Vorſchläge des „Hauptausſchuſſes pp.“ offenbar darauf hinauslaufen, 
wenigſtens das ausſchließliche Aufführungsredht für „Parfifal“ und ähnliche Werke auszu- 
dehnen (natürlich mit dem Ziele und Erfolge, daß dann der „Parſifal“ für Bayreuth iſoliert 
würde), es im übrigen aber, b. h. namentlich in Anſehung der Verwertung im WMufitatien- 
buchhandel, bei der dreißigjährigen Schutzfriſt zu belaſſen. 

Die Frage der Schutzfriſt ift im Jahre 1909 im Reichstage wieder aufgetaucht, als die 
Revidierte Berner Übereinkunft vom 13. November 1908 dem Reichstage zur Genehmigung 
vorgelegt wurde. Perſönlich habe ich damals darauf hingewieſen, daß die „Übereinkunft“ 
die Schutzfriſt grundfäglich auf fünfzig Jahre nach dem Tode bemeſſe, unb daß von den Ron- 
ventionsländern bis jetzt nur das Deutſche Reich, die Schweiz und Japan bei dreißig Jahren 
verblieben ſeien, mit der eigentlich ſelbſtverſtändlichen Folge, daß z. B. der deutſche Autor 
auch in den Ländern mit fünfzigjähriger Schutzfriſt nur dreißig Jahre Schutz genieße: es emp- 
fehle fid deshalb wohl, daß nunmehr auch das Deutſche Reich zur fünfzigjährigen Friſt über- 
gehe. Allein dieſer Gedanke fand keine Gegenliebe, unb als das deutſche Reichsgeſetz zur Aus- 
führung der Revidierten Berner Übereinkunft beraten wurde, ſprachen ſich faſt alle Redner 
für die Beibehaltung des dreißigjährigen Schutzes in Deutſchland aus. Ein Antrag, daß Bühnen- 
werke und Werke der Tonkunſt eine Schutzfriſt von fünfzig Jahren nach dem Tode des Ur- 
hebers genießen ſollten, wurde gegen eine ganz kleine Minderheit abgelehnt. Abrigens haben 
in den Jahren 1909 und 1910 alle Redner eine Spezialgeſetzgebung zugunſten eines beſtimm- 
ten Urhebers oder gar eines ſeiner Werke abgelehnt. 


git eine Lex Parfifal — moglich? 717 


Deshalb denkt auch jetzt wohl niemand an ein eigentliches Spezialgeſetz, etwa zugunſten 
des „Parſifal“ allein oder aller Wagnerſchen Werke. Zweifellos würde auch ein ſolches Spezial- 
geſetz weder auf die Konventionsländer noch auf Oſterreich einen Einfluß haben. Im Auslande 
wird man immer nur denjenigen Schutz anerkennen, der in Deutſchland jedem Urheber und 
jedem Werke gewährt wird, einen Schutz, beffen alfo auch der Ausländer teilhaftig werden 
kann. Nur diejenige deutſche Schutzdauer wird im Auslande reſpektiert, die jeder Ausländer 
in Deutſchland genießen kann (Grundſatz der Gegenſeitigkeit im Mindeſtmaß des Schutzes, 
vgl. Art. 7 Abſ. 2 der Rev. Berner Übereinkunft). In unſeren Gondervertragen mit Frant- 
reich, Stalien, Belgien wird ebenfalls immer vorausgeſetzt, daß die in Betracht kommenden 
Rechte nicht nur ausnahmsweiſe einer Perſon, ſondern daß ſie allen Angehörigen eines Landes 
zuſtehen. Mit einem Spezialgeſetz für „Parſifal“ oder Wagners Werke überhaupt würde alſo 
nur der Erfolg erreicht werden, daß dieſe Werke in Deutſchland nicht frei 
werden, während das Ausland um uns herum, insbeſondere Sſterreich und 
Frankreich, aufführen können, was und foviel fie wollten. Die bis jetzt 
bekannt gewordenen Vorſchläge zum Schutze des „Parfifal“ wollen deshalb auch eine eigent- 
liche Sondergeſetzgebung vermeiden. Neuerdings taucht der Gedanke auf, jedem Urheber die 
Möglichkeit zu geben, ein Werk, obwohl es im Muſikalienbuchhandel erſchienen, alfo veröffent- 
licht worden ijt, trotzdem für fih, feine Erben uſw. zur ausſchließlichen bühnenmäßigen Auf⸗ 
führung vorzubehalten. Eine derartige Teilung des Urheberrechtes iſt wie de rum dem 
Auslande gegenüber unmöglich. Wenn das Werk einmal „erſchienen“ — nicht 
etwa nur „aufgeführt“ — iſt, gilt es für den internationalen Verkehr als veröffentlicht, worauf 
in Art. A Abſ. 4 ber Rev. Berner Übereinkunft ausdrücklich hingewieſen ift. 

Der Aufruf des „Hauptausſchuſſes“ will ebenfalls das Odium der Sondergeſetzgebung 
vermeiden. Man wünſcht ein Geſetz in allgemeinſter Form, welches alle Werke ſchützt, deren 
Inhalt ihre Aufführung an einer einzigen, hierfür beſonders geeigneten Stelle „er ftr eben s 
wert“ macht. Natürlich iſt damit immer der „Parſifal“ gemeint. Zunächſt iſt ein derartiger 
Gedanke legislatoriſch gar nicht verwertbar, da es vollkommen an der Zn- 
[tana fehlen würde, die gu beſtimmen hätte, ob der Inhalt des Werkes die Ffolierung der 
Aufführung an einer einzigen Stelle „erſtrebenswert“ macht. Ob und wann dies der Fall 
iſt, darüber wird eben immer der Streit gehen, wie juſt beim „Parſifal“. Vor allem aber wird 
auch hier wieder jede Rüdfiht auf die internationale Rechtslage außer acht ge- 
laſſen. Das ift bedauerlich und auffallend. Man kann unſere Rechtsbeziehungen zum Aus- 
land nicht mit billigen Redewendungen abtun. Beim Urheberrecht muß eben Ridjidt auf 
das Ausland genommen werden. Dieſes Rechtsgebiet ift feiner ganzen Natur nach internatio- 
nal, und es iſt eigentlich unbegreiflich, wie man hier an eine deutſche Geſetzgebung denken kann, 
ohne ſich klar vorzuſtellen, wie es dann mit dem Schutze im Auslande ausſehen wird. 

Wie ſtehen wir urheberrechtlich zum Auslande? 

1. Das Oeutſche Reich ijt Verbandsland der Berner Übereinkunft; 

2. mit drei Verbandsländern, nämlich mit Frankreich, Belgien und Stalien, beſtehen 
außerdem noch Sonderverträge; 

3. Sonderverträge beſtehen endlich mit zwei Nicht⸗Verbandsländern: men und 
den Vereinigten Staaten von Nordamerika. 

Nun haben alle Verbandsländer, wie Iden oben hervorgehoben — ausgenommen 
wir ſelbſt, Schweiz und Japan — die fünfzigjährige Schutzfriſt nach dem Tode. Selbſtverſtänd⸗ 
lich aber genießen unſere Autoren auch in den Verbandsländern nur den deutſchen dreißig 
jährigen Schutz. Selbſtverſtändlich: denn auch die z. B. franzöſiſchen Werke werden bei uns 
nur dreißig Fabre nach dem Tode ihrer Urheber geſchützt. Übrigens ſteht dies ausdrücklich in 
dem ſchon oben erwähnten Artikel 7 Abſatz 2 der Rev. Berner Übereinkunft. Satan wird auch 
durch die Sonder vertrage mit drei Berbandsländern nichts geändert. Frankreich und Belgien 


718 St eine Lex Parfifal — möglih? 


haben die regelmäßige fünfzigjährige Schutzfriſt post mortem. In Stalien und auch in den 
Vereinigten Staaten gelten beſondere Schutzfriſten, und der Vergleich mit den deutſchen ijt 
nicht ganz einfach. Länger als dreißig Jahre post mortem würden aber deutſche Werke auch 
dort keinesfalls Schutz genießen. 

Ebenſo find aber die Werke deutſcher Autoren in Oſterreich- Ungarn nur dreißig Sabre 
post mortem geſchũtzt, und zwar hier deswegen, weil Oſterreich; Ungarn, das übrigens leider 
nicht zur Berner Übereinkunft gehört, in feiner eigenen Geſetzgebung nur den dreißigjährigen 
Schutz kennt. Hieraus ergäben ſich im Falle einer etwaigen Verlängerung des deutſchen Schutzes 
folgende Ungereimtheiten: 

Geſetzt, wir gingen zur fünfzigjährigen Schutzfriſt über, fo würde ſich der Schutz des 
„Parſifal“ nicht nur im Oeutſchen Reiche, fondern auch in den Verbandsländern — außer 
Schweiz und Japan — bis zum Ablaufe des Jahres 1933 verlängern. Bis dahin könnte „Parfi- 
fal“ namentlich in Paris und Brüſſel nicht ohne Genehmigung der Wagnerſchen Erben auf- 
geführt werden. Wohl aber würde er trotzdem mit bem Ablaufe des Jahres 1915 in der Schwei z 
(Sapan kann wohl außer Betracht bleiben!) und Oſterreich Ungarn frei für 
alle dortigen Bühnen. Man würde ihn dann bei uns noch zwanzig Sabre nur in 
Bayreuth und nicht an den Hoftheatern von München, Berlin, Dresden uſw., wohl aber anderer- 
ſeits in Wien ſehen und hören können! Würde ſich die Wiener Hofoper den „Parſifal“ ent- 
gehen laffen, etwa in Erwiderung unſerer „Nibelungentreue“ auf anderen Gebieten? Raum. 

Und nun wäre ja — abgeſehen von der räumlichen Unvollkommenheit einer ſolchen 
Maßnahme — den „Parſifal“ Schutzſchwärmern mit einer Verlängerung um zwanzig Sabre 
nicht einmal gedient! Sie wollen die Zfolierung des „Parſifal“ in Bayreuth für immer! Und 
zwar, wie gerne anerkannt werden mag, aus Gründen, die wohl etwas unklar ſein mögen, 
aber doch ethiſcher, ernſter Natur find. Das wäre aber gegenüber keinem ausländi- 
ſchen Staate zu erreichen, und mit dem Ablaufe des Jahres 1935 würde der „Parſifal“ 
auch in Frankreich und Belgien unaufhaltſam und unwiderruflich frei! Würden wir ein Schutz- 
geſetz im Sinne des „Hauptausfchuffes“, alfo ohne jede zeitliche Beſchränkung erlajjen, jo würde 
nach Ablauf des Jahres 1933 der „Parſifal“ in Deutſchland zwar nur zu Bayreuth 
und nicht an unſeren, am eheſten dazu geeigneten großen Bühnen, ringsherum aber an 
allen großen und kleinen Bühnen des Auslandes aufgeführt werden; 
und wem Bayreuth etwa zu teuer wäre, der könnte jid) nach Prag, Brünn, Zurich, Brüſſel uſw. 
wenden. 

Im vorſtehenden iſt von dem Falle ausgegangen, daß wir etwa durch eine Anderung 
des 829 unſeres Reichsgeſetzes die fünfzigjährige Schutzfriſt für das Oeutſche Reich einführten. 
Damit würden wir zwar nicht gegenüber der Schweiz und Oſterreich- Ungarn, aber doch wenig- 
ſtens gegenüber den Hauptländern der Berner Übereinkunft, zwar nicht auf immer, aber doch 
wenigſtens auf weitere zwanzig Sabre ben „Parſifal“ für Bayreuth retten können. Gar nichts 
würde aber gewonnen, unb zwar weder gegenüber den Hauptlandern der Berner Überein- 
kunft noch auch nur auf weitere zwanzig Jahre, wenn ein Geſetz im Sinne des Hauptausſchuſſes 
— nämlich zum Schutze von Werken, deren Inhalt ihre Aufführung an einer einzigen, hier- 
für beſonders geeigneten Stelle „erſtrebenswert“ macht — oder gar ein „Parſifal“-Sonder— 
geſetz erlaſſen würde. Denn bei der fiir das internationale Recht geradezu begriffsnotwendigen 
Vechſelbeziehung würden wir durch eine ſolche Geſetzgebung, die z. B. für franzoͤſiſche Werke 
mangels entſprechender franzöſiſcher Geſetzgebung ohne jede Wirkung ſein würde, gegenüber 
dem Auslande gar nichts erreichen, auch nichts gegenüber den Hauptländern der Berner 
Übereintunft bis zum Sabre 1933. Afo eine ganz nutzloſe und ſchon darum widerſinnige 
Geſetzgebung. Yd faffe zuſammen: 

1. Abzulehnen iſt jede Sondergeſetzgebung im engeren Sinne, eine eigentliche „Lex 
Parſifal“. Sie würde der einmütigen Haltung des Reichstages widerſprechen und — wenn 


ftaifer Wilhelm II. fiber feine Gpmmaflalgelt' 719 


fie trotzdem vorgenommen werden follte — eben nur für bas ODeutſche Reich, nir- 
gends im Auslande gelten. 

2. Abzulehnen ijt jede Sondergeſetzgebung im weiteren Sinne, b. h. in der vom Haupt- 
ausſchuß vorgeſchlagenen „allgemeinſten Form“. Der Begriff des „Erſtrebenswerten“ iſt legis- 
latoriſch nicht verwertbar. Außerdem würde die unterſchiedliche Teilung in „Aufführung“ 
und „ſonſtige Verwertung“, weil fie der Berner Übereinkunft fremd ijt, keine Wirkung im Aus- 
lande haben: ein einmal erſchienenes Werk gilt nach Art. 4 Abſ. 4 der Rev. Berner Überein- 
kunft als veröffentlicht und wird im Konventionsausland nach Ablauf der Schutzfriſt auch für 
die Aufführung frei, ohne daß daran durch inländiſche Geſetzgebung etwas geändert werden 
könnte. Keinesfalls würde der vom Hauptausſchuſſe gewünſchte Vorbehalt des Aufführungs- 
rechtes für beſtimmte Orte im Auslande länger als fünfzig Zahre post mortem wirken. 

3. Abzulehnen iſt eine Ausdehnung des ungeteilten Verwertungsrechtes über fünfzig 
Sabre hinaus. Eine Wirkung gegenüber dem Auslande würde fie nicht haben. Außerdem 
darf hier auf die oft erörterten, tiefer liegenden, nationalen, allgemein ethiſchen und kulturellen 
Gründe verwieſen werden, die das endliche Freiwerden der Werke des Geiſtes in angemeſſener 
Friſt, als deren denkbar längfte nun einmal die fünfzigjährige post mortem international an- 
erkannt ijt, erheiſchen. 

4. Abzulehnen iſt endlich auch der Gedanke, daß die deutſche Geſetzgebung jetzt noch 
— den Hauptländern der Berner Übereinkunft folgend — die Schutzfriſt (ungeteilt für Aufführung 
und ſonſtige Verwertung) auf fünfzig Jahre post mortem ausdehnen möchte. Dies würde: 

a. dem vom Reichstage und den verbündeten Regierungen eingenommenen Stand- 
punkte, wonach man eben bewußt bei dreißig Jahren blieb, widerſprechen; 

b. ſpeziell für den „Parſifal“ nichts nützen, da damit nur den Haupt- 
ländern der Berner Übereinkunft gegenüber etwas erreicht wäre, auch hier nur bis Ende 1933, 
gar nichts aber gegenüber der Schweiz und Öfterreih. Der Zuſtand, daß der „Parſifal“ den 
deutſchen Hoftheatern verſchloſſen bliebe, dagegen für Wien frei würde, wäre abfurd ... 

Zu allem Überfluffe eine Erwägung allgemeiner Natur: Es kann nicht ausbleiben, daß 
die lebhafte und verwickelte Geſetzgebung der modernen Zeit hier und ba zu einer Unſtimmig⸗ 
keit oder Unbilligkeit führt. Es wäre unerträglich, wenn man in ſolchen Fällen allemal zur 
Sondergeſetzgebung greifen wollte. Was dem „Parſifal“ billig, iſt anderen Fällen recht. Ganz 
gerecht ift kein Geſetz. Wo es im Einzelfalle unbequem wirkt, müſſen Verkehr, Sitte, frei- 
willige Unterwerfung unter das, was als gerecht gilt, abhelfen. Den Geſetzgeber ſoll man in 


Ruhe laffen. 
S 
Kaiſer Wilhelm II. über feine Gymnaſialzeit 


an N e leich nach feiner Thronbeſteigung leitete der Kaiſer mit der am 4. Dezember 1890 
A eröffneten Schulkonferenz eine Reform der höheren Schulen ein. Die bitteren Er- 
2 fahrungen, bie er ſelbſt während feiner Gymnaſialzeit gemacht hatte, trieben ibn 

as $n feinem kürzlich (bei Ernſt Hofmann) erſchienenen Buche „Wilhelm II. 25 Sabre 

Kaiſer und König“ begründet Profeſſor Paul Meinhold dieſen inneren Zuſammenhang. 

Der Kaiſer erinnert ſich in der Rede, mit der er die Schulkonferenz eröffnete, jener Tage, da 

„der Notſchrei der Eltern und Familien laut wurde, daß es nicht ſo weitergehen könne“. Die 

Schüler mußten damals die Stundenzahl der häuslichen Arbeiten jeden Tag aufſchreiben, und 

es kamen für die Abiturienten 6%, bis 7 Stunden heraus. „Rechnen Sie dazu die 6 Stunden 

Schule, 2 Stunden Eſſen, dann können Sie ausrechnen, was von dem Tag übrig geblieben 

ift Wenn ich nicht Gelegenheit gehabt hatte, hinaus- und hineinzureiten, und noch ſonſt etwas 


720 | Raifer Wilhelm II. über feine Gymnafialzeit 


mich in der Freiheit zu bewegen, dann hätte id) überhaupt nicht gewußt, wie es in ber Welt 
ausſieht.“ Faft leidenſchaftlich aber brechen diefe bier nur gedämpften Töne aus einem Brie fe 
hervor, den Prinz Wilhelm am 2. April 1885 an einen früheren Schulkameraden richtete: 

„Endlich hat ſich doch mal einer gefunden, der energiſch gegen das verknöchertſte aller 
Syſteme vorgeht, das aufs befte geeignet ijt, den Geiſt zu töten. Ihre Ausführungen unter- 
Schreibe ich Wort für Wort. Glüuͤcklicherweiſe habe ich mich zweiundeinhalbes Jahr hindurch 
aus eigener Erfahrung von der Schädigung überzeugen können, die man unferer Jugend bei- 
bringt. Um nur einige Beispiele anzuführen: Von 21 Unterprimanern, aus denen unfere 
Klaſſe beſtand, trugen 19 Brillen und 3 von ihnen mußten noch einen Kneifer auf die Brille 
ſetzen, wenn ſie bis an die Wandtafel ſehen wollten. Homer, der herrliche Dichter, in den ich 
rein vernarrt war, Horaz, Demoſthenes, deffen Reden jedermann begeiſtern miiffen, wie wurden 
fie erklärt? Mit Begeiſterung für Kampf und Waffen und für Naturſchilderungen? Gott 
behüte! Mit dem Skalpell bes Grammatikers, des fan atiſchen Philologen wurde 
jedes Satzglied abgehackt und kunſtgerecht zerlegt, bis man das Vergniigen hatte, das Gerippe 
zu entdecken ... Weinen könnte man darüber, Die griechiſchen ober lateiniſchen Aufſätze (ein 
hirn verbrannter Unſinn ), wieviel Mühe haben fie nicht gekoſtet! Und was für Leiſtungen 
kamen zutage! Hätte Horaz ſie geleſen, er hätte, glaube ich, vor Entſetzen den Geiſt aufgegeben! 
Von dieſer Dummheit befreie man uns! Einem ſolchen Unterricht Krieg 
bis aufs Meſſer. Mit diefem Syſtem erreicht man nur, daß unſere Jugend die Syntax, 
die Grammatik der alten Sprachen beſſer kennen lernt als die ‚alten Griechen“ ſelbſt; daß fie 
die Generale, die Schlachten und die Stellung der Truppen in den Kämpfen der puniſchen 
Kriege oder bes Mithridates auswendig weiß, daß fie aber nicht kennt die Schlachten des Sieben- 
jährigen Krieges, geſchweige denn die modernen Kriege von 1866 und 1870, die man noch nicht 
gemacht“ hat. Was dagegen den Korper betrifft, fo bin ich unbedingt der Anſicht, daß der Nach- 
mittag immer frei fein ſollte. Das Turnen ſollte eine Beluſtigung für die Jugend fein. Renn- 
bahnen mit Hinderniſſen, über die man klettern müßte, wären zweckmäßig ... Statt ber jtumpf- 
ſinnigen „Klaſſenſpaziergänge“ mit eleganten Stöckchen, ſchwarzen Zacketts und einer Zigarre 
ein Trainiermarſch mit einem bißchen Felddienſt, felbft wenn er in eine förmliche Schlacht über- 
ginge. Allein unſere Primaner (und wir waren leider nicht anders) ſind viel zu blaſiert, um 
ſich den Rock auszuziehen und ſich herumzubalgen. Was aber kann man von ſolchen Menſchen 
erwarten? Daher Krieg dieſem Syſtem bis aufs Meſſer! gd bin bereit, Sie in ihren Geftre- 
bungen zu unterftigen . . .“ 

Man kann ſich ja nun ſachlich dazu ſtellen, wie man will, — es iſt ja auch inzwiſchen vieles 
beffer geworden. Aber feine Freude hat man doch an dieſer herzerfriſchenden „goldenen Rück- 
ſichtsloſigkeit“. Nein, nein, Bülow hatte ſchon recht: „Oer Kaiſer iſt kein Philiſter.“ Und iſt 
offenbar nie einer geweſen. Gr. 


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ER Die hier veröffentlichten, dem freien Meinungsaustauſch dienenden 11 
Einſendungen ſind unabhängig vom Standpunkte des Herausgebers 


Heilkunſt und Philoſophie 
(Vgl. XIV. Jahrg., Heft 6 u. 12) 


Sain 7 wei Arzte, Herr Dr. K. Strünckmann und Herr Dr. H. Orth, haben fid) über dieſen 
) PKO ) Gegenstand in verfchiedenem Sinne geäußert: mag es einem Vertreter der Philo- 

O ſophie geftattet fein, ebenfalls das Wort zu nehmen. 

Nicht allen Einzelheiten in den Ausführungen von Herrn Strünckmann kann ich bei- 
ſtimmen; auch vermag ich nicht aus eigener Erfahrung zu entſcheiden, ob wirklich die heutige 
mediziniſche Wiſſenſchaft, wie fie auf den Hochſchulen gelehrt wird, fo ganz überwiegend auf 
rein mechaniſtiſcher Grundlage beruht und bie pfycho-biologiſche (neu-vitaliſtiſche) Betrach- 
tungsweiſe ablehnt oder gar totſchweigt. 

Was freilich Herr Orth zur Abwehr dieſer Kritik der Schulmedizin darlegt, das ſcheint 
mir febr anfechtbar zu fein. Er fegt die „mechaniſtiſche“ Grundlage der Medizin ohne weiteres 
gleich: „der ſicheren Grundlage der Erfahrung und des Verſuches“. Das ift durchaus ungerecht- 
fertigt. Die Grundlage der Erfahrung und die experimentelle Methode darf freilich die Medi- 
zin, ſofern ſie empiriſche Wiſſenſchaft iſt, nicht verlaſſen. Aber das hat auch Herr Strünkmann 
nicht gefordert. Wogegen er ankämpft, ijt die Alleinherrſchaft einer Theorie, nämlich der 
mechaniſtiſchen Erklärung der Lebensvorgänge. Es liegt ihm wie den Neo Vitaliſten völlig 
fern, Erfahrung und Experiment gering zu ſchätzen oder Tatſachen durch luftige Cpetulatio- 
nen zu erſetzen. 

Erkenntnistheoretiſch betrachtet ift der biologiſche Mechanismus eben nicht eine „Tat- 
ſache“, ſondern eine „Theorie“ zur Erklärung von Tatſachen. Da ſich aber dieſe Theorie in 
ſteigendem Maße als unzureichend zur Erklärung der Tatſachen des Lebens herausgeſtellt 
hat; da ſich gezeigt hat, daß das Werden und Wachſen, die Anpaſſungen und Selbſtheilungen 
der Lebeweſen nicht reſtlos auf phyſikaliſche und chemiſche Kräfte zurückgeführt werden können, 
ſo verlangen eben die Neovitaliſten, daß zur Erklärung der Organismen und ihres Lebens auch 
nicht- mechaniſche Faktoren, insbeſondere zweckvoll wirkende pfyndhifde Kräfte, hypo- 
thetiſch angenommen werden. Nennt man jedes Hinausgehen über die wahrnehmbaren Tat- 
ſachen, jede hypothetiſche Annahme von geſetzmäßig wirkenden Kräften zur Erklärung der Tat- 
ſachen „Spekulation“, ſo iſt die „mechaniſtiſche“ Theorie nicht minder Spekulation wie die 
„bitaliſtiſche“; denn auch die chemiſchen und phyſikaliſchen „Kräfte“ find nicht ſelbſt wahr- 
nehmbar, ſondern ſie ſind auf Grund der beobachteten Tatſachen hypothetiſch angenommen. 
Übrigens wird jeder beſonnene Vertreter bes Neo-Vitalismus die mechaniſtiſche Erklärungs⸗ 
weiſe, ſoweit ſie durchführbar iſt, anerkennen; er beſtreitet ja nicht die Wirkung oh Zitaiſch⸗ 
Oer Türmer XV, 5 


722 Heilkunſt und Phlloſophie 


chemiſcher Kräfte im Lebeweſen; er ſieht fid) aber durch Beobachtungstatſachen zu der Hypo- 
theſe gedrängt, daß diefe mechaniſch wirkenden Kräfte im Lebeweſen unter der Herrihaft 
zweckvoll wirkender pſychiſcher Faktoren ſtehen. 

Seltſamerweiſe bekennt auch Herr Orth, der zunächſt die mechaniſtiſche Betrachtungs- 
weiſe als die einzig ſichere und mögliche Grundlage der Medizin bezeichnet: „Wir [Arzte] wiſſen, 
daß genug unbekannte, chemiſch und phyſikaliſch nicht faßbare [von mir 
geſperrt.] Kräfte im Körper wirken, die wir bei unſerer Diagnoſe, Prognoſe und Therapie 
in Rechnung ſtellen müſſen.“ Damit bezeichnet er ja ſelbſt mit ſolcher Beſtimmtheit die 
mechaniſtiſche Lebenserklärung als unzulänglich, daß es ein Neo-Vitaliſt nicht beſtimmter tun 
könnte. Sollte ihm etwa gar nicht zum Bewußtſein gekommen ſein, in welchem Gegenſatz 
bieles Zugeſtändnis zu feinen früheren Ausführungen über die Notwendigkeit der mechanijti- 
ſchen Betrachtungsweiſe ſteht?! Er böte dann ſelbſt einen unfreiwilligen Beleg dafür, wozu 
es führt, wenn Arzte ſich „den Luxus philoſophiſcher Betrachtungsweiſe“ nicht glauben 
leiſten zu können. Daß der Arzt bei ſeinem Ausbildungsgang ſtrenge unterſcheiden lernt, was 
„erfaßbare Tatſache“ und was „erklärende Theorie“ ijt; daß er einſieht, wie jede experimentelle 
Unterſuchung geleitet ſein muß von gewiſſen hypothetiſchen Annahmen, zu deren Beſtätigung 
und Ausgeſtaltung oder zu deren Widerlegung ſie dient — das alles führt zwar in philoſophiſche, 
nämlich erkenntnistheoretiſche Erörterungen hinein, aber „Luxus“ dürfte derartiges auch für 
den praktiſchen Arzt nicht fein, geſchweige denn für den mediziniſchen Forſcher. Und Gielen 
beiden follte doch die mediziniſche Ausbildung auf der Univerſität dienen. 

Wenig erkenntnistheoretiſche Klarheit ſcheint mir auch die weitere Bemerkung des 
Herrn Orth zu verraten, daß jeder Arzt die „chemiſch und phyſikaliſch nicht faßbaren Kräfte, 
die im Körper wirken“, in Rechnung ſtelle. „Dieſe Tätigkeit ift ein Teil der ärztlichen Run ft; 
und deren Ausübung kann man nicht erlernen, die muß angeboren fein.“ — Ich beſtreite jelbit- 
redend nicht, daß die Betätigung des Arztes eine „Kunſt“ ift (oder fein follte), und daß die Be- 
fähigung dazu in verſchiedenem Maße „angeboren“ iſt. Aber dieſe Kunſt ruht doch auf der 
Grundlage der theoretiſch-wiſſenſchaftlichen Univerſitäts-Ausbildung und beſteht zum guten 
Teil in deren Anwendung. Wenn nun die ärztliche Kun ft wirklich mit Kräften im lebenden 
Körper rechnet, bie von der herrſchenden mediziniſchen Wiſſenſchaßft ignoriert werden, 
beweiſt das nicht einen ſchreienden Widerſpruch zwiſchen ärztlicher Wiſſenſchaft und Kunſt, 
zwiſchen Theorie und Praxis? Und ſpricht es nicht für die Einſeitigkeit und Unzulänglichkeit 
der herrſchenden wiſſenſchaftlichen Theorie? 

Wenn aber ſelbſt Herr Orth diefe tatfächlich zugeſteht, jo wird er auch feine Zugeſtänd- 
niſſe hinſichtlich der üblichen Univerſitätsausbildung unſerer Mediziner erweitern müſſen. 
Er gibt ſelbſt zu, daß die Homöopathie eine „wiſſenſchaftliche Methode auf experimenteller 
Grundlage“ fei, daß es alfo eine beklagenswerte Einſeitigkeit ift, wenn in der Schulmedizin 
allein die Allopathie anerkannt und gelehrt wird. Er weigert ſich aber, dasſelbe Zugeſtändnis 
gegenüber der Naturheilkunde auf pſychobiologiſcher (b. h. neo-vitaliſtiſcher) Grundlage zu 
machen. Nun ijt aber auch die neo vitaliſtiſche Betrachtungsweiſe, wie oben gezeigt, eine ,,wiffen- 
ſchaftliche Methode auf experimenteller Grundlage“, die heute in der Biologie von einer Reihe 
angeſehener Forſcher (Driefh, Pauly u. a.) vertreten wird. Mithin dürfte auch die Naturbeil- 
kunde, die auf der neo-vitaliſtiſchen Theorie ruht, Anſpruch auf Berüdjichtigung in der Schul- 
medizin und in der Ausbildung unſerer Arzte haben. Wollte man ſo bedeutſame Bewegungen 
in der Wiſſenſchaft und im Leben, wie fie der Neo- Vitalismus und die Naturheilkunde darſtellen, 
in der offiziellen Wiſſenſchaft hartnäckig ignorieren oder grundſätzlich abweiſen, ſo würde das 
eine bedauerliche, gefährliche Einſeitigkeit bekunden. — 

Einer weiteren Einſeitigkeit redet Herr Orth das Wort, wenn er erklärt: BZ Die 
Pſychologie bat für den Arzt keine andere praktiſche Bedeutung, als die eines allgemeinen 
Bildungselementes.“ Das heißt doch: die Pſychologie ift für die Bildung des Arztes nicht not- 


Heiltunſt und Pbhilofophic | 723 


wendiger als auch etwa einiges hiſtoriſche, politifde, muſikaliſche oder theologiſche Wiſſen. 
Denn auf allen dieſen Gebieten muß ja der „Gebildete“ etwas orientiert ſein. 

Nun bat erft neuerdings ber Bonner Pſychologe O. Külpe, bem die mediziniſche Dottor- 
würde honoris causa verliehen worden ijt, in feiner Schrift „Medizin und Pſychologie“ (Leip- 
zig 1912, Engelmann) gezeigt, wie wichtig für die Medizin, insbeſondere die Pſychiatrie, die 
Vertrautheit mit den pſychologiſchen Unterſuchungsmethoden und Ergebniffen ift. Daraus 
folgt nun ohne weiteres, daß bie wiſſenſchaftliche Ausbildung des Mediziners nicht 
bie Pſychologie beifeite laffen darf. Aber auch für die Ausübung der ärztlichen Run ft wird 
Vertrautheit mit der Pſychologie höchſt wertvoll fein. Zwar beruht pſychologiſcher Scharfblick 
und Takt ebenfalls auf angeborener Anlage, aber wie im allgemeinen, ſo wird auch hier die 
angeborene Fähigkeit durch theoretiſche Ausbildung gefördert werden. Es bekundet nur wieder 
die einſeitig⸗mechaniſtiſche Betrachtungsweiſe des Herrn Orth, wenn er ausruft: „Was fangen 
wir in einer ſchwierigen Situation mit Pſychologie an?“ — Es gibt ſicher viele „ſchwierige 
Situationen“, in denen die pſychiſche Beeinfluſſung des Kranken von ausſchlaggebender Be- 
deutung ift. Freilich wird darin derjenige Arzt im allgemeinen mehr leiſten können, der über- 
haupt mit pſychiſchen Faktoren im Kranken rechnet und der in ihm nicht nur einen „intereffan- 
ten Fall“, ſondern eine ganz konkrete und eigenartige Perſönlichkeit ſieht, die in individueller 
Weiſe behandelt werden muß. | 

Bei dem Schwinden der kirchlichen Gläubigkeit in unſerer Zeit wird immer häufiger ge- 
rade an den Arzt die Aufgabe herantreten, auch Seelenarzt zu ſein, und oft wird er nur auf dem 
Wege ſeeliſcher Beeinfluſſung dem Kranken wirkliche, dauernde Hilfe leiſten und den Geſunden 
auf dem Wege richtiger Lebensgeſtaltung halten können. Damit iſt aber auch gegeben, daß 
nicht nur die Pſychologie, ſondern auch andere philoſophiſche Diſziplinen, insbeſondere Ethik, 
für die Ausbildung des Arztes an Wert gewinnen. Zu ſolchen philoſophiſchen Studien ſollte 
man freilich niemanden nötigen; Gelegenheit zu ihnen iſt ja auf jeder Univerſität geboten. 
Möchten unſere mediziniſchen Profeſſoren nur ihre Studenten auch anregen, diefe Gelegen- 
heit zu benutzen. Prof. Dr. A. Meſſer 


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Am deine Sache geht's! Der alte ehrliche Drei- 

bund Der Schrei nach „Männern“ Alber den 

Umgang mit Engländern Note Irrlichter Gold 
für Eiſen 


e ua res agitur! Daf es bei dem Völtereingen auf dem Baltan lezten 
EAD Endes in der Tat um unſere, um bie deutſche Sache gebt, 
CS davon ijt nur wenigen unferer Reichsbürger ein Schimmer auf- 
ED gegangen, und dafür um Verſtändnis zu werben, ift in der erdrüden- 
den Mehrzahl der Fälle leider ein troſtlos eitles Bemühen! Ging es denn wirklich 
nur um einen kleinen ſerbiſchen Hafen am Adriatiſchen Meere? Überhaupt nur 
um Auseinanderſetzungen zwiſchen den kämpfenden Völkern? Es wäre, mahnt 
Alfred Geiſer in der Zeitſchrift „Das Deutſchtum im Auslande“, ein S e r h án g- 
nis, wenn das deutſche Volk in dieſem Glauben das Schwert ziehen müßte, 
wenn es nicht begriffe, daß es fih um eine Lebensfrage auch des deut- 
ſchen Reichsvolkes handele. Denn der Ausbruch eines ſolchen Krieges 
würde ein Schickſalskampf ſein, dem eine weltgeſchichtliche nationale Gegnerſchaft 
zugrunde liegt —: die zwiſchen Deutſchen und Slawen! 

„Noch vor kurzem iſt von amtlich hervorragender Stelle das Wort gefallen: 
Kriege können heutzutage nur noch aus wirtſchaftlichen Gegenſätzen entſtehen. 
Wenige Wochen ſpäter hat der Sturm des Balkankrieges dieſes Wort wie ein 
welkes Blatt in die Lüfte gewirbelt. Ein anderes Wort eines leitenden Staats- 
mannes wies darauf hin, daß in der Gegenwart nicht mehr der Wille der Regie- 
rungen, ſondern der Wille der Völker die Kriege mache. Aber faſt nirgends kommt 
die Erkenntnis zu klarem Ausdruck, daß in den Völkern triebhafte, 
elementare Kräfte der Anziehung und Abſtoßung lebendig 
find, die nicht durch Berechnung von Nutzen oder Schaden, nicht durch wirtichaft- 
liche Geſichtspunkte im letzten Ende beſtimmt werden, ſondern durch J m p o nd e- 
rabilien der Völkerpſyche, die gerade von der offiziellen Politik fo 
leicht unterſchätzt werden. Und doch, wie hat es ein Bismarck verſtanden, den 


Farmers Tagebuch 125 


feit Zahrbunderten im deutſchen Herzen ſchlummernden Drang nad) nationaler 
Einigung zum Siegesmotto des großen Krieges von 1870/71 zu machen! Wie 
hat der kluge Skeptiker auf dem Bulgarenthron gegenüber den Volksmaſſen der 
Balkanſlawen den geſchichtlichen, religiöfen und raſſenmäßigen Gegenſatz gegen 
das Türkentum einerſeits, das ſtarke Gefühl der nationalen Zuſammengehörig- 
keit mit den ‚unerlöjten‘ ſlawiſchen Brüdern in Mazedonien anderſeits zu nützen 
gewußt, um in ihnen leidenſchaftlichen Kriegszorn und Siegerwillen zu wecken. 

Zu dieſem Kriege drängte, in ihm triumphiert jenes Nationalitätenprinzip, 
das immer mehr zum beherrſchenden Kennzeichen im Völkerleben unſerer politiſch 
bewegten und gärenden Zeit wird. Von ihm geleitet, drängen die bluts- und 
ſprachverwandten Stämme immer ſtärker nach völkiſcher Einigung über die be- 
ſtehenden, wandelbaren Staatsgrenzen hinweg. Dieſer Nationalitätengedanke 
ſchafft ſelbſt da, wo an eine politiſche Einigung der ſtaatlich getrennten Volksteile 
gleicher Art nicht oder noch nicht gedacht wird, ein Gemeinſchaftsempfinden von 
ſolcher Stärke, daß die Staatskunſt unſerer Tage mit ihm ernſtlich rechnen muß. 
Keine Völkerfamilie aber iſt fo ſtark von ſolchem Gemeinſchaftsgefühl er- 
füllt wie die flawif de, in deren ungeheueren Maſſen die Eigenart des einzel- 
nen mit ihren Hemmungen ſchwächer entwickelt iſt, als etwa bei uns Deutſchen, 
und deren Herdenſinn daher leichter und ſtärker der Maſſenſuggeſtion einer ele- 
mentaren Empfindung unterliegt. So ift die allſlawiſche Bewegung entſtanden, 
die von Moskau bis Sofia als letztes Ziel den Zuſammenſchluß aller Slawen und 
damit bie Vorherrſchaft der ſlawiſchen Welt in Oft- und 
Mitteleuropa erſtrebt. Sie kann naturgemäß nur im ſiegreichen Kampf 
gegen die Nation durchgeſetzt werden, die heute ihren Zielen im Wege ſteht — 
gegen die deutſche. Vielleicht ift es ein Verhängnis für unfer Volk, daß in 
ſeiner geſchloſſenen Hauptmachtſtellung, im Deutſchen Reich, Bedeutung und 
Ernſt dieſer ſlawiſchen Angriffsbewegung bei weitem nicht genügend erkannt und 
gewürdigt werden. | 

Wir Reichsdeutſche find überwiegend noch fo febr im ausſchließlich 
ſt aatspolitiſchen Denten befangen, daß wir bei der Steuerung unſeres 
politiſchen Schiffes im Völkermeer wohl Winde und Gegenwinde beachten, die 
deſſen Oberfläche kräuſeln, nicht aber die gewaltigen Unterſtrö mungen 
der Tiefe, die vom Wandel der Oberfläche unbeirrt bleiben. Wir haben uns auch 
ſo daran gewöhnt, die Entſcheidungen über die Geſchicke der Staaten nur im Kampf 
auf den Schlachtfeldern zu ſuchen, daß wir den unaufhörlichen, keinen Waffen- 
ſtillſtand, keinen Frieden kennenden Kampf nicht beachten, der an den Gren- 
zen unferes Volkstums um jede Stadt und jedes Dorf, 
um jede Scholle Ackers und jeden Fußbreit Weges, nicht zum letzten aber um 
jede Kindesſeele ausgefochten wird, dieſen Kampf um den Beſtand des 
Volksbodens und der Volksart, in dem auf kulturellem und wirtſchaftlichem Felde 
das Slawentum bereits ſeit Generationen ohne Unterlaß angreifend gegen das 
Deutſchtum vordrängt. 

Das ijt für uns die unvergleichliche Bedeutung des öſterreichiſch- ungariſchen 
Staates, daß er einmal als Zwiſchenglied den erſten Stoß bes flawi- 


126 Zürmers Tagebuch 


ſchen Angriffs von Südoſten her auffängt, und daß zu zweit in ihm 
ſelbſt eine Fülle ſlawiſcher Angriffskräfte durch den Nationalitätengegenſatz inner- 
halb feiner Reichsgrenzen gleichſam ausgeglichen und verzehrt werden. Dem- 
gemäß iſt das Millionendeutſchtum in Sſterreich, abgeſehen 
davon, daß es den an ſich ſtärkſten Außenpoſten deutſcher Art und Sprache in Europa 
darſtellt, für uns unerſetzlich, weil von feinem Fortbeſtand und Einfluß 
die Leiſtungsfähigkeit des öſterreichiſchen Staatsganzen im obigen Sinne ab- 
hängt. Sede Stärkung des Slawentums auf öſterreichiſchem Boden mindert 
deshalb den Wert des Nachbarſtaates als unſeres Bundesgenoſſen und ge- 
fährdet in natürlicher Folge die zentrale Machtſtellung des deutſchen Volkes 
im Reich! 

Unter ſolchen Geſichtspunkten gewinnen die eingetretenen und die tommen- 
den Veränderungen auf dem Balkan eine beſondere und gefahrdrohende Be— 
deutung. Bisher ging die Vorwärtsbewegung des Slawentums gegen das 
Deutſchtum im allgemeinen nur von den RNordſlawen aus, Polen und 
Tſchechen waren ihre Träger. Die letzteren wurden dabei wohlwollend gefördert 
von Nußland als der ſlawiſchen Vormacht, deren Volksmaſſen unbeirrt von periodi- 
ſchen Schwankungen der amtlichen Politik mit ganzem Herzen im allſlawiſchen und 
deutſchfeindlichen Lager ſtehen. 

Im Süden der habsburgiſchen Doppelmonarchie war das ihr zugehörige 
Slawentum zerfplittert, ibm fehlte der Rückhalt an einer ſtarken flawiſchen Macht 
außerhalb der Reichsgrenzen. Der Kampf des kleinen fanatiſchen Slowenen- 
ſtammes gegen die deutſchen Minderheiten in Südſteier und Krain bildete eine 
Einzelerſcheinung. 

Durch das erfolgreiche Hervortreten des Balkanbundes ijt hier mit 
einem Schlage die Lage für unſere Volksintereſſen verhäng-— 
nisvoll gewandelt. Aus den Siegen der Bulgaren, Serben und ihrer 
Verbündeten auf den Schlachtfeldern Mazedoniens erwuchs für das Deutſchtum 
die ſüdſlawiſche Gefahr. Ihre Bedeutung ergibt jid aus dem vorher 
Dargelegten. Slawiſche Bluts- und Intereſſengemeinſchaft, ſlawiſche Teilnahme 
für das Schickſal ihrer Brüder in Mazedonien haben die Südſlawen der Baltan- 
halbinſel zum Bündnis und zum Angriffskriege gegen die Osmanen getrieben. 
Triumphierend ſchicken ſich die Sieger an, die Beute zu teilen. Ein Teil des fagen- 
haften Herrſcherglanzes, der die großbulgariſchen und großſerbiſchen Reiche des 
Mittelalters umwob, ſtrahlt heute von der Krone des Königs der Bulgaren und 
Peters von Serbien. Die Südſlawen ber Balkanhalbinſel, geeint und frei, ſchicken 
fid an, als eine ſlawiſche Großmacht in dem europäiſchen Völkerrat Sitz und 
Stimme zu fordern. Jedoch, die größere Hälfte dieſer Südflawen 
wohnt nicht in den Grenzen des jungen Staatsgebildes, fondem im alten 
Habsburgerſtaat. 

In dieſer wenig beachteten Tatſache liegt ber Kern der ganzen ſüdſlawiſchen 
Frage. Durch ſie wird dieſe zur offenbaren Gefahr! 

Die Zahl der Serbokroaten auf öſterreichiſch-ungariſchem Boden fest 
ſich zuſammen aus 


Zürmers Tagebuch 727 


Kroaten (in Kroatien, Slawonien und dem Riiftenfand). . . . . . 3 335 000 
Bosniaken (in Bosnien und der Herzegowina)... a 2 22.0. 1 520 900 
zufammen 4 855 000 

Dieſen ſtehen auf der Balkanhalbinſel an Serben gegenüber (im Rönig- 
reich Serbien, Königreich Montenegro und Altſerbien) nur . . 3147000 

Zählt man zu den öjterreichiichen Serbokroaten noch die Slowenen mit 
1 500 000 Köpfen als Südſlawen hinzu, ſo weiſt die Donaumonarchie 
insgeſamt 6353000 Südſlawen auf, die mit ihren Sympathien 
uneingeſchränkt auf der Seite ihrer ſerbiſchen Balkanbrüder ſtehen. 

Serben im Königreich und im Sandſchak — Montenegriner — Kroaten in 
Kroatien, Slawonien und Dalmatien — Bosniaken, Serben und Herzegowzen im 
jüngſten Kronland Oſterreichs — fie alle find gleichen Blutes, gleicher 
Sprache, Art und Sitte: find Serbokroaten, geſchieden nur durch die 
Wälle der konfeſſionellen Gegenſätze und die Gräben der Staatsgrenzen. Noch 
vor wenigen Jahren waren diefe Wälle fo ſtark, daß die römiſch-katholiſchen Rroa- 
ten den Serben der griechiſch-orientaliſchen Kirche feindlich gegenüberſtanden, 
ſeitdem aber hat der ſteigende Wellenſchlag des nationalen Gedankens, verſtärkt 
durch den Einfluß der allſlawiſchen Idee, dieſe Wälle zerbröckelt; der Stolz auf die 
Siege ber Balkanbrüder wird ihre letzten Refte hinwegfegen. Und die Gräben ber 
Staatsgrenzen? Vor drei Jahren, als das Königreich Serbien, offenbar geſtützt 
auf die ruſſiſchen Sympathien, Anſtalt machte, ſich der Einverleibung Bosniens 
in Oſterreich zu widerſetzen, weil fie feine großſerbiſchen Hoffnungen durchkreuzte, 
brachen tſchechiſche Referviften in Prag bei der Mobil- 
machung in Hochrufe auf Serbien aus, und ſoeben erlebte Wien 
ſlawiſche Studentendemonſtrationen der gleichen Art. Im vorigen Jahre war 
der Verfaſſer Augenzeuge des geradezu frenetiſchen Zubels, mit dem in Kroatiens 
Hauptſtadt Agram bei einer großen allſlawiſchen Sokolfeier die in Gondergiigen 
eingetroffenen Sokols aus Belgrad und Sofia begrüßt wurden; damals, kurz 
nach dem öſterreichiſch-ſerbiſchen Konflikt, rief ihnen das Stadthaupt Agrams zu, 
er hege die Hoffnung, das nächſte Mal die ſerbiſchen Brüder in einem wirklich 
freien Kroatien begrüßen zu können! Viel Hunderte von kroatiſchen Freiwilligen 
aus den öſterreichiſchen Landen ſind den Serben im letzten Kriege zu Hilfe geeilt. 
Auf dem Marktplatz Agrams mußte erſt vor wenigen Wochen die Polizei mit 
blanker Waffe gegen kroatiſche Studenten vorgehen, die mit Hochrufen auf „König 
Peter von Kroatien“ demonſtrierten, und in Dalmatien () erließen mehrere hun- 
bert kroatiſche Gemeindevorſteher eine Kundgebung zugunſten ihrer ‚Brüder in 
Serbien‘. In öſterreichiſchen Regierungskreiſen hat man bis letzthin den Kroaten 
Vorſchub geleiſtet, fie zur Verdrängung des Ftalienertums an der dalmatiniſchen 
Küſte benutzt, weil man in ihnen den treuen Anhänger der ſchwarz-gelben Fahne 
jab, der einſt dem Kaiſerhauſe im Kampf gegen die madjariſchen Revolutionsherren 
wertvolle Dienſte geleiſtet. Man bedachte nicht, daß weniger Kaiſertreue als 
Raſſenhaß gegen das Madjarentum die Triebfeder dieſer Waffengefolgſchaft ge- 
weſen. Bis vor kurzem noch wurde mit dem Gedanken des ,Srialismue' geſpielt, 
der Serbokroaten, Bosniaken und Slowenen in einem ſüdſlawiſchen ſelbſtändigen 


728 Zürmers Tagebuch 


Reichsdrittel zuſammenfaſſend, den Habsburgerftaat gegen den Balkan decken und 
womöglich eine ſtarke Anziehungskraft auf den Balkanſlawen ausüben ſollte. 
Die ſerbiſchen Siege haben die Verhältniſſe umgekehrt ſich entwickeln laſſen. Heute 
muß es für den öſterreichiſchen Staat ernſte Sorge ſein, daß die Anziehungskraft 
der Balkanſieger auf feine füdjlawifchen Volksbeſtandteile nicht feinen eigenen 
Beſitzſtand gefährdet! 

Ein kriegeriſch erſtarkter ſüdſlawiſcher Balkanbund, der wie ein Riegel Ofter- 
reichs wirtſchaftliche Ausdehnung nach Süden hin abzuſperren vermag, eine eigene 
ſüdſlawiſche Grenzbevölkerung, die mit Kopf und Herz den Brüdern in biefem 
Balkanbund zuſtrebt und infolgedeſſen die Entſchlußkraft und Kampfſtärke des 
öſterreichiſchen Staates lähmt, — das iſt die gefährdete politiſche Lage, in der ſich 
der öſterreichiſche Staat den Südſlawen gegenüber befindet. 

Für das öſterreichiſche Deutſchtum kommt hinzu, daß diefe Lage, wie 
auch immer ſie ſich entwirren möge, ſeine Stellung im Staat ſchädigen muß. Geht 
bie öſterreichiſche Regierung daran, die Treue ihrer Südflawen ſich durch Ver- 
ſprechungen und Entgegenkommen in nationaler Hinſicht zu ſichern, ſo kann dies 
nur auf Koſten der Oeutſchen geſchehen. Würde Öfterreih im Falle 
eines ſiegreichen Krieges feinen Beſitzſtand nach Süden vermehren, fo hätte das 
wiederum eine verhängnisvolle Machtſteigerung des Sla wentums im Staate 
zur Folge, das heute ſchon mit 60% der Geſamtbevölkerung 
den 36 9, Deutſch-Sſterreichern gegenüberſteht. 

Für bas Geſamtdeutſchtum endlich ergibt fid in völkiſcher politi- 
ſcher Hinſicht die gefahrdrohende Tatſache, daß die Erfolge der Bulgaren, Serben 
und Montenegriner nunmehr auch ſüdlich des verhältnismäßig ſchmalen Bandes 
vom deutſchen, madjariſchen und rumäniſchen Volkstum, das in Sſterreich die 
Nord- und Südflawen trennt, einen ſtarken, ſelbſtbewußten und aktiven Staaten 
bund geſchaffen haben. Und von dieſem Bunde ſteht gerade der Teil, der auf 
Oſterreichs Südſlawen die ſtärkſte nationale Anziehungskraft ausübt, Serbien, im 
Bann des ruſſiſchen Einfluſſes. Schon vor zwei Jahrzehnten brachte das Drama 
eines montenegriniſchen Dichters folgende Prophezeiung: 

Ihr follt aus dieſen Bergen 

Ein neues ſtolzes Serbenreich errichten. 
Doch wird's nicht eher euch gelingen, bis 

Sm Norden ihr den großen Bruder findet! 
Das Heil'ge Rußland wird wie eine Mutter 

Für euch den Bruder liebend auferziehen. 

Die Welt wird ſtaunen über ſeine Taten, 

Und niemand wird aus Furcht vor ſeiner Stärke 
Euch künftig zu beleid’gen wagen! 

Der Verfaſſer dieſes Dramas war — König Nikita von Monte 
negro! 

Käme es dazu, daß Sſterreich- Ungarn fih mit Waffengewalt der flawifchen 
Umllammecung von Nord und Süd her zu erwehren entſchlöſſe, fo würde es in 
einen Kampf geben, deffen Ausgang darüber entſcheiden wird, ob dem Deutſch⸗ 


Türmers Tagebuch 729 


tum noch eine Zukunft in Mitteleuropa beſchieden iſt oder ob es dort der Flutwelle 
des ziffernmäßig übergewaltig andrängenden Slawentums erliegen muß.“ 

„Die Slawen haben einen ihrer Feinde vernichtet, die Germanen einen 
Freund verloren“, — in dieſe nüchterne Formel faßt der „Hammer“ das Ergebnis 
bee Balkankrieges. „So ſtehen wir vor einem völlig veränderten Bilde der euro- 
päiſchen Lage. Die ſiegreichen Balkanſtaaten ſtellen einen neuen Faktor im euro- 
päiſchen Staatenſyſtem dar. Zunächſt bewirkten die Erfolge der Südſlawen ein 
gewaltiges Anſchwellen des ſlawiſchen Selbſtbewußtſeins: ber Panſlawismus er- 
hebt mächtig ſein Haupt und blickt drohend auf die germaniſche Welt. 

Wie ſehr die Slawen bedacht ſind, alles aus dem Wege zu räumen, was 
ihre innigſte Verſchmelzung hindern könnte, zeigt das Verhalten gegen die Al b a- 
niet, Dieſe Nachkommen der alten Etrurier und Pelasger find nicht flawiſch, 
und darum bedroht das ſiegreiche Serbien fie ſchlecht weg mit Ausrot- 
tung. Zwiſchen der Donau und dem Mittelländifchen Meere foll eben ein mäch⸗ 
tiges Südſlawenreich errichtet und alles, was dem im Weg ſteht, hinweggeräumt 
werden. Es liegt nahe, auch die öſterreichiſchen Slawenländer, die Kroaten, Slo- 
wenen und Küſtenſlawen an der Adria dieſem neuen Reiche anzugliedern. 

Die flawifdhe Ländergier ijt ſtark. Überall, wo Slawenſtämme wohnen, und 
wären ſie noch ſo klein, wie die Tſchechen und Slowenen, treten ſie als Eroberer 
und Verdränger auf. Zunächſt bedroht ijt Ungarn. Wenn man in Wien die Zeichen 
der Zeit verſteht, wird man endlich den Wahn aufgeben, das Haus Habsburg an 
die Spitze einer katholiſch-ſlawiſchen Welt ellen zu wollen. Der Halbmond ijt 
vom griechiſchen Kreuze geſtürzt worden, nicht vom römiſchen. Die Feind- 
ſeligkeit des ſerbiſchen und montenegriniſchen Königshauſes gegen Habsburg iſt 
bekannt genug, und über die zweifelhafte Treue der übrigen Slawenſtämme Ofter- 
reichs wird man ſich endlich im klaren ſein. An der Erhaltung der habsburgiſchen 
Donau-Monarchie nehmen nur die Oeutſchen und Ungarn ernſten Anteil. Die 
ſlawiſchen Demonſtrationen in Dalmatien, Bosnien, Böhmen, Kroatien zugunſten 
der Balkanſieger reden eine deutliche Sprache. Der Abermut der Slawen kennt 
keine Grenzen mehr. Vermaß ſich doch der Tſchechenführer Dr. Kramarſch, den 
Kaiſer Franz Joſeph öffentlich zu tadeln, weil er den deutſchen Abgeordneten Wolf 
zu einer patriotiſchen Rede beglückwünſcht hatte. Nach ſeiner Meinung dürfe in 
Oſterreich nur noch ein deutſchfeindlicher Patriotismus geduldet werden. 

Bei ſolcher Sachlage kann die Beſitzergreifung der ägäiſchen und adriatiſchen 
Küſte durch die Balkanſlawen den mitteleuropäiſchen Mächten nicht gleichgültig 
ſein. Merkwürdigerweiſe aber zeigen ſich dieſe Mächte recht nachgiebig. Es läßt 
fih ſchon heute vorausſagen, daß die Balkanſtaaten im weſentlichen alle ihre For- 
derungen durchſetzen werden. Die Großmächte werden fid) mit einigen Schein- 
erfolgen ihrer fragwürdigen Diplomatie begnügen. 

Am meiſten bedroht bei dieſer Entwicklung ift das Deutſchtum; künftige 
Gebietserweiterungen der Slawen können nur nod deutſchen Boden 
treffen. Sollte man in Wien noch dem alten Plane huldigen, ein illyriſches König- 
reich als dritten Staatsbeſtandteil zu ſchaffen, fo würde man dem flawiſchen Macht- 
zuwachs nur Vorſchub leiſten. Es würde den Zerfall der Donau Monarchie be- 


130 &ürmers Tagebuch 


ſchleunigen. Denn ſchließlich werden auch bie Tſchechen noch mit ihrem alten An- 
ſpruch auf ein Königreich Böhmen hervortreten, und Deutſch-Oſterreich ſtände 
dann vor einem ähnlichen Schickſal wie die Türkei. Der letzte Bundes- 
genoſſe des Deutſchen Reiches wäre dann verloren. 

Möge man die Zeichen der Zeit an maßgebenden Stellen richtig deuten und 
fid) klarmachen, welche wichtige Rolle die 12 Millionen Deutfchen in Sſterreich bei 
der künftigen Entwicklung zu ſpielen haben. Sie find in gleichem Maße bedeutfam 
für die Zukunft der Donau-Monarchie wie für die Zukunft bes Deutſchen 
Reiches. Sind die Oeutſchen Sſterreichs erſt niedergezwungen, ſo wird die 
ſlawiſche Welle unmittelbar an bie Ufermauern des Deutſchen Reiches branden. 
Die Verſtändigen und politiſch Weitblickenden im Reiche wiſſen die Stammes- 
brüder im Donauftaate zu ſchätzen und würdigen vollauf bie ſchwere Aufgabe, 
die ihnen als Wogenbrecher gegen die ſlawiſche Hochflut zufällt. Möge diefe Wür- 
digung in allen deutſchen Kreiſen, vor allem aber in den deutſchen Regie- 
rungen immer ernſter werden! 

Der allſlawiſche Gedanke rüſtet zum vereinten Anſturm gegen die germaniſche 
Kulturwelt. Möge man diefe Tatſache endlich klar erkennen und die alte Gorg- 
loſigkeit aufgeben.“ 

* * * 

Unter Reichsſchiff hat aber noch ein ganz anderes Leck! Fft denn Ofter- 
reich aud in der Tat unfer „Bundesgenoſſe“ auf Gedeih 
und Verderb? Zn bem Sinne, wie das allgemein bei uns geglaubt, in tind- 
lichem Vertrauen als ſelbſtverſtändlich und todſicher vorausgeſetzt wird? Kennt 
man bei uns überhaupt den Inhalt des Dreibundver- 
trages? 

Der alte ehrliche Dreibund! Er iſt kürzlich „ohne Abänderung“ von den 
beteiligten Souveränen erneuert worden, noch bevor er abgelaufen war. Wenn 
aber die Urheber des Werkes erwartet hatten, damit die Welt in ſprachloſes Er- 
ſtaunen zu verſetzen, ſo kam die ausgelöſte Wirkung dieſer Erwartung nur ſehr 
mäßig nach. „Von den Gegenſpielern“, führt Dr. Albert Ritter im „Freien Wort“, 
der Frankfurter Halbmonatſchrift, aus, „fiel keiner auf den Rücken, und die eigene 
Preſſe mußte mangels anderer Weisheit ſchließlich ſagen, an dem ganzen Vor— 
gange fei nichts Überrafchendes, weil nach den Vorgängen der letzten Wochen nie- 
mand an der Verlängerung der Verträge zweifeln konnte. Das iſt nun allerdings 
ziemlich richtig, denn in allen drei beteiligten Staaten verhielt ſich die öffentliche 
Meinung in überwiegendem Maße zuſtimmend zu dem deutlich erkennbaren 
Vorhaben der Regierungen, die Erneuerung feon jetzt zu beſchließen und zu ver- 
künden, damit die gegneriſche Gruppe vor einer vollendeten Tatſache ſtehe. Aber 
es ift nicht ſelbſtverſtändlich, daß jo wenig Widerſpruch gegen dieſes Vorhaben 
laut wurde, vielmehr hätte man nicht bloß in Italien, ſondern eher nod) in Deutſch- 
land die kräftigſte Gegenarbeit erwarten ſollen, und nicht etwa 
von den Feinden des Bundesverhältniſſes, ſondern von ſeinen Freunden. Der 
Vertrag nämlich, wie er beſteht, genügt den Verhältniſſen und Bedürfniſſen durch- 
aus nicht, er iſt völlig unzeitgemäß und veraltet, und die Nation, 


Zürmers Tagebud 731 


die hauptſächlich bie Koſten biejer Übelftände trägt, hätte die unbedingte Pflicht 
gehabt, bei einer Erneuerung des Bundes die Abänderung der unzulänglichen 
oder widerſinnigen Beſtimmungen zu fordern. 

Aber es zeigte ſich erſt in der jüngſten weltgeſchichtlichen Ausſprache des 
Reichstages zur äußeren Politik, daß nicht einmal die hervorragend 
ten Parteiführer den Inhalt der ben Dreibundmitglie- 
dern obliegenden Pflichten und Rechte kennen, wie ſollte 
man da erſt von der politiſch ungeſchulten Geſamtheit des Volkes erwarten, daß 
fie fid) eines Eingriffs in die geheiligte Prärogative der Diplomatie erkühne und 
auf Grund berechtigter Bedenken die Einflußnahme auf den Abſchluß zwifchen- 
ſtaatlicher Bündnisverträge fordere? Der Redner des Zentrums, Dr. Spahn, 
ſprach es aus wie eine ſelbſtverſtändliche Wahrheit, daß, wenn Sſterreich von 
Rußland angegriffen werde, das Deutſche Reich und Italien verpflichtet feien, 
ihm bewaffnete Hilfe zu leiſten. Niemand widerſprach dieſer Behauptung, man 
ließ fie in die Öffentlichkeit, in das Volk, in die Welt gehen, und doch ift fie g La tt- 
hin falſch, denn Ftalien ift nicht zur Hilfeleiſtung, nur zu 
wohlwollender Neutralität verpflichtet, wenn Öfterreich gegen Often Krieg führt, 
wie dieſes wiederum Neutralität gelobt hat für den Fall, daß Italien mit Frank- 
reich im Kampfe liegt. 

Eine tätige Hilfeleiſtung ift dagegen zwiſchen Italien und dem Deutſchen 
Reiche vereinbart, wenn Frankreich einen der beiden Staaten angreifen ſollte. 
Ebenſo müſſen Oeutſchland und Sſterreich einander zu Hilfe kommen, wenn Ruß- 
land einem von beiden den Krieg erklärt. Das alles iſt für den derzeit möglichen 
Fall einer europäiſchen Verwickelung nun freilich praktiſch gleichbedeutend mit 
der Annahme des Herrn Dr. Spahn, aber vertragsrechtlich erfolgt das Zufammen- 
ſpiel nicht auf Grund des Bundes Oſterreich- Italien, ſondern erft dadurch, daß 
Deutſchland von Stalien Hilfe erhält, wenn es während des Vorgehens gegen 
Rußland von Frankreich gefaßt wird. Das Verhältnis Staliens zu Ojterreid) geht 
nicht über einen Neutralitätsvertrag hinaus und reicht alſo eigentlich gar nicht ſo 
weit, daß man von einer Bundesgenoſſenſchaft ſprechen kann. Theoretiſch genügen 
die Bündniſſe allerdings den Notwendigkeiten vor allem des Deutſchen Reiches, 
aber auch den andern beiden Staaten, denn das Oeutſche Reich hat für jeden Fall, 
ſowohl für den Krieg nach Weſten als nach Oſten, eine Hilfe bei der Hand, und 
Stalien und Ofterreich haben den Rüden frei, wenn fie von den nächſten Nach- 
barn angegriffen werden. Ferner ift Deutjchland in der Lage, einem Krieg zwiſchen 
Stalien und Sſterreich allenfalls als Unbeteiligter zuſehen zu können, hat aber da- 
für auch einen Krieg mit England allein auszufechten, ſolange er ein Zweikampf 
bleibt. Theoretiſch iſt die Anlage in der Tat nicht übel, wie ſteht es aber mit den 
Ausſichten für die Wirklichkeit? 

In ganz Europa ſcheint trotz des dreißigjährigen Vertrages kein Menſch 
daran zu glauben, ja auch nur daran zu denken, daß Deutſchland im Falle eines 
Krieges mit Frankreich von Italien Hilfe bekomme. Glaubte man daran, 
ſo wäre ja jede Möglichkeit, an dieſen Krieg auch nur zu 
denken, ausgeſchloſſen. Statt deffen ſteht er feit acht Jahren wieder 


732 Türmers Tagebuch 


im Vordergrund der politiſchen Erörterung und der europäiſchen Spannungen. 
Wäre eine italieniſche Mitwirkung am franzöſiſch-deutſchen Kriege gewiß, fo wäre 
Frankreich wahnſinnig, wenn es fih in dieſen Krieg ſtürzen wollte, denn es be- 
dürfte feiner ganzen Macht, um Stalien allein, das ihm an Volkszahl nahezu gleich- 
ſteht, entgegenzutreten. Seine Sache wäre von vornherein hoffnungslos ver- 
loren. Daran denkt nun aber Frankreich durchaus nicht, es iſt vielmehr ſeines 
Sieges über Deutſchland feit neueſtem fo gut wie ſicher — wie do mmt das? 

Anderſeits, wenn das Oeutſche Reich mit den beiden „Bundesgenoſſen“ diefe 
Verträge hatte, wie konnte es denn fortwährend noch nach anderen Freundſchaften 
und Rüdendedungen ſuchen? Wie konnte es feit einem Jahrzehnt 
von einer diplomatiſchen Niederlage zur andern ſchrei— 
ten und ſich überall in der Welt zurückdrängen laſſen? 
Var nicht die Doppelmacht gegen Frankreich und die Doppelmacht gegen Ruß- 
land jederzeit imſtande, zum Vorteil aller drei Verbündeten die beiden Wider- 
ſacher niederzuwerfen? 

Wenn die Verträge jemals ernſt gemeint und von der deutſchen Re- 
gierung als verläßliche Stütze aufgefaßt waren, fo iff die Geſchichte der 
letzten zehn Jahre durch und durch unbegreiflich. Hielt 
man aber den ganzen Dreibund ſelbſt für ein Scheinding, das einen Ernſtfall gar 
nicht ertragen würde, wie war denn dieſer Kultus mit ihm, dieſes ſtete Bemühen, 
ihn lange vor dem Ablauf ſchon wieder zu erneuern, möglich und zu erklären? 

Auf Grund der Verträge die Bündnisfälle zu ſchaffen und die Sache ſo zu 
drehen, daß man von einer Seite angegriffen wurde und Stalien und Sſterreich 
nacheinander hineingezogen werden mußten, das hätte wahrlich keine Herenmeifter- 
künſte erfordert und es hätte die Unerträglichkeit der Einkreiſung ſchon lange unter 
günſtigen Umſtänden beſeitigen und allen Oreibundgenoſſen die großartigſte Beute 
eintragen können. Aber man hat es nie verſucht, offenbar weil man ſich oben in 
der Stunde der Gefahr ebenſo verlaſſen fühlte wie unten, wo man ſchon lange der 
Anſicht iſt, daß man als angegriffener Teil im Ernſtfalle doch allein ſtünde. 

Wenn nun ein ſolcher Vertrag erneuert worden iſt, ohne daß er verbeſſert 
wurde, dann iſt für die deutſche Zukunft keinesfalls etwas gewonnen, ſondern nur 
ein Übel aufgefriſcht worden, an dem das Oeutſche Reich feit zwanzig Jahren 
krankt, feit man die Paſſivität zum politiſchen Grund ſatz er- 
hoben hat. Von der rein defenſiven Auffaſſung des Dreibundes trug das 
Reich nur Schaden, unberechenbaren und unerſetzlichen Schaden davon, in 
dieſer Art durfte man das Bündnis nicht mehr weiter betreiben, es war in eine 
aktive Intereſſengemeinſchaft mit vorgeſetzten Zielen zu verwandeln, oder es hatte 
in der heutigen Weltlage keinen Sinn und keine Daſeinsberechtigung mehr. 

Stalien mußte verpflichtet werden, fid) nicht bloß mit den altgewohnten 
lächerlichen Redensarten zu begnügen, daß es nach wie vor am Sreibunbe als an 
der unverrückbaren Grundlage der äußeren Politik feſthalte. Sein Miniſter hat 
wie der deutſche Reichskanzler im offenen Parlament zu verkünden: Wird das 
Deutſche Reich in Verfolgung feiner berechtigten Intereſſen von Frankreich an- 
gegriffen, ſo werden wir an Frankreich den Krieg erklären und ihn mit ganzer 


Zürmers Tagebuch 133 


Macht führen. Geſchieht das, dann foll man ſehen, wer in Europa bie Vorhand 
hat und wer bei Konflikten zurückweicht. Dann bringt Frankreich dem Frieden 
Opfer, aber nicht mehr Deutſchland, das (don allzu viele gebracht hat. 

Welcher Wirrwarr der Meinungen hat doch während des Marokkokonfliktes 
beftanden, als ganz Oeutſchland ſehnſüchtig nach Wien blickte und eine glänzende 
Kundgebung der Hilfsbereitſchaft erwartete, ſtatt deſſen aber nur Beweiſe kühler 
Zurückhaltung, begleitet von einigen luſtigen Schnippchen perfiden Humors, 
empfing. Da ging ein ziemliches Murmeln durch das Publikum und es tat ent- 
rüſtet, hatte aber, juriſtiſch genommen, keinerlei Recht dazu. Denn was Berlin 
1909 getan hatte, das war nur ſeine verfluchte Schuldigkeit geweſen, auf Grund 
einer Verpflichtung, die es freiwillig angetragen und übernommen hatte, daher 
ſtand ihm ein Anſpruch auf Dankbarkeit überhaupt nicht zu. Hingegen Oſterreich 
war 1911 überhaupt zu nichts verpflichtet, weil fein Bündnisvertrag mit Deutſch⸗ 
land ſich nur auf einen Krieg gegen Rußland bezieht und mit den deutſchen Hän- 
deln nach Weſten hin ganz und gar nichts zu tun hat. Es war durchaus unberechtigt, 
wenn das deutſche Publikum nach Wien ſchaute und murmelte: nach Rom hätte 
es ſchauen müſſen, dort ſaß der Schwurgenoſſe, der zugeſagt hatte, an einem Kriege 
gegen Frankreich mitzuwirken. Allerdings tat er nicht dergleichen, als ob eine ſolche 
Verpflichtung vorläge, und er ſich daran erinnerte, er ſteckte die Hände in die Taſchen 
und pfiff ſich eins. Aber da hätte man ihn eben ſollen bei den Ohren nehmen: 
avanti Savoia! Doch daran dachte kein Menſch, das deutſche Volk von 
feinen Lenkern abwärts bis zum murmelnden Publi- 
kum hatte eben und hat offenbar gar keine Ahnung, was 
für Bündnis verträge es überhaupt abgeſchloſſen hat. 
Das Gebaren der Wiener Politik hätte, unbeſchadet ihrer Schäbigkeit, eigentlich 
den Dank der deutſchen Nation verdient, weil es ſie mit der Naſe darauf ſtieß, 
daß fie bie Unſinnigkeit der beſtehenden Verhältniſſe hätte bemerken können. Aber 
fie bemerkt heute noch nichts, und der alte ehrliche Vertrag ift nun wieder ab- 
geſchloſſen worden, ohne daß das Geringſte daran geändert wurde, und niemand 
findet etwas dagegen zu bemerken. Deutſchland hat ſeinerſeits keinen Angriff von 
Rußland zu befürchten, Ofterreich aber täglich, und für dieſen Fall ſteht ihm das 
große deutſche Schwert zur Verfügung. Hingegen hat Ofterreih von Frank- 
reich keine Kontrahage zu gewärtigen, wohl aber fuchtelt dieſes ſtets dem Deut- 
ſchen Reiche vor ber Nafe herum. Hat nun für dieſen Fall Deutjchland Öfterreich 
an der Seite? Nicht die Spur; das geht Öfterreih nichts an. Wien verfügt 
alſo in ſeiner Lebensfrage über die deutſche Armee, 
Deutſchland aber in feiner Lebensfrage nicht über das 
Heer Ofterreid s. Sit das nicht ein ganz ſinnloſes Verhältnis? 

Wäre Ofterreids Platz im Kriege gegen Frankreich verläßlich durch Stalien 
ausgefüllt, ſo ließe ſich die Sache noch halbwegs für erträglich anſehen, da dies 
aber ganz bedenklich in Frage ſteht, bildet fie einen unerträglichen Ubelftand. Sie 
in einem verlängerten Bündnisvertrag gleichſam zu verewigen, das iſt eine nicht 
zu verantwortende Untat, die an der Nation von den Lenkern ihrer Geſchicke be- 
gangen wird. Freilich iſt die Nation ſelbſt ſchuld daran, daß ſie derartiges erdulden 


734 Zürmers Tagebuch 


muß, da fie (id) um den Inhalt ber Bündnisverträge gar nicht kümmert, da nicht 
einmal die politiſchen Führer über die Rechte und Pflichten der Bertragsteile 
unterrichtet ſind. 

Mit Ofterteid) ein unkündbares Bündnis auf Gedeih und Verderb, zu Schutz 
und Trutz gegen jeden Feind, mit Gewährleiſtung aller Beſitzungen und Erobe- 
rungen, und unter der Hauptbedingung, daß dem Deutſchtum 
die führende Stellung in der einen und volle nationale 
Freiheit in der andern Reichshälfte gefidert bleiben 
müſſe — das hatte das deutſche Volk zu fordern, wenn es 
erfuhr, daß man mit der Erneuerung des Bundes umgehe, und Wien, das jetzt 
in Not ift, hätte fi nicht weigern können. Mit Stalien aber ein Bünd- 
nis, das die römiſche Regierung verpflichtet, offen zu erklären, daß ſie in einem 
Kriege gegen Frankreich an Oeutſchlands Seite ſtehe und daß fie Oſterreichs Rechte 
an der Oſtküſte der Adria anerkenne und nicht darauf ausgehe, die Donau- Mon- 
archie in den engen nordweſtlichen Winkel des Meeres einzuſperren: das wäre 
Deutſchlands berechtigte Forderung an Stalien. Denn auch Stalien bat fein Beſtes 
zu erwarten von der Zuſammenarbeit mit Deutſchland, ihm könnten Tunis, Kor- 
ſika, Nizza vor Augen gehalten werden, die ihm doch wahrlich mehr gelten könnten 
als ſeine Intereſſen im albaniſchen Berglande, das erſt nach Jahrzehnten anfangen 
wird, ſchwere Mühen zu belohnen. Deutſchland hatte Klarheit zu ſchaffen in dieſem 
Zwielicht von Tücke und Heimlichkeit, in dem Italien feine Vorbereitungen oben 
im Polande betreibt, wo niemand weiß, ob es ſchließlich gegen Oſten oder Weſten 
geht. Oſterreich hat ſeine Rechte auf dem Balkan, ja die Pflicht, ihn der Kultur 
zuzuführen, zu der er von ſelbſt kaum gelangen wird, und Stalien hätte keinen 
Schaden davon, wenn Sſterreich ſeine Küſte weiter ausdehnt, es bedarf durchaus 
nicht der Möglichkeit, ſeinerſeits die Adria zu blockieren. Poſitive Intereſſengemein- 
ſchaft, große Ziele für alle Verbündeten: eine ſolche Loſung hätte dem Bund Sinn 
und Inhalt gegeben. Iſt er nur erneuert worden, wie er beſtand, und ſo geſchah 
es jedenfalls, jo trägt Deutſchland nur Pflichten davon und keine Sicherheit, gegen 
Frankreich Hilfe zu haben, Oſterreich muß ſich ſelbſt den Balkan abſprechen, und 
Italien bringt (id) in feinem Neide gegen Öfterreich ſelbſt um die größten Vorteile, 
die ihm bei einer ehrlichen und ſtarken Politik ſicher zufallen würden. 

Der Dreibundlegt das Deutſche Reich ſchon ein Jahrzehnt 
lang weltpolitiſch lahm undopfert das Deutſchtum Ofter- 
reich UAngarns den Slawen und Madjaren, die beteiligten 
Völker haben innerlich kein Zutrauen zu ihm und die Feinde keine Furcht vor ihm. 
Das zeigt fid) an den offigibjen Stimmen aus Paris, die ganz unverfroren erklä- 
ren, Frankreich habe von Stalien nichts zu beſorgen. Die großartige Verkündigung 
der Erneuerung war ein Theaterdrama, deſſen Wirkung ſchon wieder verpufft iſt. 
Ein großer neuer Gedanke würde nachhaltigeren Eindruck machen als das Beten 
einer alten Zauberformel, an die niemand mehr glaubt.“ 

Nun, fo ganz wollen wir den Oreibund denn doch nicht zum alten Eiſen 
werfen. Der Gedanke war von Bismarck zu genial gedacht, als daß in ihm nicht 
immer noch eine alte Kraft — ſchlummern ſollte. Aber eben: dieſe Kraft aus dem 


Gütmere Tagebuch 135 


Sdlummer- und Dämmerzuſtande ins wade, bewußte, tätige Leben zu rufen, 
das war die Aufgabe der Epigonen Bismarcks. Var er ſelbſt doch der letzte — er 
hat es ja auch ganz unverblümt ausgeſprochen —, der daran dachte, den Orei- 
bund, wie er ihn aus der für ihn gegebenen Lage heraus geſchaffen hatte, in alle 
Ewigkeit „ohne Abänderung“ () fortwurſteln zu laffen. Ein grotesker Gedanke für 
jeden politiſch Denkfähigen! Schon der Rückverſicherungsvertrag mit Rußland gab 
der Medaille eine ganz andere Kehrſeite, gab dem Deutſchen, ſtatt des einen, in 
jede Hand ein Schwert. Aber die Epigonen hatten ja nichts Eiligeres zu tun, als 
dieſes zweite Schwert, wie Kinder ein glühendes Eiſen, von fid) zu werfen — viel- 
leicht weil ſie ſich nicht ſtark und geſchickt genug fühlten, es zu führen. Von dieſer 
unſeligen Verſchandelung eines der genialſten politiſchen Meiſterſtücke, die je ein 
Staatskünſtler erſonnen, von der Aufhebung des mit dem Dreibundvertrage un- 
endlich kunſtvoll zuſammengeſchweißten Rückverſicherungsvertrages mit Rußland 
ſtammt das ganze graue Elend unſerer auswärtigen Politik in der Folgezeit. Denn 
nun rollt es wie ein unaufhaltſames Verhängnis den ſo mühſam erklommenen 
Berg herunter, auf dem Fuße folgt das Bündnis Rußlands mit Frankreich, das 
fich eine beſſere Arbeit ſelbſt nicht hätte beſtellen können. Aus dem ruſſiſch-franzöſi- 
ſchen Bündnis wächſt ſich ganz folgerichtig die Tripelentente aus, und ſo fort bis 
zu Agadir mit dem zahnloſen und krallengeſtutzten „Panther“. 
* * 


* 

Und nun fehlt es am Beſten, an führenden Männern! Was war das für 
ein nervöſes, krampfhaftes Suchen in allen verſtaubten Ecken und Winkeln unſerer 
Diplomatenftuben nach einem brauchbaren Nachfolger für Kiderlen- Wächter! 
Ein Schrei nach „Männern“! „Es iſt ein erſchreckender Mangel an brauchbarem 
Nachwuchs vorhanden“, klagte die „Frankf. Ztg.“: „Vielleicht wird die jüngſte 
Generation beſſer ſein, aber gerade in der mittleren, die jetzt die Führung und 
Leitung übernehmen foll, ſieht es nicht febr gut aus. Viel Mittelgut und wenig 
Primaqualität! In den praktiſchen Berufen mag es noch angehen, obgleich wir 
auch da unſere Erfolge mehr durch gute Schulung und impoſante Maſſenleiſtungen 
erzwingen, während die eigentlichen Intelligenzen ſelten ſind. Aber in all dem, 
was mit öffentlichem Wirken zuſammenhängt, ſind wir nicht reicher geworden. 
Gewiß, die Zeitungen nennen dieſen und jenen Namen, deffen Träger als Nach- 
folger Kiderlens in Betracht kommen könnte, aber — man nimmt diefe Meldungen 
mit Zweifel und Kopfſchütteln auf. Es find auch einige wenige Männer vorhan- 
den, die nach ernſterem Urteil fähig wären, die ſchwierige Erbſchaft zu übernehmen, 
aber hier zeigt jid) wieder an einem praktiſchen Fall, daß die Rekrutierung unferer 
Diplomatie zu leicht verſagt, weil ſie zu eng und zu einſeitig iſt, weil bei ihr die 
Intelligenz nicht gerade ausſchließt, jedenfalls aber nicht entſcheidend iſt. Als 
Freiherr v. Marſchall ſtarb, ſtanden wir vor derſelben Schwierigkeit wie jetzt, 
und man griff, vielleicht mehr aus Zwang als Freiwilligkeit, nach einem Out- 
ſider. Sn Frankreich oder in England würde man in einem ſolchen Falle 
das Parlament durchmuſtern und aus ihm die geeignete Perſönlichkeit entnehmen. 
Dabei liegt die Gefahr eines Mißgriffes weniger vor als bei der Ernennung eines 
Berufsdiplomaten, weil im grellen Licht des Parlaments die Fähigkeiten ſich 


736 Gürmete Tagebuch 


leichter erkennen laſſen als bei dem mehr oder minder verſchwiegenen Amtieren 
in einer näheren oder ferneren Botſchaft. Denn ein Staatsſekretär des Auswärti- 
gen muß heute mit der europäiſchen Offentlidteit als mit einer realen Macht 
rechnen, er muß dieſe verſtehen und ſie zu behandeln wiſſen; wie ſich hier Fehler 
rächen, haben wir gelegentlich der Marokko-Affäre erfahren. Nun verlangt die 
Objektivität allerdings auch die Anerkenntnis, daß in unſerem Parlamente Kenner 
der auswärtigen Politik noch ſehr ſeltene Erſcheinungen ſind. Der Reichstag hat 
Jahrzehnte hindurch dieſes Gebiet als eine unbeſtrittene Domäne der Regierung 
anerkannt und erft neuerdings die ungeheure Wichtigkeit der auswärtigen Poli- 
tik für die Allgemeinheit beffer eingeſchätzt. Es fehlen dem Reichstage jene Prat- 
tiker, über die man in der engliſchen und franzöſiſchen Volksvertretung verfügt, 
zumal es bei uns bisher Ufus war, daß zurücktretende Staatsmänner ihre Er- 
fahrung brachliegen laſſen und dem Parlament fernbleiben. Dieſe unleugbare 
Verarmung der Nation an führenden Perſönlichkeiten iſt eine ernſte Mahnung 
an alle, die es angeht. Wir begnügen uns für jetzt mit der Hervorhebung der Tat- 
(ade, daß in parlamentariſch regierten Ländern ein gleicher Mangel nicht vor- 
handen iſt.“ 

Die ſelbe Trübſal blies die „Tägl. Rundſchau“, nur für unſere Parlamentarier 
als Anwärter auf diplomatiſche Führerpoſten hatte ſie (der ahnungsvolle Engel!) 
eine noch gedämpftere Tonart: „Die Armut an überragenden führenden Berfönlich- 
keiten unter unſeren Diplomaten hat fic feit langem nicht fo erſchreckend und hand- 
greiflich gezeigt, wie bei dieſer ergebnisloſen Suche nach einem Staatsſekretär. Wie 
kommt es, daß eine große Nation, wie die deutſche, ſich einen ſolchen Mangel an 
ernſten Männern eingeſtehen muß? Sit die Rekrutierung unſerer Diplomatie auf 
einen zu engen Kreis beſchränkt, durch Geburt und Vermögen mehr beſtimmt als 
durch die Ausleſe der Fähigſten? Fehlt unſeren Diplomaten der Mut der Berant- 
wortung oder glauben ſie, gerade in Berlin kein Feld für eigenes Wirken zu finden, 
ſondern nur den Ort, in dem man ſich raſch abnutzt und an perſönlichen und all- 
gemeinen Widerſtänden verbraucht? Daß hier ein Fehler in unſerer Staatsmaſchi- 
nerie ſteckt, liegt auf der Hand. Ihm könnte aber auch nicht dadurch abgeholfen 
werden, wenn man fih entſchlöſſe, nach engliſchem oder franzöſiſchem Beiſpiel 
Männer aus dem Parlamente in den auswärtigen Dienſt zu ſtellen; denn die aus- 
wärtige Politik gilt leider auch für unſer Parlament als eine Geheimkunſt, bei der 
ſich jeder Unzünftige nur die Finger verbrennen kann. Wir haben in unſerem 
Reichstage noch nicht ein halbes Dutzend Männer, die es wagen, ſich öffentlich mit 
auswärtigen Dingen zu beſchäftigen, und die zu ihnen ein beachtenswertes Wort, 
ein ſachverſtändiges, eigengewachſenes Urteil beizutragen vermögen. Man hat 
allzulange die Wichtigkeit der auswärtigen Politik als der für den Staat im letzten 
Augenblicke doch allein entſcheidenden Politik unterſchätzt, hat allzulange das 
Dogma, daß aller Segen von oben kommen müſſe und eine Kritik eine überbeb- 
liche Ungebühr fei, feſtgehalten, als daß man heute aus den Kreiſen ber Parlamen- 
tarier mit einem Erſatz aufwarten könnte. Und doch wird die Regeneration unſerer 
Diplomatie immer mehr eine unabweisbare Forderung, je mehr es ſinnfällig wird, 
daß das bisherige Syſtem uns im Stiche läßt.“ 


Zürmers Tagebuch 154 


Zum Troſt wird uns dann von ben „Leipziger Neueſten Nachrichten“ treu- 
herzig verſichert, daß auch der Reichskanzler, Herr von Bethmann-Hollweg, in der 
auswärtigen Politik nur mäßig beſchlagen ſei, daß er, obwohl er für die auswärtige 
Politik verantwortlich zeichnet, doch nur als völliger Laie in ſein Amt eintrat“. 
Und die „Hamburger Nachrichten“ glauben ein übriges tun zu müſſen: „Abgeſehen 
davon, daß der Mangel geeigneten Nachwuchſes die Ernennung eines Nachfolgers 
für Herrn v. Riderlen-Wächter erſchwert und verzögert hat, kommt noch ein ande- 
res Moment in Betracht. Es liegt in ber Perſon des Reichskanzlers, die ihrer gan- 
zen Art nach, was in eingeweihten Kreiſen kein Geheimnis iſt, ein reibungsloſes 
Zuſammenarbeiten mit den Leitern der verſchiedenen Reichsämter keineswegs 
erleichtert. Sein Weſen hat manchmal etwas Doktrinär-Rechthaberiſches, und wir 
plaudern keine Neuigkeiten aus, wenn wir feſtſtellen, daß auch das Bufammen- 
arbeiten zwiſchen Herrn v. Bethmann-Hollweg und Herrn v. Kiderlen Wächter 
nicht immer glatt verlaufen iſt. Wenn auch die hierauf bezüglichen Kriſengerüchte 
oft und mit Nachdruck offiziell dementiert worden find, fo lagen ihnen doch ge- 
wiſſe Tatſachen zugrunde, die im Ernſte nicht beſtritten werden können. Dieſe 
Differenzen ergaben ſich nicht nur aus Meinungsverſchiedenheiten über die Ziele 
und Wege der deutſchen auswärtigen Politik, ſondern vor allem auch daraus, 
daß der jetzige Kanzler auf dem Gebiete der Diplomatie ein Homo novus iſt, der 
fic) erft während feiner Neichskanzlerſchaft allmählich mit dieſer ſchwierigen Materie 
vertraut gemacht hat.“ 

Das iſt ja alles höchſt erbaulich und läßt auch für die Zukunft nur das Beſte 
hoffen. Hoffen wir auch, daß mit dem nun glücklich aufgeſtöberten „neuen Mann“, 
Herrn von Jagow, bet allein echte und wahre Staatsſekretär des Außern gefunden 
iſt. Herr von Jagow kommt aus Rom. Rom hat bekanntlich die Welt beherrſcht 
und beherrſcht fie zum Teil heute noch durch den päpſtlichen Stuhl. Da läßt fid 
aus Geſchichte und Gegenwart ſchon mancherlei Nützliches lernen. Und da Herr 
von Jagow ſeinen Aufenthalt in Rom ohne Zweifel auch nutzbringend angewandt 
hat, ſo dürfen wir zuverſichtlich hoffen, daß er die Quinteſſenz aus der Weisheit 
römiſcher Cäſaren und der erleuchtetſten Päpſte für ſein neues Amt mitbringt. 
Ein kleiner jeſuitiſcher Einſchlag würde ihm nicht ſchaden. Auch in Berlin nicht. 

* * 


* 

Es wird von Herrn von Jagow erzählt, er habe gleich nad) feiner Berufung 
erklärt, daß er als feine Hauptaufgabe die Herſtellung eines freundſchaftlichen 
Verhältniſſes mit England betrachten werde. Zugunſten des neuen Staatsſekre- 
tärs will ich annehmen, daß er dergleichen nicht geſagt hat. Wir haben in dieſer 
Meldung ein ty pij d es Beiſpiel dafür, wie wir es mit den Engländern nicht 
anfangen ſollen. Und ſollte wirklich — was ich aber ſtark bezweifle — Herr von 
gagow fo angefangen haben, fo wäre es ein wenig glücklicher, wenig verheißender 
Anfang. Wann endlich werden die Leute, die es für zweckmäßig hielten, eine ſolche 
Mitteilung in die Preſſe zu werfen, begreifen, daß wir uns von einem erfprieß- 
lichen Einvernehmen mit England nie weiter entfernen, als wenn wir ohne Cin- 
ladung uns ihm nähern? Nur die Macht der Tatſachen und die durch ſie erweckte 
und gefeſtigte Überzeugung der Engländer, daß fie uns nötig haben und SCH lie 


Der Sürmer XV, 5 


738 Zürmers Tagebuch 


von einem Zuſammengehen mit uns nicht nur keinen Schaden zu befürchten, fon- 
dern Nutzen zu erwarten haben, könnte und würde ſie an unſere Seite bringen. 
Vorläufig wird Karl Peters wohl recht behalten, wenn er, trotz aller „Entſpan⸗ 
nung“ und gegenſeitigen Liebenswürdigkeiten zwiſchen uns und England, nicht 
daran glaubt, daß Großbritannien deshalb ſeiner Tripelentente-Politik entſagen 
werde. „Dafür“, äußert er ſich in der von Dr. Paul Samaſſa herausgegebenen 
neuen Wochenſchrift „Oeutſch-Oſterreich“ (Wien IX), „it die Gegenſätzlichkeit 
der deutſch-engliſchen Intereſſen zu gründlich, und dieſe Gegenſätzlichkeit ver- 
ſteht man in Downing Street augenſcheinlich klarer als in der MWilhelmjtraße. 
Die Briten haben ein Viertel — und zwar das ſchönſte Viertel — der Erde 
erobert, weſentlich durch Gewalt, ſodann durch wirtſchaftliche Erſchließung. Es 
liegt ihnen im Blut, anzunehmen, daß jedes Volk, wenn es dies kann, die 
Tendenz haben müſſe, ebenfalls eine ſolche Politik zutreiben. 
Wenn fie an Stelle Deutſchlands wären, fo wäre der Kampf um die Dorberr- 
ſchaft auf der Erde längſt entbrannt. Man kann es hier einfach nicht be 
greifen, weshalb das mächtige Deutſche Reich nicht die britiſche Monopol- 
ſtellung mit bewaffneter Fauſt über den Haufen wirft und ſich ſelbſt an die Stelle 
ſetzt. Man mag reden, was man will, man wird ſie nicht überzeugen können, daß 
Deutſchland dies im Grunde nicht anſtrebe. Qd will nicht unhöflich gegen die 
Briten ſein, welche ich gern habe und aufrichtig bewundere. Aber ihr Empfinden 
gegen Oeutſchland erinnert ein wenig an das Mißtrauen einer Räuberbande gegen- 
über einer ſtarken Jagdgeſellſchaft. Sie kann das abſolut nicht verſtehen, weshalb 
dieſe mit ihren vielen Flinten nicht einfach die umliegenden Dörfer nach Belieben 
plündert. Das Schickſal des Römerreiches iſt hier ſehr genau bekannt, und die 
Frage wird faſt täglich in den Zeitungen erwogen, ob das britiſche Reich nicht den 
ſelben Weg gehen werde. Damals überrannten die germaniſchen Stämme die 
römiſchen Grengwdlle. Sollten die Germanen berufen fein, auch das ſtolze Briten- 
reich einmal zu zertrümmern? Solche Sorgen haben Großbritannien aus ſeiner 
ſtolzen Sfoliertheit in die Tripelentente gedrängt und werden es vorausſichtlich 
dort auch feſthalten. 

Derartige Bedenken könnten die beiden Reiche nicht dauernd auseinander- 
halten, wenn ſie in der Tat nur Hirngeſpinſte wären. Aber es liegt ihnen ein gut 
Stück Realität zugrunde. Die deutſche Expanſion und unſere Weltpolitik iſt in 
Wirklichkeit durch geſunde volkswirtſchaftliche Notwendigkeiten beſtimmt. Zwar 
iſt die deutſche Kolonialpolitik abgebrochen worden, wo ſie gerade ernſtlich hätte 
einſetzen follen, Dies aber geſchah, weil wir feit Bismarcks Abtreten keinen eigent- 
lichen Staatsmann mehr an der Spitze der deutſchen Angelegenheiten gehabt 
haben. Aus der britiſchen Politik könnten wir lernen, wie ein Volk ſeine 
wirtſchaftlichen Bedürfniſſe für Jahrhunderte voraus 
berechnet, anſtatt von der Hand in den Mund, von heute 
auf morgen zu leben. Aber auch für Oeutſchland werden einmal andere 
Zeiten wieder kommen, und dann wird unſere kolonialpolitiſche Ausdehnung erſt 
eigentlich beginnen. Dieſe Wendung in unſeren Geſchicken ſieht 
man, weiterblidend als in Deutſchland, in England voraus. 


Zürmers Tagebuch 739 


Bei uns glaubt man, daß fid) ein Zuſtand von Gleichberechtigung mit den 
Briten erzielen laſſe, und daß die beiden Völker ſich dauernd in die wirtſchaftliche 
Ausbeutung der Erde teilen könnten. Aber gerade dieſe Gleichberechtigung zwiſchen 
beiden Mächten will und kann man in Großbritannien nicht anerkennen. Nur ein 
Volk kann die Herrſchaft über die Erde haben. Wie ich ſchon ſagte, beſitzen die 
Briten das ſchönſte Viertel der Oberfläche dieſes Planeten, und der Union Jad 
weht über etwa einem Drittel ber Menſchheit. Sie haben nicht die Abſicht, diefe 
Herrſchaft mit den Deutfchen zu teilen, ſondern fie find feft entſchloſſen, fie zu einem 
organiſchen Weltreich auszubauen. Bei uns glaubt man immer noch, das britiſche 
Reich werde eines Tages zuſammenfallen wie ein Kartenhaus. Das hoffte ſchon 
Friedrich der Große. Gerade die Entwicklung dieſes Jahres könnte jeden, der 
ſehen will, überzeugen, daß die Geſchichte des Britenreiches fid) in der entgegen- 
geſetzten Richtung bewegt. Die Art, wie die großen abhängigen Gebiete über See 
fich freiwillig entſchließen, zu der Reichsflotte beizuſteuern, ift ein deutlicher Be- 
weis, von welchen Geſinnungen fie erfüllt find. Der Reichsgedanke ift ſtärker in 
den Kolonien als im europäiſchen Britannien. An ber britiſchen Vorherrſchaft 
auf der See, an dem allgemeinen Preſtige der Raſſe gegenüber anderen Völkern 
bat der Engländer in Kanada, Südafrika, Auſtralien und Neu-Seeland ſchließlich 
noch mehr Intereſſe, als der Bewohner von London, Wancheſter und Edinburg. 
Kanada würde ſeine Unabhängigkeit gegenüber den Vereinigten Staaten, Auftra- 
lien und Neu-Seeland ihre Exiſtenz als weiße Länder kaum bewahren können, 
wenn ſie aufhörten, Glieder eines einheitlichen, mächtigen Reiches zu ſein. In 
dieſer Tatſache liegt die Triebkraft für engeren Zuſammenſchluß, welche ſie alle 
beherrſcht und welche die weitere Entwicklung beſtimmen wird. 

Wo bleibt ba aber das Deutſche Reich mit feinen wirtſchaftlichen Notwendig- 
keiten und feinen Zukunftsſorgen? Ich babe hier viel Gelegenheiten, mit denten- 
den Engländern über ſolche Fragen zu ſprechen. Der Wunſch, freundliche Be- 
ziehungen oder gar eine Allianz mit dem mächtigen Deutſchen Reich zu haben, 
ijt allgemeiner, als man drüben in der Regel meint. Der Vorteil für das Briten- 
tum, wenn deutſche oder gar deutſche und öſterreichiſche Armeekorps die Aus- 
geſtaltung des britiſchen Weltreiches auf dem Kontinent von Europa deckten, wird 
ſehr klar erkannt. Für Realitäten wie 5 oder 8 Millionen gut diſziplinierter und 
vorzüglich geführter Truppen haben die Angelſachſen von jeher ein deutliches 
Verſtändnis gehabt. Aber die Unterhaltung verliert jedesmal ihren Reiz für meine 
engliſchen Freunde und hört bald auf, ſobald ich die Frage ſtelle: „But where do 
we come in?‘ rüber pflegte man dann wohl zu (agen: „Lou can take Madagascar.‘ 
Heute wird wohl allgemein auf Südamerika hingewieſen. Aber bald beſinnt man 
fih, daß auch Großbritannien in Südamerika Handelsintereſſen habe, und dem- 
nach Deutſchland leider nirgendwo freie Hand laſſen 
könne. 1911, als ich einmal mit einem ausgeſprochenen engliſchen Oeutſchen- 
freunde das marokkaniſche Problem beſprach, und er klagte, daß dieſe Kriſis die 
beiden ‚verwandten‘ Völker auseinanderbringen werde, ſagte ich, das fei ja nicht 
nötig; weshalb Großbritannien Deutſchland an jener Nordweſtecke Afrikas nicht 
freie Hand laffe? ‚Das können wir doch nicht,“ meinte unfer Freund, der für Deutich- 


140 | Zürmers Tagebuch 


land ſchwärmt,, Agadir liegt zu nah’ bei Gibraltar.“ Kurz und gut: die Briten möchten 
wohl ein deutſches Bündnis, wenn ſie es nur haben könnten, ohne dafür zu 
bezahlen. 

Sch habe britiſche Empfindungen und Anſchauungen nun feit etwa 20 Zabten 
in allen Kreiſen des Volkes beobachtet und bin zu der Überzeugung gelangt, daß 
jeder Verſuch einer auf Gleichberechtigung beruhenden Verbindung an fih hoff- 
nungslos ift. Die Sache ijt bie, daß die ‚Angelſachſen“ keine Gleichberechtigung mit 
uns haben wollen, weil ſie uns nicht als gleichberechtigt anerkennen. England iſt 
das von Gott begnadete Land, der Engländer ſteht dem Herzen Gottes am nächſten. 
Er iſt dazu da, auf der Erde zu befehlen; er will auch in jedem Lande als Privat- 
mann die erſte Violine ſpielen. Man kann ſolche Geſinnung vollſtändig verſtehen, 
wenn man auf die ſtolze Geſchichte und die bewundernswürdigen Leiſtungen dieſes 
Volkes auf der ganzen Erde hinblickt. Das iſt kaum Anmaßung und wird der Nation 
wie dem einzelnen in Praxis ja auch faft überall eingeräumt. Aber derartige An- 
ſchauungen ſtehen einem loyalen Verhältnis mit einem anderen Staat im Wege. 
Daher das Gerede vom perfiden Albion“ bei fremden Nationen. 

Jedenfalls wird noch viel Waſſer die Themſe hinablaufen müſſen, bevor den 
Briten der Gedanke mundgerecht wird, daß ſie ihre Monopolſtellung auf der Erde 
mit den Deutſchen zu teilen haben, um fid) derſelben auf die Dauer ſicher zu fühlen. 
Die Londoner Staatsmänner haben im allgemeinen gute Nerven und laſſen ſich 
durch Gefahren und nod fo viele „‚ſchwebende Fragen“ die Nachtruhe nicht ver- 
derben. Zwar iſt ihnen die deutſche Flotte in der Nordſee höchſt unbequem, ſchon 
weil fie Großbritannien zwingt, feine eigenen Geſchwader um die heimiſchen Znfeln 
zu konzentrieren. Zwar fängt man an, hier und da mit einiger Beſorgnis auf die 
Entwicklung der deutſchen Luftſchiffahrt zu blicken. Aber man rechnet, daß im Ver- 
lauf dieſes Jahrhunderts das britiſche Weltreich ſo ſtark werden werde, daß man zu 
der Politik der ‚glänzenden Sfjolierung’ zurückkehren könne und keine Gruppierung 
der Mächte mehr zu fürchten habe. Deutſchland gegenüber bleibt im ſtillen die 
Hoffnung beſtehen, daß man gelegentlich doch einmal, wie gegen Napoleon I., eine 
überlegene Koalition kontinentaler Mächte gegen dasſelbe hetzen und dabei auch 
die deutſche Flotte auf den Grund der Ozeane verſenken könne.“ 

England rechnet, wie es foon in einer holländiſchen Denkſchrift aus dem 
Sabre 1779 heißt, immer „auf die Dummheit der anderen Böl- 
ker“, und die Rechnung hat denn auch mehrſtenteils geſtimmt. „Wie meiſterhaft“, 
erinnert „ein alter Mitkämpfer von 1866 und 1870/71“ im „Reichsboten“, „hat die 
engliſche Politik es gerade bei uns verſtanden, Verhältniſſe und Menſchen ſich dienit- 
bar zu machen! In dieſer Beziehung enthalten die Zuſtände unter König Fried- 
rich Wilhelm IV. ſo manche, gerade heute beherzigenswerte Warnung. Wir hatten 
auch damals eine englandfreundliche Partei, die Wochenblattpartei, die für ein 
Bündnis mit England wirkte, weil ſie wähnte, daß England aus Dank für Hilfe 
gegen Rußland eine Geſtaltung Deutſchlands fördern würde, wie fie fpäter er- 
kämpft worden iſt. Es war der anti-weſtmächtlichen Einwirkung Bismarcks 
zu danken, daß die Hauptlaſt des Krimkrieges nicht auf deutſche Schultern 
abgeladen wurde (Ged. u. Grinnergn. I, 113, 150). . . . Aber wie hatte gerade Bis- 


Zürmers Tagebuch 741 


matd, der (wie vor ihm nur Colbert und Napoleon I.) die Grundſätze ber engliſchen 
Politik durchſchaute und deshalb von ihren Leitern tödlich gehakt wurde, mit 
England und ſeinen Schleppträgern zu ringen! Seinem Genie jedoch war ſelbſt 
die engliſche Politik nicht gewachſen. Sie zog ſtets den kürzeren. Daß fie ,b e- 
ſonders boshaft jederzeit gegen die nationale Ent 
wickelung in Deutſchland aufgetreten“ iſt, wie er äußerte, konnte ja 
niemand beffer wiſſen als er. Als Bismarck zur unauslöſchlichen Trauer aller national 
geſinnten Deutfchen aus dem Amte ſcheiden mußte, war England wie von einem 
Alpdruck befreit. Die Bahn war wieder frei für engliſche Praktiken. 

Es leidet keinen Zweifel, daß es in England eine Kriegspartei gibt, bie fyfte- 
matiſch auf den Kampf gegen Oeutſchland hinarbeitet, und daß ihr die maßgebend 
ſten Männer angehören. Wir brauchen nicht erſt darauf hinzuweiſen, daß in Roſyth 
und Dundee neue, nur gegen uns verwendbare Kriegs häfen 
erbaut, daß aus jedem Winkel der Welt die Flotten zurückgerufen und in der Nord- 
ſee gegen uns konzentriert worden ſind unter bekannten Drohungen von höchſten 
amtlichen Stellen, daß Englands Stellung durch Verträge und Ententen, die gegen 
uns gerichtet ſind, ungemein verſtärkt worden iſt. Dieſen Tatſachen gegenüber, 
und beſonders ſolange die Flottenkonzentrierung in der Nordſee fortbeſteht, traut 
engliſcher Annäherung kein verſtändiger deutſcher Mann! Unverbeſſerlichen Opti- 
miſten und Verſtändigungsphantaſten ſei aber dringend geraten, an der Hand der 
Geſchichte die engliſche Politik zu ſtudieren. Vielleicht lernen ſie daraus erkennen, 
daß England ſo, wie es gegen Holland, Portugal, Spanien, Frankreich, Dänemark 
gehandelt hat, auch gegen den deutſchen Konkurrenten handeln wird, ſobald die 
Weltlage und ein Nachlaſſen unſerer kriegeriſchen Kraft es erlaubt.“ 

Nun ſollte man ja freilich mit der „Voſſiſchen Zeitung“ meinen, das engliſche 
Volk und die engliſche Regierung müßte vom Teufel beſeſſen ſein, wenn ſie 
ſolchen Gedanken nachgingen. Denn ein europäiſcher Krieg wäre in der Tat eine 
Kataſtrophe, wie ſie die Weltgeſchichte noch nicht verzeichnet hat. „Nicht bloß 
Millionenheere, zehnfach fo (tart wie in früheren Kriegen, würden einander gegen- 
überſtehen, nicht bloß Menſchenopfer ungezählt würden fallen, nicht bloß ein Ader- 
laß würde es fein bis zur Blutleere, namenloſes Unglüd für Hunderttauſende von 
Familien, ſondern ein Spiel um Sein und Nichtſein für große 
Reiche und eine wirtſchaftliche Verheerung, die erſchöpfend auszumalen ſelbſt die 
ausſchweifendſte Phantaſie nicht imſtande iſt. In der furchtbaren Größe der Ge- 
fahr aber liegt für den unbefangenen Beobachter eine gewiſſe Beruhigung. Wer 
könnte fo leichtfertig, fo ruchlos fein, das Signal zu einem Kriege zu geben, der bei- 
ſpielloſes Verderben für Sieger wie Beſiegte bedeutet? Man bat britiſchen Staats- 
männern den Plan nachgeſagt, den Kampf aller gegen alle anzuzetteln, um der 
deutſchen Nebenbuhlerſchaft nicht nur zur See, ſondern auch auf dem Weltmarkt 
los und ledig zu werden. Wie verblendet und gottverlaſſen müßten Volk und Re- 
gierung des Inſelreiches fein, wenn fie einem ſolchen Gedanken nachgingen! 
Ein Krieg, bei dem England gegen das Deutſche Reich und ſeine Verbündeten 
(„Verbündete“? Siehe oben! D. T.) ſtünde, würde England zu Leiſtungen nöti- 
gen, die der im günſtigſten Fall zu erwartende Erfolg nicht wert wäre. Und 


742 Zürmers Tagebuch 


was hätte England zu hoffen, ſelbſt wenn Deutſchland niedergeworfen würde? 
Es hätte ſeinen beſten Kunden vernichtet und damit einen großen Teil des briti- 
ſchen Handels, der britiſchen Induſtrie. Es hätte Rußland ein Uber- 
gewicht gegeben, das fid) an England bitter rächen würde. Denn nicht Oeutſch- 
land, ſondern Rußland, die Tatſachen lehren es, iſt Englands Erbfeind und geht 
ſtetig und planmäßig darauf aus, das britiſche Weltreich an feiner verwundbarſten 
Stelle zu treffen, in Indien. Und bleibt England in dem Kriege mit Deutfch- 
land ſiegreich, fo wird es doch unter allen Umſtänden fo geſchwächt fein, daß es 
weder Amerika noch Japan gegenüber feine überlegene Stellung behaupten kann. 
Auf kein Reich mehr als auf das britiſche träfe das Wort zu: Auch ein ſiegreicher 
Krieg wäre ein nationales Unglück. Wie erſt, wenn der Krieg einen für England 
und ſeine Bundesgenoſſen ungünſtigen Ausgang nähme!“ 

Richtig iſt, daß England keine auswärtige Politik treiben darf, die ſeine 
Herrſchaft in Indien gefährden könnte. Dies ijt in der Tat die Achillesferſe Eng- 
lands, die Stelle, wo es ſterblich ift. Für bie deutſche Politik England gegenüber 
wird es aljo vor allem darauf ankommen, keine weltpolitiſche Kom- 
bination zuzulaſſen, die England dieſer Sorge, dieſer 
Gebundenheit überhebt. Und da ift Rußlands natürlicher Intereſſen- 
gegenſatz gegen England der Trumpf, den wir uns unter allen Umſtänden ſichern 
mülfen, den wir nie aus der Hand geben dürfen. Ein folder Trumpf in der Hand 
kann Wunder wirken, kann das ſo heiß erſehnte freundliche Lächeln auf finſter 
dräuende Mienen zaubern, kann ſelbſt das gemütvolle Gelüft bändigen, unſere 
Flotte ins Meer zu verſenken, wo es am tiefften ift... 

Unfern allzu harmloſen Diplomaten und „Verſtändigungsphantaſten“ 
aber möchte man ein Büchlein nach dem bekannten Muſter des ſeligen Knigge 
in die Taſche wünſchen —: „Über den Umgang mit Engländern.“ 

* * 


Die größten und dümmſten Michels find aber unſere Sozis, ſoweit fie wäh- 
nen, durch ihre „Friedensdemonſtrationen“ und „brüderlichen“ Appelle an die 
„Solidarität des internationalen Proletariats“ mehr zu erreichen, als lediglich 
eine Lahmlegung des eigenen Vaterlandes, die im Ernſtfalle nur die Invaſion 
fremder Armeen und eine neue Fremdherrſchaft nach Art der Napoleoniſchen 
nach ſich ziehen würde. Wie es dann um das Los der „arbeitenden Klaſſen“ aus- 
ſehen würde, — das ſich auszumalen, wird ſelbſt die Phantaſie vereideter fogial- 
demokratiſcher Parteidichter noch ausreichen. Oder bilden ſich die ſonderbaren 
Schwärmer wirklich ein, die uniformierten franzöſiſchen, engliſchen uſw. „Ge- 
noſſen“ würden mit ihnen um ihrer „Klaſſe“ und ihres „marxiſtiſchen Programms“ 
willen eine Ausnahme machen? 

„Anfer Vaterland“, ſchreibt die „Kreuzztg.“, „darf gegenwärtig den zweifel 
haften Ruhm für ſich in Anſpruch nehmen, nicht nur die zahlreichſte und radikalſte, 
ſondern auch die unpatriotiſchſte Sozialdemokratie zu beſitzen. Dem Einfluß der 
ſozialiſtiſchen Frrlehren, die ja für die Maffe der ungebildeten und Halbgebildeten 
fraglos etwas Beſtrickendes haben, hat ſich kein Kulturvolk entziehen können. 
Aber in England, in Frankreich, in Italien macht doch die Mehrheit der Sozialiſten 


Zürmers Tagebuch 743 


eine Einſchränkung nach der nationalen Seite hin. Die nationalen Sympathien 
und Antipathien, die patriotiſchen Wünſche und Hoffnungen werden hier als 
etwas Selbſtverſtändliches von der Sozialdemokratie geteilt. Kein verſtändiger 
franzöſiſcher Sozialiſt iſt im Zweifel über die Berechtigung des unverjährbaren 
Anſpruches auf Elſaß-Lothringen; der Führer Jaurès unterſcheidet fih in feiner 
nationalen Geſinnung von den Nationaliſten kaum oder gar nicht, er liebt nur 
andre Allüren bei der Betonung feiner Anſchauungen. Während des Tripolis 
krieges iſt in Italien eine ſozialiſtiſche Oppoſition überhaupt nicht zum Wort ge- 
kommen, und auch die numeriſch ungleich ſchwächere Sozialdemokratie Englands 
geht über einige platoniſche Anmerkungen zu den von Zeit zu Zeit üblichen Sym- 
pathiekundgebungen für Deutſchland nicht hinaus. Der Patriotismus ijt in dieſen 
und auch ſonſt in anderen Ländern etwas fo Selbſtverſtändliches, ift vom partei- 
politiſchen Streit ſo entrückt, daß ein Sozialismus, der ſich dem Antipatriotismus 
vermählen wollte, auf nennenswerten Zulauf nicht rechnen könnte. Auch in Frank- 
reich iſt es vom Antimilitarismus und Antinationalismus recht ſtill geworden. 
Ja, es ſcheint, daß der Marokkokonflikt des Sommers und Herbſtes 1911 jene dem 
franzöſiſchen Charakter ohnehin nicht entſprechenden Strömungen völlig weg- 
geweht hat. Nur in Deutſchland gedeiht eine Sozialdemokratie, die aus 
ihrer antinationalen Geſinnung kein Hehl macht, fie im Gegenteil in ſolchen Momen- 
ten beſonders offen ausſpricht, in denen das Reich den Patriotismus ſeiner Bürger 
bitter nötig hat. 

Eine Außerung wie die Scheidemanns in Paris hätte in jedem 
andern Lande einen Sturm der Entrüſtung entfeffelt ... Mag immer nach dem 
geltenden Recht das Delikt des Hochverrats nicht gegeben fein, der Sinn der Scheide- 
mannſchen Worte, bie et in einem Lande ſprach, deffen heißeſte 
Hoffnung Deutſchlands Schwäche ift iſt hochverräteriſch: ‚Die 
deutſchen Arbeiter und Sozialiſten achten und lieben euch franzöſiſche Proletarier 
und Sozialiſten wie Brüder. Sie wollen nicht auf euch ſchießen. Sie wollen euch 
im Gegenteil als Freunde und Kampfgenoſſen begrüßen. Unſer Feind befindet 
fich auf der anderen Seite. 

In einer Zeit nicht unbedenklicher internationaler Spannung, in der die 
Kabinette das Außerſte verſuchen, den Frieden unter den Mächten zu wahren, 
gibt ein deutſcher Reichstagsabgeordneter in der Haupt- 
ſtadt Frankreichs die Verſicherung ab, daß Deutfdland im Falle eines 
Krieges gegen Frankreich auf den guten Willen feiner ſozial- 
demokratiſchen Arbeiter nicht zu rechnen hat. Das iſt nichts 
anderes als eine ausdrückliche Rechtfertigung bekannter ausländiſcher Hoffnungen. 
Wenn die Worte des Redners die Wirkungen nicht haben, die ſie haben könnten, 
ſo liegt das nicht am Abgeordneten Scheidemann. Dann liegt es daran, daß man 
in Frankreich das nationale Pflichtgefühl und die vaterländiſche Geſinnung der 
deutſchen Arbeiter höher einſchätzt, als den Patriotismus des ſozialdemokratiſchen 
Führers. Dieſe Einſchätzung iſt richtig. Wie lange ſie es aber noch bleiben kann, 
das wird ſehr weſentlich davon abhängen, ob man die Kraft zu dem Entſchluß 
findet, die Außerungen Scheidemanns vor der Nation gebührend zu brandmarken. 


144 Zürmers Tagebuch 


. Hier liegt ein beſtimmter Fall ber Aufreizung zum Hochverrat vor. Wenn er 

durch das Strafgeſetz nicht fakbar ift, fo beweiſt bas nichts für die Handlungs- 
weiſe des ſozialdemokratiſchen Abgeordneten, ſondern es beweiſt ſehr viel gegen 
die Brauchbarkeit der betreffenden Paragraphen des Strafgeſetzbuches. Das 
geltende Recht muß unbedingt Mittel an die Hand geben, ſolche mittelbaren Schädi- 
gungen des Reichsintereffes, ſolche Herabſetzungen der nationalen Geſinnung eines 
großen Teiles des Volkes zu ahnden 

„Was hat die Sozialdemokratie im Kriegsfalle vor?“ fragt das Blatt an 
anderer Stelle. Darauf ſei die Partei bei der Beſprechung der auswärtigen Politik 
im Reichstage trotz wiederholter Herausforderung die Antwort ſchuldig geblieben. 
„Durch die ſogenannten Friedensdemonſtrationen werden bie Arbeitermaſſen auf- 
gewühlt, wird ihnen der feſte Vorſatz der internationalen Sozialdemokratie ein- 
geprägt, um jeden Preis und mit allen Mitteln den Ausbruch des Krieges zu ver- 
hindern. Aber was für Mittel in Anwendung gebracht werden ſollen, iſt das Ge- 
heimnis der wenigen Mitglieder des internationalen ſozialiſtiſchen Bureaus. In 
den „Grundſätzen“, die die rote Internationale für den „Kampf gegen den Krieg“ 
aufgeſtellt hat, heißt es, falls der Ausbruch eines Krieges drohe, feien die arbeiten- 
den Klaſſen und deren parlamentariſche Vertretungen aller Länder verpflichtet, 
‚alles aufzubieten, um durch die Anwendung der ihnen am wirkſamſten erfdeinen- 
den Mittel den Ausbruch des Krieges zu verhindern“. Daß als ſolche Mittel pro- 
teſtierende Maſſenverſammlungen und Reſolutionen zu erachten feien, ift keines- 
falls anzunehmen. Alſo was hat die Sozialdemokratie vor? Was für wirkſame 
Mittel gedenkt die rote Internationale durch die Arbeitermaſſen in Anwendung 
bringen zu laſſen? 

Falls der Krieg dennoch ausbrechen follte, ijt es — fo lauten bie „Grundſätze“ 
der roten Internationale weiter — „Pflicht, für feine raſche Beendigung einzu- 
treten und mit allen Kräften dahin zu ſtreben, die durch den Krieg herbeigeführte 
wirtſchaftliche und politiſche Kriſe durch Aufrüttelung des Volkes auszunutzen und 
dadurch die Beſeitigung der kapitaliſtiſchen Klaſſenherrſchaft zu beſchleunigen“. 
Dieſer Satz klingt ſchon deutlicher. Er wird zudem in dem letzten Manifeſt des 
Internationalen ſozialiſtiſchen Bureaus noch durch die Drohung an die Regie- 
rungen kommentiert, ſie möchten nicht vergeſſen, daß ſie bei der jetzigen 
Stimmung der Arbeiterklaſſe nicht ohne Gefahr für ſich ſelbſt einen 
Krieg entfeſſeln könnten, und möchten fid) daran erinnern, daß der Deutſch-Fran- 
zöſiſche Krieg den revolutionären Ausbruch der Kommune im Gefolge ge— 
habt und daß der Ruſſiſch-ZJapaniſche Krieg die revolutionäre Kraft der 
Völker des ruſſiſchen Reiches in Bewegung geſetzt babe ... Da die Sozialdemo- 
kratie jede Antwort, auch eine verneinende, über ihr Vorhaben verweigert, wird 
man darin die Beſtätigung der internationalen Revolutionsdrohung erblicken 
miiffen. 

Bisher vertrat die internationale, insbeſondere auch bie deutſche, Sozial- 
demokratie den Standpunkt, daß die revolutionäre Aktion in Rußland beginnen 
müſſe und dann unaufhaltſam nach Weſten fid) fortpflangen werde. Wie die „Leip- 
ziger Volkszeitung“ darlegt, bat nun die Internationale eine andere Stellung ein- 


Zürmers Tagebuch 745 


genommen. Waren die Sozialrevolutionäre früher fogar bereit, in einem Kriege 
gegen Rußland Mann für Mann (Bebel und Noske mit der Flinte auf dem Buckel) 
mitzufechten, weil der Krieg die Vorbedingungen für die Revolution ſichern ſollte, 
fo iſt der Gedanke an eine Kriegsbereitſchaft auch gegen das Zarenreich jetzt auf- 
gegeben worden. Rußland habe ſich, ſo begründet dieſen Wandel das Leipziger 
Sozialiſtenblatt, militäriſch wieder ziemlich erholt und ſei nicht mehr der Hort der 
Reaktion und gefährlichſte Feind der Sozialdemokratie. Wolle man unter den Re- 
gierungen, die dem Proletariat feindlich gegenüberſtehen, den gefährlichſten 
Feind ausſuchen, ſo könne das nur derjenige ſein, der am mächtigſten ſei, 
alfo bie Deutf dhe Regierung. Mithin hat Deutſchland, hat in erſter Linie die 
preußiſche Monarchie jetzt den Vorzug, von den revolutionären Unternehmungen 
der roten Internationale zunächſt bedroht zu ſein. Und das iſt für den Kriegsfall 
ganz beſonders zu beachten. Schreibt doch die „Leipziger Volkszeitung“: 

„Sollten jetzt deutſche Arbeiter fih bereit erklären, bei einem ruſſiſchen 
Angriff (I) au fechten, fo gilt genau dasſelbe gegen Frankreich und England. 
Für alle ſolche im voraus gegebenen Erklärungen gilt, daß ſie geeignet ſind, die 
Kriegspartei im eigenen Lande zu ſtärken. Die Liberalen glauben oder behaupten, 
dem Frieden damit zu dienen, daß ſie gegen die fremden Regierungen Attacken 
reiten, angeblich um ſie einzuſchüchtern. Die ſozialiſtiſche Taktik beſteht umgekehrt 
darin, auf die eigene Regierung im Sinne des Friedens einzuwirken. Würde 
die deutſche Sozialdemokratie fid) z. B. gegen franzöſiſche Angriffs gelüſte (1) 
wenden, fo würde fie unſern dortigen Genoſſen die Aktion erſchweren und die inter- 
nationale Solidarität in hohem Maße gefährden.“ 

Die Direktive der roten Internationale geht alfo dahin, daß die Arbeiter- 
maſſen ſich nicht bereit erklären ſollen, zu fechten, ſelbſt wenn feindliche Angriffe 
unfer Land bedrohen. Es foll ben ausländiſchen ‚Genoſſen“ überlaſſen bleiben, auf 
ihre eigenen Regierungen einzuwirken. Und die Aktion dieſer ausländiſchen Sozial- 
revolutionäre foll durch die deutſchen Nevolutionsbrüder nicht geſtört werden! Das 
iſt, was Scheidemann mit ſeinem Ausſpruche, die deutſchen Arbeiter würden oder 
wollten gegen die franzöſiſchen Brüder nicht kämpfen, hat ausdrücken wollen. Eine 
gleiche Verſicherung der franzöſiſchen Sozialiſtenführer iſt natürlich ausgeblieben 
und wird auch niemals abgegeben werden. Nur die deutſche Sozial- 
demokratie empfindet international (oder vielmehr antinational) genug, 
das eigene Land gegen feindliche Angriffsgelüfte wehr- 
los machen zu wollen. Man wird alſo auf die internationale Betätigung 
der deutſchen Sozialiſtenführer (der großen wie der kleinen) ein ſcharfes Auge 
haben müſſen und im Kriegsfalle ihnen gegenüber vor der ſofortigen Anwendung 
der ſchärfſten Maßregeln nicht zurüdichreden dürfen. 

Wie vor gar nicht langer Zeit noch Bebel dem Deutſchen Reiche ein Sedan 
wünfchte, fo hat früher der ‚alte‘ Liebknecht in feinem nachgelaſſenen, vom „Vor- 
wärts! im Sabre 1901 veröffentlichten Manuſkript über die Verwirklichung des 
Sozialismus dieſem Gedanken gleichfalls Ausdruck gegeben. Liebknecht rechnete 
(es war im Jahre 1881, als er es niederſchrieb) mit großer Wahrſcheinlichkeit, daß 
Bismarck ein ähnliches Ende nehmen werde wie Louis Napoleon. Irgendeine 


746 Zürmers Tagebuch 


dadurch herbeigeführte Kataſtrophe könne bie Staatsmaſchine plötzlich zerbrechen: 
„In dieſem Falle ift es ficher, daß das Vorgehen ber ſozialiſtiſchen Partei beſonders 
energiſch fein wird. Überaus bezeichnend ijt es nur, daß Z aur ss, der franzöſiſche 
„Friedensapoſtel“, in einer von ihm verfaßten, vom, Genoſſen“ Südekum überſetzten 
Broſchüre aus dem Fabre 1902 an die Liebknechtſchen Auslaſſungen folgende Be- 
merkung knüpft: 

‚Auf den Ruinen des (deutſchen) Kaiſertums und der alten Par- 
teien des Reiches wird ſie (die Sozialdemokratie) ſich mit ihrer ganzen ſtürmiſchen 
Kraft erheben, und ohne Zweifel wird ſie dieſe große Erſchütterung 
für das Volk und das Proletariat aus nützen und mit einem Schlage mehr 
tun, als fie zu Anfang tun konnte, wenn fie durch langſame Entwicklung der Staats- 
einrichtungen zu politiſchen Reformen und zur Teilnahme an der Regierungs- 
gewalt gelangen würde.‘ 

Das iſt der ſelbe Gedankengang, den die rote Internationale mit ihren 
Friedensbeteuerungen und den gleichzeitigen Revolutionsdrohungen verfolgt.. 
Wir Deutſchen haben alle Urſache, die Treibereien und Spekulationen der roten 
Internationale ernſter zu nehmen.“ 

Leider laſſen ſich ſolche Betrachtungen nicht mehr von der Hand weiſen. 
Daß dies z u g e fta n d en werden muß, — dahin, fo weit haben es die un- 
verantwortlichen Propheten eines Staats- und Weltbildes gebracht, das doch — wie 
immer man im Prinzip fid) zu ihm ſtellen möge — für unfer lebendes und atmen- 
des, mit Gut und Blut haftendes Geſchlecht nicht mehr iſt, als eben ein Bild, ein 
Traum, in ferne Jahrhunderte hinaus geträumt! Wo mit der Ehre und Sicher- 
heit von Volk und Vaterland ein leichtfertiges Spiel getrieben wird, wo dieſe 
Güter von dem feſten Grunde realer Mächte losgelöſt und den irrlichternden 
Sümpfen ungeborener Gebilde ausgeliefert werden ſollen, da hört für uns anderen 
alle, die wir uns an die — immer noch! — gottgegebenen Pflichten und Ziele 
gebunden fühlen, der Spaß auf und gründlich auf, da kann ſolch Spiel für die 
Spieler noch eine verzweifelt ernſte Wendung nehmen. Schlimmer können jene 
Führer der „arbeitenden Klaſſen“ deren Sache nicht ſchädigen und ſchänden, 
als durch fold heilloſe Rompromittierung mit der Preisgabe des eigenen Volkes 
und Vaterlandes an die „Angriffsgelüſte“ des Auslandes !! 

Gott ſei Dank wäre es heute noch blanke und ſträfliche Verleumdung, wollte 
man ſolche Geſinnung der überwiegenden Mehrheit unſerer deutſchen Arbeiter- 
ſchaft auch nur von ferne zuſchieben, und es iſt deshalb auch nur irreführend, wenn 
die „Kreuzzeitung“ in dieſem Zuſammenhange immer von der „Sozialdemokra- 
tie“ als einem Ganzen ſpricht, worunter doch die Geſamtheit der ſozialdemokratiſch 
organiſierten Arbeiter verſtanden werden müßte. Warum denn immer im Trüben 
fiſchen? 

Wie man die „Sozialdemokratie“ Jahrzehnte hindurch „regiert“ hat, war 
freilich auch nicht dazu angetan, nationale und patriotiſche Geſinnung bei ihren 
Angehörigen zu züchten. Und Schauer der Ehrfurcht konnte die dabei geoffen- 
barte politiſche und pſychologiſche Weisheit eben auch nicht erwecken. Worte, 
wie die von den „vaterlandsloſen Geſellen“, den „Elenden“ uſw., die dann in un- 


Zürmers Tagebuch 747 


zähligen Varianten allgemeiner Sprachgebrauch wurden, wären beſſer nicht ge- 
fallen. Wenn einem immer wieder verſichert wird, daß er der Ehre bar iſt, die unſere 
Ehre ijt, fo verzichtet er vielleicht auf diefe exkluſive Ehre, fo läßt er fidh viel- 
leicht auf die Dauer wirklich die ſozial-ethiſchen Hemmungen wegſuggerieren, die 
noch immer den ſtärkſten Widerſtand gegen Entgleiſungen geleiſtet haben. Und 
die Verbitterung, der Trotz des zu Unrecht Gekränkten tut dann das übrige 

Vor allem: man hätte ſich die Leute doch zuerſt etwas näher und auch etwas 
mehr im einzelnen anſehen ſollen, bevor man ſie alle leichtherzig in den einen 
großen Topf warf und im hölliſchen Feuer ſchmoren ließ. Mancher wäre den 
roten Irrlichtern nicht nachgelaufen ... 

* * 
A 

. . . Sener „alte Mitkämpfer von 1866 und 1870/71“ leitet feine Betrachtungen 
mit einem Stoßſeufzer ein: „Damals, ja, da war es eine Luſt, zu leben. Heute 
könnte man glauben, in die Zeit vor 1806 zurückverſetzt zu ſein, in der über dem 
Voranſtellen des perſönlichen Wohlergehens das Staatsintereſſe in den Hinter- 
grund trat und die Erhaltung von Ruhe und Frieden als höchſte Pflicht angeſehen 
wurde. Unſere Zeit iſt nicht weniger leichtlebig und frivol, als es jene war. Mit dem 
Wachſen des Wohlſtandes iſt heute wie damals der Hang zum Lebensgenuß und 
Luxus ins Ungemeſſene geſtiegen, beherrſcht auch die Selbſtſucht alles, und wie 
in jener Aufklärungsperiode ſteht wieder ein ſeichter Rationalismus im Flor, iſt 
man ſehr ſtolz auf die unter der Sonne der Aufklärung treibenden Blüten. An- 
geſichts der allgemein verbreiteten Weltbürgerlichkeit und Gefühlsſchwärmerei, 
Genußſucht und Gier nach Bereicherung, angeſichts der daraus entſpringenden 
unkriegeriſchen Geſinnung, einer faſt weibiſchen Kriegsfurcht, liegt die Sorge nahe, 
daß unfer Volk wieder, wie 1806, auf der ſchiefen Ebene ift... Mit Vergnügen 
vermißt das Ausland bei Jungdeutſchland den klaren Blick und das entſchloſſene 
zielbewußte Handeln, womit der alte Kurs ſo große Erfolge errungen hatte.“ 

Nun ſtehen wir in der Zahrhundertfeier der Befreiungskriege. „Noch bat 
kein Volk“, lieſt man da in der Chemnitzer „Allgemeinen Zeitung“, „ein größeres 
Zubiläum feiern können, denn nicht bloß die Siege find es, die wir feiern ſollen, 
größer als diefe Siege ijt der Geiſt, ber fie erſtritten hat: der deutſche Zde a- 
lis mus. Mit gewaltigen Lettern ſollte über all dieſen Zeiten, die wir nun 
feiern werden, die Devife des Jahres 1813 ſtehen: Gold gab ich für Eiſen. 
Und wenn wir preiſend mit viel ſchönen Reden jener Helden und jenes Helden- 
geiſtes gedenken, dann wollen wir zuvörderſt ein ganz klein wenig Einkehr halten 
bei uns felber und fragen: Lebt auch in uns jener Idealismus, der Gold für Cifen 
gab? Es will manchmal ſcheinen, als ob unſere Zeit im ſeichteſten Materialismus 
verkomme, als ob unfer Volk zu wahren Opfern nicht mehr fähig fei. Und die 
Kehrſeite dieſes Materialismus? Ein kraſſer Aberglaube, der gerade mit dem 
gahre 1913 einen tollen Unfug treibt. Unter kulturſtolzes Geſchlecht ſcheint gar 
nicht zu merken, wie lächerlich es fid macht mit feinem F Gut-, Blut- und Flutjahr‘ 
und all den Altweiberprophezeiungen, die man wieder ausgräbt und mit einer 
Hartnäckigkeit glaubt, die einer beſſeren Sache wert ijt. Das find bedauerliche Er- 
ſcheinungen, die wenig zu der Kultur paſſen, deren wir uns rühmen. Trotzdem 


748 Gürmets Tagebuch 


glauben wir nicht an den Verfall unſeres Volkes, wir glauben vielmehr, daß eine 
ernſte Zeit auch ernſte Männer finden wird, denn man muß, um mit Friedrich Liſt 
zu ſprechen, den Mut haben, an eine große nationale Bur 
kunft zu glauben, und in dieſem Glauben vorwärts zu ſchreiten. Denken 
wir nur an unſre wackren Krieger in Sũdweſt und in China, an die Helden mannſchaft 
des „Iltis“, denken wir an den Tag von Echterdingen, und wir wiſſen, daß Helden- 
tum und Zdealismus im deutſchen Volk noch nicht erſtorben ſind. Daß aber ge 
wiſſe Kräfte am Werke ſind, den Geiſt unſeres Volkes zu vergiften, Zwietracht 
unter Volksgenoſſen zu ſäen, das wiſſen wir auch. Das Jahr 1815 mahnt uns, 
wachſam zu ſein. Nur dann werden wir ſiegen und bleiben, was wir ſind, wenn in 
uns der Idealismus jener Zeit lebt, der Gold für Eiſen gab.“ 

Schaffen wir uns mehr Eiſen ins Blut, dann wird es auch uns leichter fallen, 
Gold für Eiſen zu geben. Denn kommen wird der Tag, an dem wir auch wieder 
den Gott brauchen werden, „der Eiſen wachſen ließ“! 


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Magister Elegantiae 


Qu Chriſtoph Martin Wielands hundertſtem Todestage 
(f 20. Januar 1813) 


Von Dr. Karl Storck 


In dem Sechsgeſtirn unſerer Klaſſiker wirkt der Stern Wielands mit 
jenem eigentümlich zwinkernden Lichte, das wir auch an manchen 
Himmelsſternen beobachten, die plötzlich verſchwimmen, um dann im 
O nächſten Augenblick ſcheinbar in feſtem Leuchten zu beharren. Doch 
gleich beginnt das Zwinkern wieder, und es erneut ſich das alte Spiel. Das ruhig 
ſtetige Fixſternlicht, von dem man das Gefühl hat, daß es als wärmende Sonne 
für alle Zeiten leuchten wird, eignet ja nur dem einen Paare: Schiller und Goethe. 
Herder gemahnt eher an die phantaſtiſche Welt eines ſchweifenden Kometen. 
Leſſings ruhiges, klares Licht ſcheint auf der Erde zu ſtehen; es iſt die Flamme, 
die in jedes Wahrheitsſuchers Stube leuchtet, die allenthalben Finſterniſſe zu er- 
hellen ſucht. Unirdiſch dagegen, ſeraphiſch leuchtet Klopſtocks Stern, legenden- 
haft, wie der Stern Bethlehems, ſo daß wir Heutigen von ihm nur als Geſchichte 
wiſſen und nicht mehr fühlen können, daß er einſt der Welt als Heil aufgegangen. 
Aber ſo verſchieden dieſe Sterne leuchten — es ſind Sterne, und keiner denkt daran, 
ſie am Firmament des Himmelsgewölbes deutſchen Geiſteslebens zu löſchen. 
Ganz anders der Stern Wielands, dem bis heute nie ſo recht der Rang eines 
Fixſterns zuerkannt wurde. Die Zeit, in der Wieland voll gelobt wurde, ijt lange 
vorbei. Die ganze Nation hat er überhaupt niemals hinter ſich gehabt. In ſeiner 
erſten ſchwärmeriſchen Periode folgten ihm nur Bruchteile der Gemeinde Klop- 
ſtocks, während ſcharf zuſehende Geiſter wie Leſſing, aber auch der doch bloß kluge 
Nicolai erkannten, daß „die Muſe des Herrn Wieland nur die Betſchweſter ſpiele“. 
Als ſich dieſe Muſe dann als luſtige Lebensgenießerin entpuppte, wurde ſie von 
den Göttinger Hainbündlern wie eine Hexe verbrannt. Wohl kam dann mit der 
Höhe des Klaſſizismus in Weimar eine freudige Anerkennung ſeiner heiteren 
Schönheit. Aber dem „roſenfarbnen Lichte ſeiner ſanften, heitern Freude“, ſeiner 


150 Stord: Magister Elegantiao 


ſpielenden Sinnlichkeit war das glühende Leuchten ber immer lebendigen Leiden- 
ſchaft Goethes gefährlich, und ſeine unterhaltſame äſthetiſche Beeinfluſſung der 
Menſchheit verblaßte neben der tiefdringenden äſthetiſchen Erziehung, wie ſie 
Schiller erſtrebte. 

Als Napoleon auf dem Erfurter Kongreß Wieland neben Goethe am höchſten 
von allen Oeutſchen ehrte, erhob ſich zwar kein ſcharf begründeter Widerſpruch, 
aber das Verhältnis zu Wieland hat doch ſchon damals und von da ab dauernd 
der wirklichen Lebendigkeit ermangelt. Auch Wielands Tod vermochte da feinen 
Amſchwung hervorzurufen. Er fiel in den Januar 1813, als die Welt im Tiefſten 
erſchüttert dem ungeheuren Sterben des Napoleoniſchen Heeres in Rußland voll 
Entſetzens und doch voller Hoffnung zuſah, als die Deutſchen wieder anfingen, 
(i auf ihre Daſeinsberechtigung zu befinnen, und den Kampf um dieſes Daſein 
bis zum letzten Blutstropfen durchzufechten ſich entſchloſſen. Das war keine Zeit, 
um fid) auf die Werte eines Lebensgenießers zu befinnen, der von fid) geſagt hatte: 
„Die hohe Schwärmerei taugt meiner Seele nicht; mein Element iſt ſanfte heitre 
Freude, — und alles zeigt ſich mir in roſenfarbnem Licht.“ Dann kam die muckeriſche 
Reaktion, kam die bei allem Guten, was in ihr lag, doch auch viele Werte zerſtörende 
Deutſchtümelei der Burſchenſchaften, und danach wurde das Leben immer ge- 
peitſchter, leidenſchaftlicher, aufgeregter — was Wunder, daß Wieland ganz ber 
Literatur geſchichte verfiel! Die hat ihm nun ſeine Stellung zugewieſen, in 
der er mit vielen „Wenns“ und „Abers“ ſeinen Platz in dem Sechsgeſtirn der 
Klaſſiker innehält. 

Gegen dieſe literaturgeſchichtliche Wertung iſt an ſich nicht viel einzuwenden, 
aber vom Standpunkt des lebendigen Literaturgenuſſes erſcheint mir unfer Ver- 
hältnis zu Wieland einer Nachprüfung wert. 

In etwas erging und ergeht es Wieland gerade entgegengeſetzt, als Leſſing 
es von Klopſtock ſagte: 

„Ver wird nicht einen Klopſtock loben? 
Doch wird ihn jeder leſen? — Nein. 
Wir wollen weniger erhoben 

Und fleißiger geleſen fein.“ 


Freilich iſt dieſe Gegenſätzlichkeit zur Stellung Klopſtocks eine vielfach und nicht 
durchaus erfreulich bedingte. Denn es ſind im allgemeinen keine lauteren Gründe, 
aus denen Wieland geleſen wird. Jede Literaturgeſchichte hebt das Vorwiegen der 
erotiſchen Stoffe und ihre vielfach lüſterne Behandlung in Wielands Dichtungen 
ſo ſtark hervor, daß gerade darin für die unreife und unruhig nach Nahrung ſuchende 
Sinnlichkeit des Pubertätsalters die Lockung zur Lektüre beruht. Wielands Stellung 
als Klaſſiker erleichtert es jedem Gymnaſiaſten und wohl auch den Töchterſchüle— 
rinnen, ſeine Werke in die Hand zu bekommen, und man ſollte bei jedem vernünftig 
Uberlegenden vor dem Vorwurf der Moralfexerei ſicher fein, wenn man zugibt, 
daß für dieſes Alter die Verserzählungen Wielands eigentlich nur üble Folgen 
haben können. Gerade was ihren Vorzug ausmacht, wirkt hier als Schaden: die 
ſpielerig leichte Auffaſſung, die überlegen lächelnde Behandlung des Verhält- 
niſſes der Geſchlechter, das in dieſen Entwicklungsjahren für den gefunden Men- 


Storck: Magister Elegantiae 151 


iden etwas Schweres unb Unheimliches haben muß. Dahin, daß die glänzende 
Formgebung den Inhalt verkläre und ſeiner mehr materiellen Sinnlichkeit ent- 
kleide, gelangt gerade der junge Leſer ſicherlich nicht, und ich glaube, eine ſolche 
Wirkung entſpräche auch in keiner Weiſe den Abſichten des Dichters. 

Wenn einer, ſo iſt Wieland ein Oichter für reife, geſchlechtlich reife, aber auch 
geiſtig reife Menſchen. Und gerade von dieſen greift fo felten einer zu einem [einer 
Bücher. Man hat die Mehrzahl feiner Dichtungen auf halb verbotenen Wegen in 
jungen Jahren verſchlungen. So viel ijt einem davon geblieben, daß ihre Sinnlich 
keit für den älteren Genießenden keine Anlockung mehr bedeutet. Die Schönheit 
der Formgebung war nicht ſo einprägſam, daß man um ihretwillen wieder nach 
dieſen Verserzählungen griffe; die Urteile über die Proſaſchriften Wielands aber 
ſind eigentlich in allen Literaturgeſchichten ſo, daß ſie bei allem verklauſulierten 
Lobe vom Leſen jedenfalls abſchrecken. 

Ich habe bis jetzt nur drei Menſchen getroffen, die mir Wieland als einen 
ihrer Lieblingsſchriftſteller bezeichnet haben. Alle drei waren Männer in reiferen 
Sabren, Männer von weitſchichtiger Bildung und in praktiſchen Berufen ſtehend. 
Alle drei entſtammten der ſüdweſtdeutſchen Ecke und hatten es dahin gebracht, 
ihre Lektüre ausſchließlich als geiſtige Genießer zu betreiben. Es gibt ſo wenige 
Menſchen, die zu dieſem eigentlich doch recht natürlichen Standpunkte gelangen. 
Viele leſen ſchier wahllos, um ſich irgendwie aus der bleiernen Gleichgültigkeit 
des Alltags aufzurütteln und ſich jene Nervenſpannung zu verſchaffen, die ihnen 
ihr eigenes Leben nicht in ausreichendem Maße gibt. Andere wollen ihre Bildung 
mehren oder auch nur ihr Wiſſen, wieder andere tun es aus geſellſchaftlichen Grün- 
den. Jene aber ſind verhältnismäßig ſelten, die mit ihrem Buche ſitzen wie mit 
einem geiſtvollen Freunde, mit dem fie fid) unterhalten, indem das Buch zu ihnen 
ſpricht. Am eheſten ſtellt ſich ein ſolches Verhältnis bei Memoiren ein, und es hat 
ſeine guten Gründe, wenn unter den Memoirenleſern die gebildeten Männer einen 
ganz überraſchenden Prozentſatz ausmachen; ganz im Gegenteil zur Romanlektüre, 
die faſt ausſchließlich den Frauen anheimgefallen und darum auch meiſtens für 
ſie berechnet iſt. Der Memoirenſchreiber tritt eben ſchier körperhaft greifbar vor 
den Leſer und ſpricht mit dieſem vom Leben. 

Ich denke mir diefe Gattung Lefer als geiſtigen Bruder neben dem Runft- 
ſammler. Auch hier find es — ich will gewiß nichts gegen die Frauen als Kunſt- 
freunde ſagen — faſt immer Männer, die es als die Weiheſtunde ihres Daſeins 
empfinden, wenn ſie Bildermappen öffnen und langſam Blatt um Blatt durch 
die Hände gleiten laſſen. Es gehört zu dieſer Art des Kunſtgenuſſes, vor allem, 
wenn ſie in der höchſten Form des Genuſſes für ſich allein auftritt, ein Gefühl 
für die Beherrſchtheit des Könnens. Es wäre zu eng zu ſagen: für Formen. Es 
ift das ganze menſchliche Sein, im höchſten Sinne Lebenskunſt, die in ſolchen Stun- 
den genoſſen und im Genuſſe neu geboren wird. 

Solche Lefer kann ich mir als hohe Bewunderer der Wielandſchen Bers- 
erzählungen denken. Es iſt dann nichts im Inhalt, im Geſchehen dieſer Erzählungen, 
was irgendwie aufreigend wirkte. Das Erotiſche gar in ihnen ift für diefe Lebens! 
ſtufe völlig harmlos. Was wir bekommen, iſt das überlegen feine Plaudern eines 


159 Storck: Magister Blegantiae 


hodgebildeten, weltgewandten Menſchen, der als beſtändigſtes Gut des Lebens 
die Anmut erkannt hat. Schönheit und Größe ſind vergänglich und das Vorrecht 
weniger einzelner. Selbſt bei dieſen hält manches in der Nähe nicht ſtand. Aber 
die Anmut des Geiſtes, der Sitten, ja ſogar der Erſcheinung iſt ein Kulturgut, 
das als dauernder Beſitz gewonnen werden kann. 

Wenn Goethe von Wieland rühmte, „er dichtete als ein Lebender und lebte 
dichtend“, ſo meinte er dieſe überlegene geiſtige Kultur, die es verſtand, aus Leben 
und Kunſt eine Einheit zu geſtalten. Goethe ſelbſt, der in viel höherem Sinne als 
Dichter mit dem Leben rang, hat für ſich ſelbſt dieſe Fähigkeit nicht in Anſpruch 
genommen. Er dichtete ſich nach eigenem Geſtändnis „vom Leben frei“. Jene 
Dichtung, die im höchſten Sinne Notwendigkeit iſt, wird niemals zur Einheit mit 
dem Leben gelangen können, denn Kunſt iſt eben Kunſt, weil ſie nicht Natur iſt. 
Nur wer das immer fühlt, kann bewußt die Kunſt als „Verſchönerin des Lebens“ 
ausnutzen. Wieland verſagte ſeinen unverheirateten Töchtern das Leſen ſeiner 
Bücher; er wollte mit dieſen alfo nicht die Jugend erziehen, ſondern verkündete 
ſeine Weltweisheit denen, die vom Leben bereits wiſſen. 

Niemals dachte Wieland daran, für ſich oder andere durch fein Schaffen 
Erlöſungswerke zu vollbringen. Er behandelte nicht nur das griechiſche Altertum, 
ſondern alle Fragen des Lebens, ja dieſes ſelbſt, „nicht für moroſe und ſtoiſche 
Leute, ſondern für Leute, welche einen zuläſſigen Scherz lieben“. Deshalb brauchte 
er auch eine Gattung von Leſern, die mit der Haft des Lebens immer ſeltener ge- 
worden ſind. Gleich zu Eingang der „Abderiten“ ſchildert er ſie. „Beſchäftigte 
Lefer find ſelten gute Leſer. Bald gefällt ihnen alles, bald nichts; bald verſtehen 
fie uns halb, bald gar nicht, bald (was noch ſchlimmer iff) unrecht. Wer mit Ber- 
gnũgen und Nutzen leſen will, muß gerade ſonſt nichts anderes zu tun noch zu 
denken haben.“ Dieſe Lefer werden dann auch jene Eigenſchaft der Sprache Wie- 
lands voll zu ſchätzen wiſſen, von der ſchon der alte Bouterwek richtig hervorhob, 
„fie [deine nur die veredelte Konverſation“ zu fein. Für die Geſamtperſönlich- 
keit des Dichters trifft dann zu, was biejer von Muſarion rühmt: „Gefallend, 
wenn ſie ſchwieg, bezaubernd, wenn ſie ſprach; dann hätt' ihr Witz auch Wangen 
ohne Rofen beliebt gemacht; ein Witz, dem's nie an Reig gebrach, zu ſtechen oder 
liebzukoſen gleich aufgelegt, doch lächelnd, wenn er ſtach, und ohne Gift.“ 

Sch glaube, die Wieland fo erwünſchte Leſergattung wird feinen noch immer 
viel gerühmten erzählenden Gedichten ſeine zumeiſt als langweilig verſchrienen 
Romane nod vorziehen. Und auch unter dieſen wird der von der Literatur- 
äſthetik als beſter gerühmte „Agathon“ hinter ben „Abderiten“ und dem Alters- 
werke „Ariſtipp“ zurücktreten müſſen. Es iſt dabei ohne weiteres zuzugeben, daß 
der „Agathon“ allein noch die Bezeichnung „Roman“ verdient, daß im „Ariſtipp“ 
ſogar die zu einer feſſelnden Entwicklung gebotene Gelegenheit im Schickſale der 
Lais verſäumt worden oder abſichtlich unbenützt geblieben ijt. Aber für mein Ge- 
fühl ijt über alle möglichen Probleme des Staatslebens, des politiſchen wie fogia- 
len, des künſtleriſchen und ethiſchen niemals gleichzeitig ſo klug und anmutig, ſo 
weiſe und unterhaltend geplaudert worden, wie in den „Abderiten“. „Ariſtipp“ 
aber iſt entſchieden eine der reichſten Außerungen menſchlicher Bildung, die je- 


Storck: Magister Elegantiae 153 


mals geſchaffen worden find. Wieland hat zu Recht betont, „daß fünfzig Jahre 
ſeines Lebens dazu nötig waren, um ihn zu befähigen, dieſes Buch zu ſchreiben“. 
Wo man es auch aufſchlägt, welchen der durchweg ihre erdichteten Schreiber ſcharf 
charakteriſierenden Briefe man auch lieſt — immer wieder ſtaunt man über dieſe 
erleſene, durch das Leben zum Lebensbeſitz gewordene Weltklugheit. „Ich bin“, 
heißt es im vorletzten Briefe des vierteiligen Werkes, „mit Ariſtipp auch darin 
einverſtanden, daß jeder Menſch, ſobald er Verſtand genug hat, eine Philoſophie, 
d. i. eine mit ſich ſelbſt übereinſtimmende Lebensweisheit nach feſten Grundſätzen 
zu haben, in gewiſſem Sinne feine eigene hat. Das, was den Unterſchied macht, 
iſt nicht die Richtung; wir gehen alle auf ebendasſelbe Ziel los. Eudämonie ift ber 
Preis, nach welchem wir ringen; und wie gern der ſtolze Plato ... fid) auch die 
Miene gäbe, als ob das überſinnliche Anſchauen der formlofen Urweſen und 
die geiſtige Vereinigung mit dem Auto-Agathon ohne alle andere Rückſicht das 
einzige Ziel ſeiner Beſtrebungen ſei, ſo ſoll er mich doch nicht bereden, daß 
ſie es auch dann noch ſein würden, wenn er ſich in dieſen — geiſtigen oder phan. 
taſtiſchen? — Anſchauungen nicht glücklicher fühlte, als in jedem andern Genuß 
ſeiner ſelbſt.“ „ Bu 

Hier haben wir den Kern der Weltanſchauung Wielands: alles menſchliche 
Tun und Denken zielt nur darauf ab, glücklich zu werden. Das Ziel der Menſchheit 
kann demnach nur ſein, die Auffaſſung von Glück zu veredeln. So heißt es denn 
auch von Ariſtipp: „Die Hedone iſt ihm nicht Genuß wollüſtiger Augenblicke, 
ſondern dauernder Zuſtand eines allgemeinen Selbſtgefühls.“ Schon im „Agatho- 
dämon“ aber hatte Wieland der Überzeugung Ausdruck gegeben: „daß der Hang 
zur Luſt, durch Vernunft veredelt, glücklich organiſierte Menſchen zu einem nicht 
gemeinen Grade von ſittlicher Vollkommenheit, innerer Zufriedenheit, Harmonie 
und Lebensgenuß führen könne“. — 

Wieland hat, was ja immerhin etwas bedeuten will, für ſich ſelbſt die Probe 
ſeiner Philoſophie beſtanden. Achtzig Jahre iſt er alt geworden und eigentlich 
zeitlebens ein glücklicher Mann geweſen, der auch die ſchwarzen Lebenstage, die 
keinem erſpart bleiben, mit gelaſſener Würde zu ertragen verſtand. Er hat das 
Höhere geleiſtet, daß auf alle, die mit ihm perſönlich zu tun hatten, die Wärme 
ſeines eigenen Glücksgefühls überging. Er hat in ſeinem kinderreichen Hauſe ein 
lebenstüchtiges und braves Menſchengeſchlecht herangezogen, er hat auch das 
Schwerſte fertiggebracht — und zwar ohne viel Aufhebens davon zu machen —, 
nämlich ſich ſelber zu überwinden. In ihm wühlte von Kind an bis ins höchſte 
Alter eine ſtarke Sinnlichkeit, die, wie er ſich einmal ſelber ſehr ſcharf ausdrückte, 
„etwas von Idiotismus“ hatte. Wenn es ihm trotzdem gelang, fein Bedürfnis 
nach anregendem Verkehr mit geiſtig und geſellſchaftlich reizvollen Frauen mit 
einem einwandfreien Eheleben in Einklang zu bringen, fo mag ihm dabei das- 
ſelbe „Hausmittel“ geholfen haben, das Ariſtipp dem Sokrates nachſagt („Ariſtipp“ 
I, Brief 26). Aber Wielands brave Hausfrau hat ſich jedenfalls nie zu beklagen 
gehabt, und der Oichter iſt ſeiner Natur in einem Maße Meiſter geworden, wie 
nur ganz wenige unter den vielen, die recht große Worte von Sittlichkeit und 
Lebenspflicht im Munde führen. 

Der Farmer XV, 5 50 


754 Lebende und Lebendige 


Die Schwaben behaupten in allewege die eigenartigſte Stellung in unſerer 
Literatur. Sie haben uns den leuchtenden Feuergeiſt Schiller, den Schönheits- 
ſchwärmer Hölderlin, die wilden Genies Schubart und Waiblinger, den Volks- 
mann Uhland, den leidenſchaftlich empfindenden Satiriker Viſcher, den phantajti- 
ſchen Geiſterſeher Kerner und den anmutigen Mörike gegeben, der das einzig- 
artige Kunſtſtück fertigbrachte, ſchwäbiſches Volkstum antiker Klaſſizität zu einen. 
Ein Schwabe war auch Wieland. Als Dichter und als Menſch hat er etwas ver- 
wirklicht, was uns Deutſchen faſt immer verſagt geblieben iſt: die Eleganz. Dieſe 
vollendete Kunſt der ſchönen Oaſeinsgeſtaltung ift ſicher nicht das höchſte Ziel der 
Menſchheit, und gewiß möchte man nicht eigenartigere Beſitztümer deutſcher Art 
dafür opfern. Aber ein wertvoller Gewinn wäre es, wenn wir ſie in reicherem 
Maße und dabei immer in der bewußten Art eines Wieland uns zu gewinnen ver- 
ſtänden: für die Kunſt wie für das Leben. In der erſteren würde ſie uns vor dem 
troſtloſen Verkennen der dem Talente gezogenen Grenzen ſchützen; für das Leben 
wäre ſie ein Mittel, wenn nicht glücklich, ſo doch glücklicher zu werden. 


FA zu 


SEKR AER) 


Lebende und Lebendige 
(Berliner Theater-Rundſchau) 
ys. 


in A et das letzte Vierteljahrhundert des deutſchen Theaters mitgelebt hat, bem dringt 
( es mühſam zum Bewußtſein: Otto Brahm lebt nicht mehr. Als 
ob eine Gegend ihr Ausſehen verändert hatte, ein ſicherer Mechanismus plötzlich 
die Dienſte verſagen würde, deren wir zu bedürfen gewohnt waren! Es liegt nicht nur daran, 
daß der Tod raſch und unerwartet dieſen Mann hinwegraffte; denn auch in der Zukunft wird 
ihn ſein Werk ſchwer entbehren. 

Dr. Otto Brahms Lebenswerk: das ijt keine Angelegenheit bloß der Aſtheten, der Geiden- 
raupen, die ſich in ihre abſonderlichen Ausſchwitzungen einſpinnen, nicht der Sektierer, die die 
Schlagwörter von Syſtemchen, die Namen von 9Robegóben einander wie Spielbälle zuſchleudern; 
was Brahm ſtill, trotzig, zäh, ſich ſelbſt getreu, in dreiundzwanzig Jahren errungen hat, iſt ein 
Teil neuen Lebens. Ein Teil, — denn wofern wir in der lebendigen Kunſt feiner Ibſen Bühne 
ein Ganzes zu ſehen geneigt wären, könnten wir doch nicht dem einen Manne allein die Er- 
rungenſchaft zuſchreiben. Die Dichter ſind am Ende auch nicht zu vergeſſen — und auch nicht 
die Schauspieler, die fid) ſammeln und abſtimmen —, nicht die Zufchauer, bie fih wandeln 
ließen; kurz, über Brahm und mit ihm wirkten, zuerſt ungeklärt, die geheimen geiſtigen Kräfte 
der Zeit. Sie zuerſt erkannt, ſich ihnen dauernd verſchworen, ihnen gegen alle Hemmungen 
und Lockungen unbedingten Beiſtand geleiſtet zu haben, das iſt Brahms langjährige Tat. Das 
Verdienſt einer frühreifen Erkenntnis und eines Charakters. 

Otto Brahm, der Theaterkritiker, war von Wilhelm Scherer hergekommen, 
dieſem erſten unter den deutſchen Literarhiſtorikern, dem es nicht genügte, das Geweſene nach 
überliefertem Viſier zu betrachten, der vielmehr mit den Augen unb dem Gefühl des Entel- 
geſchlechtes ein neues Leben in der Vergangenheit ſuchte. Scherer, der vor der literariſchen 
Revolution ſtarb, ſtand zwiſchen den Zeiten, wie jeder Johannes, den die Ahnung erfüllt, 
daß ſein Abſchluß ein Anfang ſein wird. Es iſt kein Zufall, daß zu Füßen dieſes Lehrers die 


Leb ende und Lebendige 755 


Schüler heranwuchſen, die nad) ibm und über ihn hinaus die neuen Ziele abſteckten. Vor den 
Tagen Wilhelm Scherers war Heinrich von Kleiſt ein ungelöſtes, kaum eindringlich umworbenes 
Problem geweſen. Daß Kleiſt erſt in unſerer Gegenwart lebendig zu werden beſtimmt ſei, 
das war eine der Offenbarungen des modernen Gelehrten. Die letzte kritiſche Löſung des 
Kleiſt-Problems gelang ſodann dem Jünger bes Meifters: Otto Brahm. Wie Siet, der fpür- 
fame Pſycholog, der Romantiker und ftreng-realiftifche Menſchenbildner, in manchem Belang 
ein Vorgänger Ibſens geweſen, ſo war ſein Biograph Brahm als Kritiker der Vorgänger 
des Theaterdirektors Brahm, der für Oeutſchland, der für Europa bie Ibſen⸗ Bühne 
und den Zbſen-Stil der Schauſpieler bauen follte. 

Daß ein Mann in der Praxis die Verſprechungen ſeiner Theorien einköſt, daß er im 
Handel und Vandel ſeine Überzeugung bewährt, das iſt, Gott ſei's geklagt, eine Seltenheit. 
Aus der Zunft der Theaterdirektoren zumal könnte man dem einzigen Brahm eine große Zahl 
von ehemaligen Literaten entgegenſtellen, die, als fie noch nicht mit der Gunſt und Ungunſt 
der Menge ziffernmäßig zu rechnen hatten, Pauluſſe geweſen waren und ſonach Sauluſſe 
wurden. Habe ich hier auch nicht bei Otto Brahms Charakterbild zu weilen, ſo kann an ſeiner 
perfönlihen Standhaftigkeit doch nicht ſchweigend vorübergegangen werden, denn fie erklärt 
es zum nicht geringen Teile, daß er eine große Lebensaufgabe erfüllen konnte. Mit Recht 
hoben die Redner bei der Gedächtnis feier im Leſſingtheater hervor, daß 
Otto Brahm ein künſtleriſches und zugleich ein ethiſches Prinzip verkörperte. Er hatte fo gar 
nichts von einem Fahnenträger oder von einem Tribunen, er verachtete fo gründlich die lauten 
Worte, fein ideales Wollen unb Müſſen niftete fo verborgen hinter einem ſarkaſtiſchen, kühlen 
Lächeln, daß fein Werk ganz losgelöſt ſchien von perſönlichem Ehrgeiz. Er ſetzte etwas Wid- 
tigeres ein: den Tatengeiz; den Trieb, der ihn nicht verharren ließ bei der einſamen Stuben⸗ 
lampe des Schriftſtellers, der ihn auf die Bretter trieb, die unter ſeiner Herrſchaft alsbald eine 
neue Welt bedeuteten. 

am Oktober 1889 hat Dr. Otto Brahm die von ihm geleitete „Freie Bühne“ mit einer 
Ibſenvorſtellung eingeweiht; und wenige Wochen ſpäter erfolgte dort die Feuertaufe des 
jungen Gerhart Hauptmann, die kataſtrophale Aufführung von „Vor Sonnenaufgang“. Ibſen 
und Hauptmann: hie r muß es erlaubt fein, die beiden, die ſonſt ein febr oberflächliches Schlag- 
wort an einen Strang bindet, eng verbunden zu nennen. Denn Zbfen und Hauptmann be- 
zeichnen die zwei Richtungen, in denen Otto Brahm Bahn gebrochen hat. Für den großen 
Alten war Brahm der Erfüller, für den ringenden Jungen der Verkünder. Die ſiebzehn Jahre 
der Brahmſchen Direktion des Deutſchen und des Leſſing-Theaters waren, das konnte gefagt 
werden, ein beſtändiger Ibſen-Zyklus. Aufgedrungen, aufgezwungen hat er den Wehleidigen, 
ben Widerwilligen, den Befangenen bie Kunſt und die Lebensbotſchaft, die er in Zbfens Dramen 
erkannt hatte. Er ſelbſt und die von ihm mit dem ſicheren Wahlblid für das Echte geſammelte 
Künſtlerſchaft wuchſen, fo fertig der neue, vom Komödiantentum befreite Stil ſchon im erſten 
Guffe des Enſembles ſchien, in den Jahren immer höher an Sbſen heran, drangen tiefer in die 
Vielfältigkeiten der Ibſen-Dichtung. Vom abſoluten Naturalismus, der bas Rauſchen des 
Ewigen in den ſogenannten Gegenwartsdramen des Norwegers kaum vernommen hatte, 
blieb ſchließlich nur die abſolute Naturwahrheit der Menſchen auf der Bühne, die Abkehr von 
den verwirrenden und unedlen Täuſchungen des „Theaters“. gm Leſſingtheater gedieh das 
Sbfendrama zu einer Vollkommenheit, neben der keine andere Nation im Wettbewerb beſteht. 
In Frankreich kam das redlichſte Bemühen Antoines nicht über die Klippen hinweg, die zwiſchen 
dem germaniſchen und dem romaniſchen Geiſt ragen. Aber ſelbſt in Norwegen hatte Zbfen 
nicht feine eigentliche Heimſtätte; im Nationaltheater von Chriſtiania ſpielt man ſeine Stüde 
in einem noch von Dumas beeinflußten Stil. 

Alfred Kerr ſagte bei Brahms Totenfeier, dieſer Mann habe das Theater zu einem 
Menſchenhaus gemacht, und Paul Schlenther ſprach von einer beſcheidenen Hütte, nach der 


756 Lebende unb Lebendige 


bie Bekenner der menſchlichſten Kunſt wallten, während die Menge vom Glanze prunkender 
Schauſpielpaläſte angelockt wurde. Zutreffend ijt die Unterſcheidung von extenſiver und inten- 
fiver Schaufpielerei. Die Intenfivität der Brahmſchen Schauſpielkunſt mußte naturgemäß 
auf die Ausbreitung aller Oberflächeneffekte verzichten. Daß man in dieſem Gegenſatz die 
Gegenſätzlichkeit von Naturalismus und Idealismus erblickte, war ein gründlicher Irrtum. 
Das Mißverſtehen entſtand zur Zeit, als die neuen Dichter die Kokarde des Naturalismus 
trugen, und es wurde genährt von den überlieferten Gewohnheiten des Pathos und der Poſe, 
die man allenthalben bei der Darftellung der alten Dichterwerke aufrechthielt. Ein Pathos 
und eine Gebärde, die nicht mehr die Sprache unſerer Herzen waren, weckten bei kurz- 
ſichtigen Eiferern den Aberglauben, daß mancher von den alten Heroen der Dichtkunſt heute 
nicht mehr lebendig fei. Irregeführt von einer erſtarrten Darſtellungsform (ſiehe 
unfer Königliches Schauſpielhaus !), verging man fid im ſchiefen Urteil an toten Dichtern, 
die nur darauf zu warten hatten, daß ihr Ewiges wieder zeitgerecht geweckt würde. 

Ohne ein anderes Verſchulden, als daß er nicht über die Grenzen feiner Kraft hinaus- 
ging, hat auch Otto Brahm zur Verſtärkung jenes Irrtums beigetragen. Er, der noch in letzten 
Lebensſtunden nach dem Manufkript ſeiner unvollendeten Schillerbiographie verlangte, dachte 
gewiß nicht an die grundſätzliche Scheidung von Gegenwart und Vergangenheit. Er ſuchte 
in den Dramen, die die Dichter der Gegenwart ſchufen, nach Ewigkeitswerten und hinterließ 
mit ſeinem eigenen Werk: der verjüngten Schauſpielkunſt, Lebendiges. Aber er fühlte ſich 
nicht befähigt, auszufahren nach fernen Afern und das ihm Fremde heimzubringen. Eng 
und immer enger zog et den Kreis feines intenſiven Wirkens. Selbſt an Zbſens hiſtoriſche 
und philoſophiſch-allegoriſche Dichtungen hat er fid nie herangewagt. 

Wohl zeigte ſich in der Beſchränkung der Meiſter. Aber Otto Brahms Schaffen muß 
nun weiterwirken nach des Meiſters Tod. Die Ziele liegen in der Zukunft wie in der Ver- 


gangenheit. e : A 


Am Tage nad) Dr. Otto Brahms Sterbeftunde wurde im Leffingtheater die Komödie 
„Sommer“ von Thaddäus Rittner aufgeführt. Das aber war kein lebendiges 
Vermächtnis des Toten. Dem Dichter bleibt bas Verdienſt, ein Le bender, einer unferer 
Zeitgenoſſen zu fein... Die Hauptidee zu feinem Luſtſpiel ſtammt übrigens von Oskar Blumen- 
thal: Der Arzt kündigt einem geſunden Patienten das Lebensende in bemeſſener Friſt an. 
Nun verändert der angeblich Gezeichnete ſein Temperament und ſeine Lebensführung. Bei 
Rittner wird aus einem ſchmachtenden Seladon ein teder Draufgeher, der bes Nächſten Ehe- 
weib in gefährliches Schwanken bringt. Der Luſtſpieldichter behält den Automatenknopf in 
der Hand; er drückt — und der ſterbende Caſanova iſt wieder ein geſunder Ritter Toggenburg 
und der Ehemann vor Feuer und vor Licht bewahrt. Wäre es dem Verfaſſer beſſer gelungen, 
in dem ſeeliſchen Zuſtand eines von der ärztlichen Prognoſe zum Tode Verurteilten zu ſchuͤrfen, 
aus dem Schwank hätte ein Luſtſpiel werden mögen, eine von tiefem Ernſt überſchattete Heiter- 
keit. Gewiſſe poetiſche Stimmungen laſſen annehmen, daß Rittners Wille dieſe Richtung 
hatte. Aber heraus kam ein Neutrum: zu ernſt für eine Poſſe, zu leicht für eine Komödie, 


gefällig nur in Einzelheiten. m . 2 


Die wahre Komödie bat uns Artur Schnitzler gegeben. Mit dem Stück, das in 
Barnowskys Kleinem Theater eine wundervolle Darſtellung fand: „Profeſſor Bern- 
hard i.“ (Das Buch ijt in S. Fiſchers Verlag, Berlin, erſchienen.) Sie wurde nur nicht 
gleich von allen erkannt, — eben deshalb nicht, weil ſie, wie die wahre Komödie tut, des 
Lebens belachens- oder belächelnswerten Karneval vor einem dunklen Hintergrund tanzen 
unb tollen läßt. Viele nahmen die Folie für das Bild, und es ſtörte fie, daß im Vorder- 
grunde ironiſch geſcherzt wurde. Sie hätten am liebſten einen alten Zambenmonolog aus dem 


Lebende und Lebendige 757 


Theaterarchiv herbeigeholt und dem tapferen Profeſſor Bernhardi, der ein Opfer hämiſcher 
Niedertracht wird, eine Heldentoga um die Bruſt gelegt. Aber dieſer Profeſſor Bernhardi! 
Der iſt ja ſelbſt ſo „frivol“ wie ſein Dichter und hat, als man ihn ſeines guten Herzens und 
einer anſtändigen Handlung wegen für zwei Monate einkerkert, nur ein Lächeln auf den 
Lippen. Er iſt einer von denen, die mit Goethe denken: 

„Über das Nieberträchtige 

Niemand fid) bellage, 


Denn es iſt das Mächtige, 
Was man dir auch fage.“ 


Das, was im Hintergrunde der Komödie ſich abſpielt, iſt ein Konflikt zwiſchen Geſetz 
und Menſchlichkeit. Das Geſetz bat hier — nicht weil es jid) etwa um ein politiſches „Rultur- 
kampf“ Stück handelt, ſondern weil ein Einzelfall es will — kirchlich dogmatiſchen Charakter; 
auf der Seite des Mitleids ſteht der Arzt — auch nicht der Arzt ſchlechtweg, ſondern dieſer e i ne 
Arzt, Profeſſor Bernhardi, dem genug herzloſe, egoiſtiſche Standeskollegen an die Seite ge- 
ſtellt ſind. Auf der Abteilung für Geburtshilfe des Krankenhauſes ſtirbt ein Mädchen. Ein 
katholiſcher Prieſter, von Unberufenen herbeigeholt, will der Sterbenden das Sakrament der 
letzten Olung bringen. Der Leiter der Abteilung verwehrt dem Geiſtlichen den Zutritt. Alſo 
bod) ein Kampf gegen das kirchliche Dogma? Nein. Profeſſor Bernhardi denkt nicht daran, 
feine perſönliche Überzeugung zu propagieren, er begegnet dem Geiſtlichen mit aller Hoch- 
achtung, die dem Diener einer beſchworenen Pflicht gebührt, und er handelt unter dem Zwang 
beſonderer Umſtände. Denn die Sterbende befindet ſich in einem Zuſtand, den die Arzte 
Euphorie nennen, in dem Glücks- und Geneſungswahn der letzten Lebensſtunde. Sie durch ben 
Eintritt des Geiſtlichen aus ihrem tröſtlichen Gefühl hinabzuſtürzen in Verzweiflung, beſitzt 
Bernhardi nicht den harten Mut. Der Euchariſtie ſtellt fid) nicht das Freigeiſtertum, ſondern 
die Euphorie und das Mitleid in den Weg. Das anerkennt ſogar der Prieſter, obwohl ihn der 
Buchſtabe des Geſetzes zwingt, auf ſeiner Miſſion zu beſtehen. Das anerkannte aber nicht die 
öſterreichiſche Zenſur, die mit dem Verbot der Schnitzlerſchen Tragikomödie fir alle Bühnen 
des Staates dem Wiener Euchariſtenkongreß noch nachträglich ein wohlgefälliges Opfer dar- 
brachte 

Durch das öſterreichiſche Zenſurverbot erhielt die Satire, die geiſtige Züchtigung, 
bie eine weiche Dichterhand unauslöſchlich brennend austeilte, eine bedeutungsvolle Sanktion 
Denn, wie geſagt, das Drama vor dem Krankenzimmer des ſterbenden Mädchens iſt nur ein 
Vorſpiel, nur eine Vorausſetzung für die große Anklagekomödie, in der allen ſchnöden Geiſtern 
der Selbſtſucht, des Strebertums, der Heuchelei, des Kollegenneids, der Feigheit, der poli- 
tiſchen Brunnenvergiftung, des Kuhhandels, des blöden Herdentriebes, der Denunziation, 
der Schadenfreude und der Pöbelhetze feine und ungemein veriſtiſche Rollen zugeteilt ſind. 
Die Kloake ſchimmert in öſterreichiſchen Farben; Schnitzler, der ſein Wien ſo kennt und liebt, 
weiß, welche Erſcheinungen gerade in dieſer Stadt an der Oberfläche ſchwimmen! Wer in- 
deſſen tiefer blickt und nicht an den köſtlichen Einzelheiten hängen bleibt, findet hinter dem 
Wiener Stück das Zeitſtuͤck und das Weltſtück. Die menſchlichen Züge, die hier von einem febr 
peſſimiſtiſchen aber fouverdnen Humor geſammelt wurden, find allgemein gültig; es wurde 
und wird ja auch Molières „Tartuffe“ außerhalb Frankreichs verſtanden. Nur die Ooftorfrage, 
die zu der Entzügelung der menſchlichen Beſtien und zu der erſten ſtrengrealiſtiſchen 
Satire unſerer Tage den Anlaß gab, hat Lokalkolorit. Afo eine öſterreichiſche Gegen- 
wartsdichtung, die räumlich und zeitlich nicht eingeengt iſt. 

* * 


1 
Die literariſche Verſuchsbühne (bekanntlich eine Angliederung der „Neuen freien Volks- 
bühne“), kämpfte mit ihrem zweiten Experiment gegen das Vorurteil, daß den Frauen die 
Kraft der Selbſtbeherrſchung fehle, die der Dramatiker in höherem Maße als der Roman- 


758 Lebende und Lebendige 


dichter zu beweiſen hat. Man gab die Tragödie einer Frau: „Has Urteildes Salomo“ 
von Elfe Torge (der Tochter Anna Rittners). Das Drama verleugnet indeſſen feine weib- 
liche Abkunft weder mit feinen Vorzügen, noch mit feinen Schwächen. Es ijt fubjettiv wie ein 
lyriſches Gedicht, obwohl es in die ferne Welt des Alten Teſtamentes entführt; es ijt fo per- 
ſönlich, daß die Dichterin, ſowie fie auf dem Boden eigenen Erlebniſſes anlangt, nichts mehr 
reſpektiert als das eigene Gefühl, und dabei vergißt, daß fie ihrem Geſchöpf ein anderes be- 
herrſchendes Gefühl hatte einhauchen wollen. Man hat oft geſagt, daß die Frauen, den Im- 
pulſen des Herzens folgend, die Logik mißachten; hier kann man von einer pſychol o- 
giſchen Untreue ſprechen, deren ſich eine ſchöpferiſche Frau, im Zwang ihrer perſönlichen 
Empfindung, an ihrem Geſchöpfe ſchuldig machte. 

Die junge Witwe Basmath lebt, eine gemiedene Fremde, unter den Weibern Ffracls. 
Sie war unglücklich als Gattin eines verabſcheuten Mannes. Von dem Toten hat ſie ein Kind, 
aber bie Mutterſchaft füllt ihr Sein keineswegs aus; ſonſt wäre fie nicht unglidlid ... Sie 
ſehnt fih nach der Liebesleidenſchaft. Und als der Mann ihrer Sehnſucht in ihr Leben tritt, 
gibt ſie ſich ihm in einer glühenden Nacht. In derſelben Nacht wird in dem Bette, das ſonſt 
Basmath mit ihrer Schwägerin und mit zwei Kindern (dem eigenen und dem der anderen 
Frau) teilt, das Neugeborene der Schwägerin im Schlaf erdrückt. Um das lebende Kind ent- 
brennt der Streit zwiſchen den beiden Müttern. Wie man aus der Bibel weiß, hat der weiſe 
Salomo zu entſcheiden, und man kennt den Schiedsſpruch des Königs, der das Kind unter das 
Schwert legt und auf den Aufſchrei bes Mutterinſtinkts wartet. Jn der Bibel ijt es die Be- 
triigerin, die das Urteil Salomos vollſtreckt (eben will, in Torges Drama dagegen die richtige 
Mutter. Denn ſo über- oder unnatürlich liebt nun mit einem Male Basmath das Kind, daß ſie 
es vor dem Leben, vor dem ſchweren Los des Weibes (das Kind iſt ein Mädchen) bewahrt 
wiſſen will. Eine Mutter, die das Leben ihres Kindes preisgibt, weil ſie ſelbſt dem Leben 
fluchen gelernt hat, ijt gewiß febr ungewöhnlich; noch unverſtändlicher aber di e Mutter, die 
die Konſequenz des Peſſimismus nur an ihrem Kin de durchführen, fih f elb ft aber dem 
Leben erhalten möchte. Außerdem vergaß die Dichterin, als fie ihre bittere Reſignation der 
Basmath in den Sinn legte, daß die „vom Mann erlöſte“ Witwe ſeit der letzten Nacht keine 
Urſache mehr hatte, dem Dafein und dem Los des Weibes unbedingt zu fluchen! Oieſe ſchweren, 
unter dem Oruck einer perſönlichen Stimmung entſtandenen Widerfpriide laffen eine logiſche 
und pſychologiſche Genugtuung über das Drama von Elfe Torge nicht aufkommen. Einzelrie 
Szenen nehmen mit ſtarker dramatiſcher Gewalt gefangen. Manche Vorte ſtrahlen prächtig. 
And der Wille, in dunkle Probleme zu dringen, foll geachtet fein. — Die Aufführung fand 
Beifall. m - 

b * 

Was wäre ewig, wenn nicht bie Märchen? Sie, die nicht welken, weil Frühling, Rind- 
heit nicht welk fein können. 

Es mag einer eine Phantaſie haben, die Himmel und Hölle beherrſcht, und zum Märchen 
findet er doch nicht den Weg. Nur vor eines Dichters wahrem Kinderſinn [pringt das Zauber- 
gartenpförtchen auf. Dem Maurice Maeterlinck, dem Belauſcher der Bienen, der 
Blumen, der Naturlaute, war ein Märchen wohl zuzutrauen. Rationaliftifche Kritiker fagen, 
all ſeine myſtiſchen Seelendramen ſeien — Märchen. Die fo im Arger das Märchen eitel nennen, 
verſtehen offenbar nichts von der Naivität des Märchens. Und Maeterlind, der das Märchen- 
tüd „Serblaue Vogel“ ſchrieb? Auch er erreicht das Märchenreich bloß mit feiner Sehn; 
ſucht. Märchen haben ungewollten Sinnbild-Sinn, aber fie ſinnbildern nicht; Märchen be- 
deuten, aber ſie deuten nicht. „Der blaue Vogel“ (Buchverlag Erich Reiß, Berlin) iſt ein 
philoſophiſches Lehrgedicht, gefüllt mit eines reifen Menſchen Einſichten und Gedanken. Die 
geiſtige Bürde ijt kindlichen Geſtalten aufgetragen, die fie nimmer zu ſchleppen vermöchten, 
wenn nicht der Dichter in Perſon ihnen helfen würde. Bruͤderchen Tyltyl und Schweſterchen 


Lebende und Lebendige 759 


Mytyl, des Holjtnedts Kinder, träumen Herrn Maeterlinds Gedanken und Worte Man 
kann ſagen: auch Fauſt und Mephiſto erleben Goethes Gedankenwelt. Das Störende in Maeter- 
lincks Dichtung iſt das frühe Kindesalter der kleinen Philoſophen; iſt die Anleihe, die die 
gedanken und bilderſchöne Dichtung beim Kindermärchen nimmt. „Altkluge Kinder“, meint 
Shakeſpeare, „werden ſelten alt.“ 

Den ſchlafenden Kindern in der Hütte erſcheint die Nachbarin als häßliche Here und be- 
fiehlt ihnen, flugs in die weite Welt zu wandern und den blauen Vogel zu ſuchen und zu fangen. 
Der blaue Vogel ift das Glück, das alle haſchen wollen und keiner hält. So wird einmal gedeutet. 
Ein andermal wird ihm eine andere Bedeutung zugeſchrieben: ſein Beſitz, ſo heißt es, verleiht 
die Gabe, die Sprache der Tiere, Pflanzen, Steine und der lebloſen Gegenſtände zu verſtehen. 
Wäre dem ſo, ſo brauchten gerade Tyltyl und Mytyl ihn gar nicht zu ſuchen; denn ſchon als 
fie ausziehen, erfüllt fid) ihnen — im Traum — das Wunder, nach dem Maeterlincks natur- 
forſchende Dichterſeele ſchmachtet: Das Lampenlidt, die Katze, der Hund, die Milch, das Brot, 
der Zucker, das Waſſer nehmen menſchenähnliche Geſtalten an und ſprechen menſchlich mit ben 
Kindern. Schließlich iſt der blaue Vogel doch wieder das Glück quand méme. Als nämlich 
Tyltyl unb Mytyl alle Über- unb Unterreiche der Phantaſie durchwandert haben, kehren fie 
heim in die Hütte der Eltern und finden dort endlich den Vogel: das blaugraue Täubchen im 
Käfig. Doch wie ſie das Vögelchen mit Händen faſſen wollen, da flattert es durchs Fenſter 
davon. Zit das nun ein unglückliches Ende? Fft das Glück entflohen? Beileibe! Die Kinder 
tröſten (id) und finden, daß es auch ohne den blauen Vogel daheim am hübſcheſten ijt. Wo war 
ja die ganze Pilgerſchaft höchſt überflüſſig 

Gemeint ijt der fauſtiſche Drang nach immer neuen Fernen und Erkenntniſſen unb 
die Weisheit des uralten Fauſt, daß in der Beſcheidung und Begrenzung das Dafein den höchſten 
Wert biete. Solche Erfahrungsweisheit ſteht zwar dem Greiſe wohl an, doch ſchwerlich kleinen 
Kindern! Und noch ein Einſpruch: Der Geiſt, der die Kinder in die Abenteuer ſchickt, meint 
es angeblich gut mit ihnen; weshalb erſcheint er zuerſt im Körper der Hexe? Allerdings — 
das häßliche Weib verwandelt fid) alsbald in die wunderſchöne Fee, ſowie Tyltyl den Dia- 
manten dreht. Leuchtet der Stein, ſo ſind alle garſtigen Dinge herrlich. Ohne Mühe verſteht 
man: Der Diamant ijt die Fähigkeit des Dichters, die Schönheit der Welt zu ſehen. Be- 
dürfen kleine Kinder ſolcher Wundergabe? Alle kleinen Kinder find im Oichterparad ies, für 
fie alle beſteht noch nicht die Feindſchaft zwiſchen Wirklichkeit und Zllufion ... 

Schon im Grundriß bes Märchenſtücks zeigt es fih, daß Maeterlind vom Kindlichen weit 
abgeirrt ijt, daß er feine eigenen Gedankenträume und nicht die der Kinder geträumt hat. Er 
macht es — in anderen Dichtungen — mit den erwachſenen Leuten geradeſo. Er ijt der Antipode 
der Realiſten. Er geſtaltet immer fein perſönliches Seelenleben in fremden Menſchenformen. 

Aber freilich — wer nun alle gewohnten Forderungen an die Pſychologie des Dramas 
fallen gelaſſen hat, wer fih willig von den Wogen der Oichterphantaſie treiben läßt, den ſchaukelt 
eine mondbeſchienene, fanfte Flut zu wunderbaren Ufern. Poetiſche Reize bat dieſes Zauber- 
ſtück, bie hell wie unfere ſchönſten Märchen glänzen. Und hier und dort ſprudelt die warme 
Quelle des Gemüts. Es ift ber Wünſchelrutenſchlag eines großen Dichters, der in der geffird- 
teten Geiſterſtunde der Winternacht den Friedhof in einen ſonnigen Sommergarten verwandelt, 
prangend in voller Lebensbluͤte, in überſchwänglichem Blumenflor. „Es gibt keine Toten“: 
fo klingt es freudig! Der Lebenden Gedenken macht die Begrabenen lebendig. Brüderchen 
Tyltyl und Schweſterchen Mytyl kommen ins Land der Erinnerungen, und da werden ſie 
vom uralten Großelternpaar begrüßt, fo herzlich wie immer, und mit Pflaumenkuchen bewirtet, 
bie fo ſchmackhaft find wie immer. „O, die Lebenden find dumm“, lacht Großväterchen, — die 
Lebenden, die an den Tod der Toten glauben. 

Wenn in diefer Dichtung von ſchweren Gedanken bie Rinderflügel des Märchens zer- 
brochen werden: die liebliche, kindliche und meiſterliche Muſik Engelbert HBumperd inks 


100 Hauptmanns „Atlantis“ 


macht ſie wieder heil. Auch die Sinnenpracht, die man im Deutſchen Theater über die Bühne 
ſtreute, erregte von des Gedankens Bläſſe nicht angekränkelte Freuden. Und Lia Rofne und 
Mathilde Danegger machten die entzückten Zuſchauer an ein Wunder glauben; an zwei 
Wunderkinder nämlich, die nichts von der Wunderkinderei hatten. 

Der blaue Vogel! Bei den älteren Romantikern war's die blaue Blume, bei Maeter- 
lind ijs ein Vogel. Sei's! Sein Blau ift echt, — die Farbe ewiger Sehnſucht, bes Ewig- 
Lebendigen. ch Hermann Kienzl 


Hauptmanns „Atlantis“ 


Me XT s will es gleich zu Beginn fagen, daß mir ber neue Roman von Gerhart Haupt- 
ZO mann eine doppelte Enttäuſchung gebracht bat: eine zu Beginn des Leſens und 
(Fs 2 die ſchwerere, als ich das zu Ende geleſene Buch aus der Hand legte. An der erſten 
bin ich freilich ſelber ſchuld. Atlantis! Seit Plato, alſo nun ſchon mehr als zweitauſend Jahre, 
hat dieſes Wort für das Menſchenohr einen ſeltſam lockenden Klang. Märchenſtimmung eint 
ſich mit wiſſenſchaftlichen Träumen — man muß dieſen ſcheinbaren Widerſpruch hier ruhig 
gelten laſſen —, von überraſchenden Offenbarungen über ſeltſame Kulturzuſammenhänge, 
rãtſelhafte hohe Kulturgüter. Und ein weites Gebiet tut jid) auf für eine Phantaſtik, die Zu- 
kunftshoffnungen der Menſchheit an alte verſunkene Güter derſelben knüpfen möchte. Manchen 
Dichter ſchon bat es gelockt, dieſes nach alter Sage auf dem Grund des Meeres ruhende Mutter- 
land der Kulturen Amerikas und Europas und Afrikas wieder erſtehen zu laffen, und faltblütige 
Forſcher haben bei der Entdeckung geheimnisvoller Zuſammenhänge zwiſchen Schöpfungen 
meergetrennter Erdteile eine Phantaſie entwickelt, die manchen Oichter neidiſch machen könnte. 

Gerade weil in neueſter Zeit das Problem der Atlantis die wiſſenſchaftliche Welt aufs 
neue wieder ſtark erregt, hatte ich gedacht, Gerhart Hauptmann habe dieſen großen lockenden 
Stoff aufgegriffen. Er bietet einem Dichter die Möglichkeit, das Weltbild, das er als Sehn 
ſucht im Innern trägt, als Wirklichkeit vor uns erſtehen zu laſſen. Hauptmann hat die Bedeutung 
der Jahrzehnteswenden für das Leben des Mannes ſo ſtark betont, daß man wohl erwarten 
konnte, daß er die auch von der Umwelt ſo ſtark betonte Halbjahrhundertwende ſeines Lebens 
dichteriſch durch ein beſonders eindringliches Werk feiern würde. Bisher bewegte ſich ſein 
Schaffen ſchwankend zwiſchen zwei Richtungen hin und her. Der treuen, faſt peinlichen Ab- 
ſchilderung des wirklichen Lebens ſtand eine merkwürdige Flucht ins Phantaſtiſche gegenüber. 
Merkwürdig deshalb, weil diefe Phantaſiewelt nicht frei und luftig jid) aufbaute, ſondern felt- 
ſam beſchwert war mit Symbolen und Geheimniſſen, deren ſtärkſter Reiz darin lag, daß ſie 
des Dichters eigentliche Weltanſchauung zu umſchließen ſchienen, die aber doch einer Klarheit 
ſuchenden Ausdeutung widerſtrebten. Vielleicht, ſo hatte ich gehofft, eröffnete Hauptmann 
jetzt auf der Höhe des Lebens den Blick in die Welt feines tiefſten Sehnens und benutzte das ver- 
ſunkene Land Atlantis dazu, der Menſchheit eines jener Leitbilder vor die Seele zu ſtellen, 
die trotz allem das höchſte Gut bedeuten, was der Dichter als Seher und urſprünglicher Schöpfer 
der Welt zu geben hat. 

Wenige Seiten genügten, um mich zu überzeugen, daß Hauptmann den Ehrgeiz zu 
einem ſo ſtarken Lebenswerk nicht beſeſſen hat. Aber daß ſein Verlangen ſo wenig hoch ging, 
daß er ſeinen ganzen zweiten Roman um eine allerdings ſtark erſchaute Kataſtrophe eines 
modernen Schiffsdampfers herumbauen konnte, das zeigt doch wieder einmal klar, daß einer, 
der in dieſem Maße den Geiſt des Naturalismus in ſich aufgenommen, zur wirklichen Größe 
nicht zu gelangen vermag; daß er gebannt bleibt in die Welt der kleinen Mittel, und ſo glänzend 
et dieſe handhaben mag, zu fo Schönem fie auch ausreichen mögen, doch wirkliche Monumentali- 
tät ihm für immer verſagt iſt. 


N Sie 


Hauptmanns „At. antis“ 161 


Aber auch innerhalb bes Geſamtwerkes Gerhart Hauptmanns ſteht „Atlantis“ an einer 
tiefen Stelle, unb der Abſtieg von feinem erſten Roman, den er vor zwei Jahren uns gab, ift 
ſo weit, wie vom Narrentum in Chriſto zum Narrentum im Weibchen. Im Weibchen, nicht 
im Weibe, das iſt das Schlimmſte. 

Auf einer der erſten Seiten des 1907 veröffentlichten „Griechiſchen Frühlings“ (Geſ. W. 
VI, 16) findet ſich folgende Stelle: „Ich gedenke früherer Seefahrten; darunter ſind ſolche, 
die id) mit beklommener Seele habe machen müſſen. Viele Einzelheiten ſtehen vor meinem 
innern Geſicht. Ich vergleiche damit meinen heutigen Zuſtand. Damals warf der große Ozean 
unſer ſtattliches Schiff dreizehn Tage lang. Die Seeleute machten ernſte Geſichter. Was ich 
felber fiir ein Geſicht gemacht habe, weiß ich nicht; denn was mich betrifft: ich erlebte damals 
ſtürmiſche Wochen auf zwei Meeren, und ich wußte genau, daß, wenn wir mit unſerem bre- 
menſiſchen Dampfer auch wirklich den Hafen erreichen ſollten, dies für mein eigenes, gebted- 
liches Fahrzeug durchaus nicht der Hafen fei.“ 

Aus Hauptmanns Biographie erfahren wir, daß er diefe Reife als Dreißigjähriger 
im Januar 1892 ganz plötzlich unternommen hat. Er fuhr damals Knall und Fall von Paris 
nach Southampton, um dort den Lloyddampfer „Elbe“ zu beſteigen. Eine ſchwere Seelenlaſt 
trieb ihn hinüber in die Nähe von Neuyork. Derſelbe Dampfer „Elbe“, an deffen ſtürmiſche 
Überfahrt Hauptmann bei feiner Reife nach Griechenland denken mußte, erlitt vier Jahre ſpäter 
unter dem gleichen Kapitän, mit dem er fid) auf der Überfahrt befreundet hatte, den furcht- 
baren Schiffbruch. Nehmen wir hinzu, daß Hauptmann als Einund zwanzigjähriger auf einem 
Kauffahrteiſchiff als einziger Paſſagier von Hamburg aus um die europäiſche Rüfte nach Genua 
fuhr, ſo haben wir die Grundelemente, aus denen ſich wohl bei dieſer letzten Seereiſe nach 
Griechenland der Noman „Atlantis“ entwickelte. Aus ſeinem eigenen Leben hatte er fo den 
Vorwurf, daß ein innerlich zerriſſener Menſch durch einen plötzlichen Entſchluß zu einer Gee- 
reiſe gelangt, deren ungewöhnlich ſtürmiſcher Verlauf das Schiff auf dem Meere in einem 
Zuſtande zeigt, dem ähnlich, in dem das Lebensſchifflein des Neiſenden durch das Weltmeer 
gepeitſcht wird. Dadurch, daß das Schiff, das er damals benutzte, einige Jahre ſpäter wirt- 
lich im Sturme unterging, verknüpfte fid) dem Dichter diefe Kataſtrophe ſtark mit dem eigenen 
Erleben. Durch ein Kauffahrteiſchiff wird in „Atlantis“ der Schiffbrüchige gerettet; aber auch 
für ihn ſtimmt es, daß, wenn nun wirklich der Hafen erreicht wurde, dieſes für ſein eigenes 
gebrechliches Fahrzeug durchaus nicht der Hafen ſei. 

Diefe Rettung aus dem Lebensſchiffbruche und andererſeits die Urſache des Lebens- 
ſturmes hatte der Dichter hinzuzuerfinden. 

Sch weiß nicht, ob „Gabriel Schillings Flucht“ ſchon vor dem „Griechiſchen Frühling“ 
entſtanden war, oder ob, was wahrſcheinlicher iſt, die Reiſe nach Griechenland dem Drama, 
das der Dichter in (id) trug, erft zur Entbindung verholfen hat. In dem Drama ſpielt ja eine 
geplante Reiſe nach Griechenland eine große Rolle. Die Tatſache, daß Hauptmann dieſes 
Drama, deffen Niederſchrift auch 1907 erfolgte, fünf Jahre in der Schublade behielt, weil es 
ihm zu perſönlich war, gibt uns das Recht zu dem Schluſſe, daß auch hier ſtarke perſönliche 
Erlebniſſe ihren Ausdruck gefunden haben. Wenn fo für Hauptmann in einem ganz beträcht⸗ 
lichen Maße das Goetheſche Wort der „Gelegenheitsdichtung“ zutrifft, ſo ſicher nicht in jenem 
Punkte, der für Goethe beſonders charakteriſtiſch iſt, daß er ſich durch dieſe Verdichtung ſeines 
Erlebens von dieſem Erleben auch völlig „frei dichtete“. Denn eine Fülle von dem, was 
Hauptmann in „Gabriel Schilling“ ausgeſprochen und geſtaltet hat, kehrt in der „Atlantis“ 
wieder. Auch in „Gabriel Schilling“ wird die Bedeutung ber Jahrzehnteswende im Mannes- 
eben betont, von der es hier in „Atlantis“ heißt: „Es ſcheint, daß der Lebensgang ungewöhn- 
licher Männer von Jahrzehnt zu Jahrzehnt in eine gefährliche Kriſe tritt. In einer ſolchen 
Kriſe werden angeſammelte Krankheitsſtoffe entweder überwunden und ausgeſchieden, oder 
der Organismus, der ſie beherbergt, unterliegt. Oft iſt ein ſolches Unterliegen der leibliche 


162 Hauptmanns „Atlantis“ 


Tod, zuweilen aber auch nur der geijtige.“ (Sollte man bei einem Dichter nicht erwarten, 
daß er fagte: „fogar der geiſtige Tod“?!) Während es fid bei Gabriel Schilling um die 
Kriſe nach vierzig handelt, ſo hier um die nach dreißig, in der einſt Hauptmann ſelbſt ſeine 
Amerikafahrt unternahm. 

Aber die Parallelen zwiſchen den beiden Werken erſtrecken ſich auch auf Perſonen, ja 
auf eigenartige Bilder. Es taucht auch hier eine männergierige ruſſiſche Züdin auf, wie im 
Drama Hanna Elias. Ein Doktor Rasmuffen hat im Roman freilich mehr geſpenſtige Wir- 
tung und überträgt die im Drama gewahrte raſſenhygieniſche Bedeutung auf einen in Amerika 
weilenden, reichlich philiſterhaft geratenen Kollegen Schmidt. Von Bildern find manche Wen- 
dungen über die Farbe des Meeres übernommen, und auch jenes einprägſame Wort vom 
Rauſchen der Sturmwellen, das dem Tone gleicht, der „aus der Bruſt eines ungeheuren Stieres 
hervorröchelt und in wilder, furchtbarer Steigerung etwas Drohendes und zugleich etwas 
angſtvoll Warnendes hat“. Das ſtärkſte Bindeglied zwiſchen den beiden Werken aber liegt 
darin, daß das Meer wie ein Rahmen alles Geſchehen und Erleben umklammert, und daß 
alles in ſeinem Banne ſteht. Freilich iſt hier das Meer noch viel bedeutſamer; von ſeiner Kraft, 
ſeiner Friſche zehrt auch das Buch in allem, wo es gut und ſtark iſt. 

Ein Oreifaches hat ſich der Dichter zur Aufgabe geſtellt. Die Schilderung des Meeres 
als des gewaltigen Urelementes der Natur. Es wird uns faſt nur in der Gewalt der Erregung 
gezeigt. Kaum einige Pauſen, die freilich dann wie ein tiefes Aufatmen wirken, unterbrechen 
das durch alle Tonarten jagende Sturmlied. Gegen dieſe ungeheure Naturgewalt ſteht das 
Werk des Menſchen im Kampfe. Als der Reifende in dunkler Nacht plötzlich den hell erleuchteten 
Dampfer vor ſich auftauchen ſieht, heißt es gleich zu Beginn: „Noch nie hatte Friedrich vor der 
Macht des menſchlichen Ingeniums, vor dem echten Geiſte der Zeit, in der er ſtand, einen gleichen 
Reſpekt gefühlt, wie beim Anblick dieſer ſchwarz aus dem ſchwarzen Vaſſer ſteigenden rieſigen 
Wand. — Es war nicht möglich, angeſichts dieſer gigantiſchen Abenteuerlichkeit die Aberzeugung 
von der Nüchternheit moderner Ziviliſation aufrechtzuhalten. Hier wurde jedem eine ver- 
wegene Romantik aufgedrängt, mit der verglichen die Träumereien der Dichter verblaßten.“ 

Das [inb die beiden großen Lebenskräfte, die gegeneinander ringen. Gegen fie wirkt 
faſt kümmerlich der, der den kleinen, teden Dampfer zum Kampfe durch die aufgeregte Well- 
flut ſchickt: der Menſch. Die zahlreichen Menſchen, die das Schiff füllen, ſind zumeiſt klein 
und kleinlich. Hier bewährt Hauptmann aufs neue feine Kraft, mit wenigen Strichen Men- 
ſchen hinzuſtellen, ſeine unbedingte Sachlichkeit, auch ſeine Liebe zu den im Leben Geringen. 
Eine Dienſtmagd, die mit unendlicher Geduld die Launen ihrer Herrin erträgt, ijt das helden- 
hafteſte Weſen auf dem ganzen Schiffe; auch nachher beim Untergang. Ein wackerer Schiffs- 
junge wächſt uns ans Herz, der dem Kapitän in höchſter Not einen Rettungsgürtel auf die 
Brücke bringt. Daß das Heldentum dieſes Schiffsführers faſt ſelbſtverſtändlich wirkt, iſt eines 
der troſtreichſten Geiſtesgüter in unſerem kleinen Leben. 

Wirklich bedeutend iſt die Schilderung des Schiffsunterganges. Meiſterhaft iſt ſie vor 
bereitet. Alle Befürchtungen, Ahnungen machen wir durch, und doch bricht fie nachher mit 
der Tücke eines Blitzes herein. Das Niederbrechen des Koloſſes, bie lähmende Angſt nach dem 
Augenblicke, in dem die Stewards mit dem Rufe „Gefahr!“ in jeder Kabine das Licht ein- 
geſchaltet haben, danach die furchtbaren Szenen, die fid auf dem Schiffe und in den Rettungs- 
booten abſpielen — das iſt mit einer Sachlichkeit uud unbedingten Sicherheit des Ausdrucks 
hingeſtellt, für die man nur wenige Seitenſtücke aus der Literatur beibringen kann. In ſolchen 
Stüden liegt die Größe des Naturalismus. Schon Balzac, vor allem aber Zola, haben darin 
ihr Beſtes gegeben. Ein „Aber“, ein ſchwerwiegendes, bleibt aber doch beſtehen. Es iſt befon- 
ders rühmend hervorgehoben worden, daß der Untergang der „Titanic“ hier von Hauptmann 
mit höchſter Lebenswahrheit vorausgeſchildert worden ſei. Für den Dauerwert der Dichtung 
iſt es aber belanglos, ob die Schilderung vor oder nach dem Geſchehen geſchrieben worden iſt. 


Das Zublläum des Königlich Preußliſchen Generalintendanten 763 


So hat diefe Stelle Iden für den heutigen Lefer eigentlich nur die Bedeutung eines allerdings 
glänzenden Berichtes über ein Geſchehnis. Die eigentliche „Dichtung“ beginnt aber ſicher doch 
erſt jenſeits der — Reportage. 

Kalt läßt dagegen die Entwicklung des Schickſals Friedrichs von Kammacher, des Hel- 
den des Buches. Sein ganzer Zuſtand vermag nicht recht zu überzeugen. Daß ihn die Liebe 
zu der ſechzehnjährigen Ingigerd Hahlſtröm um den Verſtand gebracht, wird uns immer wie- 
der geſagt. Aber es fehlt jener Gluthauch der Leidenſchaft, der uns mitverſengen müßte. So 
vermag uns weiter Friedrichs Erliegen gegen die begehrliche Jüdin aus Odeſſa ebenſowenig 
aufzuregen, wie fein knurrig ertragenes Sklaventum gegen die kleine Tänzerin. Dieſer Wieder- 
holung von Pippa und Gerſuind, der Geiſel Kaiſer Karls, hat die betörende Tanzkunſt, die 
wir in den letzten Jahren mehrfach erleben durften, nicht genug Lockkräfte verliehen, um auch 
den Leſer in ihre Netze ſpinnen zu können. 

Die „Geneſung“ drüben in Amerika bleibt dann ganz äußerlich. Eine Rüderinnerung 
an Hauptmanns eigenes Leben ift, daß Friedrich es mit Bildhauerei verfudt. Daß er dann 
einem Fieber erliegen muß und die tüchtige Pflegerin ſeiner kranken Tage als Frau mit ins 
alte Europa zurüdnimmt, ijt doch für einen Hauptmann gar zu billig aus dem Requifiten- 
ſchranke einer abgebrauchten Romankunſt herausgeholt. 

Soll zum Schluſſe auch der Kritiker das Geſchehen in dieſem Roman zu Gerhart Haupt- 
manns Tun in Beziehung ſetzen? Friedrich von Kammacher iſt ausgezogen, um die betörende 
Schönheit Ingigerds fid) zu erobern; heim bringt er bie gewiß recht tüchtige, aber doch auch 
nur tüchtige Alltäglichkeit der Miß Eva Burns. Gerhart Hauptmann läßt das lockende Land 
Atlantis am Horizont erſcheinen und bringt daraus einen Unterhaltungsroman heim, der in 
einer Schilderungsepiſode ins Reich der Kunſt hinaufragt, in allem anderen einen braven 
Durchſchnitt jedenfalls nicht überſteigt. Bei den echten Prinzen aus Genieland geht es anders. 
Ihnen ergeht's wie Saul, der auszog, eine Eſelin zu ſuchen, und ein Königreich heimbrachte 


f. Et. 
£25 


Das Jubiläum des Königlich Preußiſchen 
Generalintendanten 


IN ge taf Hülſen ftand am Neujahrstage zehn Sabre an der Spitze der Königlichen Hof- 
($ theater. Alfred Holzbock, ber berufsmäßige Feſteverklärer der verbreitetſten deutſchen 
A Zeitung, troff von Freude, Ergebenheit und pofaunte aus übervollen Baden eitel 
5 der Deutſche Bühnenverein pries feinen Vorſitzenden, der dafür auch der „gutgefinnten 
Schauſpieler“ wohlwollend dachte, und im eigenen Haufe gab es mit den mehreren hundert 
Angeſtellten eine „Familienfeier“, die den für die Hülſenſche Regie charakteriſtiſchen Zug einer 
prunkvollen Sentimentalität nicht verleugnete. 

8d möchte dem Grafen Hülſen perſönlich bie Feſtesfreude nicht verderben, obwohl ich 
glaube, daß ſeine Perſon als ſolche an manchen Abelſtänden ſchuldig iſt, die dem höchſten und 
mächtigſten deutſchen Theaterbeamten vorzuhalten, das Gewiſſen gebietet. 

Graf Hülfens Macht iſt viel größer, als man gewöhnlich denkt. Noch herrſcht der Theater- 
leiter in feinem Reiche als abſoluter Herr über das künſtleriſche und ſoziale Leben der Ange- 
ſtellten, als abſoluter Herr auch über die Kunſt, die an dieſen Stätten gepflegt wird. Und da 
gehören zu Herrn Hülfens Reich außer der Königlichen Oper und dem Schauſpielhaus in Berlin 
die Hoftheater in Hannover, Raffel und Wiesbaden. Es ſtehen ihm alſo eine beneidenswerte 
Fülle von künſtleriſchen Kräften und der Kunſt geweihten Geldmitteln zur Verfugung, wie 
keinem zweiten Theaterleiter in der Gegenwart. 


764 Das Zubiläum bes Röniglih Preußiſchen Generalintendanten 


Ob es wirklich einen urteilsfähigen Mann gibt, der mit gutem Gewiſſen zu behaupten 
wagt, daß diefe rieſigen kuͤnſtleriſchen Mittel in den letzten zehn Jahren auch nur konſervativ 
würdig, geſchweige denn neuſchöpferiſch bedeutſam verwendet worden find? — 

Beſchränken wir unſere Betrachtung auf die beiden Berliner Bühnen, die der perſön⸗ 
lichen Leitung des Intendanten unterſtellt find. Auch in den wohlwollenden Jubiläums- 
artikeln war betont, daß des Grafen Liebe der Oper gehöre. Wer will ihm dieſe Vorliebe 
verargen? Aber ſie verpflichtet ihn in ſeiner Haltung zum Schauſpielhaus. Wenn ihn ſelbſt 
nichts zu dieſem zieht, [o gebe er hier einem tatkräftigen Manne Raum, deffen Liebe dem Schau- 
ſpiel gehört. Die Berufung des greiſen Paul Lindau an die Spitze dieſer königlichen Bühne 
war eine Farce, über die auch die ſanfteſten Gemüter nur mit nachſichtigem Lächeln quittieren 
konnten. Der Perſonalbeſtand des Königlichen Schauſpielhauſes wirtſchaftet zuſehends nach 
unten; aber auch mit den vorhandenen Kräften wird nach Möglichkeit nichts oder Verkehrtes 
geleiſtet. Wer geht noch gern ins Königliche Schauſpielhaus? Wer oder was zieht einen nach 
Matkowskys Tod noch hin? 

Za, was? Gibt es überhaupt noch eine zweite ernſte Bühne, deren Spielplan fo alle 
kuͤnſtleriſchen Abſichten vermiſſen läßt, wie diefe königliche? Über die „Verwaltung des Erbes 
der Klaſſiker“ wollen wir ſchweigen, — ich möchte den Vormund kennen lernen, der mit ihr 
zufrieden ſein könnte —, aber wie erfüllt dieſe Bühne ihre Pflicht gegen das Schaffen der 
Lebenden? Lindners ſeit einem Menſchenalter verrauſchte „Bluthochzeit“ war die „modernſte“ 
Leiſtung des vergangenen Jahres. Bei dem Feſteſſen zur Weihe der Stuttgarter Hoftheater 
rühmte Graf Hülfen, daß das Stuttgarter und etliche andere Hoftheater „vorurteilslos“ ein 
Geſamtbild des deutſchen dramatiſchen Schaffens widerſpiegeln könnten. 

Ver hindert den Grafen Hülſen an dieſer „Vorurteilsloſigkeit“? Der Kaiſer fidet nicht; 
ber ijt ihm ein fo gnädiger und voll vertrauender Herr, daß er den Darlegungen feines Inten- 
danten leicht zugänglich iſt. Beweis dafür die Aufnahme der doch in ſexuellen Dingen mehr 
als freien Opern von Richard Strauß in den Spielplan des Opernhauſes. Oder bie Rückſichten 
auf höfiſche Forderungen? Inwiefern ſollten neben Lauffs „Großem König“ nicht auch noch 
wertvolle Schöpfungen Platz haben? 

Wenn aber Graf Hülſen in der von ihm in Stuttgart betonten Spegialifierung der Ber- 
liner Theater ein Hindernis ſieht, weshalb erkieſt er ſeinem Theater nicht die wertvolle Gpe- 
zialität des Schauſpiels großen Stils, der Hiſtorie meinetwegen. Warum wählt er ausgerechnet 
den halbblöden Schwank für altjüngferliche Backfiſche? 

Auch in der ſozialen Kunſttätigkeit erfüllen die Königlichen Bühnen die ihnen durch ihre 
Stellung gebotene Pflicht nicht. Die paar ſogenannten Arbeiteraufführungen ſind wie ein 
Tropfen Waſſer auf einen heißen Stein. Andere Hoftheater und alle unter ſtädtiſcher Leitung 
ſtehenden Stadttheater leiſten in der Hinſicht mehr und Beſſeres, als die preußiſchen Hofbühnen, 
bie z. B. als einzige „Schüler“ ⸗Aufführung ber Herbſtferien ausgerechnet den „Großen König“ 
von Lauff herausbrachten. 

Und nun des Grafen Hülfen große Liebe: die Oper. Es gibt eine Liebe, die züͤchtigt 
und kaſteit. Daß es mit den gefangliden Leiſtungen der Hofoper immer abwärts geht, iſt die 
allgemeine Überzeugung. Der Grund liegt darin, daß die geeigneten Kräfte entweder nicht 
gewonnen oder die gewonnenen nicht feſtgehalten werden. Es iſt nicht wahr, daß das durch 
Dollarika unmöglich gemacht wird. Die Flucht unſerer guten Künſtler hat andere Gründe. 
Oder war auch Dr. Muck nicht zu halten, der eine ganz unſchätzbare Kraft geweſen — wäre, 
wenn man ihm die dem erſten Dirigenten zukommende Macht eingeräumt hätte? 

Für das Verſagen der Hofoper gegen das neuzeitliche Opernſchaffen hat ſich ſelbſt im 
preußiſchen Abgeordnetenhauſe kein Verteidiger gefunden. 

Auf welchen Bahnen aber die Regie wandelt, zeigt bie Neuinſzenierung des „Rhein 
golds“, bei der Wagners wichtigſte Forderung, daß Ton und Gebärde in Einklang ſtehen müffen, 


Gerhart Hauptmann, ber Tiberfelerte 765 


derart verhöhnt wird, daß man drei Balletteufen als Rheintöchter herumſchwimmen, die au- 
gehörigen Noten aber von Sängerinnen hinter den Kuliſſen fingen ließ. Oder foll die Cin- 
führung des Kientopps dieſes Verdienſt ſein? Die kinemathographiſch in Walhall einziehenden 
Götter! — wahrlich man müßte lachen, wenn's nicht ſo traurig wäre. ö 

Und da ſoll man womöglich freudig Jubiläen feiern! K. St. 


N 
Leſe 


Gerhart Hauptmann, der Qiberfeierte 


Hermann Kienzl wird mit feiner Würdigung Gerhart Hauptmanns (im Oezemberheft) 
auch ben wärmſten Verehrern des Dichters genug getan haben. Der Tüͤrmer braucht alfo tein 
Mißverſtandenwerden zu befürchten, wenn er hier einer Stimme Gehör gibt, die auch das Un- 
zulängliche an dem Vielgefeierten, dem „Überfeierten“, nicht unbeachtet laffen will. Sm „Ham- 
mer“ erwähnt F. Noderich-Stoltheim den „Triumphzug“ Hauptmanns, des „Nobelpreis- 
trägers“, nach Stockholm, ſeine Rückkehr über Hamburg uſw. und bemerkt dazu u. a.: 

„Jedenfalls können fid) die großen Dichter der Vergangenheit nicht rühmen, auch nur 
annähernd fo gefeiert worden zu fein, wie unfer Hauptmann“. Kein Goethe und kein Schiller, 
kein Shakeſpeare und kein Dante hat ſich bei Lebzeiten fold) überſchwenglicher Ehrung er- 
freut. Ja in früheren Zeiten ſtand die Anerkennung, die große Geiſter bei ihren Zeitgenoſſen 
fanden, faft immer im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Bedeutung ... Wie konnte es anders 
ſein! Die Geiſter, die die großen Markſteine auf dem Kulturwege der Menſchheit ſetzten, ſind 
jene Gewaltigen, die dem Marſche eine neue Richtung gaben, die das Verirrte in dem Geiftes- 
hange ihres Geſchlechts erkannten, der Gewohnheits-Anſchauung den Weg vertraten und mit 
mahnenden, oft mit barſchen und drohenden Worten nach einem neuen, beſſeren Ziele wieſen. 
Solche Störenfriede der fügen Gewohnheit, ſolche Verächter des Hergebrachten, ſolche Ver- 
höhner der Götzen ihrer Zeit waren immer unbequeme Nachbarn; und was fie Neues lehrten, 
erſchien den befangenen Gehirnen der Zeitgenoſſen fremd, unverſtändlich, ja feindſelig, un- 
erhört und wahnwitzig. Heißt es doch immer wieder: Und das Doll entſetzte fid) ob feiner Rede 

Darum wird ein kluger Kopf wie Hauptmann dieſe übermäßigen Huldigungen mit ge- 
teilten Gefühlen aufnehmen und jid) über ihre Bedenklichkeit nicht täuſchen. Der Dichter 
der „Verſunkenen Glocke“ beſitzt Lebensblick genug, um zu fühlen, daß die überſchwenglichen 
Lobgeſänge ſeiner Zeitgenoſſen beinahe — Verurteilungen feines Talentes bedeuten. ‚Hier 
unten im Tale klingt ſie, auf der Höhe aber klingt ſie nicht.“ 

Gewiß iſt Hauptmann nicht ein bloßer Schmeichler ſeiner Zeit; er hält ihr wohl den 
Spiegel vor, um ihre Irrtümer zu zeigen; aber über das Spiegelbild kommt er nicht hinaus; 
er zeigt uns nicht den Weg in reinere Gefilde ...“ Auch ein Shakeſpeare hat es nicht verſchmäht, 
in eindrucksvollen Augenblicken durch den Mund ſeiner Helden eigene Weisheit zu verkünden: 
„Wo aber weiß uns Hauptmann etwas Bleibendes zu fagen? — ein echtes Bekenner 
Wort mitzugeben, das für uns einen geiſtigen Gewinn bedeutet und das zugleich Zeugnis 
dafür ablegt, daß der Dichter ein Herz hat für fein Volk und feine tiefen 
ſeeliſchen Nöte? 

Hauptmanns Dichtungen laffen ſamt und ſonders einen großen befreienden Zug ver- 
miſſen; alle dieſe Helden gehen in den Verſtrickungen des Lebens kläglich zugrunde. Kläglich 
endet der Glockengießer, kläglich der Fuhrmann, klaͤglich Rofe Berndt, kläglich Florian Geyer, 
kläglich Emanuel Quint. Keiner von allen bricht ſich ſiegreich Bahn; keiner wird der Erbärm- 


766 Die Uraufführung von Körners Bring” 


lichkeit Meiſter; ja fie machen kaum einen ernftlihen Verſuch dazu. Alle fügen fid) fataliſtiſch 
und Meinmütig in das unabwendbar ſcheinende Verhängnis. Hauptmanns Dichtungen lehren 
— vielleicht unbewußt: Das Leben ijt ein unentwirrbares Gewebe von Trug, Noheit, Nieder- 
tracht, Dummheit und Vorurteil, und es bleibt dem Menſchen nichts anderes übrig, als hilf⸗ 
los darin unterzugehen. So könnte man Hauptmann den Dichter des Piſſimismus nennen, 
den Darfteller des ſinkenden Lebens. Echtes Leben aber will aufſteigen, und wahre Kunſt foll 
ihm helfen, den Weg zum Aufſtieg zu finden. Kunſt foll leben-fördernd, leben- erhöhend wirken. 
Darum find nur die Anreger des aufſteigenden Lebens wahre Dichter und Künſtler, von wirt- 
lichem Wert für Nation und Menſchheit ... Die bloßen Kopiſten der Wirklichkeit find uns 
keine Künſtler höheren Grades, mögen fie auch in techniſchen Fertigkeiten der Darſtellung noch 
ſo große Meiſterſchaft entfalten, uns noch ſo bunte und beſtrickende Bilder vorgaukeln; wir wollen 
nicht bloß glitzernde Steine ſehen, wir verlangen nahrhaftes Brot für die hungernde Seele. 
Wir wiſſen, die Kunſt mag fid) nicht gern Vorſchriften machen laffen; fie lehnt es ab, bejtimm- 
ten — z. B. moraliſchen — Zwecken zu dienen; und doch: wenn ſie mehr ſein will als ein Mittel 
der Unterhaltung und Berauſchung, mehr als ein Reiz- und Genußmittel, was kann fie Edle- 
res vollbringen, als den Menſchen innerlich erquicken, erheben, begeiſtern, aufrichten, ihm 
neues Vertrauen und neuen Mut zum Leben eingubauden? ... 

Der Stifter des Nobelpreiſes für Literatur hat die Beſtimmung getroffen, dasjenige 
literariſche Werk auszuzeichnen, das am meiſten durch hohe ideale Tendenz hervorragt. Er- 
füllen die Hauptmannſchen Werke dieſe Forderung? ... 

Es iſt gewiß bequemer, ſich den herrſchenden Mächten zu fügen, denen zu huldigen, 
die goldenen Lohn und Lorbeeren auszuteilen vermögen: jedoch — war es nicht allezeit der 
Beruf des echten Dichters, die Fadel voranzutragen auf dem Wege zur Befreiung aus bunt- 
len Geiſteskerkern, aus Tyrannei und Knechtſchaft? Es iſt heute wohlfeil, ſpottend die alten 
Autoritäten zu begeifern, die längſt keine Macht mehr beſitzen, Tyrannen zu ſtürzen, die keine 
mehr find, hingegen denen willfährig zu fein, die — wenn auch unter der Maske der Freiheits- 
bringer — dennoch nichts anderes ſind als neue Volksbedrücker und Volksbetrüger. 

Das iſt es, was einen Hauptmann — und manchen anderen — von der Seele ſeines 
Volkes ſcheidet und die echte Liebe nicht aufkommen läßt. Das iſt es, was uns mit tiefem Schmerz 
an den dichteriſchen Talenten unſerer Tage verzagen läßt.“ 


* * 
R 


Die Uraufführung bon Körners Briny“ 


Vor hundert Jahren, am 30. Dezember 1812, fand im Theater an der Wien die erfte 
Aufführung von Körners „Zriny“ ſtatt, bei der Toni Adamberger, die Braut des Dichters, 
die Helene gab. Das Stück, das ſich bis heute auf der Bühne behauptet hat, fand damals vor 
allem um der zeitgenöſſiſchen Anſpielungen willen eine begeiſterte Aufnahme. Körner ſelbſt 
berichtet am Neujahrstage 1813 feiner Familie, daß er, zum Schluß an die Rampe gerufen, 
eine Anſprache an das Publikum gehalten habe, das die gegen die napoleoniſche Zwing⸗ 
herrſchaft gerichtete Tendenz des Stückes nur zu gut verſtand. Dennoch ſchwebte das Stück 
einen Augenblick lang in Gefahr: bei der Szene nämlich, in der Zuranitich feine Helene etwas 
kaltblütig niederſticht. Ein allgemeines Ziſchen bekundete an dieſer Stelle das Mißfallen der 
Zuſchauer und Körner ſelbſt geſteht: „Sch leugne es nicht, der Eindruck war ſelbſt für mich 
nicht ohne geheimen Schauer.“ Bei den literariſchen Größen der Zeit hatte „Zriny“ ſchon 
vor der Aufführung lebhafte Anerkennung gefunden. W. v. Humboldt und Fr. Schlegel, 
denen Körner das Stück vorgeleſen, hatten mit Beifall nicht gekargt, und auch Goethe hielt 
mit feiner Anerkennung nicht zurück, wenngleich er als Minifter und Theaterleiter „in politi- 
ſcher und theatraliſcher Rüdfiht manches dabei zu bedenken“ fand. 


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Gum Neubau des Königlichen Opern⸗ 
hauſes in Berlin Won Dr. Karl Storck 


wei große Säle des Anhalter Bahnhofs, in die der Lärm der ein- 

und ausfahrenden Züge wie aus einer fremden Welt hereinbrauſt, 
2 ſind mit den Entwürfen und Skizzen angefüllt, die der erweiterte 
Wettbewerb für den Bau des neuen Königlichen Opernhauſes hervor- 
gerufen hat. Rieſige Mappen am Fuß der Wände bergen die Einzelſkizzen, für die 
die Wände ſelbſt keinen Raum mehr boten. Die beigehängten, zum Teil febr aus- 
führlichen Erläuterungsſchriften bekunden den Eifer, mit dem ſich die deutſche 
Architektenwelt in die Aufgabe verſenkt hat. Das ijt begreiflich. Es dürften Jahr- 
zehnte vergehen, bis wieder eine ſo große Aufgabe monumentaler Profanarchitektur 
geſtellt wird. Achtundſechzig Entwürfe hat dieſer Wettbewerb gezeitigt, zu denen 
noch die vier und ſieben aus den engeren Wettbewerben der Jahre 1910 und 1912 
hinzukommen. Die Ergebniſſe des neuen Wettbewerbs zeigen, wie ſehr jene im 
Rechte waren, die eine möglichſt weit geöffnete Konkurrenz für den einzig richtigen 
Weg gehalten haben. 

Leider verdient ja auch dieſer letzte Wettbewerb nicht die Bezeichnung eines 
wirklich freien und öffentlichen, denn es waren vom Bauminiſterium derartig 
enge Vorſchriften erlaſſen, und aus der amtlichen Beurteilung der früher ein- 
gelaufenen Entwürfe ergaben ſich ſo viele beſtimmte Anweiſungen und eigentlich 
bereits ſo weitgehende Entſchlüſſe, daß ein wirklich freies, großzügiges Schaffen 
nicht möglich war. Man kann aus zahlloſen Einzelheiten ſchließen, daß, wenn 
man, wie es doch eigentlich das Natürliche war, zu allererſt einen möglichſt weiten 
Spielraum laſſenden Wettbewerb ausgeſchrieben hätte, es ſicher zu eigenartigen 
und bedeutſamen Löſungen des Problems gekommen wäre. Dann war es ja 
immer noch Zeit, an die einſchränkenden Bedingungen zu denken und zu ſchauen, 
wie unumgängliche Forderungen der Praxis mit dem künſtleriſchen Gedanken ſich 
vereinigen ließen. Im allgemeinen iſt es aber doch natürlich, daß eine wirklich 
künſtleriſche Geftaltung eines Bauproblems zugleich eine Löſung der praktiſchen 
Aufgaben in ſich ſchließen muß, wenigſtens ſoweit dieſe weſentlicher Art ſind. 


768 Stora: Zum Neubau des Königlichen Opernhauſes in Berlin 


Indes, das Verſäumnis iſt nun nicht mehr gutzumachen. 

Oder vielleicht doch? 

Die große Zahl der Beſucher, die bereits in den Vormittagsſtunden ſich in 
den Ausſtellungsräumen drängte, beweiſt, daß dieſe Opernhausfrage aus einer 
Angelegenheit des Hofes, des Miniſteriums und allenfalls der Architekten in 
ſteigendem Maße zu einer Sache des Volkes wird. Die moderne Architektur hat 
im letzten Jahrzehnt ſo manche eigenartige Leiſtung vor die Augen der breiteſten 
Offentlichkeit gerückt, hat fo erſichtliche Zeugniſſe eines tiefen Ringens mit den ver- 
ſchiedenartigſten Problemen erzeugt, daß es ein Wunder wäre, wenn die Allgemein- 
heit nicht aus ihrer bei uns in Deutſchland eigentlich Jahrhunderte alten Gleich- 
gültigkeit gegen architektoniſche Aufgaben wieder erwachte. Denn ſchließlich ijt 
es die Architektur, in der ſich am einſchneidendſten, offenkundigſten und vor allen 
Dingen am nationalſten, im hohen Sinne einer das ganze Volk angehenden Frage, 
künſtleriſches Raumempfinden offenbart. Und die Architektur iſt es, die ſeit ein 
bis zwei Jahrzehnten am ſichtbarlichſten von allen Künſten, am ernſteſten und 
ſtärkſten (ſchon infolge ihres der Spielerigkeit abholden ſchweren Materials) das 
Denken und Fühlen der Gegenwart, das Bedürfen der heutigen Zeit in künſtleriſche 
Formen zu zwingen ſucht. 

Nun ift ein Opernhaus an fid) ja kein neuzeitlicher Gedanke. Und ein Rönig- 
liches Opernhaus am allerwenigſten. Gerade bei einem Königlichen Opernhauſe 
muß eigentlich wie von ſelbſt das zurücktreten, was im Gedanken des Opernhauſes 
volkstümlich iſt, inſofern der Volksfeſtſpielgedanke Richard Wagners, deſſen Werke 
heute jedes Opernhaus beherrſchen, Geſtaltung finden ſoll. Selbſt in einem ſo 
gut demokratiſchen Lande wie Württemberg konnte man ſich beim Bau des neuen 
Opernhauſes nicht zu jener Löſung im Amphitheaterſtil entſchließen, in der geiſtig 
die Einheit eines Volkes von Zuſchauern und das Einswerden dieſes zuſchauenden 
Volkes mit dem dargeſtellten Kunſtwerke am eheſten und vollkommenſten zum 
Ausdruck kommt. In Berlin wagte man deshalb an eine ſolche Löſung von vorn- 
herein gar nicht zu denken. Andererſeits muß man doch auch gerecht ſein. Es 
gibt nicht nur Schauſpiele auf der Bühne, es gibt auch Schauſpiele des Lebens, 
und wir follen diefe letzteren nicht unterſchätzen. Wenn ein Volk wie die Eng- 
länder, das ſeit Jahrhunderten eine Höhe des bürgerlichen Gedankens erreicht hat, 
an die wir in Deutfdland noch kaum zu denken wagen, mit einer ſelbſt auf 
uns Oeutſche manchmal komiſch wirkenden Angſtlichkeit an altüberlieferten Prunk 
formen alles öffentlichen Lebens feſthält, ſo ſollte man darin nicht eine Marotte 
ſehen, ſondern angeſichts der ungeheuren Lebenstüchtigkeit und einzigartigen Welt- 
klugheit des diefe Bräuche hegenden Volkes fid) fragen, ob nicht hier aus Bewußt 
fein oder Inſtinkt unerſetzbare Werte feſtgehalten werden. 

So ſcheint es mir auch verkehrt, den Glanz und Prunk des höfiſchen Lebens 
allzu gering einzuſchätzen, ganz abgeſehen davon, daß das Weſen des monarchiſchen 
Gedankens es gebietet, daß von Zeit zu Zeit der Träger dieſes Gedankens jenen 
Glanz, jene Fülle des Reichtums zur Schau trägt, die, wie das Märchen der ganzen 
Welt beweiſt, in der Phantaſie jedes Menſchen unzertrennlich vom Begriffe des 
Königtums iſt. Auch die dem Menſchen natürliche Feſtesfreude ſcheint mir zu ge- 


Store: Zum Neubau des Königlichen Opernhauſes in Berlin 769 


bieten, daß man danach trachte, Gelegenheiten zu ſchaffen, bei denen fidh dieſer 
feſtlich-ſinnliche Glanz, diefe hochgeſpannte Freudigkeit eines fidugehoben dünkenden 
Lebens auch einmal mit den Mitteln des Reichtums offenbaren kann. Nun iſt 
eine große und wichtige Seite des Theaters Ausfluß gerade dieſer Prächtigkeit, 
dieſer reichen Feſtlichkeit des Lebens. Sie ſteht an geiſtigen und ſeeliſchen Kräften 
entſchieden weit zurück hinter jener Feſttäglichkeit, jener Feierſtimmung, aus der 
heraus unſere Größten das Theater ſich als Tempeldienſt, die in ihm geübte Kunſt 
als eine Art höchſten Gottesdienſtes dachten. Aber von einem hohen Schönheits- 
werte und doch auch einer prächtigen Leuchtkraft für unſer ganzes Leben kann 
auch jene Theaterfeſtlichkeit fein, die Ausdruck ift eines verfeinerten Lebensgenuſſes, 
einer in hellen Farben glühenden geſellſchaftlichen Kultur. Ich denke, die Zukunft 
muß uns Feſtſpielhäuſer bringen. In je höherem Maße das Volk als Geſamtheit 
danach trachten wird, ſich die dramatiſche Kunſt als Ausdruck und Erhöhung ſeines 
Lebens dienſtbar zu machen, um ſo raſcher müſſen Bauwerke entſtehen, die dieſen 
Zielen dienen. Aber warum ſoll neben dieſem Volkstheater höchſten Stils nicht das 
Geſellſchaftstheater beſtehen bleiben, wie es ſich ſeit der Renaiſſance entwickelt hat, 
wie es ſeine vornehmſte Ausgeſtaltung ganz naturgemäß im Hoftheater erfuhr? 

Gerade aus meinem, wie ich wohl ſagen darf, urvolkstümlichen und wohl 
auch ſtark demokratiſchen Empfinden heraus, dem die Monarchie weſentlich aus 
praktiſchen und hiſtoriſchen Gründen als die gebotene Staatsform des deutſchen 
Vaterlandes erſcheint, glaube und hoffe ich, daß wir Deutſche zu einem Staats- 
bürgertum uns entwickeln müſſen, das, gleich dem engliſchen, aufrechten Stolz und 
freiheitlichen Sinn des einzelnen Bürgers mit der ehrfürchtigen Liebe und dem 
Stolze für die Perſon des Trägers der Monarchie verbindet. Und ich meine, gerade 
aus einem ſolchen Empfinden heraus wird eine Zukunft mit freudigeren Augen, 
als es in unſerer heutigen Übergangszeit möglich iſt, auch einen äußeren Glanz, einen 
feſtlich repräſentativen Charakter bei allen jenen Gelegenheiten zu ſchätzen wiſſen, 
die den Monarchen mit dem Volke in feſtliche, nicht politiſche Verbindung bringen. 

So habe ich gar nichts dagegen einzuwenden, daß beim Neubau des Ber- 
liner Königlichen Opernhauſes in fo ſtarkem Maße der Nachdruck auf das Rönig- 
liche gelegt wurde. Nicht weil die Krone Bauherr iſt, weil ſie zu einem großen 
Teile die Baukoſten trägt, ſondern aus dem oben entwickelten Gedanken heraus 
ſcheint es mir eine ganz natürliche Löſung dieſer Aufgabe, wenn uns hier ein 
„Opernhaus des Königs“ erſtellt wird. 

Aber ich glaube, daß von jenen, die ſich zur Wahrung dieſes Königtums 
berufen dünkten, von der Intendanz und von dem Königlichen Bauminiſterium, 
der Gedanke dieſes Königlichen Opernhauſes falſch aufgefaßt und dementſprechend 
die bautechniſche Aufgabe falſch geſtellt worden iſt. Sie haben ſich auf einen Abfolu- 
tismus zurückgeſchraubt, der ſelbſt im Zeitalter des abſoluten Königtums baulich 
kaum ein einziges Mal fo ſchroff zum Ausdruck gekommen ijt, wie es hier ver- 
langt wird, und der infolgedeſſen jenen Glanz der Monarchie unmöglich macht, 
ber für uns Menſchen von heute allein erträglich und darüber hinaus auch er- 
wünſcht ijt. Und fo ift es denn auch bezeichnend, daß für alle eingereichten atdji- 


tektoniſchen Entwürfe, ohne Ausnahme, dieſe Forderungen des ee 
Der Türmer XV, 5 


770 Store: Zum Neubau des Königlichen Opernkaufes in Berlin 


zur Klippe für eine künſtleriſche Löſung wurden, daß hier in ſämtlichen Entwürfen 
die Schwäche des Gedankens, die Unmöglichkeit, ihn mit den ſonſtigen Forderungen 
künſtleriſch zu verbinden, ſchlagend in die Augen ſpringt. Ich halte es für den 
Ausfluß jener in den letzten Jahrzehnten fo bedauerlich gewachſenen ſervilen, 
byzantiniſchen Geſinnung, die der gefährlichſte Feind des monarchiſchen Gedankens 
bei uns iſt, wenn hier in dieſem neuen Opernhausbau für den Hof ein Syſtem von 
Sondereingängen, Sondertreppen geſchaffen wird, als ſei es die Hauptaufgabe, 
den Monarchen vor jeder Berührung mit dem Volke zu ſichern. Dieſe Forderungen 
ſind ſo als unumgängliche Vorbedingung für die Entwürfe aufgeſtellt worden, 
daß keiner der Architekten ſie zu umgehen wagte, und daß nun alle in der üblen 
Notlage ſind, für das Publikum, das doch jahraus, jahrein in einer Zahl von täglich 
zweitauſend und mehr Beſuchern das Haus füllen und ſein Beſtehen ermöglichen 
ſoll, Zugangsformen zu wählen, die an ſich unzulänglich, unſchön und unfreudig 
ſind, im Vergleich mit dem doch verhältnismäßig ſelten benutzten feſtlichen Aufgange 
für den Hof aber geradezu verbitternd und empörend wirken müſſen. 

Ich weiß ganz beſtimmt, daß etwas derartiges gewiß nicht in der Abſicht des 
Kaiſers liegt, weil es feiner Natur durchaus widerſpricht. So herriſch, fo abfolu- 
tiſtiſch meinetwegen Kaiſer Wilhelm ſich gelegentlich ausgedrückt hat, — ſeine 
ganze Freude an kaiſerlichem Pomp, an Prachtentfaltung, an feſtlichen Aufzügen 
zeigte immer den Zug nach Öffentlichkeit. Und es laſſen ſich Dutzende von Zeug- 
niſſen dafür anführen, wie er gerade durch die Teilnahme weiterer Kreiſe an feft- 
lichen Veranſtaltungen erfreut wird, wie es ihm auf die Mitwirkung einer größeren 
Geſamtheit zum feſtlichen Eindruck ankommt. Wozu alſo ein hermetiſcher Abſchluß 
des Monarchen von den übrigen Beſuchern des Opernhauſes, wie er wohl kaum 
dem geängſteten ruſſiſchen Kaiſer in den Sinn kommen dürfte? 

Es iſt aber auch leicht einzuſehen, daß dieſe architektoniſche Anordnung einen 
wirklich großzügigen feſtlichen Prunk unmöglich macht, gerade weil auf dieſe Weiſe 
kein Raum entſteht, in dem ein großes feſtliches Zuſammenwirken von Hof und 
Beſucherſchaft des Hauſes möglich iſt. Denn man wird die wenigen Minuten vor 
Aufgang des Vorhangs im Zuſchauerraum ſelbſt nicht als eine ſolche Gelegenheit 
rechnen können. Dieſer Grundirrtum eines übereifrigen Hofſchranzentums, dem 
es ſelbſtverſtändlich ein leichtes ijt, an der Hand von Plänen dem Monarchen 
die Schönheit derartiger Anlagen einzureden, iſt um ſo befremdender, als bereits 
vor einem halben Jahrhundert dieſer leitende Grundgedanke einer kaiſerlichen 
Prachtentfaltung im Theaterraum eine geradezu beriidend ſchöne Löſung ge- 
funden hat. 

Der aus dem Wettbewerb für die Große Oper in Paris im Jahre 1860 
ſiegreich hervorgegangene Entwurf von Charles Garnier hat nicht umſonſt den 
jubelnden Beifall des doch gerade für feſtliche Aufzüge beſonders glücklichen Hofes 
des zweiten Kaiſerreiches gefunden. Noch heute bildet das Treppenhaus dieſes 
Opernhauſes mit den darum gelagerten Foyers bei den doch in beſcheidenen Grenzen 
gehaltenen Empfängen der Republik in der Zuſammenwirkung der feſtlichen Zu- 
ſchauerſchaft mit der einziehenden Feſtgeſellſchaft einen Anblick weltlicher Pracht 
und Feſtfreudigkeit von unvergeßlicher Eindruckskraft. Und wenn irgendwo, emp- 


Stora: Zum. Neubau bes Röniglichen Opernpaufes in Berlin 771 


finden die für ſolche Feſtkultur beſonders begabten Franzoſen bei dieſen Anläſſen, 
wie ſehr ihnen ein Hof fehlt. Denn nach dieſem als Mittelpunkt verlangt der Raum, 
verlangt dieſes feſtlich gekleidete, dekorativ eingeſtimmte Publikum. Man brauchte 
gewiß nicht in den übertriebenen Prunk dieſer Pariſer Räume zurückzuverfallen, 
aber gerade ihre Anlage iſt eine meiſterhafte Erfüllung deſſen, was für den re- 
präfentativen Gedanken eines Opernhauſes des Königs gefordert werden kann, 
zumal dieſe ſo glänzend feſtliche Löſung auch dem Publikum das Recht werden läßt, 
das ihm gebührt. Das Publikum der königlichen Theater von heute iſt nicht mehr 
eine geduldete Zuhörerſchaft; ſie hat ſich für teures Geld den Eintritt in das Haus 
gekauft. Ohne ihre Mitwirkung vermöchte auch der reichſte König heute ſich den 
Luxus eines Opernhauſes nicht zu geſtatten. 

Wie kommt man nun dazu, dieſem Publikum eine Anlage eines ſolchen 
Bauwerkes anzubieten, die ihm auch bei Abweſenheit des Hofes einen wirklich 
feſtlichen geſellſchaftlichen Verkehr unmöglich macht? 

Oer Architekt Brurein ijt, um wenigſtens dieſem Übelftande zu begegnen, 
auf den Gedanken verfallen, ein, wenn ich mich nicht irre, im Kaſſeler Hoftheater 
gebotenes Beiſpiel in größerem Maßſtabe auszuführen und die Geſamtheit der 
für ben Hof beſtimmten Räume als eine Art Zwiſchenſtockwerk zwiſchen Parkett 
und erſten Rang in die ganze Anlage einzuſchieben. Auf dieſe Weiſe führt er auf 
der einen Seite die Abſonderung aufs höchſte und ermöglicht doch auf der anderen 
dem Publikum im Znneren einen ungehemmten Verkehr durch die ganzen Ge- 
ſchoſſe. Aber die Anerkennung für dieſe im Programmentwurf gar nicht vor- 
geſehene Löſung der geſtellten Aufgabe verhindert nicht, daß gerade ſie zeigt, 
wie ungeſund — etwa an die kranken Abſonderungsbeſtrebungen des unglüdlichen 
Bayernkönigs Ludwig erinnernd — der ganze Plan iſt. Es bleibt die Hoffnung, 
daß die erſichtlich wachſende Teilnahme weiteſter Kreiſe für dieſen Opernhausbau 
die Erkenntnis dafür bringen wird, wie ſchwer der offizielle Programmentwurf 
gegen den inneren Gedanken eines wirklich königlichen Hauſes ſich verfehlt. Daran 
müßte ſich bei den bevorſtehenden Verhandlungen im Abgeordnetenhauſe die 
Forderung knüpfen, daß Entwürfe einverlangt würden, die von dieſer in jeder 
Beziehung hemmenden Bedingung frei find. Ich bin der feſten Überzeugung, 
daß wir dann Löſungen erhalten werden, die gegenüber den jetzigen als Erlöſung 
wirken. 

Wenden wir uns nun den Entwürfen ſelbſt zu, ſo iſt gewiß keiner darunter, 
der ſo überzeugend wirkte, daß man ſich zu dem Ausruf gedrängt ſähe: Dieſer 
oder keiner. Aber es ſind einige bedeutende Leiſtungen da, die, ſo wie ſie ſind oder 
wie ſie bei weiterer Durcharbeit werden können, jedenfalls das aus den früheren 
Wettbewerben Hervorgegangene weſentlich hinter ſich laſſen. Den geſchloſſenſten 
Eindruck hat auf mich gemacht der Entwurf Otto Marchs. Die geſamte Lebens- 
arbeit dieſes ehrlichen Künſtlers hat niemals eine reiche Phantaſie oder kühne 
Schwungkraft vorzutäuſchen geſucht, die nun einmal dieſem verdienten Manne 
fehlen. Aber man muß ſehr weit zurückgehen, um ein ſo beredtes Beiſpiel dafür zu 
finden, wie eine ſtrenge Sachlichkeit in Verbindung mit edlem Geſchmack und reifem 
Können Bedeutendes zu ſchaffen vermag. March beſitzt vor allen Dingen ein un- 


712 Storck: Zum Neubau des Königlichen Opernhaufes in Berlin 


bedingt ſicheres Raumgefühl, und aus dieſem heraus war er denn auch beſtrebt, 
dem Königsplatz, der in feinen ungeheuren Maßen trotz Reichstagsgebäude, Sieges 
ſäule, Bismard- und Moltke-Denkmal noch immer kein beherrſchter Platz, ſondern 
nur eine umgrenzte Fläche iſt, zum Platz zu geſtalten. 

Er hat deshalb die vorgeſchlagenen Mietshäuſer, die zu beiden Seiten des 
Opernhauſes erſtehen und mit dieſem architektoniſch verbunden werden follen, ver- 
worfen, an ihrer Stelle große Saalbauten, für die Berlin ja Bedürfnis genug hat, 
vorgeſehen, und außerdem denkt er an einen Monumentalbau in der Bismarckſtraße, 
der dann das Bindeglied zwiſchen Reichstagsgebäude und Opernhaus werden 
würde. Die ganze Anlage erhält jo etwas ungemein Überzeugendes, in dem Bau 
ſelbſt kommt ein trefflicher preußiſcher Geijt architektonisch zu ſchönem Ausdruck. 
Als Geſamtanlage hat mich kein anderer Entwurf derartig zu befriedigen vermocht. 

Bei dem oben erwähnten Brurein zeigt der Hauptbau manchen gewinnenden 
Zug. Aber die beiden Seitenhäuſer wirken auch künſtleriſch als ſolche ſchwarze 
leere Flecken, wie ſie auf der einen Skizze dargeſtellt ſind. Feine Einzelheiten im 
Architektoniſchen zeigt Albert Geßner. Gerade ſolche Anregungen im einzelnen 
dürften bei der endgültigen Ausführung wohl benutzt werden. 

Es hat ja nun keinen Zweck, hier die vielen Entwürfe, die von ehrlichem 
Können zeugen, aufzuzählen. Der feſtlichſte, im guten Sinne impoſanteſte Ent- 
wurf ſtammt vom Kölner Theaterbaumeiſter Moritz. Auch Dülfers Entwurf macht 
tiefen Eindruck, doch habe ich das Gefühl, als habe ſich der oft bewährte Baumeiſter 
durch das Beſtreben, das Gegenſtück zum Reichstagsgebäude zu ſchaffen, vor 
allem im krönenden Aufbau des Bühnenhauſes zu ſehr behemmen laſſen. Für 
das Innere bringt die wertvollſten Neuerungen zweifellos der Entwurf von Richard 
Seel. Die Verbeſſerungen im Inneren gegen die urſprünglichen Pläne des Mini- 
ſteriums müſſen da jedem in die Augen ſpringen. Auch das Außere verrät in allem 
den bedeutenden Architekten. Da er ſelber betont, daß ihm die Zeit gefehlt habe, 
dieſes Außere durchreifen zu laſſen, ſo gehört er entſchieden zu den Berufenſten 
für die Löſung dieſer Aufgabe. Ganz undenkbar erſcheint einem neben dieſen 
Leiſtungen die ſchulmäßig korrekte Arbeit Grubes, die bei dem letzten Wettbewerb 
vom Miniſterium ſo auffallend in den Vordergrund geſchoben wurde. | 

Mag man fid) nun zu den Ergebniſſen im einzelnen ftellen wie man will, 
das eine bat dieſer zweite Wettbewerb unbedingt erbracht, daß es ein unverzeihliches 
Verhängnis geworden wäre, wenn, wie es doch ficher in ben Wünſchen des Mini- 
ſteriums lag, man fid) mit dem vorigen engeren Wettbewerb begnügt hatte. Überall 
erkennt man die Fortſchritte, die das längere Reifen der Pläne gebracht hat. Ich 
meine, in dieſer Tatſache liegt die dringende Mahnung, nun die Geduld nicht zu 
verlieren. Denn (don tauchen da und dort Stimmen und Notizen in der Preſſe 
auf, die nach tunlichſter Beſchleunigung verlangen. Es iſt ja gar nicht wahr, daß 
der Neubau des Opernhauſes ſo unerträglich dringend notwendig iſt! Auch für 
die Bedürfniſſe des Publikums ift dank dem Deutſchen Opernhauſe in Charlottenburg 
vom nächſten Jahre ab, wo auch dieſes Wagner aufführen darf, jetzt in einer Weiſe 
geſorgt, wie es ſeit Jahrzehnten nicht der Fall war. Wir, die Offentlichkeit, können 
alſo recht gut ein, zwei Jahre länger warten. Und ich meine, der Hof kann es auch, 


Graf Georg von Rofen | 713 


denn für Repräſentationszwecke bat der alte Knobelsdorffſche Bau immer feine 
Schuldigkeit getan. Afo man über[türge nicht. Man erwäge vor allen Dingen 
auch noch jene grundſätzliche Anderung des Baugedankens, die den Kernpunkt 
dieſer Ausführungen bildet. Und dann laſſe man auch noch dem Architekten, dem 
ſchließlich die Aufgabe zuerteilt wird, Zeit, feine — wie das bei einem Preisaus- 
ſchreiben natürlich iſt — in Haſt hingeworfenen Pläne gründlich durchzudenken 
und in ſich ſelber ausreifen zu laſſen. Es kommt wirklich auf ein, zwei Jahre längeres 
Warten nicht an. Aber hilflos ſtehen wir nachher vor einer übereilten Arbeits- 
leiſtung da. Wir haben im neuen Berlin gerade genug Monumentalbauten, deren 
Entfernung weſentlich dazu beitragen würde, Berlin jener kaiſerlichen Verſicherung, 
daß es noch einmal die ſchönſte Stadt werden wird, näherzubringen. Es iſt an der 
Zeit, nun auch poſitive Leiſtungen für dieſe Entwicklung aufzubringen. 


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Graf Georg von Roſen 


(Zu ſeinem 70. Geburtstag) 


Oy Ki in wirklicher Künſtler ift immer einfam. Er ſchafft ja nicht für ſeinesgleichen. Die, 
(a C 9,8 die in der Kunſt Erbauung fuden, find met vom Treiben des Alltags zerſtreut, 

erarbeitet. Nur felten zu ſtiller Beſchaulichkeit kommend, haben fie vielleicht ſchon 
die jedem Menſchen angeborene Fähigkeit, das Große mit heiligem Schauer zu empfinden, 
verlernt oder gar überhaupt niemals gepflegt, unb in dem Bewußtſein ihrer eigenen Schön- 
heitsgefühl-Unſicherheit laſſen ſie ſich daher lieber anſichts- und urteilslos von dem Geſchmacke 
der Maſſe, von der Mode des Tages mitziehen. Die Großen, Einſamen aber, die da mit vollen 
Händen ausſtreuen, was ihnen ihr inneres Auge zeigt, ihre erdenſtaubüberhobene Künſtlerſeele 
zuflüſtert, — ſie müſſen warten, bis, vom Gegenwartstrubel überſättigt, ſich die Menge wieder 
verteilt, vor einander flieht und in die Einſamkeit flüchtet. 

Dann iſt der Zeitpunkt gekommen, wo der Welt auf einmal die Augen aufgehen für 
die wahre Kunſt, und man gräbt ſie nun wieder aus, die von der Lärmtrommel des Tages ſo 
lange Überfchrienen: einen Rembrandt z. B., an dem feine Landsleute einſt mit Gleichgültigkeit 
vorbeigegangen waren, einen Hobbema, der es ſchließlich vorzog, lieber Steuereinnehmer zu 
ſein, als unter ſeinen Zeitgenoſſen Künſtler, einen Hals, Ruisdael, Vermeer, die alle zu ihren 
Lebzeiten unter rettungsloſen Schulden litten oder ſich bloß durch Armenunterſtützungen noch 
dahinfretten konnten, weil ihrer Zeit, die in den Banden heute längſt und mit Recht vergeſſener 
Modemaler lag, für ihre Arbeiten der Blick fehlte. 

Wie ſchwer mag fid da erft in unſerem Zeitalter bes Futurismus, Kubismus, Erpreffio- 
nismus, Illuminismus, Pointillismus ufw. ein Künſtler behaupten, der die heilige Überzeugung 
in fid) trägt und in allen Kunſtſtürmen auch aufrechtgehalten bat, daß die J d e e das moraliſche 
Endziel jedes Werkes bilden muß, die techniſche Ausführung bloß das ſichtbare Ausdrucks- 
mittel dafür ift! Und wie mag es ein folder Künſtler mit dieſem feiner ganzen Laufbahn voran- 
geſtellten oberſten Grundprinzip wohl ſelber ſchmerzlich empfinden, wenn ſein künſtleriſches 
Erdenwallen gerade in die Zeit der uferloſeſten Zerfahrenheit in der Kunſt fällt, in die Zeit 
des gegenwärtigen Modernismus, der alles Intereſſe hat, das, was aus den großen Epochen 
herrührt, zu ignorieren, um fid) mit der möglichſt wenigen Vergleichung den Exzeſſen der Qumm- 
heit und Unwiffenbeit hinzugeben, indem ſeine Vertreter alles leugnen, was die Lebenselemente 


774 Graf Georg von Nofen 


bet Kunſt bildet: Konzeption, Rompofition, Zeichnung und Malerei, und ſomit — unter dem 
Vorwand der Aufrichtigkeit — die Produkte der „Kunſt“ zu dem Geſchmiere der Rinder und 
wilden Völkerſchaften zurüdführen. 

Ein folder der Gegenwart entfremdeter, zu einer wieder edleren Zukunft voraus- 
eilender, dabei die klaſſiſchen Geſetze der Vergangenheit aber ſtrenge hochhaltender Künſtler 
iſt der ſchwediſche Maler Graf Georg von Roſen, — ein feinen Überzeugungen treubleibender 
kuͤnſtleriſcher , chevalier sans peur et sans reproche", wie ihn ein Kritiker feiner Heimat harat- 
teriſierte. 

Einem uralten, vornehmen, einſtmals böhmiſchen, ſeit 1724 jedoch in Schweden natura- 
liſierten Ariſtokratengeſchlechte entſproſſen, koſtete es dem am 13. Februar 1845 zu Paris ge- 
borenen, von Natur künſtleriſch veranlagten Grafenſöhnchen keine geringen Kämpfe, bis es 
ihm, der ſich doch auch als hoher Militar oder Staatsmann, wie alle ſeine Ahnen, hervortun 
ſollte, gelang, ſeinen leidenſchaftlichen Wunſch, Künſtler zu werden, durchzuſetzen. Als die warm 
und künſtleriſch empfindenden Eltern aber endlich einmal die Überzeugung von der unbezwing- 
lichen Macht des Talents ihres fid) mit ſtaunenswerter Frhreife feiner Neigungen und Fähig⸗ 
keiten klar bewußten Kindes gewonnen hatten, trachteten fie auch ſofort mit allem Ernſte da- 
nad, daß der zukünftige Beruf nur mit Gründlichkeit in Angriff genommen werden dürfe. 
Schon mit zwölf Jahren trat der feit der Revolution des Jahres 1848 nach Schweden über- 
geſiedelte Runftjünger in die Anfangsſchule der Kunſtakademie zu Stockholm ein. 

Es war aber auch ein feltenes Elternpaar, das es über (id) brachte, dem Sohn zulieb 
die eigenen ftarr-ariftotratiihen Anſchauungen vollkommen aufzuopfern und dem jungen 
Menſchenkinde nicht allein den Weg zur Künſtlerlaufbahn freizumachen, ſondern ihn auch durch 
eine edle Auffaſſung des hohen Lebenszieles, durch ſelbſtdurchfühltes Intereſſe und wirkliches 
Verſtändnis dafür zu betonnen, Dieſes eingehende Miterleben und begeiſterte Erfaſſen voran- 
geſteckter Ideale wird freilich begreiflich, wenn man erfährt, daß der Vater des kleinen Grafen, 
Oberſt beim mechaniſchen Korps der Flotte, Graf Adolf Eugen von Roſen, der feurig und 
unentwegt fiir ſeine Ideen kämpfende Zdealiſt war, der, allen feinen Zeitgenoſſen voraus, 
als Erſter die großen Vorteile erkannt hatte, die Schweden aus der Einfuhrung der Eiſenbahn 
erwachſen müßten. Nach jahrelangem, mühſeligem Einſchreiten und den größten pekuniären 
Opfern ſetzte er es endlich durch, daß am 3. März 1856 die erſte Eiſenbahn des Landes, Srebro— 
Arboga, eröffnet werden konnte, ein Erfolg, der mit ungeahnter Schnelligkeit allmählich über 
das ganze Land ausgedehnt wurde und dieſem weitſchauenden, ſegensreichen Wohltäter ſeiner 
Heimat den Ehrennamen „der Vater der ſchwediſchen Eiſenbahnen“ eintrug. Auch der Mutter 
des genialen Kunſtſchülers, Euphroſyne Rizo-Rangabs (eine Schweſter des früheren Gefandten 
am preußiſchen Hofe, Alexander Rizo-Rangabé), war der Sinn für alles Schöne und Edle 
angeboren, denn auch dieſes griechiſche Ariſtokratengeſchlecht verzeichnet unter ſeinen Namen 
Dichter, Forſcher und Staatsmänner von ganz hervorragender Bedeutung. In dem den Ve- 
ſchauer zu langem Betrachten feſſelnden, die Erinnerung daran wie eine perſönliche Begegnung 
bewahrenden Porträt feines Vaters (Stockholm, Nationalmufeum), einem der markanteſten 
Meiſterwerke ſchwediſcher Porträtkunſt, ſetzte der Fünfund zwanzigjährige feinem Vater ein 
von ganz Schweden mit dankbarer Pietät geliebtes Denkmal, und auch das Grab dlefer vor- 
trefflichen Eltern verſchönte der vielſeitige Künſtler durch eigene Arbeiten, zwei bildhaueriſche 
Schöpfungen: einer Büſte des Grafen und einem Relief der Gräfin. 

Sechs Jahre lang wurde der Unterricht an der Kunſtſchule der Stockholmer Akademie 
fortgeſetzt und durch aquarelltechniſche Nebenausbildung bei Karl Werner in Leipzig und 
Studien an der damals eben neu gegründeten Nunſtſchule in Weimar noch erweitert. Was 
aber der jungen fünjtlerinbipibualitát erft ihr eigentliches Gepräge gab, das waren die aus- 
gedehnten Reifen, die den Künſtler danach bis nach Agypten, Paläſtina, Syrien, die Türkei, 
Griechenland, die damaligen Donaufürſtentümer (das heutige Rumänien) und Ungarn, fpäter 


Graf Georg von Rofen 775 


nach England, Belgien, Spanien, wo er bie alten Meiſter ſtudierte und kopierte, und felbjt- 
verſtändlich auch in das Land aller künſtleriſchen Sehnſucht, Italien, führten, und auf deren 
einer, bei der Weltausftellung in London 1862, er das in feine künftige Richtung eingreifendfte 
Erlebnis hatte: Er lernte dort die Werke von Henry Jean Leys kennen. Der Eindruck des großen 
Belgiers, der durch vollkommen getreue hiſtoriſche Studien nicht nur das buntbewegte Treiben 
des niederdeutſchen Volkscharakters, ſondern durch ſein kongeniales Sicheinleben in die alten 
Meiſter auch deren Malweiſe wieder zu Ehren brachte, war ein fo überwältigender, daß er fiber 
die nächſte Zukunft des Enthuſiasmierten ausſchlaggebend entſchied. Graf Roſen, der von jeher 
von dem hiſtoriſchen Geiſte des Mittelalters und der Renaiſſance gefeſſelt, bereits 1861 eine 
Epiſode aus der ſchwediſchen Geſchichte: €ngelbted ts Leiche wird vom Volke 
nach der Mellöſa-Kirche geführt, maleriſch dargeſtellt hatte, wandte ſich nun, 
als Schüler von Leys in Brüffel, mit ausgeſprochener Neigung der Hiſtorienmalerei zu. Gleich 
ſein erſtes, 1864 unter dieſem Einfluſſe entſtandenes Gemälde: Sten Stures Einzug 
in Stockholm nachdem Siege auf dem Brunkeberge, wurde von der Stock- 
holmer Akademie mit der Goldenen Medaille ausgezeichnet. Der Führer, dem fih der Leys- 
Schwärmer in jugendlicher Begeiſterung und Verehrung ergeben hatte, vertiefte ſeine Kunſt 
nur noch mehr, aber er machte ſein künftiges Schaffen nicht einſeitig. Ebenſowenig wie Graf 
Roſen ein Nachahmer ſeines Lehrers und Vorbildes Leys geworden war, ſo befreite er ſich 
auch gar bald von Karl von Piloty, deffen Unterricht er zu Anfang der ſiebziger Sabre in München 
genoß. Sein gewaltiges Gemälde Erich X I V., das von Rofen in München begann, in Stock- 
holm vollendete, und in dem er des Aſthetikers Viſcher Rat an die Künſtler: „Ihr ſollt keine 
Wolkengebäude mehr, ſondern Geſchichte malen!“ glänzend zu Ehren brachte, ift in feiner über- 
legenen perſönlichen Auffaſſung der deutlichſte Beweis für die bewahrte Eigenart. 

Die Oeutſchen kennen Erich XIV. zur Mehrheit wohl nur aus dem gleichbetitelten 
Drama von Auguſt Strindberg. Es iſt hier nicht der Ort, Strindbergs Dichtung zu werten, 
wohl aber iſt feſtzuhalten, daß der Erich XIV., wie ihn der düſter in die Welt blickende unglückliche 
ſchwediſche Dichter in feiner Menſchheitsverbitterung auf bie Bühne ſtellte, ſicher nicht die mit 
geheimnisvollem Reig umwobene Sagengeſtalt ift, wie fie das ſchwediſche Volk, trotz aller 
Greuel, die dem ſpäter in Wahnſinn Verfallenen nacherzählt werden, liebt. Der Strindbergſche 
Erich iſt ein verworrener, haltloſer, ewig ſchwankender Unglücksmenſch, nicht der poeſievolle 
Renaiſſancefürſt, der ja nur die Pracht und die Heiterkeit des Südens nach dem ſonnenloſen, 
melancholiſchen Norden verpflanzen wollte; Strindbergs Erich XIV. iſt eben ein König, wie 
ihn der die Hodgeftellten und Reichen mit Vorurteil und Haß beſchauende „Sohn der Magd“ 
empfand und aus dieſem inneren Impuls herabzuzerren ſehnte. Was aber Strindberg, dä- 
moniſch gezwungen durch die Disharmonien ſeines eigenen mit der Welt zerfallenen Gemiits, 
an Erich XIV. fündigte, — Graf Rofen hat es in feinen zwei herrlichen Gemälden, die diefe 
ſchwediſche Königsgeſtalt des 15. Jahrhunderts zum Vorwurf haben, wieder in reinſte Har- 
monie aufgelöſt. 

Auf beiden Bildern ift es die Lichtgeſtalt von Karin Månsdotter, der Geliebten des 
Königs, die dieſer, dem ganzen Hofe zum Trotz, geheiratet und voll heiligen Ernſtes auch zur 
Königin erhoben hatte, die — wie der Schutzengel im Märchen, der nur die guten Kinder 
umſchwebt — wie zu dieſem Beweiſe des der höchſten Liebe würdigen großen Menſchen, in 
allem Unglück, das über den König hereinbricht, ihm liebend zur Seite bleibt. Graf Roſen, 
durch tiefgründige Menſchenkenntnis, vielerfahrene Beobachtung und vor allem wohl durch 
ein perſönliches reiches Innenleben über die Gabe verfügend, dem von ihm dargeſtellten Antlitz 
fo vollkommen jede momentane Gemütsverfaſſung aufzudrücken, daß man beinahe zu glauben 
wagt, aus den Geſichtern allein, ohne jede andere maleriſche Beigabe, den Inhalt ſeiner Ge- 
mälde erraten zu können, hat in dieſen drei fo grundverſchiedenen Köpfen feine ganze Macht 
auf dieſem Gebiete gezeigt. Einem Menſchendarſteller, dem, wie gerade dieſem Maler, nicht 


776 Graf Georg von Rofen 


die Schönheit des Antlitzes, ſondern deffen ſeeliſcher Ausdruck bie Hauptſache ift, fällt es oft 
ſchwer, feinen. Intentjonen entſprechende Vorbilder für feine Geſtalten zu finden, nicht bloß 
für die edlen Charaktere, auch für deren Gegenſpiel. So koſtete es Graf Roſen, wie er ſelbſt 
einmal erzählte, nicht geringe Mühe, unter ſeinen ſämtlichen Zeitgenoſſen eine Phyſiognomie 
aufzuſpüren, gemein und niedrig genug, um den intriganten Kanzler Göran Persſon, der bloß 
um eigener Vorteile willen ſeinen König ſtürzt, zu perſonifizieren. Daß der endlich erkorene, 
alle Niedrigkeiten in ſich vereinigende Schurkenkopf aber einer hohen Staatsperſon angehörte, 
mag den Vollblutariſtokraten, der der nordiſche Maler durch und durch iſt, wohl nicht gerade 
erbaut haben; der von edelſtem Patriotismus durchdrungene Schwede durfte ſich wenigſtens 
damit tröſten, daß es nicht ſein Vaterland geweſen iſt, das dieſes ahnungsloſe Modell aufwies. 

Es ijt ein vielſagender Zug des Seelenſchilderers, auch den Händen, dieſen fo oft fidt- 
baren Trägern des Charakters im Menſchen, feine beſondere Sorgfalt zuzuwenden. Fc ſelbſt 
kenne ja leider nicht das Original dieſer tiefdurchdachten Vorführung eines der packendſten 
Auftritte aus der ſchwediſchen Geſchichte, aber mein verſtorbener Vater, als Sohn eines Malers 
ein frübgeübter, tüchtiger Kunſtkenner, rühmte es immer und immer wieder, wie Graf Rofen 
gerade in den Händen der drei Teilnehmer dieſes hochdramatiſchen Moments deren Seele 
feinſinnig zu unterſcheiden verſtand. 

War dieſem 1872 entſtandenen Gemälde von Erichs XIV. Ende der Name des Königs 
als Titel gegeben, ſo hat der 1881 in den reifen Mannesjahren ſtehende Künſtler ſeine zweite 
darauf Bezug habende Schöpfung unter dem Namen der rührenden Frauengeſtalt Rarin 
Månsdotter in die Welt geſchickt, denn fie ift nun die Hauptträgerin des Dramas. Der 
bereits vom herannahenden Wahnſinn gezeichnete König iſt lebendig tot, — auf Karin Mans- 
dotters unſchuldiges Haupt bricht jetzt alles Unheil zuſammen. Ihr Herz wird nicht nur allein 
durch des Königs Fall getroffen, ſie erlebt den erſchütterndſten Moment ihrer Seele — nach 
langentbehrtem Wiederſehen die erſte Entdeckung von des geliebten Mannes Wahnſinn. Noch 
einmal ſucht ſie einen ſeiner alten Blicke aufzufangen; es iſt vielleicht der letzte! Wer weiß, 
wenn ſie wiederkehrt, kennt ſie der Gefangene nicht mehr! 

Dieſer Beſuch Karin Mansdotters im Gefängnis ijt eines der gemüͤtvollſten und edelſten 
Seelengemälde, die die geſamte Kunſt aufzuweiſen hat, eines von den tiefbewegenden Bildern, 
bei denen man, wie Eugene Delacroix in ſeinen Schriften ſagt, das Bedürfnis hat, es noch 
lange in feinen Gedanken herumzutragen: „Ich fühle, unb ſicher fühlen alle feinfühligen Men- 
Iden angeſichts eines ſchönen Bildes das Bedürfnis, auch ferne von ihm noch über feinen Ein- 
druck nachzudenken. Dann tritt eine der dichteriſchen Schöpfung entgegengeſetzte Arbeit ein. 
36 gehe Zug für Zug in meinem Gedächtnis das Bild durch, und wenn ich bie Beſchreibung 
notierte, fo könnte ich zwanzig Seiten mit dem füllen, was ich in wenigen Augenblicken er- 
faßt habe.“ 

Das iſt eben die nachhaltige Wirkung eines Künſtlers, dem die Idee als oberſte Aufgabe 
ſeines Schaffens gilt, daß man ſich bei ſeinen Bildern, auch wenn ſie ſchon längſt dem Auge 
entzogen ſind, unwillkürlich immer wieder zu einem geiſtigen Wiederüberblicken gezwungen 
fühlt. Wem mag es wohl nicht geſchehen, daß ihm der Eindruck, den die figurenreiche Szene 
Königin Dagmars Erweckung auf bem Totenbette (1899) in dem Be- 
ſchauer hervorruft, noch lange Zeit danach nicht aus dem Kopfe ginge? 

Die Legende ift folgende: „König Waldemar, der ſich feiner Gattin gegenüber viel vor- 
zuwerfen hatte, befand fid) eines Tages gerade auf der Jagd, als ein Bote mit der Nachricht 
dahereilte, daß die Königin plötzlich krank geworden ſei und in Todesgefahr ſchwebe. Gepackt 
von Gewiſſensbiſſen ſprengt der König im Galopp auf ſeinem Pferde heimwärts, bloß von 
zwei Knappen begleitet. Im Schloſſe angekommen ſagt man ihm, daß die Königin bereits 
verſchieden jet. Verzweifelt dringt er in das Zimmer, wo die Leiche ruht, und befiehlt den An- 
weſenden, ſich auf die Knie zu werfen und die göttliche Gnade herabzuflehen, damit ein Wunder 


Graf Georg von Noſen 777 


geſchehe, die ſchwer gekränkte Gattin noch einmal zu fih käme, ihm ihre Verzeihung zu fagen. 
Das Wunder geſchieht: — die Königin ſchlägt die Augen auf, gibt ihrem Gatten Abſolution 
und verſinkt wieder in Schlaf, nun fiir ewig.“ — In dieſer dramatiſch bewegten Legende, wie 
auch in einem andern berühmten Gemälde von Roſens: Der verlorene Sohn, ijt wohl 
nicht mit Unrecht anzunehmen, daß es die von ihm mit ergreifendem Herzenston ausgedrückte 
Flut von überwältigenden Gefühlen, bie fid) in ſolchen Augenblicken auf den Gejichtszügen 
vereinen, war, die den Künſtler lockte, gerade diefe atemſtockenmachenden Momente heraus- 
zugreifen. Mit dem fic wirkungsvoll gegen den hellen Sarg fait nur filbouettenbaft abhebenden 
König und den vielen anderen poetiſchen Einzelzügen läßt dieſes Gemälde in die Urteile über 
des ſchwediſchen Malers Kunſt, die ſeine gänzlich perſönlich gehaltene Phantaſie, ſeine originelle 
Erfindungsgabe und fein ihm eigenes Charakteriſierungsvermögen zu wiederholten Malen 
bewundernd betonen, vollkommen überzeugt einſtimmen. 

Auf ſeine tiefgehende Ergründung des Spiegels der Seele, des Antlitzes, iſt auch des 
nordiſchen Malers meiſterhafte Beherrſchung des Porträts zurückzuführen. Die Zahl dieſer 
Verewigungen heimiſcher Zeitgenoſſen wäre hoch genug, um ein ganzes Künſtlerdaſein damit 
auszufüllen. Es find die erſten Männer feines Vaterlandes, die Graf Roſen gemalt hat. Eines 
dieſer Bildniſſe, das des kühnen Entdeckers Nordenſkiöld, das 1888 in München mit der 
Goldenen Medaille ausgezeichnet wurde, iſt von ſämtlichen Bildern des Künſtlers im Ausland 
am populdrften geworden. 

Auch auf dem Gebiet der Genremalerei hat ſich Graf Roſen eifrig betätigt. Er packt das 
Leben eben dort an, wo es ihm gerade am intereſſanteſten erſcheint. Nicht immer müſſen es 
welterſchütternde Ereigniſſe fein, die feine Schaffensluſt reizen; ſchleudert doch auch das Schid- 
ſal ſeine Tragödien ſelbſt in den unbedeutendſten Winkel! Eine zu Herzen gehende Sprache 
ſpricht aus dem Bilde Pierrot: Nur einen Augenblick die lachende Maske vom Geſicht, 
fie muß ja doch ſogleich die ſchmerzverzerrten Züge wieder verdecken! Das Publikum darf doch 
nichts davon ahnen, was da hinter der Szene geſchehen ijt! Angſtlich wird durch den Spalt 
des Theatervorhangs geguckt, ob die Honoratioren des Städtchens nicht ſchon ungeduldig werden 
wegen der langen Pauſe, die Muſik muß doppelt herzhaft blaſen, damit da draußen nur ja 
keine Vermutungen aufkommen können, und der Schmierendirektor, der ſein gutzahlendes 
Publikum, bange um künftigen Profit, nun nicht mehr länger warten laffen will, redet ein- 
dringlich auf den Schwergetroffenen ein, iſt es doch gerade Pierrots Nummer, die jetzt dran- 
zukommen hat, — — Pierrot hört ihn nicht. Tränenlos von der Größe des Schmerzes, ſtarrt 
er nur weltverloren auf das durch ſchwelendes Kerzenflackern noch ſchauerlicher geſtimmte 
Leichentuch, unter dem der Liebling des Publikums, bie ſylphidenhaft tanzende Tamburin- 
ſängerin ruht, deren Herz, ach, ſo vielen gehörte, — Pierrot aber liebte nur ſie allein! 

Ein heiteres Thema bringt die Zeichnung Neujahrsglückwünſche. Hier, 
wie auf allen Bildern aus dem Mittelalter, dem Lieblingszeitraum Graf Nofens, ijt es die von 
ſeinem Lehrer Leys übernommene hiſtoriſche Gewiſſenhaftigkeit und eine ſtaunenerregende 
Studien zu Tage fördernde Treue, mit der er die vorgeführten Szenen bis ins Kleinſte in- 
tereſſant macht. Man kann diefe mit finnigen Einzelzügen fo ausführlich erzählenden Augen- 
blicksbilder noch fo genau betrachten, beim nächſten Beſchauen entdeckt man doch immer wieder 
eine feſſelnde Nebenidee, die man früher überſehen hatte. Und hier kommt es auch vor, daß der 
ſonſt fo tiefernſte Künſtler manchmal den Humor ſpielen läßt. Wie fid unter dem allgemeinen 
Beglückwünſchen ſelbſt die beiden Hündchen was zu fagen haben, fid) die poſſierliche Kleine ganz 
ſprachlos vor Staunen nach dem ſtattlichen Reitersmann den Kopf verdreht, die drei ſich das 
ganze Jabr hindurch gewiß nur übers Ohr hauenden Kaufleute heute die einander wohlwollendſt 
geſinnten Biedermänner ſpielen, oder gar der ſprechende Scheelblick, mit dem der alte Begleiter 
der lieblichen Hauptperfon des Bildes den jungen Gratulanten überlegen ftreift, — entweder 
ift es der Vater, der die Hoffnungen bes fih etwas zu deutlich verratenden Verehrers, ihn ab 


1 Graf Georg von Nofen 


ſchätzend, durchſchaut, oder vielleicht gar der Ehemann, der ſich beſitzesſicher denkt: „Es hilft 
dir ja doch alles nichts!“ — das alles iſt fo weltkundig beobachtet und ſympathiſch wiedergegeben, 
daß es auch den phantaſieloſeſten Bildbetrachter zwingt, ſich in die Epiſode hineinzudenken. 

Das Glanaftüd feines Humors hat Graf Roſen in dieſer Beziehung in feiner, eine Menge 
folder vielſagenden zeichneriſchen Nebenbemerkungen aufweiſenden, in das Jahr 1527 zurüd- 
führenden Akung auf Glas: Herr Thure Fönsſon Roos von der Berfamm- 
lung der Reichsſtände in Defteräs zurückkehrend, geſchaffen. „Man kann 
in der ganzen ſchwediſchen Kunſt vergeblich nach einer hiſtoriſchen Zeitmalerei wie dieſer ſuchen“, 
ſagt ein ſchwediſcher Kritiker davon. 

Ob uns der nordiſche Meiſter nun durch humoriſtiſche Feinheiten feſſelt oder durch die 
Größe feiner Tragik erfchüttert, ob er bie Menſchen der Vergangenheit wieder lebendig macht 
oder den Genoſſen ſeiner eigenen Zeit ewiges Leben in der Kunſt ſichert, allüberall in ſeinen 
Werken ift ein fo zartes Empfinden geoffenbart, daß fid) auch das mimoſenhafteſte Gemüt durch 
keinen einzigen Zug in feinen Gemälden je verletzt fühlen könnte. Es iſt echte ſeeliſche Reufch- 
heit, mit der Graf Roſen es dem feiner organiſierten Beſchauer überläßt, den weſentlichſten 
Inhalt ſeiner Gemälde, nämlich den ſeeliſchen, herauszufühlen. In ſeiner in der Morgenfrũhe 
zum eben geöffneten Fenſter — vielleicht das vor ihr offenſtehende, noch unbekannte Leben 
ſymboliſierend — mit ungetrübten Frohaugen ahnungskoſer Jugend in die Welt blidenden 
Sieb zehnjährigen hat er in die Seele des jungen Mädchens geleuchtet; in feiner von 
leifer Schwermut überhauchten, über dem Nähen des kleinwinzigen Häubchens und Hemdchens 
doch fo glücklichen Träumerin In Gedanken die edle Stimmung des mit Ehering und 
Schlũſſelbund gekennzeichneten jungen Weibes mit Lilien verherrlicht; in der unentſchloſſen 
ſchaudernd mit ihrem Säugling vor dem allem Elend ein Ende verſprechenden Kanal ſtehenden 
Verlaſſenen die Verzweiflung der gattenloſen Mutter herausgeſchrien. In andern 
Bildern wieder, dem ewig daheimlos an den chriſtbaumſchimmernden Weihnachtsfenſtern 
einſam voriiberfdreitenden Ahasver, in dem fein menſchenkleines Warum?“ zum Himmel 
fendenden Ropf eines Minds, oder dem mit großem, ſinnendem Schweigen ſeinen 
Runenſpeer machtbewußt meifternden, fo gar nicht an den ungöttlichen „Götterdämmerung“ 
Wotan erinnernden Odin hat ſein ſprechender Pinſel hingegen von den Regungen aus der 
Seele des weltgeiſtdurchdringenwollenden Mannes erzählt. 

Graf Roſen, erfüllt von wahrhafter Heimatliebe, hat ſich in der Mehrzahl feiner Arbeiten 
auf ſchwediſchem Boden bewegt, und wenn es auch heißt, daß fid) die ſchwediſche Kunſt im all- 
gemeinen keine eigene Sonderſtellung erobert babe, fo ijt doch aus den Werten gerade dieſes 
Schweden der auf ſeine Heimat geſtimmte Hergenston herauszuhören, der ihnen faſt allen 
einen ſpezifiſch ſchwediſchen Charakter gibt. Die f h w e d if h e Geſchichte ift es, deren Rennt- 
nis Graf Rofen verbreitet hat, feine Porträts find mit nur wenigen Ausnahmen Schweden, 
und auch in den meiſten feiner Genrebilder lebt echtes Sch wedentum. 

Eine Fülle echt nordiſcher Charakterköpfe vereint Cin Willkomm“ in der 
Schiffergilde zu Wisby. Hier bat fid der Künſtler weiten Spielraum gegeben, 
ſeine auf wohlwollendem Studium ſeiner Landsleute baſierende ſcharfe Charatterifierungs- 
gabe aufs mannigfaltigſte zum Ausdruck zu bringen. Schon vorher hatte er mit feinem Ne u n- 
zigjährigen Bauern aus Uppland (der Stammlandſchaft Schwedens) mit 
Dürerfher Gewalt bewieſen, wieviel perſönliche Eigenart aus den Zügen dieſer einfachen 
Naturmenſchen herauszuholen ift. Der einzige unter den Schiffern aber, deffen Geſicht nicht 
zu ſehen ift, der fih mit der ungewohnten Arbeit des Schreibens krampfhaft plagende Schrift; 
führer der Gilde, wirkt dafür ſchon allein durch feine fo recht aus dem Leben gegriffene Haltung. 

Die geheimnisvollſte und rätſelhafteſte der von Roſenſchen Offenbarungen, die talt- 
lauernde Sphinx, deren Ausführung die Gedanken des Künſtlers von 1887 bis 1905 immer 

„wieder beſchäftigte, ſoll noch Raum finden. Sie entbehrt jedes heimatlichen Hintergrundes, 


Nandgloffen zu Texten bes Tages 779 


aber mit dieſem Gemälde wollte der Künſtler eben, wie er ſelbſt ausſprach, dem Vaterlande 
ſeiner von ihm ſo hochverehrten Mutter, Griechenland, eine Huldigung darbringen. Mag ſich 
das Gemüt auch noch fo febr in Graf Roſens Kunſt eingefühlt haben, — vor dieſem Bilde gee 
nügt es nicht, [id einfach der naiven Betrachtung hinzugeben, hier muß die Philoſophie helfend 
zur Seite treten, denn „hier ſtaut fih das Aberſinnliche an der ſpröden Materie und blickt uns 
durch ihr grobes Gewebe mit dem Auge des Unergründlichen an; ihm aber antworte unfere 
Seele mit einem tiefen Schauer, der bis in unſere ſinnliche Natur hinein nachzittert“, wie es 
in äfthetifchen Betrachtungen über das Erhabene von H. Stephani heißt. 

Daß einem verdienftvollen Manne, wie dem Kammerherrn und Ehrendoktor der Uni- 
verſität Upfala, Grafen Rofen, der fein hohes Künſtlertum auch als Lehrer fortgepflanzt und 
weiterverbreitet hat (er war Profeſſor an der Akademie zu Stockholm ſeit 1875 bis in die letzten 
Sabre, von 1881 bis 1887 und 1893 bis 1896 auch Direktor), reiche Lorbeeren auf den Weg 
geſtreut werden, ift ſelbſtverſtändlich, aber nur felten gelingt es, den Rünftler dazu zu bewegen, 
ſie auch aufzuheben. 

Nur eine kleine Ausleſe aus dem umfangreichen und, wie alle ſeine Verehrer von 
Herzen wiinfden, wohl noch ferner auszuſpinnenden Lebenswerke Graf Georgs von Rofen 
war hier möglich zu geben, und eine noch kleinere iſt es, die feine Runft den Leſern hier auch im 
Bilde anſchaulich machen kann. Was find jedoch Worte einer Kunſt gegenüber, die das Herz 
doch nur durch die Augen trifft, und gar der Runft eines Malers gegenüber, bei dem die Schön 
heit der Farben erſt die volle Harmonie ſeiner Schöpferkraft ſingt! Darum ſollte hier den 
Deutſchen, die ihn noch nicht oder nur wenig, eben weil ſeine Kunſt eine ſo treu auf ſchwediſchem 
Boden wurzelnde iſt, kennen, von all dem Schönen, das in Originalen zu ſehen nur Weit- 
umherreiſenden möglich wird, bloß eine Ahnung gegeben werden; den wahren Vert davon 
nach Gebühr abzuſchätzen, das können ja doch nur jedes Beſchauers eigene Augen. Zu- 
verſichtlich aber dürfen wir glauben, daß fih an Graf Nofens Werken die Verheißung Tegnérs 


bewahrheiten wird: 
Was du Schönes erfchaffit, das trotzt der Gruft, 
Und ſein Antlitz erneuen die Zeiten. 
Das Schöne ift ewig: — wir fifden fein Gold 
Aus dem Strome der Zeit, der da flüchtig entrollt. 


Mathilde v. Leinburg 
«n 


Randgloſſen zu Texten des Tages 


Se? Ger Tod des Prinzregenten Luitpold von Bayern wird auch m 
Rinjtlertreifen aufrichtig bedauert. Auch für die alte Kunſtſtadt München fielen 
Nin die Regierungszeit des würdigen alten Herrn die heftigſten Kunſtkämpfe der 
letzten Jahrhunderte. Die Art, wie der Prinzregent fid zu dieſen Streitigkeiten öffentlich 
verhielt, wie er, ohne fein perſönliches Empfinden zu verleugnen, über den Parteien zu ſtehen 
verftand, ſcheint mir geradezu vorbildlich zu fein. Sicher gebührt dieſer Haltung des Prinz- 
regenten das Hauptverdienſt, wenn in München diefe Kunſtparteikämpfe niemals zu einer 
fo üblen Gehäſſigkeit und darüber hinaus zu fo ſchädlichen Allgemeinzuſtänden geführt haben, 
wie z. B. in Berlin. Der Prinzregent hat für Kunſtankäufe bei weitem nicht die Mittel auf · 
wenden können, wie ſie der König von Preußen allein für die Siegesallee angewandt hat. 
Trotzdem hat er durch ſeine Ankäufe ſicher viel mehr Freude bereitet. Daß er manche Bilder 
nur gekauft hat, um deren Schöpfern vorwärtszuhelfen, iſt bekannt. Im allgemeinen aber 
kaufte er wirklich, was ihm gefiel, und wußte dem Künſtler die Freude dieſes perſönlichen 
Anteils an ſeinem Werke mitzuteilen. Beſonders wertvoll aber war, daß er als regierender 


780 Nandgloſſen zu Texten des Tages 


Herr, als gewiſſermaßen offizieller Schützer der Künſte, keinen Unterfchied zwiſchen den Rich- 
tungen machte. Er zeigte die gleiche lebhafte Teilnahme für die Kunſtausſtellungen der Genoffen- 
ſchaft wie der Sezeſſion, und unterſtützte beide durch Ankäufe. Seine Kritik aber wußte er in 
fo feine Umgangsformen zu kleiden, daß fie niemals perſönlich verletzen und niemals auf- 
reizen konnte. 


de * 
* 


gn Paris ift Edouard Detaille geftorben, ber bekannteſte der noch lebenden 
Schlachtenmaler Frankreichs. Er hat um mehr als ein Vierteljahrhundert ſeinen zwölf Jahre 
älteren Kunſtgenoſſen Alphons de Neuville überlebt, deffen Hinſcheiden im Fabre 1885 in Frank- 
reich eine Art von Nationaltrauer hervorrief. Des faſt ſechzigjährigen Detaille Tod wurde 
merklich kühler aufgenommen. Das entſpricht der kühleren Tonart ſeiner Malerei, die viel 
„korrekter“ iſt, als die des älteren Neuville, aber dafür weit weniger dem inneren militätiſchen 
Empfinden der franzöſiſchen Volksſeele entſprach. — Doch nicht diefe kunſtgeſchichtlichen Tat- 
ſachen beſtimmen mich, dieſes Ereigniſſes hier zu gedenken, es find vielmehr einige Begleit- 
erſcheinungen. Einmal wird bei dieſer Gelegenheit wieder im ganzen Blätterwalde eingeſtanden, 
daß jene franzöſiſche Kunſt, die in Frankreich ſelbſt die Liebe des Volkes genießt, keineswegs 
die ijt, die uns in Deutſchland immer als Edelblüte bes franzöſiſchen Kunſtſchaffens angeprieſen 
wird. Das franzöſiſche Volk im beſten Sinne des Wortes, hat das Hinſcheiden der Führer des 
Impreſſionismus mit ziemlichem Gleichmut aufgenommen und wird auch beim Hinſcheiden 
der noch lebenden Stützen dieſer Kunſtrichtung keinerlei Nationaltrauer aufbringen. Gegen 
die Verkünder der noch neueren Heilslehren des Kubismus und der anderen „großen Stiliſten“, 
wie Cézanne, van Gogh, Gauguin, beſitzt der Franzoſe die glückliche Naturmitgift des als Selbft- 
fhug wirkenden Spottes. Dieſe Seitentriebe des Pariſer Großſtadtlebens werden nur uns 
Deutſchen als Edelfrüchte galliſchen Kunſtſchaffens eingeredet. Dem eigentlichen Romanen 
ſind ſie ſo raſſefremd wie uns ſelbſt. 

Das iſt das eine. Dann aber vergegenwärtige man ſich, wie wohl die franzöſiſche Preſſe 
fih beim Tode eines unſerer Schlachtenmaler verhalten würde. Ich will von Anton von Werner 
ſchweigen, der durch feine hervorſtechende kunſtpolitiſche Haltung zu einer gewiſſen Stellung- 
nahme zwingt. Aber ob ein einziges franzöſiſches Blatt etwa über Robert Haug, der als Künſtler 
einem Detaille mindeſtens ebenbürtig iſt, mehr bringen würde, als die Zweizeilennotiz des 
telegraphiſchen Bureaus? Ja, ich gehe noch weiter. Raum eine deutſche Zeitung würde für 
einen ſolchen deutſchen Maler den Raum hergeben, den ſie jetzt ohne weiteres dem Franzoſen 
widmet. 

Solange diefe Verhältniſſe nicht geändert werden, ſolange der große Teil unſerer Preſſe 
alles, was in Paris geſchieht, deshalb ſchon ausführlich behandelt, weil es in Paris geſchieht, 
werden wir aus dieſer erbärmlichen Überſchätzung des Franzöſiſchen nicht herauskommen. 
Da ſie ſich dieſesmal gerade auf dem Gebiete der bildenden Kunſt zeigt, wird jeder Einſichtige 
erkennen, daß es fid) hierbei keineswegs bloß um eine moraliſche Überſchätzung handelt, ſondern 
daß dieſe auch gewichtige nationalökonomiſche Folgen nach ſich zieht. ) 

* 4 uk 

Das alte Sprüchwort „Die Kunſt geht nad) Brot“ ijt durch bie Berliner Sezeſſion in 
einer Weiſe zur ſinnlichen Anſchauung gebracht worden, daß ſelbſt recht nüchterne Leute das 
Wort Zdealismus wie hilfeſuchend ausſprechen. Die Berliner Sezeſſion hat nämlich einen 
Kunſthändler zu ihrem Präſidenten gewählt. Man rühmt biejem Kunſthändler eine ganz un- 
gewöhnliche Geſchäftstüchtigkeit nach, und er hat es jedenfalls wie bisher keiner feiner deutſchen 
Kollegen verſtanden, zwiſchen der modiſchen Kunſtſchriftſtellerei und ſeinen Kunſtſpekulationen 
eine Harmonie herbeizuführen, für die harmloſe Gemüter entweder den Zufall ober eine köſt⸗ 
liche innere Übereinftimmung verantwortlich machen, minder harmloſe allerdings ganz andere 
Zuſammenhänge wittern. 


Randgloſſen zu Texten des Tages 781 


Sei dent, wie ihm wolle, die Berliner Sezeſſion hat in jedem Falle uls erſte Rünftter- 
vereinigung vor aller Öffentlichkeit betont: Entſcheidend ift das Geſchäft. Man wird nicht vert- 
fehlen, dieſe Tatſache zu verhüllen. Eine derartige fadenſcheinige Oecke iſt z. B. die Wahl 
eines Riinjtlers zum Vorſitzenden der gury. Aber es bleibt beſtehen, daß der Präſident gewiffer· 
maßen die Flagge iſt, unter der eine Vereinigung ſegelt. Sicher werden auch künftig in den 
Ausſtellungen der Sezeſſion, vielleicht noch mehr als bislang, Küͤnſtlererſcheinungen vorgeführt 
werden, die noch nicht marktgängig find. Das find die Modernen von morgen, wie es bereits 
jetzt im Kunſtjargon heißt. Das entſpricht dann durchaus dem Börſencharakter: „Kauft! Kauft! 
Hier handelt es fid um Spekulationspupiere. Noch ſtehen fie niedrig. Sie werden ſteigen, 
fie müſſen ſteigen. Kauft! Kauft!“ | 

Wie wär's, wenn fih bie Sezeſſion überhaupt in ein Aktienunternehmen verwandelte?! 
Wo ein fo vertrauenerwedender Direktor an der Spitze ſteht, hätten die Aktien alle Ausſicht, 
ein gutes Börſenpapier zu werden. 

* * 

ra * 

Eine kleine Ergänzung gu bem Hodler-Auffak im Fanuarheft bes Türmers. Im 
Verlag des Graphiſchen Kabinetts J. B. Neumann, Berlin W., ift eine neue Lithographie 
Ferdinand Hodlers erſchienen, die den Titel „Frühlingsſehnſucht“ führt und in der Weihnachts- 
nummer des „Weltſpiegels“, der Beilage des „Berliner Tageblatts“, vielen Tauſenden als das 
neueſte Meiſterwerk des vielbeſprochenen Künſtlers vor Augen geführt wird. Wir zweifeln 
nicht daran, daß es der Gummimenſchtechnik der modiſchen Kunſtſchriftſtellerei gelingen wird, 
auch dieſes Bild als eine Offenbarung moderner Stilkunſt hinzuſtellen. dch beſitze bieſe Ber- 
renkungsfähigkeiten nicht und muß mich auf die Feſtlegung einiger äußeren Merkmale be- 
ſchränken. 

Ich fühle, daß der Wechſel ausgeſprochener Bogenlinien, wodurch des jungen verzüdten 
Mädchens Bruſt verſchwindet, dafür ein ſchöner Buckel und ein lebhaft gewölbter Bauch zu- 
ſtande kommt, ebenſo wie die kropfartig herausſpringende Ferſe des rechten Beines, daß ferner 
die wurſtartige Gleichmäßigkeit der Finger zu dieſen bedeutſamen Stiliſierungsmitteln ge- 
hören. Hilflos dagegen ſtehe ich vor dem linken Bein. Daß Ober- unb Anterſchenkel die geraden 
Linien eines rechten Winkels ſind, hat uns Hodler ſo oft ſchon gezeigt, daß man beinahe daran 
gewöhnt iſt. Aber da kommt der Fuß. Dieſes in Frühlingsſehnſucht verzückte Mädchen beſitzt 
offenbar die Fähigkeit, dieſen Fuß umzudrehen wie eine offene Hand, und zwar, was beſonders 
merkwürdig iſt, ohne jede Rückwirkung auf das Bein, mit dem dieſer Fuß doch erſichtlich noch 
im Zuſammenhang ſteht. Ich habe es umſonſt verſucht, der doch mit patentierten Kugelgelenken 
ausgeſtatteten Puppe meiner Kleinen eine ſolche Fußſtellung abgunstigen. Auch der gelenkigſte 
Affe iſt zu dieſer Leiſtung nicht imſtande, und ſo liegt entſchieden der ſpringende Punkt ſowohl 
für die Monumentalität wie für die tiefſinnige Symbolik dieſes Bildes in dieſem in der Kunſt 
einzigartigen Fuß-Handſpiele. . 

Wie gefagt, nur beſcheiden darauf hinweiſen wollen dieſe Zeilen; das Wunder zu deuten 
bleibe jenen überlaſſen, die das Freiwerden von aller Naturwahrheit als Gipfel künſtleriſcher 
Wahrheit preiſen. 


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Anſer Opernipielplan 
Von Dr. Karl Storck 


Ligentlich widerſtrebt das deutſche Wort den Verhältniſſen, wie ſie 
a wirklich vorliegen. Denn in dem Worte , Plan“ ift die Bedeutung 
eines von höherem Geſichtspunkte beherrſchten Vorgehens oder doch 

jedenfalls das Gegenteil alles Zufälligen mit eingeſchloſſen. Handelt 
es fid) um eine für das ganze Leben eines Volkes, für die Entwicklung eines wich 
tigen Volksgutes bedeutſame Angelegenheit, ſo erſcheint es uns ſelbſtverſtändlich, 
daß bei ihrer Verwaltung „planmäßig“ vorgegangen, daß in ganz beſtimmter 
großer Abſicht mit vorgefaßten edlen Zielen gearbeitet werde. Den Verhältniſſen 
aber, wie wir ſie in unſerm muſikdramatiſchen Leben haben, entſpricht viel beſſer 
das übliche Fremdwort „Repertoire“, das auch in [einem urſprünglichen ſprach⸗ 
lichen Inhalt, dem lateiniſchen Stammwort entſprechend, das bedeutet, was man 
immer wiederfindet, alſo für das Theater die Summe deſſen, was mit einer ge- 
wiſſen Regelmäßigkeit darin wiedergefunden wird. Man müßte alſo eher von 
einem Opernſpielvorrat ſprechen und könnte ſagen, das ganze Problem ſpitze ſich 
dahin zu, aus dieſem Spielvorrat zu einem Spielplan zu ge 
langen. 

„Opernrepertoire“ nennen wir im allgemeinen diejenigen gangbaren mufi- 
kaliſchen Bühnenwerke, die ſich im Laufe der Zeit als beſtändig inſoweit erwieſen 
haben, daß unſere Opernbühnen ſie dauernd von neuem dem Publikum vorführen 
dürfen. Sie haben fid) ſozuſagen aus der Maffe der gebotenen Kunſtwerke heraus- 
kriſtalliſiert, als eine Schar guter Bekannter, denen man im Laufe eines Winters, 
einer Saiſon, wie es im Theaterleben heißt, gerne wieder begegnet. — — — Unſer 
Opernrepertoire ift ein ſeltſames Gebäude, das allmählich zu einem Palaſte heran- 
wuchs. Kein einzelner Baumeiſter hat ihn erdacht. Er iſt wie ein altes Schloß, 
an dem verſchiedene Generationen gearbeitet haben.“ 

Dieſe Worte ſind einem „Unſer Opernrepertoire“ betitelten Vortrag des 
jetzigen Hamburger Theaterdirektors Dr. Hans Loewenfeld entnommen (Leipzig, 
Ernſt Rowohlt Verlag, 1 , in dem dieſer gerade für die Pflege der Oper bewährte 


Stora: Unfer Opernſplelplan 783 


Theaterleiter diefe wichtige Frage beleuchtet. Der Vortrag ift. gewiſſermaßen ein 
Programm, und es iſt jedenfalls wertvoll zu hören, wie ein tüchtiger und nicht bloß 
geſchäftlich denkender Operndirektor das ganze Problem anfaßt. 8d) möchte alſo 
zunächſt den Gedankengang des Vortrages hier wiedergeben und danach aus- 
führen, wie ich von meinem muſikpolitiſchen Standpunkte aus mir die Geſtaltung 
eines Opernſpielplans denke. 

Nirgendwo zeigt ſich ſchroffer jene Sonderſtellung, die die Muſik den anderen 
Künſten gegenüber einnimmt, als in der Oper. „Während bei allen übrigen Rün- 
ſten, den redenden zum Teil, den bildenden ganz und gar, die Zeit nicht in dem 
Maße verderblich werden konnte, daß ein vor vielen Jahrhunderten geſchriebenes 
Kunſtwerk an unſer heutiges Empfinden gar nicht mehr appellieren dürfte, trägt 
bie Muſik ben Todeskeim des raſchen Verblühens als ſchweren Nachteil allen übri- 
gen Künſten gegenüber in fid). Wohl lachen uns neben der Sonne Homers noch 
die Schönheiten griechiſcher Dichtungen heute wie vor Jahrtauſenden, entzücken 
uns, wie die Mediceer, die köſtlichen Malereien einer frühen italieniſchen Kunſt, 
aber die Geſänge, die eine Vorzeit vielleicht erdacht, klingen uns nicht mehr, und 
wenn ſie uns noch lebendig klängen, ſie würden uns wenig zu ſagen haben. Es iſt 
eine ſeltſame Tatſache, daß die Lebensdauer eines Komponiſten wenig über zwei 
Jahrhunderte hinausreicht.“ 

Bis auf den Schlußſatz muß man Loewenfeld vollauf zuſtimmen. Es würde 
bier zu weit führen, die innerſten Urſachen für die räumlich und zeitlich begrenzte 
Wirkungsfähigkeit der Muſik zu unterſuchen (vgl. meine „Muſikgeſchichte“, 2. Aufl., 
S. 58 f.). Jedenfalls iſt ſie eine Tatſache, nur läßt ſich füglich bezweifeln, daß die 
Lebensdauer eines Komponiſten gerade mit zwei Jahrhunderten begrenzt ſei. Für 
Bach wird das jedenfalls ganz anders ſein, denn es hat gerade jetzt, wo doch für 
eine große Reihe Bachiſcher Werke dieſe Zweihundertjahrperiode ganz nahe liegt, 
überhaupt erſt die eigentliche Wirkungszeit eingeſetzt. Solange die Grundlagen 
ber akuſtiſchen Verhältniſſe, als ba find Tonarten und Harmonik, die gleichen find, 
braucht ſich die Wirkungsfähigkeit eines Komponiſten nicht zu erſchöpfen. Aber 
gerade in der Oper wirkt nod fo viel anderes mit, was ein raſcheres Veralten be- 
günſtigt, und zwar iſt es in beſonders hohem Maße das Nichtmuſikaliſche in der 
Oper: Handlung, Szene, Art der Ausſprache der Gefühle. Von einer ganzen 
Reihe älterer Werke unſerer Opernliteratur ijt die Muſik durchaus noch wirfungs- 
fähig, aber nur für fid) allein, nicht in Verbindung mit den dramatiſchen Bor- 
gängen. Hier wirken alfo noch ganz andere Umſtände mit, als der Hamburger 
Theaterdirektor angeführt hat, und der eigentliche Grund des raſchen Veraltens 
gerade der Oper liegt zuallererſt in der Problematik dieſer ganzen Kunſtgattung. 

Jedoch ändern die Gründe ja nichts Weſentliches an den Tatſachen, für die 
feſtzuhalten iſt, daß aus der ungeheuren Maſſe der geſchaffenen Opern, die, wie 
ein Blick in Riemanns Opernlexikon zeigt, ſicher in die Hunderttauſende gehen, 
nur ein verſchwindend kleiner Bruchteil unſerem Geſchlechte, unſerer Zeit noch 
lebendig ijt. Nur mit dieſen noch heute lebensfähigen Werken kann ein Opern- 
repertoire rechnen. Sicher „find wir Deutſchen in der Pflege des Opernkunſtwerkes 
. . . noch die am meijten Begünſtigten. Unſere Schaubühne vermag dank ihrer 
Einrichtung, vermag dank dem wechſelnden Repertoire uns wenigſtens heute einen 


184 Storck: Unſer Opernfpielplan 


Überblick darüber zu gewähren, was von ſolchen Kunſtwerken für uns noch blüht. 
Keine Nation kann unſerem Theater, unſerer Opernbühne, darin etwas Gleiches 
an die Seite ſetzen. Denn wenn die Franzoſen auch in ihren großen Opernhäuſern 
wechſelndes Repertoire und damit die hervorragenden Kunſtwerke ihrer eigenen 
Nation pflegen, fo haben fie doch, wenigſtens was die früheren Jahrhunderte be- 
trifft, eine viel beſchränktere Auswahl getroffen als wir. Das franzöſiſche Opern- 
repertoire pflegt nur neben den heutigen Komponiſten die ältere franzöſiſche 
Oper und von ausländiſchen Richard Wagner. Wir hingegen haben von Fran- 
zoſen, Italienern und nicht zuletzt von Deutſchen die Kunſtwerke uns lebendig er- 
halten, die für uns Meiſterwerke bedeuten.“ 

Dem Tatſächlichen, was Loewenfeld an der Hand der Statiſtik über unfer 
Opernrepertoire ſagt, iſt wenig hinzuzufügen. In der Tat hat Richard Wagners 
Erſcheinen eine völlige Umwälzung herbeigeführt. Das Publikum der Oper ift 
ein ganz anderes geworden, als früher. Die Oper iſt durch Richard Wagners 
Muſikdrama zu einem Gegenjtanbe unſeres Bildungslebens erhoben worden, wäh- 
rend fie zuvor im weſentlichen nur eine Unterhaltung und allenfalls für 9Xufil- 
freunde ein muſikaliſcher Leckerbiſſen war. Dadurch ſind die geiſtigen Maßſtäbe, die 
wir an die Oper legen, ganz andere geworden. Lebendig behauptet haben ſich 
Mozart mit „Figaro“, „Don Juan“ und „Zauberflöte“, in etwas geringerem 
Maße mit der „Entführung“ und leider auch in dieſem geringen Maße mit „Cosi 
fan tutte“. Bethovens „Fidelio“ ſchließt ſich an. Von Weber lebt ſo recht nur 
der „Freiſchütz“. „Euryanthe“ und „Oberon“ leiden am Texte, und es wäre eine 
ſchöne Aufgabe für ben Deutſchen Bühnenverein, bier einmal durch Preisausſchrei- 
ben Abhilfe zu verſuchen. Marſchner wird aufs bedauerlichſte vernachläſſigt. Gluck 
kommt immer nur in einigen Pflichtvorſtellungen. Meyerbeers „Prophet“ und 
„Hugenotten“ werden fid), ebenſo wie Halévys „Jüdin“, noch lange zu halten ver- 
mögen, weil in ihren Textbüchern die große franzöſiſche Theaterkunſt der Mitte 
des neunzehnten Jahrhunderts eingefangen iſt. Bezeichnend iſt, wie Loewenfeld 
hervorhebt, die Tatſache, daß Spontini durch Meyerbeer ganz aufgeſogen wurde. 
„Sie beweiſt uns eins der ehernſten Geſetze der Theatergeſchichte, daß beim lebendi- 
gen Kunſtwerk das Beſſere dann immer der Feind des Guten iſt, wenn dieſes Beſſere 
alle einmal gebrachten Elemente des älteren Kunſtwerkes in ſich aufſaugt und in 
neuer, gefälligerer Form verwendet und erſtehen läßt. 

Meyerbeer bat ſämtliche Elemente der Spontiniſchen Oper in fih aufgeſogen 
. . 5 aber er hat etwas hinzugefügt, das Spontini nicht beſaß, und das die Spontini- 
ſchen Opern weit hinter die Schöpfungen des Jüngeren zurücktreten ließ. — — — 
Wir haben dann noch vor Wagner eine Reihe von Komponiſten in Rechnung zu 
ziehen, die, durchaus deutſch, mit zur eiſernen Ration unſeres Opernrepertoires 
gehören: Lortzing mit ſeinen anſpruchsloſen, liebenswürdigen Spielopern oder 
muſikaliſchen Luſtſpielen beliebteſten Genres und den genialen Nicolai mit ſeinen 
einzigen „Luſtigen Weibern“. Hier wäre auch Flotows mit ſeiner „Martha“ oder 
„Aleſſandro Stradella“ zu gedenken.“ 

Dagegen büßen die franzöſiſchen Spielopern, die faſt ein Jahrhundert lang 
zu den Lieblingen des deutſchen Publikums gehört haben, feit einem Viertel- 
jahrhundert dauernd an Beliebtheit ein, wenigſtens muß man das aus ben ftatifti- 


Storck: Unfer Opernfpielpian 785 


(den Ausweiſen über ihre Aufführungszahl ſchließen. „Es find das die Kom- 
poniſten Auber, Adam, Bellini, Boieldieu, Donizetti, Maillart, 9Rébul unb Roſſini. 
Während früher mindeftens eins oder mehrere der chefs d’euvre eines jeden 
dieſer Komponiſten auf der Abendordnung ſtand und Adams „Poſtillion“, Aubers 
„Fra Diavolo“, ‚Schwarzer Domino“, „Teufels Anteil“, „Maurer und Schloſſer“, 
„Stumme von Portici‘, Boieldieus , Johann von Paris“, „Weiße Dame“, Donizettis 
„Lucia von Lammermoor’, ,Regimentstodter’, Roffinis „Wilhelm Tell“ und „Bar- 
bier von Sevilla‘ zu den fo beliebten Opern gehörten, daß man ein Opernrepertoire, 
ohne dieſen Werken häufiger zu begegnen, ſich gar nicht denken konnte, nimmt das 
Begehren nach dieſen liebenswürdigen Schätzen unſerer Literatur immer mehr ab. 
Von bem unverwüſtlichen „Barbier von Sevilla“, ber nach wie vor das Lieblings- 
(tüd aller Opernnachtigallen bildet, abgeſehen, bat es ſich (don hier und da heraus- 
geſtellt, daß es der Schatzgräber bedarf, um die eine oder andere Oper neu überſetzt 
oder bearbeitet an das Tageslicht zu führen, um fie dann einige Male vor nicht allzu 
ſtark beſetztem Hauſe in Szene gehen zu laſſen.“ 

Der Einwand, der hier wie auch bei Mozart oft gemacht wird, daß uns die 
geeigneten Sänger fehlen, ift nicht ſtichhaltig. Die Sänger würden fi finden, 
d. h. ſie würden ſich für dieſe Sonderart beſonders ausbilden, wenn ausreichende 
Nachfrage danach vorhanden ware. 

Hören wir nun noch einmal den wörtlichen Ausführungen Loewenfelds zu: 
„Ich habe mich deshalb etwas ausführlicher mit den zeitlichen Vorgängern Richard 
Wagners befaßt, weil die ganze ethiſche Kunſtaufgabe eines Operndirektors in 
dieſem Schutze der Schwachen gegenüber dem allmächtigen, erdrückenden Koloſſe 
Wagners beſteht. Wenn wir dem Geſchmacke des Publikums nachgeben könnten 
und würden, genügte eigentlich Richard Wagner dem geſamten Bedürfnis an 
Opernkunſtwerken. Einige ganz populäre Werke ausländiſcher Komponiſten wie 
„Carmen“, „Mignon“ uſw. noch dazugerechnet, würden fie ganze Opernkreiſe in vielen 
Städten reſtlos befriedigen. Ich kann mir auch ein deutſches Opernrepertoire 
nicht ohne die faſt ausſchließliche Pflege Richard Wagners denken. ... In keiner 
Kunſt, weder in der produzierenden noch in der reproduzierenden, haben wir eine 
ähnliche Erſcheinung. — — — Soll man nun den Willen des Publikums dahin be- 
günſtigen, daß man dem Wagnerifhen Kunſtwerk dieſen Platz an der Sonne im 
weiteſten Maße einräumt? Oder ſoll man dem entgegenarbeiten? Auf der einen 
Seite nötigt die Überzeugung, daß tatſächlich in Wagner die höchſte Höhe der Oper, 
ſoweit wir Heutigen ſie überſchauen können, erklommen iſt, zu der Bevorzugung. 
Auf der anderen Seite muß ſich aber für jeden, der der Kunſt und ihrer Geſchichte 
objektiv gegenüberſteht, ſofort der Zweifel regen, ob aus dieſer Begünſtigung nicht 
ein tatſächlicher, innerlicher Schaden entſtehen kann. ... Denn dadurch, daß man 
die übrigen Kunſtwerke vor und um Wagner vernachläſſigt und fie nicht immer 
und immer wieder in das beſte Licht rückt, vergrößert man die Kluft, die zwiſchen 
der Nation und dieſen dem Empfinden ſich immer mehr und mehr entfremdenden 
Kunſtwerken allmählich auftut. Ja, es hieße das Opernkunſtwerk aufgeben und 
damit die ſchönſten Blüten eines ganzen Kulturlebens vernichten, wenn man das 
Wagneriſche Muſikdrama allein zur Suprematie gegenüber allen TAN pu 

Der Türmer XV, 6 


786 ` ` Gtords Unfer Opernſplelpian 


werken brächte. Und auch um Wagner bat es Genies ber dramatiſchen Kunſt ge- 
geben, bie in ihrem Sinne einen gewaltigen Ausdruck des Kunſtempfindens ihrer 
Zeit bedeuten.“ 

Loewenfeld verweiſt danach auf die wenigen Werke, bie fid) im nachwagneri- 
ſchen Repertoire zu behaupten vermochten, als da ſind Verdi und die Jungitaliener 
Mascagni, Leoncavallo, Puccini, Gounods „Margarete“, Thomas“ „Mignon“, 
Bizets „Carmen“, Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen“, Humperdincks „Hänfel 
und Gretel“, Kienzls „Evangelimann“ (d. h. dieſes Werk hat Loewenfeld über- 
ſehen), d' Alberts „Tiefland“. Dazu kommen dann die Werke von Richard Strauß, 
für die Loewenfeld nur in den enormen Aufführungsſchwierigkeiten Hemmniſſe ſieht, 
um fie zu Repertoireopern werden zu laffen. Aber es kommt ja auf das eine oder 
andere nicht an. Wir erhalten als Tatſache: „Alles in allem ſind es etwa 80 Opern, 
die man im engeren Sinne als deutſches Opernrepertoire betrachten darf. Eine 
Zahl, die groß iſt anderen Nationen gegenüber, die aber verhältnismäßig klein 
wird, wenn wir in ihr den ganzen Kreis der Schöpfungen ſehen müſſen, die wir 
in dem engen Bretterhaus der Opernbühne ausſchreiten follen. Und dieſer Kreis 
wird für die Praxis noch durch das ſchon erwähnte Übergewicht verengert, das 
Richard Wagners Opern mehr und mehr einnehmen.“ 

Wichtig iſt nun die Antwort, die dieſer Theaterpraktiker auf die Frage gibt, 
„wie man ſich gegen das, man kann, ohne mißverſtanden zu werden, gewiß ſagen: 
für den muſikaliſch-geiſtigen Horizont des Volkes ſchädlich e Übergewicht der 
Wagneriſchen Schöpfungen wehrt“. 

Wagner habe für unſer ganzes Opernempfinden Geſetze aufgeſtellt, die nicht 
mehr zu umgehen find und deshalb auch für die älteren Werke berückſichtigt werden 
müſſen. „Man kommt in das Theater heute nicht nur zu hören, ſondern auch zu 
(eben, nicht mehr gütig zu ũ ber ſehen. Das gilt für das Kunſtwerk ebenſo wie 
für den Darſteller. Will man nun dem breiteren Publikum die ältere Oper, kurz 
das geſamte Repertoire wieder künſtleriſch ſchmackhaft machen .. , fo muß fid) das 
Augenmerk der Ausübenden darauf richten, das ältere Kunſtwerk von alledem 
zu befreien, was es für den mehr als muſikaliſchen, anſpruchsvolleren Hörer un- 
genießbar macht. Auf muſikaliſchem Gebiet ſelbſt gehört zunächſt dahin, daß man 
es verſucht, in den älteſten Kunſtwerken den unleidlichen Zwang, den die alte 
mufikaliſche Form mitunter mit (id bringt, mit künſtleriſcher Hand — und nur 
eine ſolche darf es wagen — zu zerbrechen. Man muß fich nur eingeſtehen, wie un- 
leidlich für unſer heutiges Empfinden zahlloſe Wiederholungen in Arien, Chören 
wirken, die aus dem Empfinden einer muſikaliſchen Form, das für uns heute nicht 
mehr lebendig ift, herausgeboren wurden. Ich weiß nicht, ob man bei der Be- 
arbeitung älterer Kunſtwerke entgegen einer falſchen muſikaliſchen Pietät für das 
Lebendigerhalten des geſamten Kunſtwerkes bei vorſichtiger Anwendung dieſer 
auf den erſten Anblick barbariſch klingenden Neuerung Gutes erreichen könnte. So- 
dann bedarf der Text, namentlich die Überfegungen der franzöſiſchen und italieni- 
ſchen älteren Oper, einer gründlichen Säuberung. — — Eine Neueinſtudierung 
einer alten Oper aber, wenn ſie wirklich den Zweck haben ſoll, das verblaßte und 
verblichene Werk der Bühne zurückzuerobern, muß auch die anderen ſzeniſchen 
Forderungen erfüllen, die ſeit Richard Wagner das Unumgängliche geworden 


Stord: Unfer Opernſplelplan 787 


find. . .. Ein Theaterdirektor hat andere Pflichten wie ein Muſeumsdirektor. Die 
alten Schätze an Kunſtwerken und an Bildern, die ihm zu hüten aufgetragen 
ift, bedürfen nicht zu ihrer Wirkung auf den Beſchauer der Renovierung. Denn 
gerade in der Wirkung des Hiftorifchen liegt für ben Beſchauer der Wert.. Der 
Theaterdirektor aber muß mit anderen Faktoren rechnen. Einmal mit der Re- 
produktion. Durch das Mittel der Reproduktion wird das Kunſtwerk ein anderes. 
Es iſt nicht mehr aus dem Geiſt der Zeiten heraus entſtanden, kann alſo auch nicht 
mehr ſo in dieſem Geiſte wirken. Sodann wendet es ſich an ein Publikum, das 
abſolut im muſikaliſchen Leben der Gegenwart ſteht und ſich nicht mit hiſtoriſchen 
Kompromiſſen befaſſen kann. Man darf deshalb nicht verſuchen wollen, ein Publi- 
kum in ſeiner Geſamtheit für einen hiſtoriſchen Geſchmack zu erziehen. Das Ge- 
ſetz des Wandels in der Muſik und der theatraliſchen Kunſt nicht minder iſt eben 
ein anderes, wie das ber redenden und bildenden Künſte. — — Auch die Gene- 
ration der Sänger, die heute lebt und die zum Teil ſchon im Geiſte Richard Wagners 
erzogen und groß geworden iſt, muß ſich immer und immer wieder vor Augen 
halten, daß fie zur Belebung der älteren Kunſtwerke vor der ſchwerſten aller Pflich- 
ten ſteht; nämlich die Geſtalten dieſer älteren Kunſtwerke ſtändig mit neuem Geiſte 
zu durchtränken und zu durchdringen. Alles das, was die geſteigerte Ausdrucks- 
fähigkeit im Nachſchaffen Wagneriſcher Geſtalten bedingt, ift cum grano salis auf 
bie ſchemenhaften Figuren des älteren Opernkunſtwerkes anzuwenden. ... Nichts 
leichter, als eine alte Oper, bie einmal, wie es im Theaterjargon heißt, ‚itebt‘, 
herunterhaſpeln. — — Zedoch wie unendlich ſchwer iſt gerade die Wiederbelebung 
einer ſolchen älteren Oper bis zu dem Maße, daß der moderne, durch Wagner 
geſchulte Zuhörer an ihr ein reines Vergnügen hat. Unverhofft, aber überzeugend 
ift jedoch dann die Wirkung, wenn alle die ſcheinbaren Gleichgültigkeiten, die Er- 
müdungen durch Wiederholung, bie Anmöglichkeiten des Textes, bie ſzeniſchen 
Banalitäten, die lächerliche Trennung von Hauptakteur und Reifenhalter beſeitigt 
ſind. Wenn wir in einer alten komiſchen Oper hinter der zerbröckelten Schale 
den Kern eines wirklichen muſikaliſchen Luſtſpieles gewahren, das von liebens- 
würdigen, nicht auf die Wirkung ihrer Perſon, ſondern auf die Wirkung des ganzen 
Werkes bedachten Sängern ans Licht der Rampen gebracht wird, ſo hebt ſich auf 
einmal vor den erſtaunten Augen ein Phönix aus der Aſche.“ 

Zum Schluſſe betont dann Loewenfeld mit Recht, daß, ſolange unſere Büh- 
nen durchaus vom Kaſſenberichte abhängig ſind, es in der Natur der Sache liegt, 
daß jene Werke aufgeführt werden, bie Kaſſe machen. Darum fei es Pflicht, Ber- 
hältniſſe zu ſchaffen, die einen ſteten Uberblid über das Geſchaffene, wie auf der 
anderen Seite die Neueinſtudierung älterer Werke, die keinen großen Gewinn 
verſprechen, ermöglichen. Auch in der allzu ſtarken Ausnutzung der Kräfte durch 
das tägliche Spielenmüſſen ſieht er mit Recht eine ſchwere Schädigung. „Die 
eiſerne Notwendigkeit, an jedem Abend zu ſpielen, trotz Vorbereitungen für Werke, 
bie die ganze Aufmerkſamkeit und die ganze Kraft des Künſtlers in Anſpruch neb- 
men, der Zwang, an jedem Abend den ganzen großen Betrieb eines Theaters, 
Künſtlerperſonal, Chor und Orcheſter und den techniſchen Apparat auf ein Werk 
einzuſtellen, das naturlich nicht jedesmal eine ausgedehnte Vorbereitung haben 
kann, zwingen zur Vernachläſſigung einzelner Abende in dieſem zu ſtarken Be- 


788 Storck: Unfer Opernſplelpian 


triebe. So erreicht denn jedes Operntheater ein paarmal in der Saiſon gewiſſe 
Höhepunkte, aber eine große Zahl der Vorſtellungen muß notwendig unter der 
Fülle des Gebotenen leiden. Auch da müßte der Staat das Theater in die Lage 
ſetzen, weniger und dadurch mehr bieten zu können.“ — — — 

Halten wir uns zunächſt an dieſen Schlußſatz. Wir haben heute ſchon eine 
große Zahl von Bühnen, bie als Hoftheater entweder vom Staat oder als Stadt- 
theater von den Gemeinden bedeutende Zuſchüſſe erhalten. Nach der ganzen Ent- 
wicklung der letzten Jahre iſt es ſicher, daß immer zahlreichere Städte ihre Theater 
in eigene Verwaltung nehmen werden. Dazu wird auch die ſoziale Entwicklung 
der Schauſpieler und Orcheſtermuſiker beitragen, bie wir auf die Dauer nicht wie bis- 
her in die Abhängigkeit von oft zweifelhaften Unternehmerexiſtenzen geben dürfen. 
Nun fagt ein altes Wort: Wer tatet, der ratet. Nach meiner Überzeugung erfüllen 
die Städte und ſtädtiſchen Behörden in keiner Weiſe die Pflicht, die ſie mit der 
Anterſtützung von Theatern gegen das Volk, das letzterdings diefe Unterſtützung 
bezahlt, übernehmen. Gerade unſere am ſtärkſten unterſtützten Hofbühnen, die 
Berliner Hofoper voran, zeigen in ihrem Repertoire eine Einſeitigkeit und bei den 
verſchwindend geringen Unternehmungen für Neuheiten und Neueinſtudierungen 
eine Planloſigkeit, daß es für jeden Kunſtpolitiker unbegreiflich ijt, daß die betreffen- 
den Abgeordnetenhäuſer und Landtage zu einer ſolchen Mißwirtſchaft ſchweigen. 
Was gerade hinſichtlich des zeitgenöſſiſchen Schaffens von der Berliner Hofoper 
nicht getan wird, ſchreit zum Himmel. Wie die reichen Wittel immer und immer 
wieder am falſchen Orte verſchwendet werden, fo daß fie dann natürlich dort feh- 
len, wo ſie notwendig ſind, ſtellt eine Mißwirtſchaft dar, die an keiner anderen 
der öffentlichen Aberwachung unterſtehenden Stelle möglich wäre. 

Man mag bie Parlamentsberichte wie die der Stadtverordnetenverſamm- 
lungen der verſchiedenen Städte nachleſen: Was hier zur Kunſtpolitik bes Thea- 
ters, zumal der Oper, vorgebracht wird, zeugt faſt immer von einem geradezu 
erſchrecklichen Tiefſtand. Eine unglaubliche Unkenntnis verbindet ſich mit einem 
Tiefſtand des Geſchmackes, den man bei Gebildeten für unmöglich halten ſollte, 
einem Mangel an größeren Geſichtspunkten, einer inneren Gleichgültigkeit, über 
bie die immer fo ſelbſtgefällig wiederholten Phraſen von der Pflege der Ideale uſw. 
nicht hinwegtäuſchen können. Entweder man made hier wirklich Ernſt, er- 
kenne die ſchweren Verpflichtungen, oder man überlaſſe Theater und Oper 
ihrem Schickſal. Eine ſchlimmere Fortwurſtelei, als wir ſie jetzt haben, iſt auch 
dann nicht möglich, wenn dieſe Gebiete völlig dem privaten Unternehmertum 
ausgeliefert ſind. 

Den guten Willen vorausgeſetzt, find aber die Wege zum Ausbau eines wert- 
volleren Opernſpielplanes doch viel zahlreicher und offenſichtlicher, als aus dem 
Vortrag Loewenfelds hervorgeht. 

Der Grundirrtum, in dem ſich dieſer Theaterleiter und mit ihm weite Kreiſe 
befinden, iſt, daß unſer Opernrepertoire wirklich etwas organiſch, mit einer ge- 
wiſſen inneren Notwendigkeit Gewordenes ſei. Das iſt nicht wahr. Loewenfeld 
ſelbſt untergräbt dieſe ſeine Anſchauung, wenn er ausführt, wie überraſchend 
oft ältere Werke bei einer wirklich ſorgfältigen Einſtudierung ſich auf einmal als 
Phönix aus der Aſche zu erheben vermögen. Einer der erbittertſten Feinde eines 


Storck: Unſer Opernſpielplan 789 


wirklich künſtleriſchen Spielplanes ijt in der Tat der Theaterſchlendrian. Er unter- 
gräbt vorzeitig bie Lebensfähigkeit der älteren Opernliteratur. Faft niemals be- 
kommt man, außer den wenigen Fällen, in denen einmal aus irgendeinem Grunde 
ein ſolches älteres Werk gründlich einſtudiert wird, eine einigermaßen anſtändige 
Aufführung zu ſehen. Man behauptet, dieſe Werke „ſtänden“, und damit kommen 
fie zu Fall. 

Sie „ſtehen“ eben nicht. Sie find durchſetzt mit einer Fülle von Unfinn und 
Unart. Sie find vor allen Dingen niemals auf das Zuſammenſpiel herausgearbeitet; 
man bekommt ſelbſt im guten Falle bei ihnen nur ein Stück in Stücken, niemals 
ein Ganzes. Würden dieſe Werke ſorgfältig einſtudiert und durchgearbeitet, ſo 
würde ſich der alte Beſtand außerordentlich vermehren laſſen. Nicht nur die fran- 
zöſiſche Spieloper, auch eine ganze Reihe älterer italieniſcher komiſcher Opern 
find bei guten Aufführungen unbedingt lebensfähig. Es ift ein fo großes Ber- 
langen in unſerer Zeit nach einer wirklich feinen Unterhaltungskunſt, daß das 
Publikum für die komiſche Unterhaltungsoper überall vorhanden iſt. 

Viel ſchwerer hat es die ernſte dramatiſche Oper der Vergangenheit, in der 
wir uns niemals in dem Gefühle des bewußten Unterhaltungsſpiels befinden, fon- 
dern von der wir Lebensausdruck verlangen. Aber es iſt nicht wahr, daß z. B. Gluck 
nicht lebensfähig iſt. Man muß ſich nur gegenwärtig halten, daß man Gluck hat 
erben laffen, und daß man für ibn dieſelbe Arbeit zu leiſten hat, ja im Grunde 
eine noch ſtärkere, als für Neuheiten. Dann aber lohnt ſie ſich. Ein gleiches gilt 
für Marſchner. Wo ein wirklicher Künſtler, wie z. B. Hans Pfitzner, die Neu- 
einſtudierung einer Oper von Marſchner mit wirklich gründlicher Neuarbeit ge- 
leiſtet hat, da iſt auch das Publikum mitgegangen. Über den Geift dieſer Neu- 
arbeit hier zu ſprechen, würde zu weit führen. Man muß ſcharf unterſcheiden 
und darf nicht alles aus dem Geiſte Wagners behandeln wollen. Die komiſche 
Oper von vornherein nicht. Hier find die Anregungen viel eher aus der Spielweife 
des modernen Konverſationsſtückes zu gewinnen. 

Das Verhältnis unſerer Theaterdirektoren zu der vorwagneriſchen Opern- 
literatur ift durchaus falſch. Dieſe Werke werden hauptſächlich mit Rückſicht auf 
die Abonnenten herausgebracht, um für diefe die nötige Abwechſlung in den Spiel- 
plan zu bringen, weil man ihnen nicht immer wieder dieſelben Werke vorſetzen 
kann. Oder die Werke werden raſch herausgeworfen, um die noch immer üblichen 
Gaſtſpiele einzelner auf einige Rollen reiſenden Primadonnen und Tenorhelden zu 
ermöglichen. Auch da verſchwindet natürlich das Werk mit dem Gaſtſpiel, denn 
es iſt ja nur auf das Notdürftigſte einſtudiert worden. Endlich — und das trifft 
wohl vor allem für Hoftheater zu — werden klaſſiſche Werke als eine läſtige Re- 
präfentationspflicht abgetan. 

So iſt natürlich nichts zu erreichen. Der Theaterdirektor muß überzeugt 
ſein, daß dieſe Werke in einen künſtleriſchen Spielplan gehören, und muß mit 
allen ihm zu Gebote ſtehenden Mitteln für die künſtleriſche Herausarbeitung dieſer 
Werke Sorge tragen. Sie find keine Gyülljel, ſondern ebenſo wichtig, wie die beiten, 
zugkräftigſten Wagneropern. Das muß ſich auch in der Ausſtattung kundtun. 

Genau ſo ſchlecht, wie dieſe alten Opern, werden die Neuheiten behandelt. 
Abgeſehen vom „Ruf der Bühne“, der ja doch erhalten werden muß, iſt ſchier 


190 Storck: Unter Opernſplelplan 


jeder Theaterleiter durch irgendwelche örtlichen Rückſichten gezwungen, in jeder 
Spielzeit einige Neuheiten zu bringen. Vier Fünftel dieſer Arbeit empfindet er 
als läſtige Pflicht und behandelt fie danach. Eine forgfältige Ausſtattung, Be- 
ſetzung mit erſten Kräften wird nur jenen Werken zuteil, von denen man ſich von 
vornherein verſpricht, daß ſie ein Zugſtück abgeben. Die anderen Werke werden 
eben notdürftig hinausgeſtellt, um der Pflicht zu genügen, und man begrüßt förm- 
lich den erſten ſchlechten Kaſſenbericht, um einen guten Grund zu haben, das Werk 
wieder abzuſetzen. 

Lehrreich iſt hier der Gegenſatz zwiſchen den Operettenbühnen und unſeren 
Operntheatern. Die Geſamtlage hat fih jo entwickelt, daß unſere Operetten- 
bühnen in der Regel abhängig ſind von einigen Verlegern. Dieſe Verleger machen 
das Durchhalten einer neuen Operette zur Verpflichtung. So wird ein betradt- 
liches Kapital, werden alle guten Kräfte für das neue Werk eingeſetzt. Gegen die 
Lauheit, ja ſogar gegen die Ablehnung durch Kritik und Publikum wird das Werk 
durchgehalten, und allmählich wird ihm ein Erfolg erzwungen. 

Ich bin weit davon entfernt, dieſen Zuſtand für geſund zu halten, — aber 
man ſoll von den „Kindern der Finſternis“ lernen und ſoll die Mittel, mit denen ſie 
ihre üblen Werke durchhalten, auch zum Schutze der ernſten, großen Kunſt an- 
wenden. Es iſt ſchlechterdings unmöglich, daß ein bedeutendes Opernkunſtwerk, 
wenn nicht ganz äußere Verhältniſſe oder die Ausnahmeſtellung des Romponiften, 
wie etwa bei Richard Strauß, dazu mitwirken, ſofort ſein Publikum findet. Es 
iſt mit der Muſik ganz anders, als mit dem geſprochenen Drama. Die Neugier 
treibt nicht ins Opernhaus. Man hat ein viel näheres Verhältnis zu einer be- 
kannten Muſik, als zu einer neuen. Der Theaterdirektor, der eine neue Oper aus 
künſtleriſcher Überzeugung annimmt, ſollte es ſich zur Gewiſſenspflicht machen, 
dieſes Werk Jahre hindurch in jährlich mehreren Wiederholungen auf ſeiner Bühne 
zu halten. Heute geſchieht das Gegenteil. Möglichſt raſch werden dieſe neuen 
Werke wieder abgeſetzt. Man wendet kein einziges der ſonſt üblichen Mittel an, 
um das Intereſſe des Publikums für fie zu wecken. Man läßt niemals in ihnen be- 
deutende Künſtler als Gäſte auftreten, ſondern die ſtellt man in Werken heraus, 
die entweder ſowieſo den Spielplan beherrſchen, oder die man für dieſen Zweck 
aus dem Alteſten ausgräbt und, wie oben ausgeführt, ſchludrig ausſtellt. Man 
bringt nichts Beſonderes in der Ausſtattung, man arbeitet nicht genügend in der 
Preſſe, man tut überhaupt nichts, um das Publikum darauf hinzuweiſen, was es 
hier zu erwarten und zu ſuchen hat. 

Da ift es denn kein Wunder, daß diefe Werke bald verſinken. Hat man aber 
in dieſem Lotterieſpiel — als ſolches werden die Neuheiten von den Cheaterdiret- 
toren geradezu betrachtet — einen Treffer gezogen, jo wird auch ein ſolches er- 
folgreiches Werk um feine Qauerftellung im Spielplan betrogen. Da hetzt man ben 
Erfolg zu Tode. Die Vorſtellungen folgen einander ſo raſch, daß das Ganze den 
Charakter einer Senſation erhält. Natürlich kommt die Eilfertigkeit, mit der man 
nun das betreffende Werk ,gejeben haben muß“, dem tieferen Eindringen desſelben 
nicht zugute. In der nächſten Spielzeit wird es dann allenfalls noch einige Mal 
aufgenommen, aber, da die Kaſſenberichte nun nicht mehr ſo günſtig ſind wie zu 
Beginn, bald endgültig fallen gelaſſen. 


Storck: Unfee Opernſplelplan 791 


Richard Strauß, der die heutigen Bühnenverhältniſſe aus eigener Erfahrung 
genau ſtudiert bat, hat nicht umſonſt bei den Vorverhandlungen des „Rofen- 
kavaliers“ zur Bedingung gemacht, daß auch ſeine übrigen Werke ſo und ſo viele 
Jahre lang im Spielplan gehalten werden müßten. Hätte er die Folgerung ge- 
zogen, auch der Zahl der Aufführungen der erfolgreichen Neuheiten während einer 
Spielzeit eine Grenze zu ſetzen, ſo hätte er ſich mit der ganzen Maßregel ein großes 
Verdienſt um unſern Bühnenſpielplan erworben. Strauß hat auch das von uns 
oben gekennzeichnete gleichgültige Verhalten vieler Direktoren gegen die von 
ihnen angenommenen Neuheiten ſcharf betont. „Nur die ganz Unkundigen, die 
den Theaterbetrieb nie anders als vom Parkett oder vom Schreibtiſch aus zu be- 
urteilen in bie Lage kommen, fallen heute noch auf die Anſicht herein, jeder Bühnen- 
leiter werde doch von ſelbſt aus Kunſt- oder Geldintereſſe das Beſte für die von 
ihm übernommenen Werke leiſten. Jeder Kundige muß — ſo traurig die Sache 
iſt — über eine ſo naive Vorſtellung lächeln. Wenigſtens haben bei den zurzeit 
ſchwebenden Verhandlungen über einen „Normalvertrag“ alle an den Beratungen 
beteiligten Autoren, darunter Männer mit reicher Theater-Erfahrung, wie Oskar 
Blumenthal, Fulda, Sudermann uſw., geradezu den entgegengeſetzten Stand- 
punkt vertreten: von einem Bühnenleiter ift um fo eher anhaltendes Intereſſe 
für die von ihm übernommenen Werke und die Anſpannung aller ſeiner Kräfte 
für wirklich gediegene künſtleriſche Leiſtungen zu erwarten, je mehr er finanziell 
bei der Aufführung einzuſetzen hat.“ 

Bei allen dieſen Erwägungen laffe ich mich durchaus von realpolitiſchen Ge- 
ſichtspunkten leiten. Ich weiß, daß unſer Theater ein Kompromiß ſein muß. 
Auch wenn bie Unterſtützungen durch die Öffentlichkeit noch viel größer würden, 
als ſie es ſind, wird ein Theater „verdienen“ müſſen. Nun ſcheint es mir allerdings 
ein febr gefährliches Wageſtück, wenn man auf der einen Seite den Operetten- 
ſchund pflegt mit der Begründung, dieſe größeren Einnahmen wolle man dann 
für jene künſtleriſchen Werke verwenden, die ſich nicht rentieren. Das ijt gefähr- 
lich, wie es jeder Dienſt am Schlechten ſein muß, iſt aber auch überflüſſig. 

Wir unterſchätzen unfer Publikum. Es ift gar nicht wahr, daß dieſes Publi- 
kum für gute Muſik, auch für gute Neuheiten nicht zu haben iſt. Man darf es ganz 
ruhig (agen, daß unfer Theater jenes Publikum haben wird, 
das es haben will. Es iſt da viel geſündigt worden, und die ſchwerſte 
Sünde iſt, daß durch die hohen Preiſe für Opernvorſtellungen weite Teile der 
Bevölkerung vom Beſuch unſerer Opernhäuſer ferngehalten werden. Hier hat die 
öffentliche Tätigkeit zuerſt einzuſetzen. Aber ſo gut ſeinerzeit die „Zauberflöte“ 
ſofort populär werden konnte, fo gut ber „Freiſchütz“ vom ganzen Volke mit Jubel 
aufgenommen wurde, ſo gut überhaupt unſer Volk von der Mitte des achtzehnten 
bis in die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts ſeine Lieblingslieder aus guten 
Opern und Singſpielen genommen hat, ſo gut muß das auch heute noch gehen. 
Die Tatſache, daß dagegen alle neuen volkstümlichen Lieder die elendeſten Erzeug- 
niſſe der Schundoperettenliteratur find, ſpricht Bände. Gebt dem Volke gute 
Nahrung, es wird mit Freude danach greifen! 


e» 


Eine Schmach ber Chriſtenheit! 


ine Schmach fiir die geſamte chriſtliche 
Welt iſt's, was der bekannte Orient, 
politiker Dr. Zädh aus einem an ihn gerid- 
teten Brief eines höheren deutſchen Beamten 
in der Türkei veröffentlicht. Es heißt da u. a.: 
„Oer entſetzliche Eindruck der geradezu 
fanatiſchen Verfolgung, durch die jetzt das 
türkiſche Volk in Europa von den chriſtlichen 
Eroberern einfach vernichtet wird, drängt 
mich, Sie zu bitten, im Namen der Menid- 
heit für das tüͤrkiſche Volk einzutreten. Wenn 
Sie wie ich die Zuſtände nach (!) der Ottu- 
pation geſehen hätten, Sie würden es in 
alle Welt hinausſchreien: Laßt 
uns das türlifhe Volk retten, ehe es zu fpät 
ijt, ehe alle Türken von fogenannten Chriſten“ 
dahingemordet ſind. Ich verſichere auf Grund 
meiner eigenen Erlebniſſe: Das Hin- 
ſchlachten der Türken in Maze- 
donien und Albanien iſt ein 
ganz foftematifdes. Es wird ge- 
duldet und gern geſehen von 
den verantwortlichen Stellen 
der vier Balkanbundesſtaaten 
Inzwiſchen werden andauernd weitere ver- 
nichtende und doch völlig erwieſene Anklagen 
erhoben, die jene „Helden“, darunter auch re- 
guläres Militär mit ihren Offizieren 
als den Abſchaum der Menſchheit, nicht würdig 
dieſes Namens, erſcheinen laffen. Organifierte 
teufliſche Maſſenmorde mit raffinierteften Fol- 
terungen und ben verruchteſten Sittlichkeits- 
verbrechen an Frauen und Kindern, die der 
viehiſchen Brunſt dieſer Beſtien tauſendweiſe 
zum Opfer fallen. Das ijt die „Befreiungs- 


tat“ der „chriſtlichen“ Sieger! Was hier vor- 
geht, läßt ſich nicht mehr mit der billigen 
Phraſe „Krieg iſt Krieg“ abtun. Es ſchändet 
das Kriegshandwerk. Nicht einmal die fyfte- 
matiſche Maſſenabſchlachtung Wehrloſer zu 
verhindern hat's alfo bei den ganzen „chriſt⸗ 
lichen“ Großmächten gelangt! Den ſelben 
Großmächten, die noch ein paar Tage vor 
dem Ausbruch des Krieges die Türkei zur Ab- 
mobilifierung bewogen und (id) dadurch mit- 
verantwortlich für dieſe Beſtialitäten machten! 
Nicht einmal ein Proteſt! Nicht einmal der 
Verſuch eines Eingreifens! Die Völker wer- 
den's euch Herren da oben gedenken! 

Wie weltenweit haben wir's doch noch 
bis zum — Chriſtentum! Es ift Iden Läfte- 
rung, dieſen Namen in ſolchem Zufammen- 
hange auch nur zu nennen! Gr. 


Freifahrer 
De Nationalliberalen haben den Antrag 
geſtellt, den Herren Reidstagsabgeord- 
neten für die ganze Zeit, ſolange ſie es ſind 
und nach engliſchem Patentmuſter ihr M. d. N. 
auf die Viſitenkarte ſetzen können, das Recht 
der Gratisfahrt auf den deutſchen Eifen- 
bahnen zu ſchenken. Bisher war die Voraus- 
ſetzung für dieſes Vorrecht, daß der Reichstag 
in Berlin gleichzeitig auch tage oder nur 
„vertagt“ ſei — was man jetzt ja häufiger 
anwendet —; es galt nicht, wenn er durch 
zeitweilige Schließung unterbrochen war. 
Vorausſichtlich wird die Nachſuchung der 
neuen Liebesgabe, bis dies gedruckt wird, 
mit einer vorbildlichen patriotiſchen Ein- 
helligkeit beſchloſſen fein. 


Auf der Warte 


Man folie in derlei Zugeſtändniſſen nicht 
kleinlich ſein und müſſe dann auch einen ge- 
wiſſen Mißbrauch in Kauf nehmen, bat einjt- 
mals der verſtorbene Herr v. Levetzow er- 
klärt, gewiſſermaßen zur Verſöhnung, daß er 
der Abgeordnetenbeſoldung, den Diäten, die 
Berechtigung abſprach. Nun haben ſie ſich 
alfo beides miteinander ausgebaut, die glüd- 
lichen Volksvertreter. 

In der Geſchichte des Parlamentarismus 
gibt es ein Blatt, das in unſern landläufigen 
Geſchichtsbüchern noch etwas eindrucksvoller 
behandelt werden dürfte. Das iſt die Sitzung 
der franzöſiſchen Nationalverſammlung vom 
4. Auguſt 1789, wo die Ständevertreter, 
Adel, Klerus, Städtedeputierte, ergriffen und 
im Innerſten mitgeriſſen von den Hochideen 
einer durch ſie neuwerdenden Zeit, in Antrag 
auf Antrag fih der Standesvorrechte frei- 
willig entäußerten. In dieſer denkwürdigen 
Parlamentsnacht — denn bis in den Sommer- 
morgen dauerte das wetteifernde Ablegen 
von Bevorrechtungen an, die altbeſtehende 
waren, — hat das ſoziale Denken des Libera- 
lismus ſeine Geburtsſtunde erlebt. Nicht 
ſeine geiſtige, wohl aber die politiſche und 
konſtitutionelle. Und als dieſe hochatmende 
Parlamentsſitzung in der Tagesfrühe aus- 
einanderging, da klang ein wunderſames 
freies inneres Gefühl in den brauſenden 
Dank an den Monarchen, der zu einem 
ſolchen Akt die weltgeſchichtliche Gelegenheit 
geboten, und in das Bedürfnis nach einem 
feierlich großen Tedeum zuſammen. 

Vor einunddreißig Jahren ſprach noch in 
ſeinem „Staatslexikon, Handbuch für jeden 
Staatsbürger“, der Dr. Karl Baumbach, 
ein bekannter, entſchieden liberaler Parla- 
mentarier, aus, „daß die Stellung eines Ab- 
geordneten ohne Diäten eine würdigere und 
angeſehenere iſt“. Das ſind tempi passati 
geworden, und der Appetit hat nach dem 
Sprichwort, ſeitdem ihm gedeckt ward, auch 
Geſchmack daran gefunden und zugenommen. 
Die mit der Rechtevertretung des deutſchen 
Volkes betraute Körperſchaft bewegt aber- 
mals den Beſchlußfaſſungshebel, um der mate- 
riellen Annehmlichkeit des ſtufenweiſe erlang- 
ten Freibillets die letzte Abrundung zu geben. 


195 


Ob dieſer ſteigende Appetit die von Baum- 
bach gewünſchte würdige und angeſehene 
Stellung in den Augen des wählenden Volks 
beeinträchtigen wird, kann übrigens fraglich 
bleiben. Bei dem überwiegend froſchperſpek⸗ 
tiviſchen Augenpunkt der noch febr wenig 
freien Oeutſchen wird es möglicherweife fogar 
die Bewunderung mehren, Inhaber eines 
Rechtes zu ſein, das ſo beneidenswert iſt, das 
in den Wunſchträumen aller Gebundenen, 
Armen, ein Füllhorn der Unerreichbarkeiten 
bedeutet, und das nicht einmal der Kaiſer 
beſitzt. 

Was aber keine Frage iſt, das iſt die 
Logik, wonach den Weg der gleichen Real- 
politik pro domo nun nach und nach die fon- 
ſtigen konſtitutionellen Kollegen beſchreiten 
werden. Inzwiſchen haben die Verwal- 
tungen der deutſchen Bahnen, damit die 
Bundesratsbevollmädtigten nicht fo auf- 
fallend weniger bevorzugt ſind als die Herren 
von Volkes Gnaden, auch jenen eine Frei- 
karte gewidmet, die jedoch, als am diirreren 
Holz des grünen Tiſches ausgeſtellt, ſich auf 
das Einlinige beſchränkt und fiir beliebige 
Reifen zwiſchen Frankreich und dem Böhmer- 
wald nicht zu verwenden iſt. Soeben heiſchen 
die Berliner ſozialdemokratiſchen Stadtver- 
ordneten für dieſe kommunale Würde das 
Privileg, auf allen Berliner ſtädtiſchen Ber- 
kehrslinien umſonſt zu fahren. Ihnen ge- 
bührt ſomit die Palme der Nächſteiligen im 
Wettlauf. Kurzum, der Entwicklung iſt wieder 
einmal eine neue Richtung aufgetan, deren 
junge Triebe wir zurzeit erleben. Sie heißt 
perſönliche Hoheitsrechte, Exemtion vom All- 
gũltigen, nachdem ſo lange Zeit die Loſung 
gelautet hatte: „Gleiches Recht für alle.“ 
Von der parlamentariſchen Verkündung der 
Menſchenrechte zur parlamentariſchen Be- 
gründung der Bevorrechtung! Wer etwas 
Geſchichte verſteht, weiß aber, wie folgen- 
wichtig jeweils das Aufkommen und Umſich- 
greifen neuer Exemtionen die volkliche Ge- 
meinſchaft durchbrochen und ungeahnte Raften- 
bildungen oder Standesumformungen hervor- 
gebracht hat, und von wie geringen, ſcheinbar 
harmloſen Anfängen das auch früher aus- 
gegangen iſt. * Ed. 9. 


794 


Das Geſuch des Aintertans 


ie Geſuche um Genehmigung zur Aus- 
” führung von Baumajolikaarbeiten find 
bei mir perſönlich einzureichen“, ſchreibt in 
einer Berichtigung an Dr. $. Pudor ber 
zuſtändige Geheimrat, der die Kaiſerliche 
Majolikawerkſtatt in Kadinen perſönlich leitet, 
beziehungsweiſe oberleitet. Übrigens amtlich 
„Cadinen“, wie Cöln und Caſſel, obwohl die 
Römer, dank den deutſchen Cheruskern, nie- 
mals bis nach Oſtpreußen kamen. Der Leſer 
hat wahrſcheinlich nicht ganz verſtanden, was 
der am Anfang zitierte Satz beſagen will. 
Der Zuſammenhang ergibt, daß gedacht iſt: 
Geſuche um Genehmigung der von der das 
Geſuch einreichenden Perſönlichkeit bean- 
tragten Ausführung von Baumajolika-Ar- 
beiten ſeitens der Kaiſerlichen Majolitawert- 
ſtatt. Um Ausführung durch dieſe „gegen 
Entgelt“ handelt es ſich, nicht, wie man 
meinen könnte, darum, daß die das Geſuch 
Einreichenden dort Arbeiten auszuführen 
wünſchen. Leute, die ſich kürzer faſſen, nennen 
ſolche Seſuche um Genehmigung zur Aus- 
führung: Beſtellung. 

Wenn früher die Berliner Gijenbabn- 
direktion durch eine Papptafel in den Cifen- 
bahnabteilen aufmerkſam machte auf die 
Dienſte der Berliner Paketfahrtgeſellſchaft 
zur ſtädtiſchen Gepäckbeförderung, redete ſie 
auch von diesbezüglichen Anträgen, die an 
die Paketfahrt zu richten ſeien. Dieſen Stil 
hat ſie neuerdings vernünftig abgeändert, 
ſeitdem an die Stelle der Paketfahrt eine 
neue Geſellſchaft mit dem ſchönen Namen 
Bg BGG. oder ähnlich getreten ijt. (Die Kraft 
zur bündigen Ausdrudsfindung gibt es heute 
offenbar nicht mehr, es reicht nur noch zum 
lahm Umſtändlichen, und darum muß dann 
wieder hinterher zu ſcheußlich zurechtgehackten 
Abkürzungen gegriffen werden.) Der Rei- 
ſende braucht nicht mehr die Aufträge zu 
„beantragen“, die fih die Geſellſchaft wünſcht. 
Und bas ijt auch beffer. Uns find die amts- 
mäßigen wie die monarchiſchen Formen nicht 
nur recht, ſondern wichtig und au fdüben, 
fobald fie irgend ihren richtigen Sinn ent- 
halten und an der richtigen Stelle ſind. 


Auf der Varte 


Aber das muß Vorausſetzung bleiben. Wo 
die Zeremonienſprache durch allzu gewohn- 
heitsmäßige Anwendung widerſinnig wird, 
da regt ſie den antipodiſchen Humor der 
Denkenden an, und damit bat fie der ftaat- 
lichen wie der monarchiſchen Autorität ſchon 
überflüffig viel geſchadet. Wer aber gejchäft- 
liche Beſtellungen annimmt oder entgegen- 
zunehmen hat, der ſollte bedenken, daß tüch- 
tige Arbeit, die den Wert der vorbildlichen 
Leiſtung ſucht, auch in ſich ihre Würde trägt 
und ihr nicht durch Prüderie der Ausdrucks- 
weiſe ein Anſchein des Verſchämten gegeben 
zu werden braucht. Ed. 9. 


* 


Noch nicht befreite Franzoſen⸗ 
knechte 


3 zur Fahrhundertfeier der Befreiung 
aus der Knechtſchaft von Napoleons 
Gnaden darf das neue Blatt der bayriſchen 
Regierung, die „Bapriſche Staatszeitung“, 
eine „in ſchriftſtelleriſchen und künftlerifchen 
Erzeugniſſen hervortretende Napoleon- 
petebrun g“ feftitellen: „Wie Prinz Eugen 
ausgeſehen hat, von dem die Franzoſen faſt 
ebenſooft geſchlagen worden ſind, wie die 
Deutfchen von Napoleon, weiß faſt niemand; 
mitunter ſieht man ja in einem Schaufenſter 
ein Bild Friedrichs des Großen, dagegen ſucht 
man vergeblich nach Stein, Sli- 
cher, Gneiſenau. Hat man etwa den 
Einfall, ſich als Zimmerſchmuck ein kleines 
Standbild von Moltke oder Bismarck 
erwerben zu wollen, fo wandert man ver- 
geblich von Laden zu Laden. Danach 
fei feine Nachfrage, heißt es, aber einen 
Napoleon kann man zu Fuß und zu 
Pferd jederzeit bekommen 
Das Blatt kommt zu dem Schluß, daß immer 
noch eine Herrſchaft Frankreichs über Deutfch- 
land beſtehe, gegen die der Befreiungskrieg 
erſt noch geführt werden müfje. 

Die „Napoleonverehrung“ tritt leider längſt 
nicht nur in „ſchriftſtelleriſchen und fünftle- 
riſchen Erzeugniſſen“ hervor. Ich kann für 
dieſe Brunſt, noch nach hundert Jahren dem 
Zwingherrn zu huldigen, der einem den Fuß 
auf den Nacken geſetzt, nur die Peitſche zu 


Auf ber Warte 


tojter gegeben, feine Verachtung bei jeder 
ſich bietenden Gelegenheit offen ins Geſicht 
geſpien hat, — ich kann für ſolch perverſes 
Gelüft nur eine Diagnoſe als Erklärung unb 
gewiſſermaßen Entſchuldigung finden: es muß 
entſchieden eine Art Eunuchentum ſein. Was 
fangen wir aber bloß damit an — ? Gr. 
* 


Annötige Reklame für Amerika 

ls große Neuheit geht durch die Feuille- 

tons der Zeitungen, daß amerikaniſche 
Gelehrte zu Jerufalem das wirkliche Golgatha 
feſtgeſtellt haben, nördlich vom Damaskustor, 
und ihre ſcharfſinnigen Beweisgründe werden 
mitgeteilt. Hier intereſſiert die Streitfrage 
an (id) nicht, ſondern nur die Oberflächlich; 
keit, womit derlei Neuigkeiten von der Schere 
unſerer hochgebildeten Feuilletonredakteure 
herübergenommen und den aufhorchenden 
Leſern offenbart werden, auch wenn ſie und 
ihre Beweis führungen — alles andere als neu 
find. Daß der Ralfbügel über der ſogenannten 
»deremiasgtotte^ nach topographiſcher Lage, 
Form und allem übrigen der Darſtellung 
der Evangelien von dem Sterbegang Chriſti 
entſpricht, iſt ſo abſolut einleuchtend, und die 
Verſuche, die einſt von den byzantiniſchen 
Geheimräten für den Bau der Grabeskirche 
ausfindig gemachte Stelle zu verteidigen, 
haben mit ſolchen Unmiglidteiten zu tun, daß 
längſt die Stätte vor dem Damastustor für 
Golgatha erklärt worden iſt, von Forſchern 
ſowohl, wie von pietätvollen, klardenkenden 
Laien, u. a. dem zu Khartum gefallenen 
edlen und frommen General Gordon. Daß 
den leicht etwas ſenſationell angehauchten 
Verdienſten der aufſtrebenden nordamerika- 
niſchen Gelehrſamkeit auch noch von uns aus 
prüfungslofe Handlangerdienſte geleiſtet wer- 
ben, ijt durchaus überfluͤſſig, und deshalb kann 
den Zeitungen, zumal denen, die ſonſt gegen 
das Erbũbel der Auslandsbewunderung mann- 
haft auf Vorpoſten ſtehen, nicht genug Vor- 
ſicht empfohlen ſein gegen die von dort 
kommenden Waſchzettel oder gegen die No- 
tigen, die aus den Review und Magazine- 
Aufſätzen von kleinen, unzulänglich gebildeten 
Literaten bei uns in den Leſeſälen der Biblio- 
theken zurechtgeſchmökert werden. Ed. H. 


795 


Ethik und Schlagwort 


Ji der „Frankf. Ztg.“ hatte jemand den 
Unfug ber pdbelbaften und verpöbelnden 
Radrenn-Wettlampfe, deren einer fid) ſoeben 
wieder in Berlin ausgetobt hat, durch das 
lapidare Wort zu rechtfertigen verſucht: 
„Leben iſt ſtärker als Ethik.“ Dieſer Art 
„Lebenskünſtlern“ ſchreibt nun der Profeſſor 
der Philoſophie Dr. Jonas Cohn (Freiburg 
i. B.), tapfer ins Stammbuch: „Leben ijt ſtärker 
als Ethik —? Wahr, durchaus wahr! Aber 
was folgt daraus? Wir follen die, Ethik“ 
ftdrten, indem wir Kräfte des Lebens ihr 
zu Hilfe ſchicken. Den in gleichmäßiger me- 
chaniſcher Arbeit geiſtig Verödeten beffere 
Erziehung und Anregung zu bieten, bemühen 
ſich viele. Der Erfolg wird verkümmert, wenn 
man ihnen bie Nervengifte der roheſten 
Senſationen bequem darreicht. Beim 
Ringkampf kann noch Freude am Körper, an 
der Kraft und Gewandtheit da ſein, beim 
Dauerrennen iſt blöde, geiſtloſe Aufregung 
alles. Man opfert hier nicht nur die Gefund- 
heit der Renner, . . man opfert zugleich 
die Seelen der Zuſchauer — das iſt 
viel ſchlimmer. Wir müffen ausſprechen, daß 
das ein Verbrechen ift. Nicht die Poli- 
zei rufe ich, ſondern das öffentliche Arteil, 
die Sitte. Es muß dahin kommen, daß jede 
Art der Beteiligung an ſolchen Schauſpielen 
als eine Schande gilt. Gebrand- 
markt, wer ſie veranſtaltet, gebrandmarkt, 
wer fie verteidigt, aus jeder anſtändigen Ge- 
ſellſchaft ausgeſchloſſen, wer ſie anſieht! 
Das würde helfen.“ 

„Würde“! — Inzwiſchen, fürchte ich, 
wird „Leben“ ſtärker bleiben als „Ethik“. 
Und — das Schlagwort ſtärker als alle Zweifel 
und Skrupel. Sit es nicht bezeichnend für 
unſere gewiſſensfeige Zeit, wie man ſich aus 
allen peinlichen Bedenken immer mit affen- 
artiger Geſchwindigkeit auf irgendeinen Ge- 
meinplatz zu retten weiß? Denn mehr iſt 
auch der ſchöne Satz von dem ,[tárferen 
Leben“ nicht. Ausſehen tut er wie der 
ſchmale Dreifuß einer modernen Pythia 
und hat doch Raum für die größte Hammel- 
herde. * Gt. 


196 


Der dunkle Punkt 


In Lichtenrade bei Berlin hat ein Prozeß 

geſpielt, der zum Nachdenken ſtimmt. 
Tatbeſtand: In dem kleinen Ort tauchten 
plötzlich allerhand Gerüchte auf, die den 
Klatſchbaſen genußreiche Stunden bereite- 
ten. So wurde die Tatſache bekannt, daß 
eine ehrbare Frau N. früher Kellnerin ge- 
weſen ſei und ſich in der Jugend einmal eines 
ſtrafbaren Eigentumsdeliktes ſchuldig gemacht 
habe. Auch andere Einwohner von Lichten 
rade ſahen plötzlich den dunklen Punkt ihres 
Lebens vor der breiteſten Öffentlichkeit auf- 
gedeckt. Schließlich faßte ſich das Lokalblatt 
ein Herz und bezeichnete den, der diefe Ge- 
rüchte in Umlauf geſetzt hatte. Es war der 
Hüter der Perſonalakten, der Kreisbeamte 
Grining. 

Nun hätte man meinen follen, daß Herr 
Grüning wegen Bruchs des WAWmtsgeheim- 
niſſes auf die Anklagebank gebracht worden 
wäre. Statt deſſen war es Herr Grüning, 
der als Kläger auftrat und den Prozeß — 
gewann. Verleger und Redakteur wurden 
wegen „formaler“ Beleidigung zu 60 reſp. 
100 % Geldſtrafe verurteilt, obwohl die Ver- 
handlung ergab, daß Grüning tatſächlich aus 
dem Strafregiſter geplaudert hat. 

Abgeſehen von dem unverſtändlichen 
Spruch des Gerichts — wird hier nicht wieder 
einmal die widerſinnige Harte allzu exakt ge- 
führter Strafregiſter in ein helles Licht ge- 
ruckt? Sit es wirklich unumgänglich nötig, das 
kleinſte Zugendvergehen unauslöſchlich den 
Akten einzuverleiben? Es kann jemand als 
dummer Lehrling mehr aus Leichtſinn als 
aus moraliſcher Verderbtheit ſich an der 
Portokaſſe vergreifen — ein ganzes, langes, 
arbeitsreiches und ehrliches Leben vermag 
dieſen einen dunklen Punkt nicht zu tilgen. 
Das ganze Dafein hindurch hängt das 
Damoklesſchwert öffentlicher Bloßſtellung über 
ihm. Er iſt auf Lebenszeit gebrandmarkt. 
Denn der Bureaukratismus kennt keine Gnade 
und kein Verzeihen — — y. 


* 


Auf der Warte 


Weihnachten im „Vorwärts“ 


Ji ſeiner Weihnachtsnummer hat es der 
„Vorwärts“ für „brüderlich“ gehalten, 
unfere liebſten und ſchönſten alten Weihnachts! 
lieder zu verunſtalten. Zwei Proben: 


Stille Nacht, Heilige Nacht 

Am Balkan modern viele tauſend Leichen, 

Von Aas gefättigt dichte Rabenſchwärme fteigen. 
Und in Baracken ſtöhnen Schwerverletzte, 

Die Kreuz und Halbmond aufeinander hebte..... 

Und trotz der Not der Leichen und der Plagen 

Hört man heut wieder dumm verlogen fagen: 
Ehriftus der Retter ift da. 


Bom Himmel hoch da komm' ich her... 
84 bring’ cud gute neue Mär... 

Tief unten in der Erde Schoß 

Da bricht der Bergmann die Kohle los. 

Da — donnerndes Krachen, Flammenſchein — 

Und giftige Wetter ſchachtaus, ſchachtaus! 

Zerfetzte, verbrannte Menſchen zu Sauf 

Fördert der Fahrſtuhl zutage herauf 

In der Kirche fibt deut der Bergaktionär 

Und ſingt das Lied von der guten Mär: 

(Das Fahr war gut und brachte was ein) 

Das foll euer Freud und Wonne fein. 


Über den Geſchmack läßt ſich ja nicht 
ſtreiten (über ben „dichteriſchen“ Wert dieſer 
„Verſe“ freilich erſt recht nicht). Aber ſo viel 
einfaches Anftandsgefühl follte man doch auch 
in der Redaktion des ſozialdemokratiſchen 
Zentralorgans noch aufbringen können, daß 
man Werte, die — mag's einem noch ſo 
„lächerlich“ erſcheinen — tatſächlich noch im- 
mer vielen Millionen Mitmenſchen und Volks- 
genoſſen teuer und heilig ſind, die ihnen ans 
Herz gewachſen find, nicht mit dkender und 
übelduftender Lauge beſudelt. Es liegt uns 
hier wahrhaftig nichts ferner, als mit dem 
ſozialdemokratiſchen Organ in eine Erörterung 
über den ſachlichen Inhalt feiner Weihnachts- 
poeſie einzutreten, aber das dürfen wir 
anderen wohl verlangen, daß Leute, die 
nicht mit uns an einem Side fiken wollen, 
auch ihre Hände davon laſſen. Mögen fie 
nach ihrer Faſſon felig werden, — wir tön- 
nen's nicht hindern; wer aber vor fremden 
Heiligtümern keine Scheu hat, beweiſt damit 
nur, wie es um feine eigenen beſtellt fein. 


muß. Gr. 
* 


Auf bee Warte 


Die Senſations⸗Hyänen 


Dos unſere Gerichtsſäle, zumal bei „inter; 
eſſanten“ Prozeſſen, einer gewiſſen 
„vornehmen“ Damenwelt als Schaubühne 
dienen müffen, ift ein oft betlagter Ubelſtand. 
Aber dieſen ſenſationsgierigen Dirnennaturen 
genügte das geſprochene Verhandlungswort 
nicht mehr, fie brauchten den Anſchauungs- 
unterricht. So hat jetzt der Vorſtand der 
Berliner „Mediziniſchen Gefell- 
ſchaft“ ſich genötigt geſehen, dieſer Gat- 
tung von Zuſchauerinnen den Zutritt zu den 
für die Mitglieder der ausſchließlich aus 
Arzten beſtehenden Geſellſchaft zu verbieten. 

„Es ift im höchſten Maße bedauerlich,“ be- 
merkt dazu das Verbandsorgan der ärztlichen 
Standesvereine, „daß eine gelehrte Gefell- 
ſchaft zu ſolchem Mittel greifen muß. Das 
einfachſte Taktgefühl hätte den in Frage tom- 
menden Gäſten doch ſagen müſſen, daß am 
allerwenigſten eine ärztliche Vereinigung mit- 
anſehen kann, wie ſenſationslüſterne YZuhöre- 
rinnen in Scharen ſich zu den Verhandlungen 
einſtellen. Die Patienten können verlangen, 
daß fie nicht den Blicken Unberufener aus- 
geſetzt ſind.“ 

Sehr richtig! Aber es ijt doch febr mert- 
würdig, daß dieſe Zuſtände überhaupt ein- 
reißen konnten. Der Richter iſt infolge der 
„Offentlichkeit des gerichtlichen Verfahrens“ 
ohnmächtig, aber in die private Mediziniſche 
Geſellſchaft konnten ſolche Damen doch wohl 
nur durch Mitglieder eingeführt werden. Wir 
meinen, das Verbandsorgan der ärztlichen 
Standes vereine hätte ba noch Deranlaf- 
fung zu Unterſuchungen nach anderer Rich- 
tung. St. 


* 


Katholiſche Wäſche 


De „Märkiſche Volkszeitung“ enthält fol- 
gende Anzeige: 
„Katholiken! 
Laßt nur bei eurem Glauben» 
genoſſen waſchen. 
Waſchanſtalt Robert Kuhn liefert 
Mitglied des Zentrums.“ 


uſw. 


797 


Der Mann hat ja entſchieden recht. Aber 
wir vermiſſen in der Anzeige des Herrn 
Robert Kuhn die Gewähr, daß er nur tatho- 
liſche Wäſcherinnen befchäftigt und auf keinen 
Fall andersgläubige Wäſche annimmt. Der 
Gedanke an ſolche ketzeriſchen Berührungen 
wäre fürchterlich, in feinen Folgen gar nicht 


auszudenken. -0- 
* 


Menſchen und „Beitien“ 


in Vergnügen eigener Art wurde nad 

den Meldungen amerikaniſcher Blätter 

vor einiger Zeit am Niagara veran- 
ſtaltet. Man hat dort den köſtlichen Einfall 
gehabt, einmal zu „beobachten“, wie ſich 
die verſchiedenen Arten von Tie- 
ten einer Lebensgefahr gegen- 
über verhalten würden, der fie unter nor- 
malen Umſtänden kaum jemals ausgeſetzt 
geweſen wären. Man brachte nämlich eine 
Anzahl Büffel, Bären, Füchſe, Vaſchbären, 
einen Hund, eine Katze und mehrere Gänfe 
auf einem unbrauchbar gewordenen Schiff 
unter und ließ dieſes aufden Hufeiſen- 
fall des Niagara treiben. Eine 
große Anzahl Zuſchauer hatte ſich eingefunden, 
die dem Schauſpiel mit Spannung folgten. 
Man hatte die Tiere mit Ausnahme der 
Büffel freigelaſſen und konnte ſo genau 
beobachten, welche Wirkungen die Gefahr 
bei ihnen hervorrief. Sämtliche liefen in der 
größten Unruhe auf dem Oeck durcheinander. 
Keines der Tiere dachte daran, dem 
andern ein Leid zuzufügen. Die 
erſten, die flüchteten, waren die Bären. Sie 
ſprangen vom Deck ins Waſſer, ſchwammen an 
das Ufer und erreichten dies trotz der ſtarken 
Strömung. Die Büffel tobten wild in ihren 
Käfigen und verſuchten auszubrechen. Die 
Fuͤchſe und die Waſchbären liefen ängſtlich 
hin und her. Nur der Hund zeigte keine Er- 
regung. Er hatte ſich ruhig auf dem Deck 
ausgeſtreckt, und es hatte faſt den Anſchein, 
als ſehe er ergeben ſeinem Schickſal entgegen. 
Die Katze war auf den höchſten Maſt ge- 
Hettert und wartete dort mit gekrümmtem 
Rücken auf den Sturz in den Abgrund. 
Als der Sturz erfolgte, hörte man 


798 


merkwürdigerweiſe kein Angſtgeſchrei. 
Spuren der Tiere wurden fpäter nicht auf- 
gefunden. Nur die Gänſe hatten den Sturz 
überlebt und kamen mit lautem Schnattern 
ans Land geſchwommen, wo man ſie mit 
Subel begrüßte und mit hohen Preiſen als 
denkwürdige Raritäten bezahlte. 

Wer hat ſich hier würdiger benommen —: 
die Menſchen oder bie „Beſtien“? Vielleicht 
„amerikaniſieren“ wir uns auch noch ſo weit. 
Auf dem Wege dazu ſind wir ja. Was 
würden wir z. B. nicht alles in Berlin an 
öffentlichen Schauſtellungen erleben, wenn — 
ja wenn die vielgeſcholtene Polizei nicht wäre! 

Gr. 


Verminderung der Schlacht⸗ 


hausqualen 


n der „Berliner Kliniſchen Wochenſchrift“ 

berichtet Dr. Nagelſchmidt über eine 
neue, von ihm erzeugte Stromart, die bei 
ihrer Anwendung — je nach dem Orte, an 
dem der Strom eintritt — eine völlige Auf- 
hebung der Schmerzempfindung oder des 
Bewußtſeins bewirkt. 

Bei entſprechender Stromſtärke und bei 
geeigneter Anbringung der Elektroden konnte 
am Arm und an der Hand die Schmerz- 
empfindung vollkommen ausgeſchaltet wer- 
den; die Empfindungsloſigkeit war ſo ſtark, 
daß tiefe Nadelſtiche und operative Eingriffe 
nicht mehr gefpürt wurden. Nur die Be- 
rührungsempfindung blieb zum Teil erhalten. 
Noch auffallender war die ſchlafmachende 
Wirkung, die vorderhand allerdings nur an 
Raninden und Hunden nachgewieſen wurde. 
Ließ man den Strom am Gehirn eintreten, 
fo erfolgte eine vollſtändige Narkoſe, die be- 
liebig lange aufrechterhalten werden konnte. 

Es ſcheint danach, daß man einem neuen 
Linderungsmittel für die leidende Menfch- 
heit auf der Spur iſt. Aber gleichzeitig würde 
durch dieſe wiſſenſchaftliche Entdeckung auch 
ein Weg gewieſen ſein, wie man den Qualen 
der Schlachttiere ein Ende bereiten könnte — 
dadurch, daß man ihnen im Zuſtand der Nar- 
koſe den Tod gibt. Denn es beſteht kein 
Zweifel, daß auch die vervollkommneten 
Tötungsmethoden der Schlachthäuſer Grau- 


Auf der Warte 


ſamkeiten nicht ausſchließen. Tiere aller Art 
mũſſen täglich in den Laboratorien der Ge- 
lehrten ihr Leben einbüßen, fid) Krankheiten 
einimpfen, ſich viviſezieren laſſen — um ſo 
erfreulicher iſt es, daß von einem ſolchen Labo- 
ratorium aus auch einmal eine Entdeckung 
den Weg findet, die der leidenden Menſchheit 
gleichermaßen wie den leidenden Tieren zu- 
gute kommen könnte. Könnte! Denn es 
wird wohl noch manches nachdrücklichen Hin- 
weiſes bedürfen, ehe ſich die maßgebenden 
Stellen bereit finden laſſen werden, den 
Schmerzen löfenden Strom für das Schlacht; 


vieh zu verwenden. L. H. 
* 


Gine Warnung post festum 


ir haben im Dezemberheft das Srel- 

ben des amerikaniſchen Wunder- 
doktors G. J. Macaura beleuchtet und unje- 
rem Erſtaunen Ausdruck gegeben, daß ſich ein 
ſo offenkundiger Schwindel förmlich unter 
Aufſicht der Berliner Polizei breitmachen 
konnte. 

Die Gerechtigkeit zwingt uns feſtzuſtellen, 
daß der Polizei inzwiſchen ein Seifenſieder 
aufgegangen ift. Das Berliner Polizeipräfi- 
dium hat — etwa 4 Wochen nach dem großen 
Fiſchzug G. J. Macauras — eine „War- 
nung“ vor dem Schwindler erlaſſen. Denn 
auf dem Polizeiprafidium hat man jetzt end- 
lich herausgefunden, daß der p. p. Macaura 
bereits mehrfach wegen Betrugs beſtraft, aus 
Preußen ausgewieſen und unter dem Namen 
„König der Kurpfuſcher“ bekannt iſt. 

Alles ſehr intereſſante Mitteilungen. Aber 
was frommen ſie uns, nachdem Miſter 
Macaura ſeine Beute längſt in Sicherheit 
gebracht hat? 


k 


Gr ijt e8 nod! 


or einem Erkennungsſenate des Wiener 
Landgerichts wird gegen einen ge- 
wiſſen Friedrich Kardoſi verhandelt. Der Ber- 
teidiger des Angeklagten läßt im Laufe der 
Verhandlung feſtſtellen, daß Kardoſi, der 
früher in Ungarn Kohn geheißen hat, Be- 
ſitzer des p ã pſtl ichen Ehrenkreuzes 


Auf der Warte 


pro ecclesia fei, Bei diefer Feſtſtellung 
erlaubt fid) ein Gerichtsbeiſitzer bie beſcheidene 
Anfrage, ob denn der Angeklagte nicht früher 
moſaiſcher Religion geweſen fei? Wor- 
auf der Verteidiger prompt: „Er iſt es noch!“ 


Pro ecclesia, 
* 


Ein Geſpräch aus 
Berlin W. W. W. 
m „Alk“ ſtehen fih eine „Girl“ und ein 
„Gent“ aus dem allermodernſten Grob- 
berlin in entſprechender tadelloſer Aufmachung 
gegenüber. Und es iſt kaum übertrieben —: 

„Haben Sie eine Hall in Ihrem Home?“ 

„dich habe kein Home, ich goutiere mehr 
den Promenading Palace.“ 

„Gibt es da eine Confiserie?“ 

„Es gibt nicht nur eine Confiserie, ſondern 
auch Grill Rooms Smoking Rooms, Reading 
Rooms, Dining Rooms und Luxus Tea 
Rooms.“ 

„Kommen Sie mit shoping?“ 

„Ich kann doch nicht im Evening Dress 
shoping gehen! Aber vielleicht kommen Sie 
mit ins Boarding House zum Five o’clock 
der Upper Ten?“ 

„Nein, mein Tailor made iſt nicht last 
fashion, meine Pumps ſind nicht up to date, 
und außerdem habe ich ſtatt der Combination 
nur Tubs an.“ 

„Na, dann gehen wir eben zuſammen in 
die Dandy Bar, unſere frühere Nurse mixed 
dort Drinks!“ 

„Come on, Darling, that will be char- 
ming! O, aber da erinnere ich: die Dandy 
Bar iſt bereits pleite!“ 

Pleite? — das erſte deutſche Wort! 


* 


Der Rhythmus des Lebemannes 


n dem Prozeß gegen den Schwindel- 
bankier Sattler kamen auch die Privat- 
ausgaben des Angeklagten zur Sprache. „Sie 
unterſcheiden ſich“, bemerkt der „Vorwärts“, 
„weder durch ihre Höhe noch durch ihre fon- 
ſtige Art von dem, was zu allen Zeiten leicht- 
bánbige Ravaliere unter die Leute gebracht 
haben. Dreifache Wohnung, Perlenkolliers, 


799 


diamantenbeſetzte Gpagierftdde,* impofante 
Schneiderrechnungen: das alles ift beim ver- 
wandten Schlage von jeher üblich geweſen. 
Nur eins iſt neu und des Bemerkens wert: 
Sattler hat in kurzer Friſt 50000 A an 
— Strafen für überſchnelles 
Automobilfahren gezahlt. Darin, 
vielleicht nur darin, haben die modernen 
Freibeuter etwas, das fie von ihren Vor- 
gängern unterſcheidet. Giele Ausmünzer bes 
Nichts, dieſe Schatzgräber in der leeren Luft 
verſtehen vom Geldausgeben im Grunde ſo 
wenig wie vom Gelderwerb. Sie können ſich 
weder breitſpurig einrichten wie der zähe, 
nüdtetne Geldmacher, noch reicht ihre Phan- 
taſie zur Lebensführung des echten Verfdwen- 
ders — von einem Schönheitskult ſchon ganz 
zu ſchweigen. Dafür aber haben fie — das 
Automobil. Die Schnelligkeit. Es war 
ein Zeichen von Tiefblick, als Otto Bierbaum 
in feinem Roman Prinz Kuckuck“ den ver- 
kommenden Helden feinen Reft an Lebens- 
gefühl in Rennwagenfahrten ausraſen ließ. 
In der Tat ift das Auto die Sehnſucht und 
die Verführung aller derer, denen zum 
Reichtumſammeln die Kraft und zum Reich- 
tumverwerten die Kultur fehlt. Sie haben 
es eilig und haſſen darum die Lebensgüter, 
die Zeit brauchen. Sie haſſen den Raum, für 
deſſen wohltätige Einſchränkung ſie keinen 
Sinn haben. Sie möchten an vielen Orten 
zugleich ſein: ihr Schnelligkeitsrauſch wird 
ihnen gefährlicher als den Abenteurern älterer 
Zeiten eine anſpruchsvolle Geliebte. In 
Dieter Paſſion und in dem Wunſche, gut an- 
gezogen zu fein, erſchöpft fih, was ihre innere 
Dürftigkeit unter Lebensgenuß verſteht.“ 


* 


Ein Skandal 


Sys Wiiten der franzöfifchen Soldateska 

in den Kaiſergräbern zu Aachen wird 
von Der Hiftorie als ein Akt beſonderer Bar- 
barci hervorgehoben. Im ziviliſierten Deutſch⸗ 
land von heute erleben wir es, daß mit Ge- 
nehmigung der „zuftändigen Stellen“ die Ge- 
beine des größten Nationaldichters, unſeres 
Schiller, aus ihrer Ruheſtätte herausgeriſſen 
werden. 


800 


Zu „wiſſenſchaftlichen“ Zwecken! Damit 
glaubt man alles entſchuldigen zu können. Als 
ob ſich die Forſchung über jede Schranke der 
Pietät hinwegſetzen dürfte! Zudem ſchuldet 
uns der Tübinger Anatom Prof. Dr. v. Froriep, 
der Ausgraber der Gebeine, noch immer den 
Beweis für die auf dem vorjährigen Anthropo- 
logentag mit großem Aplomb von ihm an- 
gekündigten Theorien, die fih aus der Unter- 
ſuchung des Schillerſchen Schädels ergeben 
haben ſollten. Alſo um des wertloſen 
Experimentes eines ehrgeizigen Fachgelehrten 
willen ift eines großen Toten Grabruhe ge- 
ſtört worden. 

And wie ſteht es jetzt um das — ſagen wir 
ruhig — geſchändete Grab? Das „Berliner 
Tageblatt“ läßt ſich berichten: „Nachdem Fro- 
tiep vor nun bald einem Jahre ohne jede Mit- 
teilung an die Öffentlichkeit, lediglich auf 
Grund von Vorbeſprechungen mit offenbar 
nicht ſehr kompetenten „Kapazitäten“ die 
Buddelei angeſtellt, eine Anzahl Schädel und 
andere Knochen aus der Totenkammer heraus- 
und mit nach Hauſe genommen hatte, blieb 
die Grabſtätte liegen, wie fie durch das Um- 
wühlen zugerichtet war. Ein paar alte Bretter 
waren alles, was man der Grabſtätte des Did- 
ters und vieler ehemaliger angeſehener wei- 
mariſcher Geſchlechter hinterließ. Der um die 
Trümmerſtãtte gezogene Bretterzaun begann 
zu verfallen, ſo daß ſich der Stiftsprediger 
Schmidt veranlaßt ſah, am 22. März v. J. an 
den Gemeindevorſtand in öffentlicher Sitzung 
die Anfrage zu richten, wie lange es denn noch 
dauern ſollte, bis das Kaſſengewölbe wieder 
einigermaßen anſehnlich hergeſtellt werde. 
Das war alfo vor zehn Monaten! Der Bretter- 
zaun wurde dann beſeitigt, die Stätte not- 
dürftig mit Raſen belegt, und ſeitdem ruht 
das ganze erbauliche Experiment ... Das 
Jahr 1913, in dem die Nationalfeſtſpiele mit 
beſonderem Glanze in Szene gehen ſollen, hat 
begonnen. Aber Friedrich Schillers Grab- 
ſtätte liegt in Schutt und Trümmern. 

Und das geſchieht in — Weimar! Es iſt 
wirklich an der Zeit, daß dieſem unerhörten 


Auf der Warte 


Skandal ein Ende gemacht wird, und daß die, 
die ihn veranlaßt haben, zur Rechenſchaft ge- 


zogen werden. y- 
Se 


Gine Million für Schund⸗ 
literatur 


nein, die dieſe Million aufgebracht 

haben, ſind nicht die Armen im Beutel 
und im Geiſte, noch die niedern Standes. Die 
Käufer der „Ride am us“ Bücher rechnen 
ſich ſelber ſicher zu den guten Ständen, be- 
anſpruchen, in künſtleriſchen Dingen ernſt ge- 
nommen zu werden, und gehören in großen 
Scharen zu den beſten Zeterern wider die 
Schundliteratur. Und doch kann ich mir kaum 
niedrigeren Schund denken, als diefe „Dich- 
tungen“ mit ihrem gequälten oberflächlichen 
Vortwitz, der widerwärtig ſaloppen Ver- 
höhnung alles Ideellen, der kaum verhüllten 
pornographiſchen Abſicht. Nur in einem unter- 
ſcheiden ſich dieſe zumeiſt auch ſchreiend 
bunten Rideamus-Bücher von ber gewöhn- 
lichen Schundliteratur: ſie ſind unglaublich 
teuer. Der neueſte Band („Lauter Lügen“) 
enthält etwa 750 Berfe und koſtet 2 & 50. 
Da nach der Verſicherung des Verlages 
400 000 Bände der Sammlung verkauft ſind, 
iſt wieder eine Million Mark für literariſchen 
Unrat vergeudet. St. 


* 


Parſifalkommiſſare! 


n einer in Leipzig abgehaltenen Ber- 
ſammlung zur Ausſprache über den 
„Parſifal“ Schutz verlangte ein Redner be- 
ſondere Wagnerbühnen, die unter Aufſicht 
eines Parſifalkommiſſars ſtehen 
ſollten. An deren Spitze ſollte ein „Reich s- 
parſifalkommiſſar“ geſetzt werden, 
der ſich zu einem Kunſtminiſter auswachſen 
und mit dem Finanzminiſter „auf gleichem 
Fuße verhandeln follte“, 
Und das nennt man bann — ,,Parfifal“- 


Schutz! 


Verantwortlicher und Chefredakteur: Jeannot Emil Frhr. v. Grotthuß » Bildende Runft unb Muſlik: Dr. Goart Storck. 
Sämtliche Zuſchriften, Einſendungen niw., nur an die Redaktion des Türmers, Gerlin⸗ Schöneberg, Bozener Str. 8. 
Oruck und Verlag: Greiner & Pfeiffer, Stuttgart. 


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Ein 90jähr. Bauer aus 
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XV. Jahrg. Mär; 1918 Beit 5 


Der vaterländiſche Gedanke in der 
1 Von Prof. Ludwig Gurlitt 


denn Erziehungsfragen find zugleich Familien- und nationale Fragen. 
Wir horchen deshalb auch lebhaft auf, wenn wir hören, daß die 

, FED beutjden Lehrer unter fid) uneins werden wegen des Gehaltes und 
ber Tendenzen der deutſchen Jugendliteratur. 

Überflüffig auszuführen, wie wichtig für die geiſtige und moraliſche Aufzucht 
der Zugend gerade die Wahl ihrer Lektüre iſt. Es bleibt ein dauerndes Verdienſt 
der Hamburger Lehrerſchaft, daß ſie auf die ſchweren Schädigungen aufmerkſam 
gemacht hat, die die Schundliteratur in der Zugend anrichtet. Zumal der Ham- 
burger Lehrer Heinrich Wolga jt wurde als Redakteur der „Zugendfchriften- 
Warte“ und durch feine Schriften „Das Elend unſerer Jugendliteratur“ (Leipzig 
B. G. Teubner) und „Vom Kinderbuch“ (ebenda) Bahnbrecher und Führer auf 
dieſem Gebiete. Dazu kommt Her m. 9. Köſters Latigteit, feine „Geſchichte 
der deutſchen Jugendliteratur“ und die Schriften-Verzeichniſſe des Hamburger 
Jugendſchriftenausſchuſſes und weiter die ganze große Bewegung, die ihren Aus- 
druck in dem „Kunſterzieher“ hatte. Ferdinand Avenarius rühmt die Tätigkeit 
der Hamburger, die ſich ſchon über zwanzig Jahre erſtreckt, mit vollen Tönen 


(„Tägl. Rundſchau“, Unterhaltungsbeilage vom 21. Jan. 1913): fie . . 
Der Türmer XV, 6 


802 Gurlitt: Der vaterländiſche Gebante in der Zugendliteratur 


„das Elend der Jugendliteratur zu beſeitigen, das nationale Magenverderben mit 
Süßbrei, bas Verfetten durch Schwulſt und Phraſe, das Schwächen durch Gelbft- 
gerechtigkeit bei der bis dahin üblichen Zugendfchriftitellerei“. In unermüdlicher 
Arbeit gedieh ihr im allerheiligſten Sinn nationales Werk, ſie haben die ernſte 
Preſſe zur Mitarbeit, ein Heer von Mitkämpfern für ihren guten Streit gewonnen 
und den Wunſch nach einer gediegenen Jugendliteratur zu einer allgemein an- 
erkannten Forderung der nationalen Bildung erhoben, kurz, die Geſamtarbeit 
dieſer „Hamburger“ ſei zum Segen unſerer nationalen Kraft ausgeſchlagen, und 
deshalb trete er für ſie aus Überzeugung ein und ſchütze ſie vor dem Verdachte, 
ſozialdemokratiſche Propaganda bei der deutſchen Jugend zu treiben, der von 
Wilhelm Kotzde gegen fie erhoben wurde und in politiſch intereſſierten 
Kreiſen Aufſehen und Mißtrauen erregt habe. 

Zwei Anläſſe ſind es, die dieſen Sturm entfacht haben. Zunächſt der „Fall 
Lamszus“. Der Sachverhalt dürfte allgemein bekannt ſein: Ein Hamburger 
Volksſchullehrer gab unter dem Titel „Das Wenſchenſchlachthaus, Bilder vom 
kommenden Kriege“ eine Schrift heraus, in der er mit grellen Farben das Grauſen 
eines modernen Maſchinenkrieges malt. Dieſe Schrift fand ſehr geteilte Wertung. 
Von ſeiten der Pazifiziſten wurde ſie als eine moraliſche Großtat geprieſen, von 
ſeiten der Militariſten als eine Verſündigung am nationalen Geiſte bezeichnet. 
Der heiße Kampf, der darüber ausbrach, wurde vorwiegend in der in Hamburg 
erſcheinenden, ſehr beachtenswerten Halbmonatsſchrift „Allgemeiner Beobachter“ 
ausgefochten (1912, Nr. 15. 14. 15. 16; 1913, Nr. 17). Die Gegenfage prallten 
da hart aufeinander, eine Verſtändigung wurde ſelbſtverſtändlich nicht erzielt. 
Die künſtleriſche Frage trat an Bedeutung weit hinter der nationalen zurück. 
Dr. Emil Kuh (Blankeneſe) ſprach offen feine Überzeugung aus, die durch 
dieſe Schrift erzeugte Erregung von Kriegsfurcht und Kriegsabſcheu in weiten 
Kreiſen des Volkes bedeute „eine politiſche Kurzſichtigkeit und einen an Hoch- 
verrat grenzenden Frevel“. Eine Friedenspropaganda, die über die Grenzen 
akademiſcher Erörterungen hinausgehe, ſtehe in Widerſpruch zu allen real- 
politiſchen, ja auch zu den idealen und pſychologiſchen Lebensbedingungen des 
deutſchen Volkes. Ein Volksbildner, der ſolche Propaganda treibe, ſei nicht an 
ſeinem Platze. Die Oberſchulbehörde in Hamburg ſah ſich denn auch genötigt, 
dieſer Frage näher zu treten, zumal das ſozialdemokratiſche „Echo“ das im Buch- 
handel erſchienene Buch von Lamszus in ſeinem Feuilleton abdruckte, das deshalb 
von der politiſchen Polizei als antimilitariſtiſch und anarchiſtiſch bewertet oder doch 
verdächtigt wurde. Die Oberſchulbehörde leitete alfo eine Unterfuhung gegen den 
Volksſchullehrer Lamszus ein, fand aber keinen Anlaß, gegen ihn einzuſchreiten, 
da ſie ſich von dem rein literariſchen Charakter des Buches überzeugt hatte und 
ſich zu dem Urteile nicht bekennen konnte, daß ſein Verfaſſer ein „gemeingefähr⸗ 
licher“ Zugenderzieher ſei. Die Gegenpartei beruhigte ſich dabei aber nicht, zumal 
der literariſche Erfolg des Buches feine ſtarke Wirkung in der Öffentlichkeit bezeugte. 
Nicht allein, daß der XII. Congrès Universel de la Paix à Genè ve und der 5. Oeutſche 
Friedenskongreß in Berlin vom 27. Oktober den Verfaſſer öffentlich feierten und 
beglückwünſchten — das verſtand fic faſt von ſelbſt —, auch viele einzelne, Männer 


Gurlitt: Der vaterländiſche Gedanke in der Jugendliteratur 803 


und Frauen von Ruf und Bedeutung, und vor allem die wohl geſamte ſozialiſtiſche 
Preſſe des In- und Auslandes ſprachen dem Verfaſſer des „Menſchenſchlacht- 
hauſes“ ihre begeiſterte Zuſtimmung aus. Bald war das 21. bis 30. Tauſend dieſes 
Buches in Oeutſchland vertrieben, und Überſetzungen in die meiſten Kultur- 
ſprachen ſorgten für feine Verbreitung über das weite Erdenrund. Suftimmungs- 
grüße liefen bei dem Verfaſſer ein aus England, Belgien, Rußland, Schweden, 
Frankreich, Ungarn und der Schweiz. Man wird zugeben, daß dieſe Sache eine 
Bedeutung hat, die weit über das rein Literariſche hinausgeht und die ihre prin- 
zipielle Erledigung in irgendeiner Richtung finden müßte. Wir kommen darauf 
zurück, nachdem wir weiteres „Material“ beigebracht haben. 

Der zweite Fall hat weniger Aufſehen erregt, iſt aber mit dieſem erſten geiſtig 
und auch räumlich verwandt und muß deshalb auch mit ihm im Zuſammenhang 
und aus einem Geſichtspunkt beurteilt werden. 

Neben der „Hamburger Bewegung“ hatte ſich mit verwandten Beſtrebungen 
für die Hebung der Jugendliteratur die Freie Lehrervereinigung für Kunſtpflege 
gebildet. Dieſe geriet bald in Widerſpruch bei den „Hamburgern“, die fid) in- 
zwiſchen eine über ganz Oeutſchland verbreitete Organiſation von „Vereinigten 
deutſchen Prüfungsausſchüſſen“ mit großem Wirkungskreiſe und Einfluß geſchaffen 
hatten. Worin beſteht nun der Gegenſatz zwiſchen dieſen beiden Gruppen? 

Die Hamburger wollen eine Schrift nur dann als Jugendſchrift gelten laffen, 
wenn fie fünftlerifch wertvoll ift. Die bloße gute Geſinnung reiche nicht aus. Sie 
machen damit Front gegen die ganze ſüßlich fromme, aber innerlich unwahre 
Moral-Literatur im Traktätchenſtil, bei der es nur auf Geſinnungsmache ab- 
geſehen iſt. Sie machen auch Front gegen eine zweite, nicht minder unerquickliche 
Gattung der Jugendſchriftſtellerei: die des unentwegten, draufgängeriſchen Radau- 
patriotismus. Es wird gut ſein, hierbei Wolgaſt mit ſeinen Worten anzuführen, 
um der Gefahr zu entgehen, ihm Sinn und Worte zu entſtellen. Er ſagte auf dem 
Zweiten Kunſterziehertag (Weimar 1903): „Ein großer Teil der Jugendliteratur 
ijt patriotiſche und religiöſe Tendenzliteratur. Stoffe aus der vaterländiſchen Ge- 
ſchichte oder aus dem religidfen Leben find zu Dichtungen verarbeitet, die werben 
ſollen für die Liebe zum Vaterland und zum Herrſcherhauſe oder die werben ſollen 
für gewiſſe kirchliche Lehrmeinungen und religiöſes Leben. Es liegt auf der Hand, 
daß Erzählungen, die mit ſolcher Abſicht geſchrieben ſind, in der Regel literariſch 
wertlos ſein werden. Wenn man es nun ſchon glaubt verantworten zu können, daß 
fih die Fugend an Pſeudodichtung ergötzt, fo ſollte man doch verſchmähen, Ge- 
ſinnungen, die über das Leben herrſchen follen, auf fo künſtlich gemachter Grund- 
lage erzeugen zu wollen... Was dauern ſoll, muß tiefer greifen, als unſere arm- 
ſelige Jugendliteratur es vermag. Was den einzelnen und unfer Volk dauernd 
beeinfluſſen ſoll, was von innen heraus aufbaut und wachſen läßt, das muß auch 
aus der Tiefe der Volksſeele kommen, und hier ſpringt auch die Quelle vaterlandi- 
ſchen Geiſtes und religiöſer Empfindung. Aus dieſen Quellen, aus der Tiefe aber 
ſchöpft nicht der Zugendſchriftſteller, ſondern der wahre Dichter.“ 

Hören wir dieſes Bekenntnis, fo ſpricht daraus keine mangelnde Baterlands- 
liebe, ſondern viel eher die Sorge, daß die wahre, echte, urſprüngliche und geſunde 


804 Gurlitt: Oer vaterländiſche Gedanke in der Zugenbliteratur 


Liebe zum Vaterland durch einen falſchen Erweckungseifer getrübt, überhitzt und 
krankhaft entwickelt werden könnte, worauf dann die Enttäuſchung und der Ab⸗ 
fall zu folgen pflege. Und ebenſo auf religiöſem Gebiete. 

Die Hamburger haben den Wunſch, die Genußfähigkeit der deutſchen Jugend 
zu heben und Wege zu finden, die weg von der Schund- und Unterhaltungs- 
literatur zu den großen Meiſtern der deutſchen Oichtkunſt führen. 

Wer möchte dem nicht zuſtimmen? Aber daß dabei doch auch Bedenken auf- 
tauchen können, das trat ſchon auf dem Weimarer Kunſterziehertag klar hervor, 
wo von gewiſſer Seite „Tendenzloſigkeit als die ſchlimmſte Tendenz“ abgewieſen 
und gegen die Hamburger der Vorwurf erhoben wurde, daß ſie Bücher empfehlen, 
in denen die deutſche Jugend Beleidigungen und Beſchimpfungen der deutſchen 
Nation aus dem Munde franzöſiſcher Soldaten zu hören bekomme (aus Erdmann- 
Chatrian), während eine angebliche Beleidigung der franzöſiſchen Nation alsbald 
genüge, das Buch der Kritik der Jugendſchriftenausſchüſſe — „40—50 Rezenfions- 
anſtalten mit 800 — 1000 ſeminariſtiſchen Kritikern“ — bedenklich erſcheinen zu 
laſſen. Dem Redner (Gymnaſialdirektor Schulrat Prof. Dr. Wilhelm Brandes in 
Wolfenbüttel) galt nun bie Ausſchließung „beſtimmter Tendenzen“ von den Jugend- 
ſchriften und der Geiſt, der dahinter ſtehe, für gefährlich. 

Dieſe Beſorgnis hat mit den Jahren in Kreiſen mehr und mehr Boden ge- 
faßt, die man ernſt zu nehmen verpflichtet ijt. Gewiß, die Jugend foll fo genuß- 
fähig werden, daß ſie ein wahres Kunſtwerk von der Schundware unterſcheiden 
lernt und das Schlechte aus Liebe zum Guten und Schönen ablehnt. Aber die 
äſthetiſche Erziehung ift doch nur ein Teil der großen allgemeinen Erziehungs- 
aufgaben. Sie ijt, wie Schulrat Dr. Kerſchenſteiner ſchon, die Weimarer Erziehungs- 
tage abſchließend, ſagte, zunächſt wenigſtens eine Erziehung zum Genuſſe, eine 
Erziehung des Intellektes wie des Gefühls. Aber wichtiger für die ganze Lebens- 
geſtaltung ſei doch unbeſtrittenermaßen das ſittliche Handeln und die Entwicklung 
des Willens, damit unſerem Vaterlande nicht bloß ſchön empfindende Männer und 
Frauen erſtehen, ſondern auch ethiſch wollende und handelnde Menſchen. Des- 
halb ſteht die Frage immer noch offen, ob die Jugendſchriftſtellerei nicht in dieſem 
Sinn ſtreben und wirken ſoll, ohne daß ſie deshalb an ihrem Kunſtwerte Schaden 
zu nehmen brauchte. 

So urteilen offenbar die Männer, die ſich zur Gründung der „Mainzer 
Volks- und Jugendbücher“, der „Scholz“ Vaterländiſchen Bilderbücher“ und ver- 
wandter Aufgaben zuſammengefunden haben. Auch ſie wollen den äſthetiſchen 
Anſprüchen in vollem Maße gerecht werden, zugleich aber mit Bewußtſein und ver- 
ſtärkter Kraft den religiöſen und nationalen Aufgaben in der Erziehung dienen. 
Sie werfen den „Hamburgern“ Einſeitigkeit und Parteifanatismus vor, der ſich 
aber bedrohlich dem Geiſte der Sozialdemokratie nähere. Wilhelm tritt jetzt (zu- 
letzt „Tägl. Rundſchau“ vom 24. Jan. 1913) offen mit dieſer Anklage hervor: 
„Ich glaube, daß die Geſamtarbeit dieſer hamburgiſchen Arbeit unſerer nationalen 
Kraft zum Unſegen war. Es war ein Verdienſt, daß der Gedanke der literariſchen 
Wertung der Jugendſchrift durch fie nachhaltig vertreten wurde; aber fie lenkten 
die Bewegung nach ihrem Parteigeiſt und wurden damit ihr Unglück. Wie viele 


Gurlitt: Oer vaterländiſche Gedanke in der Jugendliteratur 805 


wertvolle Kräfte find dadurch zurückgeſtoßen worden! Kennen Sie alle die An- 
klagen von Ries, Wilhelm Brandes (dem Freund Wilhelm Raabes), Lohrer, Vit- 
tor Blüthgen, Karſten Brandt, Paul Sydow, Juſtus Pape, Otto v. Leixner u. v. a. 
nicht? Mit Spott und Hohn und Gewalt (ich kann auch das mit Tatſachen, nicht 
nur mit Meinungen belegen) haben die Hamburger Lehrer alles zu unterdrücken 
geſucht. Die Hamburger haben die Gefahr heraufbeſchworen, daß der wertvolle 
Kern der Bewegung vernichtet wird, wenn nicht bald eine Wendung eintritt!“ 

Der Streit kam zum Ausbruch wegen einer vaterländiſchen Zugendfchrift 
„Stabstrompeter Koſtmann“, die Wilhelm Kotzde, Herausgeber der Mainzer 
Volks- und Jugendbücher, ohne weſentliche eigene Zutaten nach den ſchlichten 
Aufzeichnungen des Stabstrompeters ſelbſt veröffentlicht hat. Dieſer Mann lebt 
nämlich noch und berichtet wahrheitsgetreu über ſein Soldatenleben. 

Dieſes Buch zählen die Hamburger und als deren Wortführer dieſes Mal 
ein Berliner Lehrer, nämlich Oskar Hübner, Vertrauensmann der Hamburger 
und Mitglied des Berliner Prüfungsausſchuſſes, und deffen Vorſitzender Max Recke, 
zu den Jugendſchriften, die eine „falſche Vaterlandsliebe“ predigen. Sie ſprechen 
ihm einen Kunſtwert ab, erklären es für „Mache aus unechtem Patriotismus“, 
wohl gar für Byzantinismus, für ein Werk von aufdringlicher patriotiſcher Tendenz. 

Iſt ein ſolches Urteil berechtigt? Im Hinblick auf dieſe Frage habe ich das 
Buch geleſen und bin zu einem ungewollt vermittelnden Urteil gekommen. Der 
Stabstrompeter des Ziethen-Huſarenregimentes iſt keine erdichtete Figur. Der 
alte Pommer, deſſen Ehrgeiz volle Befriedigung als Stabstrompeter fand, ſieht die 
Welt aus ſeinem kleinen Winkel heraus und entwickelt dabei Gedanken, die wohl 
von allen Stabstrompetern und Wachtmeiſtern der deutſchen Armee gutgeheißen 
werden. Rührender Subalternenſtolz, bewundernder Aufblick zu den Herren Of- 
fizieren und rückhaltloſe Hingabe an den König. Außer oder wohl gar über dem 
deutſchen Heere gibt es für ihn nichts. Noch als Veteran nimmt er Wohnung in 
der Nähe der Kaſerne, um täglich das muntere Treiben der roten Huſaren vor 
Augen zu haben. Aber er hat doch auch den Krieg von 1870/71 mit warmer Be- 
geiſterung und treuer Pflichterfüllung mitgemacht. Für andere ijt das ein vorüber- 
gehendes Erlebnis, für den echten Huſaren bleibt es der Grundakkord ſeiner Ge— 
ſinnungen und Stimmungen. Der Mann, der ſich hier ſelbſt bekennt, ohne von 
Selbſtkritik angekränkelt zu ſein, vertritt eine breite Schicht unſeres Volkes und 
eine Lebensanſchauung, die als ein Stück deutſcher Entwicklung ganz zweifellos 
. ihren Ausdruck finden darf. Seine Daterlandsliebe ift zu jedem Opfer bereit: 
„und wenn ich zehn Jungs hätte, die müßten alle Soldaten werden.“ Er wünſcht 
ſeinen Söhnen Gelegenheit und den Mut zu Heldentaten wie die des Pioniers 
Klinke zu geben, damit für ewige Zeiten auch ihr Name im dankbaren Andenken 
des Volkes lebe, damit wir nicht wieder Zeiten erleben wie damals, als die Fran- 
zoſen Herren im Lande waren. „Unſer König iſt ſchon der rechte Mann, wenn 
nur auch ſein Volk ſo iſt.“ 

Dieſe und verwandte Stellen haben bei den Hamburgern beſonders Anſtoß 
erregt. Das wäre innerlich unwahr, wäre tendenziöſe Mache. Aber wieſo denn? 
aft das nicht ganz aus dem Geifte eines überzeugten Berufsſoldaten heraus ge- 


806 Gurlitt: Oer vaterländiſche Gebante in der Jugendliteratur 


ſprochen? Haben nicht in den Kriegszeiten deutſche Väter ebenſo gedacht und 
gehandelt? Mir ſteht aus meinen Knabenjahren noch das Bild eines ſtolzen Arifto- 
kraten vor der Seele, der ſeine drei blühenden Söhne innerhalb weniger Tage 
in den Kämpfen vor Metz verlor, deshalb aber doch ſeinen täglichen Spaziergang 
nicht ausſetzte und doch feinen Lebensmut behielt. Ich erinnere mich, wie einer 
unſerer Nachbarn häufig zu meinem Vater kam mit der Frage, ob meine zwei 
Brüder, die im Felde ſtanden, über ſeinen Sohn Nachricht gegeben hätten. Dabei 
klagte und jammerte er über fein Mißgeſchick: erſt mit Sorge und Mühe den Sohn 
großziehen, dann ihn allen Gefahren des Krieges preisgeben müſſen. Schließlich 
wurde mein Vater dieſes Geraunzes müde: „Sein Sie ſtolz, daß Sie Ihrem Vater- 
lande ein Opfer bringen dürfen! Fd habe z w e i liebe und wackere Söhne draußen 
im Felde, aber ich würde mich ſchämen, darüber in Klagen auszubrechen.“ Eine 
ſolche Geſinnung war damals Gemeingut der Deutſchen ohne Unterſchied der 
Stände und Berufe. Es wird unſerer Jugend nichts ſchaden, wenn ſie das zu hören 
bekommt. Es iſt ihr auch nicht gegen Sinn und Verſtändnis. 

Damit kommen wir zu unſerer Hauptfrage zurück, zu der uns das „Menfchen- 
ſchlachthaus“ die Anregung gab: Sollen und dürfen wir die Jugend in der Schule 
und im Hauſe und durch ihre Lektüre im Sinne der Pazifiziſten erziehen oder im 
Sinne ihrer Gegner? Sollen die Hamburger recht behalten, die bei der Jugend- 
lektüre nur die eine Frage ſtellen: Echtes Kunſtwerk oder nicht? Sollte eine ſolche 
ſchlichte Lebens- und Kriegserinnerung, wie ſie uns der brave Stabstrompeter 
erzählt, wirklich Gift für die Zugend fein? Sch überſchätze ihren künſtleriſchen 
Wert gewiß nicht: er iſt recht gering; aber ich denke mir: Wie wäre es, wenn der 
Kriegsmann die Jungen in ſein Zimmer riefe und ihnen dieſe ſelben Erinnerungen 
mündlich erzählte? Nach meiner Kenntnis der Jugend würde fie ihm mit leud- 
tenden Augen lauſchen. Mag diefe Schrift nun gut oder ſchlecht fein, das ijt gleich- 
gültig dem großen prinzipiellen Streite gegenüber, den ſie angeregt hat. 

Ihren politiſchen und literariſchen Standpunkt zu verteidigen, ließen Her- 
ausgeber und Verleger der „Mainzer Volks- und Jugendbücher“, die Herren Wil- 
helm Kotzde (Rathenow bei Berlin) und Sof. Scholz (Mainz) eine kleine „Streit- 
und Wehrſchrift“ (im eigenen Verlag) erſcheinen: „Der vaterländiſche Gedanke in 
der Jugendliteratur“. Es wird darin den Hamburger Lehrern der Vorwurf ge- 
macht, daß fie auf dem Gebiete der Jugendliteratur eine Gewaltherrſchaft auf- 
richten wollen, der ſich viele Lehrer in dem guten Glauben unterordneten, als 
gelte es der künſtleriſchen Erziehung. In Wahrheit ſtände die „Hamburger Be- 
wegung“ unter ſozialdemokratiſchem Einfluß und ſtrebe danach, deren Gedanken 
der Jugend zugängig zu machen. Ihr Führer Heinrich Wolgaſt bekenne ſich in 
feinem Werke „Das Elend der Jugendliteratur“ nirgends zum vaterländiſchen 
Gedanken, wende ſich gegen Schiller als einen für die Zugend nicht geeigneten 
Dichter, und zwar mit Berufung auf Leo Bergs Wort: Schiller erziehe die Jugend 
zu unerträglichen Schwätzern. Sch gehe abſichtlich auf den Vorwurf nicht näher 
ein, es mangle der Hamburger Lehrerſchaft an echter Vaterlandsliebe, ein Vor- 
wurf, der ausführlich mit dem Nachweis begründet wird, daß ſie „freie Betätigung 
ihrer politiſchen Geſinnung“ beanſpruchen und damit der „Pädagogiſchen Re- 


Gurlitt: Oer vaterländiſche Gedanke in der Sugenbliteratue 807 


form“, einem Hamburger Lehrerblatte, zuſtimmten, welches wiederholt auch das 
Recht des Lehrers forderte, Sozialdemokrat zu ſein, und ſeine Zugehörigkeit zu 
dieſer Partei als „Charaktertüchtigkeit“ bezeichne. 

Gegenüber einer Außerung des Danziger Lehrers Mahlow habe die „Jugend- 
ſchriften⸗ Warte“ erklärt: Bekämpfung der Sozialdemokratie fei nicht Aufgabe der 
Prüfungsausſchüſſe. So hätten denn auch die Hamburger und ihre Freunde zur 
ſozialdemokratiſchen Zugendliteratur ſtets geſchwiegen, um die Schriften, die 
vaterländiſche Gedanken vertreten, deſto leidenſchaftlicher zu bekämpfen und zu 
verhöhnen. Dieſer Verſuch, die Hamburger Lehrer in ihrer Tätigkeit auf dem Ge- 
biete der Jugendliteratur als Geſinnungsgenoſſen und Schrittmacher der Sozial- 
demokratie zu erweiſen, erfüllt die ganze genannte Streit- und Wehrſchrift und 
wird wiederholt und verſtärkt in dem „Offenen Brief an den Arbeitsausſchuß des 
Dürerbundes“, eine Abwehr derſelben Herren Kotzde und Zof. Scholz gegen den 
Dürerbund unb feinen Wortführer Avenarius, die eine Erklärung an die Preſſe 
verſandten, mit der fie die Partei des Hamburger Prüfungsausſchuſſes ergriffen 
und ſie von dem Verdachte freiſprachen, Förderer ſozialdemokratiſcher Gedanken 
zu fein. Dieſes freiſprechende Urteil wird begründet auf das Material, das der 
Hamburger Lehrer Brunckhorſt beigebracht batte, und das als „überzeugend“ an- 
erkannt wird: die „belaſtend ſcheinenden“ Behauptungen wurden dadurch wider- 
legt. Die ſozialdemokratiſche Preſſe, der Brunckhorſts Rechtfertigung ebenfalls zu- 
geſandt wurde, antwortete (nach Angabe dieſer „Abwehr“) mit dem Boykott über 
den Verlag von Joſ. Scholz. 

Man ſieht, die Sache nimmt ſchon ſehr ernſte Formen an. Kein Wunder, 
denn es ſtehen ſehr ernſte Dinge auf dem Spiel. 

Wer den Verlag von Scholz kennt, muß den ehrlichen Willen und den ſchönen 
Erfolg zugeben, mit dem er der Jugend dient. Er hat die beiten Zlluftratoren 
herangezogen und mit deren Hilfe geradezu muſtergültige Kinderbücher geſchaffen. 
Deutſche Märchen, deutſche Volkslieder, deutſche Volksmelodien ſind durch ihn 
in zahlloſen Kinderſtuben wieder lebendig geworden. Er hat geradezu Vorbild- 
liches für die künſtleriſche Seite der Zugenderziehung geleiſtet. Als er nun, in 
ſeiner Arbeit fortſchreitend, auch für die „heranwachſende“ Jugend geeignete 
Koſt bereitſtellen wollte, kam er von ſelbſt dazu, vaterländiſche Stoffe zu bearbeiten. 
Er meint, es gäbe für deutſche Knaben keine beſſere Anleitung zum vaterländiſchen 
Fühlen, als wenn man ihnen die Taten ihrer Vorfahren, zumal die kriegeriſchen 
Taten, lebendig vor die Seele ſtellte. So gab er mit Wilhelm Kotzde feine „Vater 
ländiſchen Bilderbücher“ heraus, an denen jeder natürlich empfindende Deutſche 
feine helle Freude haben muß, zumal die Bilder wieder wirklich Muftergültiges 
bieten. So die von Angela Jank in dem Band „Zehn Jahre deutſcher Not (1803 
bis 1812)“ unb von Franz Müller-Münſter in dem Bande „Friedrich der Große“. 
Gewiß, das Kriegeriſche wiegt in Bild und Text vor, aber ich meine: einmal hat 
die Jugend von Haus aus kriegeriſchen Sinn — ich ſehe ſelbſt die Kinder von 
Sozialiſten immer mit Helm, mit Säbel und Gewehr durch die Straßen und 
Fluren ſtreichen und Soldaten ſpielen —, und ſodann iſt die Stellung unſeres 
Staates und unfer ganzes politiſches wie ſoziales Leben ohne Kenntnis der Kriegs- 


808 Gurlitt: Der vaterlanbdifhHe Gedanke in der Zugenbliteratur 


taten unſerer Vorfahren unverſtändlich, und ſchließlich iſt es doch wohl ein Gebot 
der Dankbarkeit und des Anſtandes, daß wir den kommenden Geſchlechtern das 
Andenken derer lebendig erhalten, die ihre Kraft und ihr Leben hergaben, 
um unſer Vaterland in die Höhe zu bringen. Wenn deshalb wirklich in dem 
Literariſchen Ratgeber des Dürerbundes der Gedanke vertreten wurde, es wäre 
ein Segen, wenn aus dem Leſeſtoff der Jugend die geſchichtlichen Jugend- 
ſchriften ganz ausgeſchieden würden, oder wenn ein Lehrer in der Bremer pába- 
gogiſchen Zeitſchrift „Der Roland“ den Gedanken ausſprach: „Die Liebe zur 
engeren Heimat macht bie Menſchen innerlich unfrei... .. Innerlich unfreie Men- 
ien find freilich auch äußerlich leichter zu regieren und zu knechten. Wir 
Lehrer des Volkes aber haben zu tun, was in unferen Kräften ſteht, um die Unter- 
ſchiede der Nationalitäten auszumerzen. Wir haben daher auch jeden Patriotismus 
zu bekämpfen, mag er eine Form annehmen, welche er will. Bewußte Erziehung 
zum Patriotismus aber bedeutet immer eine Unterminierung von Geſittung und 
Kultur im Volke, iſt ſomit direkt unmoraliſch. Jede patriotiſche Regung iſt nämlich 
im tiefſten Kerne unmoraliſch“, ſo hätte allerdings die deutſche Lehrerſchaft allen 
Grund, ſolche Gedanken von ihrem Erziehungsplan gründlich abzuweiſen. So 
erfreulich es einerſeits iſt, daß der Hamburger Senat den Lehrer Lamszus fir 
ſeine literariſche, außerdienſtliche Leiſtung nicht beſtrafte, ſo beſteht doch tatſächlich 
eine Gefahr, daß durch ſtarke Betonung des Friedensgedankens innerhalb der 
Schule und durch eine Herabſetzung der Bedeutung und Aufgaben unſeres Heeres 
die Jugend in ihrem Empfinden und in ihrem Pflichtbewußtſein verwirrt werde. 
Der „Mainzer Zugendverlag“ darf mit Recht fagen: 

„Es handelt ſich um ganz große grundſätzliche Fragen, die zur Entſcheidung 
drängen, für die wir unſere Kraft eingeſetzt haben. Wir möchten die wichtigſte 
Frage ſo herausſtellen: Heer und Schule ſind Erziehungsanſtalten des Staates. 
Iſt es erträglich, daß beide verſchiedene Erziehungsideale haben? Muß nicht 
an einem ſolchen inneren Gegenſatz, wie er tatſächlich durch die radikale Gruppe 
der Hamburger Lehrerſchaft und ihre Anhänger herbeigeführt wird, der Staat 
zugrunde gehen? Soll es erlaubt ſein, daß Lehrer, Diener des Staates, das 
Pulver herbeitragen, das den Staat zerſprengt, wie es durch Lehrer wie Hübner, 
Lamszus und ihre Geſinnungsgenoſſen geſchieht?“ 

Sd füge hinzu „wo fern es von dieſen Lehrern geſchehen ſollte,“ denn 
ich mag mich in dieſer Frage nicht zum Richter aufwerfen. 

Die Lage ijt übel genug. Eine große Partei, ein Dritteil aller deutſchen 
Wähler, erklärt fih gegen den ſogenannten Militarismus. Auf den fogialdemo- 
kratiſchen Parteitagen herrſchte Meinungseintracht darüber, daß eine der Haupt- 
pflichten jedes „Genoſſen“ im geheimen Kampf gegen das beſtehende Heer be— 
ruhe, da eine offene „antimilitariſtiſche Arbeit“ nur aus Gründen der Vorſicht 
noch nicht zu leiſten fei. Auf dem Parteitag in Sena bezeichnete Liebknecht aus- 
drücklich den Militarismus als den Rocher de bronce, der untergraben werden 
müßte, oder — in einem anderen Bilde — man müſſe dieſe feſte Eiche an den 
Wurzeln zerſtören“. Ich bin nicht parteiwütig und parteiblind genug, um nicht 
zu erkennen, daß damit feine „Vaterlandsloſigkeit“ zu Wort kommt. Sein Vater- 


Gurlitt: Der vaterlänbiſche Gedanke in der Zugenbliteratur 809 


land liebt der Sozialdemokrat natürlich auch, nur wünſcht er ihm andere Lebens- 
formen. Das Heer bekämpft er nicht deshalb, weil er Deutſchland wehrlos machen 
will er tritt ja ein für die Miliz, und daß auch das nicht ohne jede Berechtigung 
ijt, das lerne man aus den Schriften des bekannten Militärſchriftſtellers Karl 
Bleibtreu! — nein, er bekämpft im Vaterlande das Heer, ſoweit es feiner Mei- 
nung nach nicht reines Volksheer, ſondern auch dynaſtiſchen und parteipolitiſchen 
Zwecken dienſtbar if. Das mag man verurteilen, aber man muß es zu ver- 
ſtehen ſuchen, um gerecht zu bleiben. Man wirft den Sozialdemokraten Volks- 
verhetzung vor, vergißt aber nur zu leicht, daß man aus Liebe zu dem Be— 
ſtehenden ſelbſt ungerecht gegen die Träger neuer Ideale iſt. Davon leſen und 
hören wir täglich Proben. In der Steglitzer Zeitung vom 24. Januar 1913 gleich 
eine ſolche: „Die Unterwühlung des Heeres“, und darin folgendes: „Es liegt 
der ſogenannten Jugendpflege der Sozialdemokratie der Gedanke zugrunde, die 
Wehrpflichtigen für den Heeresdienſt dadurch untauglich zu machen, daß in ihnen 
der Geiſt der Vaterlandsfeindſchaft und des Vaterlandsverrats gezüchtet wird, 
alfo derſelbe Geiſt, der die neueſten internationalen Umfturztundgebungen der 
Roten gegen den Krieg erfüllt. So wird ferner jahraus jahrein zur Weihnachtszeit 
von den ſozialdemokratiſchen Zeitungen bie heeresfeindliche Verhetzung inſofern 
betrieben, als bie ,Genoffen’ und ‚Genofjinnen‘ eindringlich gewarnt werden, 
ihre Kinder mit Spielzeug zu beſchenken, das irgendwie geeignet ſei, die natürliche, 
angeborene Freude am Soldatiſchen zu nähren; und faſt tagtäglich bieten die 
roten Tagesblätter ähnliche Proben der gegen unſere nationalen Wehrkräfte 
gerichteten Hetze, wie fie einmal das Münchener Hauptblatt ber bayerifchen Sozial- 
demokratie geliefert hat, als es den Schweinetod auf der Schlachtbank himmelhoch 
über den Heldentod auf dem Schlachtfelde ſtellte. 

Von Guſtav Hervé, dem Erfinder des Antimilitarismus“ in Frankreich, 
ſtammt das Wort: ‚Die Landesfahne muß auf den Miſthaufen gepflanzt werden!“ 
Hervé bat inzwiſchen feinen ‚Antimilitarismus“ abgeſchworen und fingt jetzt in 
feiner Art dem Heere und feinem Vaterlande Loblieder. Die, Genoſſen“ in Oeutſch- 
land aber fahren in dem Bemühen fort, das ſchmutzige Wort Hervés in die Tat 
umzuſetzen.“ 

Iſt das nicht auch Verhetzung? Vaterlandsfeindſchaft, Vaterlandsverrat? 
Und dieſes Zuſammentragen ſelbſt alter rhetoriſcher Entgleiſungen, während doch 
die Führer der deutſchen Sozialdemokratie offen im Reichstag bekannt haben, 
in der Stunde der Not würden auch ſie das Gewehr auf den Rücken nehmen und 
gegen den Feind ziehen! 

Und die Kriegsfeindſchaft? Treiben wir ſie nicht alle? Gehen nicht alle 
Bemühungen unſeres Kaiſers und unſerer Diplomaten auf dasſelbe Ziel hinaus, 
unſerem Volke den Frieden zu erhalten? Nur in den Mitteln, den Frieden zu 
wahren, gehen die Parteien auseinander. Die einen meinen, es gelinge bloß 
durch Stärkung der Heeresmacht, die andren hoffen auf eine friedliche Verſtändigung 
der Völker, zumal der Volksſchichten, die von den Kriegen am empfindlichſten 
betroffen werden, der Proletarier. Wir ſehen auf beiden Seiten ernſte, ehren- 
werte Patrioten. Pazifiziſten ſind alle wahrhaft geſitteten Menſchen, alle finden 


810 Gurlitt: Der vaterländiſche Gebanke in der Zugendliteratur 


ſich in dem Wunſche zuſammen, das köſtliche Gut des Friedens ſo lange zu wahren, 
wie es nur immer mit den Lebensbedingungen und der Ehre des Volkes vereinbar 
iſt. Es iſt auch kein Unrecht, ſich einmal recht klar zu machen, wie ein Krieg der 
Zukunft ausſehen wird. Das ſchärft denen das Gewiſſen, denen das Glück des 
Volkes in die Hände gelegt iſt, und warnt Kriegshetzer, die ſich ihrer furchtbaren 
Verantwortung nicht bewußt ſind. Die häßliche Wahrheit darf und muß aus- 
geſprochen werden: 

Der moderne Krieg nimmt Formen an, gegen die ſich jedes menſchliche 
Empfinden empört. Der maſchinelle Maſſenmord hat nichts mehr gemein mit 
der auch uns verſtändlichen Poeſie des Heldentums. Wenn die Reihen durch 
Maſchinengewehre hingemäht werden, wie die Saat von der Senſe des Schnitters, 
fo bleibt uns keine Empfindung übrig, als kaltes Grauſen. Wenn ein Ranonen- 
ſchuß tauſend wackeren Marineſoldaten das kalte Grab bereitet, oder wenn ein 
Druck auf den elektriſchen Knopf ganze Kompagnien mit verſteckten Pulverminen 
in die Luft ſprengt, dann iſt das Menſchenleben um ſeinen Wert gebracht und 
ber Mannesmut zur Chimäre geworden. Die moderne Kriegstechnik führt den 
Krieg ad absurdum. Sie läßt eine Steigerung kaum noch zu. Oder ſollen wir 
warten, bis ganze Städte oder Staaten in die Luft geſprengt werden? Techniſch 
wäre wohl auch das zu leiſten, aber es wird zum Wahnſinn. So kommt es, daß 
ein an ſich kriegeriſches und wehrhaftes Volk wie das deutſche, ſchließlich an der 
Berechtigung des Krieges ſelbſt irre werden kann. Und dieſe Stimmung gewinnt 
in unſerem Volksbewußtſein mehr und mehr an Boden. Unſer Volk hat ſeine 
männlichen Inſtinkte nicht eingebüßt. Noch täglich erleben wir Proben von Helden- 
mut. Was Luftſchiffer, Seefahrer und Sportsleute jeder Art beſtändig an Wage- 
mut leiſten, ſteht ebenbürtig neben den moraliſchen Großtaten ber beiten Helden- 
zeitalter. Dieſelben ſozialiſtiſchen Arbeiter, die ſich gegen den Krieg auflehnen, 
und ihn durch eine internationale Verſtändigung bes Proletariates unmöglich machen 
wollen, zeigen als Grubenarbeiter bei Unglücksfällen tätige Nächſtenliebe und einen 
Opfermut, der uns Hochachtung abnötigt. Es ſtände ſchlimm um Deutſchland, 
wenn wirklich ein Drittel ſeiner Wähler Vaterlandsfeinde und Vaterlandsverräter 
wären. Wie kann man ſein eigenes Volk ſo verkennen und ſo beſchimpfen?! 

„Alſo ſollen wir abrüſten?“ höre ich entrüſtet lospoltern, „ſollen wir uns 
wehrlos machen und der Gutmütigkeit unſerer Nachbarn anheimgeben, ob ſie uns 
gütig noch geſtatten wollen, als Volk und Staat weiterzubeſtehen?“ 

Nein, das nicht! Ich meine: wir ſollen alles tun, um wehrhaft zu ſein und 
zu bleiben, und gleichzeitig dem Gedanken an eine internationale Verſtändigung 
mit ehrlichem Eifer dienen. Nur der Starke kann den Frieden ſchützen. Unſere 
Diplomatie allein kann uns vor nationalen Kataſtrophen nicht bewahren. Auch 
unſere Parlamente können es nicht, man mag ſie noch ſo demokratiſch ausgeſtalten. 
Moltkes Urteil in dieſen Fragen wiegt mir ſchwerer als das der Laienwelt. Er 
ſagte am 14. Mai 1890 im Reichstage: „Die Elemente, welche den Frieden be- 
drohen, liegen bei den Völkern ... Es find gewiſſe Nationalitäts- und Raffen- 
beſtrebungen, iſt überall die Unzufriedenheit mit dem Beſtehenden.“ Das kann 
jederzeit den Ausbruch eines Krieges herbeiführen, ohne den Willen der Regie- 


Gurlitt: Oer vaterländifge Gebante in der Fugendliteratur 811 


rungen und auch gegen ihren Willen (ſiehe die heutige Türkei!). Eine Regierung, 
die nicht ſtark genug iſt, um den Volksleidenſchaften und den Parteibeſtrebungen 
entgegenzutreten, — eine ſchwache Regierung ift eine dauernde Kriegsgefahr . 
Nur ein waffenſtarkes Deutſchland bat es möglich machen können, mit feinen 
Verbündeten den Bruch des Friedens fo lange Jahre hindurch hinzuhalten. Je 
beſſer unſere Streitmacht zu Waſſer und zu Lande organiſiert iſt, je vollſtändiger 
ausgeriijtet, je bereiter für den Krieg, um fo eher dürfen wir hoffen, vielleicht 
den Frieden noch länger zu bewahren, oder aber den unvermeidlichen Kampf 
mit Ehren und Erfolg zu beſtehen. 

Es kommt hinzu: Was wir unſerem Volke zumuten, das Gleiche müſſen 
unſere Nachbarn dem ihren zumuten. Der Krieg hat für alle Beteiligten gleiche 
Gefahren und Schrecken. Je mehr dieſe Gefahren und Schrecken wachſen, um 
ſo größer wird die Scheu der Maßgebenden, ſie heraufzubeſchwören. Mit anderen 
Worten: Gerade die Maſſenrüſtungen begünſtigen den Friedensgedanken. Aber 
aud) das muß geſagt werden: Es ſteht den Deutſchen nicht zu, aus Kriegs- 
furcht die Waffen niederzulegen und ihre Exiſtenz nur von Konferenzbeſchlüſſen 
fremder Völker abhängig zu machen. Wir müſſen bereit ſein und bleiben, 
unſer Alles an unſere nationale Ehre zu ſetzen. Andernfalls müſſen wir uns 
von Schiller als nichtswürdiges Volk beſchimpfen laſſen. Es gilt von Völkern 
eben ſo gut wie von den Einzelmenſchen, daß ſie ihr Leben einſetzen müſſen, 
um es im wahren Sinne zu beſitzen. Das Heer iſt eine Schule des nationalen 
Lebenswillens. Wir brauchen es als Ausdruck und Werkzeug der phyſiſchen und 
moraliſchen Volkskraft. Daß es in dieſem Sinne reformbedürftig ift, fei aus- 
drücklich betont. Der Wille aber und die Fähigkeit zum Heroismus finden im 
Heere ihre Pflegeſtätte. Das Leiden iſt ein Zuchtmeiſter der Menſchen, gehört 
mit zur Erziehung des Menſchengeſchlechtes. Das hat gerade ein fogialdemo- 
kratiſcher Schriftſteller, Max Maurenbrecher (im „Freien Wort“) in den letzten 
Tagen mit der ganzen Wucht feiner Beredſamkeit (und gegen Lamszus) vor- 
getragen. Er iſt wie Friedrich Nietzſche erfüllt von dem, was dieſer amor fati 
nennt, dem Willen und der Zuſtimmung zum Leben auch in deſſen Mühen, 
Schrecken und Qualen. Das iſt deutſch empfunden, männlich, heldenhaft, und 
davon foll auch unſere Jugenderziehung durchglüht fein. Die Jugend wird es 
uns danken. Denn fie ift heldenhaft. Hören wir wieder ihren Ehrenretter, S. 
be Lagarde (S. 381): „Die Jugend will Krieg für ein konkretes Ideal führen, 
ſie will Gefahr, Wagnis, Wunden, Tod, will nicht das Einerlei wiederkäuen, das 
ihre Großväter bereits gekaut haben. Die Jugend beſteht aus Perſonen und will 
Perſönliches, nicht Rompendiumsparagraphen in Hoſen, und mehr bietet ihr nicht, 
denn ihr habt nicht mehr. Die Jugend will die Zukunft erleben, deshalb kann ſie 
nur von der Zukunft leben. 

Sd klage nicht, daß unſerer Jugend Idealität mangle; ich klage an: die 
Männer, vor allem die Staatsmänner klage ich an, welche der Jugend die Ideale 
nicht bieten, an denen allein der überall vorhandene Idealismus der Jugend 
zur Sdealitat zu werden vermag.“ 

Unfer ſtaatliches und ſoziales Leben muß fo geſtaltet werden, daß es fid 


812 Gurlitt: Oer vaterländiſche Gedanke in der Zugendliteratur 


für die große Maſſe der Bürger auch lohnt, dafür das höchſte Opfer, Gut und 
Blut, darzubringen. Ich glaube mein Vaterland zu lieben, aber für einen Staat, 
der vorwiegend — ich ſage nicht ausſchließlich — den Wünſchen der herrſchenden 
Parteien, der „Zunker und Pfaffen“, dient, gebe ich weder mein Leben gerne 
her, noch viel weniger das Leben meiner lieben Söhne. Man gebe uns in Preußen 
durch ein gerechtes Wahlrecht freie Mitarbeit an der Geſtaltung unſeres Staates 
und unſerer Kultur, und wir werden für das Produkt unſerer eigenen Arbeit 
jedes Opfer aufbringen! Zu den unerläßlichen Vorbedingungen dieſer unſerer 
Opferfreudigkeit gehört vor allem auch eine Reform des Zugendunterrichtes. 
Und damit komme ich auf mein Hauptthema zurück. 

Aktion erzeugt Gegenaktion, Druck Gegendruck. Die Entrüſtung der Sozial- 
demokratie über die politiſche und religiöſe Herrichtung der deutſchen Jugend 
iſt wahrhaftig nicht grundlos. Politik gehört nicht in die Schule. Aber der Staat 
brachte ſie jederzeit in die Schule und wacht heute beſonders ſtreng darüber, daß 
in ihr keine Geſinnungen laut werden, die den herrſchenden Parteien gegen den 
Strich gehen. Was dagegen zu fagen ijt, hat Paul be Lagarde (DOeutſche Schriften 
S. 178) wieder in muſtergültiger Klarheit und Schärfe gefagt: 

„Schulen ſind keine Brutſtätten für ſogenannten Patriotismus. Solon 
gab kein Geſetz gegen den Elternmord, weil er Elternmord für undenkbar erklärte, 
und wenn er je vorkommen ſollte, ihn mit ewiger Nacht bedeckt zu ſehen wüͤnſchte. 
Sich um Erzeugung patriotiſcher Geſinnung bemühen, heißt annehmen, daß es 
überhaupt möglich ſei, nicht patriotiſch zu ſein. Sollte man aber meinen (und 
man meint es faſt durchgängig), daß Patriotismus mit der Billigung beſtimmter 
Parteigrundſätze und hiſtoriſcher Anſchauungen identiſch ſei, dann iſt es brutale 
Gewalt, Knaben und Mädchen in dieſe, von den Eltern durchaus nicht immer 
geteilten, Anſchauungen hineinzuzwängen ... Was die eine Partei zu fordern 
berechtigt ijt, darf auch die andere beanſpruchen ... Der jetzt unter dem Namen 
Patriotismus gepflegte Vertrieb gewiſſer politiſcher und hiſtoriſcher Anſichten iſt 
geradezu Vergiftung der jungen Seelen, da alles Parteiweſen giftig iſt, weil 
es die Fähigkeit, wahr und gewiſſenhaft zu fein, ertötet, und Sklaven, wenn man 
lieber will, Bedientenſinn erzeugt. Zu bedenken wird auch ſein, daß Knaben 
für Patriotismus gar nicht fähig find, weil fie mit dem Worte Vaterland einen 
Begriff, eine Empfindung, eine Anſchauung zu verbinden nicht vermögen.“ 

Alſo ſchmähe man die Sozialdemokratie nicht zu ſehr, wenn ſie gegen die 
in den Schulen betriebene „Vergiftung der Zugend“ mit ihrem — gleich gefähr- 
lichen oder gefährlicheren Gegengift arbeitet, auf übertriebenen Fürſtenkult mit 
Fürſtenſpott, auf zu lauten Kriegsruhm von hohlem Hurraton mit Kriegsabſcheu 
und Verherrlichung der Friedensarbeit antwortet. Man hat ſich dieſe Oppoſition 
zum großen Teil durch blinden Scharfmachergeiſt und durch ſoziale Ungeredhtig- 
keiten erſt großgezogen. Die deutſchen Staaten verbürgen allen Bürgern gleiche 
Rechte, aber begünſtigten „höhere Schulen“ mit einem Berechtigungsweſen, das 
von unſerem Volke als antiſozial empfunden wird. Nicht von den Sozialiſten allein. 
Ein fo ſtreng konſervativer und gläubiger Mann, wie der ſchon zitierte Paul de 
Lagarde ſchrieb Iden vor vierzig Jahren: „Die Grundlage, auf der die jetzige 


Gutlitt: Oer vaterländlſche Gebante in ber Zugenbliteratur 813 


Geſetzgebung ruht, ift eine falſche Anſicht von der Bildung ... Dieſe falſche Anſicht 
ſchließt die Armen, die Handwerker, von der Bildung aus, oder verurteilt ſie zu 
einem Papageientum, das ſehr komiſch wirken würde, wenn es nicht ſo tief traurig 
wäre.“ Deshalb forderte er Abſchaffung des Berechtigungsweſens und nannte 
als verhängnisvollſte Berechtigung die zum einjährigen Dienſt im Heere, da „in 
völlig un verantwortlicher Weiſe bie Bürgerſchulen hintangeſetzt“ würden. Gäbe 
man auch dieſen Berechtigungen, ſo würden ſämtliche höheren Schulen auf ein 
Viertel ihrer Höhe herabſchnellen und wir würden, ganz abgeſehen von anderen 
Vorteilen, in der Wahrheit leben, während wir jetzt in der Lüge ſterben. Gewiß! 
Es würde auch das Verſtändnis des Arbeiterſtandes für unſer Heer heben und 
beleben, wenn er ſeine Söhne im Heere als vollwertige Bürger behandelt ſähe, 
derart, daß jeder tüchtige Mann zu den höchſten Stellen aufrücken könnte. Ein 
intelligenter Arbeiter hat aber in Deutſchland weniger Ausſicht, Leutnant zu 
werden, als er in den demokratiſch organiſierten Ländern Ausſicht hat, Prä- 
ſident des ganzen Volkes zu werden. Unſer „Volksheer“ wird oft daran erinnert, 
daß es auch gegen den „inneren Feind“ kampfbereit ſein müſſe. Der Wunſch, 
die ſchwere Verantwortung über Krieg und Frieden nicht weſentlich auf eine 
Schulter zu legen, ſondern ſie der Geſamtvertretung der Völker aufzuerlegen, 
mag praktiſche Bedenken erregen, aber hochverräteriſch ift er nicht. Der Wunſch, 
Kabinettskriege unmöglich zu machen, iſt ſogar höchſt berechtigt. Es ſteht jetzt 
bei einem Kriege zu viel auf dem Spiele, als daß nicht jeder Patriot berufen ſein 
ſollte, ſein Urteil zu dieſem nationalen Thema vorzubringen und zu verfechten. 

National nennen die Parteien das, was ihren Parteiauffaſſungen entſpricht. 
Die Sozialiſten nennen es ihre nationale Pflicht, den Einfluß der Monarchie, 
erblicher Oynaſtien, der Standestrennungen und des internationalen Kapitalismus 
zu brechen; alles das aber zu ſchützen, als Grundlage unſerer bürgerlichen Ge- 
ſellſchaft und damit unſeres Staates, gilt den rechtsſtehenden Parteien als eben 
jo ſelbſtverſtändliche nationale Pflicht, und fie eifern gegen den Verrat derer, 
die mit Parteigenoſſen in fremden und ſogar feindlichen Staaten gemeinſame 
Sache machen. Aber ijt die Macht der OQynaftien, der Kirchen, zumal der fatbo- 
liſchen, das Kapital nicht auch international? Weshalb alſo die ſittliche Entrüſtung 
in dem einen beſonderen Falle? Ein Volk, das vor 1866 nur 11 Vertreter Bismard- 
ſcher Farbe im Landtag hatte, aber nach 1866 dorthin ſo viele Anhänger der noch 
eben verdammten Politik ſandte, daß der Gefeierte jid) vor der ihm entgegen- 
gebrachten Liebe nicht zu laſſen wußte, ein ſolches Volk (ſagt wieder Paul de 
Lagarde S. 179) „wird gut tun, ſeine dermaligen politiſchen Anſichten nicht als 
unabänderlich anzuſehen, wird alfo auch gut tun, die Jugend mit feinen Partei- 
liebhabereien zu verſchonen, um fid) nicht ſelbſt im Laufe der Sabre oder wohl 
gar Monate vor der Jugend als wetterwendiſch bloßzuſtellen. Bedenken wir doch 
auch, daß Bismarck dieſelben Zentrumsmänner als „Reichsfeinde“ bezeichnete, 
mit deren Hilfe heute „regierungstreue“ Politik getrieben wird gegen die anderen 
„Reichsfeinde“. l 

Vaterländiſche Zugendpflege ift deshalb ein febr ſchwieriges Kapitel. Der 
beſte Eifer kann da den ſchlimmſten Schaden anrichten. Die Gefahr, mit der eigenen 


814 Gurlitt: Oer vaterländiſche Gedanke in der Jugendliteratur 


Überzeugung die feines Nachbarn zu kränken, ift gerade in Deutſchland über- 
groß. Idealer Beſitz läßt ſich durch Lehre nicht weitergeben. Er iſt in ſeiner 
Entſtehung ſtets unerkennbar. Er haftet ſtets an einer Perſon und pflanzt ſich 
nur in einer Lebensgemeinſchaft fort. Es bleibt alſo nichts übrig, als die 
Vaterlandsliebe, ebenſo wie das religiöſe Leben in uns perſönlich, „Perſon“ 
werden zu laſſen und mit allen Gleichgeſinnten eine Gemeinſchaft herzuſtellen. 
Dann werden unſere Kinder ganz von ſelbſt in dieſe geiſtige Gemeinſchaft mit 
hineinwachſen. 

Deshalb bedaure ich den Streit der Jugendfreunde, die jetzt, in zwei Gruppen 
geteilt, jede in ihrer Weiſe das Beſte wollen und ſich dabei nicht verſtändigen können. 
Auf beiden Seiten wird gefehlt. Beide Seiten laſſen ſich zu ſtark von politiſchen 
Erwägungen leiten. Man treibt heute in allen Parteien Seelenfang an der Jugend. 
Dabei entwickelt fid) ein wahrer Wetteifer. Keiner kann, keiner will zurückbleiben. 
Es iſt wie mit dem Wettrüſten der Völker. Und wer hat angefangen? Wer iſt 
alſo verantwortlich für den unerfreulichen Zuſtand? „Es will keiner geweſen 
ſein.“ Wir werden vielleicht „den unglückſeligen Geſtirnen“ die Schuld zuſchieben 
müffen: denn es liegt an der ganzen politiſchen und ſozialen Verſchiebung aller 
Verhältniſſe. Wo alles im Wandel begriffen ijt, wird auch die Zugenderziehung 
mit in den Wirbel hineingezogen. Leider! Das kann nur Unſegen ſtiften. Aber 
eine Verſtändigung der politiſchen Parteien, auch auf dieſem Gebiete, die Waffen 
niederzulegen und die Jugend vor Parteifanatismus zu ſchützen, erſcheint aus- 
ſichtslos. Welche Partei mit edler Selbſtbeſcheidung den Anfang mit dieſem 
geiſtigen Abrüſten machen wollte, dieſe würde eben leer ausgehen. Man kann 
eine ſolche Selbſtaufgabe von keiner fordern und erwarten. Ich ſehe nur einen 
Weg, der Erfolg verheißt: Wenn ſich in den geſetzgebenden Körperſchaften und 
bei den Regierungen der Wille durchſetzt und zum Geſetz verdichtet, jede Politik 
aus dem Jugendunterricht fernzuhalten, aber auch wirklich jede! Und ebenſo 
die Schulen konfeſſionsfrei zu machen und die Politik auf Kanzeln, theologiſchen 
Lehrſtühlen, in den Schulklaſſen und in der Jugendliteratur zu bekämpfen und 
nach Kräften abzuſtellen. 

Die Jugend wird den nationalen Gedanken gern aufnehmen, ihn frei ent- 
falten und tiefe Wurzeln ſchlagen laſſen, wenn in ihrem Vaterlande im rechten 
Verſtändniſſe und Sinne ihrem natürlichen berechtigten Bedürfniſſe gedient wird 
und wenn ihr der Patriotismus nicht zu aufdringlich und einſeitig parteipolitiſch 
gefärbt entgegengebracht wird. Eine ruhige, ſachliche, wahrheitsgetreue und doch 
warme Darftellung der deutſchen Geſchichte aber und des Lebens bedeutender 
deutſcher Männer aller Gebiete des politiſchen und ſozialen Lebens gehört zu 
ihrer unerläßlichen geiſtigen Koſt. Wer ihr in dieſem Sinne dienen will (wie Wilhelm 
Kotzde und Joſ. Scholz), verdient Anerkennung und Unterſtützung ſelbſt dann, 
wenn ihm aus menſchlicher Schwäche fein ehrlicher Eifer einmal etwas durch- 
gehen ſollte. Hier gilt der alte römiſche Satz: In magnis et voluisse sat est (Bei 
großen Dingen genügt ſchon der gute Wille). Übrigens fordert die Gerechtigkeit 
das Zugeſtändnis, daß die Hamburger Jugendſchriftenwarte dieſen guten Willen 
der „Mainzer“ auch wiederholt anerkannt hat. 


Reimer: In ſchwarzer Nacht 815 


Wir fehen, beide Richtungen dienen dem gleichen Wunſche, der deutſchen 
Jugend das Beſte an Leſekoſt vorzuſetzen, nur in den Mitteln gehen ſie zuweilen 
auseinander. Statt die Gegenſätze immer ſchärfer zu betonen, ſollten ſie eine 
gegenſeitige Annäherung und Verſtändigung ſuchen. Dieſe kann nicht ſchwer 
fallen, nachdem im Streite ſich die Gedanken geklärt haben. 


In ſchwarzer Nacht Won Thomas Wilhelm Reimer 


In ſchwarzer Nacht, wenn Schlaf mein Auge flieht, 
Welch Qualgedanke durch die Seele zieht! 


Welch Wahngebild, dem lauten Tage fremd, 
Einſam des Nachts die bange Bruſt beklemmt! 


Bin ich der gleiche, der hinab, hinauf 
Getändelt inhaltſchwerer Stunden Lauf — 


Und nun, von Luft und Leerheit abgebebt. 
Erbarmungslos den eignen Reichtum ſchätzt? 


Es war ein Tag, der andern Tagen gleicht, 
Was hab' ich nun geſchaffen und erreicht? 


Wo hab' ich heimlichglühnden Ourft gekühlt 
Und Luſt, die letzte, höchſte durchgefühlt? 


Wo iſt die Spur von dieſem Lebensſchritt, 
Und welches Froh Erinnern nehm’ ich mit? 


Wer bin ich nun? Mein Denken ſchwindet hin. 
Antwort, verflucht, vernichtend, ſtand darin! 


— Ses Tages Schaum und Traum ijt fern und weit, 
Was jetzt mich ſchreckt, graunvolle Wirklichkeit. 


Barmherz' ger Gott! Sebt bete ich zu dir. 
Gib Laſt und Müh' und Not und Arbeit mir! 


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Eliſabeth Diakonoff 


Das Tagebuch einer ruſſiſchen Studentin 


(Fortſetzung) 


y Paris, 30. September. 
nblid! Die Blätter fallen. Paris leuchtet nicht mehr in Schön- 
heit, wie im Mai, doch noch immer erſcheint es mir ſchön. 

| Ich bin glücklich; ich bin ja da, wo er lebt! 

30. Oktober. Donnerstag. Fc habe ein Simmer in 

einer kleinen Wohnung gefunden. Zwei Rumäninnen, eine Medizinerin und eine 

Philologin, bewohnen ein Zimmer, die zwei anderen Zimmer ſind noch frei. Ich 

nahm das billigere — es iſt hell, gemütlich, rein. Das andere habe ich einer ruffi- 

ſchen Studentin empfohlen. So kann man auf ein ruhiges Leben gefaßt ſein. Ich 
will auch ein Pianino mieten; das koſtet zehn Frank im Monat. 

Wie gut hat mir das Leben auf dem Lande getan und die Arbeit in der 
friſchen Luft! Die Umſtändlichkeiten der Zimmerſuche haben mich dieſes Mal 
gar nicht angeſtrengt. 

5. Oktober. Sonnabend. Geſtern als am erſten freien Abend machte 
ich einen Spaziergang — natürlich in die rue Brézin. Sie war ſtill und einſam, 
nur die Anlagen hatten ſich verändert. Die Blätter waren gelb geworden. Es 
war kalt ... alles war fo trübe und beſtärkte mich in meiner Stimmung. 

Er weiß ja nicht, daß ich zurückgekehrt bin .. Mein Herz klopfte mir vor 
Freude, als ich hier ſtehen konnte. Er ſchläft jetzt, müde von der Arbeit des Tages, 
und wird es nie erfahren, nie erraten ... nie. 

6. Oktober. Eigentlich weiß ich gar nichts von ihm. Wie könnte ich 
etwas über ihn erfahren? — Als ich mich vor meiner Abreiſe von Angèle ver- 
abſchiedete, ſagte ſie, ſie kenne ihn. Damals konnte ich ohne Auffälligkeit nicht nach 
ihm fragen. Aber jetzt! Wenn ich ihn ſchon nicht ſehen kann — könnte ich doch 
nur ein Wort von ihm hören! 

Welche Wohltat, — Regen in der Trockenheit! Heute ift Sonntag, der Empfangs- 
tag; ich will Angele beſuchen und mit ihr reden. Und ich ging ins Hoſpital Brock. 

Angéle war ſehr erfreut. | 

„Sind Sie ſchon längere Zeit zurück? Wie nett, daß Sie an mich gedacht 
haben — ich bin ſehr, ſehr froh, daß Sie gekommen ſind.“ 


Elifabeth Olatonoff 817 


Ich errötete: ich kam ja im Grunde gar nicht ihretwegen ... 

Es regnete. In dem kleinen Zimmer der Elektrotherapie, das Angele be- 
wohnte, war es recht dunkel; ſo konnte ſie nichts bemerken. 

Wir ſprachen vom Hofpital, von allen Kranken, die mit mir zuſammen zum 
Elektriſieren gekommen waren, auch an Dr. Brock dachten wir mit feinem eigen- 
tümliden Blick. 

„Er kehrt ſchon bald aus den Ferien zurück.“ 

„Was ſeinen Blick anbetrifft, ſo hält man ihn unwillkürlich für einen guten 
Menſchen“, ſagte ich. „Mir fällt dabei ein — Herr Dr. Lencelet iſt wohl mit Dr. Brock 
eng befreundet?“ 

„O, das iſt ein ausgezeichneter Menſch — wiſſen Sie, wieviel Brock für die 
Viſite nimmt?“ 

„Wieviel?“ 

„Zwei Louis, zwanzig Frank!“ ſagte Angele triumphierend, als ob ihr das 
Geld zuteil würde. 

„So viel?“ ſagte ich voller Achtung. 

„3a, ja, ... er ijt eben eine Berühmtheit, Spezialiſt für” Hautkrankheiten.“ 

„Sind die Herten, die ihn begleiten, auch Arzte?“ fragte ich, als ob ich es 
nicht wüßte. 

„Nein, das ſind Externe und Interne. Jeder Chef hat ſeine Internen. 
Dr. Doſſi, der Akkoucheur, hat einen, Dr. Brock ebenfalls; eben arbeitet Sabatier 
bei ihm, im vorigen Sabre Clucviqué. Ich kenne fie alle ausgezeichnet.“ 

„Und Lencelet?“ wagte ich endlich zu fragen, da mir die Frage wie zufällig 
eingeſchoben erſchien. 

„Lencelet arbeitet bei Dr. Brock. Es iſt ſein nächſter Freund. Sie arbeiten 
gemeinſam. Oh, Herr Lencelet reibt ſich in ſeiner Arbeit noch auf; er iſt ein ſehr 
tüchtiger Arzt und eigentlich überall gut beſchlagen.“ 

Angele kam ins Reden und erzählte mir von dieſer beſonderen Welt, wo die 
Medizin zu einer vervollkommneten Waffe im Kampfe ums Dafein wird; wo Ver- 
bindungen, Protektion, die Wiſſenſchaft, Kenntniſſe, Energie, Fähigkeit, alles das 
zuſammentritt, um in einem Begriffe zu verſchmelzen: Karriere. 

Mir hafteten in den Ohren nur die Worte, die ſie von Lencelet geſprochen: 
„Er reibt ſich auf in ſeiner Arbeit.“ 

9. Oktober. Sch habe die Rumäninnen kennen gelernt. Die eine Schweſter 
iſt ſo ſchön, daß ich ſie „la belle Romaine“ genannt habe, die Philologin iſt weniger 
ſchön, aber ſehr ſympathiſch und geſcheit. Die Schweſtern haben mich in ihre 
Pläne eingeweiht. Die Medizinerin will ein Externat erlangen und erzählte 
mir, worin es beſteht. Im Beiſein des Publikums können ſich die Studenten der 
Ecole de Médecine einem Konkurrenzexamen unterziehen, das ihnen das Recht 
auf ein Externat oder Internat gibt. Die Externen ſind Gehilfen des Arztes, ſie 
haben Verbände anzulegen, den Arzt auf ſeinem Rundgang durch die Kranken- 
ſäle zu begleiten. Die Internen ſtehen ſelbſtändig einer Abteilung vor, jeder vier 
Sabre, wobei fie bas Internenexamen (don früher ablegen können. 


Interner zu werden, iſt der Wunſch eines jeden Mediziners, denn er kann 
Oer Türmer XV, 6 54 


818 Elifabeth Diatonoff 


fon als Student eine große Praxis haben unb ift nach Abſolvierung der Uni- 
verſität ein geübter, gewandter Arzt. Einige von ihnen halten fogar privatim Vor- 
leſungen, die zum Konkurrenzexamen vorbereiten. Sie arbeiten viel, aber ebenfo 
eifrig amüſieren ſie ſich. In jedem Hoſpital ſteht ihnen ein Zimmer zur Verfügung, 
„salle de garde“ — was dort alles vor fid) geht.. Das find die rechten Lebeleute. 

Dieſe Geſpräche anzuhören, iſt für mich Bedürfnis und Qual. Gleich werde 
ich erfahren, wie ſein Leben, ſeine Arbeit iſt — es iſt, als ginge ein Meſſer durch 
meine Seele. | 

Er bat fo wenig Haare auf dem Kopfe. Wenn ich darüber nachdenke, daß 
ich mit aller Kraft der Seele dieſen vorzeitig gealterten Pariſer liebe ... es ift 
ſchrecklich! 

Die Medizinerin iſt in ihrer Ausdrucksweiſe ſehr frei. 

„Geht Ihnen dieſe Anſittlichkeit nahe? Was ſchadet es, ſie iſt für Mann 
und Frau gleich Notwendigkeit.“ 

„Nun, da bin ich mit Ihnen nicht einverſtanden. Solch einen möchte id) 
nicht heiraten.“ 

„Der Mann — als Unberührter, Reiner! Was gibt es Schrecklicheres!“ rief 
die ſchöne Rumänin und warf ſich in die Kiſſen zurück. 

„Niemals!“ — ſie ſprach den Gedanken nicht zu Ende aus. „Und du?“ 
fragte ſie die Schweſter. 

Dieſe wurde als Nichtmedizinerin verlegen und ſagte nichts. Zch beſtritt 
entſchieden, daß ſich das „moraliſche Ehe“ nennen dürfe. 

Und trotzdem kann ich es nicht unterlaſſen, die Rumäninnen zu beſuchen; 
nur um über ihn etwas zu hören. Während wir alle drei am Kamin ſitzen, 
plaudern wir ſtundenlang. 

11. Oktober. Sch beſuchte heute das Muſeum Gime. Die Mumien von 
Thais und Serapion follen fic hier befinden. Vor kurzem habe ich den ausgezeich- 
neten Roman von Anatole France „Thais“ geleſen. 

Wie ſchrecklich wirken die Mumien! In einem Glastaften liegt in ſchwarz 
gewordenem, teilweiſe zerfallenem Kleide die einſt ſo berühmte Schönheit Thais — 
ein gelbes Gerippe mit einem elenden Reft von ſchwarzem Haar —, neben ihr 
liegt die formloſe Maſſe von Serapion — ein gelber Knochen, der mit einer Cifen- 
kette umſpannt iſt. 

Wird mein Geliebter auch einmal ſo werden? Leben kann man nur, wenn 
man an den Tod nicht denkt. 

ich ging raſch in ben nächſten Saal, um dieſen Eindruck zu vergeſſen. Hier 
waren Buddhaſtatuen zu ſehen — auf den Geſichtern lag jener kühne Ausdruck 
des Nirwana. Die Modelle der indiſchen Tempel ſind außergewöhnlich ſchön, 
Wunder in der Kunſt. 

Zum erſtenmal fühlte ich mich in Paris wie in meiner Sphäre — um- 
geben von der märchenhaft geheimnisvollen Myſtik des Oſtens. Von Kindheit 
auf iſt ſie uns Ruſſen ſo nah. 

Sm ging wie in einem Zauberland durch diefe Säle. 

15. Oktober. 3d habe nur einen Gedanken — ihn wiederzuſehen! 


Elifabeth Dlatonoff 819 


Aber wie? — Soll ich mich trant ftellen und ihn zu mir bitten? Ich kann es 
nicht. Soll ich zu ihm gehen und ihm ſagen, daß ſich meine Kopfſchmerzen wieder 
eingeftellt haben? Ich verſtehe nicht zu lügen. Was foll ich tun? Was foll ich 
ausdenken? 

18. Oktober. Eine unangenehme Überrafhung! Die Wirtin hat den 
Salon einer Konſervatoriſtin vermietet, die mit einem Pianino einzieht. 

Als meine ruſſiſche Nachbarin faſt gleichzeitig mit mir ein Pianino mietete, 
war ich nicht ſehr erfreut; ſie verſprach mir jedoch, nur in meiner Abweſenheit zu 
ſpielen. 

Nun noch ein drittes Pianino — in einer Wohnung von fünf Zimmern, das 
iſt unmöglich! 

Ich höre ſchon die erbarmungsloſen Fingerübungen feds Stunden hindurch. 
Es war hier ſo ſchön, ſo ſtill. Ach, dieſe Erziehung der Frauen — warum werden 
ſie ausſchließlich auf Muſik gedrillt! 

19. Oktober. Sch verſuchte die Wirtin zu überreden, das Zimmer der 
Dame nicht abzugeben, verſprach, ihr eine Studentin zu verſchaffen. Leider war 
alles umſonſt; die Konſervatoriſtin hatte bereits vorausgezahlt und ihre Sachen 
abgeſtellt. Um ſechs Uhr langte das dritte Pianino an ... Ich haſſe dieſe neue 
Einwohnerin mit dem typifchen Geſicht der deutſchen Jüdin, das noch dazu weiß 
von Puder war. 

21. Oktober. Ich hatte eine Überſetzung aus dem Ruſſiſchen ins Fran- 
zöſiſche zu ſchreiben, die Konſervatoriſtin begann zu üben. Alle Bemühungen, 
mich zu konzentrieren, waren umſonſt, vergeblich ſuchte ich im Lexikon die fehlen- 
den Vokabeln. Der Satz wollte und wollte nicht gelingen trotz aller Willens- 
anſtrengung. In den Ohren tönten ununterbrochen die Fingerübungen. 

Mein Kopf wurde mir ſchwer — plötzlich durchzuckte mich ein heftiger Schmerz. 
Verzweifelt warf ich die Bücher beifeite ... 

Der Kopf ſchmerzt mir: ich kann nicht arbeiten; die Konſervatoriſtin raubt 
mir meine letzte Kraft. 

Aber zugleich ergriff mich heftige Freude; jetzt konnte ich mich ja an ihn 
wenden! Sch brauche nicht zu lügen. Ich ſchrieb ihm daher gleich, er möge mir 
den Tag beſtimmen, an dem ich mich in Boucicaut vorſtellen könne. 

24. Oktober. Geſtern erhielt ich die Antwort, die mich auf Donnerstag 
nachmittag beſtellte. 

Heute fuhr ich um zwei Uhr nach Boucicaut. Bei Tageslicht erſchien mir die 
Treppe ſchmutzig, und die Bibliothek, in die mich das Stubenmädchen führte, 
machte ebenfalls einen febr vernachläſſigten Eindruck ... Anwillkürlich mußte 
man ſich wundern, daß ein neues Hoſpital ſo raſch ſeine Reinlichkeit verloren hatte. 

Die Erregung, ihn gleich zu ſehen, nahm mir meine letzte Kraft. Ich ſaß un- 
beweglich am Tiſch, hatte den Kopf geſenkt, um ihn nicht beim Eintreten zu ſehen. 

„Guten Tag, gnädiges Fräulein, wie geht es Ihnen?“ 

Die Worte klangen wie Muſik in mein Ohr. 3d konnte ihm kaum er- 
widern: 


„Sch fühle mich recht ſchlecht, Herr Doktor.“ 


820 Elifabeth Diatonoff 


„So (inb bie Kopfſchmerzen wieder da?“ fragte er und ſetzte fid mir gegen- 
über. „Nun erzählen Sie, wie es Ihnen ergangen iſt, ſeitdem ich Sie zuletzt geſehen 
habe.“ 

ich erzählte ihm von der Wirkung ber Muſik auf meine Nerven. 

„Dem iſt doch leicht abzuhelfen: wechſeln Sie die Wohnung!“ Und einen 
Augenblick erhellte ein freundliches, zärtliches Lächeln ſein ernſtes Geſicht. 

„Aber es tut mir leid, dieſes Zimmer aufzugeben — es ijt ba fo gut und be- 
quem. Und dann — was ſoll aus mir werden, wenn ich bei jedem ähnlichen Fall 
krank werde? Der Tod wäre beſſer als ein Leben mit ſo viel Leiden.“ 

„Sie haben kein Recht..“ 

„Ja,“ ſagte ich, „jetzt gibt es im erſten Rurfus ſchon andere Zuriftinnen. Zum 
neuen Semeſter haben ſich vier gemeldet. Sie werden beſſer als ich arbeiten und 
mehr leiſten. Daher ..“ 

„Daher, Sie laſſen mich nicht ausreden“, ſagte er ruhig. „Sie haben nicht 
das moraliſche Recht, über Ihr Leben in dieſer Weiſe zu verfügen. Zeder iſt für 
ſich ſelbſt verantwortlich. Mögen andere auf dieſem Gebiete arbeiten; Sie haben 
vielleicht Fähigkeiten, über die jene nicht verfügen. Sie müſſen fid ſelbſt ent- 
wickeln, um nützlich zu ſein.“ 

Ich jak und hörte diefe Worte an, bie in meiner Seele das Gute zu erwecken 
ſuchten, die mein Selbſtbewußtſein ſtützten. Seine Stimme klang zärtlich, bar- 
moniſch, und dieſes ernſte Geſicht mit den tiefliegenden blauen Augen ließ mich ihn 
für ein Weſen höherer Ordnung halten, höher, als ich es je gekannt. 

„Nun, und wie iſt Ihre Stimmung jetzt?“ 

Er fragte mich danach! Ein bitteres Leiden ſtieg in mir auf. Dieſer Menſch, 
den ich liebe — er liebt mich nicht. Und trotz aller Selbſtbeherrſchung ſchluchzte 
ich auf und wandte mich ab. 

„So find Sie immer noch in demſelben Zuſtande? Aber ... Sie müſſen fid) 
zuſammennehmen. Denken Sie an den Ausſpruch in der Bibel: violenti rapiunt 
illud ... Vas foll man tun, wenn das Leben einmal fo ijt; es ift ſchwer — ich 
gebe es zu ... Ich möchte ſelbſt keine Kinder haben. Sind wir jedoch einmal auf 
der Welt, fo iſt es unſere Pflicht, uns möglichſt vorwärts zu bringen, unfere Lage 
zu beſſern.“ 

Er ſeufzte, ſchob das Tintenfaß näher und nahm ein Blatt Papier. 

„Ich werde Ihnen ein Rezept verſchreiben ... Hier: valériane d' ammo- 
niaque de Pierlot. Nehmen Sie dreimal täglich einen Teelöffel davon und löſen 
Sie es in einem halben Glas Zuckerwaſſer auf. Wenn Sie damit fertig find, kom- 
men Sie hierher. Wenn Sie glauben, daß ich Ihnen eine moraliſche Stütze ſein 
kann, ſo will ich alles tun, was in meinen Kräften ſteht.“ 

Er begleitete mich zur Tür; ich ging hinaus, faſt glücklich im Gedanken daran, 
daß ich ihn wiederſehen werde. 

25. Oktober. Mein Kommilitone André Berthier iſt aus den Ferien 
zurückgekehrt. Er erkundigte ſich ſofort in der Penſion, in der ich im Frühling ge- 
lebt hatte, nach meiner Adreſſe ... und ſaß dann in meinem Zimmer, ſtrahlend, 
glücklich 


Eliſabeth Diatonoff 821 


„O liebes Fräulein! bie Verzweiflung, Sie nicht zu ſehen, machte mich ver- 
rückt! Die Ferien waren fo lang, jo endlos lang! Und wie grauſam find Sie! 
Warum ſchrieben Sie mir nicht? warum haben Sie meinen letzten Brief nicht be- 
antwortet? 

Sekt erinnerte ich mid) — ja wirklich, er batte mir geſchrieben, und ich batte 
ihm nad dem Intermezzo mit dem Oeutſchen nur einmal geantwortet; dann, 
ſpäter, war ich nicht in der Stimmung. 

83d wollte ihm auch in dem Sinn antworten, als ich aber auf fein Geſicht 
blickte, ſtockte ich. Wieviel innige Liebe, wieviel Hingebung lag in dieſen großen, 
dunklen Augen, in dem Ausdruck dieſes ſchönen jungen Geſichts! 

Das find die Folgen der Zuſammenarbeit zum Examen im Jardin des Plantes! 
Der arme André tat mir leid. Und id) erdichtete eine Geſchichte, aus der hervor- 
ging, daß ich ihm nicht hatte ſchreiben können. In London verliert man wirklich 
den Kopf. 

Er beruhigte ſich, ſah mich an und lächelte glücklich, als ich den Tee bereitete. 
Als er wegging, ergriff er ſchüchtern meine Hand und küßte fie ebrerbietig ... 
Was ſoll ich mit ihm anfangen? 

27. Oktober. Der Laden Mercier in der Villa Médicis ift eine Art Aus- 
kunftsbureau für die Nachbarn. Sch beziehe von da Mild. 

Als ich heute hinunterging und das Unglück mit den drei Pianinos mitteilte, 
erregte ich großes Mitleid beim Ladeninhaber und ſeiner Frau. Sie teilten mir 
ſofort mit, daß in zwei Häufern zwei Zimmer zu vergeben find; das eine als möblier- 
tes Einzelzimmer, das andere in einer Familie. Welch ein Glück! Als einzige 
Penſionärin — ohne ein zweites Pianino! Schon das allein bewog mich, ſofort zu 
kündigen und mich fürs neue Zimmer zu entſchließen. 

Ich zog mich beffer an, gewitzigt durch alle bitteren Erfahrungen; während 
der Unterredungen lächelte ich, — und die Wirtin, die den Salon für vierzig Frank 
vermieten wollte, ließ zwei ab und ſagte: „Weil Sie ſo hübſch ſind, Fräulein! Sie 
gefallen mir, und ich hätte Sie gern als Mieterin.“ Sch kehrte freudig zurück und 
teilte Madame Torchet mit, daß ich der drei Pianinos wegen ausziehe. Die ſchlaue 
Wirtin verlangte noch Zahlung für zwei Wochen. Ich drohte, ſie zu verklagen — 
ſie wurde bange und ſchwieg. 

29, Oktober. 8d) war im Muſeum Gimé, Es treibt mich immer wieder 
dahin. 

Die Ruhe des Nirwana! 

Wenn man auf dieſe zahlloſen Buddhaſtatuen ſieht, auf dieſe von tiefer innerer 
Ruhe erfüllten Geſichter, ſagt man ſich von der Erde los, und es ſcheint, als ob 
die Seele dann in einen eigentümlich tranſzendenten Zuſtand übergehe. 

30. Oktober. Zch trage meine Sachen zu Madame Teſſier herüber. 
Berthier wollte mir dabei behilflich ſein; ich konnte es ihm nicht verweigern. 

1. November. Heute war ich auf dem ruſſiſchen Abend. Ich habe lange 
keine Landsleute geſehen. Ich erfuhr, daß Muratow mit ſeiner Frau, eben aus 
Petersburg angekommen, anweſend war. Sie intereſſierten mich ſehr. Beide ſind 
in Petersburg und Moskau in der Öffentlichkeit ſehr bekannt, er ijt Zelletrift ... 


822 Elifabeth Diatono ff 


Ich freute mid, fie kennen zu lernen. Der Schriftſteller Derwald, mit bem id 
in England am Meer oft zuſammengetroffen, hatte oft von ihm geſprochen. Sie 
hatten an derſelben Zeitung gearbeitet. Ich dachte, daß ſie vielleicht gern von ihm 
hören würden, wie er in England lebt, und bat darum, mich ihnen vorzuſtellen. 

Sie erwieſen ſich als ſehr ſympathiſch; wir hatten gemeinſame Bekannte in 
Petersburg, und ich teilte ihnen mit, daß ich mit Derwald und ſeiner Familie be- 
kannt bin, und konnte ihnen über die letzten Neuigkeiten berichten. 

„Ja, ich weiß, ich habe feine Frau vor der Abfahrt in Petersburg geſehen.“ 
Und der Ton ſeiner Stimme wurde plötzlich ſcharf und kalt. 

„Sie haben fie geſehen?“ fragte ich erftaunt. 

„Im September.“ 

„Das kann nicht ſein! Seine Frau lebt in England ſeit dem Dezember des 
vorigen Jahres, an der Küſte des Meeres: ſie hat vor kurzem ein Kind gehabt.“ 

„Seine Frau lebt in Petersburg auf Waſſili-Oſtrow am Großen Profpett... 
und die Kinder — fie hat drei — beſuchen alle bas Gymnafium.” Er fagte es kalt 
und faſt feindlich, und ſein Geſicht ſah dabei düſter aus. 

„Alſo. ..“ und die Worte blieben mir in der Kehle ſtecken, denn ich fühlte, 
daß ich in einen Schlamm ſank, aus dem es kein Herauskommen gab. 

„Alſo kennen Sie in England eine Derwald und ich in Rußland eine andere, 
die wirkliche, ſonſt kann ich keine anerkennen, da ſie kein Recht hat, ſeinen 
Namen zu tragen.“ 

ach traute meinen Ohren kaum. 

Es war wie ein Traum. 

War es denn möglich, daß dieſer anziehende, talentvolle Derwald — zwei 
Frauen hatte?! Der Vater von feds Kindern zweier Mütter, von denen die eine 
kein Recht auf feinen Namen hat und fid) doch als Derwald ausgibt; — eine fo in- 
telligente Frau, ſie hat, glaub' ich, höhere Kurſe beſucht. 

„Und fie war einverſtanden, mit ihm zu leben?! Vielleicht hat er fie ge- 
täuſcht, ihr geſagt, daß er frei iſt, und ſie — iſt ein Opfer?“ fragte ich Muratow 
ſchüchtern. 

„Petersburg ift nicht fo groß, und Derwald ijt zu bekannt, alle wiſſen, daß 
er verheiratet iſt.“ 

„Vie aber verhält ſich ſeine frühere Frau zu ihm? Warum läßt ſie ſich nicht 
ſcheiden?“ 

„Sie weiß es nicht. Dieſe kränkliche Frau geht faſt nie aus. Er ift febr be- 
ſchäftigt, iſt den Tag über immer weg, er geht, wohin er will. Seine andere Familie 
lebte in einem anderen Teil Petersburgs. Die Frau kommt nicht darauf, ihn zu 
verdächtigen, da er ſie ſehr liebt und ſich ihr als ein muſterhafter Gatte zeigt; im 
vorigen Jahr reiſte er zu Weihnachten in „Angelegenheiten der Redaktion“ nach 
England.“ 

„Im vorigen Jahr wurde ihm um dieſe Zeit ein Kind geboren“, ſagte ich, 
ganz erdrückt von dieſer Entdeckung. 

Frau Muratow, der dieſes Geſpräch unangenehm zu ſein ſchien, wandte ſich 
von uns ab und begann, ſich mit einer Dame zu unterhalten. 


Elifabeth Diatonoff 823 


„Tanzen Sie?“ hörte ich neben mir. 

Ich ſagte ab. Die Luft zum Tanzen war mir vergangen. 

Vor meinen Augen tat fid) eine fo eigentümliche Pſychologie eines intelli- 
genten Menſchen auf, daß ich mich nicht zurechtfinden konnte. Ein muſterhafter 
Gatte — zwei Frauen! Ein Vater zweier Familien an zwei Enden der Welt! — 

Man ſagt, die Liebe entſchuldige alles. Ich bin damit einverſtanden, wenn 
ein Menſch fold) eine Pſyche hat, daß er nach Tatarenart nach Vielweiberei ver- 
langt; das ift Sache feines Gewiſſens. Aber mich empört die Lüge, die moraliſche 
Feigheit jener Leute, die ihre freie Liebe nicht eingeſtehen wollen. 

4. November. Zch habe mich in der neuen Wohnung eingerichtet. Meine 
Wirte machen einen ſehr guten Eindruck — er iſt verabſchiedeter Offizier. Außer 
dem Ehepaar lebt noch eine alte, achtzigjährige Schwiegermutter im Hauſe. Es 
iſt rührend zu ſehen, wie ſie in Eintracht und Frieden miteinander leben. Meine 
Wirtin iſt vierundſechzig Jahre alt, ihrem Ausſehen nach könnte ſie fünfundvierzig 
ſein: ſo friſch iſt ſie und namentlich ſo jung im Gemüt. 

Ich wundere mich, wie bie Menſchen bei uns früh altern, alle — Männer 
und Frauen. Hier iſt es anders! Man merkt, wie dieſe Frau die Zugend liebt. 
„Das erſte, was mit dem Alter welkt, iſt der Hals“, ſagte ſie mir gleich den erſten 
Abend. Ich hatte Mühe, bei dieſer Neuigkeit mein Lächeln zu verbergen. 

Abrigens wendet fie viel kosmetiſche Mittel an: zeichnet die Augenbrauen, 
färbt die Lippen und pudert ſich. Zuerſt befremdete es mich, und ich verurteilte 
ſie ſtreng. Aber ſie iſt ſo gut, ſo lebendig und — ſo tätig. Vom Morgen an arbeitet 
ſie in der Wirtſchaft: räumt die Zimmer ſelbſt auf, bereitet das Frühſtück; dann 
zieht ſie ſich an, kämmt ſich, und die Frau, die kurz vorher im Kapot einherging, 
das Geſchirr wuſch, aufräumte, kurz wie eine Köchin ausſah, ift zur eleganten Parife- 
rin umgewandelt. Dabei beobachtet ſie viel, iſt ſcharfſinnig und verfügt über einen 
unglaublichen Optimismus. Ich muß zugeben, daß unſere Frauen im Durch- 
ſchnitt darüber nicht verfügen. 

Bei uns gibt es zwei Frauentypen: entweder die intelligente Frau, die von 
ber Wirtſchaft kaum etwas verſteht, oder die Mutter der Familie, bie fid) aus- 
ſchließlich der Wirtſchaft, den Kindern widmet, frühzeitig altert, keinen Sinn für 
Toilette hat und ewig in der Küche ſitzt. Wir verſtehen es nicht, ein Mittelmaß 
einzuhalten. Bei den geringen Anſprüchen der Dienſtboten umgeben wir uns gleich 
mit ihnen und überlaſſen ihnen die ganze Arbeit, während wir ſelbſt den verſchieden⸗ 
ſten Vereinen angehören und viele unnütze Worte im Munde führen. 

Sd glaube, daß meine Wirte mich gern ſehen. Meine Liebenswürdig- 
keit, mein Außeres, die guten Toiletten, mein raſcher, leichter Gang haben Madame 
Tiſſier für mich eingenommen, und ich höre viel Komplimente. 

„Was für einen guten Teint Sie haben! Und mit wieviel Geſchmack kleiden 
Sie ſich — wirklich wie eine Pariſerin!“ ſagte ſie, als ſie dabei war, wie ich meine 
Sachen ausbreitete. 

Ich bin häufig febr unzufrieden damit, daß ich die franzöſiſche Leichtigkeit 
ſo bald angenommen habe. Wie anders ſind die Engländer! Immer bleiben ſie 
bei ihren Gewohnheiten und fügen (id) nie fremden Sitten. Wir find das Gegen- 


- 


824 Eliſ abeth Oiatonoff 


teil. Das einzige, was wir mit uns bringen, iſt unſer Tee und der Samowar. 
Mit einer unglaublichen Leichtigkeit erfaſſen wir den fremden Akzent und fügen 
uns gern fremden Gebräuchen. Das iſt ſprichwörtliche ſlawiſche Biegſamkeit! Liegt 
nicht darin der Grund unſerer Schwachheit? — Wir verſtehen uns nicht zu be- 
haupten. 

5. November. Immer wieder ſehe ich auf die Medizinflaſche. Wenn 
ſie ausgebraucht iſt, kann ich ihm ſchreiben. 

7. November. Heute find es zwei Wochen, ſeitdem ich ihn geſehen habe... 
bald ſehe ich ihn. Was iſt das für eine herrliche Zeit zwiſchen zwei Tagen, 
wenn man in den Erinnerungen des Vergangenen lebt, in den Erwartungen der 
Zukunft! 

Ich denke nicht daran, was ſein wird. Ich ſchließe die Augen vor der Zukunft, 
jie ift zu entſetzlich, um fie ausgudenfen ... 

Ich fühle mich jetzt wohl ... Ich bin nicht weit von ihm, und bald werde 
ich ibn feben ... 

9. November. Ich lud Madame Teſſier geſtern zum Tee. Sie geriet 
in Begeiſterung über den ruſſiſchen Tee, und wir unterhielten uns eifrig ganze 
zwei Stunden. 

Sie erzählte mir von den Nachbarn, nicht von allen, nur von den bedeutend- 
ſten — es gibt ihrer ſo viele, daß es ſchwer zu behalten iſt. 

Es erwies ſich, daß einen Stock tiefer die Romanſchriftſtellerin Clarence 
wohnt. Madame Teſſier kennt ſie perſönlich und verkehrt mit ihr. 

„Es iſt eine auffallend intereſſante Dame; am Dienstag verſammeln ſich 
bei ihr Künſtler, Schriftſteller. Ich bin natürlich zu alt für ſie und auch anders 
erzogen, aber manchmal gehe ich gern hin. Es geht da ſehr fröhlich her, und ich 
ſehe die Jugend gern. Und dann ift Clarence ſelbſt febr nett. Natürlich ijt dieſer 
Kreis von Künſtlern und Schriftſtellern ſehr frei, aber ſchließlich geht es mich nichts 
an, wie ſie lebt — ſie iſt ein ſehr ſympathiſcher Menſch.“ 

Madame Teſſier überraſcht mich immer mehr mit ihren freien, toleranten 
Anſichten. 

„Ihr Landsmann Rarfi, Karſti — dieſe ſchweren ruſſiſchen Namen! — jetzt 
fällt er mir ein: Karſinsky verkehrt da auch. Ich erzählte ihm, daß ich ein Zimmer 
an eine ruſſiſche Studentin vergeben hätte, und ſofort fragte er: ‚Zit fie hübſch?““ 

„Dieſe Frage hätte er auch unterlaſſen können“, ſagte ich, etwas erſtaunt 
über dieſe wenig zarte Anfrage. 

Madame Teſſier, als einer Franzöſin, erſchien dieſe Frage ganz natürlich. 

„Warum foll er nicht fragen Sd) antwortete: Elle est trés, trés gentille, 
votre compatriote, monsieur Karsinsky. Er möchte Sie gern kennen lernen. 
Und Clarence fagte darauf: „Führen Sie fie zu uns!“ Wenn Sie wünfchen, werde 
ich Sie bekannt machen. Es wird Sie intereſſieren.“ 

Ich war damit ſehr einverſtanden und fragte: „Was für Romane ſchreibt 
Clarence?“ 

„Wiſſen Sie, ich finde ſie etwas zu frei für eine Frau. Ich habe hier einen 
Band; wenn Sie wollen, leſen Sie ihn, nur ...“ 


Elifabeth Dlatonoff 825 


Und Madame Teſſier ſtockte. Ich lachte und fagte, fie babe doch Vorurteile. 
Warum foll die Frau einen „freien Roman“ nicht ſchreiben dürfen, wenn die Män- 
ner ſich in der Praxis ganz ungeniert ausleben können. 

Aber Madame Sefjier ließ fid) dieſes Mal nicht umſtimmen: — „urteilen 
Sie nicht; Sie haben ihn noch nicht geleſen.“ 

Und ſie brachte mir den kleinen Band: „Passions terribles.“ 

Was für eine komplizierte Bezeichnung! Nun, ich werde ja ſehen. 

10. November. Heute fdrieb ich i hem einen Brief. — Wenn er zwiſchen 
dieſen trockenen Zeilen die Flut von Schmerzen, von Leiden, von Verzweiflung 
meiner Seele ſehen könnte! ... 

11. November. Ich durchflog den Roman von Clarence. Madame 
Teſſier hat recht, nur noch mit der Hinzufügung, daß der Roman ſowohl für Män- 
ner als für Frauen „z u ſtark“ iſt. Es war ein ſo ſinnlicher Roman, wie ich ihn 
noch nie geleſen hatte. Es fanden ſich hier Ausdrücke wie „biegſame Körper“ 
und „ſeidige Gewebe“, „parfümierte Röcke“, „Orgien der Nacht“ und fogar „le 
sang chaud de la luxure“ — eine freie, reiche Phantaſie, aber ohne das Talent 
Bolas ... Aber wenn der Roman auch nur ſtiliſtiſch gut ift, fo muß der Autor 
immerhin eine ſehr intereſſante Perſönlichkeit fein ... 

12. November. Madame Teſſier teilte mir mit, daß wir heute um fünf 
Uhr zu Clarence hinuntergehen. Das hieß mit anderen Worten: „ſich ankleiden“. 

Um fünf Uhr trat ich ins Speiſezimmer — und war ſtarr vor Staunen. 
Madame Teſſier war herrlich: ein ſchwarzes Seidenkleid mit Sammetgarnitur 
ſchloß ſich kniſternd um ihre hohe Büſte. Sie trug einen ſchwarzen Hut mit weißen 
Roſen — und mit den leuchtend roten Lippen, dem zarten gepuderten Teint ſah 
fie unter dem Gazeſchleier mit den ſchwarzen Pünktchen wie eine Frau von fünf- 
undvierzig Jahren aus ... Sc) beendete raſch meine Toilette und bemühte mich, 
neben dieſer ſchönen Frau durch meine Armlichkeit nicht allzuſehr abzuſtechen. 

Innerlich amüſierte mich das alles febr. Ich zog eine elegante Geſellſchafts- 
robe an, legte eine Boa um und ſetzte einen ſchwarzen Sammethut a la Rem- 
brandt mit einer langen Feder auf — das alles, um eine Treppe hinunterzugehen 
und zu klingeln. 

Das war lächerlich, aber luſtig. 

Wir ſtiegen langſam, feierlich hinunter. Wir klingelten. Im Zwielicht tauchte 
ein blafjes, ſchönes junges Geſicht auf, und eine ſchmale, kleine, hinkende Geſtalt 
trat zur Seite. 

„Ach, Sie find es, Madame Teſſier, mit Ihrer neuen Penſionärin? — Fd 
bin ſehr, ſehr erfreut.“ Und ſie ſtreckte ihre Hand entgegen. „Bitte, treten Sie in 
den Salon ein.“ 

In dem großen, gemütlichen Raum brannte ein heller Kamin; an ihm ſaßen 
mehrere Herren und eine nicht mehr junge Dame. 

Meine Wirtin ſtellte mich vor, und ich verbeugte mich nach der hieſigen Sitte 
etwas ſteif und zurückhaltend, ohne die Hand zu reichen. 

„Ich bin febr erfreut, Sie kennen zu lernen. — Meine Herrſchaften — Ma- 
demoiſelle Lakoff“, ſagte Clarence. 


826 Glifabetb Diatonoff 


Die Anweſenden verbeugten ſich ebenſo zeremoniell. Ich ſetzte mich neben 
Madame Teſſier, die in einem breiten Lehnſtuhle Platz genommen hatte und neu- 
gierig um ſich blickte. 

Schon äußerlich wirkte Clarence ſehr intereſſant. Kurze, ſchwarze, lockige 
Haare umrahmten ein blaſſes Geſicht mit regelmäßigen Zügen und leuchtenden 
dunklen Augen. Die ſchwarzen, gut gezeichneten Augenbrauen ließen die Stirn 
noch weißer erſcheinen. 

Ihre kleine, ſchlanke Figur zeichnete fid) trotz des körperlichen Gebrechens 
durch eine ungeheure Lebendigkeit aus. Das ſchwarze CTaillenkleid ſaß tadellos 
auf ihrer Geſtalt — ſie erſchien in dieſem Salon wie ein ſchönes lebendes Bild. 

Das Geſpräch, das durch unſer Erſcheinen unterbrochen war, wurde wieder 
aufgenommen. Clarence erzählte etwas ſehr eifrig und lachte dabei laut. Einer 
ber Gajte — ein junger Mann mit blondem Vollbart und faden blauen Augen — 
ſchob eine Bemerkung ein; ich verſtand ſie nicht. Alle lachten, Clarence am lauteſten. 

„Hören Sie auf, Oeriſſs! Schämen Sie fid) vor dieſem ruſſiſchen Fraulein. . .“ 

„Mademoiſelle Lakoff, ich muß Sie darauf vorbereiten, beurteilen Sie uns 
nicht zu ſtreng. Sie ſind hier in einer Pariſer Geſellſchaft — es herrſcht hier ein 
ſehr freier Ton; fo pariſeriſch wie möglich ... Hier find lauter Künſtler, Schrift- 
ſteller, Schauſpieler. Wir find keine Bohême — aber doch eine febr freie Gefell- 
ſchaft, wo jeder das jagt, was er will.. 

„Das verſteht ſich doch von ſelbſt, unter Freunden!“ — und aus der Ecke 
erhob ſich die dicke, unförmliche Geſtalt des Ruſſen. Er trat auf Clarence zu und 
umarmte mit feinen groben Händen ihre ſchlanke Taille. 

„Empfiehl dich, ruſſiſcher Bär! Wenn du dich doch wenigſtens ſchämen 
wollteſt vor deiner ruſſiſchen Landsmännin!“ rief Clarence, indem ſie ſich losriß 
und ihm auf die Hand ſchlug. 

„Nun, das ijt ja noch nichts“, ſagte der ruſſiſche Bär, keineswegs eingefchüch- 
tert, und trat auf mich zu. 

„Ich bin febr froh, Sie kennen zu lernen. Ich bin der Bildhauer Karſinsky.“ 
Damit ſtreckte er feine Hand aus, und auf feinem Geſichte ſpielte ein breites, gut- 
miitiges Lachen. 

Auch ich mußte lächeln, als ich ihn ſah. Der Spitzname, den Clarence ihm 
gegeben hatte, paßte ausgezeichnet. Seine mächtige, vierſchrötige Geſtalt, das 
breite Geſicht, der üppige Bart, die Haare, die unordentlich von der breiten Stirn 
zurückgeſtrichen waren — nichts an ihm ſtimmte mit dem eleganten Pariſer Salon. 
Dieſer ganze plumpe, grobe Mann wirkte hier wie eine Rarität, wie eine Gamo- 
jedenpuppe in einem Damenboudoir. 

„Das iſt Ihre Landsmännin, Herr Karſinsky“, warf Madame Teſſier liebens- 
würdig ein. 

„Ja, ich habe mit Ihnen über Mademoiſelle ſchon geſprochen. Sind Sie 
erſt vor kurzem angekommen?“ 

„Ich bin das zweite Semeſter in Paris.“ 

„So . .. ich lebe hier ſchon vierzehn Jahre .. Aber Rußland liebe ich und 
vergeſſe es nie... Von dem Belinsky-Oenkmal haben Sie vielleicht gehört. Es 
ijt meine Arbeit.“ 


Elifadeth Siatonoff 827 


„Ja natürlich!“ ſagte ich freudig. „Stammt die Idee auch von Ihnen?“ 

„Ja. Wenn Sie wollen, werde ich Ihnen eine Photographie ſeiner Büſte 
geben. Es ijt eine Zeichnung von A. Belinsky ... Ich bin mit feinen Töchtern 
und Enkeln bekannt, fie haben mich in meinem Atelier beſucht, als bie Ahgeordne- 
ten aus Penſa kamen 

„Ich danke Ihnen febr.” Sd freute mich dieſes glücklichen Zufalls, der mich 
mit dem Künſtler, von dem ich in der Zeitung geleſen, nun perſönlich aujammen- 
führte. 

„Sehen Sie die Dame am Kamin“, flüſterte mir Madame Teſſier zu — „das 
iſt Madame Carſolle, ich erzählte Ihnen von ihr — ſie ſchreibt ſentimentale, ſehr 
moraliſche Romane — fogar preisgekrönt von der Akademie; ich liebe ihr Tempera- 
ment ſehr.“ 

8d fab mit Intereſſe auf den Autor moraliſcher Romane. Es war eine nicht 
mehr jung ausſehende Dame; ohne die berühmte franzöſiſche Grazie und Rofette- 
rie — wie unſere Damen aus der Provinz, in einem einfachen ſchwarzen Rock und 
einer unmodernen Seidenbluſe. Die Friſur war einfach; auf dem friſchen, hübfchen 
Geſicht war nichts von Kosmetik zu ſehen. Sie ſah nachdenklich in die Zeitung und 
ſchenkte ihrer Umgebung gar keine Aufmerkſamkeit. 

Zwei junge Leute, der eine blond, klein, mit langem Barte, der andere 
brünett mit ſehr lebhaften Augen und Augenbrauen, die regelmäßige Bögen bildeten, 
was ſeinem Geſichte etwas ſehr Komiſches gab — ſtritten laut lachend mit Clarence. 

Madame Teſſier ſaß ſtill und ernſt dabei. Sie ſprach kaum ein Wort, folgte 
aber aufmerkſam der Unterhaltung. Der Künſtler ſchien etwas ſehr Witziges ge- 
ſagt zu haben, Clarence ſchüttelte ſich vor Lachen und warf ſich weit in den Stuhl 
zurück. 

„Da, ha, ha!“ Sie wollte vor Lachen erſticken. Der Bildhauer lachte eben- 
falls. Madame Teſſier lächelte. Ich verſtand nichts. Aller Augen waren auf ſie 
gerichtet. Sie ſprachen franzöſiſch und wandten dabei für mich ganz neue Aus- 
drücke an. 

„Bitte, laſſen Sie ſich dadurch nicht einſchüchtern, mein Fräulein“, ſagte 
Clarence und verſuchte ſich zu beruhigen. Sie werden häufig ſolche Worte hören, 
deren Sinn Sie nicht verſtehen werden. Das iſt — Argot. Die grüne Sprache, 
wie ſie genannt wird. Da dieſes Volk hier — frei iſt, ſo legen wir uns keinen Zwang 
auf. Gch ſelbſt bin febr ſchlecht erzogen worden.“ 

„Erlauben Sie, Clarence!“ fiel ihr der Künſtler ins Wort. 

„Schweigen Sie! Ich werde die Ruſſin vorbereiten. Sie kann ſonſt Gott 
weiß was von uns glauben. Wir ſind auffallend, ja — aber keine ſchlechten Leute. 
Wir lieben zu ſcherzen, ohne Zwang zu lachen — darin iſt wirklich nichts Schlechtes. 
Wir find nicht nur Freunde, ſondern auch Landsleute aus Toulouſe.“ 

„Wir ſind arme Künſtler, die hier Troſt ſuchen!“ ſagte der Künſtler, ſprang 
von ſeinem Stuhle, kniete vor mir nieder, legte eine Hand aufs Herz und rollte 
ſentimental die Augen. Das kam alles ſo plötzlich, er ſah dabei ſo komiſch aus, 
daß alle lachten. 

„Sehen Sie, er geſteht Ihnen ſchon ſeine Liebe ein. Das iſt entſchieden zu 
raſch, Henri!“ rief Clarence. 


828 Glifabetb O iakonoff 


„Ich bin aus der Schnee- und Eiszone, ba taut man nicht fo raſch auf.“ 

„In der Südfonne taut das nordiſche Eis ſofort!“ rief der Künſtler mit 
komiſchem Pathos. 

Ich ſenkte die Augen, und während ich darüber nachdachte, was ich erwidern 
ſollte, ſprang er auf und ſtreckte befehleriſch ſeine Hand aus. 

„Sehen Sie, Clarence, ſehen Sie, wie Mademoiſelle reizend in dieſer Poſe iſt!“ 

Ich fühlte die neugierigen Blicke aller auf mich gerichtet und errötete. 

„Ach, wie reizend! Was find Sie für ein feines Modell! Dieſe Gefichts- 
farbe — zart, durchſichtig, natürlich, nicht künſtlich, wie bei allen Pariſerinnen.“ 

„Ja, mit meiner Landsmännin kann ich Staat machen; Sie müſſen ſehr 
gut gebaut ſein“, ſagte der Skulpteur ernſt, indem er mich aufmerkſam betrachtete. 

Ich wußte nicht, was ich antworten ſollte. Ich fühlte, daß man hier aus dem 
Rahmen des gewöhnlichen bürgerlichen „Anſtandsbegriffs“ heraustrat und ver- 
ſtehen müßte, ſich in die neue Atmoſphäre hineinzufinden. 

Dabei fühlte ich mich in meinem künſtleriſchen Empfinden doch geſchmeichelt. 
Ich habe keine weibliche Eigenliebe, aber eine ungeheure Liebe zur Kunſt. So 
war es mir angenehm zu hören, daß ich mit meinem Außeren der Kunſt dienen 
könnte — vielleicht eine künſtleriſche Idee bedeutete. 

Madame Teſſier ſah auf die Uhr und ſtand auf. Sie mußte ihrem Gatten 
das Eſſen rüſten. Ich erhob mich ebenfalls. Clarence verabſchiedete ſich herzlich 
und bat, die Dienstage nicht zu vergeſſen. 

„Nun, wie hat es Ihnen gefallen?“ fragte Madame Teſſier, als wir die Treppe 
hinaufſtiegen. „Sie ſind etwas frei, aber ſehr liebe Menſchen.“ Und ich ant- 
wortete ihr warm, daß ich ihr ſehr dankbar bin für dieſe Bekanntſchaft, und daß es 
wirklich nette Menſchen ſeien. 

14. November. Heute morgen erhielt ich eine Viſitenkarte: E. Lencelet, 
Interne en médecine des hépitaux. Und von ſeiner Hand geſchrieben ſtand unten: 
„wird in Boucicaut Donnerstag gegen vier Uhr ſein, wenn Ihnen dieſe Zeit paßt.“ 

Wenn mir die Zeit paßt! Und wenn ich tauſend Dinge vorhätte, laſſe ich 
alles und gehe hin. | 

Heute begannen bie Vorleſungen ber juridiſchen Fakultät. Als id) im Pariſer 
Winterkleid ins Auditorium trat, herrſchte allgemeine Freude der Studenten über 
meine Rückkehr. Ich war ja die einzige Frau in unſerem Kurſus. 

Ich hörte zerſtreut die Vorleſungen an, ging in die Bibliothek und ſuchte die 
Zeit totzuſchlagen. 

Dann fuhr ich nach Boucicaut. Das Stubenmädchen öffnete die Tür: „Herr 
Lencelet bittet ſehr um Entſchuldigung. Er hat nicht auf Sie warten können. Er 
iſt telephoniſch zu einem Kranken beſtellt worden, und er mußte gleich abreiſen. 
Er wird Ihnen eine andere Zeit beſtimmen.“ 

„Danke ſehr.“ 

Sd) ging weg. Mein Herz krampfte fic) ſchmerzlich zuſammen. Was foll 
ich tun? Er mußte gleich abreiſen ... fo kann ich alfo nicht warten. Wenn er aber... 
doch hätte bleiben wollen ... 8d) brauche ihn ja nötiger, als ein anderer Kranker. 

(Fortſetzung folgt) 
W 


DIL 
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7 VAN 


Vom Zurückſchauen 
Von A. Fendrich 


S d (Om Zurückblicken ift deshalb fo gefährlich, weil wir gewohnt find, aus 
Ya 


CNW, 


unferen Erfahrungen logiſche Schlüſſe auf die Zukunft zu ziehen, 
CAL und zwar meiſt nur negative. Die Hoffnungsloſigkeit hat ihre Wurzeln 
>59 immer nur in der Vergangenheit. Nun find aber die Variations 

und Mutationsmöglichkeiten in der Zuſammenſtellung der Faktoren, welche be- 
ſtimmend wirken auf unſer ganzes Daſein wie auf die einzelnen Ereigniſſe in 
unſerem Leben, ungeheuer zahlreich. Es iſt würdiger, ſich die tiefe Wahrheit zu eigen 
zu machen, daß alles immer wieder ganz anders kommt, als nach der billigen Weis- 
heit des alten Ben Akiba mit dem felbftgefällig aufgehobenen Zeigefinger zu leben. 
Beim Zurückblicken kommt alſo das logiſche Schließen, beſſer geſagt, die 
Tätigkeit der reinen kritiſchen Vernunft in ſchroffen Gegenſatz zu den uns unbegreif- 
lichen Variationsmöglichkeiten der Dinge im Weltall überhaupt, und ſo erhält 
das bekannte, meiſtens nur mit einem frommen Seufzer zitierte Wort von den 
Wegen Gottes, die höher find als Menſchenwege, eine kraftvolle realiſtiſche Be- 
deutung. Wir ſehen ſomit den Fall, daß eine der ſtärkſten geiſtigen Fähigkeiten 
des Menſchen, das logiſche Schließen, dem Menſchen in ſeiner äußeren und inneren 
Entwicklung hindernd in den Weg treten, ja ihm direkt den Zugang zu einem neuen 
Leben verſperren kann, weil es die Fäden aus der Vergangenheit in die Zukunft 
weiterſpinnt, und zwar nicht nur im äußeren materiellen Geſchehen, ſondern auch 
im inneren, ſeeliſchen. Denn wir wiſſen alle, wie ſehr auch das Leben unſeres 
Körpers abhängig iſt von unſeren pſychiſchen Vorſtellungen. Es erweiſt ſich, daß 
in einer neuen Art des Lebens aus der inneren Notwendigkeit heraus die kritiſche 
Vernunft und der logiſche Schluß eine ſehr problematiſche Natur annehmen kann. 
Sie iſt das Tau, welches den Schiffsrumpf auf dem Stapelplatz wie an einem letzten 
Faden hält, und das gekappt werden muß, wenn das Schiff flott werden ſoll. 
Damit ſind aber auch die Fäden in die Zukunft gekappt und der Menſch ſteht in 
feinem Denten iſoliert zwiſchen Vergangenheit und Zukunft, immer nur im Augen- 
blick lebend. Denn das logiſche Denken braucht Zeit nach vorne und nach hinten, 
ebenſo wie das Fädenſpinnen Raum in mindeſtens zwei Richtungen vorausſetzt. 
Die kritiſche Vernunft wird alſo in die Lage des Fiſches verſetzt, der aus dem Waſſer 
plötzlich aufs Trockene gerät und nun nolens volens verſuchen muß, mit Atmen das 


830 Fendrich: Vom Zurüdfchauen 


Leben zu erhalten. (Das iſt wahrſcheinlich, grob biologiſch gejagt, der Weg, auf 
dem in der Reihe der Artenentwicklung durch Jahrtauſende fih Kiemenatmer zu 
Lungenatmern entwickelten.) 

Der ähnliche Vorgang findet beim ſuchenden Menſchen ſtatt, wenn ihm ſein 
bisheriger feſter Boden, das bewußt logiſche Schließen, unter den Füßen weg- 
gezogen wird. Dieſer muß dann notgedrungen nolens volens die Organe entwickeln, 
um in einem neuen Element exiſtieren zu können. Die neue Lebensluft iſt aber 
gar nichts anderes als die Welt der „unbewußten, unmittelbaren Empfindungen“, 
und ihr Empfänger ijt nicht das Gehirn, ſondern was der Grieche „Pneuma“ 
nennt. Das empfindet jeder ſuchende Menſch als ein unbekanntes Dunkles, aber 
Vorhandenes, als ein zwar Lebendiges, aber nicht Vaches in ſich, das unter allen 
Umſtänden nach Wachen und Wachſen drängt. Damit ift aber erwieſen, daß 
das Zurückſchauen, wie es immer nur vom Durchſchnittsmenſchen geübt wird, um 
da Schlüſſe für die Zukunft ziehen zu können, wo er fid) unſicher fühlt und Be- 
fürchtungen hat — weil es nämlich für ihn ein Dogma iſt, daß ähnlich wie es einmal 
früher war, es auch immer fein wird — an und für fid) die Unmöglichkeit be- 
deutet, in einer Form des Lebens aus ganz anderen Bedingungen, Quellen, 
Nahrungsmöglichkeiten, kurz aus der inneren Notwendigkeit heraus zu leben. 
So krönt als letzte Schlußfolgerung dieſer das logiſche Denken in ſeiner ganzen 
Gefährlichkeit aufdeckenden Reihe von Schlüſſen das Wort, daß wer zurückſchaut 
nicht geſchickt iſt. Zugleich wird aber auch auf dieſe Weiſe der ungeheure und nicht 
zu entbehrende Wert des logiſchen Schließens klar erwieſen, ſei es auch nur der 
ungeheure Wert der Selbſtſtrangulation des Lebens, wenn es einzig und allein 
aus der kritiſchen Vernunft heraus gelebt werden will. 

Was können wir aber nun tun, um von den logiſchen Schlüſſen aus der 
Vergangenheit in die Zukunft, die uns wie Geſpenſter einſpinnen, freizuwerden? 

Sa, die Geſpenſter! Wenn wir nur noch an diejenigen glauben könnten 
aus der guten alten Zeit! Die erſchienen einem dann und wann einmal, klopften, 
ſeufzten und ſchwebten vorüber. Sie waren deshalb gefährlich, weil fie ſich ficht- 
bar machen konnten. Sie find abgetan, wie die alten Götter. Fürchtet aber die- 
jenigen, die ſich unſichtbar zu machen verſtehen. Das ſind anmaßende Nichtſe voll 
zäher Daſeinskraft, und ſaugen ihr Leben aus unſeren Vergangenheiten, die wir 
nicht abzuſchütteln vermögen. Die einzige Rettung vor ihnen iſt, ſie auszuhungern 
dadurch, daß man weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft, ja wenn es 
Mittag ijt, weder am Morgen noch am Abend, ja wenn es 1512 Uhr ift, weder um 
11 noch um 12 Uhr, ſondern immer nur in der Sekunde des Augenblickes lebt, 
und zwar aus allen Kräften, aus ganzer Seele und aus ganzem Gemüte. Nur 
an dieſem winzigen Hebel der Sekunde haben wir unſer ganzes Daſein in der 
Hand. Es gibt nur eines, was das Geſpenſtergeſpinſt der logiſchen Schlüffe nicht 
erträgt: das Leuchten des Lebens im Augenblick der rotwangigen Tat oder des 
aus friſchen Augen leuchtenden Gemüts. 


W 


Der Scheideweg 
Ein Tag Hebbels in Kopenhagen 
Von Klara Hofer 


4 as Moltkeſche Palais in der Frederiksgade in Kopenhagen ſtrahlt in 
H Licht, der große Speifefaal ift aufgemacht und friſch gewichſt; alles 
2 Silber ift an den Wänden. Der zweite Diener reibt noch einmal 
mit dem Rohſeidentuch die Teller über, der erſte trägt vom Seiten 
tine bie gefalteten Servietten herzu. Es find lauter Schwäne mit geſträubten 
Flügeln und erhobenem Kopf; jetzt geht rings um den runden Tiſch eine Kette 
von Schwänen, ſchneeweiß, ſtolz die Flügel breitend, den Hals vorſchießend, als 
ob ſie den Gaſt anziſchen; das ſind die Wappentiere der Moltkes: der nordiſche 
Wildſchwan. 

Die Diener ſind in Escarpins und Schnallenſchuhen; Herrendiner, Hof und 
Verwaltung, ein kunſtintereſſierter Laie: ein Zweckeſſen. Auf dem Tiſch gehen 
ſtrahlenförmig ſchmale Kriſtallrinnen nach allen Seiten, fie find mit Maigloden 
gefüllt, ein blühender Stern; der dritte Diener ſchleppt den Tritt herbei, er ſteht 
auf den Stufen und zündet die Wachskerzen der Krone an, ſein glattes rotes 
Froſchgeſicht glänzt; der Herr Graf wird ſie loben, ſie haben ſich ſelbſt übertroffen. 

Der Herr Graf iſt ein feiner Mann, bei dem iſt man gerne, die Frau Gräfin 
mäkelt gern herum, ſie iſt eine Bürgerliche, zu Geld gekommen. 

In ihrem Salon ſteht die Gräfin und ſprengt Eau de Cologne auf die Ofen- 
platte; der Graf ſteht dabei, er denkt an das Land. Seine Mutter und die blonden 
Schweſtern hielten die weißen Mullkleider voll Roſenblätter, die Sonne (dien 
durch Buchenlaub und vom See her kam ein kühler Zug; die Rojenblätter dufteten 
ſtark. Sie kamen in den Potpourritopf und Salzſchichten dazwiſchen; den ſtellte 
man im Winter an den Ofen und nahm den Deckel ab, davon roch das ganze 
Zimmer nach Rofen. Malvine kennt das nicht; das liegt an der Familie, fie hat 
keine Tradition. 

Die Gräfin ſeufzt und betrachtet ſich im Spiegel. Sie iſt dunkel und groß, 
junoniſch ſagen die Verbindlichen. Sie iſt ſtattlich, wie ſie daſteht; die Züge ſind 
ein wenig grob, die Ellbogen zu ſtark. Die Gräfin Birkenäs hat ein viel gröberes 
Geſicht und noch knochigere Ellbogen, ja, ſie ſieht gewöhnlich aus. Trotzdem iſt 
fie eine große Dame. Das kommt von innen: das macht das Blut. 


832 Hofer: Oer Scheibeweg 


Der Diener öffnet die Türen; ein großer, hagerer, blonder Mann erſcheint 
auf der Schwelle. Der Graf reckt ſeine etwas zuſammengefallene ſchmale und 
hohe Geſtalt auf, er geht dem Gaſt verbindlich entgegen, den rechten Ellbogen 
ein wenig erhoben, die Linke zwiſchen den Knöpfen der ſchwarzſeidenen Grosgrain- 
weſte. Die Gräfin bleibt bei der Servante, ſie macht Figur, ſie ſtützt den linken 
Arm leicht auf das niedere Geſims, fo wirkt fie ſchlanker. Der Gatte murmelt 
die Präſentation, die Dame hält die Hand hin, ein Strahl von den facettierten 
Steinen zuckt davon auf zu dem Gaſt; der Fremde drückt die Hand und läßt ſie 
ſinken. Die Gräfin macht ein pikiertes Geſicht; ein Menſch ohne Erziehung, eine 
Bête. Was denkt fid) der Hamburger Vetter? — Die Reinblütigen laffen fie zu 
oft fühlen, daß ſie zweitrangig iſt; das nimmt ihr Unbefangenheit und weibliche 
Güte, und fie achtet mißtrauiſch und ehrgeizig auf jede Belangloſigkeit. — 

Der Graf macht Konverſation, die Gräfin ſpricht dazwiſchen. Ihre Stimme 
klingt etwas forciert in Geſellſchaft, eine Nüance zu hell und zu hoch, man ſpricht 
jetzt [o bei Hof. Sie ſieht den Gaſt von oben herab an, [don kommt etwas wie 
Gereiztheit in den Ton, ganz tief unter der Oecke. 

Der Salon füllt ſich, die Herren treten ein, imponierend oder zierlich oder 
nur würdevoll; alle elegant, Kulturmenſchen, ſoigniert, tadellos. Der Raum 
füllt ſich mit einer gewiſſen Atmoſphäre; Hofluft, Beamtenhierarchie, blaues Blut. 
Der Fremde ſteht dazwiſchen, er iſt wie von einem andern Stern, landfremd, 
weſensfremd, lebensfremd. Auf einmal empfindet er ſeine Haltung als ſchlecht, 
ſeine Kleidung als plump, ſein Haar als zu lang, ſeine Nägel als nicht gepflegt; 
tauſend kleine Dinge, die er ſonſt nie gefühlt hat, ſind auf einmal da, machen ihn 
verlegen, nehmen ihm die Unbefangenheit. Die Herren ſind artig, ab und an 
von der Seite ein ſchneller, vorſichtiger Seitenblick. Die Gräfin zuckt gegen den 
Konferenzrat Dankwart die vollen Schultern; mit dieſem Dichter wird man nicht 
Ehre einlegen bei Majeſtät. 

Hebbel fühlt alles, das iſt jener ſechſte Sinn; er ſteht immer fremder da. 
Die Unterhaltung ſpringt, ein glänzender, funkelnder Ball; einer wirft dem andern 
das Wort zu, der fängt es auf, graziös, lächelnd, verbindlich, gibt ihm irgend einen 
prägnanten Stoß, es fliegt wieder auf und ſchillert in neuen Richtungen. Zu- 
weilen, nach einem beſonders brillanten Coup, ein leiſes, murmelndes Lachen 
im Kreis, diskret, wohlerzogen, gehalten. Hebbel lacht auch mit, es klingt anders 
als die andern lachen, nicht nur lauter. Er merkt es und wird noch verlegener. 
Man fragt ihn, er antwortet ungeſchickt; er wird angeredet, er ſchneidet durch 
feine Erwiderung dem andern den Weg ab, die Unterhaltung ungezwungen weiter- 
zuleiten. Er möchte ſich umdrehen und weggehen; was ſoll er hier? Verdammte 
Situation. Und dabei empfindet er doch wie einen leiſen künſtleriſchen Reiz die 
Anmut alter Kultur, die hier durch eine leichte Unnatur durchblickt, den funkelnden 
Reiz hochgeſchliffener geſellſchaftlicher Technik. 

So ſelbſtverſtändlich ſtehen dieſe Leute da, ſo korrekt und ſelbſtverſtändlich 
verbeugen ſie ſich. Auf einmal hört er die Doktorin ſagen: „Ihre Verbeugungen 
ſind immer noch reichlich ruſtikal, lieber Freund; richten Sie Ihre Aufmerkſamkeit 
darauf, ein gutes Kompliment bedeutet viel in der Welt!“ — O, er weiß es, er 


Hofer: Der Scheideweg 833 


macht eine klägliche Figur. Und wieder der würgende Ingrimm des Prätendenten, 
dem niemand glaubt, an den niemand glaubt, dies Bewußtſein bes Gottesgnaden- 
tums, und bes Bewußtſeins zugleich, daß feine Münze hier nicht gilt. Irgend 
ein Hansnarr mit guten Manieren würde mehr Wohlwollen und Intereſſe finden 
als er. Er hat immer das Gefühl, er muß den Rock auseinanderſchlagen, wie in 
den Volksſtücken der unſcheinbare Herr im grauen Habit; dann ſinkt alles ringsum 
zuſammen vor dem Stern des Königs. Hier iſt auch der Stern inwendig, das 
königliche Abzeichen — das ſieht keiner. 

Die Gräfin rückt an dem großen Topas, Dellen breite Faſſung ihr Hand- 
gelenk umſpannt. Der dicke Reif läßt es ſchmaler erſcheinen. Sie ſtreift den Gaft 
mit einem mokanten Blick, eine Sekunde lang wirken ihre Züge faſt gemein; irgend 
ein Krämerweib mit abgebrühten Zügen blickt daraus den Dithmarſcher von vor 
hundert Jahren an, der jetzt aus Hebbels Geſicht blickt, ſcheu, verbittert, verhungert, 
in dem das Mark ber Vorväter vermürbt: Ich habe es weiter gebracht als du. — 

Man wartet immer noch auf den letzten Gaſt, den Legationsrat von Bülow, 
einen unterrichteten Mann, mit Verſtändnis für Kunſt. Die Gäſte unterhalten 
fid nur noch untereinander von internen Dingen, Hebbel ift erledigt. Die Haus- 
frau läßt fich von dem Etatsrat Dumreicher bekuren, er ift persona grata in Gnaden- 
ſachen. Das Paar blickt ſich verſtändnisvoll an: Love's labour lost. Der Graf 
hält mühſam eine Unterhaltung mit Hebbel im Gang, ſein vornehmes, hageres 
Geſicht mit der hohen Stirn zeigt eine leichte Verlegenheit. Der Gaſt fühlt, er 
hat den Eindruck, Hebbel fei nie in guter Geſellſchaft geweſen. — Warum war 
es in Hamburg denn nicht ſo ſchlimm mit ihm? 

Die Türen öffnen ſich wieder, ein leichtes Aufatmen in dem ſchon etwas 
ermüdet werdenden Kreis. Herr von Bülow tritt ein, ein noch jüngerer Herr. 
Er lächelt und grüßt, küßt der Gräfin die Hand; ſie läßt ſie ihm gnädig. Der Schlitten 
bat ihn umgeworfen, er bittet gehorſamſt um Nachſicht. Die Dame wehrt ver- 
bindlich ab, ſie iſt eitel Huld. Herr von Bülow iſt ein ſo hochgebildeter Mann, 
„man kann von ihm lernen“, hat Majeſtät geſagt. Der Legationsrat drückt Hebbel 
die Hand, ein herzlicher Blick kommt in feine blauen Augen: „Sch habe viel von 
Ihnen geleſen, Herr Doktor“. 

Da ſchlagen die Speiſeſaaltüren von innen auf, die Gräfin wendet ſich von 
dem meldenden Diener ab: SS Herren, SCH ich bitten! i23 


Auf Silberplatten funkelt das gehackte Eis, blitzend klar; darüber die ſanften 
Perltöne der Auſtern, das ſcharfe Gelb der Zitrone. Die Diener gleiten um den 
Tiſch. Die Maiblumen duften, das Silber blinkt von den Wänden, die Wachs- 
kerzen ſcheinen mild und feierlich von den fünfarmigen Leuchtern. So ſanft und 
ſchmerzlich ſüß hüllt der wehmütige und durchdringende Duft das Gefühl ein, 
lockt die Seele in eine ferne Welt — ſo dicht ſtanden die kleinen elfenbeinernen 
zarten Glocken zu Haus im Gehölz, fo heiß ſtrömte ihr Duft in die jonnendurd- 
zitterte Luft, unter den durchſchimmernden Blättern. Da lag er oft als kleiner 
Junge den halben Tag auf dem Rücken im Graſe und guckte in die Wolken, und 
dachte, die lieben heiligen Engel könnten ihm wohl einmal eins von ihren goldnen 

Der Türmer XV, 6 55 


834 Hofer: Der Scheibeweg 


Spieldingen herunterwerfen. Er verzieht den Mund. Nein, es fällt nichts vom 
Himmel. Man muß es ſich ſelbſt ſauer werden laſſen um alles, ſelbſt um Güte 
und Anteil. Um Güte und Anteil betteln! Um das, was nur freiwillig ſchön iſt, 
von Zwang nicht wiſſen darf, deffen Hoheitsrecht es ift, vom Himmel zu fallen 
wie Sau... Rechts und links unterhalten jid) die Nachbarn, das Geſpräch ſchwirrt, 
es hebt und ſenkt ſich wie ein ſpielender Vogel, deſſen Schwingenſpitzen die Tiefe 
ſtreifen und ſilberne Tropfen auffunkeln laſſen über den ſchweren Abgründen 
unten; und es ſteigt wieder in die Sonne empor, leicht und glücklich, und blitzt 
im Licht, als wäre es ſelbſt Licht, wie weißes Taubengefieder. 

Es iſt ihm unverſtändlich, ſo leicht zu ſprechen; das lernt er nie, das iſt das 
Produkt generationenlanger Gewöhnung. Warum iſt er ſo ausgeſchloſſen unter 
dieſen Leuten von Welt? Weil fein Reich nicht von biejer Welt iſt? ... Er bat 
kein Bewußtſein mehr ſeiner überlegenen Kraft; dieſe Selbſtverſtändlichkeit und 
lächelnde Form und feſtgelegten Sitten, die er nicht beherrſcht, machen ihn obn- 
mächtig wie Simſon unter den Philiſtern, zeigen ihm klar und grauſam: Dies iſt 
die Welt, und was Geltung hat in der Welt; dieſe Welt lehnt dich ab, du gehörſt 
nicht zu ihr, fie weiß nichts von dir. In dem Haus ihm gegenüber, in der Rnaeb- 
reſtraede, iſt ein Kind; es hat ſo lange blonde Locken wie Max, die Mutter hat es 
oft bei ſich am Fenſter und hätſchelt und liebt es ſo zärtlich wie Eliſe den kleinen 
Max, — ihm fällt aufs Herz, wie oft er das ſüße, vertrauende Kinderhändchen 
jo kalt zurückgeſtoßen hat, wenn es ibn ſtörte in feinen verbitterten Gedanken.. 
Märchen hat ein Bilderbuch mit hübſchen Zeichnungen in der Art der alten Meiſter. 
Davon iſt ein Bild ſo ſchön, eine junge Mutter, die hält das frierende Kind warm 
im Schoß unter einem kleinen Dach, über das die großen kalten Flocken wehen; 
darunter ſteht: O Mutter, halte dein Kindlein warm, die Welt iſt kalt und helle, 
und halt' es fromm in deinem Arm, auf deines Herzens Schwelle. — Das fällt 
ihm jetzt ein... die Welt iſt kalt und belle... kalt und hell, o ja. 

Er rafft ſich auf aus ſeiner Verſunkenheit. Solche verfluchte Weichlichkeit 
und Sentimentalität! Sein Nachbar redet ihn an, fie wechſeln ein paar Redens- 
arten über das Schachſpiel; die Unterhaltung ſchläft wieder ein. Dieſer Fremde 
ijt fo entſetzlich ſchwerfällig, denkt der gewandte Däne. Wahrhaftig, wie ein fremder 
Stein im Schachbrett, der ſich nur hin und her ſchieben läßt, mit dem auch der 
gewandteſte Spieler nichts anfangen kann ... Eine Profeſſur in Kiel will ber 
Mann — ſonderbar. Na, hoffentlich hat er's innerlich. 

Der Herr rechts ſieht die vergeblichen Verſuche mit an. Er probiert es nun 
ſelbſt; er hat Zartgefühl, der Fremde tut ihm leid. Er bringt die Rede auf Homer, 
das iſt Hebbels Element. Er ſpricht und ſpricht, er vergißt das Eſſen, er kommt 
ins Dozieren, wie in München, wenn alle an feinen Lippen hingen in dem abend- 
lichen Garten. — Der Etatsrat hört fid) das an; der Mann redet gut, fo etwas 
hört man gern als Vortrag: gediegenes Wiſſen. Aber Zeit und Sammlung muß 
man haben; hier, entre la poire et le fromage, bat man das wirklich nicht. —- 
Sapriſti, nun iſt der Kerl vorbei mit der getrüffelten Ente; er hätte gern noch 
eine Scheibe genommen, der Páté aux foies gras ijt fo deliziös. Er wird etwas 
unruhig, blickt ſich um, — Hebbel begreift: er langweilt ihn. Von drüben ſieht 


Hofer: Der Scheideweg 835 


er die Augen der Hausfrau kühl und kritiſch auf (id) gerichtet, fein Kopf wird heiß. 
Wäre das doch erſt zu Ende! Über jedem großen Schickſal und unter jeder Er- 
bärmlichkeit: ſo iſt es ja ſein Leben lang geweſen. — 

Die Tafel wird leerer. In den muſchelförmigen Silberſchalen ſteht das 
lawendelduftende Waſſer, auf den Tellern ein paar Fruchtſchalen und Mandelhülſen. 
Die Gräfin wirft dem Gatten einen Blick zu, ſie verneigt ſich gegen ihre Nachbarn 
rechts und links; fie erhebt fid) und rauſcht am Arm des Rangälteſten zur Tür. 
Die Diener flankieren die Tür wie zwei Bildſäulen, die Flügel fliegen auf, die 
Hausfrau erwartet im Salon die Nachkommenden, die einzeln oder in Gruppen 
herankommen, verbindlich, ſtrahlend, ihre Verbeugung machen, ihren Handkuß 
anbringen. Hebbel verneigt ſich gegen all die Hochmögenden, ſie ſind guter Laune 
nach dem guten Diner, er grüßt ſechs und acht, er vergißt drei oder vier: Sakrileg 
im höflichen Dänemark. Der Etatsrat Dumreicher nimmt ſeinen Kollegen vom 
Finanzminiſterium entrüſtet beim Rockaufſchlag: „Böotiſche Sitten, Herr Kollega! 
Und nicht einmal guter Wille! Wir ſind doch ſonſt nicht ſo — unſer Anderſen 
iſt ein Flickſchuſtersſohn! Der gute Wille, der gute Wille!“ 

Hebbel ſteht auf einmal wieder allein. Ihm iſt, alle ſind gegen ihn. Und 
in Hamburg ſitzt Eliſe, hat den Kleinen auf dem Schoß und nichts zu bitten, als 
daß er etwas erreicht in Kopenhagen. — Das ganze letzte Jahr hat er nichts ge- 
macht als ein paar Gedichte, das ganze unwiederbringliche, unerſetzliche, lange 
Fahr; wenn er hier nichts erreicht, was dann? — Er denkt an den Tag der Über- 
fahrt, wie er in Kiel warten mußte; er ging nach Düſterbrook hinaus, bis der 
Dampfer kam. Es war folch grauer Novembertag, der Regen tröpfelte, das Wäld- 
chen war vergilbt, die toten Blätter faulten am Boden. Er ging und betete zu Gott. 
Ein toter Fiſch lag am Wege, das Waſſer hatte ihn ausgeſtoßen; es kümmerte 
fic) nicht darum, wie et verende... 

Die Gräfin erzählt von der Oper. Sie hat ein Logenbillett übrig, ſie iſt zum 
Tee befohlen zur Prinzeſſin Guſtav. Sie bietet es dem einen Gaſt an, er ijt ver- 
hindert; ein zweiter auch. Sie will Hebbel eine Freundlichkeit erweiſen, vielleicht 
darf fie es ihm anbieten? Da ift wieder dieſer Dithmarſiſche Bauernſtolz, der 
immer zur Unzeit kommt. Soll er nehmen, was andere nicht mögen? Er dankt, 
etwas kurz, faſt unhöflich. Einige blicken ſich an. 

Der Legationsrat von Bülow tritt zu ihm. Er hat von ihm geleſen, ſie kommen 
ins Geſpräch. Hebbel wird wieder wärmer, der Mann ſieht ihn ſo herzlich an. 
Sie ſprechen über die Judith, und eine Profeſſur will Hebbel? — In Kiel? — 
Ja, es iſt noch zweifelhaft, ob ſie wieder beſetzt wird; der Lehrſtuhl für Aſthetik 
iſt vakant, er weiß. 

„Konferenzrat Dankwort kennen Sie doch, da waren Sie doch? Sind Sie 
von Majeſtät empfangen, Herr Doktor? — Beim Hofmarfdall haben Sie fid) 
doch wohl gemeldet? Oer verſchafft Ihnen dann gleich Audienz.“ — 

Hebbel antwortet. Er denkt daran, wie man an allen Stellen ihn ſtehend 
empfangen hat, wie lange er im Vorzimmer des Hofmarſchalls gewartet hat, 
wie viel beſternte und bebänderte Exzellenzen da ab und zu gingen, wie abgehetzt 
und zerſtreut der Hofmarſchall war... Solche Demütigungen hat Sutzkow nicht 


836 Hofer: Der Scheldeweg 


nötig, und die andern alle... die ernährt das Metier, — warum kann er kein 
Metier machen aus feinen Gaben? 

Er erzählt, daß er dem Hofmarſchall erft feine Werke für den König über- 
geben habe. 

Herr von Bülow neigt höflich den blonden Kopf. Ob Majeſtät Zeit hat, 
die anzuſehen? ... Er fagt es nicht. Er denkt es bloß. 

Der Legationsrat blickt auf die Stutzuhr. Es iſt bald Zeit, ſich zu empfehlen; 
er hat noch nicht mit allen älteren Herren geſprochen, ſo ſpät, wie er kam; das darf 
er nicht verſäumen, man achtet ſtreng darauf in der kleinen Reſidenz. 

Er ſchüttelt Hebbel die Hand. Unwillkürlich nimmt er ein wenig feine gefell- 
ſchaftliche Verabſchiedungspoſe an, er bietet Hebbel ſeine Dienſte an, hofft auf 
nähere Bekanntſchaft. 

Hebbel verneigt fic, nimmt feine Karte aus der Taſche und überreicht fie 
dem andern, wie er es bei den Studenten geſehen hat. 

Das Geſicht des liebenswürdigen Mannes bekommt einen ſolchen Ausdruck 
von peinlichem Erſtaunen, daß Hebbel ſofort merkt, er hat wieder einen faux pas 
begangen. 

Herr von Bülow hat ſich ſchon wieder gefunden, er winkt Hebbel freundlich 
zu und tritt zu Etatsrat Dumreicher. — Der Mann ift etwas „verbieſtert“ in dem 
fremden Kreis, das lernt ſich alles. 

Hebbel wird immer verwirrter. Der Rangiltefte bricht auf; Gott fei Dank, 
nun kann er auch weg. Die Gräfin fragt ihn nochmals wegen des Billetts. Er iſt 
ſo nervös, daß er wieder brüsk ablehnt; ringsum wundert man ſich. Nur fort, 
nur fort. Er verneigt ſich haſtig gegen die Zurückbleibenden, Herr von Bülow 
blickt erwartungsvoll nach ihm hin, Hebbel ſieht über ihn weg und verläßt das 
Zimmer. Oer Diener hält ihm den abgeſchabten Überzieher mit dem baum- 
wollenen Futter hin; er greift in die Taſche und wirft dem Menſchen zwei Taler 
hin. Von zwei Talern lebt er ſonſt eine Woche. Das eine Geldſtück rollt auf den 
Teppich, der Diener bückt ſich mit mokantem Lächeln: Tölpel. Er taucht wieder 
empor und öffnet mit korrekter Haltung und undurchdringlichem Geſicht die Tür. 
Hebbel atmet auf. Gott ſei Dank, er iſt draußen. 

* * 


A 

Er geht den verſchneiten, eisfunkelnden Weg entlang, am Himmel funkeln 
die Sterne auch ſo eiſig, die hohen Paläſte rechts und links liegen ſtumm und 
grau. Ihm iſt elend zumute. Er hat Hunger, er hat ſich nicht halb ſatt gegeſſen; 
gewiß, er lernt nie, mit Menſchen auf einen ſelbſtverſtändlichen Fuß zu kommen. 
Das iſt ein großes Unglück, unendlich viel hängt davon ab, wie der Menſch ſich 
darſtellt, das erkennt er wohl. O Bitterkeit, von Wohltaten abhängig... Dem 
einen teilt Gott das fröhliche Geben zu und dem Bruder das harte Nehmen. 
Nur weil er die höchſten Kräfte nicht mißbrauchen will, nicht kann. 

Der Schnee knirſcht unter ſeinen Füßen, er merkt nicht, wie er friert. Er 
friert innerlich, er hat Heimweh. Nach einer milden Stimme, einer ſanften Hand, 
ach! Heimweh nach Eliſe. 

Er verſinkt ganz und immer tiefer in dieſe ſchmerzenden Gedanken. Was 


Hofer: Der Scheideweg $37 


joll nur werden? Er kann nicht arbeiten in dieſer Häuslichkeit da in Hamburg, 
ſein Beſtes vertrocknet in dieſem dürren Einerlei. Alles ein Vorwurf, ein ſtummer 
und lauter: Eliſe in ihrer Lage, die alten Leute, ſelbſt das Kind. Dieſes holde, 
friſche, liebliche Kind ein Vorwurf, eine Forderung, die unerträglich drückt, er kann 
es kaum noch ſehen ... Vie oft ſtößt er es zurück, wenn es die Armchen aus- 
ſtreckt, nicht aus Haß, wie ſollte er fein Kind haſſen? Aus Angſt, aus nackter Angſt, 
die ihm die Kehle zudrückt, es iſt da, es wird größer, es fordert, fordert... Und 
ſtatt ſich vor ihm zu fürchten, liebt es ihn nur noch inniger, ſieht ihn nur klagend 
an mit dieſen großen blauen Augen, in die dann ſo ſchmerzliche Tränen kommen, 
anders als Kindertränen ſonſt ſind: die ganze Liebe und der ganze Schmerz der 
Mutter iſt in dieſem Kind lebendig. Ach, wenn er ihr einmal alles vergelten könnte, 
Kummer und Sorge und Entbehrung und Schande und Schmach! — Er bleibt ſtehen, 
et ift wie außer fic), er drückt die Stirn an die eiſige Häuſerwand neben ſich. Gott! 
Schalen von Glück läßt du überfluten auf Millionen unwürdige; ſieh doch ihre 
Seele an, ein einziger Tropfen Glück für die arme, Vertrauende, Aufopfernde! 

Er ſteht wie in Betäubung. Die Sterne blitzen, der Mond ſieht kalt und 
klar herab, der Schnee funkelt. 

. Unbelannt mit der Welt, nur mit meinem Schmerz vertraut, nichts 
beſitzend als meine Hoffnungen, oft verzweifelnd an meinem innerſten Selbſt, 
von niemanden verſtanden, unter erniedrigender Behandlung faſt erliegend: 
war es ein Wunder, wenn ich wie ein Sterbender in die Luft griff? Wenn ich 
nach Spinnwebsfäden faßte, mich daran zu halten? — So griff ich in dein Leben 

Was ſoll werden, was ſoll nur werden? Er hat keinen Glauben an die Zu- 
kunft mehr: hier erreicht er nichts. Was ihn aufrechterhielt, iſt tot. Die Jahre, 
die er für Schmerzen und Prüfungsjahre hielt, find die guten geweſen; jetzt tom- 
men die böſen . . . jetzt geht's hinunter, tiefer, immer tiefer, bis die Erde fidh er- 
barmt und ihn aufnimmt. Wäre nur das Kind nicht, nicht Eliſe —? 

Dieſe furchtbare Zukunft, die auf ihm laſtet, die ganze unendliche Ewigkeit 
eine einzige ungeheure Säule von finſtern Tagen und Nächten, die auf ihn drückt. — 
Auch dieſer Schritt des Stipendiums wegen aufs Geratewohl, war er nicht Wahn- 
ſinn? Vas bleibt nun? Der Telegraph? Campe hat ihm geſagt, er würde wahr- 
ſcheinlich mit Gutzkow brechen — oder Gutzkow mit ihm — ob er den Telegraphen 
dann will? — Die Sache zieht ſich in die Länge, auch das wird nichts ſein. Und 
wenn es wäre — 

Er weiß es, das wäre der Tod für ſein Beſtes. Er kann nicht ſchriftſtellern. 
Das muß ihn zugrunde richten . ds. 

Er bleibt ſtehen und denkt nach. 

Warum kann er nicht fein wie die andern, die Geibel und Raupach und Helm? 
Warum nicht den alten Puppen neue glänzende Röcke anziehen, wie die äftheti- 
ſchen Schneider alle? Warum kann er nur neue, fremde Bildungen hervorbringen 
aus Urtiefen, die das Publikum nicht verſteht, die es entſetzen und erſchrecken? 

Er ſenkt den ſchmalen Kopf mit der vorgewölbten Stirn. Hinter dieſer Stirn 
find eiſerne Gedanken, die abſtrakt logiſchen Folgerungen einer abſoluten Geredhtig- 
keit, deren Maßſtab von Durchſchnittsmenſchen nicht zu handhaben. 


838 Hofer: Oer Scheibeweg 


Warum kann er bem in fid) nicht gebieten? Warum zwingt er es nicht? 
Warum benutzt es ihn, ſtatt daß e r es benutzt, es unterjocht, es ſich dienſtbar macht? 

Dann hätte alle Not ein Ende ... 

Er kommt in eine Allee. Lauter verzauberte Aſte, weiß gegen den ſchwarzen 
Himmel, es klirrt und ſtarrt rings von Froſt. Es iſt, als ob alles klingen müßte, 
wenn der Wind es bewegte, fern und ſilbern, gläſern und ſpröde. Ihm iſt, er 
hörte das feine Schwirren, es kommt näher, jetzt wird es deutlich: Schlittengeläut. 
Es kommt heran, traumhaft und ſchwebend, der Rappe hat Reif in der Mähne 
und ſchnaubt, die Schellen klirren, weiße Riemen blitzen. Es kommt näher, es 
gleitet heran, dunkle Felle, Rauchwerk mit ſilbrigem Flimmer, ein weißes Antlitz 
aus Pelz und Floren... 

Er ſteht in der Winternacht, er ſtarrt in dies Geſicht. Scharf gezackte ſtolze 
Züge, eine Haut, die der Mond ſo klar gebleicht hat, die die Sonne nicht erreicht, 
ein Auge, nicht blau und nicht grau, von ſeltſam trockenem Glanz, als wenn das 
Weſen, dem dies Auge gehört, zuweilen niedertaucht in Fluten, daß die ſcharfe, 
ſchneidende Luft es nicht austrocknet — Valkyriengeſicht. — Der Wann blickt 
ſtarr in dieſe Züge, Ort und Zeit ſchwinden, es iſt in ihm, als ob ein verſiegelter 
Brunnen den Bann ſprengen will — leife, geſpenſtiſch zieht es vorüber, eine Bären 
take von der Schlittendecke ſchleppt nad... 

Er ſteht wie vor den Kopf gehauen. Aus was für Zeiten blickten dieſe Augen, 
was haben ſie einmal bedeutet in ſeinem Leben, wann hat er in dies trockene, 
myſtiſche, ſchillernde Grau geblickt? 

Er faßt mit der Rechten den nächſten Baum; es rieſelt eiſig herab, lauter 
ſchwebende weiße Vögel, aus dem Land der Träume. Seine Augen ſehen ſtarr 
vor ſich hin auf den weißen Schnee. Es ballt ſich, es fließt und ſchwebt, es 
weicht zurück und teilt ſich und ſchlägt auseinander wie ein Vorhang — das 
fab er Iden einmal: Geſicht des Vergangenen, fortwirkend Lebendigen ... er 
ſchaut ... er ſieht ... Gläſerne Flut, ſtarrendes Eis, blutiges Nordlicht über 
weitem weißen Schneeſtrand; Geyſirs dampfen, Feuerberge lohen, brodelnde 
Dämpfe hüllen die Inſel ein .., feine Augen treten aus dem Kopf, er ift nicht 
mehr bei fid)..., feine Hand zuckt... Drachenſchiffe; Eberhauer und Wolfs- 
köpfe über niedern Stirnen; im Flammenwall Zinnen, phantaſtiſch und ſchwarz; 
über der Mauer ein Haupt, umzuckt von Blitzen, eine Stirn, blaß wie Mondlicht, 
die Meeraugen ftarr... 

Ser Schweiß bricht ihm aus; er läßt den Stamm los und taumelt. In 
Kopenhagen, im nüchternen Jahr zweiundvierzig, fühlt er die Urzeit in ſeinem 
Blute brennen wie einen alten Schmerz. Halb Vertrautes, halb Geſpenſtiſches, 
ach ſinnlos beſeligendes Aufſtrahlen — das Schwert im Blut, der Stahl im In- 
ſtinkt, was ihn fremd macht in der Welt der Kompromiſſe, der engen Beſchönigung, 
des Vertuſchens und Verdeckens. 

Er bebt in der Süße und Furchtbarkeit des Augenblicks, vor feinen Augen 
iſt helles Feuer. 

O eiſige Harte, ſtrenge Einſamkeit, Granit in kalten grünen Meeren, eisberg- 
umringt; — ſchneidend die Luft über deiner Stirn, vulkaniſches Feuer aus deinem 


Stenmmann: Die Reife 839 


Herzen! O tiefer Norden, unerforſcht, unenträtſelt; ſchweigend, wiſſend in blutigem 
Licht! Blut der Rieſen, Blut der alten Götter, Blut, das der Nordwind nährt 
und der Atem der See, Kraft, die kein Sohn andrer Striche erreicht — 

Die Welt iſt weich und warm und ſchleimig geworden: ihr habt gewußt von 
der furchtbaren Notwendigkeit des Lebens und des Todes, die man hinnehmen 
muß auf Treu und Glauben — 

Seine Augen find hart und glänzend, blaues Cis, auf das der kalte Winter- 
mond ſcheint, weit geöffnet in der Raferei des Urgefühls, feine Unterkiefer preſſen 
ſich nach oben wie zu zermalmendem Druck: 

Die ihr herauftaſtet in mein Leben aus meinem Blut mit harter Totenhand, 
Elemente, die ihr Jahrtauſende gekämpft um den Augenblick der Vollendung, 
der jetzt da iſt in mir: Lieber mit euch in der Hölle, als ohne euch in der Seligkeit. 


Die Reiſe Von Ernſt Stemmann 


Reich iſt die Reiſe 

An Meilenſteinen. 

Vieler Leben Kreiſe 

Dringen an meinen. 

Vieler Menſchen Augen 

Suchen das meine: 

„Willſt du mein Schickſal künden? 
Erforſch' ich das deine?“ 


Menſchen gehen und kommen, 
Blicke lachen und klagen. 
Was ſoll uns frommen 

Dies Suchen und Fragen! 
Wozu entflammen 

Glut unb Begehr! — — 
Einmal zuſammen, 

Bald nimmermehr. 


/ I (pREGS 


Y 
| Ka 


Menſchen, die vorübergehen — 
Von Ilka von Michaelsburg 


1. Pylades 


rgendwo auf dem Agäiſchen Meer war er geboren. Sein Vater 
führte ein kleines Handelsſchiff und nahm ſeine Frau auf allen 

Fahrten mit ſich. Zm Agäiſchen Meer wurde ſie Mutter, und ſie 
O nannten den Knaben Pylades. 

So kam es, daß Pylades ſpäter gerne mit der ungewöhnlichen Tatſache 
kokettierte, daß fid) fein Geburtsort nur durch Längen- und Breitengrade aus- 
drücken ließ. 

Sd begegnete ibm — er mochte etliche 22 oder 23 Jahre zählen — in- 
mitten einer Schar von übermütigem, jungem Volk. 

Gut gebaut, doch nach vorne zuſammengeſunken, abgezehrt, wie einer, den 
ein ſchleichendes Gift verwüſtet. In einem fleiſchloſen, dunklen Geſicht unſtete, 
brennende Augen. Um den Mund einen Zug von Blasphemie und Zynismus. 
Ein Gehetzter und ein Gezeichneter. 

Rings um ihn lachten und tollten die Zungen, Gefunden. 

Er ſtand in ſeiner weißen Tropenuniform unter ihnen, überhager, hart 
und herausfordernd, und flirtete mit einer nicht mehr ganz jungen Kokette, die 
er ſpöttiſch behandelte, wie es ſeine Gewohnheit war. Manchmal poſierte er 
Leidenſchaft, doch der verächtliche Zug um den Mund ſprach ſeine eigene Sprache. 
Ein trauriger Gegenſatz zu den anderen, die der Inſtinkt geſunder Jugend von 
ihm fern hielt. 

Seine Kameraden mochten wohl um ihn wiſſen. Und die jungen Mädchen 
wurden unruhig und ſcheu ſeinem herben Zynismus gegenüber. Sie wichen 
ihm aus. Sie mochten nichts Gemeinſames zwiſchen ſich und dieſem, der fie be- 
drückte und verwirrte. — 

Das junge Volk begann herumzutollen. Pylades trat mit ſeiner Begleiterin 
abſeits. Sie ſahen dem übermütigen Treiben zu. 

Ein junges Paar ſchwang ſich auf die Gartenmauer. Die übrigen drängten 
hinzu. Man lachte und ſchrie durcheinander. 

„Sie traut ſich nicht, auf die Straße hinunterzuſpringen —“ 

„Doch, Grete traut fi —“ . 


Nu 
S 


1 
A 


Michaeleburg: Menſchen, bie vorübergehen — 841 


„Nein — nein, es ift zu bod —" 

„Was, über ben Graben bis auf die Straße?“ 

„Bravo — bravo!“ 

„Vorwärts!“ 

„Eins — zwei —“ 

Grete fühlte ſich am Arm gefaßt. Sie wandte den Kopf und ſah Pylades 
ins Geſicht. 

„Springen Sie nicht!“ ſagte er langſam. „Frauen dürfen ſo etwas nicht — 
fie können fid ſchaden —“ 

Eine helle Röte zuckte über Gretes Wangen. Eine Sekunde lang wußte 
ſie nicht, wie dieſe Worte nehmen, die von dieſem kamen — 

Dann wallte etwas Warmes, Gutes in ihr auf. Sie ſagte kein Wort. Doch 
ſtieg ſie langſam von der Mauer herunter, die auf der Gartenſeite ganz nieder war. 

Ein paar Ubermiitige wollten fie weiter beſtürmen, aber fie ſchüttelte 
den Kopf. 

Pylades lehnte mit gekreuzten Armen an der Mauer und ſah ihr nach, 
wie fie in der Laube verſchwand. — 

Einige Monate ſpäter ſchickte man Pylades als Todkranken von einer Ein- 
ſchiffung aus Südamerika in die Heimat zurück. 

Er ſtarb draußen im großen Ozean. 


* * 
* 


2. Anna Gen Rate. 


Sie war wie ihr Name. Ihre Rede war ſchwerfällig und ſtockend, und 
wenn man meinte, ſie hätte zu Ende geſprochen, kamen immer noch ein oder 
zwei Brocken nachgeſtolpert. Das war drollig anzuhören und verſtärkte noch den 
Eindruck von Schwere und Langſamkeit, den ihre ganze Perſon machte. Man 
konnte an einen ſchwerbeladenen Laſtwagen denken, der mühſam einen Berg 
hinauffuhr und den es an jeder Waſſerraſt ein paarmal ſtieß. 

Wäre nun Anna Ten Kate daheim in Holland geblieben, ſo wäre die Sache 
nicht jo böſe geweſen. Die Sache wäre auch noch immer nicht ganz fo böſe ge- 
weſen, wenn Anna Ten Kate nach Deutſchland gegangen wäre, um Deutſch zu 
lernen, oder nach England, um Engliſch zu lernen. 

Aber Anna Ten Kate ging nach Frankreich und lernte Franzöſiſch. 

Ich begegnete ihr in einer franzöſiſchen Penſion, als ſie ihren dritten 
längeren Studienaufenthalt in Frankreich genommen hatte. 

Sie liebte es, mir jeden Tag beim diner zu erklären: 

„Toujours .. mon séjour... a . été... trop court — — — pour me 
.. . perfectionner.“ 

Diesmal war ſie nun feſt entſchloſſen, hier zu bleiben, — ich weiß nicht, 
bis zu welchem Grade von perfection. Jedenfalls muß ich fie heute noch dort 
vermuten. Wenn ſchwere Dinge ins Rollen kommen, find fie nicht mehr aufzu- 
halten. 


842 Michaelsburg: Menſchen, bie vorübergehen — 


Es war ein heiteres Bild, Anna Ten Kate im Speiſezimmer oder im Salon 
von den kleinen Franzöſinnen umſchwirrt zu ſehen. Mit ihrem undefinierbaren, 
knochigen Geſicht — fie konnte ebenjogut 24 wie 40 Fahre zählen — fab fie 
groß und breit am Tiſch, umgaukelt von graziöſen, plaudernden Schwalben, eine 
brave Gluckhenne, die von Zeit zu Zeit ein kurzes Gackern hören ließ. 

Keine von den luſtigen kleinen Franzöſinnen in der Penſion hätte um die 
Welt Anna Ten Rates entrée am Morgen verſäumen mögen. 

Wenn ihre kraftvollen Schritte im Vorzimmer widerhallten, flog ein 
Lächeln über bie Geſichter. Die Tür wurde bedächtig und weit geöffnet, lang- 
fam und nachdrücklich wieder geſchloſſen. Jedes wußte genau, was nun kom- 
men würde. Anna Ten Kate wird mit zwei großen Schritten ihren Platz neben 
Madame erreichen, ihren Seſſel geräuſchvoll zurückziehen und wird im Augen- 
blick des Niederſetzens ſich zu Madame wendend fragen: 

„Comment ... vous portez ... vous madame?“ 

Das war wenig. Aber Anna Gen Rate hatte für diefe Worte, die jeden 
Tag im gleichen Augenblick die gleichen waren, eine fo perſönliche, humoriſtiſche 
Melodie, daß ſie unwiderſtehlich wirkten. 

Dazu kam noch, daß man Anna Ten Kates unglückliche Leidenſchaft für 
„Gallizismen“ kannte. Sie ſchleppte mehrere Koffer Gallizismenliteratur mit 
ſich, und nachmittags ſah man ſie nie anders, als mit einem dicken, abgegriffenen 
Buch in der Hand ſtundenlang ihre Runde um den Gud des Studierzimmers 
machen — „gallizismenmurmelnd“. Dies war die einzige Gelegenheit, bei der 
man je einen Gallizismus aus Anna Ten Rates Mund vernahm. In der Ronver- 
ſation pflegte fie ſich auf einen einzigen zu beſchränken: „Comment ... vous 
portez ... vous madame?‘ 

Eines Tages fam eine 17jährige Stalienerin in der Penſion an, die bei 
dem Abſchied von ihrem Vater in leidenſchaftliches Schluchzen ausbrach. Ganz 
aufgelöſt lag die ungeſtüme Kleine in einem Fauteuil des Studierzimmers, als 
Anna Ten Kate zu ihrer Gallizismen-Runde eintrat. 

Nun war Anna Ten Kate ebenſo gutherzig wie groß und langſam. Sie 
betrachtete einige Zeit in hilfloſer Verlegenheit die Schluchzende — wollte fie 
die Kleine von ihrem Schmerz ablenken —, wie bem auch fei, fie griff auch dies- 
mal nach der Frage, mit der fie ſtets die Konverſation mit Neuangekommenen 
eröffnete: 

„Combien ... avez ... vous appris — — — des gallicismes?* 

Sie erhielt feine Antwort. Doch zwei große, ſchwarze Augen jtarrten fie 
erſtaunt an. 

Das machte Anna Ten Kate wieder ſicher und ſie fuhr fort: 


„Ne . . . pleurez pas! — — Vous... parlez bientôt — — le français. 
Il faut . . . étudier — — des gallicismes! Regardez-moi ... j’ai ... appris 
— — — trois mille —* 


Michaelsburg, Menſchen, die vorübergehen — 843 
A Sarojini. 


Zwei große, mandelförmige, ſchwermütige Augen. Zch bedede bas Ge- 
ſichtchen mit der Hand, in dem dieſe Augen träumen. Es iſt ſo zart und ſchmal, 
daß ich es faſt ganz mit einer Hand bedecken kann. Noch ſollt ihr nichts ſehen als 
die Augen. Zwei dunkelſamtene Pupillen, mit dem Schmelz von Schmetterlings 
flügeln, ruhen auf Perlmutter. 

Wo kommen dieſe Augen her? Nie ſind mir ähnliche begegnet. Sie ſchauen 
aus, als wüßten fie nur von tiefen Dingen. Als hätten fie jahrtauſendelang ge- 
grübelt, geträumt, in ſchwärmeriſchen Ekſtaſen angebetet. Die ſchweren Lider 
ſind in glühender Sonne nachgedunkelt und ſenken ſich von Zeit zu Zeit tief über 
die Augen, wie um die Außenwelt auszuſchließen. 

Ich denke an Wanderer, die im glühenden Sonnenbrand, auf dem Wege 
zu Brahma, raſten und finnen, — die das flüchtige Oſchungeltier als Bruder 
ſchonen. Ich denke an ſanfte, verträumte Frauen, an Buddha -Kinder mit Lotos- 
kränzen im Haar. 

Und wie ich langfam die Hand von Sarojinis Geſichtchen hebe, ſeht ihr 
die braune Haut, die ſtarken Lippen, aus denen kleine, weiße Zähne blitzen, und 
das ſtraffe ſchwarze Haar, das am ſchmalen Hinterkopf zum Knoten gefaßt iſt. 

Heute noch ſehe ich dich vor mir ſtehen, kleine Sarojini, in deinem Märchen 
kleid. So ähnlich habe ich mir als Kind Aſchenbrödel geträumt, das im goldenen 
Kleid zu Tanze geht. Ein anliegendes, gelbes Unterkleid aus leichter, indiſcher 
Seide, das die Arme und den Hals frei läßt. Der untere Saum iſt in breiter Borte 
mit Gold geſtickt. Darüber das maleriſche, weite Ubertleid aus ſchleierzartem, 
ſilberdurchwebtem Stoff, auf der linken Schulter mit einer goldenen Spange 
gehalten, alle Säume kunſtvoll in Gold und Silber geſtickt. Die nackten Arme 
tragen am Oberarm und an den feinen Gelenken goldene Reifen. Und blaſſe 
Perlen ſchimmern auf der dunklen Haut des ſchlanken Halſes. 

Wie ſchön du biſt, Sarojini! Schön wie ein Märchen. 

Und nun haben fie dich auf zwei Jahre nach London verbannt! Dann 
ſollſt du als Lehrerin nach Kalkutta heimkehren und den kleinen Hindukindern 
die Kultur des Abendlandes bringen. 

Ich ſehe dich noch mit reſigniertem Geſichtchen inmitten deines Boarding- 
house-Zimmers ſtehen und höre deine ſanfte, klingende Stimme, die alle Härten 
des Engliſchen ſo ſeltſam weich und melodiös verſöhnt: 

„Im so sorry, dear, I do not know to keep things in order!“ — 

Und rings um dich ein Chaos von „Europas Kultur“. Eine englische Hemd- 
blufe, ein Paar Londoner Stadtſtiefelchen, Bücher, eine Zahnbürſte, ein mo- 
derner Damenhut, ein Paar zerriſſene Handſchuhe, an denen deine ungewohnten 
Finger ſich mühen. 

Du ſchleuderſt den Handſchuh mit einer kleinen, verächtlichen Handbewegung 
vom Liegeſtuhl auf den Boden und lädſt mich zum Niederſetzen ein. 

Dann ſtreckſt du dich in den zweiten Seſſel und ſenkſt die Lider über die 
Augen. 


844 Anſchütz: Rundſchau 


Es iſt ſchwer, in London zu leben — du ſagſt es nicht gerade heraus, wie 
ſchwer! Dazu biſt du zu ſanft und ſchüchtern. Aber ich höre es aus deiner Stimme. 

Und dann erzählſt du von daheim. 

Von der Aja, die dich umhütet von deiner Geburt an, die dir jeden Wunſch 
aus den Augen lieſt, die dich an- und auskleidet, deine Sachen in Ordnung hält, 
nur für dich da iſt. 

„Ich habe nicht gelernt, das alles ſelbſt zu tun“, ſagſt du. „Jedes Kind 
bekommt bei uns ſeine Amme, und die behält es als Dienerin fürs ganze Leben. 
Alles — alles muß ich hier erſt lernen, das Allerkleinſte, nicht einmal mit Meſſer 
und Gabel habe ich je zuvor gegeſſen. Das ſind ſo kleine Dinge, nicht wahr, und 
find doch ſchwer und find jeden Augenblick da und quälen mich. Wie Mosquitos 
ſind ſie! — London iſt ſchön, dear, aber ich könnte nicht immer in London leben. 
Zeden Tag drängen jid) tauſend Dinge an mich und rufen noch in der Nacht nach 
mir. Oft iſt mir, als hätte ich daheim in all meinem Leben nicht ſo viel erlebt 
wie hier an einem einzigen Tag. Und dann wieder iſt mir, als hätte ich noch, ſeit 
ich hier bin, keine einzige Stunde gelebt —“ 

Der Londoner Abend graut zum Fenſter herein. 

Wir liegen auf ſeidenen Polſtern, in der Halle deines Vaters, Sarojini, 
wo das Leben Sonne und Sternenlicht iſt, leiſer Wohlklang und allen tiefen 
Dingen nahe. 


1 Pk 
— 


Rundſchau Von Albert O. Anſchütz 


Klein und fein. Zwei Atlasſchuh' 
Uber Aſphaltpflaſter. 

So ſubtil die Sohlen ſind, 

Sie tragen das größte Laſter. 


Klein und fein! Mich wundert nur, 
Daß Subtilitäten 

Ein ganzes großes Kaiſerreich 

So graziös zertreten. 


Ghriften im türkiſchen Heere 


N. * ‘ iederholt wurde als Grund für die türkiſchen Niederlagen im Kampfe mit ben 
9 Baltanbündlern der Umſtand hervorgehoben, daß feit der Einführung der Ber- 
Kfaſſung auch Chriften in ber türkiſchen Armee dienen. Auf wie ſchwachen Füßen 
dieſe Behauptung ruht, werden die folgenden Zeilen beweiſen. Wenn auch mit Gewißheit 
anzunehmen ift, daß in den Kämpfen bei Kirk⸗kiliſſe und an andren Orten die in tuͤrkiſchen Reihen 
dienenden Serben, Bulgaren und Griechen in die Luft geſchoſſen haben und dann zu den Brüdern 
auf der andern Seite übergingen, ſo darf man hierbei nicht denken, daß dies in „hellen Haufen“ 
geſchah. Soviel Balkanchriſten befanden ſich gar nicht in den türkiſchen Neihen. Der Armenier 
jedoch, der den größten Teil des chriſtlichen Kontingents lieferte, ſteht zweifellos dem Türken 
näher als feinen flawiſchen Glaubensgenoffen. Wie übrigens Exzellenz von der Goltz ſelbſt 
ausführt, bat die Einreihung der Nichtmohammedaner eine weniger große Rolle geſpielt, 
als ihr zugeſchrieben worden iſt; ihre Zahl hielt ſich in den mobilen Truppen unter zehn 
Prozent. 

Als mit der Aushebung von Chriſten in Kleinaſien ein Anfang gemacht wurde, war 
dies für die Offiziere ein leichtes Stück Arbeit, während bei den Mohammedanern häufig Liſt 
angewandt werden mußte. Dieſe wurden oft aufgefangen und zuſammengekettet in die Kaſerne 
transportiert; die Chriſten hingegen kamen von überallher freiwillig und die Feſſeln zu deren 
Transport waren überflüffig. Dennoch war für die Mehrzahl ber Mohammedaner der chriſtliche 
Soldat das Unverdaulichſte an der Verfaſſung. Ein armeniſcher Soldat ſchrieb u. a. an ſeine 
in Aleppo wohnenden Eltern: , Mir geht es ſehr gut und es gefällt mir und meinen Kameraden 
ausgezeichnet im Soldatenſtande. Die Behandlung von feiten der Offiziere ift eine vorzügliche. 
Seit zwei Wochen ſind wir eingekleidet und haben ſchon unſer Mauſergewehr, mit dem wir 
fleißig Zielübungen machen müſſen. Das Eſſen, welches wir bekommen, iſt vortrefflich; bei 
jeder Mahlzeit denke ich an euch und an meine Geſchwiſter und ſage: Ach, hätten die jetzt auch 
fo viel und fo gutes Effen! Überhaupt ijt die einzige Sorge, welche mich drückt, eure Armut.“ 

Die Einſtellung von Chriſten in die türkiſche Armee iſt übrigens nichts Neues, wie oft 
angenommen wird. Als die Türken den europäiſchen Boden betraten, waren fie durch ihre 
ausgezeichnete Rriegsübung den Slawen und Sygantinern weit überlegen. Der Krieg war bei 
ihnen die Hauptaufgabe des Staates und des Volkes. Unter Orchan beſtand das Heer aus 
drei Elementen: den irregulären Truppen ohne Sold und Lehen, den Rontingenten der Lehens- 
leute und aus den beſoldeten Korps. Anfangs war das ganze Heer beritten, ſowohl die be- 
ſoldeten Sipahis (Ritter) und Silihdars (Waffenträger), als auch die Akindzis (Renner) der 
Lehensleute. 


846 Chriften im tuͤrkiſchen Heere 


Um das Jahr 1330 errichteten Orchan J. und fein Bruder Ala-ed-din eine Fußtruppe, 
die Janitſcharen (jeni tscheri = neue Truppe). Ausſchließlich Chriſtenkinder, die man ihren 
Eltern entriſſen und zwangsweiſe im mohammedaniſchen Glauben erzogen hatte, wurden in 
dieſe Truppe aufgenommen. Alle fünf Jahre wurden die ſchönſten Chriſtenknaben im Alter 
von zehn bis zwölf Jahren für die Zanitfcharen ausgehoben, was natürlich unſägliches Elend 
über die Eltern brachte. Nur einzelne Städte kauften ſich manchmal durch große Geldſummen 
los. Es war nicht Religionsfanatismus, ſondern kluge Berechnung, was die Osmanen zu dieſer 
Maßnahme veranlaßte, denn ſie waren als Turkomanen Nomaden und demgemäß ungeſchickt 
zur Belagerung von Städten und Burgen. Ohne die Janitſcharentruppe wären die türkiſchen 
Giegeszüge bis nach Wien undenkbar gewefen. 

gn ſpäteren Jahren, als das Elend der Chriſten im türkiſchen Reiche immer größer 
wurde, rekrutierte fih die Zanitfcharentruppe aus Freiwilligen; häufig verkauften auch Chriften- 
eltern ihre Kinder an dieſe Truppe; der hohe Sold lockte viele an. Die Zanitfcharen trugen 
nicht den roten Fez, auch nicht den Turban, ſondern eine weiße Filzmütze, wie man ſolche 
heute noch bei den Mitgliedern des Ordens der Bektaſchi findet. Ihr Heiligtum war der Fleiſch⸗ 
keſſel, den fie bei ihren Beratungen in die Mitte nahmen; wurde er umgeſtürzt, fo galt dies als 
Zeichen zur Meuterei. 

Hatten die Türken ein Land erobert, ſo dachten ſie gleich an deſſen Beſitzergreifung. 
Zu dieſem Zwecke wurden osmaniſche Koloniſten aus Alien angefiedelt und ein Drittel des 
Landes als Lehen an türkiſche Krieger verteilt. Das chriſtliche Landvolk ließ man auf ſeinem 
Grund und Boden; die Bewohner der erſtürmten Städte aber, deren kriegeriſche und unruhige 
Sinnesart man fürchtete, wurden nach Alien überſiedelt und durch Osmanen erſetzt. Eine 
intereſſante Erſcheinung find die bevorzugten Gemeinden chriſtlicher Bulgaren 
welche zu Kriegsdienſten verpflichtet waren und dafür bedeutende Privilegien genoſſen; türkiſch 
nannte man fie Vojnik kuraleri (Dörfer der Bojnif). Sie lagen ſämtlich in den Hochtälern des 
Balkans, der Sredna Gora und des Rhodopegebirges. 

Solange in die Zanitſcharentruppe ausſchließlich Chriften aufgenommen wurden, war 
ſie das Elitekorps der osmaniſchen Armee. Als man aber anfing, den Chriſten nicht mehr zu 
trauen und allerlei Geſindel in die Truppe aufnahm, ſank auch der Wert dieſes Elitekorps. 
Als man nun gar die Zanitfcharen nach europäiſchem Mufter bewaffnen und einexerzieren 
wollte, und ſie ſich dieſen Neuerungen gewaltſam widerſetzten, war das Schickſal der Truppe 
befiegelt. Am 15. Zuni 1826 wurden bie Janitſcharen durch Verſprechungen aus ihren Rafernen 
gelockt und auf dem traditionellen Revolutionsplag in Konſtantinopel, dem Etmeidan, hin- 
geſchlachtet. 

So endete das Zanitſcharenkorps, durch welches das osmaniſche Reich groß und mächtig 
geworden war; Chriften wurden ſeitdem nicht mehr eingeſtellt in bie türkische Armee. Und 
merkwürdig: (eit der Vernichtung der Zanitfcharen, dem Ausſchluß von Chriſten aus der tür- 
kiſchen Armee und der Einführung von Reformen nach abendländiſchem Muſter, datiert der 
Verfall des ehemals ſiegreichen osmaniſchen Heeres und die langſame Zerbröckelung des tür- 
kiſchen Reiches. 

Sebt erntet die Türkei, was fie geſät hat; hätte fie bie Chriften fo behandelt wie in früheren 
Jahrhunderten, fo wäre wohl manches anders gekommen. Denn es ſteht feft, daß der drift- 
liche Armenier lieber an der Seite der Türken kämpft, als an der Seite der ihm verhaßten 
Ruffen, wenn ihm die erſteren nur einen Platz an der Sonne gönnen. Jetzt ijt es wohl zu ſpät, 
die einſtigen Fehler wieder gutzumachen! Max Roloff 


A 


David Livingftone 847 


David Livingſtone 


(Geboren den 19. März 1813) 


e iſt ein Charakterzug unſerer Zeit, daß fie die Schranken ber alten, ererbten Glau- 
t (os bensſätze aufzuheben verſucht und dafür, in gar mancherlei Weiſe und verſchiedener 
— 2 Geſtalt, die urſprünglichen Kräfte der Religion in die Bedürfniſſe der Gegen- 
wart hinüberleiten und umbilden will. Bei dem Beſtreben, der Menſchheit neue geiſtige Ziele 
zu ſtecken, fehlt es denn auch nicht an mancherlei auf den Sehnſuchtston geſtimmten, zu hohem 
Ideenfluge begeiſternden Gaben, die eine ſtets bereite, rührige Schriftſtellerwelt den Hung- 
rigen in zierlichen Schalen und Töpfen auf die Tafel ſetzt. Aber es will uns doch bedünken, 
es folge dieſem ſich ſteigernden Anpaſſen an die Begehren der Neuzeit neben wirklichen neuen 
Werten auch etwas Überwürzen, leckere Speiſe, die wohl den Gaumen kitzelt, aber den Magen 
verdirbt, viel Phantaſiegenialität hinter dem Schreibtiſch, die die Sehnſucht nur vorübergehend 
ſtillt und der ſcharfen Luft, die draußen geht, kaum ſtandhält. 

Da tut es unſerer ſuchenden, begehrlichen, ungeſättigten Zeit beſonders wohl, wieder 
auf gewiſſe Geſtalten in der Geſchichte der Menſchheit zurückzuſchauen, die klar, in ſcharfen 
Umriffen vor uns ſtehen, und von denen man die Gewißheit hat: da ijt mehr als nur eine 
Gedankenſache, als ein Aufwogen von Stimmungen und Gefühlen, da ijt Realität, Tat- 
ſachenfülle, Lebendigkeit im gegenwärtigen Leben. David Livingſtone gehört hieher. Und 
wenn wir uns auch von aller Verhimmelung unſeres Helden freihalten und nicht einen an- 
dächtigen Heiligenkultus mit ihm treiben wollen, ſo darf es geſagt werden: da iſt ein Mann, 
den die ganze Menſchheit ehrt, zu dem fie voll Ehrfurcht aufſchaut. Livingſtones Gefamt- 
tätigkeit als Miſſionar und Länderentdecker, als Menſch und Forſcher, war und bleibt ein 
Dokument elementarer, geſunder Kraft. Und das iſt auch der Eindruck, den wir aus feinen 
der Nachwelt hinterlaſſenen Aufzeichnungen feiner Erlebniſſe bekommen: alte und neue Wahr- 
heiten ohne Überfhmüdung ſtehen hinter ihnen. Die Not, die Klage, die Sehnſucht und 
Hoffnung eines ganzen Erdteils redet da ſelbſt zu uns durch den Mund eines Mannes, der 
kein weltenferner, traumverlorener Büchermann war, ſondern der im Leben ſtand und feinen 
bitteren Kelch trinken mußte. 

Livingſtones Miſſionstätigkeit ſowie ſeine Forſcherreiſen in Afrika, von denen man 
weiß, daß ſie zu den wichtigſten in der Weltgeſchichte gehören, hier ſchildern zu wollen, wäre 
ein Verſuch voller Schwierigkeit. Seine Biographen melden, daß er aus einer Arbeiterfamilie 
in dem ſchottiſchen Dorfe Blantyre ſtammte, in früher Jugend einen hervorſtechenden Hang 
zu theologiſchen und mediziniſchen Studien zeigte, und als Siebenund zwanzigjähriger im 
Dienfte der Londoner Miſſionsgeſellſchaft nach Südafrika zog. Nach vereinzelten Reifen im 
Kaplande ftand Livingſtone im Jahre 1849 als der erſte Weiße am Ngamiſee und am Ober- 
lauf des Sambeſi. 1853 folgte die vier Jahre dauernde doppelte Durchquerung des fiid- 
lichen Afrika, von Oft nach Weft und zurück von Loanda bis Quilimane. Im Frühjahr 1859 
drang Livingſtone auf gefahrvoller Fahrt den Schirefluß aufwärts bis zum Nyaſſaſee und 
durchforſchte zu wiederholten Malen das Stromgebiet des Rowuma. Im Sabre 1866 wandte 
er fid) abermals zum Nyaſſaſee, entdeckte den Moeroſee und den Bangweoloſee, zog von Ud- 
ſchidſchi am Tanganjika in weſtlicher Richtung in das Wannemaland, wo noch Menſchen⸗ 
freſſer hauſten und die Greuel des afrikaniſchen Sklavenhandels „fein Herz krank machten“. 
Von da mußte er unter nicht endenwollenden Mühſalen, abgemagert bis zum Skelett und aller 
Mittel, bie fein Oaſein erträglicher hätten geftalten können, beraubt, jid) nach Adſchidſchi 
zuruͤckſchleppen. Wohl darf man mit Recht von einer rieſigen, eichenen Energie, von 
einer felſenfeſten Ausdauer ſprechen, die Livingſtone in der Durchfuhrung feiner Pläne be- 
ſeſſen hat. 


848 David Livingſtone 


Wie hierauf H. M. Stanley, der von bem Beſitzer des „New Vork Herald“ zur Auf- 
ſuchung des Verſchollenen ausgeſandt wurde, im Herbſt 1871 den Bedrängten in Adſchidſchi 
fand und aus der Not befreite; wie nach einer gemeinſamen Durchſchiffung des Tanganjika 
bis zum Nordende Stanley zur Meeresküſte zurückkehrte, Livingſtone aber, der fein Werk in 
Afrika vollenden wollte, im Auguſt 1872 zur Entdeckung der eigentlichen Quellen des Nils 
eine neue Reiſe nach der großen afrikaniſchen Waſſerſcheide unternahm; wie er zum zweiten 
Male den Bangweoloſee erreichte, aber in der ungeſunden Sumpfgegend von einer ſchweren 
Krankheit befallen wurde und am 1. Mai 1873 ſeine irdiſche Pilgerfahrt beſchloß, alles das 
mag in den in Tagebuchform gehaltenen Reiſeſkizzen Livingſtones und feiner treuen Be- 
gleiter ſelber nachgeleſen werden. Dann wird ſich der Leſer hinreichend vorſtellen können, 
welch eine Unfumme von Aufwand an Körperkraft und geiſtiger Tätigkeit, unerſchuͤtterlicher 
Beharrlichkeit, die beinahe ans Unglaubliche grenzt, darin liegt. Es iſt eine ſchier endloſe Reihe 
von Drangſalen und Hinderniſſen aller Art, denen Livingſtone die Spitze bieten mußte, ſo 
gut er konnte: ſchmerzhafte Fieberanfälle, die ihn wiederholt heimſuchten, nagender Hunger 
und Durft, herbe Enttäuſchungen, wie der Untergang der von ihm gegründeten Makololo- 
Miffionsftation, die Gefahren der Wildnis, Speerwürfe feindſeliger Stämme einerſeits, Furcht 
und Aberglaube der anderen Eingeborenen, das waren ſeine Leiden und Schickſale. Kurz, 
er batte fo viele Abenteuer und entrann dem Tode fo oft, daß man Romane damit füllen 
könnte. 

Was uns beim Durchleſen der Livingſtoneſchen Reiſeſchilderungen beſonders auffällt, 
das iſt die anſpruchsloſe Schlichtheit, in der fie gehalten find. Und doch klingt aus dieſen No- 
tizen immer wieder jener innere Reichtum des Gemütes durch, der Livingſtones zwiefache 
Tätigkeit als Miſſionar und Afrikaforſcher zu einer ausgezeichnet fruchtbaren und geſegneten 
machte. Die Menſchlichkeit, dieſe erſte und letzte Menſchentugend, war in ihm gleich ge- 
bundener Wärme, eine alles durchdringende Kraft, die auf keinen ſichtbaren Thermometer 
wirkte, ſondern fid) hauptſächlich durch edles, ſchweigendes Vertrauen und bereitwillige Liebes- 
taten kundtat, aber felten in Liebkoſungen und Redeſchwall. Darum ſuchen wir da umfonjt 
nach hochgeſteigerten Ausdrücken, wo die Schwärmerei regiert und vor lauter Gefühl der 
Verſtand ausgeſchaltet wird; dafür ſind Livingſtones Taten mit goldenen Lettern in das 
Buch der Geſchichte Afrikas eingeſchrieben. Seine weſentliche Eigenſchaft war ein ſchlichter 
Sinn und echte Kraft. Seinem Erretter Stanley gegenüber fühlte Livingſtone eine unbe- 
grenzte Dankbarkeit und war „zugleich ein wenig beſchämt, fid) dieſer Großmut nicht wür- 
diger gemacht zu haben“. Mit blutendem Herzen blickte er auf die Greuelſzenen zu Nyambe 
im Manyemaland, die ihn „mitten in der Nacht mit unausſprechlichem Grauen auffahren 
ließen, ſo daß er ſich in die Hölle verſetzt glaubte“. Er konnte ſich nicht darein ergeben, und 
doch verlangte ihn nach Troſt und Stärkung; da wendete er ſich mit Tränen im Auge zu 
ſeinem viellieben Reiſehandbuche — zu ſeiner Bibel. Sein weiches, zartfühlendes Weſen 
offenbart ſich auch in ſeinem tiefen Fühlen für die gehetzte und gequälte Tierwelt. Davon 
redet fein Unwillen über „die ganze Schlächterzunft der paſſionierten Jäger, die nur darauf 
ausgeht, einen Balg zu machen, ohne Rüdfiht auf die der Tierwelt dadurch zugefügten Leiden 
zu nehmen“. 

Livingſtone hat der Erſchließung Afrikas durch die Miſſion erft ihre tiefe Bedeutung 
errungen, indem er neben dem dogmatiſchen Glaubensbekenntniſſe, woran man ſich bisher 
hielt, auch das Kulturelle, die Heranbildung geſitteter Kulturmenſchen zur Geltung brachte, 
ohne indes dabei ein Tüͤttelchen von dem preiszugeben, was er in feiner freudigen Bibel- 
gläubigkeit feſthalten mußte. Darüber ſchrieb er bereits im Jahre 1858 der engliſchen Mif- 
ſionsgeſellſchaft, die ihm Vorwürfe machte darüber, daß er auch Entdeckungsreiſen unter- 
nahm: „Meine Anſchauungen von der Pflicht eines Miſſionars find allerdings nicht fo be- 
ſchränkt wie die gewiſſer Leute, deren Ideal ein ſauerdreinſehender Mann mit einer Bibel 


David Livingſtone 849 


unterm Arm ift. Ich habe mit Ziegeln und Mörtel, mit Blafebalg und Hobelbank ebenfogut 
wie durch Krankenpflege und Predigt gearbeitet. Nachdem ich mir durch Gottes Hilfe Rennt- 
niſſe verſchafft, die, wie ich hoffe, Afrika reichen Segen bringen können, ſoll ich nun das Licht 
unter den Scheffel ſtellen, nur weil manche dies für unfruchtbar oder überhaupt nicht für 
miſſionsfähig halten?!“ Livingſtone war keine ſtreitbare Kampfesnatur, die mit der Poſaune 
goels und Sturmlauf das finſtere Heidentum bezwingen wollte. Die folgenden Auszüge 
aus Livingſtones Tagebüchern geben uns einen Einblick in ſeine Geſinnung: „Nur durch 
Ausdauer im Gutestun, ſelbſt bis ſo weit, daß Weltkluge es Schwäche heißen würden, können 
wir überall die Leute davon überzeugen, daß unſere Beweggründe edel find, und nur fo ge- 
lingt es uns, ihnen wahre Achtung abzunödtigen. ... Vertrauen zu den Europäern vermag 
den Afrikanern nichts einzuflößen als eine lange Reihe guter Handlungen. Güte und Selbft- 
loſigkeit macht auf ſie mehr Eindruck als jede Manifeſtation der Macht oder Geſchicklichkeit.“ 

Slbolchergeſtalt war Livingſtones Wirkſamkeit als Miſſionar, und er rüttelte nicht als 
Einbrecher an der Türe des Heidentums, nicht in der koloniſatoriſchen Methode der romaniſchen 
Völker, welche fid) kurz als gewaltſame Eroberung und Behauptung durch lediglich mili- 
täriſche Machtmittel charakteriſieren läßt. Er klopfte als Friedensbote an, um Licht, nicht 
Feuer ins Haus zu bringen. In dem unerſchütterlichen Glauben, daß Gott durch die Jahr- 
taufende hin in der Menſchheit fein Reich baut und es in immer größeren Dimenſionen aus- 
bauen will, entſprang feine Liebe zu den ärmeren, von Anwiſſenheit und Tyrannei bedrückten 
Mitmenſchen. Und fo beruhte auf feinem eigenen tiefen Empfindungsleben das feine Ver- 
ſtändnis für die Eigenart anderer und was ihnen not tat. Darum wußte er überall, ſelbſt in 
dem finſterſten Heidenherzen, eine zarte Saite zu berühren, fremde Werte anzuerkennen und 
ihnen vollauf gerecht zu werden. Sind doch auch von dem Leibe der Heidenwelt zu jeder Zeit 
Ströme lebendigen Waſſers gefloſſen, bie in der Einengung durch den ſtarren Oogmenglauben 
zu armſeligen Rinnſalen zuſammenſchrumpften. „Kommt zu den wahren Heiden!“ ſo ruft 
Livingſtone den Küſtenmiſſionaren zu, „verlaſſet die Küſtenſtämme und widmet euch mit 
vollem Herzen den ſogenannten Wilden, dann werdet ihr neben manchen Stücken und Tücken 
doch recht viel finden, was ihr lieben und bewundern könnt.“ 

Livingſtones bleibendes, hohes Verdienſt als Afrikaforſcher beſteht darin, daß er dem 
grauenhaften Sklavenraube und Menſchenhandel, der dort im höchſten Schwunge ſtand, un- 
erſchrocken zu Leibe ging und der ganzen geſitteten Welt den Beweis lieferte, daß wirklich 
Großes in dem dunkeln Erdteile erſt dann geleiſtet werden könne, wenn jenes Grundübel tat- 
ſächlich beſeitigt wäre. Es war eine bittere, eine grauſame Welt, die ſich dem unermüdlichen 
Wanderer da auftat. Schrecklich, über alle Maßen traurig war es für ihn, Meile auf Meile 
zurückzulegen, um überall (eben zu müſſen, daß die Unmenſchlichkeit von Menſchen unzählige 
Mitmenſchen ins Elend ſtürzte. Da überkam ihn bitteres Weh, das überwältigende Gefühl, 
wie hilflos er war, ſolche Greuel abzuwenden, und er ſandte ſeine Gebete zum Allmächtigen, 
daß er bie gute Zeit, die da kommen foll, beſchleunige, da einſt alle Menſchen das Bruder- 
band umſchlingt. Man mag bei Livingſtone einſetzen, wo man will, von jeder feiner Außerungen 
aus führt ein Weg radienartig zurück auf den mächtigen Zentralgedanken feiner Beſtrebungen 
den er kurze Zeit vor ſeinem Tode mit folgenden Worten wiedergab: „Alles, was ich in 
meiner Verlaſſenheit hinzufügen vermag, iſt — möge des Himmels reichſter Segen auf jeden 
Amerikaner, Engländer oder Türken kommen, welcher helfen will, dieſe offene Wunde der 
Welt zu heilen!“ 

Unbeſtimmte Gerüchte von den großen Ereigniffen, die fid) in jenen Jahren in Nord- 
amerika vollzogen, drangen zu dem Einſamen in der Wildnis des innerſten Afrika; mit bant- 
barer Rührung gedachte Livingſtone da des tapfern Streitgenoſſen im großen Kampf — 
Abraham Lincoln. Im nämlichen Jahre 1863, als der Präſident Lincoln mit feiner berühmten 
Emanzipationsproklamation Tauſenden von Negern die Freiheit gab, ſtand Livingſtone an 

Her Türmer XV, 6 56 


850 David Livingftone 


ben Ufern des Schire, ber aus bem Nyaffafee fließt, gebrochenen Mutes beim Anblick all des 
Sammere des oſtafrikaniſchen Menſchenhandels, und hatte, fo ſchien es, an aller menſchlichen 
Hoffnung Schiffbruch gelitten. Aber auch Livingſtones Werk ſollte nicht untergehen. Durch 
feine Forſchungen und Mitteilungen find die Sklavenjagden in ihrer ganzen Verabſcheuungs⸗ 
würdigkeit erkannt worden; mit Aufmerkſamkeit lauſchte die geſamte geſittete Welt auf ſeine 
Stimme, und die bis dahin gleichgültig zugeſchaut hatten, erwachten zur Beſinnung, als der 
Schrei nach Abſchaffung der Sklaverei erſcholl. Der Eindruck davon iſt noch bis heute mächtig 
und unvertilgbar in den Gemütern geblieben; und wenn von da an alle Kulturſtaaten, bie in 
Afrika Beſitztitel geltend machen, zur Unterdrückung des ſchnöden Menſchenhandels ſich auf- 
rafften, fo ijt das nicht zum wenigſten David Livingſtone zu verdanken. Wie würde et jid ge- 
freut haben, wenn er das Ziel ſeines Strebens noch hätte verwirklicht ſchauen dürfen! Denn 
wir haben jetzt ſchon ein verändertes und geſitteteres Afrika vor uns. 

Abraham Lincoln ſtarb bekanntlich im Frühjahr 1865 als Märtyrer für die gute Sache. 
Als man feine irdiſche Hülle von der Hauptſtadt Waſhington nach feinem heimatlichen Illinois 
überführte, ftanden Unzählige auf der ganzen Linie, wie ein ungeheures Leichengefolge. Aber 
einen ſolchen Trauerzug wie derjenige, der ſieben Jahre ſpäter aus dem innerſten Afrika, wo 
die abgehärmte Geſtalt David Livingſtones auf den Knien liegend und betend den letzten Atem- 
zug tat, nach der Meeresküſte dahin fid) bewegte, hat die Welt noch nie geſehen. Groß, wie 
er im Leben geweſen, zeigte fih Livingſtone im Tode von unübertrefflicher Größe. Was dieſer 
Mann gewirkt, das trat am herrlichſten zutage in dem Zug rührender Anhänglichkeit und Hin- 
gebung ſeiner Gefährten. Dieſe getreuen Negerburſche, Suſi, Chuma und andere, ließen es 
ſich nicht nehmen, den geliebten Toten, feine Tagebücher und Karten von den letzten acht- 
jährigen Reiſen zur Meeresküſte hinunter und der ziviliſierten Welt zu überbringen. Mögen 
die Namen dieſer beiden Negerburſchen noch lange fortleben, wie es die Namen aller tapferen, 
pflichtgetreuen Männer ſollten. Das Unternehmen war großartig, kühn, und noch bewunderungs- 
würdiger die Ausführung. Die Marſchroute ging 1800 Kilometer durch die unwegſame Wild- 
nis, unb fo gewaltig waren die Beſchwerden unb Widerwärtigkeiten, die zu überwinden waren, 
daß ſich allerdings hier der alte Spruch bewahrheitet: „Das Leben lieſt ſich noch ſeltſamer wie 
ein Roman.“ Das engliſche Volk aber bereitete feinem großen Sohne in der Weſtminſterabtei, 
wo bie Edelſten der Nation ruhen, eine würdige Grabesftatte. 

8n fpdteren Jahren hielt Henry Morton Stanley, der unterdeſſen wichtige Reifen und 
Entdeckungen in Zentralafrika gemacht hatte, unter bem Zuſtrom hoher Würdenträger und þer- 
vorragender Perſönlichkeiten in der Londoner City ſeinen Einzug, deſſen Augenzeuge ich ſelber 
geweſen bin. Als ich aber in die prunkhafte, geräuſchvolle Szene blickte, da tauchte vor meinen 
Sinnen wieder bas lichte Bild des bleichen Oulders auf, der fern von dem allem, matt und 
müde, ſtill und gottergeben, in der einſamen Hütte bei Zlala fein Leben für fein geliebtes Afrika 
dahingab. 

Das vielgebrauchte Wort Humanität, das in unſerem Zeitalter in manchem Munde ge- 
führt wird, wird zur entwerteten Münze, wenn ſie doch nur den politiſchen und konfeſſionellen 
Sonderbeſtrebungen dient, die zufrieden ſind, daß ihre Flaggen und Banner am Pol wie in 
Aquatorialafrika entfaltet worden ſind. Wie ganz anders, groß, ſteht der einzige Livingſtone, 
dieſer Menſchenbruder, vor uns! Man hat ihn den lebendigen Stein — living stone — genannt, 
denn wohin das Auge fällt, leuchtet der Glanz edelſten Gefteines auf. Sein Leben war der Ge- 
famtheit gewidmet. Ein tiefes Mitgefühl und Wohlwollen für alle war die Grundlage feiner 
rieſenhaften Tätigkeit als Miſſionar und Länderentdecker, die für alle Zeiten in leuchtender Er- 
innerung fortleben und ihr köſtliches, unverlierbares Beſitztum bleiben wird. 


Otto Emil Meyer 
2 


Doltsftimmung und Volkswünſche im Jahr 1848 851 


Volksſtimmung und Volkswünſche im Jahr 1848 


82 ünfundſechzig Fahre find ins Land gezogen, ſeitdem der Märzſturm des Jahres 
5 1848 dem deutſchen Michel ins Herz hinein blies und ihm die fchläfrige Zipfel- 
O mütze vom Kopf herunterriß. Da dehnte und ſtreckte er fic, bis das von den beiden 
griesgramigen Schweſtern Bureaukratie und Reaktion fein ſäuberlich geſponnene Neſſushemd 
von ſeinem Leib abfiel. 

Die Forderungen, Wünſche und Hoffnungen der Nation fanden ihren Ausdruck in den 
zahlreichen Petitionen — es waren an 10 000 —, die bei ber ton[titulerenben deutſchen National- 
verſammlung zu Frankfurt a. M., dem Kriſtalliſationspunkt der Bewegung, einliefen. 

Wie die Gläubigen nach Mekka, ſo ſchaute die Nation nach Frankfurt und erwartete 
Wunderdinge von dort. Mancher brachte ſeine kleinen, zum Teil kleinlichen Privatwünſche 
vor bie höchſte Neichsverſammlung. Als ob das Parlament dazu da wäre, um beſchäftigungs- 
loſen Kaminfegern und Nachtwächtern die gewünſchten Verſorgungspoſten zu verſchaffen! 
Ein Oberförſter aus Montabaur im Naſſauiſchen beſaß gar die Unverfrorenheit, für 10 000 
preußiſche Taler der Nationalverſammlung zum Nutzen des deutſchen Vaterlandes ein von 
ihm entdecktes Mittel gegen die Kratoffelkrankheit anzubieten. 

Aber bei weitem den meiſten Eingaben lagen — zur Ehre des deutſchen Volkes ſei es 
geſagt — keine kleinlichen oder egoiſtiſchen Motive zugrunde. Die Schlußworte der Adreſſe, 
welche die ſächſiſche Nation in Siebenbürgen ihren deutſchen Brüdern in Frankfurt überreichte, 
kennzeichnen ſchön die edle Begeiſterung, die allenthalben herrſchte: „Mit deutſchem Geiſt 
und Gemüt, mit deutſcher Ausdauer, Biederkeit und Treue werden die Siebenbürger Deut- 
ſchen vereint mit ihren Brüdern im großen, ſchönen Deutſchland kämpfen für die Einigung, 
Größe, Ehre und die glänzendſte und rühmlichſte Zukunft der deutſchen Nation!“ Jeder Stand 
und Beruf forderte für (id) allgemeine deutſche Einrichtungen. Arzte und Apotheker der Pro- 
ving Weſtfalen baten um Herſtellung einer deutſchen National-Pharmakopoe. Eine Anwalts- 
verſammlung zu Dresden verlangte Einführung eines allgemeinen Rechtsverfahrens. Rauf- 
leute und Handwerker ſandten zahlreiche Petitionen, in denen ſie für eine allgemeine deutſche 
Gewerbeordnung, für gleiches Handels- und Wechſelrecht eintraten. Anträge auf eine deutſche 
Nationalbank, auf allgemeine Feuer- und Hagelſchadenverſicherung liefen ein. Die vereinig⸗ 
ten Rünftlee und Kunſtfreunde von Köln und Oüſſeldorf wünſchten Erhebung der deutſchen 
Kunſt zur Nationalſache; fogar ber feit dem Beſtehen der chriſtlichen Religion in Deutfchland 
ſchon ſo manchmal vertretene Gedanke an eine deutſche Nationalkirche tauchte wieder auf. 
Statt des zum Spott gewordenen Oeutſchen Bundes follte ein „Reich deutſcher Nation“ ent- 
ſtehen, die regierenden Fürften ſollten das Reichswappen in ihr Wappen einfügen und ſollten 
den Titel „Deutſcher Reichsfürſt“ annehmen. Entrüſtet war man im Volk, daß die National- 
vertreter jo viel Fremdwörter gebrauchten. Der „Verein für deutſche Reinſprache“ in Heidel- 
berg rieb es ihnen gehörig unter bie Nafe. Mehrere Bürger aus Alfeld beantragten, zur Be- 
kräftigung der deutſchen Bruderliebe ein allgemeines Du einzuführen. Der Vaterlandsverein 
zu Freiberg geißelte die leidige Gewohnheit der Oeutſchen, in fremden Heeren Dienft zu nehmen. 
Einen Widerhall fand dieſe Eingabe in einer Petition von 2500 deutſchen Soldaten des erſten 
Regiments der Fremdenlegion zu Oran in Afrika, die das Parlament um Befreiung von den 
franzöſiſchen Fahnen baten. 

Der Lieblingswunſch der Nation war die Gründung einer deutſchen Kriegsflotte. Deutſch- 
land beſaß ſchon damals nächſt England und Nordamerika die bei weitem meiſten und größten 
Handelsſchiffe. War es nicht eine Schmach, daß diefe vor der Blockade eines winzigen Staates 
wie Dänemark in neutrale Häfen flüchten mußten? Am ärgſten empfunden wurde dies von 
den Deutſchen im Ausland und von den Küſtenſtädten. Aber auch aus dem Süden bes Bater- 


852 Volksſtimmung und Volkswünſche im Jahr 1848 


lands ſchallten mahnende Stimmen. Paul Pfizer, der nationale Apoftel der Deutſchen, batte 
bereits im Jahre 1842 geklagt, daß Deutſchland in einer Zeit, wo fih der Orient öffnet und 
eine neue Weltepoche den durch europälfchen Einfluß noch nicht umgeſtalteten Erdteilen an- 
zubrechen ſcheint, träumend zuſieht, wie England, Frankreich, Rußland ihren Schritt beeilen, 
um ſich jener ganzen Zukunft zu bemächtigen. 

Bei dem von der Nationalverſammlung niedergeſetzten Marineausſchuß liefen zahl- 
reiche Oenkſchriften ein, bie fich mit der Schaffung einer deutſchen Flotte befaßten. Kiel, Qan- 
zig, Glückſtadt, Wismar und Emden ſetzten ihre Vorzüge ins hellſte Licht, um einen Kriegs- 
hafen zu bekommen. Aus Schleswig-Holſtein ging dem Parlament ein gedrucktes Projekt 
eines Kanals zwiſchen Nord- und Oſtſee zu. Ein Oberappellationsrat aus Kaſſel beantragte 
den Bau einer Schiffseiſenbahn von Flensburg nach Huſum. Mehrere Eingaben beſchrieben 
den Bau von „eigentümlichen, unabwehrbaren Zerſtörungsſchiffen“, und ein Gutsbeſitzer aus 
Pommern zeigte ſogar eine Erfindung an, welche die Kriegsſchiffe entbehrlich machen ſollte. 
Lobenswert war die Petition der ſchleswig-holſteiniſchen Vereine gegen das Branntwein- 
trinken, die um Fernhaltung des Alkohols von der deutſchen Flotte baten. 

Die Frage, auf die alles ankam, war die Beſchaffung der nötigen Geldmittel. Die 
Nationalverſammlung hatte feds Millionen Taler für die Kriegsflotte bewilligt, aber nicht 
einmal zwei davon wurden von den zum Teil widerſpenſtigen Einzelſtaaten bezahlt. Von der 
linken Seite des Parlaments liefen Anträge ein, die ben deutſchen Klerus und die Zürften zu 
freiwilligen Beiträgen aufforderten. Der Abgeordnete Vogt aus Gießen, der gewandteſte 
Redner der Linken, der ſonſt an den deutſchen Fürſten kein gutes Haar ließ, verlangte nun 
auf einmal: „Die Nationalverſammlung möge beſchließen, im Vertrauen auf den Patriotis- 
mus bet deutſchen Fürſten dieſelben zu erſuchen, die Hälfte der ihnen auf ein Jahr bewillig- 
ten Zivilliſten und Apanagen auf den Altar des Vaterlandes niederzulegen.“ Von ſeiten der 
Flottenvereine, die fid) zahlreich, vor allem in den Küſtenſtädten, bildeten, wurden Samm- 
lungen im Volk eingeleitet. Auffallen muß es, daß hierbei gerade die wohlhabenden Stände 
jo wenig ſpendeten. Der Wittenberger Profeſſor, ber der Nationalverſammlung 400 Exemplare 
ſeines Gedichtes „Petri Befreiung aus dem Kerker“ zum Beſten der deutſchen Kriegsmarine 
verehrte, glaubte Wunder, was er dem Vaterland damit für einen Dienft leiſtete. Der Magi- 
ſtrat von Arnsberg dachte zwar prattijder, als er zehn zum Schiffsbau geeignete Eichſtämme 
als Geſchenk für die Kriegsmarine anbot, aber viel war es gerade auch nicht. Die Zuruͤckhaltung 
der oberen Zehntauſend in dieſer nationalen Sache wurde treffend karikiert in den Fliegenden 
Blättern: „Zum Bau der deutſchen Flotte wurde von einem reichen Bankier ein Eichwald 
verehrt; mit den Vorarbeiten zum Einſäen ſoll bereits begonnen werden“ ſtand unter einen 
entſprechenden Bild. 

Am größten war die Opferwilligkeit in den mittleren und untern Ständen. Die füd- 
und mitteldeutſchen Liederkränze, die in den zwanziger und dreißiger Jahren die Hauptträger 
des nationalen Lebens geweſen waren, überboten ſich gegenſeitig in Darbietungen zum Beſten 
der deutſchen Flotte. In Schulen und Familien wurden Sparbüchſen aufgeſtellt. Patriotiſche 
Lotterien, Bazare, Preiskegeln und Scheibenſchießen wurden veranſtaltet. Pfennig-, Drei- 
treuzer- und Sechſerſammlungen ergaben ſelbſt auf den ärmſten Dörfern, wie z. B. im Hinter- 
ſpeſſart, namhafte Beträge. Im Großherzogtum Weimar brachte die Sechſerkollekte, die von 
Haus zu Haus durch Jungfrauen eingeſammelt wurde, 1746 Taler ein. 34 000 Perſonen hatten 
beigeſteuert, und gerade die ärmſten, Handarbeiter, Dienſtboten, Spitalfrauen und Soldaten, 
hatten die größte Vaterlandsliebe gezeigt. Stellenweiſe erinnerte die Opferwilligkeit faſt an 
das Fahr 1813. Mancher legte fein Liebſtes auf den Altar des Vaterlandes nieder: ſilberne und 
goldene Schmuckſtücke, wie Broſchen, Ringe und Schnallen, ſelbſt Tortenſchaufeln, Finger- 
bite und Pfeifenbeſchläge wurden geſchickt. Ein „deutſches Mädchen“ aus Heilbronn opferte 
ihren ſilbernen Strickpfeil und ſchrieb dabei: „Sind Ihnen Gaben, auf dieſe Weiſe gegeben, 


Volksſtimmung und Volkswünſche im Jade 1848 853 


willkommen, fo bedürfte es nur einer leifen Ermunterung von Ihrer Seite, und Hunderte 
meiner ſchüchternen Schweſtern würden mit Freuden ihr Scherflein zum großen Zweck bieten, 
denn ich verſichere Sie, kein Ring, kein Obrengebánge will fürder mehr feine Zwecke tun, alles 
will beſſeren Zwecken dienen und will wenigſtens ein Nagel oder ein ſchwarz-rot-goldener 
Wimpel an unſerer Flotte werden.“ 

Im allgemeinen aber entſprach der Erfolg nicht der Begeiſterung; etwas mehr als 
200 000 Gulden kamen ein, verſchwindend wenig, wenn man dagegen die Millionen der 
Zeppelin - oder der Flugzeugſpende halt. Freilich war das Jabr 1848 auch eine ungiinftige 
Zeit. Handel und Induftrie lagen danieder, das Volk verarmte und hungerte infolge Mig- 
ernte und Teuerung. 

Die Nationalverſammlung follte auch hierin Wandel ſchaffen. Der Ausſchuß für Volks- 
wirtſchaft, den das Parlament für alle Fragen, die das materielle Wohl betrafen, eingeſetzt 
hatte, wurde mit Vorſchlägen überſchüttet, die Mittel und Wege angaben, um die herrſchende 
Not zu beſeitigen. Am häufigſten war die auch heute ſo oft und mit Recht geſtellte Forderung, 
die nationale Arbeit dem deutſchen Arbeiter zu ſichern. Ein eigenes Miniſterium für das Pro- 
letariat in allen deutſchen Staaten, Nationalverſorgungsanſtalten, Nationalhypothekenbanken 
zur „Errichtung zinsfreier Staatshypotheken auf dem Naturgeſetz der Gegenſeitigkeit“, Bor- 
ſchuß : und Kreditkaſſen für den Handwerkerſtand, Unterftigungstaffen für Waiſen von geftorbe- 
nen Handwerkern ſowie von angehenden Geſellen beim Antritt ihrer Wanderjahre wurden 
verlangt. Der Uhrengewerbeverein auf dem Schwarzwald bat um „verſuchsweiſes Abſenden 
von Handelsſchiffen in entfernte, namentlich oſtaſiatiſche Länder mit Erzeugniſſen deutſcher 
Gewerbſamkeit und vorzüglich auch mit Schwarzwälder Uhren“. In noch bedrängterer Lage 
waren bie Handweber in Deutſchland; aus ihrer Mitte wurde das zwar begreifliche, aber kurz 
ſichtige Anſinnen geftellt, alle Spinn- und Webemaſchinen zu verbieten, oder die Mafchinen- 
fabrikate mit ſo hoher Steuer zu belegen, daß Menſchenarbeit bequem mit ihnen konkurrieren 
könne, außerdem Erhebung von Schutzzöllen, die einem Verbot ausländiſcher Waren gleich- 
käme. Um den Volksvertretern auch perſönlich Gelegenheit zu geben, Gutes zu tun, wurden 
ihnen aus Schleſien 600 Lofe auf Unterjaden unb Anterbeinkleider für Herren und Damen 
geſandt zum Beſten der dortigen hilfsbedürftigen Gebirgsweber. Zn Menge liefen aus allen 
Volksſchichten Eingaben ein, die den Notſtand des Geſamtvaterlandes durch umfangreiche Aus- 
wanderungen beſeitigen wollten, deren Leitung und Anterſtützung der Staat übernehmen 
ſollte. Eine beträchtliche Anzahl Handwerker aus dem Naſſauiſchen taten fid) zuſammen und 
forderten Stiftung einer Kolonie in Nordamerika. Andern erſchien Südamerika als das ge- 
lobte Land; ein Negierungsſekretär erließ einen „Aufruf an alle deutſchen Mitbrüder wegen 
Eroberung der Halbinſel Yulatan“. 

Die hoffnungsvolle Stimmung im Volk möge durch einige Eingaben gekennzeichnet 
werden, die einer gewiſſen Originalität nicht entbehren. Von mehreren Hexenmeiſtern aus 
Tulba in Unterfranken lief eine Schrift ein mit dem Titel: „Einzig wahres, natürliches, toften- 
freies Mittel, in der einfachſten, kürzeſten und ſicherſten Weiſe die deutſche Nation raſch zum 
mächtigſten, größten und edelſten Volk zu erheben.“ Ein fürſtlich ſchwarzburgiſcher Kirchenrat 
überfandte eine Abhandlung „Oer Pauperismus nad feinem Weſen, Urjprung, Folgen und 
Heilmitteln“. Ein königlich preußiſcher Premierleutnant offerierte , bedingungsweije ein von 
ihm entdecktes Mittel, durch welches dem deutſchen Nationalvermögen jährlich mehrere Millio- 
nen Taler erhalten und viele tauſend Arbeiter Beſchäftigung finden können“. Und ein Dr. jur. 
aus dem Hannöverſchen überreichte ein umfangreiches Manuſkript, das die verheißungsvolle 
Aberſchrift führte: „Die Notwendigkeit, den Grund und Boden aller Art in volkreichen und 
uͤbervölkerten Ländern zur Subſiſtenz und Freiheit der Staatsgenoſſen aue feiner Gebunden 
heit und Stabilität zu emanzipieren.“ 

Mancher gute Gedanke, der in ſpäterer Zeit verwirklicht werden ſollte, befand ſich unter 


854 Die Mönchsrepublik Athos 


bem Wuſt von Eingaben, aber er wurde in den Ausfchüffen oder im Minifterium begraben. 
Die Nationalverſammlung hatte fid) mit der ben Oeutſchen eigenen Griindlicdteit in die ,Grund- 
rechte bes deutſchen Volkes“ verbiſſen und in drei Monaten erft zehn von den 48 Para- 
graphen erledigt. War es da ein Wunder, daß das Volk, gelangweilt durch die theoretiſchen 
Deklamationen der „Profeſſorenverſammlung“ in der Paulskirche, ungeduldig wurde und in 
zahlreichen Petitionen Beſchleunigung der Beratungen forderte? Die Dant- und Vertrauens- 
adreſſen wurden abeglöſt durch Erklärungen des Mißtrauens ſowohl an einzelne Abgeordnete 
wie an die gemäßigte Majorität. Der deutſche Abgeordnete wurde eine typiſche Erſcheinung 
der Witzblätter und Volkskalender. „Zweihundert deutſche Deputierte knacken Nüſſe, finden 
aber keinen Kern“, „die Nachtmütze des Abgeordneten Qudedid Wedelgern kommt mit Oril- 
lingen nieder“ — Hunderte folder Sprüche liefen im Volke um. Und welche Verachtung ſpricht 
ſich in folgenden Zeilen des vielgeleſenen Brennglasſchen Volkskalenders aus: 

Und nun es ſo Tag wird, ſendet das Volk aus allen Gau'n 

Mannen, den Tempel der teutſchen Freiheit und Einheit zu baun; 

Dow ſind's nur wenige Degen, meiſt Weider mit Schnick und Schnack, 

Ho ſſchwänzier, Blattkleckſer, Krämer, Profeſſoren- und Pfaffenpad! 

Es ſchwatzen da die Gagerns die Simſons den Fürſten zu Maul; 

Die Dabl- und Baſſerweiber, die Mathys, oberfaul, 

Sie ſchwatzen, feilſchen und fälſchen, bis die Freiheit lobeſan 

Seufzt unter der Riepe Klauen, flucht in des Adels Bann... 

Verdient hatten die Männer der Paulskirche den Haß und Undank nicht, der ihnen zu- 
teil wurde. Sie bauten in den „Grundrechten des deutſchen Volkes“ eine Halle, in der die 
Freiheit wieder ihr Lager aufſchlagen konnte, und krönten ihr Werk am 28. April 1849 durch die 
Verkündigung der deutſchen Reichsverfaſſung. Ihre Schuld war es nicht, daß ein halbes Jahr 
ſpäter in den ſchönſten deutſchen Gauen die preußiſchen Zündnadelgewehre knallten, um die 
Durchführung der Neichsverfaffung mit blutiger Strenge zu unterdrücken. — Auch der alte 
Bundestag kehrte bald wieder in die freie Neidsftadt am Main zurück, und der deutſche Michel 
ließ ſich die Zipfelmütze wieder übers Ohr ziehen — ſeine Zeit war noch nicht gekommen. 

Dr. Thilo Schnurre 
JZy 


Die Mönchsrepublik Athos 


Durch Beſchluß der Mächte foll der Berg Athos als 
eine unabhängige Kirchen republik anerkannt und unter 
den Schutz der orthodoxen Mächte und Staaten (Rußlands, 
Rumäniens und der Balkanſtaaten) geſtellt werden. 


y N Kenn ein Deutſcher die Rüften des öſtlichen Mittelmeeres befährt, fo vermißt er bei 
e KE) aller Schönheit der Landſchaft mit ihrem Reichtum an Formen und Farben 
(OE ſchmerzlich, was er in der Heimat findet und über alles liebt: den deutſchen 
Wald. Olbäume ſind nützlich und Zypreſſen maleriſch, aber ſelbſt da, wo ſie in größerer Zahl 
anzutreffen ſind, geben ſie nicht entfernt das Bild eines deutſchen Waldes. Nur wenn das 
Schiff ſich der Chalkidiſchen Halbinſel und ihrem öſtlichen Ausläufer, dem Berge Athos, nähert, 
wird das Auge durch den Anblick eines hohen Waldgebirges erfreut, das ſich weit in das Meer 
hinein erſtreckt und bis zu einer Höhe von faſt 2000 m erhebt. Es iſt der Berg Athos, von den 
Alten Akte genannt, neugriechiſch Ajion Oros, eine Halbinſel von 50 km Länge und 5—10 km 
Breite, nur durch die ſchmale und niedere Landenge der Sane mit dem Feſtland verbunden. 
Von beiden Küſtenſeiten ſteigt aus dem Meere das Waldgebirge empor und erreicht ſeinen 
höchſten Punkt in der marmornen Athostuppel (1955 m). Auf der Plattform ſteht ein Kirch- 
lein, das höchſte Gotteshaus der griechiſchen Chriſtenheit, das Kirchlein Maria Himmelfahrt. 


Ben 
1 


Die Mönchstepublit Athos 855 


Fallmeraner bat in feinen berühmten „Fragmenten aus dem Orient“ (2. Aufl., Stuttgart 
1877) den Berg und feine Bewohner liebevoll beſchrieben und ihn ben „Valddom der anatoli- 
ſchen Chriſtenheit“ genannt. 

Von der Höhe des Berges ſchweift der Blick über die Inſeln des Agäiſchen Meeres 
hinaus bis nach Rleinafien hinüber. Dort oben erſpähte einſt der Wächter bae Aufflammen 
des Feuers auf dem Berge Fda, das den Fall Trojas verkündete, und ließ es weiter leuchten, 
ſo daß die Nachricht in einer einzigen Nacht nach der Königsburg von Mykene gelangen konnte. 

Sicher war das Athosgebiet, bas wenig fruchtbares Land bietet und wegen der Stürme 
ſelbſt für den Fiſchfang nicht günftig iſt, ſchon in vorchriſtlicher Zeit eine Art Wallfahrtsort für 
die benachbarte Bevölkerung. Auf der Spitze des Bergkegels ſtand ehedem ein Rieſenſtand bild 
des thraziſchen Zupiters, das von dem ſiegenden Chriſtentum zertrümmert worden ſein ſoll. 
Eine Legende führt die Anfänge chriſtlicher Siedelungen im Athosgebiet auf die erſten Zahre 
nach Chrifti Tod zurück. Urkundlich erſcheinen die Mönche gegen Ende des zehnten Jahr- 
hunderts. Um das Jahr 1000 zählte man bereits 700 Mönche in 180 felbftändigen Anlagen. 
Als bald darauf Unfriede entſtand, weil die reichen Mönche Handel trieben und u. a. Kühe ein- 
führten, wurden ſtrengere Vorſchriften erlaſſen, das Halten von Ochſen und Kühen verboten 
und der Holzhandel gänzlich abgeſchafft. Dieſem Verbot verdankt der Athos die Erhaltung 
feines ſchönſten Schmudes, feines Waldes. Haustiere durften nicht mehr gehalten und gezüchtet 
werden. Weiblichen Perſonen ward das Betreten des ganzen Gebietes unterſagt. Dabei iſt 
es bis heute geblieben. Kein lebendes Weſen ſoll auf dem Athos geboren werden. Nur die 
Vögel brüten und das Ungeziefer vermehrt (id. 

Seit Jahrhunderten iſt die Athoswildnis im Beſitz der Klöſter, bis auf das kleinſte 
Stück genau aufgeteilt. Gegenwärtig beſtehen 21 Klöſter aus dem Jahre 975 bis 1385, 11 
Dörfer, 250 Zellen und 150 Einfiedeleien mit etwa 8000 Mönchen griechiſch-orientaliſchen 
Bekenntniſſes, annähernd zur Hälfte Griechen, zur Hälfte Ruffen, dazu einige hundert Bul- 
garen, Rumänen, Serben uſw. Außerdem zählt man über 3000 Laienbrüder. 

Zn den Klöſtern herrſcht entweder ein auf Lebenszeit gewählter Abt mit unbedingter 
Gewalt über die Mönche, die keinerlei Eigentum beſitzen dürfen und gemeinſam fpeifen müf- 
ſen (täglich nur eine kärgliche Mahlzeit), oder aber eine jährlich gewählte Vorſteherſchaft mit 
freierer Bewegung für die Mönche, die Privateigentum beſitzen und eigenen Haushalt führen 
dürfen, doch unter Innehaltung der beſtehenden Vorſchriften. Jeder Fleiſchgenuß iſt verpönt. 
An Faſttagen, d. h. acht Monate im Jahre, ſind auch Eier, Fiſche und Ol verbannt. Auf den 
Tiſch der Mönche kommen nur Oliven, grünes, in Waffer gekochtes Gemüſe ohne Zutat, rohe 
Gurken, Knoblauchſtengel, ſüße Zwiebeln, Salzfiſche, weicher Käſe, Bohnenbrei, Obſt, Honig, 
Brot und Wein. 

Die Mönche ſchlafen nicht in Betten, ſondern auf groben Teppichen. Die Hemden ſind 
aus Schafwolle. 

Gemeinſam iſt allen Mönchen der Gottesdienſt. Darüber berichtet Fallmerayer: „Von 
den acht für Beten und Pſalmieren in der Kirche täglich feſtgeſetzten Stunden fällt der größere 
Teil, wenigſtens im Winter, auf die Nacht. Und mit dieſer Aſzeſe noch nicht zufrieden, gehen 
die Väter in St. Dionys alle Sonnabende des Jahres wie am Vorabende gewiſſer Heiligenfeſte 
ſchon mit Untergang der Sonne wieder in die Kirche, ſingen, beten, meditieren, räuchern und 
liturgieren die ganze Nacht ohne Unterbrechung, bis die Morgenröte erſcheint; dann erſt be- 
ginnt der feierliche Gottesdienft, mit bem fie nicht vor zwei Stunden nach Sonnenaufgang zu 
Ende kommen. Der Abt darf in der Kirche niemals fehlen. In Winternächten dauert die Qual 
oft nicht weniger als fünfzehn Stunden; aber die Strengen, mit dieſer Übung in ihrer Andachts- 
glut noch nicht gefättigt, eben Beten und Wachen unmittelbar nach dem allgemeinen Gottes- 
dienſte noch in ihrer Zelle fort und bringen es nach und nach bis auf zweiundzwanzig Stunden 
ununterbrochener Andacht und Peinigung.“ Dieſe Mönche ſind Märtyrer bei lebendigem Leibe. 


$56 Die Mönchsrepublik Athos 


Von einem eigentümlichen Lichtgottſchaun aus früher Zeit erzählt Fallmeraner nach 
alten Quellen: „Die Einfiedeleien des Hagion-Oros find der weſtlichſte Punkt, bis wohin die 
myſtiſche Praxis der heißen Zone gedrungen ift. Um dieſer geſteigerten Siten und Afzefe 
des oberſten Grades zu genießen, ſetzt ſich der Eingeweihte in einen Winkel der verſchloſſenen 
Zelle, ſenkt das Haupt auf die Bruſt und blickt, alles Irdiſche vergeſſend, unverwandten Auges 
anfangs verworren und troſtlos, bald aber mit ineffabler Seligkeit fo lange auf die Bruſthöhle 
und die Nabelgegend, bis er den Platz des Herzens und den Sitz der Seele entdeckt. Und wie 
dieſes gelungen, umfließt den Geiſt ein geheimnisvolles ätherifches Licht, welches die Heſichaſten 
auf Hagion-Oros in ſchwärmeriſcher Uberſchwenglichkeit für das reine und vollkommene Wefen 
der Gottheit hielten und mit faſt buhleriſcher Zärtlichkeit verehrten.“ 

Wiſſenſchaft und Gelehrſamkeit iſt bei den Mönchen nicht zu finden. Gott frage am 
letzten Gerichtstage den Menſchen nicht, was er gelernt, ſondern wie er gehandelt habe. Was 
der Menſch zur Seligkeit nötig habe, ſei ſchon lange feſtgeſetzt; weltliches Wiſſen und Grübeln 
führe vom Wege des Heiles ab, und das Verderben fei durch die Gelehrten in die Welt ge- 
kommen; ftudierte Leute bringen alles in Anordnung. Glaube und chriſtliche Demut könne mit 
Philoſophie und gelehrtem Dünkel in einer und derſelben Seele nicht beiſammen wohnen, 
das eine oder das andere muͤſſe notwendig weichen; und eben hierin beſtehe der Vorzug des 
Athos-Inſtituts, daß es den Wiſſensteufel aus dem Herzen geworfen und ſich ganz, mit Leib 
und Seele, dem Dienſte des Herrn ergeben habe. 

Die neue Mönchsrepublik war tatſächlich ſchon bisher ein freies Gemeinweſen und 
ſtand nur der Form nach unter der Oberhoheit des Sultans. Nur ein türkiſcher Landrat batte 
feinen Sitz am Hauptort, um den jährlichen Tribut in Höhe von etwa 30 000 & zu verein- 
nahmen. Sonſt durfte fih kein Muſelmann im Athosgebiet niederlaſſen. Oberhaupt ber Mönchs- 
republik foli der ökumeniſche Patriarch in Konſtantinopel werden und die Republik ſelbſt unter 
dem Schutz der orthodoxen Staaten (Rußland, Rumänien, Griechenland, Bulgarien, Serbien 
und Montenegro) ſtehen. Doch wollen auch Oſterreich ungarn und England auf Grund 
ihrer orthodoxen Staatsangehörigen in Ungarn und Bosnien, Zypern und Alexandrien als 
Schutzmächte zugezogen werden. 

Hauptort ijt Karyäs mit etwa hundert Steinhäuſern. Dort ift auch der Sitz der Gelbjt- 
verwaltung. Ein jedes der 21 Klöſter ſendet dorthin einen gewählten Vertreter, und über 
dieſer beratenden Körperſchaft, der „heiligen Synode“, ſteht ein eigener Ausſchuß von fünf 
Vorſtehern unter dem Vorſitz eines Prälaten. Hier wird der Geſamthaushalt feſtgeſtellt. Die 
jährlichen Einnahmen mögen nicht viel über 60 000 & betragen, wovon die Hälfte als Tribut 
nach Konſtantinopel geht und die andere Hälfte zu Geſchenken an das Patriarchat, zu Bakſchiſch 
an türkische Beamte und zur Beſoldung einer Polizeitruppe von 50 Mann verwendet wird. 

Paul Dehn 


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Die hier veröffentlichten, dem freien Meinungsaustauſch dienenden 
Ginfenbungen find unabhängig vom Standpunkte des Herausgebers 8 
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Zur Oſtmarkenpolitik 


hält viele geſchichtliche Unrichtigkeiten und Ungerechtigteiten gegen Das eigene 
Volkstum, welche ben Widerſpruch auch von Süddeutſchen, die dem preußifchen 
N ſehr ferne ſtehen, aber deutſch fühlen, herausfordern. Der Verfaſſer ſagt zwar, 
er wolle fih auf Parteipolitik nicht einlaſſen, aber fein fortgeſetztes Schelten über „preußiſche 
Reaktionspolitik, preußiſche Junker“, den „boruſſiſchen Stier“, ber fih an „Katholiken“ — foll 
heißen Ultramontanen — und Sozialiſten die Hörner abgeſtoßen habe, bewegt fid) doch ganz 
im engen Parteifahrwaſſer. 

/& Dieſe Angriffe gehen aber [don in der Richtung fehl. Die Oſtmarkenpolitik ift nicht 
das Werk des preußiſchen „Junkertums“. Sie hat zum Urheber unſeren größten Staatsmann, 
der ihr mit zielbewußter Kraft und Einſicht die Richtung gab und auch bereits die Enteignungs- 
maßnahmen ins Auge gefaßt hat. Ihr tatkräftigſter Förderer wurde dann Bülow, der fie für 
unſere wichtigſte nationale Aufgabe erklärte, und jetzt ijt ihr Hauptträger das preußiſche Bürger- 
tum. Unter den „Junkern“ fehlt es neben entſchiedener Förderung auch nicht an Widerſtand 
beſonders gegen die Enteignung, während hingegen z. B. die rein bürgerliche große national- 
liberale Partei ſtets geſchloſſen ſehr entſchieden für die Oſtmarkenpolitik der Regierung eintrat, 
und auch unter den Linksliberalen hat ſie beſonders in den Oſtmarken ſelbſt, wo man doch die 
Verhältniſſe am beſten kennt und daher nicht im Banne doktrinärer Parteiphraſen ſteht, febr 
viele Anhänger. Das Junkertum hat übrigens nirgends in der Welt fo große Bedeutung, als 
es bei den Polen von jeher hatte und noch hat. Schiefer könnte man den Gegenſatz nicht for- 
mulieren, als ihn auf den Kampf zwiſchen Funkertum und Volkstum zuzuſpitzen. Adel und eine 
fanatiſche Geiſtlichkeit ſind die treibenden Kräfte der polniſchen Bewegung. 

Es iſt das häßlichſte deutſche Erbübel, die eigene Regierung und den Volksgenoſſen, 
der anderen Stammes, anderer Partei, anderer Konfeſſion iſt, viel erbitterter zu bekämpfen, 
als die Erbfeinde unſeres Volkes, und jenen gerade dann, wenn ſie in hartem Kampfe mit 
bieten ſtehen, hämiſch und ſchadenfroh in den Rücken zu fallen, dabei auch als ſelbſtverſtändlich 
und keines Beweiſes bedürfend vorauszuſetzen, daß der bdfe deutſche Bruder im Unrecht, das 
fremde Volk, ſei es auch unſer ſchlimmſter Feind, der angegriffene, unterdrückte Teil ſei. Dieſes 
ſchlimmſte Laſter hat uns jahrhundertelang der Ohnmacht und Verachtung des Auslands 
preisgegeben und macht uns jetzt wieder zum Gefpdtt unſerer ſlawiſchen Feinde, die daraus 
ihre Erfolge ziehen. 

Wieviel Wahrheit dieſen Phraſen von der „Unterdrückung der Polen“ zukommt, darüber 
follen uns polnif de Quellen belehren: Der „Przeglond Wfzechpolski“ ſchrieb im Januar 


858 Zur Oftmartenpolitit 


1899: „Die Erhaltung ber öſtlichen Provinzen, in denen die polniſche Bevölkerung anſäſſig ift, 
bat für die preußiſche Monarchie das größte Intereſſe, ift für fie geradezu eine Lebens 
frage... Der Verluſt dieſer Gebiete würde ein Todesſtoß für die Macht S, eutfd- 
lands ſein ... Die polniſche Frage hat nicht nur für Preußen, ſondern für das ganze 
vereinte Oeutſche Reich den Charakter, wie wir ihn oben ſchilderten .. Wir müſſen 
alſo nicht nur mit Preußen, fondem auch mit ganz Deutſchland, nicht mit 
einzelnen Parteien, ſondern mit der ganzen deut ſchen Geſellſchaft einen Kampf 
führen, einen Kampf auf Tod und Leben. Das Lebensintereſſe beider Nationen 
kommt hier in Betracht, der Kampf wird um unſere nationale Zukunft und um diejenige der 
deutſchen Macht geführt. Von dieſem Standpunkt aus betrachtet ijt bie deutſche 
Politik eine defenſive. Dieſen defenfiven Charakter der deutſchen Politik ſtellen 
wir um fo lieber feft, als ſowohl in der Politik wie im Kampfe mit bewaffneter Hand, g e- 
wöhnlich derjenige verliert, welcher fid verteidigt. Armſelig 
würde das künftige Polen nicht nur ohne Poſen, ſondern auch ohne 
Schleſien, ohne Zutritt zum Meere, alſo ohne Danzig und Königsberg 
ſein.“ 

Es iſt eine tieftraurige Tatſache, daß die für die Polen ſelbſtverſtändliche Vorausſetzung, 
ſie würden bei dieſem ihrem Angriff das ganze deutſche Volk ohne Unterſchied der Partei zum 
Gegner haben, fo wenig zutrifft, daß Deutfche diejenigen ihrer Volksgenoſſen, welche zur Ab- 
wehr rüſten, Unterdrücker ſchelten und ihnen in den Rüden fallen. Dieſe Deutſchen find Ver- 
rater ihres Volkstums und würden bei jedem anderen Volk verachtet. 

Durch das oben wiedergegebene polniſche Bekenntnis — der Rahmen dieſes Aufſatzes 
verbietet uns, ungezählte ähnliche polniſche Aeußerungen anzuführen — find auch bie Redens- 
arten und Schlagworte von „Ausnahmegeſetzen“ und „Entrechtung“ der Polen genügend ge- 
kennzeichnet. Wie wollen nur beifügen: Unſere ganze Geſetzgebung wimmelt auf allen Gebieten 
von Ausnahmebeſtimmungen. Natürlich! Nur Gleiches kann gleichem Recht unterliegen, für 
ungleiche Verhältniſſe müffen die Geſetze ungleich fein, um gerecht zu fein. Denn das Recht will 
nicht Gleichheit, ſondern Gerechtigkeit. Es geht daher nicht an, die Glieder eines fremden Volkes, 
das unfere wichtigſten nationalen Lebensintereſſen nach eigenem Bekenntnis bedroht — die 
gegenteiligen Verſicherungen ſeiner offiziellen Vertreter und der von ihnen beeinflußten Federn 
ändern hieran natürlich nicht das mindeſte —, in allen Stücken den eigenen Volksgenoſſen völlig 
gleichzuſtellen. Dies wäre das größte Unrecht gegen unſer eigenes Volk und unſer Verderben. 
Wir würden uns damit ſelbſt „entrechten“. Denn wir haben das Recht und die Pflicht, die 
Oſtmarken, deren Verluſt nach polniſchem Zeugnis der Todesſtoß unſerer Macht wäre, unter 
allen Umſtänden zu behaupten. Dies ijt das Recht der Selbſterhaltung. Wenn irgendwo, 
(o ijt hier die Mahnung am Platz, welche Klopſtock, alfo gewiß kein brutaler, rückſichtsloſer 
Realpolititer, ſondern einer der edelſten und reinſten Menſchen, die je gelebt haben, an die 
Deutſchen richtete: „Seid nicht allzu gerecht!“ Denn ſonſt werden wir ungerecht 
gegen unſer eigenes Volk, dem wir doch faſt alles verdanken und ſchulden. Dafür, daß die 
Rechte fremder Völker dabei nicht zu kurz kommen, ſorgen ſchon dieſe ſelbſt mehr als genug. 
Oer Oeutſche hat noch kein fremdes Volk unterdrückt. Der umgekehrte Fall war unb ift leider 
gar zu häufig. 

Eine Erweiterung des Enteignungsrechts im öffentlichen Intereſſe wird heute von den 
verſchiedenſten politiſchen, ſozialen und wirtſchaftlichen Richtungen gefordert. Dies iſt keine 
„Entrechtung“. 8m Gegenſatz zu der bisherigen römiſch- rechtlichen Auffaſſung, welche gegenüber 
dem Eigentum am Grund keine Rüdfiht auf die Geſamtheit kennt, beſinnt man fid) mehr 
und mehr auf die alte deutſche Anſchauung, daß an den vaterländiſchen Boden die Geſamtheit 
der Volksgenoſſen gewiſſe Anfprüche hat, und verlangt für öffentliche Zwecke ein weitgehendes 
Enteignungsrecht. Dazu gehören in allererſter Reihe die wichtigſten nationalen Lebens- 


gur Oftmartenpolitie 839 


intereffen. Darum hat, wie erwähnt, ſchon Bismarck für bie Anſiedelungspolitik in den Oft- 
marken die Enteignung für gerechtfertigt erklärt. Sie dient nur zum Schutze des deutſchen 
Beſitzſtands in Gegenden, wo er durch das Vordringen der Polen gefährdet iſt. Statt daß 
der immer noch ſtarke Strom deutſcher Auswanderer aus Oeutſchland und Sſterreich wie auch 
deutſcher Rüdwanderer aus dem Oſten in das Ausland, beſonders nach Amerika, flutet, wo 
er meiſt in nicht langer Zeit unſerem Volkstum verloren geht, wird er hier durch die AUnfiede- 
lungspolitik in den Oſtmarken bem Deutſchtum erhalten, und werden zugleich diefe ſelbſt für das 
deutſche Volk gerettet. Hätte man ſchon früher diefe Anſiedelungspolitik befolgt, fo hätten wir 
heute keine Oſtmarkenfrage. Ganz verfehlt iſt der Einwand, das hierdurch an ſeinem Vordringen 
gehemmte Polentum überſchwemme dafür um ſo mehr das übrige Deutſchland. Denn einmal 
kann es dort, ſelbſt wo es in größeren Maſſen ſich ſammelt, nicht entfernt ſo nachteilig oder 
gar gefährlich werden, wie in den bedrohten Oſtmarken, die wir unter allen Umjtänden be- 
haupten müſſen. Sodann wird überhaupt nur ein Bruchteil dieſer fortwandernden Polen 
von Oeutſchland aufgenommen; ein großer Teil wandert in andere Länder, vor allem nach 
Amerika, wo in den letzten Jahrzehnten die polniſche Einwanderung außerordentlich ſtark 
war. Übrigens beweiſt gerade der Umftand der noch ſtarken Verbreitung der Polen im übrigen 
Oeutſchland, daß es ihnen bei uns febr gut geht, viel beffer als in Galizien und Polen, 
Warum wandern die armen „Unterdrückten“ denn nicht dorthin? Oder anderswohin? 

Am hinfälligſten iſt wohl die Behauptung, die Oſtmarkenpolitik habe die Unterdrückung 
der Oeutſchen in Öfterreich zur Folge gehabt. Die Feindſeligkeiten, Flegeleien und Unter- 
drückungspolitik der Slawen gegen bie Deutfchen in Öfterreich begannen (don 1848 und haben 
fid) ſeitdem fortgeſetzt geſteigert. Die beiſpiellos gutmütige und langmütige Verhätſche⸗ 
lungs- und Verſöhnungspolitik, die Preußen von 1815 bis 1886 gegen die Polen ungeachtet 
allen Undanks und ſelbſt der blutigen Grauſamkeiten, mit denen die Polen im Jahre 1848 
ihren Dant erſtatteten, und ſelbſt ſpäter noch unter Caprivi fortſetzte, hat weder die Slawen 
nod) die Regierungen in Ofterreid) und Rußland gehindert, die Unterdrückung der Oeutſchen 
fortgeſetzt zu ſteigern. Natürlich begründen fie jetzt ihre Feindſeligkeiten mit der Oftmarten- 
politik Preußens. Die Ungereimtheit dieſes Vorwands erhellt am beſten aus der Tatſache, 
daß die Polen in Galizien nicht nur die 200 000 Oeutſchen dort, ſondern auch ihr ſlawiſches 
Brudervolk der Ruthenen von über 3 Millionen ebenſo ungerecht feit Jahrhunderten unter- 
drücken. Iſt hieran vielleicht auch die Oſtmarkenpolitik Preußens ſchuld? Nirgends wurden 
fremde Völker fo bedrückt, als im alten Königreich Polen. Mit blutiger Grauſamkeit verfuhr 
man dort insbeſondere gegen die Deutſchen. Ich erwähne nur das bekannte Thorner Blut- 
gericht. Die Unfreiheit iſt nirgends in Europa mehr zu Haus als bei den Polen. Wie es in 
Preußen und Galizien mit der Entrechtung fremder Völker gehalten wird, zeigen folgende 
Beiſpiele. In Preußen wurde bis in die ſiebziger Fabre in den gemiſchtſprachigen Orten der 
Oſtmarken der Schulunterricht in der Sprache der Mehrzahl der Schüler gehalten. Bei der 
bekannten Haltung der fanatiſch polniſchen katholiſchen Geiſtlichkeit führte dieſes Syſtem direkt 
zur Poloniſierung der deutſchen Kinder. Dabei muß man noch das Mißverhältnis der Bedeutung 
der polniſchen Sprache für Kultur und Verkehr im Vergleich zur deutſchen bedenken. Für- 
wahr ein klaſſiſches Beiſpiel von deutſchem „Allzugerechtſein“ mit feinen verderblichen Folgen! 
Im 19. Jahrhundert wurden 200 000 katholiſche Deutſche in den Oſtmarken poloniſiert, die 
Poloniſierung der katholiſchen Bamberger wurde erft in den ſiebziger Jahren vollendet. Um- 
gekehrt fand nirgends eine der Erwähnung werte Germanifierung ſtatt. Das Polentum drang 
einfach vor. In Galizien dagegen war im Fahre 1909 z. B. in dem Dorfe Roſenhek, in dem 
ſämtliche 40 Schulkinder deutſch waren, die Unterrichtsſprache — polniſch. Genau fo 
ift es in vielen anderen rein deutſchen Dörfern, in denen es kein einziges polniſches Schulkind 
gibt. Auf welcher Seite iſt hier die Entrechtung? 

Nun wirft man uns gar noch ein: Durch die Oſtmarkenpolitik erreichen wir, daß es 


860 Der Pfeudofrühling zur Jahreswende 1912/13 


die Slawen in Öfterreih unſeren Stammesgenoſſen noch ſauerer machen. Dies ijt der un- 
würdigſte Einwand. Er erinnert an den Ausſpruch Bismarcks: „Es gibt eine Feigheit, die 
ſich ſelbſt dann nicht zu wehren wagt, wenn man ihr die Piſtole auf die Bruſt ſetzt.“ Nur feige 
Schwãche appelliert noch an die Milde eines unverſöhnlichen Gegners und unterläßt die Gegen- 
wehr aus Furcht, ihn noch grimmiger zu machen. Dieſer Appell an die Furcht findet, um 
nochmals mit unferem größten Staatsmann zu ſprechen, im deutſchen Herzen hoffentlich 
keinen Anklang. Wir 80 Millionen Deutſche find politiſch, kulturell und wirtſchaftlich doch 
weitaus die Stärkeren, wenn wir nur von unſerer Stärke auch Gebrauch machen wollen, die 
nationale Arbeit unſerer Volksgenoſſen in Ofterreih und den Oſtmarken im Verhälmis zu 
unſeren reichen Mitteln unterſtützen und nötigenfalls nicht davor zurückſchrecken, ſlawiſche 
Übergriffe, beſonders der Polen, gegen Oeutſche in Oſterreich mit Repreſſivmaßnahmen gegen 
die Slawen in Oeutſchland zu erwidern. Hat das Bündnis zwiſchen Oeutſchland und Oſterreich 
nicht gehindert, daß ſeit Ende der ſiebziger Jahre die Deutfchen diesſeits und jenſeits der Leitha 
an die Wand gedrückt wurden, ſo kann es uns nicht abhalten, die entſprechenden Folgerungen 
daraus für unſer Verhalten gegen die Polen zu ziehen. 

Dies würde auf alle Fälle auf unfere Gegner mehr Eindruck machen als alle Berföhnungs- 
maßnahmen, die von ihnen ſtets nur als Schwäche ausgelegt wurden und ihren Abermut 
ſteigerten. Guſtav Beck 


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Der ati oli: zur . 1912/13 


mitten im kalten Winter, wohl zu der halben Nacht“ dichtete, die Anregung hierzu 

durch ein mitten im Winter — natürlich in geſchützten Kloſterräumen! — 
erblühtes Röschen erhielt, das er dem Chriſtuskind verglich, hätte er ſich wohl nicht träumen 
laffen, daß aus unſerem rauhen Deutſchland noch einmal ein Land mit fo mildem Winterklima 
werden würde, daß wahrhaftig von dem unſer Land durchwehenden eiſigen Boreas des Livius 
keine Rede mehr ſein könne. In dieſem Winter, um die Jahreswende, haben wir das ſeltſame 
Ereignis erlebt. Unfere Pflanzenwelt feierte beim Übergang vom alten ins neue Jahr, in dem 
erſten Januardrittel und vorher im Dezember, eine Art Frühling, einen Pſeudofrühling. 
8m Weſertal, in der Gegend von Rinteln nach Bückeburg zu, erblühte der vollſte, ſchönſte Gold- 
lack in den Borgärtchen der Häuſer. Die Wieſen an beiden Ufern des deutſcheſten aller Ströme 
waren mit Gänſeblümchen weiß überſäet. Überall in den Gärten haben in der Zeit vom 10. bis 
Ende Dezember alle Rofenftöde fingergliedlange Blattriebe entwickelt. Auf den großen Fried- 
höfen von Barmen und Elberfeld ſah ich in den letzten Dezembertagen einen reichen Flor von 
Schneeglöckchen, die überall ſtattlich aus der Erde gekommen und ſchön aufgeblüht waren; 
von ben Helleborusarten, ausgeſprochenen Winterblühern, gar nicht zu reden. Im warmen 
Mainzer Becken iſt mehr als ein Aprikoſen- und Pfirſichbäumchen ins Blühen gekommen; 
bie zarten roten Blütchen hingen verſchüchtert in den Zweigen; die Mainzer Zeitungen be- 
richteten auch von blühenden Kirſchbäumen. In der Umgebung von Heilbronn trieben die 
glexbuͤſche (Stechpalmen) neue Blättchen, ich fand ſelbſt in ben Bergwäldern des bergifch- 
märkiſchen Landes (Wupper) an vielen Stechpalmzweigen die charakteriſtiſchen Frühlings- 
triebe, zwei neue, nette, friſchgrüne Blättchen. Und um das Wunder vollzumachen, berichtet 
der „Mainzer Anzeiger“ vom 18. Januar 1913 von „blühenden Roſen in den Gärten“. Er 
ſchreibt weiter von reifen Preiſelbeeren, die man um den feſtlichen Tag der Heiligen drei Könige 
im Pfälzer Wald gefunden bat; auch die Haſelnüſſe blühten am Waldrand. Die „erſten Mai- 
käfer“ und „erſten Schmetterlinge“ wurden den tierfreundlichen Redakteuren bereits in den 


Ser Pfeubofrühling zur Jahreswende 1912/13 861 


erften acht Fanuartagen zugeſchickt. So frühzeitig erſchienen die Frühlingstierchen — natürlich 
handelt es ſich bei den Schmetterlingen um überwinternde Exemplare — auf dem Plane und 
gaukelten uns Frühlingsträume vor. Ein richtiger Pſeudofrühling! 

Der am 12. Januar eintreffende Schnee machte der Herrlichkeit ein Ende. Der Pfeudo- 
frühling war erſtorben. Für 5 Tage — — dann wieder reiner Frühſommer! 

Was will nun diefe Erſcheinung eines Pſeudofrühlings um die Jahreswende befagen, 
in einem größeren Rahmen und von einem großzügigeren Geſichtspunkte aus betrachtet? 
Dasſelbe, was uns unſere ganze Zeit in aufdringlicher Weiſe geradezu zuſchreit — — was id) 
(bon des öfteren klarzulegen verſucht habe: Daß wir uns in einer Zeit der Temperatur- bzw. 
Klimaveränderung befinden. Und zwar geht Deutſchland einer wärmeren Zeitepoche ent- 
gegen. Es iſt, etwas ungeſchickt ausgedrückt, meine Theſe einer „wiederkehrenden Tertiärzeit“, 
oder richtiger gejagt: Wiederkehrende tertiärzeitähnliche Temperatur-, Zierverbreitungs-, 
Tierlebensverhältniſſe. Wir haben Hunderte von Zeugen dafür aus der Pflanzen- und Tier- 
welt. Der diesmalige Zeitirrtum im Pflanzenleben Deutſchlands ift wieder einer der aller- 
kräftigſten Beweiſe dafür. Unfere Winter werden wärmer, die Negenperiode verſchiebt ſich 
dafür weiter in den Frühling und Mai hinein (wo ijt der liebliche Mai der alten Dichter 7). 
Die Sommer ſind entweder ſehr heiß (1911) oder aber regneriſch, doch dabei nicht kalt (1912). 
Und wenn wir die Veränderung auch gar nicht fo direkt aus dem Klima ſelbſt vermerken würden 
— wir Menſchen nämlich —, die Pflanzen- und Tierwelt reagiert ſehr deutlich darauf. Es iſt 
bekannt, daß alle dieſe Veränderungen ſich genau decken mit den Behauptungen des Geſetzes 
der Reibiſch⸗Simrothſchen Erdpendulation, deren Kenntnis id) bei den Leſern vorausſetze. 

Pfarrer Wilhelm Schuſter 


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Wie ward es? Welche Töne! Was uns ein 
Amerikaner zu jagen hat „Brüder in Chriſto“ 


Jit dem 5. Februar, dem Tage, an dem vor 100 Jahren die Stände 
Oſtpreußens in einmütiger Begeiſterung den Beſchluß faßten, 
)| fich gegen den Korſen zu erheben, haben die offiziellen Jahr- 
hundertfeiern des Jahres 1813 ihren Anfang genommen. Wie 
ward es denn eigentlich, dieſes Jahr 1813? 

Nicht ganz ſo, wie man's heute in usum delphini uns glauben machen 
möchte, aber auch nicht, wie ſich's viele ſelber wohl auszumalen pflegen. „Es 
war“, ſchildert unſer Mitarbeiter Prof. Dr. Ed. Heyck im Literaturblatt „Eckart“ 
(Schriftenvertriebsanſtalt, Berlin SW. 68) dies Verden, „der höchſte Inhalt der 
Zeit vor 1800, daß die deutſche Nation die Leſſing und Schiller als Deuter der 
wahren Freiheit, der ſelbſtachtungsvollen Männlichkeit, beſaß. Aber die ethiſche 
Wirkung, die von ihnen ausging, iſt deshalb noch keine unmittelbare 
geweſen. Sie bat nur kommen müſſen, weil jene waren: weil es auch darin 
ein Geſetz der Erhaltung der poſitiven Kräfte gibt, der unbeſieglichen Auswirkung 
des ewigen Guten, das mit der ewig etbaltenb fortbildenden Schöpfung eines 
und nur ſo zu definieren iſt. 

Allzu häufig iſt von den Hiſtorikern die ſittliche Erſchlaffung innerhalb der 
großen Geiſteszeit geſchildert worden, um hier noch wieder dargelegt zu werden. 
Die Wiener Genußſucht und Frivolität, gegen die keine Maria Thereſia mehr an- 
kämpft, die Leichtfertigkeit an den kleineren Höfen, die Verkommnis, die ſich von 
dem Hoftreiben unter Friedrich Wilhelm II. bis weit ins preußiſche Beamtentum 
und Bürgertum ausbreitet, geben einander nichts nach. Die Lüſternheit vom 
18. Jahrhundert her, deren Verſüßlichung nur gleichfalls ein wertloſes Zeichen 
der Erſchlaffung iſt, füllt die beliebteſten Bücher und Almanache der Zeit und 
leitet die emſige Hand unzähliger kleiner Kupferſtecher; erſt das 19. Jahrhundert 
von den Tagen der Erhebung ab hat ſich dann dieſer Erinnerung geſchämt und ſie 
erſtickt. (Sie würde noch vollkommener für uns vergeſſen fein, zöge nun heute 
aus dieſer Verſchollenheit nicht wieder ein kongeniales Herumſchmökern das ihm 


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Zürmers Tagebuch 263 


Pikanteſte ans modern gefärbte Tageslicht, für zahlungsfähige Käufer (ubjtribier- 
ter Luxusausgaben.) Noch 1813, wie das Volk aufſteht, der Sturm losbricht, 
gedenkt Körners Lied dieſes „erbärmlichen“ Lebemannstums, deffen Inhalt ber 
Spieltiſch und der Mätreſſenkram find, und deſſen Ende ein Tod mit ‚Merkur‘, 
in den ſeidenen Decken. Zwar, was das Bildungsniveau angeht, ſtand die fo- 
genannte beſſere Geſellſchaft um 1800 erheblich höher, als heute diejenige, die ihr 
am nächſten zu vergleichen iſt. Nichtsdeſtoweniger fehlte auch ihr, ſobald man von 
ihrer deutlichſten Tageserſcheinung ſpricht, das entſcheidende Moment der Ernſtlich- 
keit. Den wirklichen Geiſt überwucherten das Geiſtreichgetue, das Spieleriſche, 
Flunkeriſche. Man poſierte ſeine Zerfahrenheit und Oberflächlichkeit als genialiſch, 
und des Aufhebens, welches von den zu Berlin imitierten Pariſer ‚Salons‘ ge- 
macht wird, wird dafür zu einem der überzeugendſten Beweiſe, wenn man ſich 
nur einmal mit feinen eigenen Augen die wahre Bedeutung dieſer meiſten Halb- 
menſchen näher anſieht. Selbſt wenn Perſönlichkeiten, wie Schleiermacher, mit 
einem Teil ihres Weſens dort zu Koſt gegangen find und Anregung aus dem eigen- 
tümlichen Gemiſch von Feminismus, Romantik und Uberhebung geſucht haben, 
das dieſe Luft erfüllte. Man kam ſich ganz ungemein zeitlebendig und aufgeklärt 
vor und wußte nicht, mit welchen geringen und zweifelhaften Werten man es war. 
Die gewaltige Revolution in Frankreich ging mit ihren eigentlichſten Lehren un- 
verſtanden für dieſe ſich modern rühmende Generation vorüber, außer daß ſie in 
das Verkehrsverhältnis der Stände ihre zum Teil nützlichen Breſchen riß. Es be- 
durfte noch erſt des Tages von Jena, daß man nun doch nach den Wenigen rief, 
bie, wie der Freiherr vom Stein, das mächtige weltgeſchichtliche Erlebnis im Hin- 
blick auf das Volks- und Staatsganze zu durchdenken und fruchtbar zu machen 
die Fähigkeit aufwieſen, weil ſie aus einer gediegenen philoſophiſch-hiſtoriſchen 
Bildung das Aufbauende darin, das wirklich Moderniſierende zu erkennen und 
auszuſcheiden imſtande waren. Bis unmittelbar an dieſen Zeitpunkt von 1806 
lebte man in der oberen Geſellſchaft in einem verhängnisvollen Gemiſch von 
Leichtherzigkeit, worin das franzöſiſche ancien régime der Lehrmeiſter geweſen 
war, und einer — leider ſehr deutſchen — Selbſtgefälligkeit dahin. Die Regierung 
des wichtigſten deutſchen Staates war den Händen von hohen Beamten anver- 
traut, die gutenteils durch ihre Eitelkeiten oder ihre Liaiſons beträchtlich mehr 
als durch die pflichtmäßigen Staatsgeſchäfte in Anſpruch genommen wurden, die 
auswärtige Politik einem Miniſter, der ſich in Vertrauensſeligkeiten ſeiner diplo- 
matiſchen Feinkunſt wiegte, die tatſächlich die vollkommene Vereinſamung des 
Staates erreichte. Das auf feine „friderizianiſchen Überlieferungen‘ ſtolze Heer 
ward von Generälen befehligt, die bei der Berliner Parade eine Anrede loszu- 
laſſen vermochten: „Meine Herren, Generäle, wie der Herr von Bonaparte einer 
iſt, hat die Armee Seiner Wajeſtät unterſchiedliche aufzuweiſen“, was dann die 
Leutnants weiter dahin auslegten: in Preußen würde ein Napoleon nicht einmal 
zum Korporal zu brauchen ſein. Und nach dieſen Radomontaden in wenigen Wochen 
Saalfeld, Jena, Auerſtädt und die in deutſcher Geſchichte beiſpielloſe Feigheit e 
Feſtungskapitulationen. 

Fragen wir nach ber ‚gebildeten‘ Jugend Deutfchlands in jenen Tagen, fo 


864 Siirmers Sagebud) 


tritt auch ‚fie uns wenig erfreulich entgegen. Für ihr, nicht gut aus ſelbſtändigen 
Handlungen (don zu entnehmendes Selbſtbekenntnis bieten fid) als die (tid)baltig- 
ften Quellen die Stammbücher dar. Solche find ja neuerdings fo zahlreich aus- 
geſchöpft oder veröffentlicht worden, daß fie eine ziemlich allgemeingültige Pſycho⸗ 
logie ermöglichen. Hier wirken nun am peinlichſten gerade die der Studenten, 
im betonenswerten Gegenſatz zu denen der jungen Kaufleute oder der jungen 
Mädchen mit ihrer durchweg ſinnigen, poetiſierenden Sentimentalität. Die älteren 
ſtudentiſchen Stammbücher hatten in ihren Denkſprüchen und Symbolſprüchen 
zumeiſt wohl auch vor allem zurückgeſcheut, was den Einzeichner ins Licht des 
Muſterknaben ſetzen konnte. Aber ſie ſprechen doch perſönlichkeitsbewußt, ſie halten 
auf eine gewiſſe gravitätiſche Manier, wollen eine herzhafte Verſicherung der treu 
feſthaltenden Freundſchaft geben. Die um 1800 und danach find in ihrer Über- 
zahl von erſchreckender Armlichkeit und Würdeloſigkeit. Ganz felten blickt ein Zeichen 
auf, daß dieſer jungakademiſchen Generation es beſchieden iſt, die Zeitgenoſſin 
der größten Dichtung und der machtvollſten Philoſophie der Zdeen zu ſein; ſelten 
auch nur zeigt ſich ehrlich Herzliches, Gedankliches oder gar Entſchlußhaftes; das 
Typiſche ſind Bummelverſe, von der Bier- und Tobakgemütlichkeit bis zur 
derben Verherrlichung des Liederlichen; das find die Denkſprüche, die ein 
Freund dem anderen zur Erinnerung für das Leben ſchreibt. Kein Sturm und 
Drang etwa eines Sichauflehnens gegen verbrauchte Konventionen gärt darin ans 
Licht, es gähnt nur die leere Reſpekt- und Inhaltsloſigkeit, die nichts zu heiligen 
und zu umkämpfen bat; es find die rechten Enkel des galanten Jahrhunderts, 
die die eindeutigſte Auffaſſung von Mädchen und Liebe in öder Wiederholung 
zu bekennen wünſchen. Und ſchamlos reicht man dieſe Bücher dann wieder den 
Profeſſoren und den jungen Mädchen, daß auch ſie ſich dazwiſchen ſchreiben. 

Durch die Freizügigkeit der Studenten verbreitet ſich dieſer Ton auch in 
das ehrbarere Südweſtdeutſchland und dauert hier noch fort um eine Zeit, da er 
in Norddeutſchland ſchon nicht mehr ſo vorlaut klingt. Mit der wunderlichſten Emp- 
findung blickt man in das Stammbuch von Karl von Schiller, der 1810 in Heidel- 
berg ſtudierte: welche Plattheiten dem Sohne des toten Schiller diefe Verbindungs- 
ſtudenten der Schwaben, Rheinländer, Vandalen und Kurländer eingetragen haben, 
deren einziges Gewürz die Zote oder die ſtereotype Mahnung, nur ja nicht die 
ſüßen Apfel ungeſchält zu laſſen, iſt. Hervorzuheben iſt, daß die Studenten aus 
wirklich vornehmen Kreiſen ſich von einem beſſeren Anſtandsgefühl geleitet zeigen, 
und ein Graf Reuß jüngere Linie bat einen ſchönen Spruch aus Schillers Botiv- 
tafeln dem Sohne in das Album eingetragen: 


Der Menſchheit Würde iſt in eure Hand gegeben 
Sie ſinkt mit euch, mit euch wird ſie ſich heben. 


Das von den Künſtlern oder den Oichtern geſagte Wort gilt auf andere Art 
nicht minder von der Zugend. ‚Mit euch wird fie ſich heben.“ Drei Jahre nach 
dieſen letztzitierten Stammbucheinträgen ſtürmt die norddeutſche Studenten- 
ſchaft zu den Waffen; der ‚Zell‘, den man ſich an den Wachtfeuern vorlieſt, geſellt 
ſich zu den Arndtſchen Liedern im Torniſter. Und nach der Rückkehr aus dem 


Zürmers Tagebuch 865 


heiligen“ Krieg durchwogt die Herzen die fieghafte Bewegung einer aufrichtigen 
akademiſchen Selbſtreform nach dem Sinn der Schiller, Fichte, Arndt. Auf den 
Univerſitäten breitet fih die noch in ihren Denkfehlern hochſinnige Burſchenſchaft 
aus, die gemeinſame Stammutter einer ganzen Anzahl von ernſthaft gerichteten 
neueren Verbindungsgattungen. 

Es wäre unhiſtoriſch, in einer Hundertjahrserinnerung die Jugend von 1815 
zu rühmen, ohne hinzuweiſen, was ſie vorher für eine, mehr als im Durchſchnitt, 
geweſen war. Denn dadurch wird ſie rühmenswerter. Das Schönſte von ihr aus 
dieſer großen Schickſalszeit ijt nicht ihre belle Kampfbegeiſterung, die ſchließlich 
jeden hinreißt, ſondern das iſt die Wandlung im ganzen, die in ihr — in der Maſſe 
der einzelnen, auch einem Theodor Körner — vorging, die ethiſche Selbſtbeſinnung, 
die raſch gekommen und dennoch eine lang andauernde geworden iſt. Die Zugend 
ſank mit dem alten Jahrhundert, und fie fant am tiefſten, in ihrer erloſchenen Be- 
mühung um wenigſtens noch einiges Geiſtige, das eben ſchon in den Vätern zu 
unwahr und oberflächlich geworden war, um noch ferner vererbbar zu ſein. Und 
trotzdem hat gerade fie die Fähigkeit bewährt, ein neues Jahrhundert zu feiner Er- 
hebung zu führen. 

Zu ſolchen elementaren Vorgängen in einem ganzen Volkskörper taugen 
aber die Jugend und die Maſſen. Weil nur das Unreife, der grüne Schößling der- 
artig bildſam ift und (id) leicht die Richtung geben läßt, in der er fid) dann ver- 
feftet, ſich ſtammhaft verholzt. Die Richtung ſelbſt kommt nie aus ihnen, aber das- 
jenige, woran ſich die Bildnerkraft der Beſten einer Zeit betätigen muß, ſind ſie. 
Und deshalb iſt es ein ſo unſagbar gewiſſenloſes Tun, wenn 
man heute vorgibt, mit bem un abänderlichen Mißgeſchmack der 
Volks maſſe rechnen zu müſſen, und die Schuld an den Freveln, 
die an ihr die Erwerbsgier begeht, auch noch ihr hinüberſchiebt. 
Zur gleichen Zeit, während man in den Schulen die Schönheit und Großartigkeit, 
bie in der echten Volkskunſt und in der Dichtung der volklichen Frühzeiten ent- 
halten ſind, bewundern zu machen ſich bemüht. 

Wir erleben auch heute die Lebhaftigkeit, womit die akademiſche Jugend in 
eine neue Richtung einſchwenkt, wenn man ſich nur mit dem Wert des Überzeugen- 
den Mühe um fie gibt und fie aus üblen Gewöhnungen reißt. Nur an das Nächſt- 
liegende fei erinnert: in wie kurzer Zeit fie über die prahlende Luft des Gid- 
betrinkens anders zu denken gelernt hat, und wie ſie dafür nun allem, was ihr als 
Geſundheitsſport gezeigt wird, ſich mit einem Eifer, der ſchon wieder Schablone 
und Überſchätzung wird, ergibt. Denn das gehört eben auch zu ihr, das Herdenhafte, 
Modehafte noch im guten Sinn; das Superlativiſche liegt in ihr ſelbſt. Sobald ſie 
zu handeln, zu denken meint, fehlen die objektiven Rechenſchaften noch; wer ſich 
gern mit Studenten unterhält, wird immer ihre Meinungen und Neigungen als 
einäugige finden. Das war auch 1815 und 1817 nicht anders, als ſie von heute auf 
morgen das deutſche Stauferreich herſtellen wollte, den Schurkenmord für ihr 
Vollzugsrecht in Anſpruch nahm und nicht nur beim Oktoberfeuer des Wartburg- 
feſtes rechte Kindereien mit einem von keinerlei Augenmaß getrübten Gieges- 
bewußtſein vollbrachte. 

Der Tarmer XV, 6 87 


866 Gürmers Tagebuch 


Sugend und Volk müjfen und wollen Gefolgſchaften fein, als welche fie fid 
dann Vollzieher dünken. Daß man auf ihre Führer, und wenn es Verführer find, 
nur ſchilt, ſie ihnen ſchlecht zu machen ſucht und gar mit einer nur vexatoriſchen 
Polizei kommt, dadurch wird man ewig nur ihren Treuſinn inniger noch mit jenen 
zuſammenketten. Es gibt nur eines: ſie noch überzeugender, begeiſternder führen. 
Auch dahin läßt ſich ein bekanntes Wort verändern, daß jede Zeit den Nachwuchs 
und das Volk hat, die ſie verdient. Wenn man in unſeren von Feuilletonbildung 
überfließenden Bourgeoiſie-Zeitungen den Nervenkitzel in der Art der Wildeſchen 
Salome oder die Bluffs eines in muſiſche Kunſtfertigkeiten ſtiliſierten Blödſinns 
als die Oelikateſſen des verfeinertſten Geſchmacks auspreiſt, wenn dieſelben Bei- 
tungen ſich nicht genug tun können in der Ausführlichkeit, womit fie jegliche Mord- 
ereigniſſe, traurigen Unglücksfälle, gemeinen Sittlichkeitsaffären uſw. zu der hoch- 
wichtigen Senſation machen, die ſich vor ihren ernſthaften Inhalt drängt, ſo hat 
man kein Recht zum Tadel, daß auch das kleine Volk an das ihm ſenſationell Ge- 
machte glaubt und den Erregungsgenüſſen der Lichtbildtheater zuſtrömt, die ihm 
doch nicht aus ſeinen eigenen Kreiſen aufgedrungen werden. Man ermögliche ihm, 
mit der gleichen billigen Bequemlichkeit Schönes und Gutes zu ſehen, und es 
wird von dem Schauerdramatiſchen bald nichts mehr wiſſen wollen. Fede Herr- 
(daft kann es ausprobieren, wie leicht fid) derartiger Geſchmack in Überdruß ver- 
wandeln läßt, wenn ſie ihrer mit einem Stoß von Räuber- und Mordgeſchichten 
anrückenden Köchin für den Sonntagabend als Lektüre Hauff, Scheffel, Dickens, 
Storm und ähnliche Bücher gibt. Selbſt die Vorliebe der kleinen Lefer und Lefe- 
rinnen für ſolches Nomanfutter, das in der ‚vornehmen Geſellſchaft“ ſpielt — wo- 
von fie alle Sozialdemokratie nicht wegbekehren kann —, beruht auf der Grund- 
tatſache, daß das Volk zu dem, was ihm ein „Höheres“ zu fein oder doch zu dünken 
vermag, nach feinen Snftintten ſtrebt. 

Die Selbſterhebung der Jugend von 1813 geſchah nicht dadurch, daß fie um 
jeden Preis nach Preußens Wiederherſtellung verlangte. Der Befreiungskrieg hat 
vielmehr, weil in der mitkämpfenden Jugend ein fo außerordentlicher Um- 
ſchwung eingetreten war, das enthuſiaſtiſch-poetiſche Gepräge erhalten, das ihn 
von allen Kriegen, die ſonſt der Staat geführt hat, unterſcheidet. Aber die Kräfte, 
aus denen die Jugend eine derartige wurde, liegen tiefer, liegen darin, daß in 
geiſtiger Form die Zeit beſaß, was ſie ihr zur Führung zu machen hatte. Ohne 
Sena wäre kein 1813 geweſen, aber die Freiwilligen von 1815 wären nicht geweſen 
ohne die Profetien aus der hohen klaſſiſchen Geiſteszeit und ohne die Gefühls- 
werte, die durch die Romantik noch hinzutraten. Nur das Beſondere, wovon 
ſehr ſchwer zu ſagen iſt, ob es auch das Entſcheidende war, iſt die äußere Tatſache, 
daß die Eindrüdlichkeit der Zeitereigniffe die Maſſen des ganzen Volkes erſchütterte 
und mit derſelben gewaltſamen Beſchleunigung auch die ſtudentiſche Jugend aus 
ihrem gleichgültig- trivialen Sonderdaſein emporriß. Ein neues Studententum ſteht 
faſt plötzlich da, ohne daß wir mit den Belegen des Hiſtorikers ganz genau der Ent- 
wicklung nachzukommen wüßten. Auf fie gewirkt haben Zeitgeſtalten wie Ferdi- 
nand v. Schill, Deuter wie Jahn — mit all feinen Schrullen der lehrkräftigſte Ber- 
breiter der Gutsmuthſchen Ideen einer germaniſch wehrfähigen, der Reinheit ihres 


Zürmers Tagebuch 867 


gefunden, geübten Körpers ſtolzen Jugend —, Dichter wie Fouqué, Schenkendorf, 
Rückert, am meiſten aber immer Ernſt Moritz Arndt, auch eine Anzahl lebensvoller 
Profeſſoren, die ſich nicht länger ſcheuen, vom Katheder einmal das zu ſagen, was 
die Beſten in ſolchen Tagen durchbebt. Sodann aber ganz perſönlich Fichte; zu 
Berlin, wie früher ſchon zu Jena, tritt er in unmittelbare Verbindung mit den 
Studenten, mit feinem ganzen Stolz und mit feiner ganzen hinreißenden Schön- 
heit ſpricht er zu ihnen von den Zdeenloſen als einer zu fliehenden Peſt; aus der 
Erkenntnis einer falſchen und niedrigen Freiheit, einer bewußten Verwilderung“ 
erregt er ſie zum Bruch mit der akademiſchen Bisherigkeit, und er hat mit ihnen 
und mit anderen Erziehern über die ſchriftlichen Entwürfe eines ſtudentiſch-deutſchen 
Züngerbundes beraten und korreſpondiert, wodurch der erſte feſte Grund zu der 
zwei Jahre nach ſeinem Tode verkündeten Burſchenſchaft gelegt worden iſt. Dieſe 
Männer mögen die deutlichſten Vermittler erſcheinen. Wer ſich in geſchichtliche 
Kommersbuchſtudien vertieft, nimmt eindrucksvoll wahr, wie um das Jahr 1809 
vor die überlieferten Liederbeſtände des Trinkens, des Knaſters, der Liebe, des 
ſorgloſen Burſchen eine Neuſchicht von Geſängen der Freiheit, der Männlichkeit, 
des Vaterlands hinzutritt. Namen von Oichtern tauchen auf, über die keine Literatur- 
geſchichte Nachrichten hat, obwohl ſie bis heute in den allbekannten Liederbüchern 
ſtehen, und nicht kleiner iſt die Zahl von Liedern aus jener Zeit, deren Urheber 
nie bekannt geworden ſind. Aus der eigenen Mitte der Studentenſchaft blühen 
dieſe ſchwurhaften neuen Lieder auf, die eine ſo völlig gewandelte Sprache reden. 
Das Rappier, der Schläger find nun das ‚deutfche Schwert‘, das zu den vater- 
ländiſchen Geſängen klingt, an die Stelle des hochmütigen Burſchen, der nach 
nichts zu fragen braucht, ijt in dieſer neuen Ausdrucksweiſe ber ,‚deutſche Züng- 
ling‘ getreten, der Hüter und Träger fei von echtem deutſchen alten Brauch: Fröm- 
migkeit, Keuſchheit, Tapferkeit, Vaterlandstreue und Bruderſinn. Das Über- 
raſchendſte, Schönſte aus allem iſt es, wie nach der gewohnheitsmäßigen Spötterei 
nun der religiöſe Glaube ſich zum Bekenntnis frei und 
neu erhebt. Zwar in dieſen Liedern begründet fic das nur durch die, deutſche“ 
Frömmigkeit, aber nichtsdeſtoweniger ſteht es im innigſten, auch notwendigſten 
Zuſammenhang mit dem Gelübdeſinn, der durch die Jugend geht und der fie aus 
fih ſelbſt nach einem Höheren verlangend macht, um ihre feſteſte Kraft und Zu- 
verſicht aus ihm ehrfürchtig zu entnehmen. Der „Gott der Väter“ und das Dater- 
land gehören fo eng zuſammen, wie ‚des Deutſchen frommer Sinn“ und der alten 
Ahnen Tugend. Was literariſch verklungen, ja weggehöhnt erſchien, wird nun 
zum wahren Begeifterungshort der Jugend. Die Hermannsgeſänge aus Klopſtocks 
Zeiten, die Sprache des Hainbundes, die Bardenphantaſien wachen von neuem 
auf; in der von A. Methfeſſel geſchaffenen neuen Singweiſe wird Matthias Clau- 
dius’ Hochgeſang vom Vaterland der Treue, vom freien, unbezwungnen Land 
für bie um vierzig Fahre jüngere Generation ein die Herzen mit Ungeſtüm hinan- 
reißendes Studentenlied. Aber nun, indem man von der deutſchen Freiheit ſingt 
und Schillers brauſendes Reiterlied in kräftig nachempfundenen Liedern der Kriegs- 
erwartung variiert, horcht man auch ganz anders auf: auf welche Weife kürzlich 
von den größten Geiſtern der Nation aus der inneren Freiheit des Mannes, aus 


868 Türmers Tagebuch 


ſeiner ſich ſelbſt an den hohen Entſchluß hingebenden Treue der Adel der Vater— 
landsgeſinnung begründet worden ijt. Das foll nicht ſagen, daß man fo allgemein- 
hin fähig geworden ſei, zu würdigen, was für die öffentliche Fortentwickelung 
die Lehren der idealiſtiſchen Staatsphiloſophie bedeuteten. Aber man nimmt ſie 
in der Schillerſchen Vermittlung in fic auf, man hört fie durch die kraftvolle Arndt- 
ſche Auffaſſung von Pflicht und Frömmigkeit hindurch; man iſt doch imſtande, in 
den preußiſchen großen Reformen der Stein, Scharnhorſt, Hardenberg die ideen- 
hafte Kündung eines neuen Staats- Bürgertums zu verſtehen, die Einſetzung des 
kategoriſchen Imperativs an Stelle der bloßen Staatsuntertanheit, eines un- 
freien Sehorſams. Die ſtudierende Jugend, die vor kurzem noch höchſtens an die 
künftige Staatskarriere nach den gewöhnlichen Rezepten der Gunſtſuche und der 
Standesüberlieferungen gedacht, nimmt es für ſich in Pflicht und Recht, das Bater- 
land, Deutſchland, von feiner Schwäche und Schmach zu löſen und nicht mehr zu 
raften, bis fie ihm ‚Einheit, Freiheit und Recht“ nach dem Traumbild ſchönerer 
Vergangenheit zurückgebracht. 

Es hieße unendlich oft Geſagtes wiederholen, auf die romantiſch-lyriſchen 
Fehlerquellen in dieſem Zieldenken der Generation der Freiheitskriege noch wieder 
einzugehen. Die Nachweiſe, an denen hier gelegen iſt, wollten auf den Umfang 
der eingetretenen Wandlung, auf die ſeeliſchen Qualitäten darin deuten, und auf 
die eigentlichen letzten Gründe. Die Selbſterkenntnis der napoleoniſchen Tage 
hat aufrüttelnd und erſchütternd mitgewirkt, aber allein hätte ſie es nicht machen 
können; ohne die Geiſtesereigniſſe ſeit den Klopſtock und Leſſing, die nunmehr zu 
der Jugend dringen, hätte für ſie, ſo wie Anno 1806 das heilige römiſche Reich, 
auch noch Preußen und das übrige klanglos zugrunde gehen können. 

„Einfach und gläubig fei, kräftig und keuſch und frei Hermanns Gefdledt!... 
Gott-Vater! dir zum Ruhm flammt deutſches Rittertum in uns aufs neu’; neu 
wird das alte Band, wachſend wie Feuersbrand, Gott, Freiheit, Vaterland, alt- 
deutſche Trew! Das ift die Sprache, worin diefe neue Jugend denkt, in ihrer 
ſteten geſchichts-romantiſchen Beziehung, aus der fie ſich am unmittelbarſten zu 
feſtigen und zu vertiefen ſucht. Wie Preußen für die Stein und 
Fichte, ja die Gneiſenau und Blücher kein Selbſtzweck, 
ſondern das fähige Werkzeug zur Wiederaufrichtung 
Deutſchlands ijf Jo denkt nicht anders und nur entidie 
dener noch der Sinn der vaterländiſch durchglühten 
Jugend. Und deshalb erſchöpfte fih ihr Wille und Ziel auch nicht im Zubel ber 
Begeiſterung, womit in den erlöſenden Märztagen von 1815 die Preußen die 
Waffen ergriffen, die Studenten auf die Sammelplätze zogen, die größeren Schüler 
— aus Berlin allein 370 Gymnaſiaſten — ſich in die Regimenter oder unter die 
freiwilligen Jäger reihten, aus dem Königreich Weſtfalen, dem Großherzogtum 
Berg, den franzöſiſchen Nordſeegebieten die Studenten der vormals preußiſchen 
Landesteile zu den Fahnen Friedrich Wilhelms III. als Freiwillige marſchierten, 
ſelbſt aus den Rheinbundſtaaten kampfbegeiſterte junge Männer zu Preußen traten. 
Wir kennten dieſe letzteren mehr und hätten genauere Zahlen, hätte man damals 
überhaupt viel acht gegeben, wer verpflichtet, wer freiwillig kam. Sie waren 


Türmers Tagebuch 869 


deutſche Jünglinge“, und anders kennen fie auch die Nachrufe auf diefe Frei- 
willigen nicht, bie im heiligen Kampfe blieben, wie Frieſen aus Magdeburg, Eckardt 
aus bem Mansfeldiſchen, Graf Chriſtian Stolberg vom Harz, Körner aus Dresden. 
Das Fichteſche „,‚Deutſch ſchlechtweg“ war der Inhalt der 
Jugend, und fo wollte fie nun bleiben und Träger, Begründer einer neuen 
Zukunft ſein. | 

Unftreitig ijt es fo am meiſten ihr Verdienſt, daß bie Herzensaufwallungen 
aus der großen Zeit wach und rege blieben, als man dann wieder alltäglich in der 
Bureaukratie dahinlebte oder die Fürſtenräte und Hofmarſchälle, von denen Uhland 
zürnend ſprach, vom allgemeinen Bürgertum her kaum einen Widerſtand fanden, 
wenn ſie nun wieder alles abdämpften und ſachte zudeckten, was im Frühjahr 1813 
gejubelt und verheißen war. Das Temperament der Enttäuſchung, das Herz- 
klopfen der Entrüſtung, die Unmöglichkeit, ſich zufrieden zu geben, ſammeln, 
ſtauen ſich an bei der neuen Studentengeneration, nebſt denen von den Alteren, 
die innerlich zu ihr gehören. Das Gefühl, daß bei ihnen die verwaiſte Pflicht des 
Vaterlandes liegt, gibt dieſen akademiſchen Burſchen feit 1815 das Ernſthafte, 
Männliche, Getragene, das ihnen eigen ijt. Gewiß, es gibt ihnen die Überſchätzung 
ihrer Zuſtändigkeit, die Schnellfertigkeit ihrer idealiſtiſchen und zugleich romanti- 
ſchen Methodik. „Ideale und Irrtümer“ hat einer dieſer Burſchenſchafter das Buch 
feines ſpäteren Rüdblids überſchrieben, der Kirchenhiſtoriker Karl Hafe. Die Irr- 
tümer liegen vor allem auf dem Gebiet der Politik und zum Teil auch auf dem 
ſtudentiſchen, indem man die leichtgebauten Konſtruktionen des Wunſchdenkens 
und des Prinzipiendenkens auch auf dieſes übertrug. Bei alledem kann aus jenen 
Sdealismen niemals ein objektiver Vorwurf bes Falſchen abgeleitet werden. Denn 
durch fie hindurch ſtrebte nun doch den Wirklichkeiten zu, was aus der großen deut- 
ſchen Dichtungszeit und aus den Stufenfolgen der Ideenphiloſophie für ein neues 
Allgemeinheitsgedenken gewonnen und erreichbar geworden war. Sn der all- 
ſeitigen Klarſichtigkeit der Nealpolitit läge immer auch deren Kurzſichtigkeit be- 
dingt. Die hinausführenden Ziele, die auch die höherführenden ſind, ſind immer 
nur von der Zdee aufzurichten, die fie dann der Erkenntnismethode, der Real- 
politik, zu erreichen als die Aufgabe ſtellt. Und inſofern, als dies der Inhalt des 
weiteren Jahrhunderts geworden ijt, wölbt fid) alles in die große Folgerichtigkeit 
des Geſchichtlichen zuſammen. Aus dem Fond der Geheimratsgedanken hätte der 
große Heros des 19. Jahrhunderts nie den Deutjchen ihr politiſches und ihr volt- 
liches Neuerſtehen gebracht. 

Es iſt der am wenigſten ſtichhaltige Vorwurf, den man gegen die Jugend 
von 1813 und 1815 erhoben hat, daß ſie auch weiterhin an Preußen hätte anknüpfen 
müſſen, für welches ſie im Befreiungskrieg gekämpft. In Wirklichkeit iſt vielmehr 
das von höchſter Wichtigkeit geworden, daß ſie ſo unbekümmert bei ihrem 
„Nicht Preußen — Deutſchland!“ blieb. Nicht lächerliche Verkehrtheit 
und unglückliche Selbſtbehinderung war es, daß ſie ſich in der größeren ſtudentiſchen 
Bewegungsfreiheit nichtpreußiſcher Univerſitäten, Jena, Erlangen, Tübingen, 
Gießen, Heidelberg ihre Hauptquartiere ſchuf. Gerade auch auf dieſe Weiſe hat 
jie das Fichteſche Wort am beſten erfüllt, daß ‚das alte Geſchlecht bis auf den letzten 


870 Zürmers Tagebuch 


Mann verſchwinden miiffe’. Nichts bat fo febr, als fie, ben triumphierenden Parti- 
tularismus, das alte und undeutſche Rheinbündlertum der Geſinnungen zurück- 
gedrängt. Wenn in den folgenden Jahrzehnten aus dem württembergiſchen Schwa- 
ben ſo bedeutende geiſtige Führer zu deutſchen Zielen im Anſchluß an Preußen 
entſtanden ſind, wenn um 1840 herum die badiſchen Univerſitäten geradezu der 
geiſtige Nährboden der deutſchen Bewegung genannt werden können, ſo iſt das 
nicht zum wenigſten ein Verdienſt der Studentenſchaft, die auch darauf Einfluß 
übte, daß die literariſche und germaniſtiſche Romantik in zunehmender Gefinnungs- 
bewußtheit mit dem politiſch-deutſchen Gedanken in Fühlung und Gemeinſchaft 
blieb. Denn abgeſehen davon, daß nun aus den Burſchenſchaftern eine ungewöhn- 
liche Zahl von Profeſſoren, zumal Theologen, Philoſophen, Hiſtorikern, Philo- 
logen, Staatswiſſenſchaftlern, heranwuchſen, weiß es jeder Kundige, daß nicht 
bloß die Profeſſoren die Studenten lehren, ſondern auch der ſtudentiſche Geiſt der 
Hochſchulen auf die Temperamente und Zdealismen der Profeſſoren, die mit der 
Jugend jung zu bleiben wünſchen, eine erhebliche Wirkung übt. Nomantiſch unb 
poeſievoll deutſch iſt dieſes neue idealiſtiſche Geſchlecht, was auch in den weiteren 
Jahrzehnten ſeinen Ausdruck durch eine lebendige Fülle ſchöner Lieder ſucht — in 
den vaterländiſchen und feſtlichen Abteilungen der ſtudentiſchen Sangesbücher, 
unter deren Redaktoren wir nun G. Schwab und andere treffliche Dichter finden. 
Nicht ſtrenger aber kann zwiſchen der neuen Zeit feit 1813 und der erft jo nahe 
zurückliegenden akademiſchen Vergangenheit das Tiſchtuch zerſchnitten werden, als 
durch die gelübdehafte Ehrbarkeit und Reinheit, die in den ſtudentiſchen Anfchau- 
ungen und Satzungen für die Achtung deſſen, der ein Freund und Bruder ſein darf, 
maßgebend werden. Ob auch das 19. Jahrhundert durch noch fo viele Verworren- 
heit auf den Geſamtgebieten des politiſchen Denkens, infolge feiner einſeitig idea- 
liſtiſchen Herkunft, erft hindurchgemußt bat, fo bleibt doch dieſem Jahrhundert, 
welches aus der Generation der Jugend von 1815 aufgewachſen iſt, für immer der 
Ruhm in aller künftigen Geſchichte, eines der ſchönſten an männlicher Freudigkeit, 
Treue, Opferwilligkeit, geiſtiger Schwungkraft und edler, großſinniger Willens- 
aufrichtigkeit geweſen zu ſein.“ 
* * 
x 

In feiner Rede zur Eröffnung des Königsberger Provinziallandtags fagte 
der Kaiſer unter anderem: „Aber die Ereigniſſe vor hundert Jahren mahnen uns 
eindringlich daran, daß nicht kriegeriſche Lorbeern, nicht Wohlſtand, Macht und 
Anſehn am letzten Ende das Schickſal und die Zukunft eines Volkes ſichern, ſondern 
allein die ſittliche Kraft, die ihm innewohnt. Ohne ſie hätte unſer 
Volk vor hundert Jahren die ſchwere Prüfung nicht beſtehen können.“ Das iſt im 
Kern das ſelbe, was Fichte mit anderen Worten ausdrückt: „Anſere älteſten Bor- 
fahren und alle anderen in der Weltgeſchichte, die ihres Sinnes waren, haben ge- 
ſiegt, weil das Ewige fie begeiſterte, und fo fiegt immer und notwendig dieſe Be- 
geiſterung über den, der nicht begeiſtert iſt. Nicht die Gewalt der Arme, noch die 
Tüchtigkeit der Waffe, ſondern die Kraft des Gemüts iſt es, welche 
Siege erkämpft.“ 


Gürmete Tagebuch 871 


Die Kraft des Gemüts, — ja, die ift es! Wie aber ftehen bann wir da? 

„Wir leben im Zeitalter des allgemeinen Proletentums“, grollt Wilhelm Schwaner 
in ſeinem „Volkserzieher“: „Oben ſitzen die Proleten des Herzens, unten die 
bes Hauſes, überall ſolche des Geiſtes. Überall beſonders Proleten des G ew if- 
ſens. Oder iſt's etwas anderes als eine Armut des Gewiſſens, aus der heraus 
bie ſogenannten Großmächte Europas in den letzten Fanuartagen dieſes Jahres 
den Türken rieten, Adrianopel an die Bulgaren abzutreten? Konnte eine ſcheuß⸗ 
lichere und verlogenere Begründung erdacht werden als die von der ferneren 
moraliſchen und finanziellen Unterſtützung, wenn die Türkei ‚artig‘ fei? Kann es 
für uns Deutſche etwas Niederdrückenderes geben als die Mitbeteiligung unſerer 
Regierung an ſolchem Handelsjudengeſchäft? Werden auch wir demnächſt Elſaß 
und Lothringen an bie Franzoſen abtreten und die Kolonien und Inſeln zur Ver- 
fügung der Weſtmächte ftellen, damit wir der ,moralifden und finanziellen Hilfe“ 
Europas ficher find? Wahrlich: nach biejem ‚Meifterftüd der Diplomatie‘ . . . können 
wir noch auf allerlei Überrafhungen gefaßt fein. Dafür ſtehen wir aber auch jetzt 
‚ausgezeichnet‘ mit den Engländern, können außerdem ungeſtört bie Jahrhundert- 
feier von 1815 und das Silberfeſt von 1888 begehen. Mit Trommel- und mit 
Paukenſchlag. 
9 Uns drückt und treibt das ſchlechte Gewiſſen, die Angſt vor bem eigenen 
Volke, wenigſtens vor dem, was man Volk nennt: ,die da unten“. Und man iſt 
zu hochmütig, zu bequem und zu dumm geworden, mit denen da unten menſchlich 
umzugehen. Man würde ſich zwar ihrer erinnern, wenn wieder mal ein 1806 und 1807 
tame, wenn es gilt, die da oben herauszureißen aus der Patſche, in die fie ſich durch 
ihre Abgeſchloſſenheit und ihren Luxus gebracht; aber wer weiß, ob diesmal nicht 
ſogar der Bauer und der Handwerker verſagte! Denn auch in dieſen aus Tradition 
patriotiſch geſinnten Kreiſen ift man mißvergnügt und gleichgültig geworden.“ 
Selbſt dort, wo demokratiſche Blätter nicht hinkommen, ſelbſt dort, wo „ſtaats- 
erhaltende“ beruhigend wirken, ſelbſt dort ſchelte man kräftig über den Kapitaliſten- 
ring, der unjeren Hof umgebe, und über maßloſe Verſchwendung für welt- 
politiſche oder dynaſtiſche Zwecke: „Und es wird nicht lange mehr dauern, daß der 
allgemeine Unwille fid) in gemeinſamen Kundgebungen und Taten Luft macht. 
Der Bauer iſt nicht mehr der getreue Diener ſeines Herrn Pfarrers, und der Lehrer 
hat nie beſonderen Einfluß auf ihn ausgeübt, weshalb es auch albern iſt, gerade ihm 
irgendwelche Schuld beizumeſſen für ſchlechte, regierungsfeindliche Wahlen. Die 
Lehrer find außerdem nicht Regierungslebrer, ſondern Volkslehrer! Und wenn die 
mittleren und oberen Beamten das endlich auch für ſich begreifen wollten, daß ſie 
um des Volkes willen da ſind, nicht das Volk um der Beamten und Fürſten willen, 
dann wäre vielleicht heute noch ein Zurückebben der roten, der ſchwarzen und der 
grünen Flut möglich. Aber auf dieſen Kurs: ‚Alles um des deutſchen Volkes willen‘ 
ſind unſere mehr wiſſenſchaftlich als patriotiſch geſchulten Beamten nicht geſtimmt. 
Sie kennen leider nur „Order parieren“ nach oben, keine Rüdficht auf die Gefamt- 
heit, obgleich fie doch im Golde eben dieſer Geſamtheit (teben ... 

Nicht um derer willen da oben, ſondern um unſeres Volkes willen bitte ich 
alle, die zu uns gehören, alle, alle: Hand anzulegen, daß diefe verheerende Gleich- 


912 Zünners Tagebuch 


gültigkeit in nationalen und volklichen Fragen ein Ende nehme. Wenn ich in den 
großen Tageszeitungen ganze Spalten finde über ben ,enblid) erwiſchten“ Raub- 
mörder Sternickel, ganze Spalten über den Diplomatenrummel von London oder 
bie Präſidentenwahl in Paris, Spalten über die Sanuarfeiern bei Hofe und die 
vielen taufend Ordensverleihungen — während drunten am Balkan wildernde 
Hunde an Menſchenknochen nagen, bei uns... auf dem Lande der deutſche Bauer 
und der Handwerker ſyſtematiſch zum Geldſackſklaven erzogen wird; wenn ich immer 
deutlicher ſehe, wie der Großkapitalismus Fürſten, Millionäre und Geheimräte 
zu Halbgöttern einer faulen Ubertultur erhebt, während er das Volk, dieſes wunder- 
volle deutſche Volk, zu Arbeitstieren oder duckmäuſerigen Sklaven herabwürdigt, 
wenn ich die geiſtige Armut bei Bauern, Handwerkern und Beamten aller Art 
überhandnehmen ſehe — von der ſeeliſchen und religiöfen gar nicht erſt zu ſprechen! — 
dann möchte ich aufſchreien vor Schmerz und vor Angſt! Und wenn ich mir dann 
noch die vielen falſchen Propheten anſehe, dieſe Helden der intellektuellen Phraſe 
und des ſelbſt zugelegten Titels, dieſe Erlöſer um des eigenen Namens willen, — 
dann möchte man wohl manchmal wünſchen, daß ein heiliges Gottesdonnerwetter 
wieder mal kräftig die Völkerluft reinigte. Kommen wird es, ſo gewiß, wie der 
Dreißigjährige und der Siebenjährige Krieg, ſo gewiß, wie die napoleoniſche und 
die Achtundvierziger Zeit dezimierend und reinigend gewirkt hat. Und ich glaube, 
das Welten- und Völkergewitter ift näher, als wir alle ahnen ... 

Wollen wir Feſte feiern ober follen wir Burgen bauen, in die das Beſte ge- 
rettet werden kann aus der ſchönen alten und der reichen neuen Beit? ... 

Ich muß immer unb immer wieder fragen: Sollten wir nicht etwas vorſichti- 
ger und zurückhaltender mit unſeren Feſten ſein? Haben wir vergeſſen, daß vor 
1813 die ſchrecklichen Fabre 1806 und 1812 lagen, und daß denen 1793 und 1789 
vorausgingen? Haben wir vergeſſen, daß nach der Volkserhebung von 1815 die 
Volksbedrückung der Jahre bis 1848 als eine Zeit ſchwerſter Enttäuſchung, ge- 
brochener Eide und ſchwärzeſter Reaktion folgte? Und daß das Blut der deutſchen 
Revolution eine Folge war der Verfehlungen, die man da oben beging? Genau 
wie 1789 und 1793 in Frankreich? Haben wir vergeffen, daß in 1888, dem Anfangs- 
jahr der letzten Zubelperiode, Wilhelm I. und Friedrich III. ſtarben, zwei Hohen- 
zollern, von denen uns der eine durch weiſe Zurückhaltung eigener Wünfche und 
kluge Auswahl tüchtiger Männer in entſcheidenden Augenblicken wirklich als ein 
Großer erſcheint; von denen der andere unſerem Herzen beſonders nahe ſtand durch 
die Leutſeligkeit ſeines Weſens, durch das Imponierende ſeiner Göttergeſtalt und 
die Tragik feines entſetzlichen Unterganges? Und daß mit dieſen beiden Helden- 
zeiten und Hoffnungen ſchönſter Art zu Grabe getragen wurden? Daß wir feit- 
dem wohl einen fünfundzwanzigjährigen Frieden im eigenen Lande genießen und 
einen wirtſchaftlichen Aufſchwung ohnegleichen; daß wir aber rundum von Feinden 
umgeben ſind, die mit wahrer Wolfsgier auf den Augenblick und den Wink zum 
Losſchlagen warten; daß wir nur zwei Freunde haben, von denen aber der eine 
uneins in fid) ſelber ijt, während der andere unausgeſetzt an ‚Ertratouren‘ mit 
unſerem Gegner denkt? Haben wir das alles vergeſſen? Und haben wir alſo 
Arſache, rauſchende Feſte zu feiern? Nein, nein, und dreimal nein. Wir haben um 


Türmers Tagebuch 875 


fo weniger Veranlaſſung, weil aud) wir uneins mit uns felber find! Oder glaubt 
jemand, daß die preußiſchen Polen im Ernſtfalle gegen ihre ſlawiſchen Brüder aus 
Rußland, die neuerdings franzöſelnden katholiſchen Elſäſſer und Lothringer gegen 
Frankreich kämpfen würden? Wer ſich da Zllufionen hingab, dem werden fie ge- 
wiß nach den Hetz und Brandreden des elſäſſiſchen Zentrumskoſaken, des katholiſchen 
Prieſters Wetterlé vergangen fein. Wir haben Verräter im eigenen Lande, unb 
bie Luftſchiff-Fabrikanten, die ihren Halbſtarren an England verkauften, die Pulver- 
macher, die ihre Ingenieure an Frankreich verliehen: fie find genau fold) hoch- 
verräteriſche Lumpen, wie der eidbrüchige Pfaffe, der den Franzoſen zuruft: 
„Jetzt ijt es Zeit, loszuſchlagen!“ ... Wir haben alſo nicht die geringſte Veranlaſſung, 
Feſte zu feiern und über die Zahlen 100 und 25 zu jubilieren. Bitte: was taten 
denn wir, um uns der Helden von 1815 und der Toten von 1888 würdig zu et- 
weiſen? Bitte: was taten wir für unfer Vater, Mutter- und Kinderland?! Was 
taten wir für unſere Jugend, um fie den Klauen des geiſtigen und wirtfchaftlichen 
Internationalismus zu entreißen? Durch Erheben von den Sitzen, durch Erheben 
der gefüllten Bierhumpen, durch ‚gehobene‘ Feſtreden mit ‚Hoch‘ und „Hurra“ am 
Ende holen wir weder die Erhebung von 1813 noch die Helden von 1871 zurück...“ 

Welche Töne, meine Freunde! Za, es find bittere Worte, man wird fagen: 
zu bittere. Wie aber, wenn fie vielen, wenn fie — was wohl mehr bedeuten möchte — 
den Veften aus der Seele geſprochen fein ſollten? Ohne daß darum jeder gleich 
jedes Wort unterſchreiben müßte. Rücken wir den Dingen auf den Leib und ſehen 
wir zu, wie wir uns mit ihnen abfinden. Oder ſie mit uns? 

* * 


. 

Iſt nicht [don unfer Verhältnis zum Amerikanertum bezeichnend? Amerika! 
„Vor fünfzig Jahren“, wie Fred R. Minuth in der von ihm ſoeben begründeten 
Monatsſchrift „Der Deutſche Kulturträger“ (Grand Gaven, Michigan, Ver. St.) 
nachweiſt, „noch ein von geheimnisvollem Zauber umkleideter Laut, wunderbare 
Vorſtellungen in uns auslöſend, unter denen märchenhafte Goldſchätze die erſte 
Stelle einnahmen. Eine ſprudelnde Quelle abenteuerlicher Legenden; daneben 
des Bruder Jonathan köſtliche Geſtalt als Thema ber Unterhaltung in der Feier- 
ſtunde. — Der ,fpleenige Engländer‘ geriet ins Hintertreffen; der, närriſche Vankee“ 
nahm feine Stelle ein. Aus bem ‚närrifchen Dantee‘ wurde ein,, verrückter Yantee‘, 
und neben ihm ſchritt Wild- Weſt-Romantik. 

Dieſe Zeiten ſind jäh entſchwunden. — Vor den ſtaunenden Blicken der Alten 
Welt, die ihre Führerrolle in der Kulturmiſſion der Menſchheit für unerſchütterlich 
hielt, ſteht ein junger, gewaltiger Rieſe, der lächelnden Antlitzes Koloſſe bewegt, 
Traditionen auslöſcht, Kulturen umwertet und Länder erobert, ohne einen Schuß 
zu tun. Dieſe Wandlung vollzog ſich in aller Stille und mit ſolcher Plötzlichkeit, 
daß über die im bureaukratiſchen Schneckenſchritt gewöhnten Völker Europas 
ein Gefühl bänglicher Ahnungen kam, dem ſelbſt die Preſſe ſich nicht zu entziehen 
vermochte. Ganz Europa ſchwebte in Angſten vor der ‚amerikaniſchen Gefahr“. 

Längſt haben die Gemüter ſich wieder beruhigt. Man hat erkannt, daß 
Wunder auch in Amerika nicht vollbracht werden können. Man hat erkannt, daß 
die phänomenale Entwickelung des Landes auf ganz natürlichen Wegen vor ſich 


874 Türmers Tagebuch 


ging, und erblickt heute in den wirtſchaftlichen Erfolgen der Vereinigten Staaten 
keine Gefahr mehr für andere Völker, ſondern nur noch einen zum friedlichen Wett- 
kampf herausfordernden Kulturfaktor. 

Nachdem man ſich zu der Erkenntnis durchgerungen, erwachte in der Alten 
Welt ber Wunſch, es den Amerikanern gleich zu tun. Man glaubte, durch An- 
wendung der gleichen Methoden die gleichen Reſultate erzielen zu können, und die 
Periode der Reiſeſtudenten begann. Der erhoffte Nutzen ijt für Oeutſchland leider 
ausgeblieben. Einerſeits war man im Studium amerikaniſcher Verhältniſſe nicht 
gründlich genug, denn in wenigen Monaten flüchtigen Schauens vermag kein 
Menſch ein Land von der Ausdehnung der Vereinigten Staaten kennen zu lernen; 
andererſeits gehört zur Erzielung von wirtſchaftlichen Erfolgen, wie fie die Bereinig- 
ten Staaten in den letzten Jahrzehnten zu verzeichnen hatten, immerhin noch 
etwas mehr als nur die Kenntnis der Methoden. — Energie, Ausdauer, hoch ent- 
wickelte Technik und kühnes Wagen allein tun es nicht. Es muß auch bie mate- 
rielle Unterlage da ſein. Ohne die vorhandenen ungeheuren 
Naturſchätze wäre Amerika nie das Amerika von heute 
geworden. So war es nicht verwunderlich, daß die Reiſeſtudenten drüben 
mehr Verwirrung als Aufklärung herbeiführten. Aber das ahnte man drüben 
nicht. Im Gegenteil, man ſchwelgte in Begeiſterung. 

Einer dieſer Reiſeſtudenten wurde ſogar vom Kaiſer zum Vortrag über 
feine Studienfahrt befohlen; denn durch das Hervortreten der Vereinigten Staa- 
ten nicht nur auf wirtſchaftlichem, ſondern auch auf politiſchem Gebiete war das 
Intereſſe des Kaiſers für die junge, kühn emporſtrebende Nation in hohem Grade 
erregt worden. Als leitender Gedanke bewegte den Kaiſer dabei die Abſicht, aus 
den Errungenſchaften der Amerikaner Nutzen zu ziehen für das deutſche Volk. 
Es hätte in der Tat für Deutſchland mancherlei Gutes hieraus hervorgehen können, 
wenn, ſtatt der flüchtig ſchauenden Börſianer, Bureaukraten und Stubengelehrten, 
Männer des praktiſchen Lebens zu eingehendem Studium herübergekommen wären. 

Leider war auch der zum Vortrag beim Kaiſer befohlene Reiſeſtudent kein 
Fachmann, nicht einmal ein Gelehrter, ſondern ein erfolgreicher Börſiane r. Und 
fo geſchah es denn, daß dem Kaiſer ein gigantiſches, der Wirklichkeit nicht ent- 
ſprechendes Bild in glühenden Farben gemalt wurde von dem kühnen Wagen 
und den gewaltigen Werken des amerikaniſchen Volkes, von der Großmächtigkeit 
feiner Preſſe, von den unerſchöpflichen Reichtümern und den ‚unbegrenzten Mög- 
lichkeiten“ des Wunderlandes unter dem Sternenbanner. Und der Kaiſer war hin- 
geriffen von der ,lebenstvabren' Schilderung. — Es erſtanden die ,Rommanbieren- 
den Generäle“ am Redaktionstiſche, die „Induſtrie-Kapitäne“ und manche mehr, 
ganz beſonders aber eine unzutreffende Vorſtellung von amerikaniſchen Zuſtänden 
im Geiſte des Kaiſers. 

Wirken Irrtümer ſolcher Art (don bei dem einfachen Manne äußerſt folgen- 
ſchwer, wie wir das hier oft an den furchtbar Enttäuſchten ſehen können, die in 
Amerika ein Dorado zu finden wähnten unb eine Hölle fanden, um wieviel ſchwer⸗ 
wiegender muß der ſchädliche Einfluß fein, wenn ſolche Irrtümer bei einem im- 
pulſiven Monarchen zur Geltung kommen! 


Tilrmers Tagebuch 875 


Aus dieſen Irrtümern ging in der Vorſtellung des Raifers die unzutreffende 
Annahme hervor, die amerikaniſchen Multimillionäre ſeien die Männer, die das 
Land zu jener hohen Blüte gebracht, welche die Blicke der Welt auf Amerika lenkte. 
Beeinflußt von dieſer Vorausſetzung begann der Kaiſer jene Leute auszuzeichnen: 
et lud fie gelegentlich der Kieler Woche zu fid) zu Gajte, ehrte fie durch einen Gegen- 
beſuch und verlieh ihnen Orden. In Wirklichkeit aber können dieſe 
Geldmenſchen nicht den geringſten Anſpruch auf ein 
Verdienſt um die kulturelle Erſchließung des Landes 
erheben. Jede Förderung kulturellen Fortſchritts ihrerſeits ging aus dem An- 
trieb zur Ergatterung von Millionenprofiten hervor. Wo keine Millionenprofite 
winkten, da verhielten fie fih ablehnend. Als Beiſpiel fei hier nur die Landwirt- 
ſchaft angeführt, die doch das Fundament eines jeden Staatsweſens bildet und die 
in den Vereinigten Staaten allein von dem ‚Heinen Manne“ aufgebaut worden 
ist. — Wie die Spinne im Netz auf Beute lauert, jo lauerten diefe Geldmenſchen 
auf Gelegenheiten zur müheloſen Bereicherung an der Arbeit der anderen. Und 
wo ſolche Gelegenheiten fid) nicht auf natürlichem Wege bieten wollten, da haben 
fie diefe Gelegenheiten künſtlich herbeigeführt. Durch Börſenmache, durch fotrum- 
pierende Beeinfluſſung der Geſetzgebung zur wucheriſchen Ausbeutung des Volkes, 
durch Beſitzergreifung der Naturreichtümer des Landes unter Beihilfe beſtochener 
Beamten find fie zu ihren Milliardenvermögen gekommen. Das wiſſen in 
Amerika die Schuljungen. 

Nicht gering war darum das Staunen diesſeits des Ozeans über des 
Kaiſers Vorliebe für amerikaniſche Multimillionäre. Eine vornehme beutjd- 
amerikaniſche Zeitung republikaniſcher Tendenz ſchrieb damals: ‚Es ijt mert- 
würdig, daß der deutſche Raifer ſich für feinen Verkehr mit Amerikanern 
gerade ſolche Leute ausſucht, die in ihrem Heimatlande ſo wenig 
Achtung genießen.“ 

Wir haben dafür nur eine und wahrſcheinlich die richtige Erklärung: An- 
geſichts der Tatſache, daß Tauſende intelligenter Leute trotz genialer Leiſtungen 
es in der Regel nicht vermögen, über alltäglichen Wohlſtand hinauszukommen, 
viele ſogar aus Mangel am Nötigſten zugrunde gehen, hält man jene Wenigen, 
denen es gelang, Millionenvermögen zuſammenzuraffen, für außerordentlich bet- 
vorragend begabte, geniale Menſchen. 

Das ift ein Zrrtum. Die Anhäufung von Millionenvermögen erfordert 
ganz andere Eigenſchaften und Vorbedingungen. Aber nur wenige wiſſen, 
‚wie es gemacht wird“. Ganz beſonders find vornehme Charaktere hier dem Irr- 
tume preisgegeben; denn zwiſchen Vornehmheit und amerikaniſchem Millionen- 
erwerb gähnt eine Siriusweite. Der Zufall ſtellte einen geriſſenen Burſchen 
zur rechten Zeit auf den rechten Platz; ein Gaunerſtreich verſchaffte ihm 
vor Tauſenden von intelligenten Leuten einen Vorſprung, der nie eingeholt 
werden konnte, und das übrige ergab ſich dann, nach dem Geſetz der kapitaliſtiſchen 
Zentripetalkraft, von ſelbſt. 

Nicht die Multimilliondre haben aus dem vor wenig mehr als hundert Jah- 
ren noch unerſchloſſenen, in jeder Hinſicht von Europa abhängigen Lande das heutige 


876 Zürmers Tagebuch 


kulturell hochſtehende Amerika geſchaffen, ſondern die Vertreter der geologiſchen 
und techniſchen Wiſſenſchaften, im Verein mit den Männern der harten Fauſt, 
haben es getan. Und unter ihnen ein f e b r großer Prozentſatz ſolcher de ut ſch err 
Nationalität! Aus der Kulturarbeit dieſer Männer — und wahrlich nicht zum 
wenigſten auf landwirtſchaftlichem Gebiet! — ſind die „Gelegenheiten“ hervor- 
gegangen, die jene geriſſenen Burſchen mit echt amerikaniſcher smartness, har t 
an der Pforte des Zuchthauſes vorbei, auszubeuten ſich beeilten, 
bei denen ſie Multimillionen einheimſten, während die eigentlichen Erſchließer und 
Schöpfer jener Reichtümer leer ausgingen..“ 

Bei uns aber erſtirbt man in Ehrfurcht vor dieſen „Kulturſchöpfern, die 
der nüchterne Amerikaner (ber es doch beffer wiſſen muß) ganz einfach als Groß- 
gauner einſchätzt. 


* * 
K 


Auch die Balkanſlawen begannen uns bereits derart zu imponieren, daß wir 
darüber ganz der armen Türken vergaßen, denen wir doch jahrzehntelang — und 
war's nicht noch geſtern abend? — ewige Treue zugeſchworen hatten. Zur rechten 
Zeit befannen wir uns dann noch darauf, daß bie Saltanbünblet unſere , chriſtlichen 
Glaubensgenoſſen“ ſeien, die Türken hingegen verruchte Heiden. Wer noch an dem 
Ernſt ihrer chriſtlichen Geſinnung gezweifelt haben follte, wird jetzt eines Beſſeren 
belehrt worden ſein, nachdem es wahrlich nicht Schuld jener unſerer „geliebten 
Brüder in Chriſto“ iſt, wenn das nichtswürdige, ungetaufte iſlamitiſche Geſindel 
noch nicht vom Erdboden vertilgt ift... 

„Es wird noch eine Abrechnung zwiſchen dem chriſtlichen Europa, ſoweit es 
nicht die Grundlagen der chriſtlichen Humanität verleugnet, und dem ruchloſen, 
aller Kultur und Menſchlichkeit hohnſprechenden Treiben der mit den bulgariſchen 
und ſerbiſchen Heeren marſchierenden oder ihren Spuren folgenden Banden, den 
Komitadſchis, kommen müſſen, die ſchlimmer als die Hyänen überall da 
gehauſt haben, wo Wehrloſe das Unglück hatten, in ihre Hände zu fallen.“ So be- 
ginnt Profeſſor Schiemann in der „Kreuzzeitung“ feine Rundſchau über „Die 
äußere Politik der Woche“ vom 5. Februar. Er ſtellt dann feft, daß — Italien 
die Initiative ergriffen hat, um eine Unterſuchung der Greuel zu verlangen, die 
von dieſen Unmenſchen auf albaniſchem, mazedoniſchem und thrakiſchem Boden 
verũbt worden ſind. Sir Edward Grey habe ſich auf eine Anfrage des Unterhauſes 
hinter ein „ignoramus“ zurückgezogen, obgleich es ſeine Pflicht geweſen wäre, zu 
wiſſen, und England ja ſonſt nicht zu ſchweigen pflegt, wenn es ſich darum handelt, 
die Verletzung der Fundamente menſchlicher Sittlichkeit zu geißeln. 

„Dr. Ernft Saedb hat jid) in feinem Buch: ,Oeutfdland im Orient nach dem 
Balkankrieg“ (Martin Mörickes Verlag, München 1913) das Verdienſt erworben, 
an der Hand der Mitteilungen glaubwürdiger Zeugen die Tatſachen ans Licht 
zu ziehen, die fi zur Schande der Menſchheitin dieſem entſetzlichſten 
aller Kriege vollzogen. So widerwärtig es iſt, können wir es nicht umgehen, einen, 
wenn auch nur knappen, Auszug der Ausſagen deutſcher Zeugen: Beamte, Pafto- 
ren, Frauen, über das wiederzugeben, was ſie mit eigenen Augen geſehen haben, 


Zürmers Tagebuch 877 


und was, wie Dr. Saedh verſichert, durch amtliche Dokumente und 
Photographien beſtätigt wird. 

„Vas jetzt die Bulgaren treiben,“ heißt es in einem dieſer deutſchen Briefe, 
‚überfteigt ums Zehnfache alle Türkengreuel, und man könnte glauben, die Tage 
der Hunnen ſeien wiedergekehrt, oder man lebte in den ſchlimmſten Zeiten des 
Dreißigjährigen Krieges. Es ift immer die gleiche Geſchichte: was man von Män- 
nern in Dörfern und Städten findet, wird erbarmungslos totgeſchlagen; Frauen 
und Mädchen werden geſchändet, die Dörfer werden ausgeraubt und verbrannt, 
und was das Schwert und die Kugel noch verſchont, rafft Hunger und Froſt hinweg.“ 

Das wird dann an einer Reihe von Beiſpielen gezeigt: 

„In dem Dorf Petropo wurden zwei junge Mädchen vor den Augen ihrer 
Mutter vergewaltigt; dieſe konnte es nicht anſchauen, ſie ergriff eine Flinte und 
ſchoß. Es war das Signal eines furchtbaren Blutbades. Man ſammelte alle Frauen 
und Mädchen, ſchloß ſie in das Cafs des Dorfes ein und zündete es an. Alle kamen 
unter herzzerreißendem Schreien in den Flammen um.“ 

Dieſer Fall iſt aber typiſch. Er wird noch teufliſcher, wo, wie es die Bande 
von Tono Nekolow und Dede Dontſcho tat, an den unglücklichen Opfern vorher 
die chriſtliche (1!) Taufe vollzogen wurde. In dem Dorfe Eſehkeli bei Kilikiſch hat 
man zehn junge Mädchen ſchließlich (1) lebendig begraben. Eine öfter- 
reichiſche Dame ſchreibt ihrem Bruder aus Kawalla u. a.: 

„Leute, die kein anderes Verbrechen begangen hatten, als Mohammedaner 
zu ſein, und zwar die Vornehmſten der Stadt, wurden gefangengenommen und 
ohne Prozedur auf bie grauſamſte Art hingerichtet. Um Nitternacht wurden bie 
Gefangenen geweckt, bis auf Hemd und Unterhoſen entkleidet, je drei und drei 
zuſammengebunden, zuerſt mit dem Bajonett in alle Weichteile ... geſtochen, fo- 
dann die Gewehrkolben umgedreht und die armen Teufel niedergeſchlagen wie 
bie tollen Hunde. Da waren alle Alters- und Rangklaſſen vorhanden. Die erſte 
Nacht wurden 39 hingerichtet, die zweite 15 uſw. ... In Serres ſetzten fid) die 
Türken zur Wehr und ſchoſſen zwei Soldaten nieder. Da zog deren Offizier die 
Uhr und ſagte: „Jetzt iſt's vier Uhr, bis morgen um vier Uhr könnt ihr mit den 
Türken machen, was ihr wollt!“ Diefe Beſtien ermordeten in den vierundzwanzig 
Stunden 1200, nach anderen gar 1900 Türken. 

Unzweifelhaft hat der Kreuzzugs aufruf des Zaren Ferdi- 
nand mit ſchuld an dieſen Scheußlichkeiten. Oberſt Veit erzählt, daß die Romi- 
tadſchis ſämtliche mohammedaniſchen Niederlaſſungen zwiſchen Tſchataldſcha und 
Adrianopel niederbrannten. 

„Es ſteht heute kein Haus, keine Hütte mehr, alles ging in Flammen auf, 
ein ſchauriges Bild ſcheußlichſter Zerſtörungswut, menſchenleer und öde, das ſchöne 
Land auf ein Menſchenalter hin verödet! Die einzigen Lebenden ſind die 
Hunde, ſie bellen aus den Trümmern des Elends den Menſchen an, den Urheber 
dieſes wahnſinnigen Werkes. Viele Tauſende verarmter Familien wanderten aus, 
ihre kümmerliche Habe mit Weib und Kind und Büffelwagen durch den Kot bis vor 
die Tore Konſtantinopels ziehend, wo jetzt der Hunger ſie quält. Kein Laut der 
Verzweiflung, kein Schrei der Verwünſchung, kein Betteln nach Brot, von Mais- 


878 Zürmers Tagebuch 


kolben fid) kümmerlich ernährend, das Elend vor Augen, wenn ihnen nicht geholfen 
wird! In Büßjük Kardiſtan traf ich ſelbſt Dutzende von türkiſchen Verwundeten, 
die die fliehende Truppe nicht hatte mitnehmen können, von bulgariſchen Patrouil- 
len ſchwer verſtümmelt — ein entſetzlicher Anblick! Wir Offiziere haben manchen 
Kriegskorreſpondenten erzählt: in flammender Schrift ſollten Sie dieſe Greuel 
über die Erde verkünden. 

Dagegen ſind alle Berichte des Lobes der Türken voll, ſo die des Hauptmanns 
Rein und des Profeſſors Dühring. Der letztere jagt, ba er von den Türken ſpricht, 
bie[es brave, ehrliche, gute und tapfere Boll, und ſchließt mit den Worten: ‚Der 
europdifden Kultur find fie nicht gewachſen, fie gehen neben ihr und an ihr zu- 
grunde. Hoffen wir, daß es der Türkei in Kleinaſien vergönnt fei, eine Wieder- 
geburt zu feiern, zu der im Volke alle Möglichkeiten und Gaben liegen: denn der 
Türke iſt fromm, treu, ehrlich, einfach und tapfer.“ Hauptmann Rein aber faßt 
ſein Wort in bas Bismarckſche Wort zuſammen: ‚Der Türke ijt der einzige Gentle- 
man des Oſtens.“ 

Was an Tatſachen — von denen hier nur ein kleiner Teil wiedergegeben iſt — 
mitgeteilt wird, iſt in der Tat entſetzlich, und wir verſtehen den Ruf, mit dem 
Dr. 8aedb das Kapitel abſchließt, das von dieſen Dingen handelt: Regt fid in 
ganz Europa immer noch keinerlei Wille — keine Hand der Humanität, keine 
Stimme der Ziviliſation? Angeſichts ſolcher documents humains — oder richtiger: 
inhumains! Angeſichts der photographiſchen Beweiſe!“ 

Nun, uns erſcheint es unglaublich, daß es ſich nicht regen ſollte, und daß die 
italieniſche Initiative wirkungslos verklingen könnte, trotz des ſchützenden Mantels, 
mit dem Rußland bemüht ijt, die Frevel feiner bulgariſchen und ſerbiſchen Schütz 
linge zu decken, trotz des Schweigens der franzöſiſchen Preſſe und trotz der eiſigen 
Kälte, mit der Sir Edward Grey ſeinen Ohren verbietet zu hören und ſeinen Augen 
zu ſehen. Vielleicht finden die Friedensgeſellſchaften hier ein fruchtbareres Feld 
ihrer Tätigkeit, als in den Bemühungen, das utopiſche Ziel eines Weltfriedens zu 
erreichen, für den alle Vorausſetzungen fehlen. Was in den letzten Monaten ſich auf 
der Balkanhalbinſel vollzogen hat, verlangt eine Sühne, und die Bulgaren, 
Serben und Griechen müſſen durch die Kraft der öffentlichen Meinung der Welt 
genötigt werden, über ſich ſelbſt zu Gericht zu ſitzen. Eben jetzt hat König Peter 
von Serbien jenen Oberſten Popowitſch in der ſerbiſchen Armee reaktiviert, der 
als einer der Mörder des Königs Alexander und der Königin Draga auf Verlangen 
Englands Hof und Armee verlaffen mußte; vielleicht ſteht er jetzt vor Adrianopel, 
wo aller Wahrſcheinlichkeit nach Raum für weitere Heldentaten zu finden 
fein wird ...“ 

„Vor dreißig oder vierzig Jahren“, lieft man — wiederum von völlig zu- 
verläſſiger Seite — in der „Chriſtlichen Welt“, „würde ein Sturm der Entrüſtung 
durch ganz Europa gegangen ſein. Zetzt ſcheint auch in dem chriſtlichen England 
jedes Mitgefühl abgeſtumpft zu fein. In Dedeagatſch lagen 600 bis 700 Mann 
türkiſcher Soldaten. Da drangen 107 bulgariſche Komitadſchis in die Stadt. Sie 
wußten den Schein der Übermacht zu erwecken, und bie türkiſchen Soldaten räum- 
ten das Feld. 200 Frauen und Kinder flüchteten in eine Moſchee 


Zürmers Tagebuch 879 


und wurden in die Luft geſprengt. Alles was Türke war, wurde nieder- 
gemacht, und auf den Straßen zählte man nachher 400 Leichen. Noch Furdyt- 
bareres bat der Bezirk Avret Hiſſar erlebt. In dem Dorfe Tſchinar wurde die 
Moſchee mit mehreren hundert Perſonen, die man dort zuſammengetrieben hatte, 
verbrannt. 60 Männer wurden maſſakriert. Dasſelbe tat man in dem Dorfe 
Kurkut. Man verbrannte hier einen Teil der Bevölkerung, und nur fünfzig hübſche 
Türkenmädchen hielt man zurück. In Virlan maſſakrierte man nur 18 Perſonen, 
ließ dann Frauen und Mädchen auf dem Markt zuſammenkommen und ſtellte ihnen 
die Wahl, durch Bomben zu ſterben oder Chriſten zu werden. Verſchiedene Dörfer 
weigerten ſich, das Chriſtentum anzunehmen. Da ließ man ihnen vier Tage Friſt, 
dann ſollten ſie maſſakriert werden. Doch iſt über ihr Schickſal noch nichts bekannt. 
In Woinitza, eine halbe Stunde von der Station Gumendje, ſind am Bairamtage 
bulgariſche Truppen und Komitadſchis eingerückt. Wie fo oft, mußten fic die 
Mohammedaner zuerſt in der Moſchee verſammeln. Neunzehn von ihnen wurden 
zuſammengebunden, nach dem Wardar geführt und teils erſchoſſen, teils mit 
Meſſern grauſam hingeſchlachtet. Dann wurde das Dorf unter Mitwirkung ber 
Soldaten ausgeraubt und den Einwohnern alles genommen, Getreide, Vieh, 
Hausgeräte. Die Mädchen bis zu neun Zahren herunter wur- 
den geſchändet und noch 26 Türken erſchlagen, darunter allerdings fünf oder 
ſechs, die fid) früher ihrerſeits durch Grauſamkeit und Niedertracht gegen die Bul- 
garen hervorgetan hatten. Es ijt, als fei man um Fahrhunderte zurückverſetzt, 
wenn man von dem Treiben der bulgariſchen Banden hört, und es ſcheint nichts 
zu ſein, deſſen ſich das Volksgewiſſen ſchämt. Als man zwei bulgariſchen Soldaten, 
die im Hoſpital lagen, von dem Treiben ihrer Landsleute erzählte, leuchteten ihre 
Augen freudig auf, und ein bulgariſcher Offizier erwiderte, da man 
ihm ſagte, ihr rottet die Türken aus: Freilich tun wir's!“ 

ich verſtehe nur nicht, warum immer nur England an feine Chriften- unb 
Menſchenpflicht gemahnt werden foll. Was hat denn das Oeutſche Reich getan, das 
(ib doch fo lange als allein echter und wahrer Freund und Beſchützer des Iſlams 
aufgeſpielt hat? Iſt nicht das „deutſche Gemüt“ beſonders berufen, der Stimme, 
fagen wir ſchlicht: einfacher Menſchlichkeit Gehör zu verſchaffen? Das „deutſche 
Gemüt“, das doch gegen die — Erbſchaftsſteuer in fo lauterem Feuer erglühen 
konnte! Das „deutſche Gemüt“ und, bitt' ſchön, der „deutſche Familienſinn“. 


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Hebbel und Ludwig 
Ein Vergleich Von Karl Strecker 


m Vorfrühling 1813 wurden die beiden bedeutendſten und vielfeitig- 
ſten Dichter der großen „nachklaſſiſchen Periode“ geboren, Friedrich 
Hebbel am 18. März, Otto Ludwig am 12. Februar. Und ſo nahe 
dieſe beiden Daten, fo nahe ſtehen ſich ihrer Entwicklung und ihrer 


Da gewöhnt ſich das Auge, liebevoll auf Einzelzügen, die hier ſo charakteriſtiſch ſind, 
zu haften, mit jedem Ding eine andere Beziehung zu verknüpfen. Da iſt Herr 


Streder: Hebbel und Ludwig 881 


Apollonius Nettemaier zu Haufe, deſſen Gärtchen zwiſchen bem Wohnhauſe und 
Schieferſchuppen liegt, dort trällert die muntere Heiteretei durchs Quellental, 
aber auch des knorrigen Erbförſters ſtarres Recht gräbt ſich mit Eichenwurzeln in 
den Heimatboden. Dort wird auch viel gebaſtelt, geſchnitzt und kleines Handwerk 
getrieben; ein Dichter, der ſeine Stoffe immer wieder vornimmt, umarbeitet, 
mehr als 50 Plan- und Skizzenhefte allein zur Agnes Bernauer anlegt, feine Arbeits- 
kraft in tiftelnden Shakeſpeareſtudien zerfaſert, kann nur hier zu Hauſe ſein. 

Wie ganz anders Hebbels Heimatland! In der Marſch, zwiſchen Meer und 
Haff, wohnt in flachem Land unter grauem Wolkenhimmel, gewöhnt an Nebel und 
Regen, an das (tete Orduen der dumpftoſenden Flut ein kerniges, ſelbſtbewußtes, 
widerſtandsfähiges Geſchlecht. Seine Welt liegt, nach Klaus Groths Wort, rund- 
herum ausgebreitet wie ein Tiſch, bis wo ſie den Himmel berührt, und ſein Himmel 
ſteigt tiefer herab als in den Bergen, er iſt ſo groß, als die Ebene ihn tragen kann. 
Im Kampf mit Wogen und Menſchen hat jid) dieſes Frieſenvolk zu höchſter Cha- 
rakterſtärke entwickelt. Ernſt, ſchweigſam und trutzig werden hier die Männer; aus 
dem Rauſchen der Wogen, aus dem Brauſen des Windes tönt es ihnen immerfort 
mit eindringlicher Stimme ins Ohr: Sei du! 

Mit dieſem kategoriſchen Imperativ der Selbſtbeſtimmung, des Sihdurd- 
kämpfens, mit dem zähen Dammtrotz des Sichbehauptens wächſt hier der Blick 
für alle Fernwirkungen. Des Frieſen Auge iſt weitſichtig. Ihm geht, ſo ungefähr 
beſchreibt es Klaus Groth einmal, die Sonne auf, weit, weit weg, wo die Welt 
ihren Anfang nimmt, ihm geht die Sonne unter im blanken Haff mit meilenlanger 
Purpurſchleppe. Wie einen großen Ball ſieht er fie kommen und je nach dem Wech- 
fel der Jahreszeiten von einem anderen der Höfe her, die aus dem endloſen Flach- 
land hervorragen. Die ſchrägen Strahlen der auf- und untergehenden Sonne ver- 
größern den einſamen Pflüger, den Wagen auf der Landſtraße, das weidende 
Vieh; ſie glühen purpurn an fernen Segeln auf und vergolden die tropfenden 
Ruder. Wer je um die Stunde des Herbſtabends auf der Marſch die Geſtalt eines 
einſam ragenden Hirten geſehen hat, wie die aufſteigenden Nebel ſie umhüllen 
und vergrößern, zu geſpenſtiſchem Umfang feine Umrißlinien erweitern und ver- 
wiſchen, der wundert ſich nicht, wie fo einſame Rieſengeſtalten gleich dem Holo- 
fernes, gleich den Helden der Nibelungenſage vor Hebbels Oichterblick aus dem 
Boden ſteigen konnten 

Mancherlei merkwürdige Übereinftimmung in Abſtammung und Kindheit 
der beiden Dichter reiht fid) an die Merkwürdigkeit, daß fie faſt gleichzeitig und je 
in einem winzigen Städtchen geboren wurden. Ihre Eltern haben ſehr ähnliche 
Züge, obwohl ſie dem Stande nach verſchieden waren. Ludwigs Vater, der Stadt- 
ſyndikus, wird vom Dichter ſelbſt als ein ſchroff ehrlicher, bis zum Eigenſinn feſter, 
innerlich aber zarter und weicher Mann geſchildert, der fogar ein Bändchen lyri- 
ſcher Gedichte herausgegeben hatte. Hebbels Vater, ein armer Maurer, war von 
Not und harter Arbeit verknöchert, das Lachen der Kinder erſchien ihm als Frevel, 
Hang zum Spielen als Leichtſinn, aber doch war er im Grunde treu und wohl- 
meinend, man rühmte an ihm die Gabe, Märchen zu erzählen, und an sangen 
Winterabenden fang er gern geiftliche, auch wohl weltliche Lieder. 

Oer Türmer XV, 6 


4 2. 8e tom 


882 Streder: Hebbel und Ludwig 


; Auch darin ähnelten jid) bie beiden Väter, daß fie durch Unglück in Sorgen ge- 

rieten und daß fie früh ſtarben, fo daß die Söhne ihr Beſtes und Kräftigſtes der 
Liebe und Natur der Mutter verdankten. Ludwig ſchildert ſeine Mutter als eine 
Frau „voll Liebe und Güte, von leicht erregbarem Enthuſiasmus für alles Schöne 
und Gute“. Die vielgeprüfte Frau konnte ihrem Sohn keine „Frohnatur“ mit- 
geben, aber ſie erzählte ihm mit ſtrahlenden Augen von „Sokrates, Leonidas und 
vom Doktor Luther“. Hebbels Mutter war wie jene arm an Glück und reich an 
Güte, freilich jähzornig. Obwohl ſie, wie Hebbel ſelbſt erzählt, ihn niemals ganz 
verſtanden hat, weil ihre Geiſtes- und Erfahrungsſtufe das nicht erlaubte, muß 
ſie doch immer eine Ahnung ſeines innerſten Weſens gehabt haben, denn ſie nahm 
ihn immer gegen den Zorn und die Vorwürfe des Vaters in Schutz, der in dem 
vor grober Arbeit ſcheuenden Kinde ein unbrauchbares Geſchöpf ſah. Der Mutter 
allein verdankte Hebbel es, daß er nicht in den Dienſt eines Bauern treten mußte, 
„was mich vielleicht“, geſteht der Dichter, „bei meiner Reizbarkeit ſchon in den 
zarteſten Jahren bis auf den Grund zerſtört haben würde“. Sie hielt darauf, daß 
er regelmäßig die Schule beſuchen und fidh in reinlichen, wenn auch geflickten Klei- 
dern ſehen laffen konnte. 

Freilich: mit den Schulkenntniſſen haperte es bei beiden jungen Dichtern. 
Die nüchternen Pflichten und Aufgaben eines methodiſch erzogenen Schülers 
ſagten beiden nicht zu, obwohl Hebbel in der Volksſchule ſehr fleißig war, und ſo 
gleichen ſie auch darin einander, daß ſie im Grunde immer Autodidakten blieben, 
mit mancher Lücke in den elementaren Kenntniſſen. Ihre reiche Phantaſie ſuchte 
und ging früh eigene Wege. 

Aber freilich: diefe Wege führten bald zu febr verſchiedenen Zielen. Früh 
hatte Ludwig durch die Mutter ſich mit Shakeſpeare beſchäftigen gelernt, nebenher 
waren es Tiecks romantiſche und E. T. A. Hofmanns phantaſtiſche Erzählungen, 
die ihn vor allem zwiſchen muſikaliſchen Studien, denen er ſich mit Eifer hingab, 
anzogen. Auch hier begann der Theoretiker, der ihm immer im Blut ſteckte, zuerſt 
das Feld zu bebauen; die ſchon etwas veralteten muſik-wiſſenſchaftlichen Bücher 
F. W. Marpurgs ſtudierte er eifrig, komponierte daneben freilich ſchon einzelne 
Szenen aus geplanten Opern. Das Schöngeiſtige der Mutter hatte wohl zuerſt 
dazu geführt, daß die Arbeiten und Liebhabereien Otto Ludwigs etwas bunt- 
ſcheckig ausfielen, aber auch ſeine nervöſe Reizbarkeit und Launenhaftigkeit trieb 
ihn frühzeitig zur Zerſplitterung feiner Pläne und Kräfte. Seine zarte Gefund- 
heit — das darf hierbei nicht unberückſichtigt bleiben — ward durch ſchwere 
Kümmerniſſe feiner Eltern und den frühen Tod feines Vaters erſchüttert. Zwei- 
mal unternahm et ben Verſuch, die Schule weiter zu beſuchen: 1828 in Hildburg- 
hauſen, 1832 in Saalfeld. Beidemal konnte er ſich — ähnlich wie Hebbel in Ham- 
burg — bei ſeiner vorgeſchrittenen geiſtigen Reife nicht mehr in die Pedanterie 
der Schulpflichten wie der Grammatik, in die Gehverſuche nach formalen Lehr- 
vorſchriften zurückfinden. Von ſeiner Saalfelder Zeit ſagt er ſelber: „Körperliche 
Leiden und geiſtige Erſchöpfung bis zum Lebensüberdruß ſteigend! Zch verliere 
den Glauben an meine Poeſie, ohne Luft zu gewinnen zu einer anderen Beſchäfti- 
gung!“ Sein Oheim, der „Dicke“ genannt, ein Kaufmann Chriſtian Otto, ſuchte 


Stredee: Hebbel und Ludwig 883 


die babn- und planloſe Entwicklung des Neffen durch Einführung ins Philiſtertum 
des Kramladens in feſtee Bahnen zu lenken, eine Weile war Ludwig fein Lehr- 
ling, obwohl er nebenher immer muſizierte und komponierte; erſt als des Dichters 
Mutter ſtarb, ließ der Oheim ſeinen muſiſchen Neigungen freien Lauf. Nun lebte 
er im Sommer in dem ſchönen Garten, den er vom Vater ererbt hatte, mit ſeinem 
Freunde Schaller bis zu ſeinem 26. Lebensjahre ganz im Dienſte der Muſik. Er 
komponierte hauptſächlich Bruchſtücke von Opern und Singſpiele, die freilich Bei- 
fall fanden, auch zu einem kleinen Stipendium feines Landesherrn führten, Sub- 
wig ſelbſt aber nicht befriedigten. Wie mit der Schule ging es dem reizbaren Mujen- 
ſohn auch mit der Muſik, er konnte ſchließlich ein ganzes Jahr lang keine Muſik 
mehr hören. 

Erſt im Winter 1840 erſtarkt ſeine Neigung zur Poeſie. „Das Vage der 
Muſik genügt mir nicht mehr,“ ſchrieb er, „ich muß Geſtalten haben.“ An Plänen 
fehlte es ihm freilich nicht. Vor allem war es der Agnes Bernauer Stoff, ber ihn 
ſchon aufs lebhafteſte beſchäftigte, daneben ſpann er an Novellen, Epen und Liedern. 
Obwohl er durchaus von muſikaliſchen Stimmungen zu dichteriſchen Geſtaltungen 
überging und muſikaliſche Untertine auch ſpäter feine Dichtung durchklingen, war 
er doch als Lyriker nicht von Bedeutung, man könnte aus ſeiner Zeit gut ein Dutzend 
deutſcher Dichter nennen, die dieſem großen Talent darin überlegen waren. Da 
es ihm auch mit dem Drama vorläufig nicht gelang — der „Erbförſter“ entſtand 
erſt 1849 —, ſehen wir ihn noch ohne Erfolg um die Zeit, da ſein Altersgenoſſe 
Hebbel ſchon feit einem Jahrzehnt fajt durch feine „Judith“ bekannt war (1840 ge- 
druckt und aufgeführt), ſchon feine „Genoveva“ und „Maria Magdalena“ ge- 
ſchrieben hatte. 

Wie war ein ſolcher Unterſchied möglich, zumal der arme Maurerſohn von 
Weſſelburen mit weit größeren äußeren Schwierigkeiten von frühſter Zugend an 
zu kämpfen hatte? War es nur die ſtärkere dichteriſche Begabung? Wir werden 
dieſe Frage ſehr bald verneinen müſſen, obſchon Hebbel ſicherlich auch das größere 
Talent war. Verfolgen wir kurz ſeine frühſte Entwicklung. 

In ſchlimmerer Armut von der Wiege an, in gedrüdterer Stimmung als 
Hebbel hat ſich wohl niemals ein junger Dichter zum Leben entfaltet. Not, harte 
Arbeit, die Abneigung ſeines Vaters gegen ſein ſcheues, zartes Weſen hemmten 
die Keime feines Dichtertalents jo Wort, daß, wie er ſelber berichtet, bis in fein 
vierzehntes Lebensjahr er keine Ahnung gehabt hat, daß er für die Poeſie beſtimmt 
ſein könne. Deutlich erinnert er ſich der Stunde, in der er zum erſtenmal die Poeſie 
in ihrem eigentümlichſten Weſen und ihrer tiefſten Bedeutung ahnte: „Ich mußte 
meiner Mutter immer aus einem alten Abendſegenbuch den Abendſegen vorleſen, 
der gewöhnlich mit einem geiſtlichen Liede ſchloß. Da las ich eines Abends das 
Lied von Paul Gerhardt, worin der ſchöne Vers: ‚Die goldnen Sternlein prangen 
am blauen Himmelsfaal‘ vorkommt. Dies Lied, vorzüglich aber biejer Vers er- 
griff mich gewaltig, ich wiederholte es zum Erſtaunen meiner Mutter in tiefſter 
Rührung gewiß zehnmal. Damals ſtand der Naturgeiſt mit der Wünſchelrute über 
meiner jugendlichen Seele, die Metalladern ſprangen, und ſie erwachte wenigſtens 
aus einem Schlaf.“ 


884 Streder: Hebbel und Ludwig 


Es ift bewundernswert, wie jid) ber Genius Hebbels aus der bitteren Not 
und dem harten Zwang feiner Sugendverhältniffe entwickelt und ihn aus enger 
Umwelt, aus tiefer Bildungsnacht emporgeführt hat. Die wenigen Bücher, die 
er als Schreiber bei dem kaltherzigen Kirchſpielvogt Mohr in die Hand bekam, 
waren vom Zufall, nicht von dem geregelten Zweck einer erzieheriſchen Methode 
beſtimmt. Aber zum Glück fehlten Schiller, Leſſing, Kleiſt nicht darunter, und ſo 
war trotz allen Bildungslüden die Anregung, die kräftigende geiftige Nahrung 
vorhanden. Und mit rührendem Verlangen haſchte der arme Maurerſohn nach 
jedem geiſtigen Sonnenſtrählchen, das in ſeine dumpfe Welt fiel. 

Aber ganz im Gegenſatz zu Ludwig geht der junge Hebbel gleich auf be- 
ſtimmte Ziele zu und ſucht immer zu erreichen, zu formen, was er vermag, ſo 
langjam aber ficher aufwärts ſteigend. Seit jenem Abend, ba in bem Vierzehn- 
jährigen „die Metalladern ſprangen“, ſeitdem er fühlte, wo ſeine Beſtimmung 
lag, da regte es fid) in ihm mit unhemmbaren Kräften. Die Zünglingsjahre, die 
Ludwig mit fruchtloſem Studium der Muſik und mit Kompoſitionen verlor, nutzte 
der willensſtarke, zielſichere Hebbel zu unermüdlichem Ausbau ſeiner Lyrik. Es 
iſt keine Frage, daß, bevor ihm noch andere Bücher in die Hände kamen, das 
Geſangbuch der Eltern und nebenher die kleinen Sonntags-Gedichte in den 
Provinzblättchen, die meiſt von Paſtoren verfaßt waren, die erſten Anregungen 
und Vorbilder gaben. Man merkt deutlich die Verwandtſchaft dieſer Lieder mit 
feinen frühſten lyriſchen Verſuchen — bis der große lyriſche Befruchter für ihn 
kam: Uhland. Es iſt ſeltſam, wie außerordentlich ſtark — neben Schiller — Uhland 
auf Hebbels Zugendlyrik gewirkt bat, vor allem war es die große Sachlichkeit bes 
ſchwäbiſchen Sängers, dann aber auch feine Arſprünglichkeit und volkstümliche 
Schlichtheit, die ihn anzogen. 

So reifte Hebbels Lyrik, im Gegenſatz zu des jungen Ludwig ſchwankenden 
lyriſchen Verſuchen, unter Einwirkung klug benutzter Vorbilder ſchnell, mit er- 
ſtaunlicher Sicherheit. Natürlich gab das größere Talent im ganzen den Aus- 
ſchlag, gehören doch ſchon einige der Erſtlingsgedichte („Die Jungfrau“, „Das 
Kind“) zu Hebbels ſchönſten. Aber es iſt ſehr intereſſant, zu verfolgen, wie der 
junge Hebbel mit feiner unvergleichlichen Zähigkeit fidh ſelbſt als Lyriker vervoll- 
kommnete. Bevor ihm Uhland in die Hände fiel, batte er Iden ungefähr 27 Ge- 
dichte (ſoweit wir fie kennen) verfaßt. Neben den genannten Einflüffen der geift- 
lichen Sonntags- und der Geſangbuchpoeſie macht ſich ſehr ſtark Schillers Einfluß, 
aber damit auch übermäßig rankende Reflexion, Schwärmerei und Uberſchwang 
bemerkbar. Bei Uhland hat ſich Hebbel wiedergefunden, der, wie wir ſahen, die 
Schlichtheit des Gerhardtſchen „Die goldnen Sternlein prangen“ als heimlichen 
Weſensklang ſeines Inneren empfand. Von nun an — die Gedichte „Romanze“ 
und „Der Zauberer“ laſſen es zuerſt deutlich erkennen — iſt er ſichtlich bemüht, 
in feiner Lyrik die Reflexion einzudämmen und feine Oichterkraft im Stofflichen 
zuſammenzuſchließen. Wie ſicher bald die zerfließende Breite jener Hebbelſchen 
Lyrik von dem Züngling mit ſicherer Hand eingedämmt, zu vollendetſter finapp- 
heit und Verdichtung gezwungen wird, laffen die Gedichte dieſer Periode er- 
kennen: „Fragment“, „Mein Vorſatz“, „Die Perle“, „Der Ring“, „Des Königs 


Streder: Hebbel und Ludwig 885 


Sagb^, „Ritter Fortunat“ ufw. ſtehen unter Ahlandſchem Einfluß. Der Lyriker 
Hebbel iſt jetzt gereift, er braucht keine Vorlagen mehr, ſelbſtändig mit eigenen 
Füßen ſchreitet er auf dieſem Gebiet der Dichtkunſt, als es ihm endlich gelingt, 
aus dem engen Druck des Vaterſtädtchens hinauszutreten. 

Wir haben die Entwicklung des jungen Hebbel als Lyriker darum eingehend 
betrachtet, weil ſie für unſer Thema von höchſter Bedeutung iſt. Denn gerade 
ſie zeigt, wie Friedrich Hebbel unter den denkbar ungünſtigſten Verhältniſſen 
— im Gegenſatz zu dem muſikaliſch gebildeten Patrizierſohn Ludwig im ſchönen 
Thüringen — ſich mit unwiderſtehlicher Zähigkeit durchringt. Es iſt der Trotz und 
die Kraft des Dithmarſchers, dem ſein Meer alle Tage zuraunt, zudonnert: „Sei 
du!“, die ſichere Energie des Frieſen, die das Steuerruder feſt in der Hand hält, 
das weitſichtige, helle Auge unabwendbar auf das ferne Ziel richtet und fein Schiff- 
lein durch Wogengiſcht und Sturm dorthin zwingt, wohin ſein Wille weiſt. 

Und dieſe ſicher ſchauende, ſicher zupackende, energiſche Kraft entwickelt 
Hebbel, ſobald er in der Lyrik, dem Urelement und ſicherlich beſten Beginn in der 
Poeſie, auf feſten Füßen ſteht — nun auch bald im Drama. Wie er nach den erſten 
taſtenden dramatiſchen Verſuchen in Weſſelburen ſchon während ſeines zweiten 
Hamburger Aufenthalts in der „Judith“ ſofort mit ſtarkem Griff diefe ragende Ge- 
Holt des Alten Teſtaments zu einer tragiſchen und doch zugleich modernen Erfchei- 
nung umwandelt, ohne dabei ihre Größe zu verringern, das iſt ſchlechthin genial. 
Er wußte dramatiſch aufzubauen, der Maurerſohn hatte vom Vater gelernt, wie 
ein ſicheres Fundament und gute Mauern zweckmäßig gefügt werden müſſen, 
um unter Dach zu gelangen. Und bier Iden finden wir den fundamentalen Unter- 
ſchied zwiſchen Ludwig und Hebbel in der kurzen Formel: Ludwig war im wefent- 
lichen nur ein ungewöhnlich großes Talent, Hebbel war mehr Genie. 

Judith, wie faft alle großen Frauengeſtalten Hebbels find lange verkannt 
worden. Selbſt ein ſo feiner Kopf wie Treitſchke nennt bei ihr „die nackte tieriſche 
Sinnlichkeit das herrſchende Motiv“. Uns Heutigen, die wir unſere dramatifch- 
pſychologiſchen Sinne an Ibſen und Strindberg geſchärft haben, wird es ja wohl 
leichter, zu erkennen, daß Hebbel, während er in Judith und dem Übermenſchen 
Holofernes das weibliche wie das menſchliche Lebensgeſetz in ihren Urtiefen fym- 
boliſch verkörpert, das Suchen feiner Zeit nach einem neuen Drama ſogleich da- 
durch zum Finden binleitet, daß feine Zudith erft durch das Schwanken und Zwei- 
feln nach ihrer Tat zur tragiſchen Heldin wird. Oas ift nicht nur ein [febr feiner 
pſychologiſcher Zug, es deckt fih auch mit der Stellung des bedeutendſten neuzeit⸗ 
lichen Denkers zu derartigen Fragen. Nietzſche, der Hebbel wenig gekannt und 
wenig geſchätzt zu haben ſcheint, ſagt von einem „bleichen Verbrecher“: „Ein Bild 
machte dieſen Menſchen bleich. Gleichwüchſig war er feiner Tat, als er fie tat: 
aber ihr Bild ertrug er nicht, als ſie getan war.“ 

Suchen wir zum Vergleich mit Hebbels erſtem bekannten und großzügigen 
Drama bei Ludwig nach einem ähnlichen Wurf, ſo finden wir nur den „Erbförſter“. 
Denn wir würden ihm unrecht tun, wollten wir feine früheren dramatiſchen Arbei- 
ten, ſelbſt „Hanns Frei“ und das „Fräulein von Scuderi“ an Hebbel meſſen. „Der 
Erbförſter“, der zehn Jahre nach der „Judith“ entſtand, weiſt manchen Hebbel 


886 Streder: Hebbel und Ludwig 


verwandten Zug auf, eine Kriegserklärung iſt's gegen die Dramatik der Roman- 
tiker, wilde, ſtarke Leidenſchaften ſind in einen engen Raum gebannt, der Held, 
hierin „Meiſter Anton“ ähnlich, bewegt ſich in einer engen Welt ſtarrer Begriffe 
von Recht und Ehre, auch er ſucht die Seinen mehr durch Furcht als durch Liebe 
an ſich zu feſſeln, und mit ihm „ſchreitet ein altteſtamentariſcher Geiſt durch das 
Stück“. Aber es verdirbt dem Dichter den ſchönen und großen Plan, wenn die 
Starrköpfigkeit des Alten ſchließlich zur Verranntheit eines beſchränkten Greiſes 
ausartet und wenn am Schluß die klare Linie des Dramas verwiſcht wird durch 
allerhand epiſodenhafte Mißverſtändniſſe und Zufälle. Wie anders der Meiſter 
Anton bei Hebbel, wie anders feine dramatiſche Linienführung! Hebbel war bet 
Meinung, daß der Erbförſter vom Blut ſeines Meiſter Anton getrunken habe, 
und ſchalt die „Makkabäer“ eine Nachahmung der „Judith“. Beides läßt fih be- 
zweifeln, aber keine Frage iſt, daß Ludwig als Dramatiker ihn nicht von ferne 
erreichte. Ein Hauptgrund für das Verſagen Ludwigs auf dieſem Gebiet (wenn 
ſchon die genannten beiden Dramen immer ihre Werte behalten) trotz den Mängeln, 
liegt neben denen, die wir ſchon betrachtet haben, in feiner Abhängigkeit von Ghate- 
ſpeare. Von früh auf durch die Mutter mit ihm bekannt gemacht, zerfaſerte er ihn 
kritiſch grübelnd und geriet fo auf Seitenwege und in Didicdte der äſthetiſchen Ber- 
ſtandesarbeit, die ihn immer weiter von der großen dichteriſchen Hauptſtraße ent- 
fernten. Schon Goethe warnte: „Eine produktive Natur darf alle Jahre nur ein 
Stück von Shakeſpeare lefen, wenn er nicht an ihm zugrunde gehen will.“ Lud- 
wig las in jedem Jahr wohl alle Stücke Shakeſpeares ... Noch ein anderer Aus- 
ſpruch des weitſchauenden Heros von Weimar ſcheint fid) vorahnend auf Didter- 
erſcheinungen wie Ludwig zu beziehen. Er ſpricht zu Biedenfeld einmal davon, 
daß viele Dichter das „Nonum prematur in annum“ des Horaz mißverſtehen. 
„Damit ijt nicht geſagt, daß fid) bei einer Arbeit die Phantaſie und die Kritik jahre- 
lang miteinander herumbalgen ſollen; dabei ginge ſtets die beſte verve des Dichters 
verloren.“ 

Ludwig gefteht, daß ihn in den Stunden des Empfangens zuerſt eine mufi- 
kaliſche Stimmung überkam. Auch das ſchadet ſeinem Geſtalten, er träumte und 
grübelte zuviel. Aber feine hieraus, wie aus feiner frühſten Umwelt hervorquellende 
Liebe zum Oetail, zur Kleinmalerei ſtellt ihn als Epiker, wo es nicht ſo ſehr auf die 
klare Linienführung ankommt, über Hebbel. Hebbel hatte hingegen den größeren 
Blick für die Totalität des Kunſtwerks. „Er verachtet das Haſchen nach Einzel- 
ſchönheiten“, auch handeln ſeine Charaktere folgerecht, aber das erſetzt die Kunſt 
des Epikers nicht. Hebbel ſteht als Erzähler etwa ſo tief unter Ludwig wie Ludwig 
als Dramatiker unter ihm, etwa ebenſo tief, wie jener als Lyriker unter Hebbel 
ſteht — ſo kann man es etwas verzwickt, aber doch wohl treffend ausdrücken. 

Es würde zu weit führen, die Parallelen und Gegenfage beider Dichter nun 
in jeder Beziehung und im Vergleich aller ihrer Werke aufzuzeigen. Dazu mag 
dieſe kleine Studie anregen, ſie auszuführen erlaubt der Raum nicht. Wir ſahen 
die vielen Ahnlichkeiten der beiden Zeitgenoſſen im Talent und im Leben und die 
noch größeren Verſchiedenheiten, teils in der Anlage, teils in Umwelt und Ent- 
wicklung begründet. Wegweiſer fir die deutſche Dichtung waren beide, Hebbel 


Wo find bie Melfter? 887 


freilich auch hier der Größere; es foll Ludwig nicht vergejjen fein, daß feine Runft- 
lehre in einen geſunden Realismus hinausdeutete, wie ihm auch ſeine ſchlichte 
Natur, ſeine poetiſche Wärme, ſeine menſchlichen Vorzüge nicht vergeſſen werden 
ſollen. Beide neigten zur „Reflexion“, beide zur Kritik. Aber während Ludwig 
fid in feine Gegnerſchaft zu Schiller, in feine Verhimmelung Shakeſpeares ver- 
biß, ſtand Hebbel auf einer höheren Warte, ihm gelang es wirklich, über das idea- 
liſtiſch-rhetoriſche Drama Schillers hinauszuſchaffen, nicht nur darüber hinauszu- 
reden. Auch als Aſthetiker iſt Ludwig einſeitiger, pedantiſcher. Man wird die rechte 
Stellung zu beiden Oichtern finden, wenn man fie ale gegenjeitige € r g å n3 un- 
gen von ungewöhnlichem Wert nimmt. 

Beide haben einander niemals nahe geſtanden, und manches unfreundliche 
Wort findet ſich über den Nebenbuhler in ihren Aufzeichnungen. Ludwig ſpottet 
über Hebbels „pſychologiſche Präparate“, und Hebbel nennt nicht minder grob 
die „Makkabäer“ eine „Prechtleriade, am eigenen Bombaſt erſtickend“. Aber unter 
ſo harten Worten verbarg ſich doch wohl viel innere Achtung. Rührend, wie am 
26. Dezember 1863 der felber todkranke Otto Ludwig in ſeinen Kalender ſchreibt: 
„Heute endlich hat mir Emilie — von Heydrich dazu gedrängt — geſagt, daß Hebbel 
geſtorben iſt. Wunderbar, daß ich in den letzten Wochen immer an ihn denken mußte 
und mich es drängte, an ihn zu ſchreiben. Wieder einer und wohl der Beſte unter 
den Wenigen dahin, denen es noch mit der Kunſt ein heiliger Ernſt; ich werde ihn 
nicht vergeſſen, mir iſt, als wäre mir ein Bruder geſtorben. Sit terra illi levis!“ 

An dieſen Vorfrühlingstagen der Erinnerung aber ſtehen beide Dichter vor 
uns wie jene beiden großen Freunde in Weimar, einen gemeinſamen Kranz hal- 
tend und wir teilen unſere Dankbarkeit ſo wenig zwiſchen ihnen wie dieſen Kranz. 


Wo ſind die Meiſter? 


(Berliner Theater-Rundſchau) 


N 


A WK. achtet mir die Meiſter nicht!“ Den Junker gemahnt Hans Sachs. Es haben die 
95 2 wackeren Männer der Zunft zu Nürenberg, der Stadt, die deutſche Dicht und 
Cem. J| Sangestunft bewahrt. Sie „im Drang der ſchlimmen Fahr gehegt nach ihrer 
Art, =a ihrem Sinn“. Die Meiſter des Gewerbs und der Innung ernannten in ihrem Kreiſe 
zum „Singer“, wer ihre hundertfach verſchiedenen „Weiſen“ mit den Stollen und Abgeſängen, 
Reim- und Silbenregeln fehlfrei in Kopf und Kehle hatte; zum „Oichter“, wer zu einer alten 
Weife neue Vorte fand; zum Meiſterſinger, wer Gedicht und Lied erſann. Einer von dieſen 
Meiſterſingern war fogar wirklich ein Dichter. Der eine, der einzige, der Sachs! Die vielen 
aber? Kunſt kann von einer Gemeinde gepflegt, aber Kunſt kann nicht wie Käſe von einer 
Genoſſenſchaft erzeugt werden. Weder dem leibhaftigen Hans Sachs noch feinem Wieder- 
ſchöpfer Richard Wagner lag es im Sinne, mit dem Meiſterſingertitel die Dichterweihe allen 
braven Zunftgenoſſen zuzuſprechen. Die beiden wußten gar wohl, daß der Rünftler ein Ein- 
ſamer ijt und daß er, wenn das Werk fid) von feinem Herzen loft, die heimlichen Wonnen unb 
Schmerzen mit keinem Erdenkind teilt. Ein Hauch liebenswürdiger Sconie ſchwebt über Wagners 


888 Wo find ble Meiſter v 


„Meiſterſingern“, bie fid) fo redlich plagen, Dichter zu fein. Das Lächeln wandelt (id zum 
blutigen Hohn vor Beckmeſſer, dem Merker, der die Gefäße und Geſetze des Kunſtgeſanges 
mit giftiger Kritikerkreide ſchützt. Doch Scherz und Spott verſtummen auf der Feſtwieſe, 
im Jubelgeſang zu der treuen Männer Chr’, bie die Kunſt guten Willens pflegen. Und Nürn- 
bergs Schuſter? Er war weiſe und dankbar. Er, der Alleinige, blieb ein Glied der Gilde, 
obzwar fie ihm das Oaſein oft kleinlich verſäuerte; er achtete mit feinem freien Dichtergeiſt 
den Zwang der Formen, mit deſſen Hilfe den um die Kunſt Bemühten manches tüchtige 
Handwerksſtuͤck gelang. 

And ſo iſt es bis zum heutigen Tag geblieben, daß in der Meiſterſingerſchaft zweierlei 
Meiſterſchaft angeſprochen werden mag. Der Meiſter der Kunſt ift von einem ganz anderen 
Geblüt als der Meiſter des Kunſthandwerks. Ein Gegenſatz beſteht, wie zwiſchen Erlebt und 
Erſonnen, Gewachſen und Gebildet, Wollen-müſſen und Wollen ohne Müſſen. 

Die Handwerker in der Kunſt — ich meine nicht die Windmacher, die Blender, die 
Händler, die mit ihren Erfolgen den Geſchmack verſchlechtern; ich meine die reinlichen Ar- 
beiter, die guten Könner —, dieſe Handwerker können gar wohl meiſterliche Werke zuſtande 
bringen; nur eben nicht das Große, fo aus dem Unbewußten kommt. Den Unterſchied fühlen 
wir, ihn theoretiſch zu erklären, iſt ſchwer. Man muß ſich mit der Bildſprache behelfen und 
von Kunſtſeele und Kunſtverſtand ſprechen. Der Runftverftand mag alle Mittel des Künſtlers 
beherrſchen, doch er allein kann ein Kunſtwerk nicht ſchaffen. Er dringt vielleicht in die Ge- 
heimniſſe der Kunſt, doch ift er nicht ſelbſt die geheimnisvolle Schöpferkraft. Der Kunſthand⸗ 
werker „macht“ ein Werk, der Künſtler „empfängt“ es. 

Ein Komödiant kann einen Pfarrer, ein Kunſtkönner einen Künſtler lehren. Ob fid 
Kunſt erlernen läßt? 

Wie mächtig wäre mancher Dichter, wenn er vom gandwerk mehr verſtünde! 

* * * 

Ein feiner und lieber Künſtler ift Tho mas Mann, der Dichter des „Buddenbroks“- 
Romans. Nun ſchrieb er ein Bühnenwerk: „Fiorenza“. Das iſt, ein halbes Jahrzehnt 
nach feinem Entſtehen, im Deutſchen Theater mit einem Reſpektserfolg abgefallen. Hätte 
Thomas Mann nicht mit anderen Schöpfungen gezeigt, daß er ein Geſtalter iſt, man wäre 
nach ſeinem Drama verſucht, ihn einen beſchaulichen Schöngeiſt, einen Aſtheten zu ſchelten. 
(Nebenbei: Seid nicht fo unvorfidtig, einen ganzen Menſchen nach einem Bruchſtuͤck zu be- 
urteilen!) Er hat in „Fiorenza“ den Widerprall zweier Weltanſchauungen und alle Gegen- 
ſätze der gewalttätigen und kunſtſinnigen, der fiebrig überwachen und in Schönheit träumenden 
Renaiſſance zu — philoſophiſchen Antitheſen platoniſcher Geſpräche verarbeitet. Die Gedanken 
und Gefühle zweier überragender, einander feindlicher Renaiſſance-Menſchen, des ſtrahlenden. 
Heiden Lorenzo von Medici und des fanatiſchen Mönches Savonarola, bat er in — einen 
ſtillen Teppich hineingewoben. Ga, ausgebreitet wie ein Teppich ift die Gelehrtheit, zumal 
die kunſthiſtoriſche, in dieſem zweifelhaften Drama, fo daß man fih verſucht fühlt, dem Dichter 
bie Berfe ins Stammbuch zu ſchreiben, die der Schauſpieler Friedrich Ray ler in einem 
eben erſchienenen Gedichtebuch („Kreiſe“, Verlag Erich Reiß, Berlin) den „kundigen Thebanern“ 


widmete: 
poor wißt zu viel über feunft. 
Seht euch den dort an: 
Der welß von Kunſt feinen Dunſt — 
Well er fle kann.“ 


Zwiſchen den Schöpfern und den Machern gibt es unter den Dramatikern noch eine 
Zwittergattung: die Literaten. Man täte Thomas Mann Anrecht, würde man ihn feiner 
literariſchen „Fiorenza“ wegen zu den gedankenvollen Unfruchtbaren zählen. Gewiß iſt, daß 
ſeine Liebhaberbeſchäftigung mit dem goldenen und eiſernen Zeitalter der Mediceer und 


Wo [ib bie Meifter? 889 


das Grübeln in der eigenen Bruſt ihn zu einem Stoff verführten, der gerade für ibn nicht 
taugte. Ein Anämiſcher und bie Blutvollen von Florenz! Aber was wir felbjt nicht find, 
nicht haben, das reizt uns, deffen Gebärde ſuchen wir uns anzueignen. Jm letzten Akt 
von „Fiorenza“ begegnen fid) endlich Lorenzo ber Mediceer und Fra Girolamo, die Wider- 
ſacher bis zum Tode. Und da enthüllt ſich's, daß fie Brüder — feindliche Brüder, dennoch 
Brũder ſind; daß jeder ein Stück von des anderen Seele beſitzt. Savonarola haßte des 
Mediceers tugend- und fündenlofe frohe Kunſt der Sinne — und er ſelbſt berauſchte ſich 
als wilder Bußprediger an der Macht des Künftlers über die Seelen; Lorenzo ſchwelgte in 
Luft und Schönheit und fühlte die Sehnſucht nach dem Reiche des Mönches. Die hiſtoriſchen 
Perſonen kannten dieſe Geteiltheit der Seele ſchwerlich. Aber Thomas Mann kennt ſie. Sie 
erklärt es vielleicht, daß dieſer allzu ſinnige Deutſche ein italieniſches Renaiſſancedrama zu 
ſchreiben unternahm. 

Bildhafte Schönheiten in „Fiorenza“ entſchädigen nicht für den Mangel des drama- 
tiſchen Nervs. Nicht einmal die große Szene zwiſchen Lorenzo und Savonarola, auf die uns. 
bis knapp vor des Stückes Ende Dialoge, nicht Handlungen, vorbereiten, bat den rechten Atem. 
Und auch bie ſchimmernde Geſtalt, von der die Dichtung den Namen erhielt, bleibt ein Sym- 
bolum. Fiorenza — das ift die berüdende Dirne von Babylon, die zeitlos über der Welt herr 
ſchende Aphrodite; ijt (der Name fagt es Iden D das Florenz ber Mediceer. Fiorenza ift das 
Schickſal ſowohl des Lorenzo wie des Savonarola. In ihren weißen Armen hat der Herr 
der freien Künſte ſeine ſchöne Welt gelebt. Von wilder Brunſt wurde Savonarola zu dem 
Weibe getrieben — zu ihr, der keiner widerſteht! — und, den Haß des Aſzeten im Herzen, 
floh er von ihr. Reiz iſt Schönheit in Bewegung, definiert Leſſing. Wer erklärt hiernach die 
Macht diefes ſtarren Fiorenzabildes ohne Gnade?! Zn Mary Dietrichs unnatürlicher 
Stiliſierung wurde die Geſtalt vollends abſchreckend. Verwechſeln Thomas Manns „Dialoge 
in Koſtümen“ die Bühne mit den Säulenhallen, in denen die Philoſophen Athens mit ihren 
Schülern wandelten, ſo erinnerte das junge Volk, ſo das Deutſche Theater auf die Beine 
brachte, an die unfertigen Schüler. Paul Wegeners reife Menſchenkunſt ragte gameri; 
Er gab den Lorenzo. 


* è * 


Kein hellerer Stern leuchtete ber Aufführung von Eduard Stuckens Tragödie 
„Aſtrid“. Es lag nicht bloß daran, daß wiederum das Deutſche Theater die Kückſicht auf 
Dichter und Oichtung hintanſtellte und ein pädagogiſches Experiment mit feinem jungen 
Nachwuchs machte; und daß man wiederum den verfrühten Star Mary Dietrich aus ihrer, 
wie es ſcheint, nur in beſcheidenen Grenzen begabten Natur herauszerrte (diesmal mit einer 
von Liebehaß geſchwollenen Überweibrolle). Das Drama hätten auch andere Schauſpieler 
nicht gerettet. Man dankte mit lauem Beifall. 

„Lanval“, „Gawan“, „Lanzelot“ und „Merlins Geburt“: diefe dramatiſierten Ro- 
manzen aus dem Artusſagenkreis, die werden bleiben. Im blaugrünen Lichte der Myſtit, 
in der dunkelſchönen Balladenſprache, da iſt Eduard Stucken ein Dichter. Und es geht ihm 
wie manchem ſeiner ſagenhaft ſchönen Schemen, die im Tageslicht verblaſſen und ſchwinden. 
Einmal ſchrieb er ein modernes Schauſpiel: „Myrrha“. Das war eine Mißgeburt. Jetzt wieder 
ſuchte er Menſchen der harten Wirklichkeit auf — wenn auch vorſichtig in der weiten Diſtanz 
von neun Jahrhunderten. Selbſt die Kurzſichtigſten täuſchten fid) nicht darüber, daß diefe 
isländiſchen Recken und Redinnen niemals und nirgends haben leben können. Mancher wurde 
irre an Stucken. Da ſeht, — riefen die Strengen — wie arm und nackt er ſteht ohne den 
myſtiſchen Mantel, der die Geſtaltung verhüllte! Wie abgegriffen ſogar ſeine Verſe ſind, wenn 
ihnen einmal der hypnotiſche Rhythmus, den er ſich zurechtgelegt, und der Flötenklang des 
End- und Binnenreims fehlt! — Aber was beweiſt denn das? Doch nur, daß der Fiſch ſein 
Waſſer braucht, um zu atmen. Studen ijt Romantiker. Stuten ijt Oichter. Trotz „Aſtrid“. 


890 Wo find bic Melfter? 


Gin Meiſter ift er nicht. Schon in ben dunkelglühenden Artus Dramen war fein Können nicht 
groß, bod) fein Müffen fo ſtark, daß es bie berauſchten Hörer hinriß. In „Aſtrid“ ſpüren wir 
das innere Müffen nicht. Das Drama, fo übermenſchlich es (id) gebärdet, ijt glattes Mittel- 
maß; ſieht ſich an, wie die Ausſchwitzung eines begabten Primaners. 

Verballhornt hat Stucken die Sigurdharkvidha der Edda. Mit den neuen Namen der 
Perſonen beging er verbotene Falſchmeldung. Wozu überhaupt noch ein Nibelungendrama? 
Sbfen, Hebbel und Richard Wagner genügen. Die isländiſche Sage und das deutſche Nibelungen- 
lied haben dieſen Meiſtern alles gegeben, was in den epiſchen Tiefen an gewaltiger menſchlicher 
Schönheit ruhte. Ibſen zumal hat in der „Nordiſchen Heerfahrt“ das vollbracht, was Stucken, 
der weichlich nervöſe Romantiker, nicht begreift: er bat bie Atmoſphäre bet Nordlandsinſel 
und der rauhen Vergangenheit in die Dichtung gebannt, er hat in den Rieſendimenſionen 
urmenſchlicher Leidenſchaften das Immerdare des Menſchlichen gefunden. Stuckens „Aſtrid“ 
dagegen iſt eins jener Epigonenversdramen, die man, als der Naturalismus über die Bühnen 
braufte, für endgültig weggefegt hielt. So Übergrimmiges er feinen Figuren zumutet: fie find 
Figuren — und beglaubigt nur, weil ſie Haut und Bein der Schauſpieler haben. Stuckens 
Brünhild-Hjördis — fie heißt jetzt Aſtrid — haßt den geliebten Kjartan- Siegfried, weil er 
die ſanfte Hrefna-Rriembild-Oagny zum Weib genommen; Aſtrid haßt, natürlich ohne Liebe, 
die andere Frau. Bei Stucken hat die Liebehaſſerin keinen vernünftigen Grund zur Rache. 
Denn fie ſelbſt hat ſich dem Pflegebruder des geliebten Kjartan zum Weib gegeben, bloß weil 
der Bräutigam fih auf einer Reife verſpätet batte... Jedennoch: fie brütet Verderben. 
Hetzt den Gatten und die Brüder, daß ſie Kjartan meuchlings überfallen und töten. Dieſer 
Gatte! Er geht durchs Stück wie Klärchens Brackenburg, ein wimmernd Entſagender. Er 
und Kjartan lieben fih als treueſte Blutsfreunde. Sie küſſen fid) zum Abſchied und wiſſen: 
der eine wird morden, der andere fid) morden laffen. In Island! Ym Reckenzeitalter! Doch 
in keinem Jahrhundert wurde ein fo dummer Kerl geboren. Dem Helden Kjartan kündigt 
die holde Aſtrid an, daß ſie ihn jetzt umbringen läßt, und er iſt — ja, er iſt einverſtanden! 
Bevor Aſtrid die Totſchläger ausſchickt, küßt ſie heiß, wie Pentheſilea den Achill, das Opfer. 
(Dod Pentheſilea denkt bei ihren Küſſen noch keineswegs an den Mord, und dann, als die 
Qtafenbe fid) verſchmäht und betrogen fühlt, tut fie ſelbſt, was Aſtrid ſyſtematiſch vorbereitet 
und durch andere vollziehen (dpt...) Dieſe häßlichen Narreteien find überdies in eine dicke 
Edelmutstunke getaucht. Der Gatte Aſtrids ſucht nad) geſchehenem Mord den Sühnetod und 
läßt fid von den Rächern abſchlachten. Aſtrid, bie nie etwas für den Gemahl übrig hatte, 
ſtirbt an ſeiner Bruſt. Der Vater des Mörders will den Sohn ausliefern, der Vater des Ge- 
morbeten den Mörder ſchonen ... Island! Reckenzeit! 

* * 


* 

Ein dichteriſcher Kern ftedt in dem Drama „Feindliche Seelen“ bes Franzoſen 
Paul Hyacinth Loyſon, das bie literariſche „Verſuchsbühne“ (Neue Freie Volks- 
bühne) einem geladenen Publikum vorführte. Wie in der älteren franzöſiſchen Tendenzkomödie 
— und leider mit der gleichen Luſt an Phraſeologie und Räſonnement — wird ein Kampf der 
Lebensanſchauungen geführt. Einen Anterſchied macht, daß die gegneriſchen Lebensanjdau- 
ungen ſich hier in der Höhe philoſophiſcher Weltanſchauungen halten. Ein berühmter Gelehrter 
und Oarwinianer kehrt nach langer Forſchungsreiſe zurück. Während ſeiner Abweſenheit hat 
die katholiſche Propaganda ſein Haus erobert. Zwiſchen Mann und Frau öffnet ſich ein Ab- 
grund. Der Verfaſſer ift klug genug, zu wiſſen, daß der Kampf zwiſchen Wiſſenſchaft und 
Glauben nicht im Rahmen eines Familiendramas entſchieden werden kann. Für die Menſch- 
heitsfragen hat ein Sonderſchickſal keinen Belang. Loyſon bemüht ſich auch, der kirchlichen 
Partei, auf deren Seite nicht fein Herz ſchlägt, ohne böſe Satire zu begegnen. Ihre Repräfen- 
tanten find zum Teil unſympathiſch (beſonders die fanatiſch bigotte Großmutter), aber nicht 
verãchtlich. Die tragiſche Schuld trägt zum größeren Teile der Pionier der Wiſſenſchaft. Dieſer 


Wo find die Melſter? 891 


großzügige Mann hat einen Blutstropfen von Fbjens Pfarrer Brand, ber bie Forderung 
„Alles oder nichts“ erhebt und für ſeine innere Wahrheit das Teuerſte opfert. Nur daß Profeſſor 
Daniel Servan die Folgen feiner Handlungen nicht vorausſieht, als er fein Töchterchen aus 
dem Weihrauchnebel reißt, ihm den Kinderglauben raubt und ein zärtliches Gemüt in den 
Kampf zwiſchen Vater und Mutter ſtellt. Das kranke Herz der kleinen Florence erträgt dieſe 
Qualen nicht. Daniel Servan erringt den vollen Sieg. Sein Kind, ihm im Gemüt und 
Charakter verwandt, bekennt ſich frei zu ihm. Doch das Bekenntnis kommt von den Lippen 
einer Sterbenden, und der Vater, ein gebrochener Wahrheitsheld, ein Märtyrer, muß es 
erdulden, daß die furchtbare Angſt vor dem ewigen Nichts die Sterbeſtunde der Tochter 
verdüſtert. 

Dieſes Schauſpiel, das ganz von Tendenzen gefüllt ijt, kann ein Tendenzſtuͤck doch 
nicht genannt werden. Seine Lehre, wenn eine ſolche in der rein- menſchlichen Kataſtrophe 
überhaupt entdeckt werden muß, bat etwa Wieland mit dem ziemlich banalen Worte aus- 
geſprochen: 

„Ein Wahn, der mich beglückt, Iſt eine Wahrheit wert, die mich zu Boden drückt.“ 

Und überhaupt! Beliebte es Herrn Loyſon nicht, der kleinen Florence einen Herz- 
klappenfehler anzudichten, alles wäre doch vermutlich anders gekommen! Dah auf das körper- 
liche Leiden des Mädchens nicht Rüdficht genommen wird, iſt keine dramatiſche Notwendigkeit 
und eigentlich nur die Schuld eines höchſt fahrläſſigen Hausarztes. Nichtsdeſtoweniger find die 
letzten beiden Akte, in denen Seelenleid, Krankheit und Tod des lieben Mädchens uns er- 
ſchüttern, von tiefſter Wirkung. Die wurde aus der Sphäre bes Rührftüds emporgehoben 
zu reiner und großer Kunſt von der jungen Schauſpielerin, die die Florence gab: Ann a- 
lieſe Wagner, einem Geſchöpf von zarteſter Kindlichkeit, begabt mit einer ſeltenen Kraft, 
die Erſcheinungen der Umwelt bis zu den Einzelnheiten eines kliniſchen Bildes, bis zu den 
ERES Zügen der Geele wiederzugeben. 

ik * 

Der Franzoſe Loyſon war ein Mittelding von Dichter und Macher. Zur Zunft der 
Handwerker übergegangen ijt Hermann Bahr mit feinem Luſtſpiel „Das Prinzip“, 
das zwar mit gewiſſen ſozialkritiſchen Ideen des Literaten tändelt, aber keine ſatiriſche Ridt- 
linie hat und zu jenen Erzeugniſſen der Unterhaltungsdramatik gehört, die es auf pſychologiſche 
und äußere Wahrſcheinlichkeit nicht abſehen und alles dem dankbaren Gelächter der Zuſchauer 
opfern. Das große breite Lachen ſtellte ſich im Leſſingtheater ein, wo Elfe Lehmann, 
bie Tragödin des Naturalismus, eine verliebte, dralle Köchin ſpielte. Bahrs Kaſſenſtück wiegt 
um kein Geiſteskörnchen ſchwerer als der Schwank „Der Retter in der Not“ von 
Franz von Schönthan und Rudolf Presber, der im Komödienhaus die Zuſchauer 
erheiterte. Und auch die in die Kammerſpiele verirrte Komödie „Schöne Frauen“ von 
Etienne Ney iſt dieſer Kategorie beizuzählen, mit der Einſchränkung jedoch, daß hier 
die Fröhlichkeit ſtreckenlang mit Langeweile bezahlt werden muß. 

Zit es eine ideologiſche Forderung, daß unfer Königliches Schauſpielhaus wenigſtens 
die Höhe dieſer Schwankliteratur behaupten ſollte? Sein Niveau iſt viel tiefer geſunken. Ich 
ſpreche nicht von der neueſten Lauffiade, dem zu Kaiſers Geburtstag aufgeführten Rorfu- 
Feſtſpiel („Nerkyra“). Denn mit dieſer koſtſpieligen Ausſtattungsglorie bat fid) der kaiſerliche 
Regiſſeur ſelbſt überraſcht ... Aber des Herrn Leo Lenz ſogenanntes Luftfpiel „Wieſelchen“ 
(ach, wie lieb!) geht aufs Konto der berufenen Inſtanzen. Und wird in der Berliner Theater- 
geſchichte verewigt bleiben. Als Beiſpiel des Verfalls. Als ein Superlativ der — Naivität. 

** " * 

Naiv it Hermann Sudermann nicht. Aber als Bühnenſchriftſteller herab- 
gekommen. Sein Schauſpiel „Jer gute Ruf“ (Oeutſches Schauspielhaus) ift lehrreicher, 
als hundert theoretiſche Abhandlungen über den bedingten Kunſtwert theatraliſcher Technik. 


892 Zur deutſchen Ausgabe der Werke Friedrichs des Großen 


Hier haben wir die Handwerkerei, blank von jedem küͤnſtleriſchen, jedem ethiſchen Willen. Ein 
Theater, das ſich übertheatraliſiert. Kein Zug von Lebensähnlichkeit, keine Situation, die 
die Vernunft für möglich halten könnte. Und iſt doch alles — im Theater — möglich! Und 
hat bei gewiſſen Theaterfreunden lauten Beifall. um was geht's? Um die vérité du mon- 
sieur de la Pallisse! Daß der gute und der üble Ruf von der Geſellſchaft höchſt ungerecht 
den heuchleriſchen und den braven Frauen zugemeſſen wird. Für ſolch ein zweifelhaftes Grit 
erhitzt fid) Sudermann. In der Ordnung findet er's, daß feine ideale Frau eine ſchäbige Er- 
preſſung benutzt, ihren beſchädigten guten Ruf wieder herzuſtellen. Der böſe Engel dagegen, 
die andere Dame, iſt ſo böſe, daß er gewiſſermaßen verrenkte Gliedmaßen hat. Eine 
verheiratete Frau ſtellt ihren Geliebten einer reizenden Freundin zur Verfügung, damit dieſe 
und nicht fie ſelbſt in Verdacht komme. Sie gibt dann aus Eiferſucht bie blödſinnig opfer- 
willige Freundin der Verleumdung preis. Wo lebt die Eiferfüchtige, die nach folder Kon- 
ſtruktion handelt? Wo lebt bie Torin, die ſolches Freundſchaftsopfer bringt? Aber Guber- 
mann tut's einmal nicht wahrſcheinlicher! Im übrigen iſt eine Hausklingel die Hauptperſon 
des Schauſpiels. Die ſchrillt erſchreckend in die Boudoirſzenen. Es wird ertappt und ertappt. 
Des Nachts, wenn die Haustore geſchloſſen find kommen immerzu Beſuche, ſtehen Lauſcher 
auf der dunklen Treppe... Na, servus! 
* š * 

Dichter, die im Handwerk fehlten. Handwerker, die neben den Dichtern oder gegen 
die Dichter ſchreiten. Wo find bie Meiſter? 

Eine Sud-Didtung hat man in Bühnenform einzupreſſen verſucht, einen Koloß, der 
aller herkõmmlichen Formen ſpottet: Jofens „Brand“. Es geſchah nicht zum erſtenmal. 
Und es wurde auch diesmal — im Theater der Königgrätzerſtraße — nur ein unbeſtimmter 
Eindruck des Uberlebensgroßen hervorgerufen. Keine Wärme. Keine tragiſche Freude. Viel- 
leicht hätte ein anderer Schauſpieler den Pfarrer Brand, den reinen Toren, den harten Opferer 
feiner ſelbſt und der Menſchen, den unbeugſamen idealen Forderer, unſerem Gefühle näher 
bringen können. Hartau gab ihn mit heroiſcher Poſe, während er als ein ſchlichter Knecht 
ſeines göttlichen Willens gedacht iſt, — ungefähr wie ein Leo Tolſtoi, überſetzt aus der milden 
Zone in die Eisregion. Die Augenblicke, in denen die Ehrfurcht vor Zbſens Titanidengeiſt 
ſüßeren Gefühlen wich, waren die des Mutterleids, die wehen Szenen der unglücklichen Frau 
Agnes. Frene Trieſch hatte die Züge, die Stimme, die Seele einer Niobe. 

Nicht gelöft, aber doch mit liebevollem Verſtändnis behandelt wurde das ſzeniſche Problem 
der „Brand“-Aufführung. An der Oichtung, die wie ein Granitblock auf dem Plan ber neueren 
Literatur liegt, kann die Bühne auch künftig nicht vorübergehen. Denn „Brand“ iſt nicht 
nur eine hiſtoriſche Entwicklungsphaſe, — iſt doch wohl auch ein dauernder Beſtandteil des 
Kulturguts, das Henrik Sbfen heißt. Hermann Kienzl 


N 


Zur deutſchen Ausgabe der Werke 
Friedrichs des Großen 


N er Verlag von Reimar Hobbing zu Berlin bat mit der Herausgabe einer deutſchen 
Faſſung der Werke Friedrichs des Großen ein Unternehmen begonnen, deſſen 
Forderung unſeren Leſern aufs nachdrücklichſte zu empfehlen uns eine will- 
kommene Pflicht iſt. 

i Sit es beſchämend, ift es tragifd oder ift es nur einfach Verhängnis, daß uns die Werke 
Friedrichs des Großen geradezu verloren gegangen ſind? Oder liegt am Ende die Erklarung 


Zur deutfhen Ausgabe der Werte Friedrichs des Großen 893 


für biefe Tatſache darin, daß wir fie nie befeffen haben? In der Tat, wenn wir fie wirklich 
einmal unfer genannt hätten, wir hätten fie nicht mehr verlieren können. Selbſt Cãſar war 
kein wahrhaftigerer und klarerer Geſchichtſchreiber ſeines eigenen Tuns, als es Friedrich der 
Große geweſen iſt. Da dieſer Mann, wie kein anderer in gleich hervorragender Stellung, über 
ſich ſelbſt, ſeinen Beruf und über die Probleme, die ſeine Zeit bewegten, nachgedacht hat, 
ſo ſind ſeine Werke auch eine Fundgrube von tiefen Gedanken, ſcharfen Erkenntniſſen und 
wirklich erlebter Lebensweisheit. 

Vielleicht wäre die Gleichgültigkeit gegen den Schriftſteller Friedrich nicht moglich ge- 
weſen, wenn wir nicht den großen Konig Fritz fo febr liebten. Aber je niehr wir den Sieger 
in vielen Schlachten, den genialen Staatsmann, den Mehrer deutſcher Arbeitskraft und deutſcher 
Wohl habenheit, den großen Sorger ums Kleine, auch den einſamen Mann draußen in Gans- 
ſouci in unſer Herz ſchloſſen, um ſo weher tat uns der Gedanke, daß er ſeine geiſtigen Genoſſen 
unter ben franzöſiſchen Erbfeinden geſucht, daß er feine Schriften in franzöſiſcher Sprache 
geſchrieben, daß er für deutſche Sprache und Literatur kein Gefühl gehabt habe. Dieſe fran- 
zöſiſch geſchriebenen Werke ſpringen dem naiven, geſchichtlich ungeſchulten Sinne als eine 
Unbegreiflichkeit, dem geſchichtlich Empfindenden als ein bitterer Ausdruck des Jammers 
unſerer nationalen Kulturentwicklung ins Auge und ans Herz. Man möchte dieſe unliebſame 
Tatſache am liebſten vergeſſen und hat damit die Verke ſelber preisgegeben. 

Heute wiſſen wir aus tauſend und abertauſend Erſcheinungen unferer Literatur, daß 
die Anwendung der deutſchen Sprache noch keineswegs deutſchen Geiſt gewährleiſtet. Warum 
ſoll nicht auch einmal in franzöſiſcher Sprache deutſcher Geiſt verhüllt ſein? Wir haben es 
ja ſchon einmal durchgemacht, daß eine glückliche Oberſchicht des deutſchen Volkes ſich die 
Errungenſchaften einer fremden Kultur viel raſcher zu eigen gemacht hatte, als es dem Volk 
als Ganzes möglich geweſen. Und von der Höhe dieſes ziviliſierten Empfindens aus hatte man 
dann auch nach der Sprache jener gegriffen, die dieſe Kultur geſchaffen hatten. Denn nichts 
zeigt fo ſehr die jeweilige Ziviliſationsſtufe an, wie die Sprache. 9d) ſpreche von der Zeit der 
Ottonen, die zu einer eigenartigen lateiniſchen Renaiſſance in unſerer Dichtung führte, der 
eine fiberrafdende Fähigkeit des lateiniſchen Sprachgebrauchs in den höheren Gefellichafts- 
kreiſen, auch bei den Frauen, entſprach. Wenn man die gleichzeitigen romaniſchen Baudent- 
máler, die wundervollen kunſtgewerblichen Arbeiten des neunten und zehnten Jahrhunderts, 
die Freude an edlem Material, die kunſtvolle Gewandung ſieht — man denke etwa an die 
Schätze des Domes zu Aachen —, ſo kann man ſich eigentlich ſagen, daß die Sprache der 
Germanen ſich nicht fo raſch hatte entwickeln können, wie die Lebensführung der vornehmen 
Schichten. Es iſt uns Oeutſchen dann durchs ganze Mittelalter ähnlich gegangen. Wir haben 
die Lebenskultur des Rittertums von außen empfangen, und fo vermochte auch dieſes Ritter- 
tum nicht raſch genug die heimiſche Sprache ſeiner Lebensführung anzupaſſen, und führte 
deshalb bie Unmaſſe von Fremdwörtern ein. 

Erſt das deutſche Bürgertum, das langſam zur Lebenshöhe hinaufwuchs, hat den 
Zwieſpalt überwunden, und fo hat es innere Gründe, wenn die deutſche Profa vom Ende 
des vierzehnten Jahrhunderts ab ſich ſo gewaltig entwickelte, wo doch ſcheinbar die poetiſche 
Kraft verſagte. Selbſt bie lateiniſche Großtuerei der Humaniſten und Juriſten vermochte 
dieſe zur Lebensfülle herangereifte Kraft der Sprache nicht zu unterbinden. Erſt der Oreißig⸗ 
jährige Krieg hat uns wieder zurückgeworfen. Und nun ſahen fidh jene Rrelfe, denen in der 
neuen Friedenszeit eine höhere Lebensführung wieder leicht möglich wurde, in einer noch 
ſchlimmeren Lage, als die ihnen entſprechenden Volksſchichten achthundert Jahre zuvor. 

Friedrichs des Großen Vorliebe für den Gebrauch der franzöſiſchen Sprache, die allein 
feiner Scharfgeiſtigkeit, feiner klaren Sachlichkeit das entſprechende Sprachmaterial darbot, 
ift die letzte tragiſche Folge der geſchilderten Entwicklung. Aber während wir durch das lateinische 
Sprachgewand hindurch den Weg zum deutſchen Herzen der ottoniſchen Literatur gefunden 


894 Zur beut[djen Ausgabe der Werke Frledrichs des Großen 


haben, während wir mit beſeligter Freude aus den nach fremdem Muſter zugeſchnittenen, 
mit fremden Beſatzſtüͤcken überreich verbrämten ritterlichen Epen alle Bekundungen deutſchen 
Empfindens herausſpürten, ſind wir den Werken Friedrichs des Großen die gleiche Arbeit 
ſchuldig geblieben. Das bleibt, wo es fid) um dieſen Mann handelt, eine Undankbarkeit, die 
unbegreiflich wäre, wenn wir nicht gerade das neue Weltbürgerrecht unferer Sprache fo ſchwer 
gegen die Fremdherrſchaft hätten erkämpfen müſſen. Es bedurfte der dieſes Fremde ver- 
zehrenden Flamme der dichteriſchen Glut, um das neue Edelmetall deutſchen Sprachempfindens 
und deutſcher Sprachliebe zu ſchmieden. 

Man braucht in der Tat nur einige Seiten des „Anti-Machlavell“ der politiſchen Schriften 
oder der Geſchichte feiner Zeit gelefen zu haben, um zu fühlen: Der dies ſchrieb, war im Denken 
und Empfinden wie in ſeinem Wollen und Tun ein Deutſcher. Die jüngeren Zeitgenoſſen 
Friedrichs des Großen haben das gefühlt; man braucht nur auf den einen, Goethe, hinzuweiſen. 
And ſo iſt die Tatſache, daß es anderthalb Jahrhunderte dauern konnte, bis nun dem deutſchen 
Volke ſeines erſten großen nationalen Königs Werke in der Volksſprache geboten werden, 
ein febr nachdenklich ſtimmendes Zeichen für unfere ſtaatsbuͤrgerliche Ruͤckſtändigkeit. Denn 
es iſt wohl anzunehmen, daß, wenn Friedrichs des Großen Fähigkeiten nach der dichteriſchen 
Seite hin gelegen hätten, wir feine Werke längft beſäßen. Das gleichwertige, wenn nicht bedeut- 
ſamere Seitenſtück aber, bas feine Werke zu Bismarcks „Gedanken und Erinnerungen“ dar- 
ſtellen, haben wir ſo lange zu entbehren vermocht. Sicher zu unſerem großen Schaden; und 
fo wäre es jedenfalls die erwünſchteſte Wirkung, die uns das Erinnerungsjahr 1813 bringen 
könnte, wenn es unfer ftaatsbürgerlihes Verantwortlichkeitsgefüͤhl fo zu ſteigern vermochte, 
daß wir uns endlich die Gedankenwelt des erſten großen deutſchen Staatsbiirgers der Neuzeit 
zu eigen machten. 

Was von Verlags wegen getan werden kann, um Friedrichs des Großen Werke zunächſt 
in den Kreiſen der Gebildeten einzubürgern, das iſt in dieſer Ausgabe des Verlages Reimar 
Hobbing geſchehen. An der Überſetzung haben nur bewährte Schriftſteller mitgearbeitet, die 
verantwortliche Oberleitung liegt in den Händen des Hiſtorikers Volz. Muſterhaft iſt alles 
Außerliche. Die im größten Oktavformat gehaltenen Bände find in der Reichsdruderei ganz 
prachtvoll gedruckt, die Einbände ſind von gediegen vornehmer Arbeit. Als Hauptſchmuck, 
mit dem dieſe Veröffentlichung Hunderten einen lang gehegten Wunſch erfüllt, bringt ſie jene 
zweihundert Slluftrationen Adolf von Menzels, die ber Künſtler in den Jahren 1843 bis 1849 
im Auftrage König Friedrich Wilhelms IV. geſchaffen hat. Dieſe Bilder waren bisher nur 
in der ſogenannten Fürſtenausgabe, der „CEuvres de Frédéric le Grand“, enthalten, die nur 
an gekrönte Häupter und einige Freunde des Königs verſchenkt wurde. 1886 wurde eine 
Sonderausgabe der Zeichnungen veranftaltet, aber ohne den Text, mit dem fie aufs innigſte ver- 
wachſen ſind. Das Urteil aller Kunſtverſtändigen geht wohl einig dahin, daß noch niemals 
vom Zeichenſtift eines Rünftlers eine fo dem Geiſte des illuſtrierten Werkes verwandte Bilder- 
folge geſchaffen worden iſt, wie hier von Menzel. Außerdem aber ſind in prächtigen Tafeln, 
von denen die beiden bisher erſchienenen Bände (der zweite und ſiebente) achtzehn bzw. vierzehn 
enthalten, die Bildniſſe aller wichtigen Perſönlichkeiten der Zeit Friedrichs des Großen nach 
den beſten Vorlagen, zum großen Teil nach den im Beſitz der preußiſchen Krone befindlichen 
zeitgenöſſiſchen Gemälden, beigegeben. 

Angeſichts dieſer Leiſtungen ift der Preis von 10 K für den Band wirklich außerordent- 
lich gering, und da die Bände in vierteljährlichem Abſtand voneinander erſcheinen, iſt hier 
in der Tat die Möglichkeit geſchaffen, daß dieſes Werk, das in jedem Sinne die Bezeichnung 
eines Prachtwerkes verdient, Gemeingut der gebildeten Kreiſe unſeres Volkes werden kann. 


St. 
e» 


Das Elend bes deutſchen Bichermarttes 895 


Leſe 


Das Elend des deutſchen Büchermarktes 


Vor Jahren ſtarb in Wien ein bekannter Börſenmillionär, ein Emporkömmling. Er 
galt als großer Freund und Förderer von Kunſt und Wiſſenſchaft, war in allen Konzerten und 
Kunſtausſtellungen zu treffen und fehlte in keiner Theaterpremiere. Als man die Hinterlaffen- 
[daft des Zunggefellen aufnahm und nach feiner Bibliothek ſuchte, ergab ſich, daß fie aus einem 
einzigen Büchlein beſtand, aus dem Textbuch der damals ſehr beliebten Operette „Fatinitza“! 

Ein Berliner Induſtrieller mit einem Jahreseinkommen von etwa 10000 & führt ein 
ſehr gaſtfreundliches Haus. Seine Frau ſucht ſich ſchriftſtelleriſch zu betätigen, zwei erwachſene 
Töchter führen die Wirtſchaft. Unlängſt gab er eine kleine Geſellſchaft mit deklamatoriſchen 
Vorträgen. Man kam auf Goethes „Taſſo“ zu ſprechen, ſtritt über eine Stelle und erbat von 
der Hausfrau den betreffenden Band von Goethes Werken, um nachzuſchlagen. Die Haus- 
frau geriet in Verlegenheit. Denn ſie pflegte ihre literariſche Koſt aus der Tagespreſſe und 
einer Leihbibliothek zu beziehen. Auch Goethes und Schillers Werke beſaß fie nicht. Mit einer 
kühnen Ausrede kam ſie über ihre Verlegenheit hinweg. Auf ihrer letzten Sommerreiſe habe 
ſie Goethes und Schillers Werke wie ſtets mitgenommen, ſie ſtänden leider auf dem Boden 
und ſeien noch nicht ausgepackt! 

Nur zu Weihnachten pflegt der Durchſchnittsdeutſche Bücher zu kaufen, um fie zu ver- 
ſchenken. Und da erſcheinen ſeit einigen Fahren die Großbazare und Varenhäuſer mit billigen 
Angeboten. Was ſie vertreiben, läßt ſich in drei Gruppen einteilen: 1. Schlechte Neudrucke 
älterer Werke auf grobem Papier, eigens für fie aufs allerbilligſte hergeſtellt; 2. allerlei Bücher, 
die der Verleger nicht abſetzen konnte und im Ramſch billig losſchlug, darunter fogar alte Beit- 
Schriften mit neuem Titel, und 3. neuere Werke zu den gewöhnlichen Ladenpreiſen. Hört dann 
der Ourchſchnittsdeutſche: Zwei ſchöne dicke Bände im Karton ſtatt 10 & für 2½ 4, fo kauft 
er, ohne die Ramſchware näher zu prüfen, ob ſie überhaupt inneren Vert hat. | 

Gewiß gibt es noch viele Deutſche, die bei Ankauf eines Buches forgfaltig find wie bei 
Ankauf eines Kleides. Aber die Maſſe läßt ſich ausſchließlich von der Billigkeit leiten. Auf dem 
Gebiet der Jugendſchriften und der ſchönen Literatur wurde durch die Ramſchbazare und 
Warenhäufer in den letzten Jahren billiger Schund in ungeheuren Maſſen an die Urteilslofig- 
keit und Beſchränktheit abgeſetzt, während gute Jugendfdriften und wertvolle Bücher nur 
geringe Beachtung fanden. Selbſt Hoffmanns wirkſamen „Struwelpeter“ ſuchten die 
Warenhdufer durch Maſſenangebot eines wertloſen Machwerks u. d. T. „Der neue Struwel- 
peter“ in gleichem Format uſw. zu verdrängen. 

So erklärt (id) der hohe Preis guter Bücher. Der „Deutſche und Oſterreichiſche Alpen- 
verein“ gibt feine Zeitſchrift alljährlich als Jahrbuch zu Weihnachten heraus. Der neue Jahr- 
gang ijt ein ſtattlicher Band in Lexikonoktav, 342 Seiten (tart, mit 24 ſchönen Vollbildern, 
60 Textbildern und 2 vorzüglichen großen Rartenbeilagen. Im Buchhandel würde dieſes Werk 
10—15 & koſten. Der Verein läßt für feine Mitglieder 90 000 Stück drucken und zahlt bei 
dieſer hohen Auflage nur 1,40 & für das Stück. Man mag danach berechnen, wie billig gute 
Bücher ſein könnten, wenn ſie viel gekauft würden, und welchen Schaden der Abſatz guter 
Bücher und ſchließlich das deutſche Volk erleidet infolge des durch marktſchreieriſche Reklame 
geförderten Maſſenabſatzes billiger Schund und Ramjdliteratur. D. 


* * 


896 Der abgeſchlachtete Shiller · Wortidtofyntrafie 


Der abgeſchlachtete Schiller 


In Eberhard Buchners vortrefflichem Sammelwerk „Das Neueſte von Geſtern“ (Ver- 
lag Albert Langen, München) findet ſich eine Kritik über „Kabale und Liebe“ aus dem Zahre 
1784, die man heute nicht ohne einige Heiterkeit leſen wird. Der geſtrenge Herr Rezenſent 
der „Voſſiſchen Zeitung“ ift es, der den armen Schiller alfo abkanzelt: „Zn Wahrheit wieder 
mal ein Produkt, das unſern Zeiten Schande macht! Mit welcher Stirn kann ein Menſch 
doch ſolchen Anſinn ſchreiben und drucken laffen, und wie muß es in deffen Kopf und Herz aus- 
ſehen, der ſolche Geburten ſeines Geiſtes mit Wohlgefallen betrachten kann. Doch wir wollen 
nicht deklamieren. Wer 167 Seiten voll ekelhafter Wiederholungen gottesläfterlicher Ausdrücke, 
wo ein Geck um ein dummes, affektiertes Mädchen mit der Vorſicht rechtet, und voll kraſſen, 
pöbelhaften Witzes oder unverſtändlichen Galimathias durchleſen kann und mag, der prüfe 
ſelbſt. So ſchreiben heißt Geſchmack und geſunde Kritik mit Füßen treten; und darin hat denn 
der Verfaſſer diesmal fic ſelbſt übertroffen. Aus einigen Szenen hätte was werden können, 
aber alles, was dieſer Verfaſſer angreift, wird unter feinen Händen zu Schaum und Blaſe. — 
Koſtet in der Voſſiſchen Buchhandlung allhier 10 Gr.“ 

Einige Tage ſpäter macht der Kritiker ſeinem Herzen noch einmal Luft. Nachdem er 
einige Zitate aus dem Drama gegeben, fährt er fort: „Doch, ich bin einmal müde, mehr 
Anſinn abzuſchreiben. Bloß der Unwille darüber, daß ein Menſch das Publikum durch falſchen 
Schimmer blendet, ihm Staub in die Augen ftreuet und auf ſolche Weiſe ben Beyfall zu er- 
ſchleichen ſucht, konnte zu dieſer ekelhaften Beſchäftigung anſpornen. Nun fey es aber ge- 
nug; ich waſche meine Hände von dieſem Schillerſchen Schmutze und werde mich wohl hüten, 
mich je wieder damit zu befaſſen.“ 


Wortidioſynkraſie 


Die im Individuellen wurzelnde Abneigung gegen beſtimmte Worte unb Wortzufammen- 
hänge iſt, wie Fritz Roſe im „Lit. Echo“ ausführt, eine in der Literatur durchaus nicht ſeltene 
Erſcheinung und tritt faſt ebenſo häufig auf, wie die Vorliebe einzelner Autoren für gewiſſe 
Ausdrücke und Wendungen. Bereits Nietzſche hat darauf hingewieſen, daß den Wörtern 
nicht nur ſubjektiv ein gewiſſer Geſchmack oder Geruch anhaftet, auf den der Schreibende fym- 
pathiſch oder antipatbi[d) reagiert. Dazu kommt noch, daß einzelnen Wörtern eine Marke, 
wie vulgär, preziös, archaiſtiſch angeheftet wird, und ihnen nebelhaft einpüllende Stimmungs- 
eindrüde überallhin folgen. Von Goethe weiß man, daß er in feinen letzten Lebens- 
jahren das Wort „Tod“ geradezu verpönte und ſich ſtatt deſſen aller möglichen euphemiſtiſchen 
Amſchreibungen bediente. Ein fo ſchöner Ausdruck wie „das Heimweh“ wird doch noch in der 
Periode der Klaſſiker von den meiſten gemieden, weil man mit Dubos der Anſicht bulbigte, 
daß dies eine Krankheit fei. Ebenſo gut oder ſchlecht ijt die Abneigung begründet, die der Direktor 
im Fauſtvorſpiel vor dem Wort „Nachwelt“ empfindet, von dem er nichts hören mag. 

Mauthner geſteht einmal: „Shakeſpeare erregte Stimmung durch Worte wie Venus 
und Mars; ich babe dabei die Empfindung, als frage jemand auf Glas.“ Schopenhauer, 
der beſonders unter Wortidioſynkraſie litt, greift längſt farblos gewordene Wörter an, wie 
„Ounkelkammer“, „Felswand“, „Berufung“, „Tragweite“, gegen die ſich nichts Triftiges ein- 
wenden läßt. Der Aſthetiker Neumann findet das Wort „Buchſchmuck“ abſcheulich unb 
rat das gleichgebildete „Buchzier“ an. Der Generalpoſtmeiſter Stephan mochte das gute 
Wort „Prüfling“ nicht leiden, G i lò em e i fter verabſcheut gute Ausdrücke, wie „erziehlich“, 
v»bumorvoll“, Liliencron ift geradezu empört über das hübſche Wort „finnig“, weil er 
dabei an Goldſchnittlyrik denken muß 


A 


* ** 
* 


ees hi hri A OF Mt! bt b 


nftlerorganif ation 
Von Dr. Karl Storck 


raft gleichzeitig haben in den letzten Wochen in Berlin und München 
mehrfach Verſammlungen und Beratungen ftattgefunden, die auf 
eine Organiſation der deutſchen bildenden Künſtler hinzielen. Die 
Cu Forderungen, bie an eine (olde Organiſation geftellt, bie Hoffnun- 
gen, bie auf fie gefebt werden, [inb ſehr mannigfach und gehen vielfach ſtark aus- 
einander. Dagegen hat ſich kaum ein Zweifel hervorgewagt gegen die Notwendig- 
keit dieſer Organiſation ſelbſt. Dieſe Tatſache iſt ſehr bemerkenswert; denn noch 
vor wenigen Jahren begegnete man, wie ich aus Erfahrung bezeugen kann, in 
der Künſtlerſchaft mit ſolchen Organiſationsplänen in der Regel nur einer höchſt 
akademiſchen Zuſtimmung, die an ein wirklich praktiſches Vorgehen nicht glauben 
wollte. 

Gewiß liegt der Wandel dieſer Geſinnung zum Teil in der Geſamtſtimmung 
unſerer Zeit. Immer weitere Kreiſe des Volkes ſuchen fid) durch ein oft febr ver- 
wickeltes Verſicherungsſyſtem gegen die Not der Zeit und die Unſicherheit der 
Lebensverhältniſſe zu ſchützen, und unfer ganzes ſoziales Leben drängt auf den 
Zuſammenſchluß jener, die durch die Gleichartigkeit ihrer Arbeit auf die gleichen 
Kampfesbedingungen mit den anderen Lebensmächten angewieſen ſind. So ſind 
denn auch die beiden Haupttriebkräfte, die die Künſtlerſchaft zu einem Sufammen- 
ſchluſſe drängen, dieſelben wie auf allen anderen ſozialen Arbeitsgebieten: einer- 
ſeits die Not, andererſeits üble Mißſtände, die zum Teil auf dieſer Not beruhen, 
zum Seil auch durch das Eindringen Unberufener in die Künſtlerſchaft ver- 
urſacht ſind. 

Die traurigen wirtſchaftlichen Verhältniſſe des großen Teils der fünjtlet- 
ſchaft ſind unleugbar. Sie laſſen ſich, allerdings nur bis zu einem gewiſſen Grade, 
ſogar in Zahlen veranſchaulichen. Nach der Berufszählung vom Fabre 1907 gab 
es im Deutſchen Reiche 8700 Männer und Frauen, die im Hauptberufe bildende 
Künſtler waren, wozu noch 577 nebenberuflich künſtleriſch Beſchäftigte hinzu- 
kommen. Das war über ein Drittel mehr als bei der vorangehenden Berufs- 
zählung vom Jahre 1895. Auf keinen Fall iſt der Abſatz an Kunſtwerken 05 dieſer 

Der Zürmer XV, 6 


898 | Storck: Rünftierorganifation 


Zeit im gleichen Maße geftiegen. Wenn nun (dion um 1895 (bei der erſten Sáb- 
lung) bie wirtſchaftlichen Verhältniſſe der Rünftlerfchaft nicht günjtig waren, fo 
find fie durch den verminderten Abſatz einerjeits und die Steigerung ſämtlicher 
Lebensverhältniſſe andererſeits inzwiſchen immer ſchlechter, zum Teil troſtlos 
geworden. 

Es iſt natürlich auf dieſem Gebiete ſchwer, mit Zahlen zu arbeiten. Dreys 
für einen erſten Verſuch ausgezeichnetes Buch „Die wirtſchaftlichen Grundlagen 
der Malkunſt“ konnte natürlich nur das amtlich zugängliche Material benutzen. 
Dieſes freilich redet eine ſehr troſtloſe Sprache. Während z. B. in den fünf Jahren 
1899 bis 1905 bei den Ausſtellungen im Münchner Glaspalaſt für 2 205 000 M 
verkauft wurde, brachten die fünf Jahre von 1904 bis 1908 an derſelben Stelle 
310 000 & weniger (1985 000 M). Dabei ift freilich zu berechnen, daß in der 
Zwiſchenzeit das Kunſtgeſchäft in außerordentlich geſteigertem Maße in die Hände 
der Kunſthändler übergegangen iſt. Doch wird man mit Recht auch darin eine 
Verſchlechterung ber Lebensbedingungen der Künſtler ſehen. 

An der ſchweren wirtſchaftlichen Not der Künſtlerſchaft iſt nicht zu zweifeln. 
Die Künſtler ſelbſt, obwohl ſie durchweg zu einer roſigen Darſtellung neigen und 
Gott ſei Dank ſich etwas von ihrem goldenen Leichtſinn noch immer bewahrt haben, 
geben heute die Notlage unumwunden zu. Bei dem Kampfe, den z. B. die Ber- 
liner Künſtlerſchaft gegen die Polizeiverordnungen um die Erlaubnis des Be- 
wohnens der Atelierſtockwerke führte, traten in einer erſchreckenden Fülle fo er- 
bärmliche Lebensbedingungen zutage, daß die Preſſe wohl doch beſſer getan hätte, 
die Geſchehniſſe nicht ſo ſehr von der feuilletoniſtiſchen Seite aus zu behandeln. 
Man kann ſich aber auch ſo ſagen, daß die Not wirklich bitter ſein muß, wenn ſich 
die Berliner Polizeibehörde zu einer Zurücknahme ihrer Verordnung verſtand. 

Auf der anderen Seite haben wir die üblen Mißſtände im Kunſtbetriebe. 
Der Dilettantismus macht fid) in einer früher ungeahnten Weiſe breit und be- 
gnügt ſich längſt nicht mehr mit der Verkunſtgegenſtandelung der eigenen Woh- 
nung, ſondern überſchwemmt mit ſeinen Erzeugniſſen den Kunſtmarkt ſelbſt. 
Aber auch in ben engſten Berufskreiſen find in der letzten Zeit, vor allem bei Wett- 
bewerben, unglaubliche Fälle vorgekommen. Die breite Offentlichkeit iſt in der 
letzten Zeit mit dem Fall des Kaiſerdenkmals in Rüftein beſchäftigt worden; man 
braucht ſich danach nicht mehr auf bloßes „Gerede“ in Künſtlerkreiſen zu berufen. 

Angeſichts ſolcher Tatſachen iſt es begreiflich, wenn von den zu gründenden 
„Künſtlerkammern“ vor allem eine Regelung des Wettbewerb- 
weſens verlangt wird. Es find in Berlin Delegierte einer großen Zahl bedeuten- 
der Künſtlervereinigungen zuſammengetreten, um Einheitsbeſtimmungen für 
künſtleriſche Konkurrenzen auszuarbeiten. Man hofft, daß nach Fertigſtellung 
dieſer Arbeit dieſe Bedingungen von den Behörden und privaten Ausſchreibern 
allen Wettbewerben zugrunde gelegt werden. Doch iſt das nur eine der vielen 
Arbeiten, die dieſen Künſtlerkammern zugedacht ſind. 

Künſtler kammer! 

Mit dem Worte verbindet fid) die Vorſtellung einer Organiſation, die Whn- 
lichkeiten hat mit den bereits beſtehenden Kammern, alfo Handelskammer, Ärzte- 


Stord: Ninfilerorganifation: 899 


kammer, Anwaltskammer und dergleichen. Es handelt jid) alfo im Grunde um 
eine ſtaatliche Zwangsorganiſation des Riinfilerberufes. Da lehnt fid) wohl in 
jedem Menſchen inftinftip das Gefühl auf gegen die Verbindung der Begriffe 
Künſtlerſchaft und Zwangsorganiſation. Auch dem hiſtoriſch Geſchulten hilft die 
Erinnerung an das Innungsweſen der Vergangenheit nicht gegen dieſes Empfin- 
ben, mag man fid hundertmal (agen, daß damals innerhalb dieſes Innungs- 
zwanges auch große Künſtlernaturen gediehen ſind. Denn der Begriff der Freiheit 
der Kunſt iſt in jahrhundertelanger Entwicklung gewonnen worden und iſt ein 
Gut, das wir nicht wieder verlieren dürfen. 

Es iſt eine unbedingte Tatſache, daß die Verhältniſſe, wie ſie heute ſind, 
nach Abhilfe ſchreien, daß es fo nicht weitergehen kann. Aber wenn eine fegens- 
reiche Gegenarbeit geleiſtet werden ſoll, ſo muß man ſich in der Künſtlerſchaft und 
in der Öffentlichkeit vor allen Dingen ganz klar darüber werden, wo und wie 
weit dieſe Hilfe gehen darf. 

Da muß jede Überlegung uns unbedingt dahin führen, daß die auf 
anderen Gebieten beſtehenden Verhältniſſe nicht ein 
fach auf die Kunſt übertragen werden können. Denn die 
Kunſt ſteht anders im Leben, als alle anderen Berufe. 

k * 
* 

Dieſe Organiſationsbeſtrebungen ſind eine Erſcheinung des Kampfes ums 
nackte Daſein. Auch der Künſtler will leben, muß leben. Und er muß von der 
Arbeit leben, die er hervorbringt. In der Hinſicht ſteht er mit allen anderen Be- 
rufen gleich. Von dieſen verſchieden aber ift er dadurch, daß dieſes Daſein die 
Kunſt nicht braucht. Die Kunſt iſt keine Notwendigkeit, ſondern ein Luxus des 
Lebens. Man mißverſtehe mich nicht. Das Leben wäre mir nicht lebenswert ohne 
die Kunſt. Es wäre ein Vegetieren, wenn es nur aus dem beſtände, was zum 
nackten Dafein notwendig ift. Vom Standpunkt alles deffen, was Lebensſchönheit 
iſt, iſt die Kunſt vielleicht das Notwendigſte. Aber man vergeſſe nicht, daß man 
ohne Schönheit leben kann. Auch der zum Kunſtgenuß reich Veranlagte muß eſſen, 
er kann aber ohne Kunſtgenuß auskommen. 

Aber auch auf der Stufe eines höheren Kulturlebens iſt die Leiſtung des 
Künſtlers entbehrlicher, als die anderer Kulturberufe, entbehrlicher auch, als z. B. 
die Arbeit des Gelehrten. Denn dieſe Arbeit des Gelehrten dient in irgendeiner 
Form immer wieder der Erzeugung gefteigerter Fähigkeiten, um das Lebens- 
unumgängliche zu erzielen, um uns für das Lebensnotwendige ſtärker zu machen; 
wogegen bie Kunſt immer und immer nur bie Verſchönerung in dieſes Leben tra- 
gen kann. | 

Am meiften erſchwert aber wird die Lebenslage der Kunſt durch ihre höchſte 
Eigenſchaft, die wir als Ewigkeitsgehalt zu bezeichnen gewohnt find. Einmal ge- 
ſchaffene Kunſt bleibt ein Gut der Menſchheit. Es iſt für den Kunſtgenuß an ſich 
nicht notwendig, daß immer neue Kunſt erzeugt wird. Man erkennt auch hier, 
daß die übrige geiſtige Arbeit vom Standpunkt der Bedürfnisfrage weit günftiger 
geſtellt iſt. Die Gelehrtenarbeit z. B. muß immer aufs neue geleiſtet werden; 
der Fortſchritt der Zeit gebietet dieſe Erneuerung. Für die Kunſt kann man die 


900 Storck: RNin{tlerorganifation 


Dauerhaftigkeit geradezu als Gradmeſſer anlegen, und es ift jedenfalls der feinſte 
und letzte Unterſchied zwiſchen Kunſtgewerbe und freier Kunſt, daß auch das erſtere 
von ben Bedürfniſſen neu verlangt wird. Darum ift auch — das fei hier ein- 
geſchoben — eine Organiſation der reproduzierenden Künſtler ſo viel leichter. In 
der Muſik z. B. iſt eine Organiſation der Orcheſterſpieler im weſentlichen einfach 
ein ſoziales Gegenſtück zu anderen Berufsorganiſationen. Dieſe Orcheſtermuſiker 
werden gebraucht, neue Komponiſten aber nicht, denn wir beſitzen ja den ungebeu- 
ren Schatz an überlieferter Muſik. (Es wird natürlich hier alles ganz ſchroff vom 
Standpunkte einer mehr äußeren Bedürfnisfrage beleuchtet. Daß für die Erlöſung 
bes inneren Verlangens jede Zeit ihre eigene Runft. nötig hat, braucht nicht erft 
geſagt zu werden.) 

Aus alledem ergibt ſich, daß der Künſtler nicht mit anderen 
Werterzeugern gleichgeſtellt werden kann. Es iſt bezeichnender- 
weiſe auch gar nicht möglich, ihn unter die ſozialen Typen, die unſerer Zeit ge- 
läufig ſind, einzuordnen. Oskar A. H. Schmitz ſagt darüber ſehr zutreffend: „Er 
iſt Unternehmer, denn er arbeitet auf eigenes Riſiko und ohne Vorgeſetzten, aber 
auch Arbeitnehmer, denn er erhält Aufträge, ja, man hat ihn ſogar nicht mit Un- 
recht mit dem Heimarbeiter, dieſem Paria unſerer ſozialen Schichtung, verglichen. 
Wenn er ſeine Werke einem großen Verlag übergibt, fo gleicht er dem Kapitaliſten, 
der Geld in ein Unternehmen ſteckt; wenn er aber mit feinen ohne Rüdficht auf 
den Markt hervorgebrachten Werken von Tür zu Tür geht, dann iſt er dem Hauſierer 
ähnlich, jenem unterſten Typ des Geſchäftsmannes. Dann aber gleicht er wieder 
keinem von allen dieſen, wenn ſein Schaffen lediglich einem inneren Bedürfnis 
folgt und nachträglich erſt, ſo gut es eben gehen will, das Produkt auf den Markt 
gebracht wird.“ 

Aus dem letzten Satze ergibt fid, daß auch bie künſtleriſche Arbeits- 
leiſtung mit anderen Arbeitsleiſtungen nicht zu vergleichen ijt. Der alte Böd- 
lin erzählte oft lachend, wie ihm ein Baſeler Nachbar, ein Schlächter, der eben ein 
aufgeſchnittenes Kalb in ſeinen Laden trug, dröhnend zurief: „Ja, ja, das heißt 
anders g'ſchafft, als fo e bitsli pinſele!“ Aber auch die höchſte Auffaſſung künftle- 
riſcher Arbeit ſetzt dieſer zur Grundbedingung eine völlig andere Einſtellung ihres 
Erzeugers, als die für andere Berufe gewohnte. Verbinden wir doch mit dem Be- 
griffe des künſtleriſchen Schaffens, ja der künſtleriſchen Natur überhaupt, daß fic 
nicht in dem Streben nach Erwerb, ja eigentlich auch nicht nach Ruhm tätig ſei. 
Eine höchſte innere Not, ein geradezu überirdiſcher Zwang und eine unvergleid- 
liche Luft des Geſtaltens ift für uns vom tiefſten Weſen des Kunſtſchaffens un- 
zertrennlich. Wie ſoll nun das Erzeugnis einer ſolchen eigenartigen Arbeitsleiſtung 
innerhalb des übrigen Lebensmarktes bewertet werden? Wohlverſtanden, ich 
ſpreche von dem Erzeugnis des lebenden Künſtlers, deſſen Werke noch nicht durch 
andere, außerhalb feines Weſens liegende umſtände einen Marktwert bekommen 
haben. 

Wer mit Künſtlern verkehrt, lernt die verſchiedenſten Wege kennen, auf denen 
ſich die Künſtler, ohne wohl darüber beſonders nachgedacht zu haben, in ihrer 
merkwürdigen Lebensſtellung zu helfen ſuchen. 8d kenne einen jungen Maler, 


‚Store: Rünftlerorganifation 901 


bei bem die Unterſcheidung zwiſchen „Werk“ und „Bild“ zum ganz naiven Sprach- 
gebrauch geworden iſt. Bilder macht er, um leben zu können. Seine Werke ſchafft 
er, weil er eben ein Künſtler iſt. Jene Bilder verkauft er, wie er ſie verkaufen kann. 
Für ſeine Werke ſetzt er hohe Preiſe an; im tiefſten Innern möchte er (wie jeder 
Künſtler) fie gar nicht verkaufen, ſondern er ſieht fie aufgeſtellt unter gewiſſen Bor- 
bedingungen in Muſeen, Paläſten, in Wohnräumen, unter Vorſtellungen, wie ſie 
jeder Künſtler beim Schaffen feines Werkes haben muß. Es ift das, um deffent- 
willen er auf der Welt iſt, das, wodurch er einen Dauerwert der Welt zu bedeuten 
überzeugt iſt. 

So haben wir faſt bei allen Künſtlern den merkwürdigen Fall, daß ſie jene 
Werke, die eigentlich marktgängig ſind, für die ſich leicht Käufer finden, nicht hoch 
achten und eher billig abzugeben bereit find; daß fie dagegen meiſtens ihre un- 
verkäuflichen Werke beſonders hoch einſtellen. Es ijt alfo hier genau das entgegen- 
geſetzte Verhältnis, wie bei jedem anderen Werterzeuger. Der Fabrikant erhöht 
den Preis für jene Ware, die viel verlangt wird, während er bie als wertlos ver- 
ſchleudert, nach der keine Nachfrage beſteht. 

Wie viele Maler helfen fid) durch eine Unterſcheidung zwiſchen Illuſtration 
und Bild! Sie brauchen dabei die Slluftrationsaufträge keineswegs unkünſtleriſch 
auszuführen. Aber dieſe ſind Arbeiten, die von außen an ſie treten, und für dieſe 
Arbeiten ergibt ſich auch verhältnismäßig leicht die Feſtlegung eines Marktwertes. 
Im Verlagsbuchhandel find die Preiſe, die für Illuſtrationen, Buchſchmuck, Um- 
ſchläge und dergleichen bezahlt werden, ziemlich ebenſo genau geregelt, wie das 
Zeilenhonorar für die Journaliſten. Aber jeder Künſtler empfindet eigentlich diefe 
Tätigkeit, mag fie für ihn noch fo einträglich fein, als üblen Zwang, als das Un- 
künſtleriſche feines Daſeins. Und wir können auch überall beobachten, wie ſchwer 
es dem Künſtler fällt, ſein Künſtlertum gegen dieſe vom Leben ihm aufgezwungene 
Arbeit rein zu erhalten. Kaum einer geht ohne Schaden durch dieſe Tätigkeit 
hindurch. 

Der Künſtler kann ſich nicht wundern, wenn die übrige Menſchheit mit ihm 
als Arbeiter nichts Rechtes anzufangen weiß, wenn ſie ihn in der Hinſicht nicht für 
voll nimmt. Er ſetzt ſich kühn über die Lebensbedingungen der übrigen Menſchen 
hinweg; er ergreift eine Tätigkeit, die inſofern kein Lebensberuf iſt, als dieſes 
Leben in ſeiner ſozialen und geiſtigen Geſamtorganiſation kein Bedürfnis für ihn 
hat. Denn je größer der Künſtler, je neuer ſeine Kunſt, um fo weniger ijt Ve- 
dürfnis nach ihm vorhanden. Er iſt ja neu. Die Welt kann aber bloß nach etwas 
verlangen, was ſie bereits kennt. 

Der Künſtler ſtellt ſich aber auch ſonſt unter ganz beſondere Lebensbedingun- 
gen. Jeder andere Beruf hat ſeine ſichtbare, wenn man will auch kontrollierbare 
Arbeitszeit. Es ſind ganz beſtimmte Leiſtungen, die aufgebracht werden müſſen. 
Dieſe Leiſtungen werden bezahlt. Der Künſtler harrt der Stunde, die ihn zum 
Schaffen drängt. Jedes neue ſeiner Werke iſt ein neues Problem, auch hinſichtlich 
der Arbeit. Von zwei äußerlich gleich erſcheinenden Werken kann das eine das 
Erzeugnis von Jahren, das andere von Stunden ſein. Darum hat ſich das Volk 
auch die Vorſtellung von dem ins gewöhnliche Leben nicht hineinpaſſenden Künft⸗ 


902 Storck: Rünftferorgantfation 


ler geſchaffen. Sie find ihm alle gleich lebensuntüchtig: der in der Dachkammer 
hungernde Poet, wie der mit Gold überhäufte, das Gold verſchwendende gefeierte 
Liebling der Geſellſchaft. Für dieſe Volksſeele iſt der Künſtler unfähig, mit den 
irdiſchen Dingen umzugehen. 

Dieſe Vorſtellung deckt ſich ja durchaus nicht immer mit der Wirklichteit, 
aber ſie hat ihre innere Berechtigung aus dem Weſen der Kunſt. Kann aber der, 
der ſich ſo außerhalb der ſozialen Ordnung des geſamten übrigen Lebens ſtellt, 
erwarten, daß ihn diefe ſoziale Ordnung ſchützt? Kann er für fein Ausnahme- 
daſein die Hilfs- und Schutzmittel des übrigen Lebens verwenden? 

* * 


* 

Die Möglichkeit, organiſatoriſch in das ſoziale Leben der Kunſt einzugreifen, 
gründet fid) auf die Beziehungen der Kunſt zum übrigen Leben. In dieſen Be- 
ziehungen liegen aber auch die Grenzen für die Organiſation. Immer muß man 
ſich darüber klar bleiben, daß das rein Künſtleriſche ſich aller ſozialen Organiſation 
entzieht, denn es iſt ein Unperfönliches, durchaus Individuelles, das immer und 
überall feine Oaſeinsgeſetze aus fid) ſelbſt empfängt, alfo auch jeder dogmatiſchen 
Faſſung dieſer Geſetze unzugänglich iſt. 

An Gielen Tatſachen ſcheitert der Gedanke einer ſtaatlichen Standesorgani- 
ſation der Künſtler; denn das würde ein untrügliches Kriterium des Künſtlerſeins 
vorausſetzen. Wohl aber ift eine ſolche Organiſation für den Runſt unter- 
richt möglich, denn ſoweit der Künſtler als Lehrer ſeiner Kunſt auftritt, iſt er 
nicht mehr ſchaffender Künſtler. Eine ſolche ſtaatliche Organiſation des Runft- 
unterrichts iſt ebenſo dringend zu wünſchen, wie die gleiche Regelung für den 
Muſikunterricht. In beiden Fällen handelt es ſich um das Geeignetſein zur Päd- 
agogik. So gut fid) diefe Eignung auf allen geiſtigen Gebieten prüfen und über- 
wachen läßt, ebenſogut für die Kunſt. Ganz ſelbſtverſtändlich wird davon das Lepr- 
verhältnis zwiſchen Schülern und Künſtlern nicht berührt. Wenn ein im Grunde 
bereits fertiger Kunſtjünger zu der Art eines Meifters fid) beſonders hingezogen 
fühlt und die Unterweifung desſelben aufſucht, fo fällt bas ebenſowenig unter bie 
hier gemeinte Kunſterziehung, wie etwa der Umgang eines Studenten oder jungen 
Gelehrten mit einem alten Profeſſor oder bedeutenden Schriftſteller, zu dem ihn 
das Verlangen nach unterweiſender geiſtiger Ausſprache zieht. 

Das Gefühl entſcheidet hier ganz deutlich, und es iſt eitel Spiegelfechterei, 
wenn derartige Fälle gegen das Verlangen nach ſtaatlicher Überwachung und 
Regelung des Kunſtunterrichts ins Feld geführt werden. Es handelt ſich hier nur 
darum, das vertrauende Laientum gegen ein betrügeriſch ausbeutendes oder irre- 
führendes Unternehmertum zu ſchützen. Wenn wir einer noch ſo großen Freiheit 
in der Ermöglichung, ein Kunſtſchaffen der Öffentlichkeit vorzuführen, zuſtimmen, 
ſo heißt das noch lange nicht billigen, daß jeder problematiſche, erſichtlich unfertige 
Experimentierer gleich als Lehrer auf die Menſchheit losgelaſſen wird. Nur des- 
halb hat der Dilettantismus in der Malerei eine ſo grauenhafte Ausdehnung ge— 
nommen, nur deshalb hat der für Liebhaber beſtimmte Kunſtunterricht ſo üble 
Folgen gehabt, weil all die Problematik, die unſere neuzeitliche Malerei hin und 
her geriſſen hat, in dieſen Unterricht hineingetragen worden iſt, der doch vor allen 


Storck: Künſtlerorganiſation 903 


Dingen die Grundregeln, das alphabetiſche Können alles Kunſtſchaffens zu ver- 
mitteln hatte. Aber kaum hat ein Futuriſt oder Kubiſt oder ſonſt ein „-ifte“ durch 
ſeine doch ehrlicherweiſe von ihm ſelbſt als problematiſch empfundenen Werke 
eine ausgiebigere Behandlung in der Preſſe hervorgerufen, ſo nutzt er die dadurch 
erregte Senſation aus, um eine Liebhaberſchule zu eröffnen, und findet nae 
lid) auch, fo wie bie Verhältniſſe nun einmal liegen, Zulauf. 

Das ſind doch einfach lächerliche Zuſtände. Ihre Beſeitigung hat mit der 
Freiheit der Kunſt gar nichts zu tun. Das wäre nur ein Schutz gegen Freibeuterei. 
Es ift ganz ficher, daß, wenn heute trotz der außerordentlich geſteigerten Beſchäfti⸗ 
gung mit Kunſt das wirklich fähige Liebhabertum zurückgegangen iſt, dieſe völlige 
Verwilderung in der Heranbildung der Dilettanten am meiſten Schuld daran 
trägt. Denn diefe künſtleriſch begabten Liebhaber ſollten wie Rriftallifations- 
punkte der Kunſtliebe in der Geſamtheit ſtehen. 

Was wir im übrigen brauchen, iit ein freier Zuſammenſchluß der 
geſamten Künſtlerſchaft. Ein ſolcher würde ſchon in etwa erreicht durch 
ein Kartell der beſtehenden Künſtlervereinigungen. Die 
Gegenſätze, die zwiſchen dieſen klaffen, ſind im Grunde wenigſtens urſprünglich 
rein künſtleriſcher Natur, fie können alfo kein Hindernis bilden für einen Bujammen- 
ſchluß, wo es ſich um die ſozialen Verhältniſſe des Künſtlers handelt. Dieſer Zu- 
ſammenſchluß aller Künſtler würde z. B. die Gründung von Penſions-, Alters- 
unb Unterſtützungskaſſen auf breiteſter Grundlage ermöglichen. Solche Grün- 
dungen haben nur Ausſicht auf Lebensfähigkeit, wenn ſie auf möglichſt breiter 
Grundlage geſchaffen werden. Man muß bedenken, daß dieſe möglichſt breite 
Grundlage im kapitaliſtiſchen Sinne immer noch ſchmal iſt im Vergleich zu anderen 
Berufen; denn die Geſamtheit aller Künſtler iſt noch immer gering an Zahl im 
Vergleich zu den Arbeiterbünden, Beamtenorganiſationen und dergleichen. Im 
ſozialen Leben, im Kampf ums Daſein bat aber nur die Zahl Gewicht. 

Wenn fo die Geſamtheit der deutſchen Künſtler ohne Rückſicht auf Landes- 
grenzen und künſtleriſche Richtungen zu einem Verbande geſchloſſen wäre und 
ſich eine Vertretung erwählte, ſo beſäße dieſe Anſehen und Kraft gegenüber den 
Behörden, gegenüber dem Volke, gegenüber der Öffentlichkeit überhaupt, endlich 
auch gegenüber der Künſtlerſchaft und dem einzelnen Künſtler. Sie wäre alſo 
die gegebene In ſtanz zur Entſcheidung in allen Berufs- und 
Standesfragen. Sie hätte die Grundregeln aufzuſtellen für den Verkehr 
zwiſchen Rünftler und Publikum. Das würde ſich wohl verhältnis- 
mäßig einfach regeln laſſen für Wettbewerbe. Unendlich ſchwieriger iſt die Frage 
der Vermittlung von Kunſtwerken an das Publikum, alfo der Kun ſthandel. 

Ich will hier nicht abſchweifen unb auf dieſe wichtige Frage lieber beſonders 
zu ſprechen kommen. Heute nur fo viel: So, wie das Kunſtgeſchäft heute 
vollzogen wird, ift es im kaufmänniſchen Sinne entſchieden die unanjtán- 
digſte Form des Handels, die es überhaupt gibt. Die Art der Preis- 
feſtſetzung, des gewohnheitsmäßigen Schachers um den Preis, der im Grunde be- 
trügeriſchen Manipulation, wie Käufe zuſtande kommen und hintertrieben werden, 
wirken demoraliſierend auf Publikum und Künſtlerſchaft. Jeder einzelne Rünft- 


904 Stord: Rünftleroeganifation 


ler gibt im Geſpräch das Unwürdige unb Ungeſunde diefer ganzen Verhältniſſe 
zu, er hält fie aber für unheilbar. Mit einer gewiſſen Einſchränkung iſt zuzugeben, 
daß der einzelne ohnmächtig iſt. Eine Geſamtvertretung der Künſtlerſchaft würde 
in kürzeſter Zeit mit Erfolg die ſchlimmſten Schäden beſeitigen können. Wenig- 
ſtens ſoweit der öffentliche Kunſthandel in Betracht kommt. Aber auch gegen das 
rein private Treiben der einzelnen Künſtler hätte eine ſolche Vertretung der Ge- 
ſamtheit ſtarke Machtmittel in der Hand, da dieſe Vertretung die natürliche Wahrerin 
der künſtleriſchen Standes ehre wäre. Sie hätte die Mittel, aber auch 
die Kraft, gegen ſozial unlautere Elemente der Künſtlerſchaft vorzugehen. 

Eine ſolche Geſamtvertretung der Künſtlerſchaft wäre ferner berufen, die 
dringend notwendige Reform unſeres Ausſtellungsweſens in 
die Hand zu nehmen und endlich jene Hare Unterſcheidung zwiſchen funjt- 
markt und aus rein künſtleriſchen Geſichtspunkten veranſtalteter Ausſtellung von 
Kunſtwerken durchzuführen, die allein beiderlei Unternehmungen Erfolg ver- 
ſchaffen kann. Für die künſtleriſche Seite leuchtet das ohne weiteres ein, für die 
WMarktſeite liegt der Beweis, daß das bisherige Verfahren verfehlt ift, in der oben 
mitgeteilten Tatſache, daß die pekuniären Erfolge unſerer Kunſtausſtellungen 
zurückgehen. Wenn ſogar viele Muſeumsdirektoren Werke lebender Künſtler heute 
beim Kunſthändler kaufen und nicht mehr ſich unmittelbar mit dem Künſtler in 
Verbindung ſetzen, wie ſoll dann das Laienpublikum den Weg zum Künſtler oder 
zu den feinem Gewinn dienenden Veranſtaltungen finden?! Man muß aber be- 
denken, daß jeder Kauf beim Kunſthändler der Künſtlerſchaft wenigſtens die üblichen 
20 % Proviſion entzieht, ganz abgeſehen davon, daß die meiſten Kunſthändler 
auf eigene Fauſt mit dieſen Kunſtwerken ſpekulieren. Doch, wie geſagt, über dieſe 
Kunſthandelsfrage möchte ich noch im beſonderen verhandeln. 

Eine ſolche Vertretung der geſamten Künſtlerſchaft wäre endlich berufen, 
für dieſe größere Rechte auszuwirken. Bei der Verſammlung in München 
wurde beſonders auf bie Reproduktionsrechte hingewieſen. Das ijt ein febr ſchwie- 
riger Punkt, und die Verhandlungen in München beſtätigten, daß nur ganz ver- 
einzelte Vertreter der Künſtlerſchaft ſich über die hier in Betracht kommenden Ver- 
hältniſſe und Einzelfragen klar find. So allgemeine Beſchlüſſe, wie fie in Mün- 
chen angeregt worden ſind, könnten nur verhängnisvoll wirken. Nach unſeren 
Geſetzen haftet das Recht zur Reproduktion nicht am Bilde, ſondern bleibt Eigen- 
tum des Künſtlers, d. h. der Künſtler hat das Recht, über die Wiedergabe ſeiner 
Schöpfungen in den verſchiedenſten Techniken ſowohl für den Kunſthandel, wie 
in Büchern und Zeitſchriften zu verfügen. Der Laie mag einen Augenblick fid) vor- 
ſtellen, in wieviel hunderttauſend Exemplaren etwa die Bilder Arnold Böcklins 
verbreitet find, um fid) auch einen Überſchlag darüber machen zu können, welch 
rieſige Kapitalwerte da umgeſetzt werden. Es ift ganz klar, daß hier für die Künſtler⸗ 
ſchaft eines der Haupterwerbsmittel liegt, und es ſteht unbedingt feſt, daß die 
Künſtlerſchaft bei dieſem Geſchäft in grauenhafteſter Weiſe über das Ohr ge- 
hauen wird. 

Ich habe im Laufe ber Jahre mit hundert und mehr Künſtlern in einer 
Form zu tun gehabt, die gerade die Verwendung ber Reproduktionsrechte immer 


Storck: Künſtlerorganiſation 905 


in den Bereich der Unterhaltung zog. Gd) habe unter dieſer großen Künſtlerzahl 
auch nicht einen einzigen kennen gelernt, deſſen Verträge an Klarheit, Lauterkeit 
der Geſinnung und ehrlichem Vorteil für den Künſtler mit dem Durchſchnitt der 
Verträge, wie ſie heute in der Schriftſtellerei üblich ſind, zu vergleichen geweſen 
wären. Im großen und ganzen kann man als Regel aufſtellen, daß wirkliche Bor- 
teile vom Vertrieb der Reproduktionen nach ihren Bildern eigentlich nur jene 
geſchäftstüchtigen Modemaler haben, die mit wenig künſtleriſchen Mitteln ſich die 
Beliebtheit oder die Senſation beim Publikum zu verſchaffen verſtehen. Natürlich 
gibt es auch vereinzelte Ausnahmen bei den anderen Künſtlern. 

Gewöhnlich aber wird durch den Schutz des Kunſtwerkes für die Qteprobut- 
tion nur der Runſtverlag, alfo ein Zweig des Kunſthandels, bereichert. Für 
den Künſtler bringen die heute üblichen Verhältniſſe meiſtens nicht nur ganz ge- 
ringe pekuniäre Vorteile, ſondern febr oft auch noch durch die vielen Vertrags- 
hemmungen künſtleriſche Nachteile. 

Damit komme ich auf die zweite Gruppe der Reproduktion von Runft- 
werken, die, wie die bisherigen Verhandlungen der Künſtlerſchaft zeigen, vielfach 
von dieſer nicht ſcharf genug von der oben gekennzeichneten (Vertrieb von Re- 
produktionen durch den Kunſthandel) geſchieden wird: die Reproduktion nämlich 
von Kunſtwerken in Zeitſchriften. Man wird auch hier unterſcheiden müſſen. Jene 
Zeitſchriften, die, wie die Mehrzahl der illuftrierten Unterhaltungsblätter, Bilder 
lediglich im eigenen Intereſſe bringen, als Schmuck, gewiſſermaßen als feuille- 
toniſtiſches Material, ſind ſcharf zu unterſcheiden von jenen Zeitſchriften, die Bilder 
bringen, um mit ihnen Würdigungen einzelner Künſtler, einzelner Kunſtrichtungen 
zu geben oder auch kunſtgeſchichtliche Zuſammenhänge und Entwicklungen zu ver- 
anſchaulichen. So ſehr dieſe Veröffentlichungen der betreffenden Zeitſchrift zur 
Zierde gereichen können, fo febr die dabei gebrachten Bilder ein Schmuck der Beit- 
ſchrift fein werden, letzterdings dient mit derartigen Veröffentlichungen die be- 
treffende Zeitſchrift doch dem Künſtler und der Kunſt. 

Ich kann hier um fo unbefangener über diefe Verhältniſſe ſprechen, als der 
„Türmer“ von Anfang an in weit höherem Maße, als das bei den meiſten Beit- 
ſchriften üblich iſt, den Grundſatz durchgehalten hat, auch dem unbekannten Künſtler, 
oder wenn möglich gerade dieſem, für die Veröffentlichung ſeiner Bilder im Rah- 
men ſeiner Kräfte einen Ehrenſold zu bezahlen. Gerade deshalb kann ich hier aber 
auch um ſo ruhiger ſagen, daß es ein Verhängnis für die Künſtlerſchaft wäre, wenn 
ſie den ernſt für künſtleriſche Beſtrebungen, für Kunſt und Künſtler arbeitenden 
Zeitſchriften die Veröffentlichung ihrer Werke erſchweren würde. Dann würden 
dieſe Zeitſchriften eben notgedrungen zur Veröffentlichung jener Kunſtwerke 
greifen, die bereits „frei“ ſind. Faſt jede Redaktion wird beſtätigen können, daß 
es viel leichter iſt, die Leſerſchaft für dieſe ältere „freie“ Kunſt zu gewinnen, als 
für eine neue, zumal dann ja das an Honoraren frei werdende Kapital der Zahl 
der Wiedergaben zugute kommen könnte. 

Nein, die Künſtlerſchaft ſollte es fid) zum Grundſatz machen, bei jedem Ber- 
trag mit dem Kunſthandel überhaupt das Recht des ſogenannten Buchdrucks ſich 
vorzubehalten. Auch beim günſtigſten Vertrage mit dem Kunſtverleger müßte 


906 Frieda, Gentes 


ſich der. Rünftler bae Necht ſichern, dauernd über Reproduktionen in Zeitſchriften 
und Kunſtbüchern von ſich aus verfügen zu können. Ich kann es mit Beiſpielen 
belegen, daß mir von Runftverlegern für die einmalige Reproduktion eines Bildes 
im „Türmer“ faſt ebenſoviel, ja zuweilen noch mehr abverlangt worden iſt, als der 
Künſtler überhaupt von dem betreffenden Verlag erhalten hatte. 

Weit wichtiger aber noch, weil auch kapitaliſtiſch viel bedeutender, iſt die 
Beteiligung des Künſtlers und der Künſtlerſchaft an der Wertſteige rung 
der Kunſtwerke. Doch das gehört mit ins Kapitel bes Kunſthandels und 
ſoll gemeinſam damit im nächſten Hefte behandelt werden. 

Das eine dürfte ſich aus unſeren Darlegungen für jeden ergeben, daß, ſo 
unverrückbare Grenzen dem Umfang der Künſtlerorganiſation geſetzt ſind, auch 
innerhalb dieſer Grenzen eine umfangreiche, vielſeitige und ſegensreiche Tätigkeit 


zu entfalten wäre. 
er 
Frieda Gentes 


Ein pſychologiſches Ratfel 


rieda Gentes, die in Berlin wohnt, ift wegen Ihrer feltjamen Fähigkeiten ſchon 
5 Gegenſtand der Forſchung und des Studiums vieler Gelehrten geweſen, u. a. 


keiten ſind verſchiedener Art und beſtehen zunächſt in der Anfertigung ganz eigenartiger und 
künſtleriſch wertvoller Malereien, die in einem von Arzten anerkannten und beglaubigten, 
vollſtändig unbewußten Zuſtand entſtehen. Daß es ſich hier nicht etwa um einen Trick oder 
dgl. handelt, ſondern um ein ernſt zu nehmendes pſychologiſches Problem, ift, abgeſehen 
von dem ärztlichen Atteſt des Herrn Geh. Sanitätsrats Dr. Konrad Küſter, auch daraus zu 
erſehen, das Frieda Gentes ſchon des öfteren ihre ſeltſame Malkunſt auf der „Freien Hoch- 
ſchule in Berlin“ auf Veranlaſſung des Herrn Dr. Hennig gezeigt hat, und zwar bei Gelegenheit 
der von ihm veranſtalteten Vortragskurſe über die Nachtſeiten des menſchlichen Seelenlebens. 

Die erſten Anfänge dieſer merkwürdigen Erſcheinung zeigten ſich im Januar 1910, 
wo die Dame, zu Bett liegend, im Begriffe war, etwas aufzuſchreiben, als plötzlich die Hand 
ohne ihren Willen einen Strich unter das Geſchriebene machte und nun eine kleine Bleiſtift⸗ 
zeichnung anfertigte. Frieda Gentes hatte hier das Gefühl, als wenn eine fremde Kraft ihre 
Hand zum Zeichnen benutzte, denn ſie ſelbſt hatte ja keineswegs die Abſicht, dieſe Zeichnung 
anzufertigen, und ſie verfolgte daher mit Erſtaunen die Bewegungen ihrer eigenen Hand. 
Eine ähnliche Erſcheinung wiederholte fid am nächſten Tage, wo ein gerade bereit liegender 
Blauſtift benutzt wurde, und unter den gleichen Umſtänden wurden von ihr in den nächſten 
Tagen einige kleine Zeichnungen mit Buntſtiften hergeſtellt; man hatte dieſes Material in- 
zwiſchen angeſchafft und bereit gelegt für den Fall, daß die merkwürdige Erſcheinung ſich 
wiederholen würde. Während nun im Anfang dieſe Arbeiten zwar gleichſam automatiſch, 
aber doch bei erhaltenem Bewußtſein angefertigt wurden, trat jetzt die intereſſante und wichtige 
Erſcheinung ein, daß die Dame ihr Bewußtſein verlor, wenn die Kraft ſich wieder ihrer Hand 
bemächtigte, und ſeitdem hat ſie nun eine ganze Reihe Malereien auch in größerem Formate 
und mit Bronzen und farbigen Tinten hergeſtellt, die jetzt zu einer großen und ſehenswerten 
Sammlung angewachſen ſind. Dieſe wurde ſchon in vielen Städten öffentlich ausgeſtellt und 
erregte überall großes Erſtaunen. 


Frieda Gentes 907 


Der Zuſtand der Bewußtloſigkeit ift auch äußerlich leicht erkennbar an den faſt geſchloſſenen 
Augen, dem ſtarren und lebloſen Geſichtsausdruck, dem Aufhören des Augenblinzelns, der 
auch von Arzten feſtgeſtellten Gefühlloſigkeit des Körpers und vor allem an der kataleptiſchen 
Starre des linken Armes. Dieſer hebt ſich nämlich bei Eintritt des Zuſtandes in die Höhe und 
bleibt in halber Höhe mit nach außen gekehrter Handfläche ftarr ſtehen, ohne nachher die ge- 
ringſte Ermüdung zu zeigen, ſelbſt wenn diefe keineswegs angenehme Stellung viele Stunden 
angedauert hat. Die Sache erſcheint noch merkwürdiger, wenn man beriidfidtigt, daß die 
Dame keine küͤnſtleriſche Ausbildung erfahren hat und im Vachzuſtande auch nicht imſtande 
iſt, eine derartige Kunſtleiſtung zu entfalten, ja überhaupt kein künſtleriſches Intereſſe und 
Empfinden hat. Sie hat auch beim Beginn des Malens keine Abſicht und keinen Wunſch, 
in dem unbewußten Zuſtand etwas Beſtimmtes anzufertigen, und nach dem Wiedereintreten 
des VWachzuſtandes hat fie keine Ahnung, was inzwiſchen von ihrer eigenen Hand hergeſtellt 
worden iſt. 

Dieſer wunderbare Zuſtand kann nicht durch irgendwelche äußere Manipulationen 
herbeigeführt werden, ſondern die Dame ſetzt ſich an den Arbeitstiſch, wo das Material bereit 
liegt, und nun ſucht fie ihre Gedanken möͤglichſt auszuſchalten und verhält (id) ganz ruhig und 
abwartend, was dann erfahrungsgemäß bald das Eintreten des unbewußten Zuſtandes zur 
Folge hat, wenigſtens wenn öffentliche Vorführungen in Ausſicht genommen ſind. Zu Hauſe 
iſt es allerdings einige Male vorgekommen, daß trotz der getroffenen Vorbereitungen der 
Zuſtand nicht eintrat, und andererſeits, daß dieſer ſich einſtellte, ohne daß die Dame vorher 
den Wunſch oder den Willen hatte. Hieraus geht hervor, daß es ſich hier um keinen eigentlich 
hypnotiſchen Zuſtand handelt, da ja kein Hypnotifeur anweſend zu fein braucht, und außerdem, 
weil das Charatteriftitum der Hypnoſe, nämlich der hypnotiſche Rapport, fehlt; auch läßt 
ſich das Geſetz der Autoſuggeſtion nach dem oben Gefagten mit dein Eintreten des Zuſtandes 
nicht in Einklang bringen. Wenn Frieda Gentes zu Haufe dieſe Malereien anfertigt, pflegen 
ihre Angehörigen ſie ruhig arbeiten zu laſſen, bis nach einiger Zeit, oft erſt nach einigen Stunden, 
der Zuſtand von ſelbſt aufhört und ſie wieder in ihren Wachzuſtand zurückkehrt; bei öffentlichen 
Vorführungen ijt dies natürlich nicht angängig, unb es wird dann dadurch der normale Zu- 
ſtand wiederhergeſtellt und die Arbeit unterbrochen, daß man ihr das Arbeitsmaterial weg- 
nimmt, worauf ſie dann bald wieder wachbewußt wird. Ein gewaltſames Erwecken würde 
jedenfalls in geſundheitlicher Beziehung ſehr nachteilig ſein. 

Wie haben wir uns nun ſolche geheimnisvollen Vorgänge zu erklären? Die pfychologifche 
Wiſſenſchaft, die in neuerer Zeit dieſen Erſcheinungen erfreulicherweiſe ein größeres Intereſſe 
entgegenbringt und deren tatſächliches Vorhandenſein durchaus anerkennt, ſteht hier auf dem 
Standpunkte, daß es ſich um die Funktion des ſogenannten Unterbewuftfeins handelt, alfo 
des uns im allgemeinen unbewußten Teiles unſeres Seelenlebens; ſie behauptet, daß in dem 
Unterbewuftfein der Dame das Maltalent, wenn auch ihr ſelbſt unbewußt, vorhanden fei, 
und daß dieſes nun in den abnormen ſeeliſchen Zuſtänden in die Erſcheinung trate. Für manche 
ähnliche Vorkommniſſe, wie fie ja auch bei anderen Perſonen beobachtet worden find, ijt diefe 
Erklärung zweifellos zutreffend, wie das auch hypnotiſche Experimente beweiſen, und neuere 
Forſchungen haben uns über das Unterbewußtſein, namentlich bezüglich des außerordentlich 
erweiterten Gedächtniſſes, febr bemerkenswerte Aufſchlüſſe gegeben. Ob aber für alle Fälle 
die Heranziehung des Unterbewußtſeins zur Erklärung vollſtändig ausreicht, ijt doch febr frag- 
lich; denn es taucht jetzt die Frage auf, ob denn unſer Unterbewußtſein allwiſſend iſt und 
Perſonen Botſchaften bringen kann, deren nähere Verhältniſſe den mit einer ſolchen Fähigkeit 
ausgeſtatteten Perſonen nachweisbar unbekannt waren. Auch geben die fremdartigen Malereien 
mit den dem Vorſtellungsleben der unbewußten Künftlerin nicht entſprechenden Motiven 
zu denken, ebenſo die eigenartige Armhaltung, von der die Dame übrigens überhaupt nichts 
wiſſen würde, wenn es ihr von ihren Angehörigen nicht gejagt worden wäre, da fie dieſe nicht 


908 Frieda Gentes 


mit ihrem eigenen Willen berbeifübrt. Ferner ift nod darauf hinzuweiſen, daß die Malereien 
in der Regel mit einem fremden Namen, Conrad von Ramfavi, oder deſſen Initialen C. v. R. 
und den Jahreszahlen 1806 / 1910 bzw. 1911 oder 1912 unterzeichnet werden, und zwar eben 
falls in dieſem unbewußten ſogenannten Tieftrance-Zuſtand. Dieſer wäre demnach als der 
eigentliche Künſtler anzuſprechen, wenigſtens wenn wir uns auf den Standpunkt der Dame 
ſelbſt ſtellen, die unter dem Eindrucke ſteht, von dieſem nicht mehr in Fleiſch und Blut lebenden 
Maler beeinflußt zu werden. Dieſer hat durch Schreiben und Sprechen mitgeteilt, daß er 
im Jahre 1806 in feinem 27. Lebensjahre in Stalien geſtorben wäre; er wäre franzöſiſcher 
Abſtammung und ſei, ſeiner Lieblingsneigung folgend, gegen den Willen der Eltern nach 
Stalien gereiſt, um ſich dort in der Malerei weiter auszubilden, und dann bei einer Bootsfahrt 
verunglückt. Wir hätten uns die Sache dann fo vorzuſtellen, daß eine fremde geiſtige Weſenheit 
die körperlichen Organe der Dame zu ihren Kundgebungen benutzt, während deren eigene 
Seele dann vorübergehend ausgefchaltet iſt. Das würde dann zu der Erkenntnis führen, 
daß die menſchliche Seele zwar normalerweiſe mit dem phyſiſchen Organismus eng verbunden 
ijt und mit dieſem ſozuſagen eine Einheit bildet, aber bei beſonders dazu veranlagten Perfonen 
vorübergehend vom Körper trennbar iſt, ſo daß dieſe kein Bewußtſein und Gefühl haben. 
Natürlich iſt dies zunächſt nur eine Hypotheſe, denn ein Beweis fiir die Richtigkeit einer ſolchen 
Annahme kann im Sinne einer exakten Wiſſenſchaft einſtweilen nicht erbracht werden, aber 
eben ſo wenig iſt dieſe in der Lage, einen zwingenden Gegenbeweis zu erbringen, ſolange wir 
Ober das wahre Weſen der Seele nod fo wenig Beſtimmtes wiſſen. 

Die von der Wiſſenſchaft keineswegs abſolut ſicher gelöſte Frage iſt doch, ob unſere 
Seele mit der Gehirnfunktion vollſtändig identiſch ift, oder ob fie etwas Selbſtändiges dar- 
ſtellt, und da glauben wir, daß wir der Löſung des Seelenproblems viel näher kommen, wenn 
wir der letzten Auffaſſung zuneigen. Jedenfalls ijt dieſe Annahme nicht a priori von der 
Hand zu weiſen, denn manche Beobachtungen, die man bei ſomnambulen Perſonen gemacht 
hat, ferner die auffallende Erſcheinung, daß bisweilen Menſchen, die bis zu ihrem Tode geiſtig 
vollſtändig klar waren, bei der Sezierung ein erkranktes Gehirn aufwieſen, laffen die Ber- 
mutung als gerechtfertigt erſcheinen, daß Gehirnfunktion und Seelentätigteit keineswegs 
abſolut identiſch ſind. Außerdem wiſſen wir ja längſt, daß unſere Sinne nicht alles in der 
Natur Vorhandene wahrzunehmen vermögen, und da iſt der Gedanke ſehr naheliegend, daß 
unſere Seele mit jenen unſichtbaren Strahlungen zuſammenhängt, mit denen ſich namentlich 
franzöſiſche Forſcher in den letzten Jahren eingehend beſchäftigt haben. Ich nenne hier die 
Namen de Rochas, Durville, Blondlot, Baraduc ufw., die in franzöſiſchen Fachblättern, z. B. 
„Annales des Sciences Psychiques“ und „Journal du Magnétisme“, Ober ihre Experimente 
febr intereſſante Berichte gebracht haben. Auch in deutſchen Fachzeitſchriften ijt hierüber wieder- 
holt eingehend berichtet worden, z. B. in den „Pſychiſchen Studien“, in der „Überfinnlichen 
Welt“ und anderen, und die Leſer ſind ja durch den intereſſanten Aufſatz von Georg Korf im 
Oktoberheft 1911 des „Türmers“ hierüber unterrichtet. 

Über bie perſönlichen Verhältniſſe von Frieda Gentes fei noch bemerkt, daß fie einer 
bürgerlichen Familie entſtammt und daß ſich ihre Eltern und weiteren Vorfahren, ſoweit dieſes 
nachweisbar ijt, niemals irgendwie künſtleriſch betätigt haben, fo daß die naheliegende Ver- 
mutung einer Vererbung des Maltalentes nicht zutreffend iſt; überhaupt kann man hier von 
einem Talent in Anbetracht der erwähnten Umſtände eigentlich nicht ſprechen. Perſönlich 
iſt Fräulein Gentes außergewöhnlich ſenſitiv und, wenn auch von ſchwacher Konſtitution, 
ſo doch im übrigen durchaus normal und keineswegs hyſteriſch oder neuraſtheniſch. Auf dieſe 
geſteigerte Senſibilität ijt es darum auch zurückzuführen, daß fie Krankheiten von Perſonen 
empfindet, wenn ſie in deren Nähe kommt oder wenn dieſe ihr die Hand reichen; es iſt ſogar 
wiederholt vorgekommen, daß nur die Berührung eines Gegenſtandes, den ein Kranker ge- 
tragen hat, genügte, um die Krankheit richtig zu erkennen. Als ſehr intereſſant iſt hier noch zu 


Unfere Bllder 909 


erwähnen, daß jid) bei ſolchen Krankheitsdiagnoſen zuweilen gleichzeitig das Hellhören ein- 
ſtellt, indem ſie dann auf dieſem Wege die Urſache und den Sitz der Krankheit vernimmt, 
wobei ſie dann fachwiſſenſchaftliche Ausdrücke hört, die ihr vollſtändig unbekannt ſind, da ſie 
(i niemals mit mediziniſchen Studien beſchäftigt hat und über keine anatomiſchen, phyſio⸗ 
logiſchen und pathologiſchen Kenntniſſe verfügt. Aus ihrem eigenen Bewußtſein können alfo 
die Botſchaften nicht kommen; ſollte nun vielleicht der genannte Maler, der, bevor er ſich 
der Malkunſt zuwandte, wie er mitgeteilt hat, Medizin ſtudiert hat, der geiſtige Botſchafter ſein? 

Mit dem erwähnten Empfinden von Krankheiten hängt die weitere Fähigkeit zuſammen, 
daß Frieda Gentes bei Berührung von Gegenſtänden, die von ihr ganz unbekannten Perſonen 
ſtammen, z. B. Briefſchaften, Schmuckgegenſtänden uſw., dieſe nach ihrem Charakter, ihrem 
Temperament uſw. genau beſchreiben kann, zuweilen fogar noch andere auf bie Perſon bezüg- 
liche Umſtände und Verhältniſſe zu ſchildern imſtande ift. So gab z. B. Herr Dr. Hennig ihr 
eine mit einigen Worten beſchriebene Adreßkarte, die die Dame unbeſehen in die Hand nahm. 
Sie hatte darauf den Eindruck, ſich in einer Studentenkneipe zu befinden, ſie hörte lautes 
Gläſerklirren und Singen von Studentenliedern. Herr Dr. Hennig ſagte darauf, daß die Karte 
von einem Herrn ſtamme, von dem er fie vor neun Jahren erhalten habe und mit dem er früher 
als Student zuſammen gekneipt habe. Ferner ſagte Fräulein Gentes, daß ſich der Herr jetzt in 
einer entfernten Stadt aufhalte, die kleine Häufer und enge und ſchmutzige Straßen habe. Auch 
das war zutreffend, denn der Herr wohnt jetzt in Konſtantinopel. Fräulein Gentes wußte 
natuͤrlich von alledem nichts. 

Einige der erwähnten merkwürdigen Erſcheinungen haben ſich ſchon in früheren Jahren 
gezeigt, die meiſten aber erft in den letzten zwei bis drei Jahren. Hierüber könnte ich noch 
vieles berichten, aber es dürfte ſchon aus den obigen Witteilungen erſichtlich ſein, daß hier 
bie wiſſenſchaftliche Forſchung noch manches Ratfel zu löſen bat, und es wird wohl noch lange 
dauern, bis alle diefe Erſcheinungen reſtlos ihre Erklärunga gefunden haben werden. 


Friedrich Kämpfer 
OY 


Ainjere Bilderj” 


M. ber Frieda Gentes als pſychologiſches Phänomen ift in einem befonderen 
Artikel gehandelt. Ich möchte bier nod einige Bemerkungen nachſchicken über 


Entſtehen eines Bildes beigewohnt und habe zunächſt den äußeren Hergang zu beftätigen, 
wie er in dem oben erwähnten Aufſatze geſchildert iſt. 

Die Arbeitsweiſe iſt an ſich ſo erſtaunlich, daß ich bald an das „Spiritiſtiſche“ gar nicht 
mehr dachte. Das große weiße Blatt liegt auf dem Tiſch. Die Hand hält einen Bleiſtift ſtark 
und feſt gepackt. Einen Augenblick ſchwingt ſie über dem Blatte hin und her, wie es auch 
ſonſt der Zeichner tut, bevor er einen wichtigen Strich anſetzt. Dann aber vollzieht fid) die 
Arbeit mit einer unbegreiflichen Schnelligkeit und Sicherheit. Ich habe ſehr viele Künſtler 
bei der Arbeit geſehen, aber niemals etwas ähnliches erlebt, wie in dieſem Falle. Unter bunt- 
farbiges Bild mit den Muſchelmotiven und dem rotfiedrigen Pfau ſtellt den häufigeren Typus 
dar, bei dem eine geſchlängelte Linie meiſt diagonal das Bild gliedert. Ich habe von dieſer 
Linie, die faft überall wiederkehrt, geradezu den Eindruck einer Rückenmarkslinie gehabt, des 
Lebensſtranges des betreffenden Bildes, von dem aus ſich alles andere abzweigt. Dieſe große 
Linie (unſere Abbildungen ſind etwa auf ein Sechſtel der Originale verkleinert) wird in einem 
großen Schwung auf das Blatt geſetzt, die Parallellinie ohne jede Unſicherheit hinzugezogen. 
Danach werden noch einige der wich tigſten Querlinien hinzugefügt, wogegen in der Aus- 


910 Unfere: Buder 


füllung des Raumes durch Einzelheiten bis zum Schluſſe Überrafchendes hervortritt, foc daß 
man eher den Eindruck von Raumfüllung als von Bildkompoſition erhält. 

Sobald die wichtigſten Linien mit dem Bleiſtift gezogen ſind, beginnt die Arbeit mit 
dem Farbenſtift. Das iſt entſchieden die unbegreiflichſte Art der Arbeit. Vor der in tiefer 
Trance befindlichen Frau liegt eine Fülle von Buntſtiften, daneben farbige Tinten, Bronzen 
und dergleichen. Die Beleuchtung iſt ſo ſchwach, daß ſelbſt ein ſcharfes Auge die Farbſchattierung 
der Stifte aus der Holzbekleidung nicht ohne weiteres abnehmen könnte. Die Hand der Be- 
wußtloſen zittert über die Stifte hin und her, dann taſtet ſie ſich den richtigen heraus. Mit 
höchſter Schnelligkeit folgt nun die farbige Ausführung der Bleiſtiftſtriche. Auch da gibt es 
kein Ausweichen der Hand, kein Fehlgehen. Die Arbeitsleiſtung als ſolche ift fo mübfelig 
und verzehrend, daß man ſie im normalen Zuſtande wohl kaum ausführen könnte. Denn, 
wie ein Blick auf die Bilder ergibt, beſtehen ſie aus zahlloſen einzelnen Punkten, ſo daß 
das Ganze etwas von kunſtvoller Stickerei oder Seidenweberei bekommt. Als ich zur Um- 
gebung bemerkte, daß ich zu allererſt für die Bilder aus den älteren Lyoner Seidendruck- 
muftern Parallelen ſuchen würde, kamen aus dem Munde des Mediums die röchelnden Worte: 
„Du biſt auch fo einer, der in alle Dunkelheiten leuchten möchte.“ Als ich mich über den Glanz 
der Farben wunderte und fragte, ob dazu Lacke verwendet würden, kam es mit einer gewiſſen 
Schalkhaftigkeit röchelnd hervor: „Wir wollen ihm den Lack zeigen.“ Und damit ergriff die 
Hand ein auf dem Tiſch liegendes Meſſer, mit bem fie über die Farben fo lange rieb, bis diefe 
glänzten. 

Es iſt nicht eben leicht, über ſolche Dinge zu erzählen. Jeder Betrug ſcheint mir deshalb 
ausgeſchloſſen, weil er zu dumm wäre. Denn ein Künſtler, der mit vollem Bewußtſein das 
zu leiſten vermöchte, was hier geleiſtet wird, wäre töricht, auf ſolche ſeltſamen Umwege für 
feine Mitteilung zu verfallen, zumal die geſchäftliche Ausnutzung, wie ich hier ausdrücklich be- 
merken will, auf normalem Wege leichter wäre. 

Der Prozeß des künſtleriſchen Schaffens iſt in ſeinen weſentlichen Beſtandteilen etwas 
ſo Wunderbares, daß er um keinen Oeut beſſer wiſſenſchaftlich erklärt werden kann, als die 
hier ſich darbietende Erſcheinung. Das Merkwürdige liegt hier nur in der Technik, in der 
Art, wie ein Körpergefüge von dem ſchaffenden Geiſte benutzt wird. Daß auch der durchaus 
„normale“ Künſtler, wenn er des Geiſtes voll iſt, zuweilen die Arbeit ſeiner Hände nicht be- 
greift, ijt uns aus manchen Künſtlerbekenntniſſen bekannt. 8d habe die große Zahl der Blätter 
von Frieda Gentes aufmerkſam betrachtet und habe nicht auf einem derſelben ein Gebilde 
gefunden, deſſen Elemente nicht von dieſer Welt wären. Es iſt außerordentlich feſſelnd, die 
Entwicklung in dieſen Bildern zu verfolgen. Sie ſind nicht nur in techniſcher Hinſicht immer 
vollkommener, ſondern auch im Inhalt immer reicher geworden. Beim Worte „Inhalt“ muß 
man immer alles Geiſtige ausſchalten. Es fehlt jegliche Kontrolle durch die Wirklichkeit unſerer 
Welt. Elemente aus Pflanzen, Muſcheln, Würmern, Schmetterlingen, Libellen, Käfern und 
ſonſtigen Inſekten bilden die Hauptſache, ſo daß der vorwiegende Eindruck, den wir bekommen, 
der der Exotik, aber nicht der der Ubernatiirlidteit ijt. Zumal als märchenleſendes Kind fände 
id es ganz natürlich, wenn indiſche Paläfte mit ſolchen Tapeten beſpannt wären. 

Seltener iſt die motiviſche Verwendung von Gebrauchsgegenſtänden, wie etwa in 
unſerem einen Bilde bie lampenſchirmartigen Teile des Mittelftüds, die wie Blumen an- 
geſetzt find. Man vergleiche übrigens, wie geradezu raffiniert in dieſem Mittelſtück die Größe 
der drei Schirme gegeneinander abgewogen iſt. Erſt in der letzten Zeit ſind auch häufiger 
Vogel motive zur Verwendung gekommen. Jd bin überzeugt, daß nach der Richtung noch 
weitere Fortſchritte gemacht werden. Eine merkwürdige Tatſache iſt, daß, wenn eines der 
Bilder aus irgend einem Grunde un vollendet beiſeite gelegt wird (bei öffentlichen Vorführungen 
wird natürlich gewöhnlich die Anlage eines neuen Bildes gewiinfdt), ohne weiteres auf dem 
neuen leeren Blatte ein ganz neuartiges Bil d angefangen wird, daß dagegen, wenn eines 


Unfere Bilder 911 


der alten Blätter, oft nach langer Zeit, vorgeholt und der Schlafenden unterbreitet wird, an 
dem Bilde weitergearbeitet wird, als ob gar keine Unterbrechung geweſen wäre. 

Gewiß iſt unſere Teilnahme für die Bilder zunächſt durch die merkwürdigen Umſtände, 
unter denen ſie entſtanden ſind, erregt. Aber ich kann nicht leugnen, daß dieſe Blätter für 
mich den Reiz einer hohen Schönheit haben. Ich habe früher bei den Frauen mit großer Freude 
immer die farbenreichen tuͤrkiſchen Schals geſehen, wie fie fie in meiner Heimat an den hohen 
Feiertagen beim Kirchgang über das ſchwarzſeidene Kleid trugen. Ich meine, Seidenſchals, 
die mit derartigen Muſtern bedruckt wären, müßten eine geradezu berüdende Wirkung aus- 
üben. Mir iſt, ich hörte wieder die röchelnde Stimme, die mich zurechtweiſt, jetzt nicht, weil 
id ODunkelheiten nachſpüre, ſondern auch aus dem Dunkelſten Helligkeiten für unfer Leben 
zu gewinnen trachte. Aber mir ſind alle dieſe Erſcheinungen gleichartig. Als Michelangelo 
in der Mediceer-Rapelle als Bildniſſe der Mediciſöhne zwei wunderbare Menſchen hin- 
ſtellte und man ihm vorhielt, ſie hätten doch keine Ahnlichkeit, antwortete er: „In hundert 
Jahren weiß kein Menſch mehr, wie ſie ausgeſehen haben.“ Der Wert dieſer Bilder für uns 
liegt doch hauptſächlich in dem, was fie uns bedeuten können, wenn wir von ihrem vom Ge- 
wohnten abweichenden Entſtehen nichts wiſſen. Ob es ſo ſehr ſchwer wäre, von dieſer Art 
einer Raumausfüllung Verbindungslinien zu ziehen zu manchen mittelalterlichen Miniaturen? 
Auch dort die mit dem Stifte über das Papier hinſchwebende Hand, die in ſchwingenden 
Bewegungen wartet, bis ber phantaſtiſche Geiſt das Hinſetzen einer Linie gebietet. Auch 
dort neben einer wunderbar geſchloſſen wirkenden Raumfüllung die freie Verbindung der 
verſchiedenartigſten Elemente zu einem Ganzen. — — 

Die Bildniſſe Otto Ludwigs und Friedrich Hebbels wollen das durch 
die Wiederkehr des hundertſten Geburtstages der beiden Oichter ſtark belebte Erinnern an 
fie noch bildhaft unterſtützen. Das Bildnis Otto Ludwigs iſt nach der Heliogravüre ange- 
fertigt, die vor dem Lebensbildnis ſteht, das Adolf Stern der von ihm und Erich Schmidt 
beſorgten Ausgabe der geſammelten Schriften des Dichters beigegeben hat (Leipzig, Friedr. 
Wilhelm Grunow, 1891). Friedrich Hebbels Bild iſt nach einer Lithographie Kriehubers von 
Leo Kayſer radiert. Von dieſem trefflichen Künſtler, über deſſen Schaffen wir im Türmer 
vor längerer Zeit (November 1908) berichtet haben, ſtammen auch die beiden Bilder des alten 
Brunnens und des Heimatdörfchens Hebbels. Über beide mag man des Dichters autobiogra- 
phiſche Darſtellung feiner Kindheit nachleſen, vielleicht in der bei Oskar Kaiſer in Eiſenach 
1908 erſchienenen Sonderausgabe, der diefe drei Radierungen als beſonderer Schmuck bei- 
gegeben ſind. 

Auch zu den beiden Wiedergaben von Zeichnungen Otto Soltaus nur einige 
Geleitworte. Der Türmer brachte im Februar 1911 einen beſonderen Aufſatz über dieſen 
fün[tler, und wir gedenken noch in dieſem Jahre unſeren Lefern in größerem Umſange diefe 
nach unſerem Gefühl Höchſtes verſprechende Künſtlerperſönlichkeit vorzuführen. Mit den 
beiden vorliegenden Bildern foll hingewiefen werden auf die im Verlage Fritz Heyder, Berlin- 
Zehlendorf, erſchienenen zehn Fakſimile-Lichtdrucke nach Federzeichnungen Otto Soltaus, 
die ihrerſeits vom Künſtler nach einer Reihe ſeiner großen Gemälde geſchaffen worden ſind. 

Otto Soltau iſt noch jung, hat andererſeits eine lange, ſchwere und wohl zu einſame 
Entwicklung hinter ſich. Daher mag es kommen, daß hie und da der Eigenwille ſich ſo ſtark 
zeigt, daß die Eigenart durch diefe Betonung eher leidet. Der entſchieden in höchſtem Maße 
vorhandene Sinn fürs Monumentale führt zu ſtiliſierenden Eigenmächtigkeiten gegenüber 
der Natur, die der Beſchauer nicht als notwendig empfindet, die ihm darum als Willkür er- 
ſcheinen. Wenn wir unſeren Leſern in der angekündigten Veröffentlichung einige Blätter 
aus den überfüllten Zeichenmappen des Künſtlers zeigen werden, wird jeder Gedanke, daß 
diefe Eigenmächtigkeiten, wie bei einem großen Teil unſerer heutigen Kunſt auf unzureichendem 
Zuſehen oder mangelhaftem zeichneriſchen Vermögen beruhen, verſtummen. 


912 Unfere Viber 


Nur ungern babe ich biefe Bedenken hervorgehoben. Zch weiß, wie leicht ſich ‘ber 
Liebhaber durch fie abſchrecken läßt. Darum pflege id) auch bie Kritik dort zu unterdrüden, wo 
ich die Liebe wecken will. Ich habe es hier nicht getan, weil nach meiner Überzeugung die 
der Liebe werten Kräfte in dieſen Blättern ſo außerordentlich ſtark ſind, daß ſie über jenes 
Bedenten den Sieg davontragen miiffen. 

Manches Werk Soltaus wirkt vor allem in der großen farbigen Ausführung zunächſt 
etwas fremdartig. Aber gerade diefe ſchwarzweißen Wiedergaben müffen jeden überzeugen, 
wie urkräftig das Volkstum in dieſem Manne waltet. Stücke wie das hier abgebildete „Zwei 
Senſen“ und „Am Ende“, das ſeinerzeit im Türmer gezeigt wurde, ſind wie Volkslieder. 
Die „Strandwache“, „Oer Wächter“, „Die Mutter“ find alte Balladen. Im „Wetterſturm“ 
lebt der Geiſt altnordiſcher Mythologie. Ein muſikaliſcher Zweiklang find die „Zungen Men- 
ſchen“. Gerade bei dieſem wundervoll komponierten Bilde wird man bedauern können, daß 
der Künſtler nicht verſucht hat, bei höchſter Naturrichtigkeit dieſe Schönheit der Gejamtlinien- 
führung zu erzwingen. Das wäre nach meiner Überzeugung entſchieden möglich gewefen. 
Eigenartige Stücke ſind „Oer Philoſoph“ und der von einer Art Blutrauſch erfüllte „David“. 

Die Bilder ſind für die Mappe wie für die Wand gleich empfehlenswert, und es iſt 
ſehr erfreulich, daß der Verlag von Fritz Heyder Preiſe angeſetzt hat, die eine weite Verbreitung 
der Blatter ermöglichen. Eine Mappe mit allen zehn Bildern, die die Blattgröße von 45:60 om 
haben, koſtet 80 K, in der Vorzugsausgabe jedes Blatt 12 K, in der, wie ich ausdrücklich hervor- 
heben möchte, ſehr ſchönen gewöhnlichen Ausgabe das einzelne Blatt nur M 3.50. i 

Ludwig von Sengers leuchtendes Karfreitagsbild ift ein Vorklang des nahenden Ofter- 
feſtes. Von dem Künſtler ſelbſt iit im 11. Heft des XIV. Jahrgangs des Türmers die Rede 
geweſen. R. St. 


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FIN | 

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Wieland der Schmied 
Von Dr. Karl Storck 


! as deutſche Opernhaus in Charlottenburg, über deffen Gefamtentwid- 
ung man fih von Herzen freuen kann, hat das Jahr 1914, in dem 


beſchieden. Denn das iſt das un in drei Aufzügen ieland der 
Schmied“ von Kurt Höfel trotz, nein wegen der Treue gegen Richard 
Wagner, die den Schöpfer beſeelt. Es iſt Kurwenaltreue, die hier waltet, nicht 


»Brünhildentreue. Nur diefe aber vermag ſchöpferiſch zu fein, jene kann nur er- 


halten. Das alte Problem von Wagnernachahmung und Wagnernachfolge öffnet 


ſich von neuem, und wenn es noch eines Beweiſes bedurft hätte, daß alle Wagner- 


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nachahmung nur Totgeborenes zur Welt bringen kann, fo wäre er hiermit erbracht. 
Es fällt einem recht ſchwer, ein ſolches Urteil auszuſprechen gegenüber einer 


: jo reinen Gefinnung und einem fo edlen Wollen, wie es fid) in dieſem Werke tund- 


tut. Aber es muß geſagt werden, denn derartiges Tun ſchädigt nicht nur bie Suen- 
den, ſondern birgt auch die ſchwerſte Gefahr in ſich gegen die fernere Wirkung des 


Kunſtwerkes Richard Wagners. Wir werden in den nächſten Monaten Anlaß haben, 
in dieſer Richard Wagner geweihten Gedenkzeit unſer Verhältnis zu ſeiner Kunſt 
einer ernſten Prüfung zu unterziehen. Niemand aber kann es entgehen, wie in 
den letzten Zahren immer mehr Maulwürfe an der Arbeit ſind, die nicht in einer 


offenen, das Für und Wider ſachlich abwägenden Art der Wirkung des Schaffens 
Richard Wagners die auch hier notwendigen Grenzen ziehen, ſondern mit feilem 
Spott und aus Haß gegen alles Bejahende die feſten Mauern des Gralstempels, 


als der Wagners Geſamtwerk im Herzen des deutſchen Volkes ſteht, zu unter- 


wühlen ſuchen. Da bilden Werke, in denen fid) jene Seiten des Wagnerſchen Runit- 


werkes, die nicht aus dem Geiſte unſerer Zeit erlebt find und nur durch die Per- 


ſönlichkeit des Meiſters Kräfte werden, in nackter Blöße offenbaren, ſchwere Ge- 
' | 60 


Der Zürmer XV, 9 


914 Stord: Wieland der Schmied 


fahr. Ein einfaches Kreuz auf bem Wams wies die Stelle, an der Siegfried ver- 

wundbar war, und dieſe kleine Stelle brachte dem Helden den Tod. Es iſt immer 
gefährlich, den Neidlingen die verwundbare Stelle zu zeigen. Den wirklich Ge- 
treuen können ſie den Helden nicht rauben; aber die meiſten ſind doch ſchwach in 
ihrer Liebe. — 

Im dritten Bande der „Geſammelten Schriften und Dichtungen Richard 
Wagners“ ſteht „Wieland der Schmied, als Drama entworfen“. Der Entwurf iſt 
ein Wurf, wie er eben dem Genie gelingt, gleich im erſten Anriß ſchier fertig ge- 
ſtaltet, an den Höhepunkten eigentlich ſchon in Worte ausgeprägt. Am 8. Oktober 
1850 ſchrieb Richard Wagner dann an die Fürſtin Wittgenſtein (Briefwechſel 
Wagner -Liſzt. Bd. I, S. 101): „Sie fragen mich nach meinem Wieland? — Sch 
bin reicher an Entwürfen als an Kraft, ſie auszuführen. So bedarf ich der Helfer, 
ja mehr als der Helfer, ich bedarf des künſtleriſchen Buſenfreundes, der ganz ſo — 
und hoffentlich beſſer noch wirkt, als ich wirken möchte. Ich erſuche Sie, Liſzt zu 
vermögen, die muſikaliſche Aufführung (ſoll Ausführung heißen) des Wieland für 
mich zu übernehmen. — Die Dichtung in ihrem jetzigen Zuſtande, und wie ich ſie 
Ihnen hiermit übergebe, iſt das Erzeugnis einer ſchmerzlichen und tieferregten 
Begeiſterung, in der ich zu Erfindungen getrieben wurde, zu denen ich mir als 
Rünftler glaube Glück wünfhen zu können. Sie verſetzt mich aber jetzt in eine Zeit 
zurück, in die ich — nicht mehr zurüdverfeßt fein mag. Ich kann jetzt das Gedicht 
nicht weiter ausführen, weder in Verſen noch in Tönen: gewänne ich einſt die 
Ruhe dazu, ſo müßte ich fürchten, auch kalt darüber geworden zu ſein. So hatte 
ich mich in der letzten Zeit daran gewöhnt, die Dichtung gänzlich aufzugeben. — 
Iſt dieſer Wieland aber imſtande, Liſzt beim erſten Bekanntwerden damit ſo zu 
begeiſtern, wie er mich begeiſterte, fo bitte ich ihn, ihn als fein Eigentum zu be- 
trachten.“ 

Zwei Jahre fpäter ſchreibt der Meifter an Liſzt (ebenda S. 188): „Du willſt 
den Wieland nicht: ich halte dies Gedicht für ſchön, kann es aber für mich 
nicht mehr ausführen. Willſt Du es Berlioz anbieten?“ 

Später hat Wagner ſeinen Dresdener Freunden Theodor Uhlig und Auguſt 
Roedel und noch 1862 Wendolin Weißheimer das Buch angeboten; keiner hat gu- 
gegriffen. Es ift verſtändlich, daß Richard Wagner jenen Getreuen, die ein Text- 
buch brauchten, ſeinen Entwurf empfahl. Es iſt auch lehrreich gegenüber jenen, 
die meinten, eine echte Nachfolge des Meiſters bedinge die Eigendichtung. 

Was bie genannten Muſiker davon abhielt, auf Wagners Vorſchlag einzu- 
gehen, entzieht fid) unſerer Kenntnis. Liſzt bat ja überhaupt keine Oper geſchaffen. 
Wendolin Weißheimer, der doch ſonſt nicht eben zaghaft war und jedenfalls als 
Komponiſt Gelbjtvertrauen genug beſaß, batte bei Wagner den „Ring des Nibe- 
lungen“ kennen gelernt und war vielleicht durch die Größe dieſes Werkes ab- 
geſchreckt worden. 

Wer, wie ich es tue, beim Genie ſo an eine höchſte Notwendigkeit glaubt, 
daß er diefe ebenſoſehr im Tun wie im Unterlaſſen ſieht, für den liegt in dem oben 
mitgeteilten Satze: „Ich kann jetzt das Gedicht nicht weiter ausführen, weder 
in Verſen noch in Tönen: gewänne ich einſt die Ruhe dazu, ſo müßte ich fürchten, 


Stora: Wieland der Schmied 915 


auch kalt darüber geworden zu fein,“ bie Tatſache mit eingefchloffen, daß ent- 
weder das Beſte und Weſentlichſte in dieſem Drama Richard Wagners von ihm 
anderweitig verarbeitet ſein muß, oder daß der Schöpfer des Entwurfs die innere 
Unlebensfähigkeit desſelben fühlte. Fühlte, nicht erkannte, ſonſt hätte er ja den 
Entwurf nicht weiter empfohlen. Aber der Inſtinkt ift im Genie immer größer, 
als die Erkenntnis. Darauf beruht ja eben das Geniale, das jenſeits alles Er- 
kennens liegt. 

Der Entwurf zu „Wieland der Schmied“ iſt für Richard Wagner in höchſtem 
Maße perſönlicher Lebensausdruck. In der bedeutſamſten Szene des Werkes 
(3. Akt, 2. Szene), als dem zum Krüppel geſchändeten Schmied in feinem völligen 
Zuſammenbruch der geniale Gedanke auftaucht, ſich Flügel zu ſchmieden, ſo das 
Luftreich zu erobern, ſein Elend zu beſiegen und die Freiheit zu gewinnen, und er 
ſich langſam emporreckt, jubelt ihm die bisherige Feindin verzückt zu: „Der Götter 
einer ſteht vor mir!“ Wieland (mit bebender Bruſt): „Ein Menſch! Ein Menſch 
in höchſter Not!“ Hier offenbart ſich, was Wagner an dieſem Stoffe heilig war. 
Er, der die Not, die innere und äußere, bis ins Tiefſte ausgekoſtet hatte, hatte auch 
die Macht der Kunſt erfahren. Schöpferkraft macht göttlich. Wie könnte ein Gott 
geknechtet werden?! 

Nun, dieſes Drama hat Wagner gelebt. Sein ganzes Leben läßt ſich auf 
dieſe Formel bringen. Immer wieder, bis in die letzten Bayreuther Tage, war er 
ein Menſch in höchſter Not. Und immer war ihm die Schöpferkraft Erlöſerin aus 
dieſer Not. Weil et fo beſtändig diefe Erlöſung an fih erfuhr, ift der Erlöfungs- 
gedanke das Grundproblem ſeines Geſamtſchaffens. 

Aber das äußere Bild dieſer Not wechſelte. Das Verhältnis zur Um- 
welt wurde ein anderes, und wenn dieſe eine Form der Not durchgekämpft war, 
dann war das natürlich überſtandenes Leben. Wenn es Richard Wagner gelungen 
war, für ſeinen Zuſtand dieſer Not und ſeine Erlöſung aus ihr den zutreffenden 
künſtleriſchen Ausdruck zu ſchaffen, fo erfuhr er durch das Schaffen dieſes Runft- 
werkes die Befreiung von dem betreffenden Zuſtand. Denn alle Kunſt iſt in dieſem 
Goethiſchen Sinne ein Freiſchaffen, alfo auch ein Überwinden des fie anregenden 
Lebens. So ijt es denn begreiflich, daß Wagner in einer ſpäteren Zeit es nicht 
mehr vermochte, die als Ausdruck einer früheren Not geſchaffene Operndichtung 
wieder aufzunehmen. „Sie verſetzt mich aber“ — ſo heißt es in dem Briefe — 
„jetzt in eine Zeit zurück, in die ich nicht mehr zurückverſetzt ſein mag.“ 

Ich glaube, an dieſer Stelle eröffnet (id) uns ein ganz feltener Ausblick auf 


die Grenzen des Muſikdramas 


im Vergleich zur reinen Inſtrumentalmuſik und zum geſprochenen Drama. Fh 
nenne gleich die Vergleichspunkte: Beethoven und Goethes „Fauſt“. 

Auch Beethovens Leben läßt ſich auf eine Formel bringen, der des Wagne- 
riſchen verwandt, nur daß Beethovens Art heroiſcher, rein männlicher, wir ſagen 
vielleicht beſſer: männiſcher iſt, ſo daß die Erlöſung nicht durch Hingabe eines 
anderen, ſondern nur durch eigene Tatkraft erfolgen kann. Durch Nacht zum Licht, 
durch Kampf zum Sieg, durch Qual und Leid zur Freude, das iſt Beethoven. Es 


916 Stord: Wieland der Schmieb 


it der Inhalt eigentlich feiner ſämtlichen Werke, ober da Beethoven ſelbſt von 
einem „Dichten in Tönen“ geſprochen hat, der dichteriſche Gehalt feines Geſamt- 
ſchaffens. Und auch das äußere Leben hat Beethoven immer wieder vor dieſe 
gleiche Lage geſtellt. Man kann ſeine Dienſtbotennöte und die Geldnöte Richard 
Wagners nebeneinanderſtellen. Es kommt ja gar nicht auf die objektive Gleich- 
wertigkeit an, ſondern auf die Art, wie ſie von beiden empfunden wurde. „Das 
Tagtägliche erdrückte“ beide, und ſie mußten ſich jeweils wieder hindurchringen, 
um zum Künſtleriſchen zu kommen, wie auf der anderen Seite dieſes Künſtleriſche 
ihre einzige Verteidigungswaffe gegen das Tagtägliche war. Es klaffen Riefen- 
abgründe zwiſchen der Art, wie ber junge Beethoven etwa in der D Dur- Sonate 
des Op. 10 dieſen Kampf ausſpricht, und wie er im Schlußſatz der Neunten Sin- 
fonie mit klarem Götterwillen vor die Welt hintritt: „Freunde, nicht ſolche Töne!“ 
und dann mit allmächtiger Hand den ſchönen Götterfunken der Freude entzündet. 

Aber der Gedanke iſt ganz undenkbar, daß für Beethoven die Möglichkeit 
hätte entſtehen können, daß ihn ein folder Entwurf feiner Jugend „in eine Zeit 
hätte verſetzen können, in die er nicht mehr zurückverſetzt fein mochte“. Was Wag- 
ner an ſeinem „Wieland der Schmied“ nicht mehr miterleben wollte, war nicht 
der innerſte Gedanke, der ja dauernd für ihn Gegenwartsausdruck blieb, ſondern 
feine Einkleidung. Nicht die „J d e e“ des fid) aus höchſter Not befreienden Men- 
ſchen war es, was Wagner bei ſeinem Wieland fürchten machte, „kalt darüber 
geworden zu fein, ſondern das „Abbild dieſer Spee, das er ſeinerzeit 
in den Vorgängen der Wielandfage gefunden zu haben glaubte. Und hier er- 
kennen wir, daß in der Fundamentierung der Aſthetik nicht Richard Wagner, fon- 
dern Schopenhauer recht hat, ſoweit das Verhältnis von Poeſie und Muſik in 
Betracht kommt. Die Dichtung (im Sinne von Gedicht) ijt die Erlöſerin ber Muſik 
doch nur für das verſtandesmäßige Erfaſſen, nicht für das Erfühlen. Das mujit- 
dramatiſche Gedicht, wie es z. B. in dieſem Wieland vorliegt, iſt die in Worten 
(und Gebärden) mögliche Verdeutlichung einer muſikdramatiſchen Zdee. Es bleibt 
aber entſchieden der einzigartige Vorzug der Muſik über alle anderen Künſte, 
daß fie dieſe Idee ſelbſt zu geſtalten vermag und des Abbildes nicht bedarf (Schopen- 
hauer). Die Zdee ſelbſt iſt auch für den Schöpfer derſelben unveraltbar. Das Ab- 
bild, das er der Idee gibt, kann für ihn ſelbſt ein durchaus überwundener Zuſtand 
werden. So gewiß für einen einzelnen Fall das Zuſammengehen von Dichtung 
und Muſik eine Verſtärkung, weil Verdeutlichung, des Eindrucks herbeiführen 
kann, — die reinere, unmittelbarere und darum auch unverlierbarere, der Zeit 
weniger unterworfene Mitteilungsweiſe muß jene bleiben, die, auf diefe Ber- 
deutlichung verzichtend, in der Idee ſelbſt beharrt. 

Goethes „Fauſt“! Auch hier das Werk eines ganzen Lebens, das in ſeinen 
Schlußzeilen die Grundformel für den Inhalt dieſes ſo unendlich reichen Lebens 
bietet: „Wer immer ſtrebend jid) bemüht, den können wir erlöſen.“ Die Zauft- 
idee ijt ber Leitſtern Goethes vom Sünglingsalter bis zum letzten Atemzug. Aber 
es ift ganz ſelbſtverſtändlich, daß diefe Idee für den Jüngling einen anderen Sinn 
bat, als für den Greis. Und dieſen Lebensſtufen entſprechend find die Abbilder, 
die Goethe für diefe Idee in der Welt findet. Dennoch gelingt es ihm, die Bunt- 


Stora: Wieland der Schmied 917 


heit dieſer Bilder zu einem Ganzen zuſammenzuzwingen. Der greife Kauft, deffen 
Bemühen der Entſumpfung eines Landſtriches gehört, durch den er ihm unbekannte 
Menſchen mit einer Heimat beglücken kann, iſt unendlich weit getrennt von dem 
Fauſt, durch den Gretchen zur Verbrecherin wird, um mit ihm den Taumel ſüßer 
Liebe auskoſten zu können. Dennoch erſteht für den Schöpfer dieſer beiden Lebens- 
ſtufen kein hemmender Zwang, jenen jungen Fauſt und dieſen Greis im gleichen 
Werke zu ſehen. 

Gewiß, auch Richard Wagner vermochte den alten Wotan der „Götterdämme⸗ 
rung“ im gleichen Rieſenwerke neben den Wotan des „Rheingolds“ zu ſtellen. 
Aber er mußte ihn zum Opfer der Zdee werden laſſen, nicht mehr zum Träger. 
Wollen wir aber ſo nicht die Idee des fluchbeladenen Ringes in die Mitte des 
Werkes rücken, ſo iſt jeder der vier Teile eine Dichtung für ſich, die mit den anderen 
Teilen nur durch die Verwandtſchaft und durch die im Grunde damit gufammen- 
hängende Verbindung mit den gleichen außerhalb der auftretenden Menſchen 
liegenden Geſchehniſſen in Beziehung ſtehen. 

Worauf beruht es, daß die Wortdichtung entſchieden fo viel reichere Fabig- 
keiten zur Darſtellung und Verknüpfung von Abbildern der Zdee beſitzt, als das 
Muſikdrama? Hier wird die Muſik in einem gewiſſen Sinne zur Hemmung für 
die Dichtung, wie wir oben beim Vergleich mit Beethoven die Dichtung als Be- 
hemmerin der Muſik kennen lernten. Denn die Muſik beraubt den Künſtler der 
Möglichkeit der Ausnutzung der verſtandesmäßigen Kräfte der Sprache. Alles 
Theoretiſieren hilft nichts gegen die Tatſache, daß jegliche Vertonung den gedant- 
lichen Wert des Wortes und der Rede an ſich vermindert. Sie kann ſehr leicht den 
Gefühlsgehalt ſteigern, aber alles Gedankliche muß aufs Elementare zurückgeführt 
werden. Die Feinheiten des logiſchen Gewebes der pſychologiſchen Zergliederung, 
die zwingende Kraft des gedanklichen Schluſſes erliegen unter der ſinnlichen Fülle 
der Muſik, unter ihrem Gefühlsgehalt, ganz abgeſehen davon, daß die Muſik den 
Umfang der Ausſprache ſtark beſchneidet. So gewiß die Verbindung von Wort 
und Ton auch im Drama für rein pſychiſche Vorgänge eine Steigerung bedeuten 
kann, fo ſicher ſchon durch die Möglichkeiten des Zuſammenklanges ganz verſchiede⸗ 
ner muſikaliſcher Entwicklungsreihen hier Möglichkeiten gegeben ſind, an die das 
geſprochene Wort niemals denken kann (man denke an das Quartett in Verdis 
„Rigoletto“), ebenſo ſicher liegen in dieſer Verbindung auch Minderungen der 
Kräfte eingeſchloſſen. Und zwar auch der pſychiſchen, gerade nach der Richtung der 
künſtleriſchen Pſychologie, d. h. der Möglichkeit, das Erleben eines anderen uns 
ſo erklärlich zu machen, daß wir es mitzuerleben vermögen. 

Die kritiſchen Punkte für das Muſikdrama treten alſo dort ein, wo das Emp- 
finden (und infolgedeſſen auch das Handeln) der auftretenden Perſonen von der 
elementaren Einfachheit abweicht, wo Verwicklungen eintreten. Das hat niemand 
ſtärker beſtätigt, als Richard Wagner ſelbſt, indem er durch ſeinen künſtleriſchen 
Inſtinkt gezwungen wurde, jenes Element wieder in das Orama einzuführen, deffen 
Überwindung die Vorbedingung für eine wirklich hohe Entwicklung der dramati- 
ſchen Dichtung geweſen war: das Wunder. 

Das Wunder muß freiwillig geglaubt werden, es darf und kann nicht ver- 


918 Storck: Wieland der Schmied 


ſtanden werden. Wir haben hier den tiefſten Gegenſatz gegen alles das, was ſonſt 
Drama heißt. Der Dramatiker muß uns zwingen zum Glauben, dadurch, daß er 
uns das Unwahrſcheinlichſte verſtehen hilft. Mit der großartigen Logik feines tünft- 
leriſchen Handelns, die der ſeines Kunſttheoretiſierens unendlich überlegen war, 
hat Wagner die weiteren Schritte getan. Heroen- und Göttermythus und die tiefe 
Wunderſymbolik des chriſtlichen Glaubens wurden das Gebiet feiner Dramatik. 
Das einzige Werk, das außerhalb dieſer Welt ſteht, iſt bezeichnenderweiſe auch 
kein Abbild der Erlöſungsidee (die „Meifterfinger‘). 

Das Wunder aber iſt tranſzendental, immateriell. Da das Drama aber die 
Materialiſierung gebietet, weil es ja eben immer jeglicher Idee zum Abbild ver- 
helfen muß, braucht Wagner die Symbole des Wunders, die faſt notwendigerweiſe 
als Veräußerlichung des Wunders wirken müſſen, d. h., das Wunder wird ge- 
knüpft an einen Wunder wirkenden Gegenſtand. Ein ſolcher iſt ſogar der Gral. 
In viel ſchrofferem Maße ijt es der Liebestrank, ben Zfolde und Triſtan genießen; 
ift es der Vergeſſenheitstrank, den Gutrune an Siegfried reicht; ijt es der flud- 
beladene Ring des Nibelungen. Ohne ſolches Symbol vermochte Wagner auch in 
„Wieland der Schmied“ nicht auszukommen. 

Es ijt hier die Stelle, wo ich den Inhalt des Werkes ſkizzieren muß, um fo 
mehr, als dieſe Dichtung Wagners nur wenig bekannt iſt, weshalb ich mich auch 
möglichſt in den Ausdrücken des Entwurfes bewege. 

Wieland lebt mit ſeinen Brüdern Eigel, dem Schützen, und Helferich, dem 
Arzt, als unabhängiger Held im Wikinger Land des Königs Rothar. Kunſtvolles 
Geſchmeide ſchafft er den Frauen feiner Brüder, für König Rothar aber hat er 
ein gewaltiges Schwert geſchmiedet, daß er es im Kampfe ſchwinge gegen den 
König Neiding, der Nordlands freie Männer knechtet. Noch nennt Wieland ſelbſt 
fein Weib fein eigen. Da gewahrt er mit ſeinen Brüdern hoch in den Lüften 
Schwanenmädchen, Walküren, die wohl heimwärts fliegen vom Schlachtfeld. 
Und während die Brüder nach ihren Häuſern geben, ſieht et, wie eine der Fliegen- 
den zurüdbleibt, ſichtlich ermattet und ins Meer ſtürzt. Da wirft fid) der Held in 
die Fluten. „Friſch, Wieland! In der Meereswoge erjagſt du dir wohl dein Wild!“ 

Er hat Schwanhilde gerettet und trägt bie Ohnmächtige ans Land. Um ihrer 
Wunde nahezukommen, löſt er ihr das Flugkleid ab und gewahrt ein herrliches 
Weib, zu dem ſein Herz in Liebe entbrennt. Raſch vermag er der erwachenden 
Schwanhilde Beſorgnis zu zerſtreuen. Schnell faßt ihr Herz Teilnahme für den 
herrlichen Jüngling, deffen Träume fo kühn find, wie fein Tun. Sie will die Heimat 
vergeſſen und Wielands Weib werden. Noch löſt ſie einen Ring vom Finger 
und reicht ihn Wieland: vielleicht liege es nur am Zauber dieſes Ringes, daß er 
ſie liebt; denn „trägt ihn ein Weib, der Mann, der ſich ihr naht, muß dann in Liebe 
für ſie glühn“. Nein, Wieland iſt nicht durch den Ring bezaubert. So ſoll er doch 
den Ring ſorgſam wahren, „denn für den Mann, der ihn trägt, enthält er den 
Siegerſtein, der in jedem Kampfe ihm Sieg verſichert“. Auch von dieſer Eigen- 
ſchaft will Wieland keinen Nutzen ziehen; ſo hängt er an einem Baſt den Ring an 
der Türe ſeines Hauſes auf: „Hier hänge du, weder ich noch mein Veib bedürfen 
dein!“ Nur höher ſchlägt die Flamme der Liebe empor. So ſoll er doch das Flug- 


Stora: Wieland der Schmieb 919 


kleid verſchließen, ihr die Lodung zu erſparen. Doch auch da vertraut Wieland, 
daß die Liebe für Schwanhilde eine ſtärkere Haftung ſei als das verſchloſſene Kleid. 
Er geleitet die noch immer Schwache in ſeine Hütte, daß ſie ſich erhole, und eilt, 
den Brüdern von ſeinem Glücke Mitteilung zu machen. 

Da naht Bathilde, König Neidings runenkundige Tochter. Die Runen haben 
ihr den Weg zu dem kunſtreichen Schmied Wieland verraten, haben ihr auch ge- 
kündet, daß die verwundete Meermaid hierher geflohen. Gelänge es, Wieland den 
Schmied zu fangen und ihrem Vater zu bringen, ſo hätte der mit der Kunſt dieſes 
Schmiedes die Siegesſicherheit gegen alle Feinde. Vermöchte ſie ſich ſelbſt aber 
gar den Zauberring der Walküre zu erwerben, ſo wäre ſie dadurch ja Herrin über 
alle. Ihre Zauber öffnen die Türe, ſo braucht ſie den an ihr aufgehängten Ring 
nur zu nehmen. Nun ſchichten ihre Mannen um die Hütte den Brand. Inzwiſchen 
ijt es Gram, dem Feldherrn Neidings, der auch ſofort dem Zauber des an Bathil- 
des Hand befindlichen Ringes erlegen ift, gelungen, Wieland zu fangen. Als der 
aber ſein brennendes Haus gewahrt, ſprengt er in übermäßiger Kraft die Feſſel. 
Mit knapper Not nur entkommt Gram auf das Schiff. Da vermag der vor Schmerz 
über ben Verluſt Schwanhildes raſende Wieland ihnen nicht zu folgen. Er kennt 
nicht einmal feine Feinde, doch vermögen ihn feine Brüder nicht zurückzuhalten, 
er ſpringt auf einen Baumſtamm, ſtößt ihn ab und vertraut darauf, daß ihn ſeine 
Ahnin, das Meerweib Wachilde, dorthin tragen wird, wo er Rache nehmen kann 
für ſein getötetes Weib. 

Der zweite Akt führt uns an König Neidings Hof. Bathilde hat erkannt, 
daß der unbekannte Schmied, der eines Tages an ihren Hof gelangte, niemand 
anders iſt, als Wieland. Auf Rache zog er aus, aber die Rache vergaß er, da ihn 
nun Liebe bindet. Seines Weibes vergaß er, das er tot wähnt, da er für Bathilde, 
die Beſitzerin des Zauberringes, in Liebe entbrannte. So find Gram und Wie- 
land Nebenbuhler. König Neiding, dem Bathilde dieſe Zuſammenhänge verrät, 
beſchließt tüdijd) den Zufall zu nützen. Da Wielands Brüder im Auftrage König 
Rothars ihm den Krieg anzuſagen kommen, verſpricht er dem ſeine Tochter, der 
ihm den Sieg verſchaffen würde. Wieland ift dadurch zum höchſten Dienſte ent- 
flammt und ſchlägt in gieriger Eiferſucht Gram zu Boden. Aber dieſer Schwert- 
ſtreich traf den Ring an der Hand Bathildes, die fie ſchützend vor Gram hielt. In 
dieſem Augenblick gewinnt der Liebeszauber über Wieland wieder verdoppelte 
Kraft, und ſo iſt es Neiding und ſeinen Mannen ein leichtes, den Helden in Bande 
zu ſchlagen. Nein, er tötet ihn nicht, aber die Sehnen der Füße läßt ihm Neiding 
zerſchneiden. Zum Schmieden braucht er nur Arme und Hände; der verkrüppelte 
Wieland wird ihm der beſte Knecht ſein. 

Dritter Akt. In Wielands Schmiede ſehen wir den auf Krücken fid) müh- 
ſam ſchleppenden geſchändeten Helden. Furchtbar leidet er unter der Qual ſeiner 
Knechtſchaft, und doch vermag er kein Ende zu finden, denn ſchwerer noch feſſelt 
ihn die untilgbare Liebe zu der Königstochter, die ihn doch haßt. Er verzehrt ſich 
in Sehnſucht nach dieſem Weibe, das er doch nicht eigentlich liebt. In dieſem Zwie⸗ 
ſpalt der Gefühle iſt ihm die Arbeit der letzte Troſt. 

Es klopft an ſeiner Tür, eintritt Bathilde. Sie iſt verſtört; fie hat den ein- 


920 Stord: Wieland der Schmied 


(amen Gang gewagt, um fid) aus größter Not zu helfen. Bei jenem Schwert- 
ſtreich ift der Ring jo ſchwer beſchädigt worden, daß der Stein aus der Faſſung ge- 
gangen iſt. Nur Wieland kann den Schaden heilen. Sie iſt ſich der Gefahr des 
Unterfangens wohl bewußt, und mit allen Liſten legt ſie es an, von Wieland die 
Verſicherung zu erhalten, daß er ſie wahrhaft liebt, daß er aller Rache entſagt. In 
höchſter Gier reißt Wieland den Ring von ihrem Finger, um endlich ſie ſein eigen 
zu nennen. Da ijt der Zauber gebrochen — aufwacht die Erinnerung. Gntaüdt 
und entſetzt ruft er aus: „Schwanhilde, mein Weib!“ Alles Vergangene tritt 
jetzt klar vor ſein Auge, mit Entſetzen erkennt er in Bathilde die Verwüſterin all 
ſeines Glückes. „Um Steine und Ringe lähmſt du freie Männer und mordeſt ihre 
Frauen! Nicht mich, mein Weib doch räche ich jetzt an dir! Stirb!“ 

Da ſchreit Bathilde ihm im äußerſten Entſetzen zu: „Dein Weib lebt!“ Ihr 
Gewand bat fie gefunden und jid) aus dem flammenden Haufe emporgeſchwungen 
zu ihrer Heimat zurück. „Mir jammervollem, lahmem Mann entſchwand ſie nun 
ewig! — Ach, was ward mir das bekannt! Nun geſchah mir grauſamer, als je 
zuvor! Wäre ich blind geblieben, als Knecht hätte ich geſchmiedet und endlich wohl 
die Kette geküßt, die mich band. Nun weiß ich, wer ich war, welch ſeliger freier 
Mann! Nun weiß ich, daß das holdeſte Weib mir lebt, und daß ich Elender nie ſie 
erreichen, nie ſie ſehen werde! — Vergehe denn, du lahmer, hinkender Krüppel! 
Du Spott und Scheufal! Verlacht von Männern, verhöhnt von Weibern und 
Kindern! Vergehe! Dir blüht nur Spott, nie Rache, — nie Liebe!“ (Er ſtürzt 
in furchtbarem Schmerze zuſammen.) 

Bathilde ſteht wie verſteinert da; das menſchliche Elend erkennt fie in furdt- 
barſter Wahrheit vor ſich. Tiefer Jammer bemächtigt ſich ihrer Seele. „Ihr ganzes 
Empfinden wandelt ſich im Anblick dieſes leidenden Mannes, der ſich nun langſam 
erhebt. „Schwanhilde, Schwanhilde! O könnte ich mich von der Erde erheben, 
die mein Fuß nur mit Schmerzen in ſchmählicher Schwäche berührt! — Wie einft 
ich durch die Fluten ſchwamm, ach! könnt' ich durch die Lüfte fliegen! Stark ſind 
meine Arme, um Schwingen zu rühren, und furchtbar iſt meine Not! Deine 
Flügel! deine Flügel! Hätt' ich deine Flügel, rüſtig durch die Lüfte flöge ein Held, 
der feinem Elend fih rächend entſchwungen!“ 

„In heftigſter Erregung ſtarrt er ſchweigend aufwärts. — Bathilde ruft 
ihn ſanft an; er bedeutet fie durch eine heftig abwehrende Gebärde zum Schweigen. 
Sie blickt ihm ängſtlich in das Antlitz: — ſie ſieht ſeine Lippen heftig zittern, ſeine 
Augen in immer lebhafterem Glanze leuchten. An den Krücken erhebt er ſich 
in wachſender Begeiſterung bis zur vollſten Höhe ſeiner Geſtalt. 

„Bathilde (entzückt und entſetzt): ‚Der Götter einer ſteht vor mir!“ 

„Wieland (mit bebender Bruſt): ‚Ein Menſch! Cin Menſch in höchſter Not!“ 
(Dann in furchtbares Entzücken ausbrechend:) „Die Not! Die Not ſchwang ihre 
Flügel, ſie wehte Begeiſterung in mein Hirn! Ich fand's, was noch kein Menſch 
erdacht: — Schwanhilde! wonniges Weib, id) bin dir nah’! Zu dir ſchwing' ich 
mich auf! T 

Völlig umgewandelt, will Bathilde alles tun, was er von ihr verlangt. Nicht 
als Gatten, — als Menſch muß fie ihn lieben. Wie foll fie ihre Schuld ſühnen? 


Stord: Wieland der Schmied 921 


Wieland ſendet ſie Rothar entgegen, der kommt, die dunkle Macht Neidings zu 
zerſtören; ihm ſoll ſie liebende Gattin ſein. 

Dann macht er ſich aufs neue ans Werk. Die Schwertklingen, die er für 
feinen grauſamen Dienſtherrn geſchmiedet, will er fid) zum Flüͤgelkleide um- 
ſchmieden. Durch Schienen ſollen ſie für die Arme verbunden werden, und im 
Nacken, wo ſich die Schienen zueinander zu fügen haben, ſoll der Wunderſtein aus 
Schwanhildes Ring den bindenden Schluß geben. Es iſt, als locke ſeine Tätigkeit 
das ferne Weib herbei, denn aus der Höhe hört er Schwanhilde ſeinen Namen 
rufen. Da kommt Neiding mit feinen Genoſſen zur Schmiede. Liſtig ſchließt Wie- 
land die Türe, dann peitſcht er mit ſeinen Wunderflügeln den Rauch und die Flam- 
men gegen ſeine Peiniger, und als die Hütte zuſammenbricht, erhebt er ſich auf 
feinem Flügelpaare zur Höhe. Dort eint er fic, befreit durch feiner Hände Kunſt- 
werk, für immer mit dem geliebten Weibe. — — — 

Viel ſchroffer, als es in der ausgeführten Dichtung oder gar in dem kom- 
ponierten Drama der Fall wäre, erkennt man aus der Skizze, wie gewaltſam das 
Wunder in das innerſte dramatiſche Gefüge hier eingreift. Jene beiden ſeeliſchen 
Umwandlungen, die die Angelpunkte des ganzen Dramas ſind, werden uns nicht 
durch irgendein deutendes Wort näher gebracht, ſondern als Glaubesnartikel be- 
fohlen. Natürlich iſt der Ring letzterdings ein Symbol. Aber es iſt doch nicht zu 
leugnen, daß dieſes Symbol durch die materielle Geſtaltung in den Ring in einem 
ſolchen Maße vergröbert wird, daß die Muſik nachher nicht imſtande ſein kann, 
dieſe Materialiſierung wieder zu vergeiſtigen. Sie kann ſie nur ſinnlich verſchönen. 
Es iſt nun ſowohl Richard Wagner, wie nachher Kurt Höſel entgangen, daß der 
Ring im Entwurf noch eine Wirkung mehr ausübt, als ihm die Walküre nach- 
gerühmt hat. Er erweckt nicht nur die Liebe für die Trägerin, er löſcht auch die Er- 
innerung an jede andere Frau aus, ja an jegliches frühere Geſchehen. Sicher iſt 
es gut, daß, wenn ſchon ein Wunder geſchehen ſoll, dieſes derartig radikal wirkt, 
daß auf dieſe Weiſe nicht der außerordentlich feſſelnde Konflikt geſchildert werden 
mußte, wie Wieland mit der Erinnerung an ſein totes Weib im Herzen der Liebe 
für Bathilde erlegen wäre. 

Man bat nun oft geſagt, ſowohl zur Verteidigung Wagners wie im An- 
griff gegen ihn, daß dieſe ſeeliſchen Wandlungsprozeſſe, an die wir bei ihm glauben 
müſſen, fo ungeheuerlich feien, daß fie eben nur durch Wunder vermittelt werden 
könnten. Das ift aber nicht wahr. Auch die Liebeswandlung in Wieland ijt im 
Grunde nicht verwegener, als wenn Shakeſpeare in Richard III. es erreicht, daß 
Gloſter (fpäter Richard III.) die von Haß und Rachgier gegen ihn erfüllte Anna 
zwingt, an der Leiche ihres von ihm ermordeten Gatten fid) feinen Verlobungs- 
ring anſtecken zu laſſen. Und die plötzliche Liebesmacht, die ein Weib über den 
Mann ausübt, kann überhaupt nicht ſtärker aufgenommen werden, als die Art, 
wie Romeo, für den noch eben die ganze Welt im Namen Roſalinde aufging, 
diefe völlig vergißt und nur noch ben einen Gedanken Julia kennt, ſobald er Rapu- 
lets Tochter erblickt. Aber Shakeſpeare, vor deſſen divinatoriſcher Herzenskunde 
auch der erfahrenſte Pſychologe ſich beugt, ruft kein „Wunder“ zu Hilfe. Er be- 
ſitzt im Wort, in der Möglichkeit, die Charaktere der Menſchen in ihrer ganzen 
Kompliziertheit auseinanderzulegen, die Mittel, zu überzeugen. 


922 Mufitalifches Notizbuch 


Ich bin fier, daß Wagner um biejes „Wunders“ willen den „Wieland“ 
preisgegeben hat. Nicht nur, weil er fidh gegen „Nibelungen“ und „Triſtan“ wieder- 
holt hätte, ſondern, weil das, was ihn an „Wieland“ feſſelte, zu menſchlich 
war. Der ganze Wieland ift ein echt und rein menſchliches Problem; darum ver- 
trägt er das Wunder nicht. 

Es iſt recht bezeichnend, daß der Epigone Kurt Höſel gerade dieſen ſchwachen 
Punkt herausgriff und noch verſchlimmerte, um die Bedeutung des Ringes zu 
„vertiefen“. „Erſt nach ſeiner Läuterung durch die furchtbarſte Not“, leſen wir im 
Vorwort des Textbuches, „erkennt Wieland die wunderbare Eigenart des Ringes: 
des edlen Reifes Wunderart wirkt im Willen ſeines Herrn. Hält ihn ein Reiner, 
ſo entragt ihm nur Hohes; in verruchter Hand vollbringt er Verbrechen. Warum 
bat nur Schwanhilde dieſen entſcheidenden Punkt vergeſſen, als fie Wieland den 
Ring ſchenkte! 

Aber auf Wagners Kunſt kann man Höſels Deutung des Rings anwenden: 
in ſeiner Hand entragt ihr nur Hohes; in der ſchwächlichen ſeiner Nachahmer — 
die Muſikgeſchichte kennt kein traurigeres Kapitel. 


SD ee 


Muſikaliſches Notizbuch 


achkenntniſſe verbeten. Das Verhalten der preußiſchen Regierung 
gegen alles, was ben Muſikunterricht angeht, ift recht merkwürdig. In den beiden 
Regierungsbezirken Düſſeldorf und Merſeburg beſteht noch eine ſtaatliche Aufſicht 
über die Muſikſchulen. Dieſe liegt aber in den Händen eines Kreisſchulinſpektors jeder Stadt. 
Nun ift es klar, daß diefe Herren nur ganz ausnahmsweiſe eine muſikfachmänniſche Ausbildung 
genoſſen haben. So verhältnismäßig leicht die Aufſicht an Privatſchulen mit wiffenfdaft- 
lichen oder rein techniſchen Diſziplinen ijt, weil hier alle Bedingungen zur Erteilung des Unter- 
richts vom Staate aufs genaueſte feſtgelegt ſind, um ſo ſchwieriger iſt ſie an den Muſikſchulen. 
Denn hier wird nur vom Konſervatoriumsleiter ein Zeugnis verlangt, die anderen Lehrkräfte 
werden dagegen nach Gutdünken des Kreisſchulinſpektors eingeſtellt. 

Was ſoll nun dabei herauskommen, wenn ein Dilettant über Dilettanten oder mufi- 
Laliſche Handwerker fein Urteil abzugeben hat? Es läge doch nichts näher, als die Aufſicht 
über die Muſikſchulen einem gebildeten Fachmanne zu übergeben, einem vom Staate oder 
der Stabt angeſtellten Muſiker, wie er ſich ja überall findet, wenn man nicht vorzieht, fir einen 
ganzen Regierungsbezirk einen derartigen Beamten anzuſtellen. 

Der Mufitpädagogifhe Verband hat mit Rüdfiht auf die unglaublichen Übelftände, 
die ſich auf dem ganzen Gebiete breitmachen, an das Kultusminiſterium die Eingabe gerichtet, 
„die Aufſicht aller Muſikſchulen nicht durch Kreisſchulinſpektoren, ſondern durch Fachleute 
beforgen zu laffen“. Die Antwort des Miniſterialbeamten lautete kurz und bündig: „Ich bin 
nicht in der Lage, dem Antrage auf Einführung einer Beaufſichtigung der Muſikſchulen durch 
muſikaliſch gebildete Fachleute weitere Folge zu geben.“ 

Die deutſche Sprache iſt nicht eben leicht, und ſo wollen wir annehmen, daß das Mini- 
ſterium dieſe Verbannung der Fachleute nicht ganz ſo grundſätzlich gemeint hat, wie ſie hier 


9Rufifall[des Notizbuch 923 


ausgeſprochen wird. Denn eine amtlich bediente Korreſpondenz verbreitet folgende Nachricht: 
„Im Zuſammenhang mit der geſetzlichen Regelung des Theaterweſens iſt beabſichtigt, far 
ben Muſikunterricht in jeder Form ſowie für ben dramatiſchen Unterricht, foweit fie als Ge- 
werbe betrieben werden, die Anzeigepflicht bei der zuſtändigen Behörde einzuführen. Die 
Erteilung des Unterrichts ſoll verſagt werden können, wenn Tatſachen vorliegen, welche die 
Unzuverläſſigkeit des Betreffenden in bezug auf ben Unterricht dartun. Hierbei ijt unter Un- 
zuverläſſigkeit nicht nur ein ſittlicher Mangel zu verſtehen, vielmehr gilt als ſolche auch die 
Unfähigkeit, d. b. ein Mangel an denjenigen Renniniffen, deren Beſitz zu einer erfolgreichen 
Erteilung von Unterricht unerläßlich iſt. Es wird mithin von der Behörde in erſter Linie ein 
Nachweis über die erhaltene Ausbildung in dieſen Fächern gefordert werden können. Als 
gewerbsmäßig iſt jede Unterrichtserteilung anzuſehen, bei der die Abſicht beſteht, aus der 
Tätigkeit eine dauernde Einnahmequelle zu machen. Durch die in Ausſicht genommenen 
Beſtimmungen ſoll jedoch nicht die Verpflichtung eingeführt werden, vor Beginn der Unter- 
richtserteilung eine Konzeſſion nachzuſuchen; vielmehr ſoll zum Beginn des Gewerbebetriebes 
nur die Anzeige bei der Behörde desjenigen Ortes, in dem der Unterricht erteilt wird, erſtattet 
werden. Wird die Erteilung des Unterrichts verſagt, fo gilt dieſe Entſcheidung nicht nur für 
den betreffenden Ort, ſondern allgemein für das ganze Reichsgebiet. Nach Verlauf eines 
Sabres feit ber ausgeſprochenen Verſagung kann die Landeszentralbehörde die Wiederaufnahme 
des Unterrichts geſtatten. Die von der Reichsregierung geplante Maßnahme ſoll ſich als 
notwendig herausgeſtellt haben, weil in ſteigender Zahl Perſonen ſich mit der Erteilung von 
Muſik- und dramatiſchem Unterricht befaſſen, denen die erforderlichen Vorausſetzungen dafür 
fehlen.“ 

Da wäre alfo endlich jene Beaufſichtigung des muſikaliſchen Unterrichtswefens, nach 
der alle jene, denen unſere muſikaliſche Kultur am Herzen liegt, Iden fo lange dringend ver- 
langen. Leider wage ich die Hoffnung nicht allzu hoch zu ſpannen, denn es ſteht überall das 
Wörtchen „können“ dabei. Der Unterricht ſoll verſagt werden könnenz der Nachweis über 
die Ausbildung gefordert werden können. Damit eröffnet dieſe Verordnung doch der 
Willkür Tür und Tor. 

Noch peinlicher wird uns die Frage, welche Behörde über dieſe Fähigkeit des Anzeigenden 
entſcheiden wird. Nach den Erfahrungen in dem oben beſchriebenen Fall dürften das wleder 
Leute fein, die eigentlich nichts von der Sache verſtehen, dieſen genügt dann das Ronfervato- 
riumszeugnis irgend eines „Direktors“ als vollgültiger Beweis der Befähigung. In den 
Akten des Muſikpädagogiſchen Verbandes ruht ein Zeugnis, in welchem der Direktor eines 
Konſervatoriums einem Herrn (abgehenden Studierenden) beſtätigt, „daß er einer Kuhlauſchen 
Sonatine mit Verſtändnis gegeniiberftehe und bei der Schlußprüfung einen Satz aus einer 
Kuhlauſchen Sonatine zur Zufriedenheit vorgetragen habe“. Weiter wird beſtätigt, „daß der 
Herr ſich Kenntniſſe in der Elementartheorie erworben habe“. — — Und dieſes Zeugnis ver- 
ſchaffte dem betreffenden Herrn die Konzeſſion zur Eröffnung eines Ronfervatoriums!! — — 
Das iſt ungefähr ſo, wie wenn einem Manne, dem von einem anderen unbekannten und 
ungeprüften Manne beſtãtigt wird, daß er einem Gedichte Ublands mit Verſtändnis gegenüber- 
ſtehe und eine Strophe eines ſolchen Gedichtes zur Zufriedenheit vortragen könne, die Leitung 
einer höheren Mädchenſchule oder eines Gymnaſiums übertragen würde. 

Es iſt ſchwer zu verſtehen, weshalb die Regierung gerade in allen muſikaliſchen Dingen 
fib fo gegen den natürlichen Weg einer fachmänniſchen Beaufſichtigung ſträubt. Sie bat doch 
jetzt auch bei den Vorbereitungen für das neue Theatergeſetz dem Bühnenverein und der 
Bühnengenoſſenſchaft Iden lange vorher die Entwürfe zur Begutachtung vorgelegt. 

Freilich, das Unwefen im Muſikunterricht hat eine Stufe erreicht, daß man nicht mehr 
nach dem Minifterium, fondern einfach nach der Polizei rufen möchte. So erhielt ich auf der 
Straße folgenden Zettel zugeſteckt: 


924 Mufitalifhes Notizbuch 


Achtung! Achtung! 
Noch nie dageweſenl! 
Eine hochfeine Geige mit Kaſten und Bogen 
111 umſonſt 111 
erhält jeder Schüler oder jede Schülerin, deſſen Eltern ihr Kind 
einen Rurfus in der neu eröffneten Muſikſchule Wilmers- 
dorf, Auguſtaſtraße 11, durchmachen laſſen. Eintrittsgeld 3 bis 
5 M, jede Woche eine Stunde Unterricht, pro Stunde 1.50 &. 

Kein Riſikol Das Inſtrument wird fofort beim Rurfus- 
abſchluß mitgegeben und iſt nach Beendigung desſelben (nach 
36 Stunden) Eigentum des Schülers geworden. 

Inſtrument ift im Inſtitut, Wilmersdorf, Auguſtaſtraße 1 I, 
zu beſichtigen, auf Wunſch kommt Vertreter mit dem Inſtrument 
ins Haus. 

Kein Vater oder keine Mutter follte für ihr Kind diefe felten günjtige 
Gelegenheit verſäumen :::: Aufnahmen täglich. 


Die Polizei kümmert ſich um ſo vieles, warum läßt ſie dieſe Art von Betrug an geiſtigem 
und leiblichem Gut durchgehen? Es handelt ſich doch um Zugendunterricht! Gibt es da keine 
Schutzmittel gegen Betrüger und niedrige Spekulanten? 

* S * 

Der Ruin des Privatmuſiklehrers. Daß bie Regierung fid) fo felbft- 
herrlich über bie Kreiſe der Gachverftindigen hinwegſetzt, hat auch verhängnisvolle Folgen 
für das ſoziale Leben des Muſiklehrers gezeitigt. Das am 1. Januar 1913 in Kraft ge- 
tretene Verſicherungsgeſetz für Angeſtellte enthält einige Beſtimmungen, die die Dafeins- 
möglichkeiten der verſicherungspflichtigen Muſiklehrer in ungünftigftem Maße erſchweren. 
Selbſt wenn durch bie Ausführungsbeſtimmungen der eine Übelftand beſeitigt wird, daß die 
Verſicherungskarte einer Lehrkraft allmonatlich durch die Hände ihrer ſämtlichen Arbeitgeber 
wandern muß, daß alſo Eltern und erwachſene Schüler genaue Kenntnis der Perſonalien 
und Dermögensverhältniffe ihres Lehrers erhalten, dieſer fo in feiner freien Bewegung aufs 
ſchlimmſte beſchränkt wird, bleibt noch des Schlimmen genug übrig, das vermieden worden 
wäre, wenn man Kenner der Standesverhältniſſe zu den Beratungen hinzugezogen hätte. 
Eine beſondere Schwierigkeit liegt in dem Geſetze ſelbſt, und zwar in dem Zwitterzuſtand, 
daß das Publikum nur teilweiſe zu Beiträgen herangezogen wird. Eine Eingabe des mufit- 
pädagogifchen Verbandes an den Reichstag ſagt darüber folgendes: 

„Eltern, die ihren Kindern Privatunterricht erteilen laffen, find zur Zahlung des ge- 
ſetzlichen Beitrages verpflichtet. Diejenigen, bie fie in Konſervatorien und Muſikſchulen ſchicken, 
find befreit von den Zahlungen wie den damit verbundenen Unbequemlichkeiten. Mit Recht 
darf der Schluß gezogen werden, daß das Publikum, zur Vermeidung der ihm auferlegten Laſten, 
dieſen Unterricht bevorzugen und ſomit eine große Abwanderung in die Konſervatorien und 
Muſikſchulen ftattfinden wird. Eine weitere ſchwere Schädigung erwächſt bem Privatmufit- 
lehrſtand durch eine große Gruppe Arbeitnehmer, die mit geringen Ausnahmen ſämtlich Privat- 
muſitunterricht erteilen, aber verſicherungsfrei ſind: Lehrer und Erzieher an öffentlichen Schulen 
oder Anſtalten (S 9), alfo Lehrer an Hochſchulen, Volksſchullehrer, penſionsberechtigte Ordhefter- 
mitglieder uſw. Eine gleich ſchlimme Konkurrenz erblüht bem Muſiklehrſtande noch von Per- 
ſonen, die, außerhalb des Muſiklehrberufes ſtehend, trotzdem Unterricht erteilen. Wer in der 
Sugend einmal Muſikunterricht gehabt, gleichviel ob er etwas dabei gelernt hat oder nicht, 
gibt Mufitftunden. Dieſe Leute, zumeiſt Pfuſcher, fordern geringe Preiſe und finden daher 
ſtets maſſenhaften Zuſpruch. Aber auch Perſönlichkeiten aus beſſeren Kreiſen, ja ſogar aus 


Mufitalifches Notizbuch 925 


ſolchen, bie in guten Verhältniſſen leben, ſcheuen fid) nicht, zur Erlangung eines Nebenverdienſtes 
dem Berufsmuſiklehrer Konkurrenz zu machen. Ihre Stellung in der Geſellſchaft verſchafft 
ihnen mit Leichtigkeit die gewünſchte Schülerzahl. Die beiden letzten febr zahlreich vertretenen 
Kategorien von Unterrichterteilenden werden fid) niemals dem Staate gegenüber als 9Rufit- 
lehrende bezeichnen, bie geſamten Arbeitgeber und nehmer der bezeichneten Art find ſomit 
von jeglicher Beitragsleiſtung befreit. Dieſe Freibeuter brachten der Privatmuſiklehrerſchaft 
von jeher großen Schaden, der ſich jetzt ins Ungemeffene ſteigern wird.“ 

Man kann ſich die Folgen dieſer Verordnung gar nicht ſchroff genug vorſtellen, und ſo 
herrſcht denn auch in den Kreiſen der Privatmuſiklehrer wahre Verzweiflung. So wie das 
Publikum nun einmal iſt, darf man auf irgendwelchen ſozialen Gerechtigkeitsſinn nicht rechnen. 
Sene Tauſende von Muſiklehrern, die ſchon bisher durch das Invaliden -Verſicherungsgeſetz 
zur Beitragszahlung verpflichtet waren, können da ein beſchämendes Lied über ihre Erfah- 
rungen auch in den ſogenannten guten Ständen ſingen. 

Abgeſehen von unferem Mitgefühl mit einem ſchwer ringenden tüchtigen Stande find 
auch bie künſtleriſchen Folgen, die eine maſſenhafte Abwanderung in bie Muſikſchulen und 
Konſervatorien haben würde, ſchwer zu beklagen. Der Privatmuſikunterricht iſt gerade für 
den künftigen Liebhaber niemals durch den Konſervatoriumsunterricht zu erſetzen. Nun 
kommt hinzu, daß heute und wohl auch noch auf lange hinaus dieſe Muſikſchulen dank der 
„Freiheit“, die fie genießen, vielfach unglaublich ſchlecht finb. Aber die Behörden thronen 
erhaben über all dieſen Nöten und Sorgen gewöhnlicher Sterblicher. Sie haben keine Ber- 
anlaſſung, durch eingehende Beratung mit Sachkennern den Übelftänden von vornherein zu 
begegnen oder die naheliegenden Wege zur Beſſerung einzuſchlagen. ga ſpäter! Später! 
Wenn erſt möglichſt viel zugrunde gerichtet iſt, dann wird man geeignete Maßregeln ergreifen 
oder doch „in Erwägung ziehen“. Was heute noch verhältnismäßig leicht zu erreichen wäre, 
wird dann nur mit großer Mühe zu erkämpfen fein, wenn es nicht dann überhaupt zu ſpät 
fein wird. Und doch ſteht hier das beſte Volksgut deutſcher Kunſtkultur auf dem Spiele. 


Der Geburtstag des Kaiſers 


in Feſt ijt immer etwas von einem tünft- 
leriſchen Vorgang. In jedem Feſt will 

eine Stimmung, eine Idee, ein ſtarkes Ge- 
fühl zum Ausdruck kommen, und diefe Stim- 
mung, diefe Idee, dieſes ſtarke Gefühl bilden 
die Seele des Feſtes. Vo die Seele 
fehlt, entſteht überhaupt kein Feſt, ſondern 
nur ein geräufchvoller öffentlicher Trubel. 
Wenn aber ſo die Feſte eine Seele haben, 
find fie der Kunſt verwandt und der Aſthetik 
unterworfen. Der Schriftſteller befindet ſich 
alfo in feinem Recht, wenn er äfthetifche An; 
merkungen zu „Kaiſers Geburtstag“ macht. 

Es iſt hoffentlich bereits aus dieſen Zeilen 
erſichtlich, daß wir uns nicht an bie Außer- 
lichkeiten des Feſtes zu halten gedenken. 
Was in den patriotiſchen Reden etwa gegen 
den Geiſt der Sprache gefiindigt wurde; ob 
bie Slluminationen der großen Kaufhäuſer 
geſchmackvoll waren; ob die Ausfhmüdung 
der öffentlichen Plätze im Guten oder Böſen 
etwas Bemerkenswertes bot — auch das 
mögen Sorgen fein; es mögen ſogar Sorgen 
ſein, die man durchaus nicht von oben herab 
behandeln ſoll. Nur daß es in dieſem Fall 
nicht unſer e Sorgen find. 

Hat das Feſt ſelber eine Seele? Und wie 
ſieht dieſe Seele aus? Das iſt die Frage, die 
wir uns vorzulegen gedenken. Ob die tünjt- 
leriſchen Begleiterſchein ungen des 
Feſtes ſeelenvoll oder ſeelenlos waren, inter- 
eſſiert uns nicht. 

Warum wird der Geburtstag des Kaiſers 
vom ganzen Volk begangen? Weil der Kaiſer 
der öffentliche ſichtbare Ausdruck des Bater- 


landes iſt. Auch wenn man ſeine menſchlichen 
Vorzüge feiert, feiert man ſie, inſofern ſie 
für das Wohl des Vaterlandes von Bedeu- 
tung waren. Wer in einer Rede etwa den 
Kaiſer anſchwärmen wollte, weil er ein guter 
Schütze ijt, würde dem Vorwurf des Byzan- 
tinismus verfallen. Es gibt viele gute Schüßen. 
Aus dem Grunde rüjtet ein ganzes Volk ſich 
nicht zum Feſt. 

Das Feſt gilt dem Vertreter des 
Vaterlandes, und die vaterlän- 
diſche Geſinnung muß alſo die Seele 
des Feſtes ſein. Wie bringt man nun am 
beſten, am klarſten, am einwandfreiſten ſeine 
vaterländiſche Geſinnung zum Ausdruck? 
Um Verzeihung, es ift ein rauhes Wort: in- 
dem man für das Vaterland opfert. Seit 
uralten Zeiten äußert ſich die Liebe zum 
Vaterland in vaterländiſchen Opfern. Die 
vor einem Jahrhundert ihre goldnen Ringe 
opferten, um dafür eiferne einzutauſchen, lieb- 
ten ihr Vaterland. Und die ihr Blut opferten, 
liebten es noch mehr. 

Ein Feſt der Freude a m Vaterland; ein 
Feſt des frohen Opferns für das Vaterland. 
Das müßte die Seele von „Kaiſers Geburts- 
tag“ ſein. Wenn die Bürgerſchaft feierte, 
müßte auch in die Wohnungen ber Armen 
eine Erleichterung einziehen. Gemeinnützige 
Stiftungen müßten geſchaffen, noble Unter- 
nehmungen unterftüßt werden uſw. Feſtliche 
Freude und gemeinnütziges Wirken. Wie 
(lebt es mit dieſer Seele aus? 

Man hat das gemeinnützige Wirken tot- 
geſchlagen und hat damit zugleich der feft- 
lichen Freude die Seele genommen. 
Nur ſo iſt die rohe Entfeſſelung des Suffs zu 


Auf ber Warte 


erklären, die uns jeder „Kaiſergeburtstag“ 
bringt. In einigen Gegenden werden ſogar 
Perſonen, die auf der Säuferliſte ſtehen, für 
dieſen einen Tag dem Alkohol, alſo ihrem 
Unglüd, zurückgegeben. 

Sollte es wirklich nicht möglich ſein, die 
vaterländiſche Gefinnung fo zum Ausdruck zu 
bringen, daß am Tage nach dem Feſt noch 
etwas anderes als nur ein nationaler Riefen- 
kater zu verzeichnen wäre? 


Deutſche und Polen 


in polniſcher Rittergutsbeſitzer, der in 
Dermögensverfall geraten war, ver- 
kaufte ſein Gut an einen Deutſchen. Sogar 
an einen Deutſchen in ſozuſagen „gehobener 
Lebensſtellung“: den Großherzog von Sachſen 
nämlich. Darauf veröffentlichte der Senior 
der Familie in den Blättern eine Erklärung, 
in der er die Tat des Vetters ehrlos, ſchändlich 
und unwürdig nannte und zugleich bekannt 
gab, daß der ſo Gezeichnete für immer aus dem 
Familienverband ausgeſtoßen worden ſei. 
Was hier von einem Polen begangen 
wurde, ift ſchon recht häufig auch von Deut- 
ſchen geübt worden. Deutſche Beſitzer, dar- 
unter Träger hiſtoriſcher Namen, haben ihre 
Güter an Polen verſchachert, und nicht immer 
batten fie, wenn fie bei einem Wettbewerb 
zwiſchen der Anſiedlungskommiſſion und 
einem Polen für dieſen votierten, die Ent- 
ſchuldigung für ſich, daß ihnen das Waſſer 
an der Kehle ſtand. Aber daß ſie von den 
Angehörigen ihrer Schicht und den Gliedern 
ihres Familien verbandes dann fo exemplariſch 
gezühtigt worden wären, ift mir nicht be- 
kannt geworden. Vielleicht, wenn man wie- 
der einmal über deutſche Verluſte in der Oft- 
mark klagt und ſich nach Gewaltkuren heiſer 
ruft, bedenkt man auch dieſen Unterſchied. 
Nicht bloß mit der Barmherzigkeit, ſcheint 
mir, ſoll man im eigenen Hauſe beginnen. 
e R. B. 


Wetterlẽ 


Or’? ben Darlegungen angeſehener Suri- 
ſten bietet das Reichsſtrafgeſetzbuch 
keine Handhabe, um ben deutſchen Reichstags; 


927 


abgeotbneten Wetterlé für feine gefährlichen 
Redereien in Frankreich zur Rechenſchaft zu 
ziehen. Es bleibt ſomit nichts übrig, als 
Herrn Wetterlé die allgemeine Verachtung zu 
bekunden. 

Für Leute feines Schlages iſt es nun aber 
ſehr gleichgültig, ob fie von der öffentlichen 
Meinung ihres Vaterlandes verurteilt wer- 
den. Vorausſichtlich wird Herr Wetterlé ohne 
Scheu, ſobald der Sturm der Entrüftung ſich 
gelegt hat, wieder in den Reichstag zurüd- 
kehren und dort ſeinen Sitz einnehmen, als 
ob nichts vorgefallen wäre. 

In die italieniſche oder franzöſiſche oder 
ſpaniſche Volksvertretung würde ein Whgeord- 
neter, ber fid) ähnliche vaterlandsverrãteriſche 
Redereien im Auslande zuſchulden kommen 
ließ wie der Abgeordnete Wetterlé, fid) nicht 
zuruͤckwagen, da er genau weiß, was ihm 
droht. Man würde ihn dort angreifen, an- 
ſpucken und hinauswerfen — unter dem 
Schutze der Zmmunität. Und kein Staats- 
anwalt würde ſich in Frankreich, Italien oder 
Spanien finden, der es wagte, gegen ſolche 
Selbſthilfe A 9. 


Die Marfeillaife e und Die Wacht 
am Rhein in Deutſchland 


ines Tages ſtimmte in einem Gothaer 
Haufe eine höhere Tochter die Mar- 
ſeillaiſe an. Erſtaunt horchte der Vater auf 
und vernahm, daß in der höheren Töchter 
ſchule, die ſein Kind beſucht, die Verſe des 
Revolutionsliedes gelernt und ſogar ge- 
ſungen werden mußten. Der Direktor dieſer 
Schule, Profeſſor Henkel, fab fid genötigt, 
öffentlich diefe ſonderbare Tatſache einzu- 
räumen, und glaubte ſie rechtfertigen zu 
können durch Hinweis auf den amtlichen 
Lehrplan mit der Aufgabe, bei dem fran- 
zöſiſchen (und engliſchen) Sprachunterricht 
„das Verſtändnis für bie geiſtige und mate- 
rielle Kultur, für Leben und Sitte der beiden 
fremden Völker möglichſt zu erſchließen“. 
Für höhere Töoͤchterſchulen eignen (id) be- 
ſonders folgende Berfe der Marſeillaiſe: 


Ihr Banner blutgetränkten Randes 
Hob wider euch bie Tyrannei. 


928 


Defpoten bebt, Verräter zittert, 
Den Vatermord ereilt der Lohn, 
Soldat iſt alles, euch zu ſchlagen. 


Rein Tiger, der empfindungslos 
Der Mutter Bruſt zu ſpalten drohte. 


Marſch, marſch, das falſche Blut 
Saug euer Boden ein. 


Nach der Angabe des Gothaer Töchter 
ſchuldirektors ſoll die Marſeillaiſe in vielen 
höheren Knaben und Mädchenſchulen Deutich- 
lands gelernt und geſungen werden. Das iſt 
denn doch febr zu bezweifeln. Sollte es wirt- 
lich noch in Deutſchland Schulen geben, wo 
weltfremde und verknöcherte Pädagogen den 
franzöſiſchen Sprachunterricht nicht ohne das 
Lernen und Singen der Marſeillaiſe erteilen 
zu können glauben? Man mag das Lied er- 
wähnen und leſen, aber zum Auswendig⸗- 
lernen und Nachſingen eignet es ſich fiir 
deutſche Schulen nicht. Muß das erſt geſagt 
werden? Wo in deutſchen Schulen die Mar- 
ſeillaiſe auswendig gelernt und geſungen 
werden muß, da fehlt es den Lehrern und 
Leitern an nationalem Gefühl, ja ſelbſt an 
geſundem Menſchenverſtand. Welch fonder- 
barer Geiſt mag in ſolchen Schulen herrſchen! 

Da ſind die Sozialdemokraten ungleich 
zielbewußter. gn der Stadt Hagen ſollte ein 
Reform-Rino den Schulen bie Rheinlandſchaf⸗ 
ten vorführen, und es war vorgeſehen, daß 
die Kinder dazu gemeinſchaftlich „Die Wacht 
am Rhein“ anſtimmten. Sofort erhoben da- 
gegen die ſozialdemokratiſchen Eltern Wider- 
ſpruch, fühlten ſich in ihrem internationalen 
Empfinden durch das nationale Lied verletzt, 
verlangten ein anderes Lied und ſetzten in der 
Tat ihre Forderung bei dem Schulauffichts- 
beamten durch. Mitte Januar verlangte ein 
deutſches parteiloſes Tageblatt gar eine Um- 
dichtung des Textes der „Wacht am Rhein“, 
um dem Liede die Spitze gegen Frankreich 
zu nehmen und bie franzöſiſche Empfindlidy- 
keit zu (donent 

Hier zwingt man das heranwachſende 
Deutſchland, die Marſeillaiſe anzuſtimmen, 
dort darf es die Wacht am Rhein nicht ſingen 
— die alte deutſche Quertipfigteit [Sh würde 
mich nicht fo milde ausdrucken! O. T.] treibt 
ſeltſame Blüten, und das Ausland lacht dazu! 


* P. D. 


Auf der Warte 


Im Zuge des „Organifationg- 
gedankens | 


Here aus den bürgerlichen Sport- 
» vereinen!“ ruft bie ſozialdemokratiſche 
Zentralkommiſſion für Sport und Körper- 
pflege: „die ſporttreibenden organiſierten 
Arbeiter und Arbeiterinnen haben die Pflicht, 
die bürgerliden Sportvereine zu meiden.“ 
Das heißt man ja wohl ſo den „Sieg des 
Organifationsgedantens“, Reine Rub’ bei 
Tag und Nacht, bis jeder eingefangen und 
parteipolitiſch abgeſtempelt ijt und er nun 
allem, was nicht die ſelbe Prägung trägt, 
wie bem höllifchen Feuer aus dem Wege geht. 
Der „Sieg des Organiſationsgedankens“ und 
zugleich die Selbſtauflöſung der Nation, die 
ohne ſtarke Gemeinſamkeiten, ohne ein Kom- 
men und Gehen, ein Nehmen und Empfangen 
nicht zu beſtehen vermag. Schließlich be- 
ſchränken dieſe Abſchließungstendenzen ſich ja 
nicht auf die Sozialdemokratie, wenn ſchon 
zugegeben ſein ſoll, daß ſie hier einſtweilen 
kulminieren. Auch andere Parteien, Grup- 
pen, Konfeſſionen ſchichten einen Wall um 
ſich auf und laſſen niemand herüber. Wes- 
halb denn auch das ſchablonenmäßige Denken 
in deutſchen Landen fo an Ausbreitung ge- 
winnt und ſtatt des Individuums man immer 
haufiger dem Typus begegnet. Der „Sieg 
des Organijationsgedantens“! Wie arm- 
ſelig wird die Welt erſt ſein, wenn auch der 
letzte Mann und die letzte Frau an die Partei- 
kette gelegt ward! R. B. 


* 


Ein Rekord 


ie Überlaftung der Zivilgerichte iſt ge- 
nügend bekannt, und viele der Öffent- 
lichkeit unverſtändliche Urteile mögen auf die- 
fen Mißſtand zuruͤckzuführen fein. Wie foli 
ein Nichter auch ſeinen Kopf klar halten, wenn 
bie Verhandlungstermine in wilder Hatz auf- 
einander folgen! Im Amtsgericht Berlin- 
Mitte ijt kürzlich ein Rekord erreicht worden: 
61 Verhandlungstermine in 3 
Stunden!! Von dieſen 61 Terminen, die 
zur Verhandlung vor dem Amtsgericht Berlin- 
Mitte, Abteilung 47, anſtanden, waren 20 auf 


Auf ber Warte 


91, Uhr angeſetzt. Für fie waren im ganzen 
30 Minuten vorgeſehen, alfo auf jede Ber- 
handlung 1½ Minute. In der Zeit von 10 
bis 10%, Uhr ſtanden fodann 37 Prozeſſe zur 
Verhandlung an, die alfo in 45 Minuten er- 
ledigt ſein ſollten. Es entfallen ſomit auf die 
einzelne Verhandlung nur 1½ Minute. Dann 
waren für die beiden folgenden je 15 Minuten 
und für eine weitere Verhandlung 30 Minuten 
feſtgeſetzt, denen fid um 12½ Uhr die letzte 
Verhandlung anſchloß. Es bleibe nicht un- 
erwähnt, daß einzelne Verhandlungen durch 
Verſäumnisurteil erledigt werden und daher 
einen nur geringen Zeitaufwand beanſpruchen, 
immerhin iſt ſelbſt die im Mittel berechnete 
Zeit von 1½ bis 14% Minute auch dafür febr 
kurz. 
Wer iſt bei dieſer Verhandlungsmethode 
am meiſten zu beklagen: die Parteien, der 
Richter oder — die Suftis? L. H. 


* 


Strafen 


d babe einen Vetter und eine Statiſtik. 
Mein Vetter ift Schutzmann in Berlin. 
Und meine Ctatijtit weiſt aus, daß im Sabre 
1907 550 720 Verurteilungen auf Grund 
bet deutſchen Reichsgeſetze und 418 837 Ber- 
urteilungen wegen Vergehen und Ver- 
fehlungen bei deutſchen Amtsperſonen er- 
folgten. 
Als ich meinem Vetter dieſe Statiſtik 
vorlas, ſagte er ſtolz: 
„Oa treffen 187 Stück auf mich allein.“ 
„Was?“ fagte ich. „Ou haft doch nicht —“ 
„Freilich,“ ſagte er, „149 habe ich an- 
gezeigt wegen nicht brennender Fahrrad- 
laterne und 38, weil ſie links gefahren ſind.“ 


* e 


* 


Auch Terror? 


&;" Münchener Student der National- 
ökonomie erzählte in einer Anſprache, 
die er vor verſammeltem Auditorium an Lujo 
Brentano richtete: ihm und feinen Rommili- 
tonen von der nämlichen Fakultät wären 
wirtſchaftliche Nachteile in Ausſicht geſtellt 
worden, wenn ſie nicht abließen, bei dem 
Der Türmer XV, 6 


929 


Verfemten zu hören. Zu Oeutſch alſo: fie 
würden hinterher bei keinem Unternehmen 
und keiner Korporation, die von gewiſſen grob- 
induftriellen Schichten abhängig find, unter- 
kommen. Das ijt reichlich hart, find’ ich, und 
wer ſentimental veranlagt iſt, könnte mit 
einigem Recht ſogar von Terrorismus fpre- 
chen. Noch größer aber als Harte und Neigung 
zum Terror ift — man verzeih mir die Wen- 
dung — doch wohl die Torheit, die hinter 
ſolcher Drohung ſteckt. Was, teure Freunde, 
wäre (in eurem Sinne) denn gewonnen, fo 
die Studenten Kolleg und Ubungen bei Lujo 
Brentano wirklich mieden? Schrieb er denn 
nicht auch Bücher? Viele dicke Buͤcher, die 
viel eindringlicher zu uns zu reden vermögen, 
als das ſchnell verhallende Wort im Hörſaal. 
Der närriſchſte iſt der Vorleſungsboykott. Er 
ijt nämlich, feit die Univerſitätsprofeſſoren in 
wachſendem Umfang von der Erfindung der 
Buchdruckerkunſt Gebrauch machen, auch der 
allerunwirkſamſte. Weshalb es — wenigſtens 
unter dieſem Geſichtswinkel — auch eine 
ziemlich nutzloſe Übung iſt, Sozialdemokraten 
von der Habilitation auszuſchließen. Wer 
Talent fiir die Sozialdemokratie hat, findet 
den Weg zu ihr allein durch das Schrifttum. 


0 


* 


Hof und Geſellſchaft m. b. H. 


ls tonfervativer Menſch, oder id will 

fagen, als hiſtoriſch fuͤhlender Deutſcher 
leſe ich die Notizen, was bei Hofe vorgeht 
und ſich um ihn gruppiert. Wenn zwar in 
der Stiliſierung dieſer Nachrichten aus „Hof 
und Geſellſchaft“ der Kampf mit dem Drachen 
der Begriffsarmut ſtets etwas deutlich zu 
fpüren war, fo ſchob ich das auf ihre Herkunft 
aus den Schreibzimmern höͤfiſcher Subaltern- 
amter. 

Nun ſtammen ſie offenbar nicht mehr von 
dort. Es ſcheint, man hat ſie in anderweitige 
Regie gegeben. Das ſich mit Rieſenſchritten 
panfeefierenbe Deutſchland erhält durch den 
Manager mitgeteilt, was es über feine höchſten 
Kreiſe wiſſen will. So verwaſchzettelt alles, 
produktiv ift man da, wo es auch was ein- 
bringt. Vielleicht gibt es den ad des 

6 


930 


guten alten Stils (ober Unftils), mit bem 
fih ein Adjutant bemüht, noch in Karlsruhe 
oder Detmold, ich weiß es nicht. In der 
Hohenzollernhauptſtadt beforgt ihn der brauch- 
bate junge Mann der Aktiengeſellſchaft. 

Ihre Kaiſerlichen Hoheiten das Rron- 
prinzenpaar beehrten die 100. Vorſtellung 
der Poſſe „Filmzauber“ mit ihrem Beſuch. 
Die Herrſchaften amüfierten ſich augenfdein- 
lich prächtig und gaben vielfach das Zeichen 
zum Applaus, uſw. uſw. 

Der Herzog und die Herzogin Ernſt 
Günther zu Schleswig-Holftein gaben geſtern 
abend im Hotel Eſplanade ein größeres 
Diner. Im Reſtaurant des Hotel 
Eſplanade dinierten außerdem: 
Herzog und Herzogin von Arenberg — — und 
nun folgt eine längere Reihe von arifto- 
kratiſchen Namen bis zum Regierungspräſi- 
denten von M. und der Frau von M. (Daß 
die letztgenannten Herrſchaften öffentlich als 
verheiratet bezeichnet werden, iſt nicht mehr 
vornehm. Bismarck iünjdte feiner Frau 
die Reichskanzlerin zu erfparen, es gab nur 
den Reichskanzler und die Fürſtin Bismarck. 
Was damals Vernunft war, wird jetzt auf 
alles, was ein biſſel was iſt, projiziert, und 
zwar als lächerlich grundloſer Unfinn, „Der 
Leutnant und Frau Müller beehren ſich, die 
Geburt eines geſunden Knaben anzuzeigen.“ 
Viel fehlt nicht dran.) 

So gut wie täglich begegnen wir unter 
„Hof und Geſellſchaft“ dem Geſchäftsgedeihen 
des Hotels Eſplanade. „Ein farbiges Gefell- 
ſchaftsbild in prächtigem Rahmen (aha) ent- 
rollte ſich geſtern abend im Hotel Eſplanade. 
Zahlreiche Teilnehmer an der Oefiliercour 
trafen in den ſchöͤnen Räumen des Hotels 
zu einer Nachfeier zuſammen .. Die Damen 
im anmutigen Schmucke des Courſchleiers, 
die Herren im großen Uniformprunk, man 
darf wohl ſagen, daß noch kein Berliner 
Hotel (aha) eine ſo ſtattliche und glänzende 
Reunion geſehen hat.“ So geht es noch 
Zeilen lang im ſchmalzigen Znſeratenſtil 
weiter, und die „berühmten Namen“ der 
preußiſchen hohen Geſellſchaft müffen fid) zu 
dieſem Zweck aufzählen laſſen. O Publikum, 
ſtröme ins Hotel Eſplanade, ſo du zum 


Auf der Warte 


beſſeren gehören willſt, du darfft ja im 
Reſtaurant dinieren. 

Naturlich wollen die übrigen auf der 
Höhe der Zetztzeit befindlichen Gaſthöfe nicht 
dahinter zurückbleiben und verſenden gleich- 
falls ihre Communiqués für „Hof und Ge- 
ſellſchaft“. Nicht immer zwar wiſſen fie dabei 
den unfreiwilligen Humor zu vermeiden. 
„Kapitänleutnant v. X. aus K. und Baronin 
von B. aus Sch. find in Berlin eingetroffen 
und haben im Boardingpalaſt Wohnung ge- 
nommen.“ Das klingt doch beinahe wie 
etwas Unerlaubtes. (Weshalb ich die Namen, 
die nicht dafür können, diskret verkürzte.) 
Lãſe man dieſen Satz der ſtiliſtiſchen Unſchuld 
ſtatt deſſen im Berliner Tageblatt, ſo dächte 
man doch ganz gewiß an eine pikante Ent- 
bülfung aus Junter- und Agrarierkreiſen. 

Rühmenswert ift das Hotel Adlon. Hier 
lebt noch der alte echte Hofſtil. Auch das 
aus ihm fo wohlbekannte „Sich-in-der-Be- 
gleitung-befinden“ des Gefolges. Der durch 
Häufigkeit verſtimmende Hinweis auf die 
glänzenden Räume des Hotels wird hier 
vermieden. „Der engliſche Großbankier Gb- 
mund Davis, begleitet vom Vicomte de 
Wertheimer, iſt aus London kommend heute 
morgen in Berlin eingetroffen und im Hotel 
Adlon abgeſtiegen.“ 

So gibt es zum Glück noch Stände, die 
die höfiſche Geziemlichkeit zu retten wiſſen. 
Der Souverän, begleitet vom Vicomte, dem 
vice-comes, Das Alte ſtürzt, es ändert ſich 
die Zeit, und neues Leben blüht aus den 


Ruinen. Ed. H. 
* 


Der Zug zur Geilheit 


iemand kann verkennen, wie in unſerm 

ganzen Leben das Sinnliche immer 
mehr einer ungeſunden, unnatürlichen Erotik 
verfällt. Überall Lüſternheiten und Geil- 
heiten, die durchaus keine Zeichen einer über- 
Ihäumenden Sinnenfreudigkeit, ſondern das 
Erzeugnis überreizter, müder Sinne ſind. 
Wie oft erſcheinen Betten in neueren Theater- 
ftüden auf der Bühne, um eine ſchwüle 
Schlafzimmerſtimmung geradezu bandgreif- 
lich einem aufzuzwingen. Auch die öffentlichen 


Auf ber Warte 


Vergnügungen verfallen immer mehr diefer 
Geilheit. Schon werden die Schiebetänze, die 
vor den Bauchtänzen orientaliſcher Bordelle 
nur den Mangel jeglicher Kunſtfertigkeit 
voraushaben, auch auf beſſeren Bällen, ja in 
ſogenannten „beſſeren“ Geſellſchaften getanzt. 

Zegt klagt auch der Berichterſtatter der 
„Frankfurter Zeitung“, der man gewiß keine 
Prũderie vorzuwerfen braucht, aus München: 
„unfer Faſching von heute ift animaliſcher, er 
ijt ‚fleifchiger‘ geworden. Es ijt in die öffent- 
lichen Veranſtaltungen, auch wenn ſie nicht 
ganz billig ſind und alſo von den ſogenannten 
‚beſſeren“ Kreiſen beſucht werden, ein Zug 
hineingekommen, der abwärts führt in jene 
Region, wo es jid) nicht mehr um ,prübe' oder 
frei“, ſondern ſchlichtweg um anftändig oder 
unanftändig handelt. Die unbefangene Heiter- 
keit des Faſchings beruht auf der Swanglofig- 
keit des Verkehres zwiſchen Mann und Weib, 
die einmal im Jahre über die geſellſchaftlichen 
Zwangsformen hinweg einander in Scherz und 
Freude am Leben begegnen wollen. Daß in 
den ſpontanen Äußerungen dieſer Lebens- 
freude Gott Eros vernehmlich mitſpricht, war 
von jeher ſo und ſoll auch gar nicht anders ſein. 
Aber die Achtung vor dem fremden Ich muß 
auch aller erotiſchen Tollheit noch Maß und 
Ziel geben, gerade dann, wenn die Schranken 
der geſellſchaftlichen Übereinkunft in dieſen 
Dingen zeitweilig gefallen ſind.“ 

Es ijt merkwürdig, daß man die letzten Ur- 
ſachen dieſer Erſcheinung nicht ſehen will oder 
nicht zu nennen wagt. Wenn heute in den 
unteren Volksſchichten ſich tolle Auswüchfe der 
Roheit und des raffinierten Verbrechertums 
zeigen, fo weiſt man ſofort auf die Schund- 
literatur und den „Kientopp“ hin. Nun, die 
Nährquelle der üblen Erotik in den beſſeren 
Bevölkerungsſchichten entſpringt auch unſerer 
Literatur, dem Theater, der bildenden Kunſt. 
Welch erſchrecklichen Umfang hat die Erotik 
im Roman gewonnen? was wagt man in der 
bildenden Kunſt zu zeigen? 

Aber wehe dem, der hier von „Schund“ 
zu ſprechen wagt! Weil die äußere Auf- 
machung etwas beſſer iſt. Aber wie elend ge- 
ſchmacklos iſt ſo manches von dem, was an- 
ſpruchsvoll als Kunſt auftritt, und wie ge- 


931 


mein in der Gefinnung. Es wäre aber ſchlimm 
um bie Wirkungskraft der Kunſt beftellt, wenn 
ſich der Geiſt, der in ihr waltet, nicht auch im 
geſellſchaftlichen Leben bemerkbar machte. 
Das könnte ein Glück fein; heute ift es ein 
Fluch. K. St. 


* 


Die verhängnisvollen Schnäpſe 


Wer von einer Ecke ſeiner Stammkneipe 
aus das politiſche Leben Europas 
betrachtet, genießt dann und wann auch die 
reine Heiterkeit der Romödie. War da 
jüngft in Kopenhagen ein ſozialdemokratiſcher 
Führer in einen politiſchen Konflikt hinein- 
geraten, in dem es heiß herging. Wo man 
ihm einen wohlgemeinten ſoliden Hieb über 
den politiſchen Denkerſchädel verſetzen konnte, 
tat man es mit einer gewiſſen Inbrunſt. 
Der ſtreitbare Held aber ragte aufrecht aus 
dem wilden Männergewühl hervor wie der 
ſchimmernde Achilles ſelber. : 

Aber auch Achill kann fterben. In der 
Verſammlung erhob ſich ein Anhänger der 
abftinenten Bewegung, der einen töd- 
lichen Pfeil im Köcher führte. Er ftellte 
unter ſtarken inneren Erſchütterungen der An- 
weſenden feft, daß der befehdete fogialdemo- 
kratiſche Führer vor vier (D Jahren auf 
einer Dampffähre zwei Schnäpſe zu feinem 
Eſſen getrunken habe, obwohl er Abſtinent 
ſei. Selbſt die ſtärkſten Männer erbleichten, 
als dieſes Geheimnis enthüllt wurde, und der 
ſozialdemokratiſche Verbrecher wäre unfehlbar 
geliefert geweſen, wenn er nicht zu ſeinem 
Gluck hätte nachweiſen können, daß die ver- 
hängnisvollen Schnäpſe vier Jahre zurück- 
lägen, während ſeine abſtinente Tugend erſt 
drei keuſche Lenze zähle. Es gelang ihm, 
durch dieſe Feſtſtellung ſeinen Kopf zu retten. 

Wir hätten den heiteren Vorgang nicht 
notiert, wenn er nicht für gewiſſe Tendenzen 
in unſerer eigenen Abſtinenzbewegung 
ſymptomatiſch wäre. Es kann felbft- 
verſtändlich einem abſtinenten Menſchen nicht 
nachgeſehen werden, wenn er ſein Gelübde 
durch zwei frivole Schnäpſe bricht. Nur muß 
die Sache dann vor dem allein zuftändigen 
Forum feiner abſtinenten Organiſation ver- 


932 


banbelt werden. Zwei Schnäpfe vier Sabre 
lang im rachedurſtenden Gemüt zu tragen, 
um den Prozeß dann ſchließlich vor einer ganz 
fremden politiſchen Inſtanz anhängig 
zu machen und den Sünder in der vollen 
Offentlichkeit mit dem Odium des Wort- 
bruchs zu belaften! Sas ſcheint uns doch 
von einem Fan atis mus des ungebrann- 
ten Waſſers zu zeugen, der nicht lobenswert iſt. 

Der Verfaſſer dieſer Zeilen hat der ab- 
ſtinenten Bewegung in Deutfdland eine 
Gaſſe brechen helfen, als ſie den meiſten noch 
eine humoriſtiſche Erſcheinung war. 
SH halte den Alkoholismus auch heute noch 
für eine ſchwere Gefahr und die radikale 
Abſtinenz für das allein wirkungsvolle Heil- 
mittel, nur müßten die Abſtinenten in 
ihrem eigenſten Intereſſe jeden 
unangebrachten Fanatismus ausmerzen. Als 
einen Übergriff des Fanatismus betrachten 
wir es beiſpielsweiſe, wenn viele Abſtinente 
ben Alkoholgenuß durch einen ſt a atlichen 
Eingriff gewaltſam beſeitigen wollen. 
Eine ſo alteingewurzelte Volksſitte, die zudem 
in Deutſchland eine große Induſtrie 
trägt, kann nur vom Volk ſelber aus- 
gerottet werden. Erft wenn die überwälti- 
gende Mehrheit des deutſchen Volkes dem 
Alkohol entſagt hat, kann überhaupt von einem 
Verbot die Rede ſein. Dieſe Volksſtimmung 
aber erreichen die Abſtinenten am eheſten, 
wenn ſie ihrer alten ſieggewohnten Taktik, 
dem Appell an den freiwilligen per- 
ſönlichen Entſchluß, treu bleiben. 

* E. Sch. 

Ein Maſſenattentat auf die 


Sittlichkeit 


ieſer Tage wurde der Berliner Norden 
mit einer Maſſe knallgelber Zettel 
uͤberſchwemmt, auf denen in unverhüllter 
Weiſe ein Apparat zur Verhütung der 
Empfängnis angeprieſen war unter der Ber- 
ſicherung, daß der Apparat ein „garantiert 
ſicheres Mittel“ und „geſetzlich erlaubt“ ſei. 
Gebrauchsanweiſung, Beſchreibung und Gut- 
achten laffen an Oeutlichkeit nichts zu wim- 
ſchen übrig. 
Der Schmutzzettel iſt Tauſenden in die 


Auf der Warte 


Hand gedruckt worden, und fein Gift wird 
wirken. Sollte es denn wirklich unmöglich 
fein, einem ſolchen öffentlichen Unfug das 


Handwerk zu legen? 8. 
* 


Geitungsfutter 


n einer ganzen Reihe von deutſchen 

Zeitungen fanden wir einen Bericht 
über eine Rattenausftellung, bie in 
Chicago ftatigefunden hatte. Man erfuhr 
dabei mit einem gewiſſen unheimlichen 
Schauder, daß es eine ſchreckliche Menge von 
Rattenarten gibt und freute ſich, daß man 
ſelber im allgemeinen doch nur mit einer 
in Berührung zu kommen pflegt. Auch daß 
es Ratten ſchönheiten gibt, erfuhr der 
zahlende Abonnent mit Staunen und in Ehr- 
furcht. 

Eine der kleinſten Ratten, die aus L i- 
berien ſtammt, repräſentierte den Wert 
von 7000 Dollars. Der glückliche Be- 
ſitzer dieſes koſtbaren Objekts erzählte, daß 
der Millionär Smith, der gleichfalls dem 
Verein angehört, bis zu 22000 Dollars 
für die Ratte geboten habe, aber dieſes 
glänzende Angebot ſei nicht angenommen 
worden. Ebenſo verſchieden wie die Größe 
war auch die Färbung der ausgeſtellten 
Ratten. Als beſondere Prämie erhielt die 
ſchönſte Ratte, eben diejenige, deren Wert 
auf 7000 Dollars geſchätzt wurde, nod ein 
reich mit Cbelfteinen beſetztes 
goldenes Halsband! 

Wir kennen den Millionär Smith nicht 
perſönlich, aber wir glauben gern, daß er 
22 000 Dollars für eine beſonders kleine 
Ratte zahlt. Es befremdet uns auch weiter 
gar nicht, daß man der beſagten Ratte ein 
reich mit Edelſteinen beſetztes goldnes Hals- 
band ſchenkte. Ganz im Gegenteil: einer 
auch in Oeutſchland verbreiteten Rattenart, 
den ſogenannten Ballettratten, wer- 
den noch viel größere Geſchenke gemacht. 
Wohl aber befremdet es uns, daß deutſche 
Zeitungen derartige Schüſſeln aufzutragen 
vermögen, ohne beim Servieren auch nur 
mit einer Silbe den Ekel zu verraten, der 
ſie doch notwendig ankommen muß. jer. 


Auf der Warte 


Diſziplin ohne geſunden 
Menſchenverſtand 


(i daß die Organe unſeres Staats- 
weſens einmal ganz iſoliert und ſich 
ſelber überlaſſen wären: Was vermöchte ein 
„Hauptmann von Köpenick“ da nicht alles 
anzuſtiften! Er könnte ganze Armeekorps 
mobilifieren und in Feindesland einrüden 
laſſen, ohne daß ein Offizier oder ein Soldat 
zu ſagen wüßte, warum und weshalb er fein 
Leben „für König und Vaterland“ in die 
Schanze ſchlagen ſollte. Und nur die Wir- 
kungen ſozialiſtiſcher antimilitariſtiſcher Bropa- 
ganda könnten die Gefahr verringern, daß 
gewaltige Blutbäder im eigenen Lande an- 
gerichtet würden, wenn falſche Befehle unſere 
Truppen gegen den „inneren Feind“ los- 
marſchieren hießen. Ein von mediziniſchen 
Fachleuten erſten Ranges für verrüdt er- 
Härter ehemaliger Zahlmeiſter hat aufs neue 
den Beweis für die Tatſache erbracht, die 
ſchon der Schuſter Voigt durch ſeinen Streich 
feftgeſtellt batte: daß unfer Militarismus eine 
Diſziplin züchtet, die den gefunden Menſchen⸗ 
verſtand ausſchaltet. Wieviel Hohn auf die 
Würde des Menſchen als des einzigen denten- 
den Weſens liegt nicht darin, daß ein falſches 
Kaiſertelegramm genügen konnte, um ganz 
Straßburg, einen der furchtbarſten Waffen- 
plätze der Welt, in Aufruhr zu bringen, um 
dreißig Generäle und Hauptleute, einen 
Statthalter und Miniſter, einen kaiſerlichen 
Prinzen und 60 000 Mann Truppen zu 
mobiliſieren! 

Wenn ſolche Diſziplin ohne geſunden 
Menfchenverftand bei uns auf den eigentlichen 
Militarismus beſchränkt wäre, fo ließe fie 
ſich noch ertragen. Aber dieſer Kadaver- 
gehorſam liegt (don faſt der ganzen Be- 
völkerung im Blute. Wenigſtens in den großen 
Städten. Irgendein Idiot braucht nur groß- 
ſpurig aufzutreten, ſich geheimnisvoller Ber- 
bindungen mit mächtigen Perſonen zu rüb- 
men, um, wie damals der Fall eines Patent- 
ſchwindlers lehrte, der, ein ſimpler Bureau- 
ſchreiber, in Berlin als „Dr. Martini“ auf- 
trat, geriebenen Gefchäftsleuten mit plumpen 
Tricks hunderttauſend Mark und mehr ent- 


9³³ 


locken zu können. Irgend ein pfiffiges, un- 
gebildetes Fräulein braucht nur elegante 
Kleider anzuziehen, in einer Equipage zu 
fahren und in der Unterhaltung beiläufig 
auf eine Freundin Gräfin Soundſo anzu- 
ſpielen, um in den vornehmſten Berliner 
Geſchäften für Tauſende von Mark Kredit 
zu genießen. Die Urſache iſt immer dieſelbe: 
blinder Reſpekt vor der Uniform, vernunft 
lofe Diſziplin. Man hört auf zu denken, wenn 
man es dem Scheine nach mit einer hodge- 
ſtellten Perſönlichkeit zu tun hat; man hat 
es in der Schule des Militarismus gelernt, 
zu gehorchen, nur weil befohlen wird, und 
wer es nicht ſelbſt gelernt hat, dem ſteckt es 
als Atavismus im Blute. 

Siingft hörte ich einen unſerer Staats- 
ſozialiſten einen wirtſchaftswiſſenſchaftlichen 
Vortrag mit einer Verherrlichung des Mili- 
tarismus als der Quinteſſenz ökonomiſcher 
Weisheit ſchließen. Hier fei, fo erklärte er, 
das Problem gelöſt, Volkskraft unmittelbar 
in Leiſtungen umzuſetzen. Ohne Handel, ohne 
Markt, ohne unmittelbare Hilfe des Geldes, 
b. h. ohne Tauſchmittel uſw. ufw. Man würde 
alſo die ſoziale Frage auf die einfachſte Weiſe 
löſen, wenn man alles Wirtſchaftsleben mili- 
tariſierte. Die unheimlich raſch um ſich 
greifende Verſtaatlichung von Gütern und 
Menſchen bereitet dieſen Prozeß ja ſchon vor. 
Seder Fortſchritt zur Bureaukratiſierung und 
Militarifierung des Volkslebens bedeutet eine 


gewaltige Erſparnis an geiſtiger Kraft. 


Immer weniger Menſchen brauchen mehr zu 
denken, für immer größere Maſſen genügt es, 
zu gehorchen. „Entwicklung des Menſchen 
zur Rieſenameiſe“, fo lautet das Ideal bieles 
neuen Humanismus. Die Kulturmenſchheit 
wandelt feit Jahrtauſenden auf Irrwegen. 
Sie muß die Bahnen einſchlagen, die ihr die 
ägyptiſchen Pharaonen vorzeichneten, die die 
Kräfte ungezählter Untertanen auf dem 
kuͤrzeſten Wege in Pyramiden umſetzten, die 
noch heute fir ihre Eitelkeit zeugen. 
O. C. 


934 


Opfer des Momentphoto- 


graphen 

1 dieſem Titel bringt die Nr. 7 des 

„Weltſpiegels“, der illuſtrierten Halb- 
wochenchronik des „Berliner Tageblatts“, 
unter anderem „Zwei gute Partien. 3. P. 
Morgans Enkeltöchter, aufgenommen in ihrer 
vorteilhafteſten Poſe.“ Das eine der beiden 
Mädchen verzieht das Geſicht zur widerwärti- 
gen Fratze, das andere reckt ellenlang die 
Zunge heraus. Zwei Viſagen, die man durch 
eine Ohrfeige in eine vernünftige Lage brin- 
gen ſollte, wenn ſie naiv gemacht wären, die 
aber hier vom Photographen beſtellt, an alle 
Welt verſchickt und von unſern kulturfördern- 
den Blättern hunderttauſendfach verbreitet 
werden. Denn natürlich ſind nicht die beiden 
Morgans die eigentlichen „Opfer des Moment- 
photographen“, da die Bilder mit ihrer Ein- 
willigung gemacht ſind; das ganze Volk iſt 
das Opfer, weil es ſich ſolche Dinge zeigen 
laſſen muß. — Nebenbei: Gibt es einen ge- 
ſchmackloſeren Byzantinismus, als diefe An- 
betung des Geldſacks, die ſich eo. in 
dem Fall offenbart? et. 


* 


Seelenvolle Karnevalsdamen 


5 ie bekannte Form der Wohltätigkeit, die 
fih mit öffentlichen Dergnü 
gungen verbindet, iſt ſo oft und ſo blutig 
gegeißelt worden, daß es ſchon einiger Courage 
bedarf, um ſich zu ihr zu bekennen. Es mag 
allerdings etwas Hartherziges an ſich haben, 
im Gedanken an die Armut einen üppigen 
Ball zu arrangieren. Wer die Armen in 
ihren Wohnungen beſucht oder wer auf einem 
ſtillen Gang zu ſeinem Geiſtlichen ihrer ge- 
denkt, übt ohne Frage eine febre viel wahr- 
haftigere Wohltätigkeit aus. Aber man darf 
ſich beruhigen: es werden keine Bälle um 
der Armen, ſondern immer nur um der Bälle 
ſelber willen abgehalten. Wenn aber 
ſchon ein Feſt ſtattfindet, iſt es kein unebener 
Gedanke, daß vom Überfluß den Armen 
etwas zugute kommt. Geht man nun gar 
von praktiſchen Vorausſetzungen aus, 
liegen die Dinge vollends klar. Wenn an 


Auf der Warte 


einem der bekannten „Blu mentage“ die 
weibliche Jugend einer ganzen Stadt auf die 
Männer losgelaſſen wird, bin ich nicht 
menſchenfeindlich und theoretiſch genug, um 
ein ſchiefes Geſicht zu ziehen. Wenn ich am 
Abend mein geplündertes Portemonnaie be- 
trachte, freue ich mich vielmehr über die 
weibliche Verführungskunſt, meine eigene 
Dummheit und den fdónen Batzen, der durch 
dieſe geſegneten Faktoren für wohltätige 
Zwecke zuſammengekommen ijt. Aber immer- 
hin auch [darf betont: es kann Vohltätig- 
keitsfeſte geben, die eine ſchneidende Takt- 
loſigkeit bedeuten. 

In einem Land, das ich abſichtlich nicht 
nenne, weil die Geſchichte in jedem euro- 
páijden Kulturſtaat ſpielen könnte, wurde 
kürzlich in der vornehmen Welt ein glänzendes 
Karnevalsfeſt gefeiert. Mit allem, was zu 
einem ſolchen Feſt gehört: mit Sekt und 
Übermut, mit lebenſprühenden Koſtümen, 
mit Tanz und Lachen, mit pikantem Flirt und 
heißer Luft. Und für wen war der Überſchuß 
dieſes Feſtes beſtimmt? Wem wollten die 
vergnügten Karnevalsdamen etwas zukommen 
laſſen? Den Müttern, die daheim ihre 
Kinder ftillten — Das mutet nicht nur wie 
Hohn an, bae ift auch der ſchneidende Hohn 
in feiner beißendſten Form. Welche Um- 
ſtände find es denn, die in bourgeoiſen und 
ariſtokratiſchen Kreiſen das Stillen zugunſten 
der raſſenſchädlichen Milchflaſche verdrängt 
haben? Seien wir doch ehrlich: Sorge um 
die Eleganz der Figur, Bequemlichkeit, Ber- 
gnügungsſucht. Und alle diefe Inſtinkte ent- 
feſſelt man in ihrer tollſten Form auf einem 
Karnevalsball, um großmütig den ſtillenden 
Müttern einige Prämien zukommen zu laſſen? 
Das iſt ein Hohn, der beinahe wie eine 
zyniſche Frechheit anmutet, gerade weil es 
um etwas geht, das dem Weib ein Heiligtum 
ſein müßte. In mehr humoriſtiſcher Form 
würden wir dasſelbe erleben, wenn der vor- 
treffliche Studioſus Biermörder zu einem 
Wohltätigkeitskommers einladen wollte, um 
endlich der Abſtinenz einen wirkungsvollen 
Dienſt zu erweiſen. Auch ein Schlemmereſſen 
von zehn Gängen zur Förderung ſpartaniſcher 
Lebensweiſe ſei hiermit beſtens empfohlen. 


Auf der Warte 


Senſation um jeden Preis 


ie Tagespreſſe hat mit ihrer rohen und 
lärmenden Luſt an Senſationen unſere 
Nerven ſo abgeſtumpft, daß wir ſo leicht nicht 
mehr erſchrecken. Mitunter aber begegnet man 
auf dieſem Gebiet doch einer moraliſchen 
Perverſität, die im Intereſſe der öffent- 
lichen Sittlichkeit angehalten werden muß. 

Als die grauenvollen Verbrechen des 
Mörders Sternickel jeden redlichen Men- 
ſchen ſchaudern machten, brachte das Ge r- 
liner Tageblatt in ſeinem Feuilleton 
(alfo in ſeinem Kunſt- und Kulturteil) in 
hervorgehobenem Druck unter dem Titel 
„Sternickel“ einen Artikel, der nicht gerne 
mit dem Tag dahinwelken ſollte. 

Zunächſt greift der talentvolle Verfaſſer 
in die Saiten, um auf ſeine beſondere Art 
den feigen Meuchelmörder anzuſingen. Ein 
Name voll Saft und Kraft! Kein Schwach- 
matikus! Kein Schwindſuchtskandidat! Kein 
Dummkopf! Ein empfindſames Gemüt, das 
die unſchuldigen Tauben liebt, ganz wie es 
bei einem echten Rauber der Rauberromantit 
ſein ſoll. Daher ein erfolgreicher Held bei den 
Weibern. — 

Was den Räubern der Käuberromane 
eine gewiſſe volkstümliche Romantik ver- 
ſchaffte, war der Umſtand, daß eine mif- 
handelte und unterdrückte Bevölkerung ſie 
als ſo ziale Rächer empfand, die zudem 
im Kampf mit den obrigkeitlichen Gewalten 
im Stile Karl Moors ihr Leben heldenhaft 
aufs Spiel ſetzten. „Rinaldini, edler 
Räuber“, heißt es in dem bekannten Lied. 
Wir brauchen vor unſeren Leſern kaum zu 
erwähnen, daß von dieſen Eigenſchaften 
keine auf den feigen Hund paßt, der ſeine 
Opfer hinterrücks überfiel, wehrloſe Weiber 
niederſchlachtete und einen kräftigen Mann 
nur mit Hilfe von drei bis vier Spießgeſellen 
zwang, trotzdem er ihn meudelmórbe- 
riſch anfiel. Die Käuberromantik (nicht 
Mörder - und am allerwenigſten Me u- 
ch el mörderromantil) ijt in dieſem Fall nur 
die gefälſchte literariſche Form, in der das 
Gift der Mörderverherrlichung dem deutſchen 
Volk beigebracht werden foll. — 


935 


Nachdem der feuilletoniſtiſche Berliner- 
Tageblatt⸗Oichter zunächſt mit einer gewiffen 
Wucht in die Saiten ftürmte, wird er ſchließ⸗ 
lich elegiſch und ſchreibt: 

„Was hätte aus dieſem kräftigen Menſchen 
werden können, wenn ihn die Vorſehung nicht 
als Mültertneht und Meuchelmörder in die 
Welt geſetzt hätte? Vielleicht wäre er ein 
guter Schauſpieler geworden, die 
Anlagen dazu hat er gewiß; vielleicht ein 
Taubenzüchter und Tierhändler; vielleicht 
gar ein Hüter des Geſetzes, der Mör- 
ber gewiſſenhaft aufzuſpüren ver- 
ſtand ... Und nun, Sternickel —?“ 

Ach ja, ach ja, welch hoher und edler Geiſt 
ward hier zerſtört! Es hätte nur anderer 
Lebensumſtände bedurft, dann hätte uns 
feine Mörderſeele mit künſtleriſchen Offen- 
barungen beglückt! Was macht denn den 
Schauſpieler eigentlich aus? Er weiß fid 
auf der Bühne zu verſtellen. Das aber wußte 
der vortreffliche Sternickel der Polizei gegen- 
über auch. Quod erat demonstrandum. 

Man weiß nicht recht, ob man weinen oder 
lachen foll, wenn einem ein derartiger äftheti- 
ſcher Jargon begegnet. Es braucht vor mei- 
nem Publikum nicht erft ausgeführt zu werden, 
daß der Schauſpieler ſelbſtverſtändlich wie 
jeder andere Künſtler feine wahre innere 
Natur nicht verbirgt, ſondern im Gegen- 
teil durch ſein Spiel offenbart. Mit den 
gemeinen Derjtellungstinften der Verbrecher 
hat das ſchauſpieleriſche Talent ſo wenig zu 
tun wie etwa der feuilletoniſtiſche Mitarbeiter 
des Berliner Tageblatts mit dem Empfinden 
des deutſchen Volkes. — 

Zum Schluß wird dann feſtgeſtellt, daß 
Herr Sternickel in dieſem Fall mit Blut werde 
zahlen miiffen, und dann heißt es: 

„Ein Ruhm aber wird ihm bleiben, der 
Ruhm des letzten Räubers und — 
der Neid aller derer, die ihr Leben lang im 
Schatten der Moral vergebens um ein Hun- 
dertſtel der Beachtung ringen, wie ſie heute der 
Mordbrenner Auguſt Sternickel findet.“ 

Merken wir uns das alſo: der entartete 
Sammerburfche hat immerhin einen „R u b m^ 
erſtritten. Und während jeder geſunde Menſch 
vor dem Gedanken ſchaudert, daß jemals 


936 


einer aus feinem Blut eine derartige Be- 
achtung fordern könnte, regt fi) in der ver- 
faulten Seele dieſes Schriftſtellers ber N e i d. 
Und Herr Sternickel wird zu einer Art von 
Übermenfch, der im Licht feiner Morde immer 
noch in ſeiner beſonderen Art über die trium- 
phiert, die im „Schatten (ö) der Moral“ 
leben. Wir wollen offen ausſprechen, daß 
uns gegenüber dieſer raffinierten Vergiftung 
jeder geſunden ſeeliſchen Regung ſelbſt die 
gemeinften Kolportageromane relativ barm- 
los vorkommen wollen. —t, 


* 


Aus feinem Redaftions- 
Papierkorb 


Wenn man etwas in den Papierkorb 
tut, geſchieht es wohl durchweg in 
ber Abſicht, das Hineingeworfene dem Reb- 
richt zu weihen. Der „Berliner Lokal- 
Anzeiger“ ſcheint anders darüber zu denken. 
Er holt das, was er in der Aufwallung eines 
beſſeren Gefühls beiſeite geſchoben hat, als- 
bald wieder aus der Verſenkung hervor, um 
die Abfälle feines Redaktionstiſches den 
Leſern zur „Beluſtigung“ darzubieten. Der 
„Lokal-Anzeiger“ wird ja ſeine Leſerſchaft 
genügend kennen, und es iſt ſeine Sache, 
wenn er ihr zumutet, ſich über Zuſchriften 
zu beluſtigen, die allerhand herzlich alberne 
Randbemerkungen in „Poeſie“ und Proſa 
enthalten. Aber überaus bezeichnend iſt es, 
wenn das doch ſonſt ſo von Geſittung triefende 
Blatt mit offenſichtlichem Schmunzeln Brief- 
ſtellen zum beſten gibt, die ein nettes Zeugnis 
von der moraliſchen Minderwertigkeit ihrer 
Verfaſſer ablegen. Da wendet ſich z. B. eine 
„Mutter von drei erwachſenen Töchtern aus 
den beſten, höheren, adligen Kreiſen“ ver- 
trauensvoll an die Redaktion und bittet um 
Angabe von Badeorten, in denen fih „nach- 
weisbar die meiſten reichen, unverheirateten 
Amerikaner (nur auf ſolche wird reflektiert!) 
befinden“. Ein Ungar erſucht, ihm gegen 
Nachnahme Anſichtskarten einer „ſüßen“ 
Berliner Schauſpielerin zuzuſenden, deren 
Reize er in einem Budapeſter Theater ent- 
deckt hat. Den Vogel ſchießt aber eine an 


Auf der Warte 


die „liebe L.-A.-Nedaktion“ gerichtete Bu- 
ſchrift ab, die fo viel zartes Gemüt durch 
leuchten läßt, daß ſie im Wortlaut Platz finden 
möge: 

„Es ift bas febr betrübend, daß der 
Krieg unterbleiben foll, es wäre doch 
fointereffantgulefengewefen. 
Sch bin deswegen in letzter Zeit [don morgens 
um 9 Uhr aufgeſtanden, ward aber jedesmal 
enttäuſcht. Mein Mann fagt zwar auch, es 
iſt beſſer, wenn der Krieg unterbleibt, aber 
das find ja keine Männer, ſondern Waſch⸗ 
lappen. Kriege ſind von Gott eingeſetzt und 
von jeher geführt worden. Vas ſoll auch 
mit den vielen gewöhnlichen Men- 
ſchen geſchehen, wo ſollen die ſchließlich hin? 
Schon jetzt ift bas Fleiſch des- 
wegen ſo teuer. Frau Dr. H.“ 

* 


Gin Felt der Schönheit 


n Hamburg erlebten wir ein Schaufpiel, 
das im Zirkus Buſch aud dem Ber- 
liner Publikum in feiner ganzen hinreißen 
den Schönheit geboten worden ijt. Der aus- 
führende Künftler führt den Namen Mac 
Norton und muß in mehr als einer Be- 
ziehung als bahnbrechend bezeichnet werden. 
Sch bitte, dieſes Wort in feinem vollen, wört- 
lichen Ernft zu nehmen: bahnbrechend. 
Wenn das erwartungs volle Publikum bei- 
fammen ijt, betritt der Kuüͤnſtler im Frack die 
Manege, zieht ſich aus und ſteht nun in einem 
gefälligen Trikotkoſtüm vor den Zuſchauern. 
Um das Feſt der Schönheit anzudeuten, das 
geboten werden ſoll, befindet ſich hinter ihm 
als Dekoration ein Palmenhain. 

Er gießt nun hintereinander 50 Glas 
Waſſer (um das alkoholiſche Bewußtſein 
des männlichen Publikums zu ſchonen, in 
einer dem Bier ähnlichen Färbung) in den 
Magen hinab. Um den Zuſchauern die Lei- 
ſtung in all ihren Stationen genau einzu- 
prägen, ſtellt er nach je 10 Glas vor dem 
Palmenhbain ein Schild auf, das die Zahl der 
verſchlungenen Gläfer meldet. Bei dieſer Ge- 
legenheit muß er leider der Menge den Rüden 
kehren, ſo daß man ſein geiſtreiches Geſicht 


Auf ber Warte 


nicht beobachten kann. Hat man aber einen 
günftigen Seitenplatz erwiſcht, ſieht man, wie 
er die ſoeben verſchlungenen 10 Glas nach 
beſten Kräften wieder in den Palmenhain 
ſpeit. Von gewiegten Aſthetikern des Zirkus 
iſt mir verſichert worden, daß gerade hierin 
ein ganz eigentümlid)er Reiz zu finden fei. 

Um dieſen eigenartigen Reiz auch dem 
ganzen Publikum zugänglich zu machen, 
wird darum der Vorgang des Speiens auf 
offener Bühne wiederholt. Der Gmprefario 
bemerkt mit ſchalkhaftem Humor, daß Mac 
Norton von den Waſcheinrichtungen der 
Eiſenbahn unabhängig ſei, und damit hat 
der Mann die redlichſte Behauptung von der 
ganzen Welt aufgeſtellt. Mac Norton ſpeit 
nämlich das verſchluckte Waſſer über die 
Hände und wäſcht ſich auf dieſe Weiſe. Um 
feine Fertigkeit in dieſer ſchönſten aller Rünfte 
zu zeigen, ſpeit er außerdem auch in einen 
Eimer — bald hoch im Bogen, bald in einem 
mehr gemeſſenen Strahl. Er ijt ein Rünftler 
in ſeinem Fach. 

Nachdem das äſthetiſche Empfinden des 
Publikums auf diefe Weiſe angeregt ijt, ver- 
ſchlingt er ein halbes Dutzend Goldfiſche 
und zum Oeſſert ein halbes Dutzend Fröſche. 
Brauche ich erſt zu ſagen, daß ihm dieſe an- 
genehmen Tiere wieder lebendig zum Mund 
herauskommen? 

Wenn das Feſt der Schönheit beendet iſt, 
muß der Künſtler freilich feinen angefdwolle- 
nen Bauch ſchleunigſt hinter die Kuliſſen 
retten, um dort den Reſt des verſchluckten 
Waſſers auszuſpeien. Warum er nicht auch 
das vor den Augen des Publikums tut, weiß 
ich nicht. Aber ſo viel weiß ich: Wer mir in 
Zukunft abſtreiten will, daß der Zirkus ein 
äſthetiſcher Kulturfaktor ijt, dem fende ich 
eine ſchwere Piſtolenforderung. — kj. 


* 


Von unferen Vornehmen 


Se Inſerate. Das erſte vortrefflich auf- 
gemacht, mit breitem, weißen Rahmen, 
der es von all dem kleinen Gemüfe vorteil- 
haft trennt. 

Der Türmer XV, 6 


937 


„Oer Direktor 
einer vornehm zuſammengeſetzten, pro- 
ſperierenden Induſtrie-Aktiengeſellſchaft 
juht behufs Durchfuhrung einer augerft 
gewinnbringenden Transaktion Anſchluß 
an ſozial beſigeſtellten Privat⸗Kapita⸗ 
liſten, der & 50 000 bis & 100 000, teils 
gleich, teils fpdter, zur Verfügung ſtellt. 

Glänzende Verzinſung geſichert — 
evt. Aufſichtsratsſtelle, verbunden mit 
gutem Einkommen zu beſetzen. 

Selten günftige Gelegenheit für höhere 
Militärperſonen oder Beamte a. D., auch 
Rentiers oder vermögende Damen erſter 
Geſellſchaftskreiſe, Anſchluß an vornehmes 
Unternehmen bei gutem Einkommen, 
ſicherem Gewinn und glänzenden Chan⸗ 
cen zu erlangen. 

Ernſte Reflektanten — mit Ausſchluß 
jeder Vermittlung — belieben möͤglichſt 
ausfuhrlich gehaltene Anträge vor Jahres 
ſchluß einzuſenden unter Perſönliche Ver; 
handlung“ an . . .“ 


Man müßte im Originaldrud ber Anzeige 
ſehen, wie groß der Direktor dieſer vornehm 
zuſammengeſetzten Znduſtriegeſellſchaft iſt. 
Und wie ritterlich iſt dieſer Mann, bei welchem 
doch ſicherlich die Geldmänner nur fo anti- 
chambrieren, daß er fein Füllhorn der glän- 
zenden Chancen, mit Ausſchluß jeder Ber- 
mittlung, den Herren oder Damen der alten 
Geſellſchaftskreiſe zuwenden will, wenn ſie 
„behufs“ deſſen bei ihm einen „Antrag“ ſtellen. 

Das zweite: 


„Hausdame. 


Alleinftehender junger Mann von 30 
Jahren ſucht per ſofort für ſeinen vor- 
nehmen Haushalt in Bremen eine evan- 
geliſche, gebildete, unabhängige junge 


Dame im Alter bis zu 25 Jahren. Die- 
ſelbe muß den Haushalt ſelbſtändig leiten 
können unb nimmt Vertrauensſtellung ein. 
Bei Bewerbungen ift Bild beizufügen. 
Off. unt. ... hauptpoſtlag. erbeten.“ 


938 


Ganz recht. Wer fi in unſerm Jahr- 
hundert des Kindes ſchon per ſofort einem 
vornehmen Zunggejellen-Haushalt ergibt, ber 
ſoll nicht auf dem kanoniſchen Alter der 
Pfarrersköchinnen beſtehen. Wo bliebe viel- 
leicht der Ste[peft, wenn die Dame nicht ent- 
ſprechend in der Maienblüte und vollends, 
wenn „dieſelbe“ nicht unabhängig ift? 

Wie vornehm iſt die Sprache doch ge- 


worden! H. 
k 


Die „Intellektuellen“ 


ie Leſer werden die Menſchenſorte ſchon 

kennen, die bas Anſehen des menfe- 
lichen Verſtandes mißbrauchen, indem ſie 
ihn mit ihrer inneren Weſenheit in Verbin- 
bung bringen. Sie find die Geſcheiten; 
fie find die Intelligenten, fie find fo un- 
endlich klug, daß fie fid nur mit einem Namen 
bezeichnen können, der von der Intelligenz 
ſelber abgeleitet iſt. 

Wenn ſie in die Welt blicken, ſind ſie von 
lauter Banauſen umgeben. Wo iſt der ge- 
wöhnliche Sterbliche, der ihnen ebenbürtig 
wäre? Wenn ein Menſch tatkräftig an der 
Politik ſeines Landes teilnimmt, iſt er von 
vornherein ein Parteiban auſe. Wenn 
er ſich zu einer beſtimmten Philoſophie be- 
kennt, iſt er ein Idiot. Wenn er gewiſſe 
moraliſche Anſchauungen noch nicht verlernt 
bat, ijt er ein Philiſter. Wenn er das gläubige 
Pathos Schillers liebt, gehört er unter die 
höheren Töchter. Er braucht nur irgendwie 
greifbare Gedanken zu denken, um ſofort 
minderwertig zu fein. Die Intelligenz ber 
Intellektuellen beruht eben darin, daß ſie 
alle geiſtigen Werte wie Scheidewaſſer zer- 
fegt. Nur die Auflöſung, in der man 
die Würmer der Verweſung kriechen ſieht, iſt 
ihnen eine ehrwürdige Sache. Zm übrigen ijt 
alles nichts und das Nichts iſt alles. — 

Wer bie Herrſchaften perſönlich kennt, wird 
ihnen ſchwerlich eine Zeile widmen mögen. 
So lächerlich ſie aber perſönlich auch ſind, 
fo ficher können fie als ſo zi aler Typ eine 
gewiſſes Intereſſe beanſpruchen. Wenn reiche 
Geſellſchaftsſchichten langſam verfaulen, ent- 
ſtehen die Intellektuellen als eine 


Auf der Warte 


peinliche Begleiterſcheinung. In der Fäulnis, 
in der ſie heimiſch ſind, haben ſie jeden Glau- 
ben verloren; nur die Fäulnis, nur die 
Auflöſung ſelber ſcheint ihnen noch etwas 
Weſenhaftes zu ſein. 

Wer an die Zukunft glaubt, iſt ein Narr. 
Wo ſollte auch eine Zukunft herkommen, 
wo alles nach Fäulnis riecht? Wer von 
philoſophiſchen oder moraliſchen Begriffen 
überzeugt iſt, muß notwendig ein Schwach- 
kopf ſein. In ihrer Welt hat die Fäulnis 
alle Begriffe zerſetzt, jo daß eben die Fäul- 
nis ſchließlich ſelber als einziger Begriff übrig 
geblieben ift. Was fie allein ſchätzen, ift die 
Skepſis, nicht etwa die notwendige 
Skepſis des erkennenden Denters, der ihnen 
von vornherein eine komiſche Figur iſt und 
fein muß. Was ſie ſchätzen, ijt die lor- 
tupte, übelriechende Skepſis, die wie ein 
Dunſt aus fauligen Gründen aufſteigt. In 
den Wahnvorſtellungen ihrer eigenen Eitelkeit 
ſind ſie „intellektuell“. In Wirklichkeit ſind 
fie die beſchränkten Spießbürger einer engen, 
verfaulenden Welt. Sie gleichen den Men- 
ſchen, die nur das riechende ſtehende Ge- 
wäfſſer im innerſten Winkel einer Bucht kennen. 
Den Glauben an das Meer haben ſie 
verloren, weil ſie zu feig und beſchränkt 
waren, um jemals aus ihrer Bucht heraus- 
zukommen. 

Die Zeitungen wiſſen zu melden, daß 
ſie in Wien eine „Freie Bühne der 
Intellektuellen“ gegründet haben, 
bie (ſelbſtverſtändlich)) mit Wedekind er- 
öffnet werden ſoll. Wir normalen Menſchen 
können nur wünſchen, daß ſie ſich auch an 
anderen Orten organiſieren möchten. Wenn 
die Fruͤchte ihrer „Intelligenz“ ſichtbar wer- 
den, wird man bald erkennen, mit was für 
verächtlichen Schafstöpfen man es zu tun bat. 

* E. Sch. 


Kritik der Kritik 


m Anterhaltungsteil ber Deutfchen Tages- 
zeitung nimmt ſich Wilhelm Poeck einen 
dieſer jungen Männer vor, die dadurch das 
literariſche Kritikeramt heutzutage üben, daß 
ſie mit Hilfe von ein paar modern gewordenen 
Redensarten das Wenige, was noch in ſeinem 


Auf der Warte 


dichteriſchen Inhalt geiftig und männlich ijt, 
als „moraliſch“ dem Achſelzucken preiszugeben 
ſuchen. Der Fall iſt nicht gleichgültig, da 
es einen ſo feinen und treuen Beurteiler 
unſerer Bildung und öffentlichen Verhältniſſe 
betrifft, wie den verſtorbenen „Fritz Anders“, 
Paftor Allihn, von dem auch die ganz köft- 
lichen zwei Bände „Skizzen aus dem heutigen 
Volksleben“ ſind, die urſprünglich in den 
alten, noch Grunowſchen Grenzboten erfchie- 
nen. Gleichgültig iſt nur der junge Herr, 
der einen ſolchen Mann modern überlegen 
abzutun gedachte, dem er nicht an die auf- 
gekrempelten Beinkleider reicht. 

Die treuen und guten Männer, zumal 
wenn fie herzensdeutſch, nicht bloß hurrah- 
deutſch ſind, haben bei uns keine „Preſſe“. 
Der Freiwillige gilt nichts, man meint ihm 
nichts zu ſchulden; nur mit dem Gefchäfts- 
ſinn, und wenn er die verzerrteſten Formen 
annimmt, um aufzufallen, wird paktiert, zum 
mindeſten wird er dem Publikum nicht tot- 
geſchwiegen. Mit um ſo hellerer Freude las 
ich jene gründliche Ropfwafdung, auch wenn 
es die eines hohlen war. 

Vielleicht iſt es ein Zeichen, ein Anfang. 
Daß auch die deutſchen Schriftſteller der auf- 
bauenden Richtung beginnen, eine felbft- 
achtungsvollere Gemeinbüurgſchaft zu üben. 
Wenn dies Fortſetzung findet, wird es eines 
Tages auch wieder, ohne daß man ſich 
lächerlich macht, erlaubt ſein zu betonen, 
daß z. B. der ſo gründlich von den gewiſſen 
Zungen abgetane „moraliſche“ Em. Geibel 
ein ſich turmhoch über ſie erhebender Poet 
und Mann geweſen iſt. Ed. H. 


* 


Sprachgeburten 


or" las man in den Theaterkritiken wohl 
von Hamlet-Darftellern. Soeben ſtoße 
ich auf die ſchöne, aber zeitgemäße Neuerung: 
„Alexander Moiffi, der bekannte Reinhardt 
Darſteller“. 

Hat nun diefe neue Sprachſchöpfung viel- 
leicht gewiſſe Beziehungen zu der altte[ta- 
mentlichen Schöpfungsgeſchichte, ſo laſſen es 
aber auch unſere Hochbeamteten nicht an 


959 


neuer Sprachverhunzung fehlen. Es iſt er- 
reicht: nach vorausgegangenen Wehen, die 
man in den Zeitungen monatelang verfpürte, 
iſt nunmehr, wie einſt Athene dem Haupte 
des Zeus, der „Veterinärrat“ dem Haupte 
des zuſtändigen Miniſteriums entſprungen. 
gn einigen Behörden gibt man jid) Mühe, 
die Fremdwörter und die Fremdtitel auf eine 
glimpfliche Weiſe allmählich einzuſchränken. 
it es nicht zum Tollwerden, daß nun wieder 
eine hohe deutſche Behörde, weil ihr nichts 
Beſſeres einfällt, einen ganz neuen Fremdtitel, 
der ſich dazu noch fo häßlich ausſpricht, er- 
ſchaffen muß? —d — 


* 


Vom deutſchen Nationalgefühl 


De. Goethebund in Dresden veranſtaltet 
eine Reihe von Volks vorſtellun- 
gen. Zur Aufführung ſollen gelangen: 
„Mutterliebe“ von Strindberg, 
„Hille Bobbe“ von Adolf Paul, 
„Die Stimme der Un mündigen“ 
von Sven Lange und „Agafias Ber- 
lobung“ von Gogol. Strindberg iſt 
Schwede, Adolf Paul Finnländer, Sven 
Lange Däne, Gogol Ruſſe. Und nun wundern 
[ib einige querköpfige Zeitungen, daß ein 
Goethebund fir Volks vorſtellungen die 
deutſchen Klaſſiker nicht kennt! 

Wir müſſen offen geſtehen, daß uns ſelten 
eine mehr ſonderbare Verwunderung vor- 
gekommen iſt. Die Herren vom Oresdener 
Goethebund werden einfach in den letzten 
fede Fahren die Berliner Theater- 
berichte geleſen haben, und dabei iſt 
ihnen bae Bewußtſein einer deutſchen Lite- 
ratur dann auf ganz natürlidem Wege ab- 
handen gekommen. Wir begreifen die Ber- 
wunderung der querköpfigen Zeitungen um 
ſo weniger, als der Dresdener Goethebund 
ſich geradezu auf Schiller berufen kann. 
„Stolz lieb' ich den Spanier“, heißt es 
im Carlos. Vom Deutſchen ijt an Dieter 
entſcheidenden Stelle mit keiner Silbe die 
Rede. kj. 


* 


940 


Barfifal in Monte Carlo 


nter dem Protektorat des Füͤrſten Albert 

hat die Spielhöllengeſellſchaft durch 
den Impreſario Günzbourg in Monte Carlo 
am 1. Februar Wagners „Parſifal“ zur 
Aufführung gebracht, in der offenſichtlichen 
Abſicht, daraus wirkſame Reklame zu ſchlagen 
und den Verkehr der Spielbank zu heben. 
Die Entſcheidung lag bei dem Fürſten, der 
fi) ſchließlich dem Verlangen der Spielbank 
geſellſchaft fügte. Bezieht er doch von ihr 
für ſeine Perſon jährlich 2 Millionen Mark 
Gewinnanteil, ferner 4 Millionen Mark für 
die Verwaltung des Fuͤrſtentums. Außerdem 
erhielt er noch für die Verlängerung der 
Spielbankkonzeſſion bis zum Fahre 1965 
eine Abfindung von rund 20. Millionen Mark. 
Wer fo viele Millionen ausgibt, will gebieten, 
und wer ſie einnimmt, muß gehorchen. Das 
Anſehen des Fuͤrſten kann ohnehin nicht tiefer 
ſinken und wird nicht gehoben werden, auch 
wenn er alljährlich als gefeierter Gaſt in 
Berlin erſcheinen ſollte. P. D. 


x 


Hervorragend fone Land- 
ſchaften 


as Spandauer Schöffengericht hat zwei 
Kaufleute freigeſprochen, die von Kreis- 
ausſchuß und Amtsanwalt auf die Entfernung 
von Geſchäftsſchildern verklagt waren, die fie 
auf ben Wieſen am Brieſelang nahe der Ber- 
lin- Hamburger Bahn aufgeftellt hatten. Die 
Klage hatte fih darauf geſtützt, daß die Schil- 
der das Landſchaftsbild verunſtalteten; der 
Verteidiger machte dagegen mit Erfolg gel- 
tend, daß in den Verordnungen, die Land- 
ſchaften vor Verunſtaltung ſchützen follen, 
von „hervorragenden“ Landſchaften die Rede 
ſei. Eine landſchaftlich hervorragende Gegend 
ſeien jedoch die Wieſenflächen, auf denen die 
Schilder ſtehen, nicht. Wirklich hervorragende 
Landſchaftsſchönheiten finde man in Seutid- 


Auf der Warte 


land höchſtens am Rhein, im Harz oder im 
Rieſengebirge. Dort wechſeln Berg und Tal, 
Wälder und Seen in hervorragend ſchöner 
Weiſe ab. — 

Das Schöffengericht iſt ſich wohl nicht 
klar darüber geweſen, welche Ungebeuerlid- 
keit in einem ſolchen Urteil über die Natur 
liegt. Das ſteht unter der übelften Sternchen 
wirtſchaft des Baedekers. Denn dieſer bringt 
Schließlich für jede Proving unſeres Bater- 
landes bei einzelnen Gegenden die auszeich- 
nenden Sternchen an, zeigt alſo damit die 
Erkenntnis, daß das „landſchaftlich Hervor- 
ragende“ etwas Relatives ijt. 

Die Anſchauung über das landſchaftlich 
Schöne iſt aber auch einem dauernden Wedfel 
unterworfen, wie ein Blick auf die Landſchafts- 
malerei zeigt, wo ein Zeitalter verabſcheut, 
was das andere begeiſtert aufſucht. 

Doch entſcheidend ijt, daß der Geift des 
Geſetzes wieder einmal zugunſten des Buch- 
ſtabens vergewaltigt wird. Es ſoll doch nicht 
die Natur an ſich, fondern der Naturgenuß für 
den Menſchen geſchützt werden. Was nutzt es 
dem gehetzten und gepeinigten Großſtädter, 
daß „hervorragende“ Landſchaften in den 
Alpen geſchüͤtzt werden, wenn die Natur in 
ſeiner Nähe fo verſchandelt wird, daß der Ge- 
nuß an ihr, die Erholung in ihr nicht mehr 
möglich iſt. Was nutzt jener Schutz, wenn 
durch die Zerſtörung aller Heimlichkeiten den 
Anwohnern die Freude an der Natur ihrer 
Heimat zerftört und damit das Heimatsgefühl 
untergraben wird, wovon die „Landflucht“ ſo 
bitter ernſt Zeugnis gibt. In dieſem höchſten 
Sinne gibt es überhaupt keine Natur, die nicht 
„hervorragend ſchön“ für große Menjfden- 
gruppen ift und in dieſem menſchlichen Inter- 
effe geſchützt werden müßte. Schlimm genug, 
wenn große techniſche Werke ohne ſolche 
Naturzerſtörung nicht möglich ſind — bei 
wirklich gutem Willen wäre es faſt immer 
der Fall — Daß die Natur aber dem klein- 
lichen Reklamegeſchäftsgeiſt preisgegeben wird, 
iſt eine Roheit, die bittere Folgen nach ſich 
ziehen muß. K. St. 


Verantwortlicher und Chefredakteur: Jeannot Emil Fehr. v. Grotthuß « Bildende Runft und Mufit: Dr. Rarl Storck. 
Sämtliche Zuſchriften, Cinfendangen uſw. nur an die Redaktion des Türmers, Berlin ⸗ Schöneberg, Gozener Str. 8. 
Orud und Verlag: Greiner & Pfeiffer, Stuttgart. 


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II 
DAS LIED VON FERNE 


O. J. Bierbaum 


Nachdruck 
verboten 


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doch, und immer ooch ein Lied wie herge 


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wie her - geweht, 


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2275 


126 


Aufführungsrecht 
vorbehalten 


III 
GRUSS 
Alter Text (Des Knaben Wunderhorn) 


Nachdruck 
verboten 


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Mit freundlicher Bewilligung des verlegers Johann Andre, Offenbach / M. 


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Langsam und sehr empfunden 


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Mit freundlicher Erlaubnis des Süddeutschen Musikverlags, Straßburg i/E. 


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*) Zum ersten Abdruck überlassen 


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duwirstsehn, viel bes-ser ists, duspielst mitun-serm Häns 


1. seht, o seht!-machtrundher-um der gu-teStruppein Tanz 


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128 


*) Die Achtelnoten sind der 2. Str. zugedacht. 


Aufführungsrecht 


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HASENJAGD? 


Nachdruck 
verboten 


vorbehalten 
Aus Op.37 
» Musikalisches Bilderbuch" 


Gust. Falke 


Leicht und lebhaft 


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der Ha - se sitzt im 
der Ha- se sitzt im 


ru-sche, 


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*) Zum ersten Abdruck überlassen 


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III 


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lags Steingraber in Leipzig entnommen aus ,Fünf neue Kinderlieder von 


aber No. 1679) 


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Mit freundlicher Erlaubnis des Ver 
Martin Frey, Op. 29 (Edition Stein 


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Nachdruck 


verboten 


vorbehalten 


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Mit gütiger Erlaubnis des Komponisten entnommen dem 2. Heft seiner,, Schlichten Lieder“(Leipzig, Verlag P. Pabst) 


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Th. Boss, Op. 12 


Aufführungsrecht 
vorbehalten 


Am Abend 
(Martin Greif) 


Herrn GUSTAV HINDERER gewidmet 
Innig, mit tiefster Empfindung 


Nachdruck 
verboten 


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Fraulein LUISE SCHMID gewidmet. 


Aufführungsrecht 


Nachdruck 


vorbehalten 
Th. Boss, Op.17 Nr.2 


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je-denSonntags-gruß!Nimm fort in dei-ne 


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auchdieVergangen - heit. 


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vorbehalten 
Th. Boss, Op.7 Nr.1 


Ben 


Aufführungsrecht 


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sie ver-bor-gen blieb? Mein’ 


je-derStundim Tag, mein’ 


en Her-zen er- sproß-te und im Wald, und 


Seinen lieben Eltern 
(Ludwig Finckh) 


Ich will dich immer gr 


Ich will dich im- mer grü-ßen zu 


2. Daß sie im scheu- 
3. Was soll sie dar- um kla- gen, dag 


1. 


Nachdruck 
verboten 


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Zwei Gedichte 
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Friedrich Hebbel 
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AUF EINE UNBEKANNTE 


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ich hatt'dich nie ge-sehn, dutratsther - an, 


Langsam,dem Sänger folgend 
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